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German Pages [354] Year 2015
Religiöse Kulturen im Europa der Neuzeit Herausgegeben von Friedrich Wilhelm Graf, Miloš Havelka und Martin Schulze Wessel
Band 7
Vandenhoeck & Ruprecht
Heiko Schmidt
Glaubenstoleranz und Schisma im Russländischen Imperium Die staatliche Politik gegenüber den Altgläubigen in Livland, 1850–1906
Vandenhoeck & Ruprecht
Umschlagabbildung: Eine Delegation der Rigaer Altgläubigen bringt Nikolaj II. anlässlich seiner Thronbesteigung Brot und Salz dar (1896) (Archiv der Rigaer Grebenščikov-Gemeinde) Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISSN 2198-7238 ISBN 978-3-647-31030-5
Weitere Ausgaben und Online-Angebote sind erhältlich unter: www.v-r.de Der Druck dieses Buches wurde ermöglicht durch einen Druckkostenzuschuss aus Mitteln des von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) finanzierten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. © 2015, Vandenhoeck & Ruprecht GmbH & Co. KG, Theaterstraße 13, 37073 Göttingen / Vandenhoeck & Ruprecht LLC , Bristol, CT, U. S. A. www.v-r.de Alle Rechte vorbehalten. Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Satz: textformart, Göttingen | www.text-form-art.de
Inhalt 1. Einleitung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 2. Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums . . . . . . . . . . . 45 2.1 Patriarch Nikon und das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 45 2.2 Die Differenzierung des Altgläubigentums im 18. Jahrhundert . . 49 2.3 Das Altgläubigentum auf dem Gebiet der Ostseegouvernements . 58 2.4 Statistische Angaben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 63 3. Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) . . 67 3.1 Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen . . . . . . . . . . 67 3.1.1 Die Zerstörung der religiösen Organisation . . . . . . . . . 74 3.1.2 Die Delegitimierung der Ehen und Kinder . . . . . . . . . . 78 3.1.3 Der Ausschluss aus dem sozio-ökonomischen Leben . . . . 85 3.1.4 Die Zentralisierung des bürokratischen Apparats . . . . . . 88 3.1.5 Zusammenfassende Betrachtung des Systems Nikolajs I. . . 94 3.2 Die Diskriminierung der Altgläubigen in Livland . . . . . . . . . 95 3.2.1 Die Zerstörung der religiösen und karitativen Einrichtungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 96 3.2.2 Die gerichtliche Verfolgung von Altgläubigen . . . . . . . . 105 3.2.3 Der Widerstand der Altgläubigen . . . . . . . . . . . . . . . 124 3.3 Das System Nikolajs I. und die Altgläubigen in Livland . . . . . . 138 4. Der Umschwung des staatlichen Umgangs mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142 4.1 Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 143 4.1.1 Der alte Glaube als sozio-politischer Protest . . . . . . . . . 144 4.1.2 Die Altgläubigen als revolutionäre Kraft . . . . . . . . . . . 153 4.2 Der Kurswandel unter Aleksandr II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 163 4.2.1 Aleksandr II.: Zar-Befreier der Altgläubigen? . . . . . . . . 163 4.2.2 Die Altgläubigen in Livland unter Aleksandr II. . . . . . . . 167
6 Inhalt 4.2.3 Das besondere Außerordentliche Komitee über die Angelegenheiten der Raskol’niki . . . . . . . . . . . . . . 197 4.2.4 Der Widerstand der Altgläubigen . . . . . . . . . . . . . . . 202 4.3 Die livländischen Altgläubigen und die Nationalitätenpolitik . . . 206 5. Die Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 216 5.1 Die Legalisierung altgläubiger Ehen . . . . . . . . . . . . . . . . . 217 5.1.1 Das Gesetz vom 19. April 1874 . . . . . . . . . . . . . . . . . 219 5.1.2 Der Zusammenhang des Gesetzes mit den Großen Reformen 223 5.1.3 Die Diskussionen über den Sakramentscharakter der altgläubigen Ehe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 231 5.1.4 Die Ziele des Gesetzes vom 19. April 1874 . . . . . . . . . . 251 5.1.5 Die Implementierung des Gesetzes vom 19. April 1874 in Livland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 257 5.2 Die Legalisierung der Bethäuser der Altgläubigen . . . . . . . . . 270 5.2.1 Das Gesetz vom 3. Mai 1883 . . . . . . . . . . . . . . . . . . 271 5.2.2 Die Diskussion über die gewährten zivilen und religiösen Rechte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 273 5.2.3 Die Ziele des Gesetzes vom 3. Mai 1883 . . . . . . . . . . . . 280 5.2.4 Die Implementierung des Gesetzes vom 3. Mai 1883 im Gouvernement Livland . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 282 5.3 Von der Diskriminierung zur Disziplinierung der Altgläubigen . . 289 6. Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 . . . . . 294 6.1 Die Gewissensfreiheit und das Toleranzmanifest vom 17. April 1905 295 6.2 Die Legalisierung des Altgläubigentums durch den Erlass vom 17. Oktober 1906 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 303 6.3 Ausblick auf die Zeit nach 1906: Beginn eines »goldenen Zeitalters« in der Geschichte des Altgläubigentums? . . 311 7. Schluss . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 325 Dank . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 332 Glossar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 334 Bibliografie . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 336 Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 352 Sachregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 354
1. Einleitung In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts war die Altgläubigengemeinde in Riga eine der größten und einflussreichsten des Russländischen Reiches. Unter Zar Nikolaj I. (1796–1855)1 litten die Altgläubigen im gesamten Imperium unter Verfolgungen durch den Staat und die Orthodoxe Kirche. In Livland wurden ihre Bethäuser mit nur einer Ausnahme versiegelt und zerstört. Die Schule der Altgläubigen in Riga wurde geschlossen und sämtliche karitative Einrichtungen der Gemeinde staatlicher Kontrolle unterstellt. Ihre Gemeindeleiter in den Dörfern am Peipussee wurden verbannt. Nikolajs Nachfolger Aleksandr II. (1818–1881)2 nahm Abstand von diesem Repressionskurs gegenüber den Altgläubigen. Seit Anfang der 1860er Jahre plante die Regierung ihre Lage im Russländischen Reich zu erleichtern. Es dauerte noch einige Jahre, bis die ersten Gesetze erschienen, die den Altgläubigen Rechte gewährten. Seit 1874 hatten sie die Möglichkeit, ihre Ehen und Kinder bei den Polizeibehörden zu registrieren und dadurch zu legalisieren. Im Jahr 1883 erhielten sie das Recht, verfallene Bethäuser zu renovieren, darin Gottesdienste zu feiern sowie Handel zu treiben und öffentliche Ämter zu bekleiden. Bis zur rechtlichen Gleichstellung des Altgläubigentums mit den so genannten ausländischen Bekenntnissen dauerte es allerdings noch bis 1905.
Fragestellung Ziel der vorliegenden Arbeit ist es, den Wandel des Regierungskurses gegenüber den Altgläubigen zu erklären, der sich seit Beginn der 1860er Jahre vollzog und mit der Legalisierung des Altgläubigentums in den Jahren 1903 bis 1906 seinen Höhepunkt erreichte. Die Regierung unter Nikolaj I. war nur sehr rudimentär über die Zahl sowie die religiösen und politischen Ansichten der Altgläubigen informiert. Diese Informationslage verbesserte sich Mitte des 19. Jahrhunderts durch Berichte von Beamten, die Expeditionen zu den Altgläubigen unter nahmen und die Regierung über deren Lebensweise und Lehren unterrichteten. Seit der Lockerung der Pressezensur3 unter Aleksandr II. erschienen erste 1 Zar des Russländischen Reiches von 1825 bis 1855. 2 Zar des Russländischen Reiches von 1855 bis 1881. 3 Torke, Hans-Joachim: Einführung in die Geschichte Rußlands. München 1997, 167.
8 Einleitung Publikationen über die Altgläubigen aus der Feder säkularer Historiker und Vertreter der Orthodoxen Kirche. In den entstehenden Zeitschriften setzten sich Publizisten mit der Geschichte der Altgläubigen und ihrer gegenwärtigen Lage im Russländischen Reich auseinander. Es entstand ein Diskurs über das Verhältnis des Staates zu den Altgläubigen, der wesentlichen Einfluss auf die Regierung hatte. Mitnichten sprachen sich sämtliche Autoren für eine Abkehr vom Nikolaj’schen Repressionskurs aus. Insbesondere die Orthodoxe Kirche hatte weiterhin großes Interesse an der Bekämpfung des Altgläubigentums. Sie versuchte ihren Einfluss geltend zu machen, den sie als von der Regierung privilegierte Staatskirche genoss, um eine vollständige Legalisierung des Altgläubigentums zu verhindern. Doch inwieweit war die Regierung dazu bereit, auf die Interessen der Staatskirche Rücksicht zu nehmen, und welche Umstände veranlassten sie dazu, das Altgläubigentum in den Jahren 1903 bis 1906 gegen den Widerstand der Orthodoxen Kirche zu legalisieren? Der Kurswandel der St. Petersburger Regierung fand in Gesetzen über die Altgläubigen und in Vorschriften an die Gouverneure über den Umgang mit den religiösen Dissidenten Ausdruck. Die Umsetzung dieser Vorgaben unterlag in den Provinzen des Imperiums jedoch einem Aushandlungsprozess mit den lokalen Beamten, die die regionalen Bedürfnisse berücksichtigen mussten. Mehr noch, die St. Petersburger Regierung war auf die Berichte der lokalen Obrigkeiten über den Zustand ihrer Verwaltungsbezirke angewiesen, wenn sie eine einheitliche Politik formulieren wollte. Auf diese Weise konnten lokale Beamte Einfluss auf die Beschlussfassung des imperialen Zentrums nehmen. Anhand der Altgläubigen in Livland wird die Frage beantwortet, inwieweit die gesetzliche Lage über die Altgläubigen realisiert wurde. Dieses Beispiel bietet sich für eine solche Untersuchung aus mehreren Gründen an. Erstens machte sich der Wandel des Regierungskurses nach dem Tod Nikolajs I. in dieser Region besonders stark bemerkbar. Generalgouverneur Aleksandr Arkad’evič Surovov (1804–1882)4 und Bischof Platon (Gorodeckij, 1803–1891)5 waren für ihre Härte gegenüber den Altgläubigen bekannt und arbeiteten auf diesem Gebiet eng zusammen. In den 1860er Jahren sprachen sich dagegen liberale Beamte in Livland für eine Abkehr vom Nikolaj’schen Repressionskurs aus. Die Berichte des Beamten für besondere Aufträge in Dorpat Vladimir Aleksandrovič Sollogub (1813–1882) und des Schriftstellers Nikolaj Semёnovič Leskov (1831–1895) hatten großen Einfluss auf den in den 1860er Jahren beginnenden Kurswandel der Regierung gegenüber den Altgläubigen. Die Untersuchung der livländischen Altgläubigen ermöglicht darüber hinaus, nach dem Einfluss der Nationalitätenpolitik auf den Umgang mit den russischen Altgläubigen zu fragen. In den Ostseegouvernements lebten die Altgläubigen inmitten estnischer, lettischer und
4 Generalgouverneur der Ostseegouvernements von 1848 bis 1861. 5 Bischof von Riga und Mitau von 1848 bis 1867, seit 1850 Erzbischof.
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deutscher Lutheraner. In einigen Orten waren die Altgläubigen die einzigen Vertreter der russischen Ethnie. Es stellt sich daher die Frage, ob die livländischen Altgläubigen in Zeiten der Nationalisierung des religiösen Diskurses, aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur russischen Ethnie, eine Sonderbehandlung durch die Regierung erfuhren. Die Fokussierung der Arbeit auf eine bestimmte Region ermöglicht darüber hinaus, die Altgläubigen als Akteure in den Blick zu nehmen. Denn der Erfolg diskriminierender Maßnahmen hing entscheidend vom Widerstand der Subjekte dieser Gesetzgebung ab. Das Gleiche gilt für disziplinierende Maßnahmen des Staates. Nahmen die Altgläubigen Angebote der Regierung zur gesellschaftlichen Integration nicht an, konnten diese Gesetze ihre disziplinierende Funktion für den Staat nicht erfüllen. Indem die Arbeit das Verhältnis von Staat, Staatskirche und Altgläubigentum in den Blick nimmt, beschäftigt sie sich mit der Religionspolitik des Russländischen Reiches gegenüber einer religiös definierten Bevölkerungsgruppe, die in der Forschung über den Umgang des Russländischen Imperiums mit ethnischer und konfessioneller Diversität bisher kaum Aufmerksamkeit gefunden hat.
Forschungsstand Die Forschung über die russischen Altgläubigen kann einerseits in russischsprachige Untersuchungen, andererseits solche westeuropäischer und US -amerikanischer Provenienz eingeteilt werden. Die Forschungsinteressen unterscheiden sich teilweise stark voneinander. Zudem berücksichtigen russischsprachige Arbeiten westliche Forschungsergebnisse selten – weder über die Altgläubigen noch über die Lage anderer nicht-orthodoxer Glaubensgemeinschaften im Russländischen Reich. Letztere sind für die vorliegende Arbeit von entscheidender Bedeutung und werden im Unterpunkt »Begriffe und Konzepte« dieser Einleitung vorgestellt. Die westliche Forschung hat sich insbesondere in den 1970er Jahren für das Altgläubigentum interessiert. Zu dieser Zeit stand die Suche nach den Gründen für den wirtschaftlichen Erfolg der Altgläubigen im Russländischen Reich im Zentrum des Interesses. Das Verhältnis der Altgläubigen zum Staat spielte in diesen Arbeiten nur insofern eine Rolle, als dass die Pariastellung des Altgläubigentums als verfolgte und entrechtete Religionsgemeinschaft als mögliche Erklärung für ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten und ihren ökonomischen Erfolg herangezogen wurde.6 Die staatliche Verfolgung spielte auch für die 6 Beliajeff, Anthony Serge: The Rise of the Old Orthodox Merchants of Moscow 1771–1894. Syracuse 1975, 112, 238 f. Blackwell, William L.: The Old Believers and the Rise of Private Industrial Enterprise in Early Nineteenth-Century Moscow, in: Slavic Review 24 (1965), 407–424, hier 409. Gerschenkron, Alexander: Europe in the Russian Mirror. Four Lectures in Economic History. Cambridge 1970, 34–36.
10 Einleitung Untersuchungen der sozialen und institutionellen Struktur des alten Glaubens eine wichtige Rolle. Robert Crummey untersucht in seiner bahnbrechenden Monografie »The Old Believers and the World of Antichrist« aus dem Jahr 1970 die institutionelle Entwicklung der Gemeinde am Vyg. Aufgrund staatlicher Verfolgungen hätten die Altgläubigen im untersuchten Zeitraum von der Gründung der Gemeinde bis 1855 Überlebensstrategien entwickeln müssen.7 Dabei habe sich der alte Glaube von einer Bewegung mit starkem Isolationismus zu einer relativ stabilen, arbeitsamen und in einigen Fällen wirtschaftlich ausgesprochen erfolgreichen Subkultur entwickelt.8 20 Jahre später setzte sich Manfred Hildermeier mit den Altgläubigen auseinander. In seinem Aufsatz »Alter Glaube und Neue Welt«9 aus dem Jahr 1990 entwirft er eine sozialund kulturgeschichtliche Perspektive auf die Altgläubigen.10 Er betont, dass der alte Glaube sich im Laufe der Zeit stark verändert habe. Seit Ende des 18. Jahrhunderts habe er seine Fundamentalopposition gegen den Staat aufgegeben und seine politische, soziale und geistige Widerstandskraft eingebüßt.11 Die Altgläubigen hätten einen modus vivendi mit dem Staat gefunden und sich wirtschaftlich und sozial in die nicht-altgläubige Gesellschaft integrieren müssen.12 In den letzten drei Jahrzehnten beschäftigte sich nur eine Handvoll westlicher Forscher mit den Altgläubigen. 1995 erschien Roy Robsons »Old Believers in Modern Russia«.13 Darin untersucht er die religiöse Lehre und Kultur der Altgläubigen in Zeiten der Modernisierung, das heißt zwischen den Revolutionen von 1905 und 1917, anhand von Zeitschriften und anderen Publikationen der Altgläubigen. Peter Hauptmann veröffentlichte im Jahr 2005 seine Überblicksdarstellung »Rußlands Altgläubige«,14 in welcher er sich insbesondere für die Gründe des Schismas der Orthodoxen Kirche im 17. Jahrhundert und für die Kirchen 7 Crummey, Robert O.: The Old Believers and the World of Antichrist. The Vyg Community and the Russian State 1694–1855. Madison u. a. 1970, xiii–xvii. 8 Robson, Roy R.: Old Believers in Modern Russia. DeKalb 1995, 5. 9 Hildermeier, Manfred: Alter Glaube und Neue Welt: Zur Sozialgeschichte des Raskol im 18. und 19. Jahrhundert, in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 38 (1990), 372–398, 504–525. 10 Ebd. 376. 11 Ebd. 378. 12 Ebd. 379. Ein Jahr nach diesem Aufsatz veröffentlichte Hildermeier »Alter Glaube und Mobilität« und stellte die These auf, dass das Altgläubigentum eine Gegengesellschaft zur offiziellen Gesellschaft dargestellt habe. Diese habe sich durch höhere soziale Gleichheit und Durchlässigkeit ausgezeichnet. Diejenigen, die von der bestehenden Sozialordnung benachteiligt wurden, konnten hohe soziale Positionen im alten Glauben erlangen, wenn sie ein frommes Leben führten und zu einem gewissen Maße wirtschaftlich erfolgreich waren. Hildermeier, Manfred: Alter Glaube und Mobilität. Bemerkungen zur Verbreitung und sozialen Struktur des Raskol im frühindustriellen Rußland (1760–1860), in: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas 39 (1991), 321–338, hier 338. 13 Robson: Old Believers in Modern Russia. 14 Hauptmann, Peter: Rußlands Altgläubige. Göttingen 2005.
Einleitung 11
geschichte der Altgläubigen interessiert. Im Jahr 2011 erschien Eva M aeders ethnologisch angelegte Dissertation »Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse«15 über das religiöse und wirtschaftliche Leben der Altgläubigen eines ostsibirischen Dorfes in den ersten drei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts. Für die vorliegende Arbeit von größtem Interesse ist Irina Paerts Untersuchung über die Geschlechterverhältnisse unter den priesterlosen Altgläubigen »Old Believers, religious dissent and gender in Russia«.16 Die Monografie enthält sowohl eine ausgezeichnete Darstellung der Diskussion über die Gültigkeit des Ehesakraments unter priesterlosen Altgläubigen17 als auch ein Kapitel über den staatlichen Umgang mit altgläubigen Familien bis zur Herrschaft Nikolajs I.18 Die russischsprachige Forschung hat sich sehr intensiv mit dem Altgläubigentum beschäftigt. Es lassen sich vier thematische Schwerpunkte unterscheiden: 1) der wirtschaftliche Erfolg der Altgläubigen;19 2) die geistige und materielle Kultur der Altgläubigen;20 3) die Gründe für das Schisma der Orthodoxen Kirche;21 sowie 4) das Verhältnis des Staates und der Orthodoxen Kirche zu den Altgläubigen. Für die vorliegende Arbeit sind die Studien zum letzten Punkt von besonderem Interesse, weswegen sie im Folgenden vorgestellt werden. Seit Mitte des 19. Jahrhunderts setzten sich Professoren an den geistlichen Akademien, säkulare Historiker, Publizisten und Schriftsteller mit der Lage 15 Maeder, Eva: Altgläubige zwischen Aufbruch und Apokalypse: Religion, Verwaltung und Wirtschaft in einem ostsibirischen Dorf (1900–1930er Jahre). Zürich 2011. 16 Paert, Irina: Old Believers, religious dissent and gender in Russia, 1760–1850. Manchester 2003. 17 Kapitel 4: The sacrament of the heart: Marriage, family and gender in the Pomorian discourse, in: Ebd. 146–174. 18 Kapitel 5: Leviathan and its children: Relations between the Russian state and Old Believers, 1815–1854, in: Ebd. 184–214. 19 Für einen detaillierten Forschungsüberblick zum Thema der wirtschaftlichen Tätigkeiten der Altgläubigen s. Beyer, Hermann: Das altgläubige Unternehmertum Russlands in der Forschung seit 1917. München 1981. Seit dem Zusammenbruch der Sowjetunion beschäftigten sich mit diesem Thema insbesondere folgende Arbeiten: Kerov, Valerij Vsevolodovič: Ėschatologija staroobrjadčestva konca XVII-pervoj poloviny XVIII v. i novaja chozjajstvennaja ėtika staroj very, in: Juchimenko, E. M. (Hg.): Staroobrjadčestvo v Rossii (XVII–XX vv.). Bd. 3. Moskau 2004, 405–433. Ders.: Konfessional’no-ėtičeskaja motivacija chozjajstvovanija staroverov v XVIII–XIX vekach, in: Otečestvennaja istorija 4 (2001), 18–40. Raskov, Danila Evgen’evič: Chozjajstvennaja ėtika russkogo staroobrjadčestva, in: Matveeva, R. P. (Hg.): Staroobrjadčestvo: Istorija i sovremennost’, mestnye tradicii, russkie i zarubežnye svjazi. Materialy III Meždunarodnoj naučno-praktičeskoj konferencii. 26–28 ijunja 2001 g. UlanUde 2001, 45–49. Ders.: Chozjajstvennaja žizn’ russkogo staroobrjadčestva: Novatorstvo v ramkach tradicii, in: Vestnik SPBGU 19/3 (1999), 61–71. 20 Juchimenko, E. M.: Vygovskaja staroobrjadčeskaja pustyn’. Duchovnaja žizn’ i literatura. 2 Bände. Moskau 2002. Pokrovskij, N. N. (Hg.): Tradicionnaja duchovnaja i material’naja kul’tura russkich staroobrjadčeskich poselenij v stranach Evropy, Azii i Ameriki. Novosibirsk 1992. 21 Für eine Darstellung der wichtigsten Arbeiten zu diesem Thema s. Kapitel 2.1.
12 Einleitung der Altgläubigen im Russländischen Reich auseinander.22 Da ihre wichtigsten Vertreter und deren Werke in den Hauptkapiteln der Arbeit detailliert untersucht werden, wird auf eine Vorstellung dieser Arbeiten an dieser Stelle verzichtet. Nach dem Ersten Weltkrieg flaute das Interesse am Verhältnis zwischen Staat und Altgläubigentum ab.23 Aufschwung erhielt die Auseinandersetzung mit diesem Thema erst nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion. Die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts untersuchten auch in dieser Zeit nur die wenigsten Historiker.24 Im Jahr 1999 erschien die Pionierstudie Ol’ga Petrovna Eršovas »Altgläubigentum und Obrigkeit«25 über die staatliche Politik gegenüber den Altgläubigen seit Nikolaj I. bis 1917.26 Die Arbeit stützt sich hauptsächlich auf Gesetzestexte und Darstellungen aus dem 19. Jahrhundert.27 Eršova kann als eine der besten Kennerinnen der rechtlichen Lage des Altgläubigentums im Russländischen Reich gelten. Leider lässt die Studie eine Untersuchung der Umsetzung dieser Gesetzgebung vermissen. Die Autorin verlässt sich lediglich auf die Urteile von Zeitgenossen, die die repressive Behandlung der Altgläubigen auch nach Nikolaj I. kritisierten und beschrieben, dass viele gesetzlich festgelegte Rechte der Altgläubigen nicht umgesetzt wurden. Eršova stellt für die Zeit seit Aleksandr II. eine allmähliche Liberalisierung des Regierungskurses fest, wovon die Gesetze der Jahre 1874 und 1883 zeugen.28 Gleichzeitig behielten die meisten diskriminierenden Bestimmungen aus der Zeit Nikolajs I. ihre Kraft.29 Erst die Manifeste der Jahre 1903–1906 hätten eine neue Etappe in der Konfessionspolitik eingeleitet. Doch sei die weitere Ausarbeitung des rechtlich geregelten Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigentum in den Sitzungen der Duma steckengeblieben und habe bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs und der Revolution nicht gelöst werden können.30 Insgesamt erscheint die Rechtslage der Altgläubigen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bis 1917 in Eršovas Arbeit als widersprüchlich, ohne dass dies von der Autorin erklärt werden kann. Die Gründe für den Kurswandel unter Aleksandr II. bleiben unklar, da die Untersuchung nicht ausreichend in den Kontext der zeitgenössischen Diskussion über die Ausweitung der Glaubenstoleranz eingebettet 22 Robson: Old Believers in Modern Russia 5. 23 Stadnikov, Anton Vladimirovič: Moskovskoe staroobrjadčestvo i gosudarstvennaja konfessional’naja politika XIX-načala XX v. Moskau 2002, 9. 24 Ebd. 12. 25 Eršova, Ol’ga Petrovna: Staroobrjadčestvo i vlast’. Moskau 1999. 26 Ebd. 12 f. 27 Archivalien aus dem Staatlichen Archiv der Russländischen Föderation in Moskau (Gosudarstvennyj Archiv Rossijskoj Federacii, fortan GARF) und dem Zentralen Historischen Archiv Moskaus (Central’nyj Istoričeskij Archiv Moskvy, fortan CIAM) finden nur an wenigen Stellen Beachtung. 28 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 136. 29 Ebd. 130. 30 Ebd. 188.
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wird sowie in den Kontext des imperialen Umgangs mit nicht-orthodoxen Glaubensgemeinschaften. Auf Eršovas Monografie aufbauend, untersucht Viktorija Vjačeslavovna Maškovceva in ihrer 2006 erschienenen Monografie »Die Konfessionspolitik des Staates bezüglich der Altgläubigen von der zweiten Hälfte des 19. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts«31 den Umgang der Regierung mit den priesterlosen und priesterlichen Altgläubigen im Gouvernement Vjatka. Ihre Konzentration auf ein Gouvernement soll der Autorin die Möglichkeit geben, die Rolle der lokalen Behörden in der Politik gegenüber den Altgläubigen zu beachten.32 Darüber hinaus unterscheidet Maškovceva zwischen den Handlungen der zivilen Regierung einerseits und denjenigen der Orthodoxen Kirche andererseits, die sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auf die Mission unter den Altgläubigen konzentrierte und sowohl ihre Methoden als auch die Formen der religiösen Propaganda veränderte.33 Maškovceva kommt zu dem Schluss, dass die Gesetze der Jahre 1874 und 1883 zwar ein Schritt auf dem Weg der Gleichstellung des Altgläubigentums mit anderen nicht-orthodoxen Konfessionen im Russländischen Reich waren;34 doch seien sie im Gouvernement Vjatka zum großen Teil nicht umgesetzt worden.35 Den Grund für die fortgesetzte Repression der Altgläubigen erkennt die Historikerin in der Auffassung der Beamten, die Altgläubigen seien eine Bedrohung der staatlichen Stabilität und müssten folglich unterdrückt werden.36 Insofern lasse sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts »eine bedeutende Liberalisierung des konfessionellen Kurses der zarischen Regierung erkennen, die in den veröffentlichten Gesetzen Ausdruck fand«.37 Das Verhältnis der staatlichen Obrigkeiten gegenüber den Altgläubigen habe sich jedoch erst in den Jahren der ersten russischen Revolution mit der Veröffentlichung des Toleranzmanifestes grundlegend geändert.38 Obwohl Maškovceva im Unterschied zu Eršova die Umsetzung der Politik gegenüber den Altgläubigen anhand eines Fallbeispieles untersucht und die Orthodoxe Kirche als eigenständigen Akteur in ihre Forschung mit einbezieht, fehlt auch dieser Arbeit die Einbettung des Forschungsgegenstands in den größeren Kontext des staatlichen Umgangs mit nicht-orthodoxen Bevölkerungsgruppen, wodurch die Ziele, die die Regierung gegenüber den Altgläubigen zu erreichen 31 Maškovceva, Viktorija Vjačeslavovna: Konfessional’naja politika gosudarstva po otnošeniju k staroobrjadcam vo vtoroj polovine XIX-načale XX veka (na materialach Vjatskoj gubernii). Kirov 2006. 32 Ebd. 4 f. 33 Ebd. 5. 34 Ebd. 16. 35 Ebd. 44. 36 Ebd. 18. 37 Ebd. 134. 38 Ebd. 135 f.
14 Einleitung suchte, nebulös bleiben. Maškovceva fasst dies folgendermaßen zusammen: »Auf diese Weise zeichnet sich die Konfessionspolitik der Regierung gegenüber den Altgläubigen im untersuchten Zeitraum durch beträchtliche Widersprüchlichkeit aus.«39 Im Jahr 2002 veröffentlichte Anton Vladimirovič Stadnikov die Monografie »Das Moskauer Altgläubigentum und die staatliche Konfessionspolitik des 19. und beginnenden 20. Jahrhunderts«.40 Zu Beginn der Arbeit gibt Stadnikov einen Überblick über die gesetzliche Entwicklung bezüglich der Altgläubigen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Er schließt sich weitgehend Eršovas Meinung an, dass sich der staatliche Umgang mit den Altgläubigen seit etwa 1861 veränderte, was in der Gesetzgebung Niederschlag fand.41 Doch trotz der 1874 gewährten Rechte im Eheleben der Altgläubigen und der Legalisierung ihrer Bethäuser im Jahr 188342 behielten die Obrigkeiten ihre prinzipiell negative Einstellung gegenüber den Raskol’niki bei.43 Er bezeichnet die beiden Gesetze als unbedeutende Änderungen44 und kommt zu dem Schluss: Im Allgemeinen vollzog sich in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine allmähliche Änderung der Innenpolitik des Staates in Bezug auf das Altgläubigentum, obwohl die gesamte Konfessionspolitik des Staates bis zum Ende des Jahrhunderts einen inquisitorischen Charakter trug.45
Erst im Jahr 1905 sei die Regierung gegenüber den Altgläubigen durch die Veröffentlichung des Toleranzmanifests zum Prinzip der Bekenntnisfreiheit übergegangen.46 Im Unterschied zu Eršova und Maškovceva betrachtet Stadnikov nicht nur die gesetzliche Lage, die unter Nikolaj I. eine administrative Verfolgung der Altgläubigen vorgesehen hatte, sondern auch die Verfolgung der Moskauer Altgläubigen durch die Gerichte des Russländischen Reiches. Er stützt sich in seiner Untersuchung auf Archivalien aus dem Zentralen Historischen Archiv Moskaus (Central’nyj Istoričeskij Archiv Moskvy, im Folgenden: CIAM) und der Handschriftenabteilung der Russländischen Staatlichen Bibliothek (Otdel rukopisej Rossijskoj Gosudarstvennoj biblioteki, im Folgenden: OR RGB).47 Die Gerichte nahmen innerhalb der Politik gegenüber den Altgläubigen eine zentrale Position ein. Ihre Aufgabe sei gewesen, Altgläubige, die von Vornherein für schuldig galten, zu verurteilen. Sie hätten diese Aufgabe bis zur 39 Ebd. 138. 40 Stadnikov: Moskovskoe staroobrjadčestvo. 41 Ebd. 48. 42 Ebd. 50. 43 Ebd. 49. 44 Ebd. 54. 45 Ebd. 50. 46 Ebd. 54. 47 Ebd. 14.
Einleitung 15
Abschaffung der strafrechtlichen Verfolgung der Altgläubigen in den Jahren 1904–1906 erfüllt.48 Diese angesprochenen russischsprachigen Forschungsarbeiten können den Wandel, den die Regierungspolitik nach dem Tod Nikolajs I. bis 1906 durchlief, nicht zufriedenstellend erklären. Sie sind sich darin einig, dass die Altgläubigen bis 1905 von der Regierung bekämpft werden sollten, auch wenn sie einige zivile und religiöse Rechte im Laufe der zweiten Jahrhunderthälfte bekamen, die in den meisten Fällen aber nicht umgesetzt wurden. Alle Arbeiten zeichnen sich durch eine isolierte Betrachtung der Politik gegenüber den Altgläubigen aus. Ihnen fehlt das Verständnis für eine Konfessionspolitik der Regierung, die zwischen den eigenen Interessen der Bevölkerungskontrolle und Herrschaftsdurchsetzung einerseits sowie jenen der Staatskirche andererseits lavieren musste. Nur daraus können die Widersprüche des staatlichen Umgangs mit den Altgläubigen erklärt werden. Eine Ausnahme in der russischsprachigen Forschung ist Leonid Gorizontovs Aufsatz »Der schismatische Keil: Die polnische Frage und die Altgläubigen in der imperialen Strategie«49 aus dem Jahr 1997. Gorizontov untersucht den Umgang der Regierung mit den Altgläubigen, die auf dem Gebiet des ehemaligen Polen-Litauen lebten, von der Regierungszeit Nikolajs I. bis in die 1860er Jahre hinein. Durch seinen lokal begrenzten Zuschnitt kann sich Gorizontov auf die Stimmen und Tätigkeiten der leitenden Beamten und Würdenträger der Orthodoxen Kirche in Bezug auf die altgläubige Bevölkerung konzentrieren. Er kann zeigen, dass die vom St. Petersburger Zentrum vorgesehene repressive Politik gegenüber den Altgläubigen im nord-westlichen Gebiet nicht vollständig umgesetzt wurde.50 Grund dafür war die zahlenmäßige Überlegenheit der Altgläubigen über die Orthodoxen in dieser Region, so dass sie als »russisches Element« galten, die zu Verbündeten der Regierung gemacht werden sollten.51 Im Unterschied zu den bereits vorgestellten Monografien finden bei Gorizontov die unterschiedlichen Interessen der St. Petersburger Regierung und der lokalen Verwaltung einerseits sowie ziviler und kirchlicher Würdenträger andererseits Beachtung. Dadurch kann er verschiedene Ziele unterscheiden, die die imperiale Bürokratie gegenüber den Altgläubigen verfolgte, und sie in den Kontext der Besonderheiten der untersuchten Region stellen – insbesondere in denjenigen der imperialen Nationalitätenpolitik. Der Zuschnitt seiner Untersuchung erlaubt ihm, die Motivationen der St. Petersburger Zentrale wie auch diejenigen 48 Ebd. 165. 49 Gorizontov, Leonid E.: Raskol’ničij klin: Pol’skij vopros i staroobrjadcy v imperskoj strategii, in: Ministerstvo kul’tury Rossijskoj Federacii (Hg.): Slavjanskij almanach 1997. Moskau 1998, 140–167. 50 Ebd. 148. 51 Ebd. 152 f.
16 Einleitung der lokalen Würdenträger von Staat und Orthodoxer Kirche zu verstehen und den Umgang des Regimes mit den Altgläubigen im nord-westlichen Gebiet zu erklären. Über die Geschichte der Altgläubigen in Livland wurde bisher wenig geschrieben. Arnol’d Podmazov veröffentlichte 1973 das Büchlein »Kirche ohne Geistlichkeit« über die Altgläubigen in Riga.52 Aus marxistischer Perspektive beschreibt er die Entwicklung der Gemeinde in Riga als Klassenkampf zwischen einer wirtschaftlich erfolgreichen altgläubigen Oberschicht, die die Geschicke der Gemeinde lenkte, und der arbeitenden Masse der einfachen Gemeindemitglieder.53 Von dieser Deutung nahm Podmazov nach dem Zusammenbruch der Sowjetunion Abstand. Im Jahr 2001 veröffentlichte er die Monografie »Die Altgläubigen Lettlands«54 als erste Gesamtdarstellung der Geschichte der Altgläubigen auf dem Gebiet des heutigen Lettlands. Im Jahr 2010 folgte seine dreisprachige Darstellung der Geschichte der Altgläubigen in Riga von den Anfängen bis in die Gegenwart.55 Es handelt sich dabei um eine Überblicksdarstellung für ein breiteres Publikum anlässlich des 250-jährigen Jubiläums der Kirche der Grebenščikov-Gemeinde in Riga. Podmazov verfolgt dementsprechend keine stringente Fragestellung. Die Darstellung des Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigen geht nicht über die Feststellung hinaus, dass die Altgläubigen seit Mitte des 19. Jahrhunderts bis 1905 von den Obrigkeiten verfolgt und unterdrückt wurden.56 Eine Interpretation des Regierungskurses gegenüber den livländischen und Rigaer Altgläubigen findet sich bei Podmazov nicht. Die wichtigsten Arbeiten über die livländischen Altgläubigen im 19. Jahrhundert stammen von Tat’jana Šor. Sie verfasste zu diesem Thema mehrere Aufsätze, die vorwiegend auf Archivalien aus dem Estnischen Historischen Archiv in Tartu (Eesti Ajalooarhiiv, im Folgenden: EAA) aufbauen.57 Obwohl 52 Podmazov, Arnol’d Andreevič: Cerkov’ bez svjaščenstva. Riga 1973. Podmazov lehnt sich an die marxistische Forschung Pavel Grigor’evič Ryndzjunskijs über die wirtschaftlichen Tätigkeiten und institutionellen Strukturen der priesterlichen Altgläubigengemeinde Moskaus Ende der 1840er Jahre an. Ryndzjunskij beschreibt die Entwicklung der Gemeinde unter der Perspektive des Klassenkampfes zwischen den reichen Gemeindeleitern und den einfachen Mitgliedern. Ryndzjunskij, Pavel Grigor’evič: Staroobrjadčeskaja organizacija v uslovijach razvitija promyšlennogo Kapitalizma (Na primere istorii Moskovskoj obščiny fedoseevcev v 40-ch godach XIX v.), in: Voprosy istorii religii i ateizma 1 (1950), 188–248. 53 Podmazov: Cerkov’ bez svjaščenstva 39–51. 54 Podmazov, Arnol’d Andreevič: Vecticība Latvijā. Riga 2001. 55 Ders.: Rižskie starovery. Rīgas vecticībnieki. The Old Believers of Riga. Riga 2010. 56 Ebd. 100, 117–120. 57 Šor, Tat’jana Kuzminična: Derptskie starovery-predprinimateli XIX veka (Rundal’covy, Barchovy, Lesnikovy), in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Meždunarodnye Zavolokinskie Čtenija. Bd. 2. Riga 2010, 105–122. Dies./Ponomareva, Galina: Iz istorii staroobrjadčeskich kladbišč v Ėstonii, in: Kjul’moja, I. (Hg.): Očerki po istorii i kul’ture staroverov Ėstonii, Bd. 2. Tartu 2007, 85–98. Šor, Tat’jana Kuzminična: Komissija po ustrojstvu byta russkich
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Šor Pionierarbeit bei der Sichtung von Archivmaterialien leistet,58 sind ihre Untersuchungen überwiegend deskriptiv. Den Versuch, die Geschichte der livlän dischen Altgläubigen in einen weiteren Kontext zu stellen, unternimmt Šor nicht. Als Ausgangspunkt für die eigene Forschung über die livländischen Altgläubigen sind ihre Arbeiten dank der Informationsfülle und den Quellenangaben dennoch von großem Wert, ähnlich wie auch die Aufsätze von Elena Aleksandrovna Ageeva.59 Die Altgläubigen Lettlands bemühen sich selbst um die Erforschung ihrer Geschichte und Kultur. Der Vorsitzende der Altgläubigengesellschaft Lettlands (Staroobrjadčeskoe Obščestvo Latvii) Illarion Ivanovič Ivanov ist Herausgeber des Sammelbandes »Die Altgläubigen Lettlands«60 aus dem Jahr 2005. Der Großteil der Beiträge des Sammelbandes ist ethnologischen Fragen gewidmet. Nur wenige Beiträge beschäftigen sich mit der Geschichte der Altgläubigen Lettlands.61 Illarion Ivanov gab im Jahr 2011 außerdem den zweiten Band des »Rigaer altgläubigen Sammelbandes«62 heraus. Auch hier gilt das Hauptaugenmerk der Veröffentlichung und Beschreibung von Archivmaterialien. Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Untersuchung der Geschichte der Altgläubigen in Livland aus religions- und imperiumsgeschichtlicher Sicht noch am Anfang steht. Obwohl einige Forscher Interesse an der Bearbeitung poselencev na Lifljandskom beregu Čudskogo ozera, in: [–]: Meždunarodnye Zavolokinskie Čtenija. Bd. 1. Riga 2006, 240–260. Dies.: Staroobrjadčeskaja molennaja i škola v pričudskoj derevne Kazepjaė, in: Slavistica Vilnensis 55 (2010), 156–169. Dies.: K voprosu o metričeskich knigach rižskich staroverov (unveröffentlichtes Manuskript). 58 2011 veröffentlichte Šor einen Überblick über Bestände des Estnischen Historischen Archivs, die die lettischen Altgläubigen betreffen. Šor, Tat’jana Kuzminična: Dokumenty o latvijskich staroverach v istoričeskom archive Ėstonii, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 2: Stat’i, vospominanija, publikacija dokumentov. Riga 2011, 125–138. 59 Ageeva, Elena Aleksandrovna: Iz istorii staroverov Zapadnogo Pričud’ja v XIX stoletii (po dokumentam istoričeskogo archiva Ėstonii), in: Kjul’moja, I. (Hg.): Očerki po istorii i kul’ture staroverov Ėstonii. Bd. 1. Tartu 2004, 18–26. Dies.: Starovery Rigi v dokumentach istoričeskich archivov Moskvy, Sankt-Peterburga i Tartu, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 2: Stat’i, vospominanija, publikacija dokumentov. Riga 2011, 99–124. 60 Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Staroverie Latvii. Riga 2005. 61 Hervorzuheben ist der Aufsatz: Lekler, Ivo: Staroobrjadcy i car’-osvoboditel’ v 1860-ch godach, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Staroverie Latvii. Riga 2005, 305–310. Der Autor sucht nach den Gründen für die Parteinahme lettgallischer Altgläubiger für den Zaren während des polnischen Aufstands von 1863. Seiner Auffassung nach stand diese nicht mit der Zugehörigkeit der Altgläubigen zur russischen Ethnie in Verbindung, wie der damalige Generalgouverneur M. N. Murav’ev annahm, sondern mit der Dankbarkeit der Altgläubigen gegenüber Aleksandr II. für die Aufhebung der Leibeigenschaft und der Abwendung vom Nikolaj’schen Repressionskurs. 62 Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 2: Stat’i, vospominanija, publikacija dokumentov. Riga 2011.
18 Einleitung dieser Geschichte zeigen und bereits umfangreiche Vorarbeiten auf Basis von Archivquellen vorliegen, fehlen für viele historische Aspekte weiterhin grundlegende Untersuchungen.
Begriffe und Konzepte Im Folgenden werden die zentralen Begriffe und Konzepte vorgestellt, auf die sich die vorliegende Arbeit stützt. Sie lehnen sich an die Forschung des letzten Jahrzehnts über den Umgang des Russländischen Reiches mit der polyethnischen und multikonfessionellen Bevölkerung an, die jedoch die Altgläubigen unberücksichtigt ließ. Kirche und Staat Staat und Staatskirche standen im Russländischen Reich in enger Verbindung. In den Zeiten der Moskauer Rus’ wurde das Römische Reich seit Konstantin als ideales Imperium angesehen, in welchem es durch die Synthese von Christentum und Politik eine vorgestellte Verbindung zwischen universalem Imperium und universaler Religion gab.63 Diese Idealvorstellung forcierte in Russland eine besondere Verzahnung von Politik und Religion.64 Sie rührte aus zwei historischen Begebenheiten her. Erstens war die expansive Tätigkeit des Imperiums im 16. und 17. Jahrhundert stets mit einer religiösen Mission verbunden gewesen. Ausländische Kontrahenten Moskaus waren stets religiös konnotiert. Zweitens hatte die weltliche Macht auf dem Moskauer Konzil von 1666/67 für die Reformen des Patriarchen Nikon (1605–1681)65 Partei ergriffen und verfolgte in den folgenden Jahrzehnten die Opponenten dieser Reformen – die Altgläubigen.66 Auf diese Weise arbeiteten Kirche und Staat seit dem 16. Jahrhundert Hand in Hand, wenn es um die Bekämpfung äußerer Feinde wie auch innerer Bedrohungen ging.67 63 Diese Tradition wurde in Russland vermittelt von der Idee von Moskau als »Drittem Rom«, welches die Nachfolge des »Zweiten Roms« nach dem Fall Konstantinopels im Jahr 1453 antrat. Losehand, Joachim: Symphonie der Mächte. Kirche und Staat in Rußland (1689– 1917). Herne 2007, 11 f. 64 Schulze Wessel, Martin: Religion, Politics and the Limits of Imperial Integration. Comparing the Habsburg Monarchy and the Russian Empire, in: Hirschhausen, Ulrike/Leonhard, Jörn (Hg.): Comparing Empires. Encounters and Transfers in the Long Nineteenth Century. Göttingen 2011, 337–358, hier 337 f. 65 Patriarch der Russisch-Orthodoxen Kirche von 1652 bis 1666. 66 Ebd. 338 f. 67 Szeftel, Marc: Church and State in Imperial Russia, in: Nichols, Robert L./Stavrou, Theofanis George (Hg.): Russian Orthodoxy unter the Old Regime. Minneapolis 1978, 127– 141, hier 127.
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Hatte die Verzahnung von Religion und Politik lange Zeit auf einer engen Verflochtenheit und relativen Gleichberechtigung von Staat und Kirche (Symphonia)68 aufgebaut, verschob Zar Pёtr I. (1672–1725)69 dieses Kräfteverhältnis zugunsten des Staates.70 Der Zar ließ den Stuhl des Patriarchen von Moskau nach dem Tode Adrians im Jahr 1700 vakant und schaffte das Amt des Patriarchen schließlich vollständig ab.71 An dessen Stelle richtete der Zar am 25. Januar 1721 durch das Geistliche Regiment den Heiligsten Regierenden Synod ein.72 Ein Jahr später wurde das Amt des Oberprokurors des Heiligsten Synods eingerichtet, welches von einem religiösen Laien besetzt wurde, der ›Auge und Ohr‹ des Zaren im Synod sein sollte.73 Darüber hinaus wurde die Kirche wirtschaftlich entmachtet.74 Die Verwaltung des Kirchenguts wurde dem Klosteramt übertragen. Zwar behielt die Kirche im eigentumsrechtlichen Sinn ihre Güter, über deren Verwendung konnte allerdings der Zar bestimmen.75 Pёtr I. hatte die Kirche administrativ dem Staat untergeordnet und damit das Verhältnis zwischen Staat und Kirche grundlegend verändert. Sein Ziel war es, die Staatskirche für die politischen Ziele des Staates nutzbar zu machen.76 Spätere Beobachter sahen damit das Prinzip des Cäsaropapismus im Russländischen Reich verwirklicht.77 Gregory Freeze wies eine solche Interpretation 1985 jedoch zurück. Zwar sei die Kirche in die staatliche Verwaltung integriert und 1764 durch die Säkularisation der Kirchengüter wirtschaftlich vom Staat abhängig gemacht worden;78 in spirituellen Angelegenheiten – der Mission, der Liturgie, der Erziehung und dem religiösen Denken – habe die Kirche ihre Autonomie jedoch bewahren können.79 Marc Szeftel stimmt der Einschätzung zu, dass von Cäsaropapismus unter Pёtr I. oder seinen Nachfolgern nicht die Rede sein könne, da die Zaren keinen Einfluss auf die dogmatischen und theologischen Fragen der Orthodoxie ausüben konnten.80 68 Losehand: Symphonie der Mächte 26 f. 69 Zar des Russländischen Reiches von 1682 bis 1725. 70 Spätestens seit der Absetzung Patriarch Nikons durch Zar Aleksej Michajlovič im Jahr 1666 gab es diese Gleichstellung nicht mehr. Weitergeführt und rechtlich festgesetzt wurde sie aber erst unter Pëtr I. Stupperich, Robert: Ursprung, Motive und Beurteilung der Kirchenreformen unter Peter d. Gr., in: Ders.: Ausgewählte Aufsätze. Bd. 2: Peter der Große und die Russische Kirche. Möhnesee 2004, 93–104, hier 93. 71 Losehand: Symphonie der Mächte 38. 72 Ebd. 39. 73 Freeze, Gregory: Handmaiden of the State? The Church in Imperial Russia Recon sidered, in: Journal of Ecclesiastical History 36/1 (1985), 82–102, hier 86. 74 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 340. 75 Losehand: Symphonie der Mächte 32 f. 76 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 340. 77 Romanovič-Slavatinskij, A. V.: Sistema russkago gosudarstvennago prava. Kiew 1886, 173. Zitiert nach Szeftel: Church and State 127. 78 Freeze: Handmaiden of the State? 88. 79 Ebd. 85–90. 80 Szeftel: Church and State 129.
20 Einleitung Der Staat griff für Verwaltungszwecke auf die Infrastruktur der Kirche zurück. Die orthodoxe Gemeindegeistlichkeit wurde 1724 dazu verpflichtet, Register über die Eheschließungen, Geburten und Todesfälle aller Gemeindemitglieder zu führen.81 Die Priester verkündeten darüber hinaus staatliche Bestimmungen in den Gemeinden und dienten dem Staat als Informanten oder gar Spitzel – sie sollten dem Staat über Komplotte gegen den Zaren berichten, selbst wenn sie davon im Rahmen der Beichte erfahren hatten.82 Die autokratische Herrschaft nahm darüber hinaus auf die Orthodoxe Kirche als Quelle religiöser Herrschaftslegitimation in Anspruch.83 Im Gegenzug zu diesen Leistungen für den Staat wurde die Orthodoxe Kirche vor anderen Religions gemeinschaften im Imperium privilegiert – sie hatte ein Monopol auf religiöse Mission unter Anhängern anderer Religionen, wurde finanziell vom Staat gestützt und im Kampf gegen innerorthodoxe Schismen unterstützt.84 Staat und Staatskirche waren daher auch nach Pёtr I. und bis ins 20. Jahrhundert hinein eng miteinander verbunden und voneinander abhängig. In der Zeit Nikolajs I. prägte der Minister für Volksbildung Sergej Semёnovič Uvarov (1786–1855)85 im Jahr 1832 die Formel »Orthodoxie, Autokratie, Volkstum«. Damit brachte er die schon sehr viel ältere – offenbar aber noch immer aktuelle – Vorstellung einer Union von (orthodoxer) Religion und (russischem) Imperium zum Ausdruck.86 Nikolaj I. übernahm das auf dieser Grundlage entstandene Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit von Staat und Staatskirche in den ersten Gesetzeskodex des Russischen Reiches.87 Im ersten Band der seit 1832 erschienenen Ausgabe des Gesetzeskodex des Russländischen Reiches heißt es, dass der orthodoxe Glaube im Russländischen Imperium der vorherrschende sei. Der Zar musste als orthodoxer Herrscher Mitglied der RussischOrthodoxen Kirche sein und war »der höchste Beschützer und Bewahrer der Dogmen des herrschenden Glaubens und Hüter des rechten Glaubens«.88 Die Krönungszeremonie des Zaren musste nach dem Ritus der Russisch-Orthodoxen Kirche gefeiert werden,89 wodurch dem Zaren von der Orthodoxen Kirche religiöse Legitimation verliehen wurde.90 Nikolaj I. verstärkte die staatliche 81 Werth, Paul W.: Schism Once Removed: Sects, State Authority, and Meanings of Religious Toleration in Imperial Russia, in: Miller, Aleksej/Rieber, Alfred (Hg.): Imperial Rule. Budapest 2004, 83–105, hier 84. 82 Waldron, Peter: Religious Toleration in Late Imperial Russia, in: Crisp, Olga/Edmondson, Linda (Hg.): Civil Rights in Imperial Russia. Oxford 1989, 103–119, hier 106. 83 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 340. 84 Szeftel: Church and State 136 f. 85 Volksbildungsminister von 1833 bis 1849. 86 Losehand: Symphonie der Mächte 70 f. 87 Ebd. 72. 88 SZ , Bd. 1. St. Petersburg 18332, 16 (Art. 42). 89 Ebd. 13. 90 Szeftel: Church and State 129.
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Kontrolle über die Aktivitäten der Orthodoxen Kirche. Ihre Verwaltung sollte bürokratisiert und zentralisiert werden. Zusammen mit seinen Oberprokuroren Stepan Dmitrievič Nečaev (1792–1869)91 und Nikolaj Aleksandrovič Protasov (1798–1855)92 weitete der Zar den Einfluss des Oberprokurors auf den Heiligsten Synod aus. Das Statut des Geistlichen Konsistoriums vom 27. März 1841 sah die Einrichtung von Konsistorien in sämtlichen Eparchien vor, die von fünf bis sieben geistlichen Würdenträgern besetzt waren und dem jeweiligen Bischof unterstanden. Da den Konsistorien die wesentlichen Verwaltungs- und Kirchengerichtsfunktionen übertragen wurden, entwickelten sie sich zu den administrativen und judikativen Zentren der Diözesen.93 Die Sekretäre der geistlichen Konsistorien wurden vom Oberprokuror des Heiligsten Synods eingesetzt und berichteten diesem direkt über die Beschlüsse und Angelegenheiten der Konsistorien. Dadurch erlangte der Oberprokuror Kontrolle über deren Tätigkeiten.94 Nikolaj I. und Nikolaj Aleksandrovič Protasov nahmen gemeinsam Einfluss auf die Besetzung vakanter Bischofssitze und versetzten unliebsame Geistliche der Eparchialverwaltungen in solche Eparchien, die stärkerer staatlicher Kontrolle unterstanden; dadurch nahmen sie innerkirchliche Aufgaben wahr, die im Grunde in die Kompetenz des Heiligsten Synods fielen.95 Zu einer Zentralisierung der Kirchenangelegenheiten trug auch die Stärkung der bischöflichen Kontrolle über die Eparchien bei. Zu diesem Zweck wurde die Matrikelbuchführung durch die Gemeindepriester standardisiert. Der Zentralisierung diente außerdem die Bindung der jährlichen Berichte der Bischöfe über den Zustand ihrer Eparchien an klare Vorgaben und die Verpflichtung der Bischöfe, der Regierung über ungewöhnliche Ereignisse in ihren Sprengeln zu berichten.96 Nikolaj I. hatte eine zentralisierte, bürokratische und von Laien dominierte Kirchenverwaltung geschaffen.97 Die Kontrolle, die der Staat unter Nikolaj I. und Oberprokuror Protasov über die innerkirchlichen Angelegenheiten der Orthodoxie ausüben konnte, wurde im Folgenden nur unter Dmitrij Andreevič Tolstoj (1823–1889)98 annähernd erreicht.99 Protasov, der von der Forschung häufig als Archetyp des Oberprokurors der synodalen Periode dargestellt
91 Oberprokuror des Heiligsten Synods von 1833 bis 1836. 92 Oberprokuror des Heiligsten Synods von 1836 bis 1855. 93 Edwards, David W.: The System of Nicholas I in Church-State Relations, in: Nichols, Robert L./Stavrou, Theophanis George (Hg.): Russian Orthdoxy under the Old Regime. Minneapolis 1978, 154–169, hier 157 f. 94 Statut des Geistlichen Konsistoriums (Ustav duchovnoj konsistorii) vom 27.3.1841. PSZ II, Bd. 16, Nr. 14409, 221–263 (27.3.1841). 95 Edwards: The system of Nicholas I 162–164. 96 Ebd. 165 f. 97 Ebd. 167. 98 Oberprokuror des Heiligsten Synods von 1865 bis 1880. 99 Freeze: Handmaiden of the State? 91.
22 Einleitung wird,100 ist kein repräsentatives Beispiel für die Macht seines Amtes. Vielmehr führt er vor Augen, dass Macht im Russländischen Reich stärker an Einzelpersonen und die Umstände ihrer Regierung gebunden war – in diesem Fall an das Zusammenwirken des Oberprokurors mit dem Zaren bei gleichzeitiger Schwäche des St. Petersburger Metropoliten – denn an ein bestimmtes Amt.101 Verschiebungen im Spannungsfeld zwischen Orthodoxer Kirche und Staat waren somit im Russländischen Reich auch durch Neubesetzung von Ämtern möglich. Für die vorliegende Untersuchung spielen die wandelbaren Verhältnisse zwischen Staat und Staatskirche eine wichtige Rolle, da an erster Stelle die Orthodoxe Kirche großes Interesse an der Altgläubigenfrage hatte, jedoch nicht vom Staat unabhängig war und im Alleingang keine Politik gegenüber nichtorthodoxen Bevölkerungsgruppen betreiben konnte.102 Einfluss konnte sie auf die Politik gegenüber nicht-orthodoxen Untertanen dennoch nehmen. Imperium und religiöse Vielfalt Bereits in der Moskauer Rus’ gab es neben Russen auch tatarische und finnougrische Einwohner. Der Übergang des Russischen Reiches zu einem polyethnischen und multireligiösen Imperium wird für gewöhnlich erst auf 1552 datiert – das Jahr der Eroberung des Chanats von Kazan’ –, da dies den Beginn einer mehr als drei Jahrhunderte währenden Zeit der Expansion des Reiches und der Inkorporation von mannigfachen Völkern und Glaubensgemeinschaften markiert.103 Als Folge dieser Expansionen lebten Ende des 18. Jahrhunderts im Russländischen Reich zahlreiche unterschiedliche Sprach- und Religionsgemeinschaften. Im Westen des Imperiums lebten vor allem Orthodoxe, Juden, Katholiken, Unierte, Altgläubige und Anhänger verschiedener protestantischer Kirchen, welche wiederum verschiedene Varianten von slavischen, baltischen, germanischen und finno-ugrischen Sprachen verwandten.104 Im Süden und Osten des Imperiums lebten daneben Muslime, Buddhisten, Schamanisten und Animisten.105 Wie ging das imperiale Zentrum mit dieser Vielfalt um? Karen Barkey vertritt die These, dass das Osmanische Reich so lange existieren konnte, weil die 100 Die Extrapolation der Machtfülle Protasovs als Oberprokuror des Heiligsten Synod auf alle Amtsinhaber findet sich beispielsweise bei Waldron: Religious Toleration 106. 101 Freeze: Handmaiden of the State? 91. 102 Waldron: Religious Toleration 105. 103 Hosking, Geoffrey: Russland. Nation und Imperium 1552–1917. Berlin 2003, 31. 104 Avrutin, Eugene M.: Jews and the Imperial State. Identification Politics in Tsarist Russia. Ithaca, London 2010, 4. Kappeler, Andreas: Rußland als Vielvölkerreich. EntstehungGeschichte-Zerfall. München 2001. 105 Tuchtenhagen, Ralph: Religion als minderer Status. Die Reform der Gesetzgebung gegenüber religiösen Minderheiten in der verfaßten Gesellschaft des Russischen Reiches 1905– 1917. Frankfurt am Main u. a. 1995, 24.
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zahlreichen Bevölkerungsgruppen erfolgreich integriert werden konnten.106 In Anlehnung an Alexander Motyl107 beschreibt sie Imperien als Nabe-SpeicheNetzwerke: Die Nabe stellt das imperiale Zentrum dar, welches vertikal mit allen Bevölkerungsgruppen in den verschiedenen Teilen des Imperiums verbunden ist. Diese vertikalen Bindungen sind die Speichen, die zu den peripheren, ethnisch und religiös definierten Gruppen führen.108 Dort fungieren lokale Eliten und Institutionen als Vermittler zwischen den einzelnen Gruppen und dem imperialen Zentrum.109 Mit diesen Vermittlern befindet sich das Zentrum in ständigen Aushandlungsprozessen und kommt zu unterschiedlichen Übereinkünften über die Existenzbedingungen der jeweiligen Gruppe auf imperialem Herrschaftsgebiet.110 Die Zusammenarbeit mit den lokalen Eliten und die Abtretung von Macht an diese war für jedes Imperium notwendig, wenn es Herrschaft über seine einzelnen Gebiete ausüben wollte, ganz gleich wie stark sein Zentrum war. Im Gegenzug für gewährte Autonomien wurden dem imperialen Zentrum Ressourcen in Form von Steuerzahlungen und Rekruten von der jeweiligen Bevölkerungsgruppe überlassen und politische Loyalität gegenüber der Regierung zugesichert.111 Das imperiale Zentrum war darum bemüht, diese vertikalen Bindungen zu den peripheren Gruppen zu stärken; horizontale Bindungen zwischen den unterschiedlichen Gruppen sollten geschwächt werden, da sie einen Autoritätsverlust des Zentrums bedeuteten – aus diesem Grund vergleicht Alexander Motyl das politische System von Imperien mit einem Rad ohne Felge.112 Auf diese Weise befestigten Imperien die Grenzen zwischen einzelnen peripheren Gruppen113 und herrschten im Sinne eines »management of diversity«114 der unterschiedlichen ethnischen und konfessionellen Gruppen im Imperium. Karen Barkeys Beobachtungen über die Machtbeziehungen imperialer politischer Formationen, die sie zuvorderst anhand des Osmanischen Reiches an 106 Barkey, Karen: Empire of Difference: The Ottomans in a Comparative Perspective. Cambridge, New York 2008, 14. 107 Alexander Motyl spricht vom Imperium als einem »political system with a hublike structure – a rimless wheel – within which a core elite and state dominate peripheral elites and societies by serving as intermediaries for their significant interactions and by channeling resource flows from the periphery to the core and back to the periphery.« Motyl, Alexander J.: Imperial Ends. The Decay, Collapse, and Revival of Empires. New York 2001, 4. Karen Barkey ist im Unterschied zu Alexander Motyl allerdings an den Gründen für das relativ lange Fortbestehen der Imperien, an ihrer Stärke, interessiert und nicht so sehr an den Gründen für ihren Untergang. 108 Barkey: Empire of Difference 9. 109 Ebd. 1. 110 Ebd. 9. 111 Ebd. 9, 21. 112 Motyl: Imperial Ends 4. 113 Barkey: Empire of Difference 10–12. 114 Ebd. 27.
24 Einleitung stellt,115 werden von der Forschung zum Russländischen Imperium bestätigt. Das Zentrum des Russländischen Reiches privilegierte die Orthodoxie als Staatsreligion. Bereits Pёtr I. reagierte auf den Zuwachs nicht-orthodoxer Bevölkerungsteile, indem er am 16. April 1702 Anhängern nicht-orthodoxer christlicher Bekenntnisse die freie Ausübung ihrer Religion garantierte. Pёtrs Kalkül war, dass Ausländer im Imperium bleiben und so ihr technisches Know-how in den Dienst des Imperiums stellen würden, wenn sie ihre Religion ungestört leben durften.116 Das Privileg freier Religionsausübung genossen unter Pёtr I. und unter Elizaveta Petrovna (1709–1762)117 jedoch nur Anhänger christlicher Bekenntnisse. Muslime dagegen wurden innerhalb der Reichsgrenzen gewaltsam christianisiert.118 Erst Ekaterina II. (1729–1796)119 sah 1767, unter dem Einfluss des aufgeklärten Absolutismus, in der so genannten Großen Instruktion religiöse Freiheit für Juden und Muslime vor, die 1772 und 1773 umgesetzt wurde.120 Das Ziel Ekaterinas war es, auch diese Bekenntnisse in den Staat zu integrieren und ihre Anhänger für staatliche Zwecke nutzbar zu machen.121 Eine solche Politik der staatlichen Anerkennung nicht-orthodoxer Religionen bei gleichzeitiger Bevorzugung der Orthodoxen Kirche wurde seit dem späten 18. Jahrhundert als Glaubenstoleranz (veroterpimost’) bezeichnet.122 Beginnend mit Ekaterina II. wurden die Verhältnisse des Staates zu den unterschiedlichen nicht-orthodoxen Religionsgemeinschaften auf dem Gebiet des Russländischen Reiches systematisiert – nach dem Vorbild der unter Pёtr betriebenen Nutzbarmachung der Orthodoxen Kirche für staatliche Zwecke. 1788 gründete Ekaterina II. in Orenburg die Mohammedanische Geistliche Versammlung, die von dem Mufti in Ufa aus geleitet wurde. Die Versammlung war eine geistlich-rechtsprechende Zentralinstanz der Muslime in Russland, welcher Fragen der Ehe, Scheidung, Vererbung, aber auch die Besetzung von Ämtern und andere, mit dem islamischen Recht verbundene, Angelegenheiten unterstanden.123 Mit der Einrichtung des römisch-katholischen Kollegiums in St. Petersburg wurde 1801 eine vergleichbare Institution für die Anhänger der katholischen Konfession im Russländischen Imperium ge-
115 Ebd. 14. Barkey vergleicht das Osmanische Reich an mehreren Stellen mit dem Russländischen und dem Habsburger Imperium. 116 Losehand: Symphonie der Mächte 31. 117 Regentin des Russländischen Reiches von 1741 bis 1762. 118 Crews, Robert: Empire and the Confessional State: Islam and Religious Politics in Nineteenth-Century Russia, in: The American Historical Review 108 (2003), 50–83, hier 57 f. 119 Selbstherrscherin über das Russländische Reich von 1762 bis 1796. 120 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 350. 121 Ebd. 122 Werth, Paul W.: The Emergence of »Freedom of Conscience« in Imperial Russia, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 13/3, (2012), 585–610, hier 590 f. 123 Crews: Empire and the Confessional State 56.
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schaffen.124 Evangelische Gläubige wurden seit Anfang des 19. Jahrhunderts von mehr als zehn lutherischen Konsistorien geleitet, angefangen von dem livländischen Generalkonsistorium bis hin zu städtischen Konsistorien in Vilnius, Saratov oder Odessa.125 Darüber hinaus bekamen alle diese Religionsgemeinschaften eigene Statuten, die ihre Rechte und Pflichten gegenüber dem russländischen Staat festlegten.126 Seit Aleksandr I. (1777–1825)127 unterstand die Verwaltung der – seit 1810 als »ausländische Konfessionen« (inostrannye ispovedanija) bezeichneten – staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse der Hauptverwaltung der geistlichen Angelegenheiten ausländischer Konfessionen (Glavnoe upravlenie duchovnych del inostrannych ispovedanij). Diese Hauptverwaltung wurde 1817 in das neu gegründete Ministerium für geistliche Angelegenheiten und Volksbildung (Ministerstvo duchovnych del i narodnogo prosveščenija) integriert.128 In den Gesetzeskodex von 1857 gingen die Statuten der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse – römisch-katholisch, protestantisch, armenisch-gregorianisch, jüdisch, muslimisch und buddhistisch/ heidnisch – mit ein. Damit war die Systematisierung des Verhältnisses des Staates zu den nicht-orthodoxen Religionen und die Kodifizierung der Gesetze, die die Lage dieser Religionen im Reich festsetzten, vorerst abgeschlossen.129 Eine zentrale Institution für die Juden war ebenfalls vorgesehen, wurde aber nie umgesetzt.130 Allerdings war durch eine Reihe von Gesetzen im Laufe der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts das Amt des Kronrabbiners geschaffen worden, welcher von der Regierung in seinem Amt bestätigt werden musste und die Funktion der Gemeindeverwaltung übernahm.131 Durch die genannten Statuten schrieb der Staat den anerkannten Glaubensbekenntnissen die meisten Pflichten, Rechte und institutionellen Strukturen vor, die gegenüber der Orthodoxie bereits festgelegt worden waren.132 Die so genannten ausländischen Konfessionen durften auf russländischem Territorium Gottesdienste nach den Riten ihrer Religion feiern133 und Gotteshäuser errichten. Sie kamen in den Genuss finanzieller staatlicher Unterstützung für die Religionserziehung und der Staat wollte sie vor Proselytismus durch andere Reli 124 Dolbilov, Michail: Russkij kraj, čužaja vera. Ėtnokonfessional’naja politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II. Moskau 2011, 55 f. 125 Ebd. 56. 126 Werth: Schism Once Removed 84. 127 Zar des Russländischen Reiches von 1801 bis 1825. 128 Dolbilov: Russkij kraj 55–57. 129 Ebd. 67. 130 Ebd. 57. 131 Freeze, ChaeRan Y.: Jewish Marriage and Divorce in Imperial Russia. Hanover, London 2002, 95 f. 132 Werth: Schism Once Removed 84. 133 SZ , Bd. 1. St. Petersburg 18332, 17 (Art. 44, 45).
26 Einleitung gionen schützen.134 Die Pflichten der Religionsgemeinschaften gegenüber dem Staat implementierten die religiösen Eliten, die der Staat dafür kooptierte. In den Fällen des Judentums und des Islams musste jeweils ein geistlicher Stand geschaffen werden, im Sinne einer professionalisierten Schicht mit institutionellen, Bildungs- und teilweise Erbansprüchen auf die Monopolisierung des Rechts, das Gesetz der Religionsgemeinschaft auszulegen und deren religiöse Zeremonien zu leiten.135 Die religiösen Eliten sollten den Gemeindemitgliedern die Unterordnung unter das russländische Gesetz predigen,136 ihnen einen als sittlich empfundenen Lebensstil vermitteln und kanonisches Recht innerhalb der Gemeinden auch für Verstöße gegen weltliche Gesetze durchsetzen.137 Davon erhoffte sich die Regierung eine Disziplinierung der Mitglieder »ausländischer Glaubensbekenntnisse« und eine Stabilisierung der Gesellschaft.138 Die vielleicht wichtigste Funktion der kooptierten Eliten für den Staat war die Führung der Gemeinderegister oder Matrikelbücher. In diesen wurden die Lebensdaten aller Gemeindemitglieder – Geburt, Eheschließung und Tod – festgehalten.139 Die Matrikelbücher werden von Paul Werth und Eugene Avrutin als Instrument des modernen russländischen Staates dargestellt, Kontrolle über die Bevölkerung des Imperiums auszuüben.140 Sie stellten im Russländischen Reich die Grundlage für die Identifizierung von Individuen dar, ermöglichten die Aushebung von Rekruten und die Einziehung von Steuern unter der Bevölkerung.141 Insofern handelte es sich bei dem in den Gemeinderegistern festgehaltenen Wissen um Herrschaftswissen, welches den Zugriff des Staates auf individuelle Untertanen überhaupt erst ermöglichte.142 Doch die Matrikelbücher waren nicht nur Grundlage für die Ansprüche des Staates an seine Untertanen, sondern auch für den zivilen Status des Einzelnen und die Inanspruchnahme von Rechten.143 Denn der Auszug aus den Matrikelbucheintragungen diente dem Einzelnen als Dokument zur Beantragung von Inlandsausweisen, und als Ausweis 134 Dolbilov, Michail: Russifying Bureaucracy and the Politics of Jewish Education in the Russian Empire’s Northwest Region (1860s-1870s), in: Acta Slavica Iaponica 24 (2007), 112–143, hier 114. 135 Freeze: Jewish Marriage 81. 136 Waldron: Religious Toleration 106. 137 Crews: Empire and the Confessional State 59–61. 138 Ebd. 58. 139 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 351. 140 Werth, Paul W.: In the State’s Embrace? Civil Acts in an Imperial Order, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 7/3 (2006), 433–458, hier 433. Avrutin: Jews and the Imperial State 3. 141 Werth: In the State’s Embrace 434. 142 Terpiz, Olaf: Rezension zu Avrutin: Jews and the Imperial State, in: H-Soz-Kult 12.8.2011, URL : http://www.hsozkult.de/hfn/publicationreview/id/rezbuecher-15563 (am 24.11.2014). 143 Werth: In the State’s Embrace 434.
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dokument bei der Polizei oder vor Gericht.144 Ohne derartige Dokumente hatte man keinen Zugang zu höheren Bildungsinstitutionen, konnte sich nicht vom Militärdienst befreien lassen oder seinen Wohnort verlassen.145 Auch der Familienstatus wurde anhand der Matrikelbucheintragungen bestimmt.146 Die von den religiösen Eliten der Religionsgemeinschaften vorgenommenen Aufzeichnungen hatten auf diese Weise zivilrechtliche Bedeutung, ähnlich der der Stände (soslovie).147 Ohne Matrikelbuchaufzeichnungen war man aus dem gesellschaftlichen Leben des Russländischen Reiches weitgehend ausgeschlossen.148 Eugene Avrutin beschreibt, dass viele Juden im Russländischen Imperium diese »power of documentation« erkannten und sich dieses Registrierungs system eigensinnig aneigneten, indem sie es umgingen, ihre eigenen Identitäten manipulierten oder Matrikelbucheintragungen fälschten.149 Zweifelsohne eröffnete die Übertragung einer für die zentrale Herrschaft so wichtigen Funktion auf lokale Eliten in vielen Fällen Möglichkeiten zum Missbrauch gegenüber Gemeindemitgliedern und dem Staat. Doch Überlegungen, die Verwaltung der Lebensdatenregistrierungen der Bevölkerung an zivile Behörden unter direkter Kontrolle des Zentrums zu übergeben, konnten aufgrund fehlender personeller und finanzieller Ressourcen der Verwaltung nicht umgesetzt werden.150 Während die meisten west- und nordeuropäischen Länder bis 1870 zur zivilen Registrierung ihrer Bevölkerungen übergingen, blieb die konfessionell gebundene Registrierung der Lebensdaten im Russländischen Reich bis 1917 bestehen.151 Und keinesfalls kann das Matrikelbuchsystem des Russländischen Reiches als vollkommen dysfunktional angesehen werden.152 Vielmehr erlaubte die Koop tierung der religiösen Eliten durch den Staat die Ausweitung der zentralen Herrschaft auf die unterschiedlichen Religionsgruppen des Russländischen Reiches. Angefangen mit der Gründung des Heiligsten Synods im Jahr 1721 bis hin zur Veröffentlichung des Gesetzeskodex von 1857, in welchem sich sämtliche Verordnungen über die staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse finden, integrierte das geschaffene System die Religionsorganisationen einschließlich jener der Orthodoxen Kirche zu einem gewissen Grade in den Staat. Bis Mitte des 19. Jahrhunderts war dadurch der Großteil der Untertanen der Autorität religiöser Behörden unterstellt worden, die vom Staat erschaffen oder zumindest legitimiert worden waren und durch imperiale Statuten Rechte und 144 Crews: Empire and the Confessional State 67. 145 Avrutin: Jews and the Imperial State 54. 146 Freeze: Jewish Marriage 110. 147 Dolbilov: Russifying Bureaucracy 114. Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 351. 148 Avrutin: Jews and the Imperial State 54. 149 Ebd. 12. 150 Werth: In the State’s Embrace 434. 151 Ebd. 440. 152 Ebd. 456.
28 Einleitung Pflichten bekommen hatten. Paul Werth nennt dieses System der Herrschaft über die russländische Bevölkerung »multiconfessional establishment«.153 Robert Crews weist auf eine weitere Funktion dieses »multiconfessional establishment« hin. Er schreibt, dass sich religiöse Gemeinden im Fall innerer Konflikte oft mit der Bitte um Beilegung ihrer inneren Streitigkeiten an den Staat wandten.154 Dadurch wurde der Staat in innerreligiöse Fragen der nicht-orthodoxen Religionen hineingezogen und definierte, indem er für die eine oder andere Seite Partei ergriff, was in einem bestimmten Glauben richtig oder falsch war.155 In einigen Fällen bekämpfte der russländische Staat dissidente Gruppen der katholischen oder protestantischen Kirchen.156 Die Entscheidung innergemeindlicher Konflikte führte außerdem dazu, dass der Staat seine Herrschaft über die Untertanen bis auf die Gemeindeebene ausdehnen konnte.157 Aufgrund der Anrufung des Staates in solchen Konfliktfällen kam es also zu einer Integration der Glaubensgemeinschaften in das Reich, die von den Gemeinden selbst ausging.158 Robert Crews beschreibt das Russländische Reich als einen »confessional state« – aufgrund der staatlichen Praxis der Toleranz und der Förderung konfessioneller Unterschiede, welche wiederum die Loya lität der Untertanen sicherstellen und eine geordnete Herrschaft hervorbringen sollten.159 Unter dieser Perspektive erscheint das Herrschaftssystem des Russländischen Reiches als gutes Beispiel für ein Imperium nach Alexander M otyls und Karen Barkeys Definition – im Sinne eines Nabe-Speichen-Netzwerks ohne Felge. Das Zentrum herrschte mit Hilfe lokaler Eliten über religiös und ethnisch definierte Bevölkerungsgruppen auf dem Territorium des Imperiums. Dabei verhandelte das Zentrum mit jeder Religionsgruppe getrennt voneinander und traf unterschiedliche Übereinkünfte. Horizontale Verbindungen zwischen den Gruppen wurden unterdrückt, indem konfessionelle Unterschiede bewusst betont wurden. Eine Besonderheit des »confessional state« war, dass die Einbindung der einzelnen staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse auf äußerst ähnliche Art und Weise funktionierte, um den zivilen Angelegenheiten des Staates Kohärenz zu verleihen.160 153 Werth, Paul W.: The Tsar’s Foreign Faiths. Toleration and the Fate of Religious Freedom in Imperial Russia. Oxford 2014, 48. 154 Crews: Empire and the Confessional State 57. 155 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 353. 156 Paul Werth hat allerdings darauf hingewiesen, dass der Staat es nicht prinzipiell als seine Aufgabe ansah, die anerkannten Glaubensbekenntnisse vor inneren Schismen zu schützen. Vielmehr konnten politische, ideologische und legale Überlegungen ebenso gut zu einer Anerkennung ehemals als schismatisch wahrgenommener Religionsgemeinschaften führen. Werth: Schism Once Removed 99 f. 157 Crews: Empire and the Confessional State 54. 158 Ebd. 82. 159 Ebd. 52. 160 Werth: In the State’s Embrace 436.
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Die Altgläubigen wurden als von der Orthodoxie abtrünnige Religionsgemeinschaft bis Mitte des 19. Jahrhunderts nicht in dieses »multiconfessional establishment« integriert. Welche Folgen dieser Umstand für die Kontrolle der Regierung über diesen Teil der Bevölkerung hatte, wird in Kapitel 3 beschrieben. Außerdem wird gezeigt, inwiefern die Kontrollmechanismen, die sich der »confessional state« gegenüber den staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse zunutze gemacht hatte, in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts auch auf die Altgläubigen angewandt werden sollten. Diskriminierung und Disziplinierung Michail Dolbilov schließt sich in seiner 2011 erschienenen Monografie »Russisches Land, fremder Glauben«161 an Robert Crews’ »confessional state«Paradigma an. Er betont jedoch stärker, dass die Glaubenstoleranz staatliche Intervention in innerreligiöse Angelegenheiten der »ausländischen Glaubensbekenntnisse« bedeutete, und bezeichnet diese Herrschaftslogik daher als Diziplinierung.162 Beispiele für einen solchen Interventionismus waren die An eignung von Machtbefugnissen der geistlichen Elite über die Gläubigen, wenn der Staat innergemeindliche Streitigkeiten schlichtete und zum Anwalt der Orthodoxie innerhalb einer Religion wurde, oder der Eingriff in den hierarchischen Aufbau nicht-christlicher Religionen durch die Schaffung quasikirchlicher Institutionen für den Islam und das Judentum.163 Ähnliches gilt für die Einrichtung des römisch-katholischen Kollegiums, welches nicht die Zustimmung des Papstes erhielt.164 Der Eingriff des Staates in innerreligiöse Angelegenheiten ließe sich noch durch zahlreiche Beispiele erweitern. So forderte das Zentrum die Einführung des Fürbittgebets für den Zaren und seine Familie in den Gottesdienst der nicht-orthodoxen Religionsgemeinschaften, als Beweis der Loyalität gegenüber Zar und Staat.165 161 Dolbilov: Russkij kraj. 162 Ebd. 277. 163 Ebd. 749. Dieser konstatierte Interventionismus ist laut Dolbilov der Grund, weshalb in Bezug auf das Russländische Reich nicht von einer »partiellen Milletisierung« die Rede sein kann, wie von Andreas Kappeler im Vergleich mit dem Osmanischen Reich beschrieben. »Milletisierung« impliziere, dass der Staat sich nicht in die geistlich-spirituelle Sphäre eingemischt habe. Dolbilov: Ebd. 277. Zur »partiellen Milletisierung«: Kappeler, Andreas: Centr i ėlity periferij v gabsburgskoj, rossijskoj i osmanskoj imperijach (1700–1918 gg.), in: Ab Imperio 2 (2007), 17–58, hier 28–31. 164 Dolbilov: Russkij kraj 56. 165 Im Gesetzeskodex von 1833 hieß es dazu: »[A]lle Völker, die sich im Russländischen Reich aufhalten, dürfen ihren Allmächtigen Gott in unterschiedlichen Sprachen nach dem Gesetz und dem Bekenntnis ihrer Vorfahren ehren, wenn sie die Herrschaft des russischen Monarchen segnen und den universalen Schöpfer um die Vermehrung des Wohlergehens und die Stärkung des Imperiums bitten.« SZ , Bd. 1. St. Petersburg 18332, 17 (Art. 45).
30 Einleitung Darüber hinaus erweitert Michail Dolbilov die von Robert Crews als Glaubenstoleranz beschriebene Herrschaftslogik um diejenige der Diskriminierung. Er zeigt in seiner Untersuchung des staatlichen Umgangs mit Juden und Katho liken im nordwestlichen Gebiet unter Aleksandr II., dass beide Logiken der imperialen Religionspolitik im Wechsel auf Juden und Katholiken angewandt wurden und zeitgleich zutage treten konnten;166 sie dienten der Kontrolle durch das Zentrum und der Stärkung der Loyalität der Untertanen.167 Diese Beobachtungen decken sich mit jenen Karen Barkeys. Sie schreibt, dass das ( osmanische) imperiale Zentrum gegenüber den verschiedenen ethnischen und religiösen Gruppen unterschiedliche Strategien verfolgen konnte, die von Tolerierung über Assimilierung bis hin zu Verfolgung und Vertreibung reichten.168 Toleranz und Intoleranz seien keine unmittelbaren Ziele des Zentrums, sondern Strategien des Herrschaftskonzeptes »management of diversity«169 gewesen,170 welche der Aufrechterhaltung der Herrschaft dienten. Die Erweiterung des »confessional state«-Paradigmas durch die Herrschafts logik der Diskriminierung erweist sich nicht nur in der Betrachtung des staatlichen Umgangs mit den »ausländischen Bekenntnissen« als fruchtbar. Insbe sondere im Fall der als Schismatiker bezeichneten, staatlich nicht anerkannten Glaubensbekenntnisse wie den Altgläubigen griffen die Regierung Nikolajs I. und in vermindertem Ausmaß auch seine Nachfolger auf Diskriminierung zurück. Dass diskriminierende und disziplinierende Maßnahmen zur selben Zeit gegenüber den Altgläubigen Anwendung fanden, wird in den Kapiteln 4 und 5 der Arbeit gezeigt. Glaubenstoleranz und Gewissensfreiheit Die beschriebene Politik der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) verwendet den Begriff Toleranz nicht in seinem heutigen Sinne. Benjamin Kaplan unterscheidet in seiner Monografie über Konflikte in gemischtkonfessionellen Gemeinden West- und Nordeuropas in der Frühmoderne zwischen Toleranz als positivem Recht und Toleranz als sozialer Praxis.171 Erstere sei von John Locke (1632– 1704) und Sebastian Castellio (1515–1563) erdacht, theoretisch gerechtfertigt und anschließend von Voltaire (1694–1778) und anderen Philosophen der Aufklärung verbreitet worden. Toleranz als soziale Praxis dagegen beschreibe die friedliche Koexistenz von Menschen unterschiedlicher Bekenntnisse, die in 166 Dolbilov: Russkij kraj 750–753. 167 Ebd. 748. 168 Barkey: Empire of Difference 19–21. 169 Ebd. 27. 170 Ebd. 21. 171 Kaplan, Benjamin: Divided by Faith. Religious Conflict and the Practice of Toleration in Early Modern Europe. Cambridge, London 2007, 8.
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nachbarschaftlichen Verhältnissen zusammenleben. Eine solche Toleranz benötige kein Prinzip der gegenseitigen Akzeptanz oder der Begrüßung von Diversität um ihrer selbst willen. Sie sei vielmehr in der traditionellen Bedeutung des Begriffs zu verstehen: als Erduldung eines verwerflichen Zustandes; als pragmatisch motivierte, widerwillige Akzeptanz unangenehmer Realitäten.172 Toleranz in diesem Sinne verstand Thomas Paine (1739–1809) nicht als Gegenteil von Intoleranz. Vielmehr seien Toleranz und Intoleranz zwei Seiten derselben Medaille, da beide das natürliche Recht eines jeden Menschen auf Gewissensfreiheit nicht anerkennten.173 Bis zur Französischen Revolution war Toleranz im Sinne von Gewissensfreiheit – als positives Recht in der heutigen Bedeutung des Wortes – in keinem Toleranzgesetz festgeschrieben. Vielmehr ging es bei dem Catholic Relief Act in England von 1778, dem Toleranzpatent Josephs II. aus dem Jahr 1782 oder dem preußischen Toleranzgesetz von 1788 um Toleranz in ihrer traditionellen Bedeutung.174 Die aufgeklärten absoluten Herrscher des 18. Jahrhunderts sahen in der Toleranz einen Nutzen für den Staat.175 Dies bedeutete aber nicht, dass sie die Staatsreligion mit anderen Religionen gleichgesetzt hätten. Joseph II. zweifelte zu keiner Zeit daran, dass der Katholizismus die einzige heilbringende Religion sei.176 Dementsprechend bedeutete das Toleranzpatent keine Gleichberechtigung aller Religionen im Habsburger Reich.177 In der Darstellung Karen Barkeys tritt Toleranz im Imperium ebenfalls in ihrer traditionellen Bedeutung auf. Zwar erkennt sie an, dass John Lockes »A Letter Concerning Toleration« oder Voltaires »Toleration« einen Einfluss auf die Entwicklung religiöser Toleranz gehabt haben, doch »[t]his emphasis on religious and cultural reasons for toleration leads us away from the political, economic and mainly administrative functions of toleration in a mulitethnic, multireligious empire.«178 Die Betonung der traditionellen Bedeutung von Toleranz in Bezug auf die Religionspolitik des Imperiums ist Barkeys funktionalistischem Verständnis der imperialen Politik geschuldet. Aber unter Umständen lohnt sich der Blick auf die geistesgeschichtliche Entwicklung eines Landes, um die Einführung einer staatlichen Toleranzpolitik besser verstehen zu können. In der Geschichte Russlands muss auch für das 19. Jahrhundert noch zwischen zwei Konzepten der Toleranz unterschieden werden. Im Falle der oben beschriebenen Religionspolitik der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) handelte es sich um Toleranz im traditionellen Sinne des Wortes. Glaubenstoleranz war ein widerrufbares Privileg, welches vom Staat an bestimmte religiöse Gruppen 172 Ebd. 173 Ebd. 8 f. 174 Ebd. 351 f. 175 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 40. 176 Kaplan: Divided by Faith 350. 177 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 340. 178 Barkey: Empire of Difference 110.
32 Einleitung verliehen werden konnte.179 Das Individuum hatte lediglich das Recht, denjenigen Glauben frei auszuüben, in welchen es hineingeboren worden war. Religiöse Selbstbestimmung des Einzelnen180 oder die Möglichkeit der Konfessionslosigkeit waren bis 1905 und darüber hinaus im Russländischen Reich staatlicherseits nicht vorgesehen.181 Zweck dieser Religionspolitik war nicht die religiöse Freiheit der Untertanen, sondern die administrative Regulierung und Nutzbarmachung nicht-orthodoxer Religionsgruppen für den Staat.182 Diese Glaubenstoleranz bedeutete weder vollständige religiöse Freiheit noch eine rechtliche Gleichheit der unterschiedlichen Religionsgemeinschaften im Imperium.183 Die Vorherrschaft der Orthodoxen Kirche im Staat wurde von der Politik der Glaubenstoleranz nicht in Frage gestellt.184 Insofern lässt sich in Bezug auf das Russländische Reich seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts von der Umsetzung einer pragmatisch-politisch motivierten Toleranz in ihrer traditionellen Bedeutung sprechen. Wichtig ist in diesem Zusammenhang Paul Werths Beobachtung, dass die Idee von dem Russländischen Reich als religiös tolerantem Imperium Einfluss auf die Bereitschaft der Beamten hatte, nicht-orthodoxen Untertanen religiöse Freiheiten einzuräumen oder, auf der anderen Seite, in ihre geistlichen Angelegenheiten einzugreifen.185 Glaubenstoleranz sei nicht nur eine Herrschaftsinstrument gewesen, sondern auch ein ideelles Prinzip, welches beachtet und verteidigt werden sollte.186 Im 19. Jahrhundert entwickelte sich im Russländischen Reich parallel zur Glaubenstoleranz das Konzept der Gewissensfreiheit (svoboda sovesti). Im Unterschied zur Glaubenstoleranz bezeichnet Gewissensfreiheit ein unveräußerliches individuelles Recht auf religiöse Selbstbestimmung, welches nicht vom Staat gewährt oder einbehalten, sondern nur anerkannt oder eben nicht anerkannt werden kann.187 Paul Werth zeigt, dass es die Vorstellung der Ge wissensfreiheit zwar spätestens seit Pёtr I. im Russländischen Reich gegeben hat, diese vor Mitte des 19. Jahrhunderts aber nur selten und nur unsystematisch geäußert wurde.188 Nachdem der Begriff Gewissensfreiheit in den 1860er Jahren Eingang in den bürokratischen Diskurs über den staatlichen Umgang mit der nicht-orthodoxen Bevölkerung gefunden hatte, änderte sich zwar an der 179 Poole, Randall A.: Religious Toleration, Freedom of Conscience, and Russian Liberalism, in: Kritika. Explorations in Russian and Eurasian History 13/3 (2012), 611–634, hier 613. 180 Werth: The Emergence of »Freedom of Conscience« 593. 181 Crews: Empire and the Confessional State 58. 182 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 340. 183 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 45. 184 Werth: The Emergence of »Freedom of Conscience« 590. 185 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 106. 186 Ebd. 122. 187 Poole: Religious Toleration, Freedom of Conscience, and Russian Liberalism 613. 188 Werth: The Emergence of »Freedom of Conscience« 591 f.
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Religionspolitik des Reiches zunächst nichts.189 Doch verschwand der Begriff nicht aus den Diskussionen der Philosophen, Gelehrten und der Presse,190 bis Nikolaj II. im Jahr 1905 die Achtung der Gewissensfreiheit in Russland proklamierte. Darunter wurde das Recht einer jeden erwachsenen Person verstanden, ihren Glauben frei zu wählen oder sich sogar als konfessionslos zu bezeichnen.191 Beide Konzepte der Toleranz wurden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in Regierungs- und Kirchenkreisen sowie von der Intelligenz voneinander unterschieden und diskutiert. Welchen Einfluss sie auf das Denken über die Lage der Altgläubigen im Russländischen Reich und dadurch auf die Politik der Regierung hatten, ist eine der wesentlichen Fragen der vorliegenden Arbeit. Loyalität und religiöser Dissens Die Politik der Glaubenstoleranz im Sinne einer Disziplinierung nicht-ortho doxer Glaubensgemeinschaften im Russländischen Reich erstreckte sich nicht nur auf staatlich anerkannte Religionsgruppen. Nicolas Breyfogle zeigt in seiner Monografie »Heretics and Colonizers«,192 dass auch als Sekten bezeichnete Gruppen wie die Subbotniki, Molokany oder Duchoborcy in Kolonisationsgebieten des Imperiums, wie beispielsweise Transkaukasien oder Bessarabien, von der Regierung als loyale Untertanen wahrgenommen werden konnten und infolge dessen ihre Religion frei ausüben durften. Viele religiöse Dissidenten waren in den 1830er Jahren von der Regierung teils auf freiwilliger Basis und teils unter Zwang nach Transkaukasien umgesiedelt worden, um sie von der orthodoxen Bevölkerung zu isolieren und so die Gefahr der Verbreitung der jeweiligen Sekte zu stoppen.193 Dort angekommen, übernahmen sie Verwaltungs-, Wirtschafts-, militärische und Russifizierungsfunktionen und halfen dem Staat beim empire-building in diesen Grenzregionen.194 Für die Einschätzung, dass es sich bei den Kolonisten um loyale Untertanen des russländischen Staates handelte, spielte ihre Zugehörigkeit zur russischen Ethnie eine wichtige Rolle. Ihre russische Ethnizität wurde seit Mitte des 19. Jahrhunderts von den lokalen Beamten betont, wodurch ihnen größere Loyalität gegenüber dem Staat unterstellt wurde als den nicht-russischen Bewohnern der Region.195 Allerdings konnte das Bild des loyalen russischen Kolonisten das 189 Ebd. 602. 190 Ebd. 603. 191 Ebd. 585. 192 Breyfogle, Nicholas B.: Heretics and Colonizers. Forging Russia’s Empire in the South Caucasus. Ithaca, London 2005. 193 Ebd. 2. 194 Ebd. 131. 195 Ebd. 144.
34 Einleitung jenige des schädlichen Sektenangehörigen nie vollständig verdrängen; stattdessen pendelten die Beamten in ihren Darstellungen der Lage im Südkaukasus je nach Situation zwischen diesen beiden Interpretationen.196 Mit Michail Dolbilov gesprochen, wurde in diesen Fällen in Bezug auf die staatlich nichtanerkannten Sektenangehörigen in Transkaukasien zwischen den beiden Herrschaftslogiken der Disziplinierung und der Diskriminierung gewechselt. Dabei legte der Staat ein erstaunliches Maß an Pragmatismus an den Tag. Obwohl die Sektenangehörigen als von der Orthodoxie Abgefallene wahrgenommen wurden, vor denen die Staatskirche geschützt werden musste, wurden ihnen religiöse Freiheiten gewährt, da sie in den peripheren Regionen des Reiches wichtige Aufgaben für die staatliche Verwaltung übernahmen.197 Die Regierung war aufgrund mangelnder Infrastruktur und fehlender Ressourcen auf die Zusammenarbeit mit Bevölkerungsgruppen angewiesen, deren religiöse Überzeugungen der Staatsideologie widersprachen. Die Trennung von religiösem Glauben und politischer Loyalität, die für die staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse durch ihre Integration in den Staat vollzogen worden war,198 konnte auch für die staatlich nicht-anerkannten Glaubensbekenntnisse gelten. Dabei darf allerdings nicht übersehen werden, dass die Lage der religiösen Dissidenten im Russländischen Reich rechtlich undefiniert und damit in hohem Maße ungewiss blieb. Da die Art und Weise der Behandlung religiöser Dissidenten durch den Staat von der Einschätzung abhing, ob die jeweilige Gemeinschaft gegenüber der Regierung loyal war oder nicht, wird in dieser Arbeit untersucht, ob und wann die Altgläubigen als loyale Untertanen galten und welchen Einfluss dies auf den staatlichen Umgang mit ihnen hatte. Religions- und Nationalitätenpolitik Ob die Regierung eine religiöse Gruppe disziplinierte oder diskriminierte, hing maßgeblich von der Einschätzung der Beamten ab, ob die jeweilige Gruppe als loyal gegenüber dem Staat galt oder nicht. Die Einschätzung der poli tischen Loyalität einer Bevölkerungsgruppe orientierte sich nicht nur an deren Glaubensbekenntnis, sondern auch an ihrer ethnischen/»nationalen« und ständischen Zugehörigkeit. Dabei wurden ethnische und religiöse Zugehörigkeit oft gleichgesetzt – wie beispielsweise im Fall von Katholizismus und polnischer Nation199 –, jedoch nicht immer.200 Vielmehr waren sich die Beamten 196 Ebd. 148. 197 Kappeler: Rußland als Vielvölkerreich 110–118. 198 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 352. 199 Dolbilov: Russkij kraj 16. 200 Ebd.
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des Unterschiedes zwischen ethnischer und religiöser Zugehörigkeit bewusst201 und ebenso des Problems, dass eine solche Gleichsetzung in vielen Fällen nicht der Realität entsprach.202 Darius Staliūnas zeigt in seiner Untersuchung der als Russifizierung bezeichneten Nationalitätenpolitik gegenüber polnischen, lettischen und weißrussischen Katholiken sowie gegenüber Juden, dass es eine einheitliche, groß angelegte Nationalitätenpolitik nicht gegeben hat.203 Stattdessen vermischten sich Versuche, die unterschiedlichen ethnisch und religiös definierten Bevölkerungsgruppen zu assimilieren, zu akkulturieren und zu integrieren.204 Der staatliche Umgang mit den verschiedenen Bevölkerungsgruppen war einem starken Wandel ausgesetzt, der laut Staliūnas sowohl von den äußeren Um ständen als auch von den maßgeblichen Akteuren abhing – allen voran vom Innenminister und von den Generalgouverneuren.205 Diese Beamten konnten unterschiedliche Konzepte des Verhältnisses von Loyalität, Ethnie und Religion vertreten und dementsprechend unterschiedliche Maßnahmen des staatlichen Umgangs mit den verschiedenen Gruppen befürworten.206 Man kann feststellen, dass Eigen- und Fremdzuschreibungen sowie Konstruktionen und Abgrenzungen von Kollektiven – ob ethnisch, religiös oder kulturell genannt – 201 Ebd. 202 Staliūnas, Darius: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863. Amsterdam, New York 2007, 170–175. 203 Ebd. 299. Der Begriff Russifizierung im Sinne einer groß angelegten Nationalitätenpolitik wurde bereits von Edward Thaden und Alexei Miller kritisiert. Thaden unterschied mehrere Arten der Russifizierung: eine spontane, die bereits im 16. Jahrhundert begann; eine administrative, die Teil der absolutistischen Verwaltungszentralisierung seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts war; und eine gewaltsame kulturelle Russifizierung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Thaden, Edward C.: Introduction, in: Ders. (Hg.): Russi fication in the Baltic Provinces and Finland, 1855–1914. Princeton 1981, 3–11, hier 8 f. Miller kritisierte diese Einteilung, weil es sich bei den ersten beiden Formen um Akkulturations- und Assimilierungsprozesse handele, während die zweite Form mit symbolischen und Verwaltungspraktiken zu tun habe. Miller, Alexei: The Romanov Empire and Nationalism. Essays in the Methodology of Historical Research. Budapest, New York 2008, 46 f. 204 Staliūnas: Making Russians 300. Staliūnas übernimmt die Definitionen von Assimilation, Akkulturation und Integration, die Benjamin Nathans 2002 in seiner Monografie »Beyond the Pale« aufstellte: »[A]ssimilation should be understood as a process culminating in the disappearance of a given group as a recognizably distinct element within a larger society. By contrast, acculturation signifies a form of adaptation to the surrounding society that alters rather than erases the criteria of difference, especially in the realm of culture and identity. Integration is the counterpart of acculturation (though the two do not necessarily go hand in hand) in the social realm – whether institutional (e.g., schooling), geographic (patterns of residential settlement), or economic (occupational profile).« Nathans, Benjamin: Beyond the Pale: The Jewish Encounter with Late Imperial Russia. Berkeley, Los Angeles, London 2002, 11. 205 Staliūnas: Making Russians 158 f. 206 Ebd. 167–170, 299.
36 Einleitung im Russländischen Reich des 19. Jahrhunderts bewusst und unbewusst situativ unterschiedlich und pragmatisch angewandt wurden.207 Im Laufe der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ist allerdings eine Nationalisierung des konfessionellen Diskurses erkennbar, wodurch die nationale und die religiöse Identität stark miteinander in Verbindung gebracht wurden und alle nicht-orthodoxen religiösen Identitäten als Gefahr für die nationale angesehen wurden.208 Loyalität wurde nun stärker als zuvor mit orthodoxer Religion und russischer Nation in Verbindung gebracht, was die Praxis der Glaubenstoleranz im »confessional state« in Frage stellte, da es nun nicht mehr nur um die Lage der Staatskirche ging, sondern um die russische nationale Identität.209 Die Altgläubigen wurden zweifelsohne als ethnische Russen wahrgenommen, die jedoch nicht der Orthodoxie angehörten. Für die vorliegende Arbeit stellt sich daher die Frage, wie die Beamten die Frage nach der Loyalität der Altgläubigen gegenüber dem Staat beantworteten und wovon diese Einschätzung abhing. Da Michail Dolbilov und Darius Staliūnas gezeigt haben, dass lokale Machthaber großen Einfluss auf die Entwicklung und Umsetzung der Religions- und Nationalitätenpolitik gegenüber einer bestimmten Gruppe hatten, wird den lokalen Akteuren in Livland besondere Aufmerksamkeit geschenkt. Damit wird Karen Barkeys Modell der vertikalen Verbindung des Zentrums mit einer bestimmten ethno-konfessionellen Gruppe, die durch deren lokale Elite vermittelt wird, erweitert um die lokalen Machthaber, die von St. Petersburg eingesetzt oder kooptiert worden waren und zwischen dem Zentrum und den Eliten der einzelnen Bevölkerungsgruppen standen.
207 In den nordwestlichen Gouvernements galten die katholischen Litauer als potentielle Polen und damit als Gefährdung für den Staat, weshalb sie in den späten 1860er Jahren unter Repressionen zu leiden hatten. Die Juden, die auf diesem Gebiet lebten, galten hingegen weder als loyal noch als dem Staat gegenüber feindlich gesinnt und wurden weniger stark diskriminiert. (Staliūnas: Making Russians 297.) Assimilationsversuche wurden den Juden gegenüber nicht unternommen, da sie als kulturell zu fremd galten. (Ebd. 298.) Die katholischen Weißrussen galten dagegen als ursprünglich orthodoxe Großrussen, weshalb auf ihre Konversion hingearbeitet wurde, da sie nach Anschluss an die Orthodoxie als erfolgreich assimiliert angesehen wurden. (Ebd. 134–136.) 208 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 354. 209 Ebd. 355. Ein Beispiel für diese Nationalisierung des konfessionellen Diskurses ist der Umgang der Regierung mit der protestantischen Sekte der Stundisten. Diese waren zunächst toleriert worden. Die deutsch-russischen Spannungen der 1890er Jahre sorgten jedoch dafür, dass sie als »deutsche Sekte« wahrgenommen wurden, die eine Gefahr für die russische bäuerliche Identität darstellten. Daher forderte die Orthodoxe Kirche von der Regierung ein resolutes Vorgehen gegen die Stundisten. Ebd.
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Schismatiker – Sektenangehörige – Altgläubige Untersuchungsobjekt dieser Arbeit sind die Altgläubigen. Sie bezeichneten sich selbst als Altritualisten (staroobrjadcy), Altgläubige (starovery) und manchmal auch als Orthodoxe (pravoslavnye). Von der russländischen Regierung und der Orthodoxen Kirche wurden sie bis Ekaterina II. und erneut seit A leksandr I. bis 1905 pejorativ als Raskol’niki, das heißt Schismatiker, bezeichnet. Der Begriff Raskol’niki fand jedoch nicht allein für die Altgläubigen Verwendung. Es handelte sich um einen Sammelbegriff für sämtliche religiöse Gruppen des Imperiums, die keine staatliche Anerkennung genossen. Gemeint waren neben den Altgläubigen in erster Linie andere von der Orthodoxen Kirche abgefallene Gruppen, die auch als »Sekten« (sekty) bezeichnet wurden – Duchoborcy, Molokane, Chlysty, Skopcy, Iudejstvujuščie und andere. Im Laufe der Zeit wurden auch von der evangelischen Lehre beeinflusste Religionsgruppen als Raskol’niki bezeichnet, wie die Stundisten (štundisty). Allen diesen »Schismatikern« war gemein, dass sie fast ausschließlich der russischen Ethnie angehörten, ihre Lehre vom (orthodoxen) Christentum geprägt war und der Großteil ihrer Anhänger aus der gesellschaftlichen Unterschicht stammte.210 In der Selbstwahrnehmung gab es zwischen diesen »Sekten« und den Altgläubigen jedoch einen entscheidenden Unterschied: Die Altgläubigen verstanden sich selbst nicht als Schismatiker oder Häretiker, sondern als einzig wahre Orthodoxe. Nicht sie waren von der orthodoxen Tradition abgewichen, sondern die Staatskirche, welche sie wiederum pejorativ als »nikonianisch« bezeichneten. Die unterschiedlichen Sekten hingegen verstanden sich selbst weder in Bezug auf ihre Herkunft noch auf ihre Riten noch auf ihre Glaubensinhalte als orthodox.211 In dieser Arbeit wird der Begriff Raskol’niki aus Gründen der sprachlichen Abwechslung verwendet, wenn die Meinung von Zeitgenossen wiedergegeben wird. Dabei ist zu beachten, dass die Verwendung dieses pejorativen Begriffs in offiziellen Dokumenten und Publikationen des 19. Jahrhunderts obligatorisch war. Selbst Beamte und Publizisten, die sich für eine Ausweitung der Rechte von Altgläubigen aussprachen oder mit ihnen sympathisierten, mussten sie als Raskol’niki bezeichnen, wenn sie ihre Schriften in Russland veröffentlichten. Der Begriff Raskol’niki wird in dieser Arbeit synonym mit Altgläubigen verwendet. Wenn auf die anderen unter dieser Kategorie subsumierten Religionsangehörigen Bezug genommen wird, wird der Begriff Sekte verwendet. Zwar handelt es sich um einen pejorativen Quellenbegriff, doch eignet er sich am besten, um die Altgläubigen von den anderen nicht-orthodoxen, staatlich nicht anerkannten Religionsgruppen zu unterscheiden. 210 Ėtkind, Aleksandr: Chlyst. Sekty, literatura i revoljucija. Moskau 1998, 3. 211 Treadgold, Donald W.: The Peasant and Religion, in: Vucinich, Wayne S. (Hg.): The Peasant in Nineteenth-Century Russia. Stanford 1968, 72–107, hier 81.
38 Einleitung Abwertend wurden die Gotteshäuser der Altgläubigen bis 1905 nicht als Kirchen (cerkvi, chramy) bezeichnet, sondern als Bethäuser (molennyja, molitvennye doma). Dieser Begriff fand auch unter den priesterlosen Altgläubigen Verwendung. Diese Bethäuser durften von außen nicht als Kirchen zu erkennen sein. Die Arbeit übernimmt den Begriff Bethäuser, um den äußerlichen Unterschied zwischen diesen Gebäuden und orthodoxen Kirchen zu verdeutlichen.
Vorgehen Der Arbeit ist eine Einführung in die Geschichte des Altgläubigentums vorangestellt, die den Leser mit diesem faszinierenden Phänomen der russischen Geschichte bekannt machen will. Sie vermittelt einen Einblick in die Eigenarten und die demografische Lage der Altgläubigen in den Ostseegouvernements, welcher für das Verständnis der darauffolgenden Untersuchung nötig ist. Die Hauptkapitel der Arbeit sind chronologisch gegliedert, um den Wandlungsprozess des Regierungskurses gegenüber den Altgläubigen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verdeutlichen. Das erste Hauptkapitel (Kapitel 3) widmet sich dem Ausgangspunkt der Untersuchung – der Diskriminierung der Altgläubigen in den letzten Herrschaftsjahren Nikolajs I. Das System aus Bestimmungen und Behörden, welches der Zar gegen die Altgläubigen in Aufstellung brachte, wird vorgestellt. Ziel ist es, das unübersichtliche Durcheinander veröffentlichter und geheimer Bestimmungen über die Altgläubigen sowie das Wirrwarr kirchlicher und ziviler Behörden, Komitees und Kommissionen, die mit den Altgläubigen befasst waren, zu ordnen. Erst durch diesen Schritt wird verständlich, welche konkreten Ziele die Regierung gegenüber den Altgläubigen verfolgte. Ob die Regierung die Ziele des Diskriminationskurses erreichen konnte, wird anschließend an den Beispielen der Zerstörung der religiösen Organisation der livländischen Altgläubigen und ihrer Verfolgung für so genannte Verbrechen gegen den Glauben untersucht. Der Blick wird sowohl auf die Zusammenarbeit zentraler, lokaler und einheimischer Beamter gelenkt als auch auf den Widerstand der Altgläubigen gegen Übergriffe von Staat und Kirche. Kapitel 4 widmet sich den ersten 20 Jahren der Herrschaft Aleksandrs II. Nach Lockerung der Zensur entstand im Russländischen Reich ein Diskurs über den Charakter des alten Glaubens. Von einem Teil der Gesellschaft wurde das Altgläubigentum nicht länger als religiöse Protestbewegung verstanden, sondern als Widerstand gegen soziale und politische Missstände im Imperium. Diese Diskussion trug dazu bei, dass die Regierung über Reformen der bestehenden Gesetzgebung bezüglich der Altgläubigen nachdachte. Noch vor der Umsetzung dieser Reformen machte sich eine Abkehr vom bisherigen Repressionskurs im Gouvernement Livland bemerkbar. Dieser neue Umgang mit den
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Altgläubigen Livlands wird zum Schluss des Kapitels in Zusammenhang mit der Nationalitätenpolitik des Reiches gestellt. Gegenstand von Kapitel 5 ist die Umsetzung der Mitte der 1860er Jahre beschlossenen Reformen in Form zweier Gesetze aus den Jahren 1874 und 1883. Am 19. April 1874 wurden Matrikelbücher für die Registrierung der Ehen und Kinder von Altgläubigen eingeführt, die von den Polizeibehörden geführt wurden. Das Gesetz löste eine rege Debatte über die Einführung der Zivilehe im Russländischen Reich aus, die mit der Frage nach dem Sakramentscharakter der Ehe der Altgläubigen in Zusammenhang stand. Am 3. Mai 1883 erhielten die Altgläubigen einige zivile und religiöse Rechte, darunter die Erlaubnis, ihre Bethäuser zu renovieren und zu legalisieren. Beide Gesetze wurden für ihre inneren Widersprüche von Zeitgenossen kritisiert. Sie waren Folge eines Kompromisses der Regierung mit der Orthodoxen Kirche. Den Altgläubigen sollten Rechte gewährt, gleichzeitig aber das Altgläubigentum staatlicherseits nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt werden. Es wird gezeigt, welche Ziele die Regierung mit der Verabschiedung dieser Gesetze verfolgte, wodurch sich die gewährten Rechte von denjenigen der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse unterschieden und inwieweit die livländischen Altgläubigen von ihren neuen Rechten Gebrauch machten. Der Aufnahme des Altgläubigentums in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse in den Jahren 1903 bis 1906 ist Kapitel 6 gewidmet. Es wird untersucht, inwieweit diese Entwicklung als Abschluss des in den 1860er Jahren beschrittenen Weges der Ausweitung der Glaubenstoleranz auf die Altgläubigen gedeutet werden kann. Dazu wird ein Blick auf die seit der Jahrhundertwende laut werdende Diskussion um die Achtung der Gewissensfreiheit im Russländischen Reich geworfen und der Zusammenhang zwischen der Ausweitung religiöser Freiheiten der Altgläubigen und den krisenhaften Umbruchszeiten untersucht, in denen sich das Regime seit der Niederlage im RussischJapanischen Krieg befand. Daran schließt sich ein kurzer Ausblick auf die Zeit nach 1906 an, in welcher die Altgläubigen rege gesellschaftliche Tätigkeiten entfalteten, Schulen gründeten, Kirchen bauten und ihre innergemeindlichen Angelegenheiten auf allrussischen Konzilen besprachen. Einige Aspekte des Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigen bleiben in dieser Arbeit unberücksichtigt: Zu den Altgläubigen in der russischen Armee ist bisher keine Arbeit erschienen und in den Archiven in Estland und Lettland konnte dazu nichts gefunden werden. Darüber hinaus bleibt die Mission der Orthodoxen Kirche unter den Altgläubigen unberücksichtigt. Zwar gibt es dazu reichhaltiges Quellenmaterial212 und in Ansätzen einige Vor 212 1889 wurden einige der erfahrensten Missionare der Orthodoxen Kirche aus St. Petersburg nach Riga geschickt und sprachen dort zu den Anhängern der Orthodoxen Kirche wie auch den Altgläubigen, die zu diesen »Gesprächen« (beseda) erschienen. Einige der ge-
40 Einleitung arbeiten,213 doch würde dieses Thema zu weit über das eigentliche Forschungsinteresse dieser Arbeit hinausgehen.
Quellen Die Arbeit stützt sich hauptsächlich auf Quellenmaterial. Die untersuchten Gesetze über die Altgläubigen, Sitzungsprotokolle von Regierungskommissionen214 und einige Berichte von Regierungsbeamten über die Altgläubigen wurden veröffentlicht.215 Diese Berichte bieten relativ unvoreingenommene Einblicke in das alltägliche Leben der Altgläubigen, den institutionellen Aufbau ihrer Gemeinden und ihre religiösen Überzeugungen. Sie waren im 19. Jahrhundert eine der wichtigsten Informationsquellen der Regierung über das Altgläubigentum und sind bis heute von großem Wert für eine historische Auseinandersetzung mit diesem Thema. Dies gilt insbesondere für die Berichte Pavel Mel’nikovhaltenen Reden wurden damals veröffentlicht. Arsenij, O.: Besedy Ieromonacha russkago Pantelejmonova monastyrja na Afone, missionera O. Arsenija, vedennyja im v g. Rige v 1889 godu. Riga 1889. Ders.: Sobesedovanija s im. staroobrjadcami v g. Rige. Riga 1894. Pliss, Vladimir Ignat’evič: Ob antichriste, buduščem vrag cerkvi christovoj. Missionerskija čtenija, napravlennyja k obličeniju bezpopovščinskich zabluždenij o nem, proischodivšisja v Rižskom Kafedral’nom Sobore v 1890 g. Riga 1890. Ders. (Hg.): Sinodal’nij missioner protoierej Ksenofont N. Krjučkov i ego sobesedovanija s im. staroobrjadcami g. Rigi v 1890 g. s prisoedineniem rečej preosvjaščennejšago Arsenija, ep. Rižskago i Mitavskago, skazannych pred načalom sobesedovanij. Riga 1890. Zlotnikov, Pёtr: Sobesedovanie s imenuemymi staroobrjadcami v g. Rige. Riga 1895. Von 1896 bis 1916 wurde monatlich die Zeitschrift »Missionerskoe obozrenie« von der Inneren Mission des Synods herausgegeben, die sich polemisch gegen die Lehre der Altgläubigen und Sekten des Russländischen Reiches richtete. Im Bestand des Rigaer Geistlichen Konsistoriums im LVVA (F. 4754) finden sich außerdem einige Akten zum Thema der orthodoxen Mission unter Altgläubigen. 213 Über die orthodoxe Mission unter Altgläubigen im Allgemeinen: Simon, Gerhard: Konstantin Petrovič Pobedonoscev und die Kirchenpolitik des Heiligen Sinod 1880–1905. Göttingen 1969, 179–187. Rožkov, Vladimir: Cerkovnye voprosy v gosudarstvennoj dume. Moskau 2004, 27 f. Lokalstudien zur orthodoxen Mission unter Altgläubigen: Ivanov, K. Ju.: Rol’ cerkovnoj školy v bor’be so staroobrjadčestvom v Tomskoj eparchii v konce XIX-načale XX v., in: [–]: Mir staroobrjadčestva. Bd. 4: Živye tradicii: Rezul’taty i perspektivy kompleksnych issledovanij. Moskau 1998, 310–314. Maškovceva: Konfessional’naja politika gosudarstva 75–133. 214 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta po delam o raskol’nikach. St. Petersburg 1864. 215 Leskov, Nikolaj Semёnovič: O raskol’nikach g. Rigi, preimuščestvenno v otnošenii k školam, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 3: Sočinenija 1862–1864. Moskau 1996, 384–459. Liprandi, Ivan Petrovič: Kratkoe obozrenie suščestvujuščich v Rossii raskolov, eresej i sekt kak v religioznom, tak i v političeskom ich značenii. Leipzig 1883. Mel’nikov, Pavel Ivanovič: Zapiska o russkom raskole dlja V[elikogo] K[njaza] Konstantina Nikolaeviča po poručeniju Lanskogo (1857), in: Kel’siev, Vasilij (Hg.): Sbornik pravitel’stvennych svedenij o raskol’nikach. Bd. 1. London 1860, 169–198.
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Pečerskijs (1818–1883) über die Altgläubigen in Nižnyj Novgorod, Nikolaj Leskovs über die Altgläubigen in Riga aus dem Jahr 1864 und einen unveröffentlichten Bericht Graf Vladimir Sollogubs über die Altgläubigen im Kreis Dorpat aus dem Jahr 1860.216 Alle drei Autoren konnten zu einem gewissen Grad das Vertrauen der Altgläubigen gewinnen und dadurch Einblicke in deren Gemeinden bekommen, die anderen Beamten verschlossen blieben, da die Altgläubigen sehr zurückhaltend gegenüber orthodoxen Priestern und Vertretern der Regierung waren. Neben diesen Beamten veröffentlichten Historiker,217 Publizisten und Professoren an den Geistlichen Akademien des Imperiums218 seit Ende der 1850er Jahre Abhandlungen über die Geschichte, die religiöse Lehre und das Verhältnis der Altgläubigen zum Staat. Zwar zeichnen sich einige dieser Werke durch ausgesprochen gute Kenntnis der altgläubigen theologischen Literatur aus – insbesondere die Dozenten an den Geistlichen Akademien hatten sich sehr genau mit den Werken der Altgläubigen auseinandergesetzt –, doch waren die Autoren fast nie selbst mit Altgläubigen bekannt. Sie verfolgten in beinahe allen Fällen mit ihren Werken eine politische Agenda, sei es die Fortsetzung der Repressionen, die Gewährung größerer religiöser Freiheiten im Imperium oder gar die Aufwiegelung der Altgläubigen zur Revolution. Diese Werke sagen daher oft weniger über die Altgläubigen aus als über die Autoren selbst, die über das Altgläubigentum schrieben. Die Arbeit greift auf einen großen Fundus unveröffentlichter Materialien aus dem Russländischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg (Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv; fortan RGIA), aus dem Historischen Staatsarchiv Lettlands in Riga (Latvias Valsts vēstures arhīvs; fortan LVVA) und dem Estnischen Historischen Archiv in Tartu (Eesti Ajalooarhiiv, fortan EAA) zurück. Da sehr viele zivile und staatskirchliche Behörden mit den Angelegenheiten der Altgläubigen befasst waren,219 lässt sich im Folgenden nur eine Auswahl der wichtigsten Bestände dieser Archive vorstellen. Im RGIA 216 Das handschriftliche Original dieses Berichts befindet sich im Russländischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 2–37. 217 S. beispielsweise die Werke: Jasevič-Borodaevskaja, Varvara: Bor’ba za veru. Istoriko-bytovye očerki i obzor zakonodatel’stva po staroobrjadčestvu i sektantstvu v ego posledovatel’nom razvitii s priloženiem statej zakona i vysočajšich ukazov. St. Petersburg 1912. Ščapov, Afanasij Prokop’evič: Russkij raskol staroobrjadstva, razsmatrivaemyj v svjazi s vnutrennym sostojaniem russkoj cerkvi i graždanstvennosti v XVII v. i v pervoj polovine XVIII. Kazan’ 1859. 218 S. beispielsweise die Werke: Nil’skij, Ivan Fёdorovič: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Istoričeskij očerk raskol’ničeskago učenija o brake. Bd. 1 (ot načala raskola do carstvovanija Imperatora Nikolaja I). St. Petersburg 1869. Smirnov, Pёtr Semёnovič: Istorija russkago raskola staroobrjadstva. St. Petersburg 1895. Subbotin, Nikolaj Ivanovič: O suščnosti i značenii raskola. St. Petersburg 1892. 219 S. für eine Übersicht über diese Behörden und Beamten Kapitel 3.1.4. der vorliegenden Arbeit.
42 Einleitung finden sich die Dokumente der obersten Regierungsbehörden in St. Petersburg. Zuständig für die Altgläubigen war das Departement für allgemeine Angelegenheiten des Innenministeriums (RGIA Fond [F.] 1284) – nicht das Departement für geistliche Angelegenheiten der ausländischen Bekenntnisse! Von Seiten der Orthodoxen Kirche befassten sich mit den Altgläubigen der Heiligste Synod (RGIA F. 796) und der Oberprokuror des Synods (RGIA F. 797). Schaltstelle zwischen zivilen und staatskirchlichen Beamten war das Geheime Komitee über Angelegenheiten des Raskol (RGIA F. 1473). Die Bestände der zivilen und staatskirchlichen Behörden auf der Ebene des Gouvernements Livland befinden sich in Riga und Tartu. Riga war die Hauptstadt der Ostseegouvernements. Hier befand sich der Sitz des Generalgouverneurs, des livländischen Gouverneurs, des Geistlichen Konsistoriums der Eparchie von Riga und des Erzbischofs von Riga und Mitau sowie seit 1889 des Bezirksgerichts (Okružnyj sud), der höchsten Gerichtsbehörde auf Gouvernementsebene. Doch befindet sich nicht der gesamte Bestand dieser Behörden in Riga. Ein Teil der Akten wurde im Ersten Weltkrieg nach Tartu evakuiert. In Sowjetzeiten wurden diese Bestände nach ethnischen Gesichtspunkten zwischen den historischen Archiven in Estland und Lettland aufgeteilt, da das Gouvernement Livland sowohl Teile des heutigen Lettland als auch Estlands umfasste.220 Eine ethnische Unterteilung ist in Bezug auf die Altgläubigen nicht ohne Weiteres möglich gewesen. Es finden sich daher im Historischen Archiv Lettlands vereinzelt Angelegenheiten über die Altgläubigen am Peipussee und andersherum im Estnischen Historischen Archiv einige Dokumente, die die Altgläubigen in Riga betreffen. Für diese Arbeit wurden in erster Linie die Bestände der zivilen Gouvernementsverwaltung herangezogen, da dort die Angelegenheiten über die Altgläubigen aller Behörden, auch der kirchlichen, zusammenliefen: die Kanzlei des Generalgouverneurs der Ostseegouvernements (LVVA F. 1, EAA F. 291), die Kanzlei des livländischen Gouverneurs (LVVA F. 3, EAA F. 296) und der livländischen Gouvernementsregierung (EAA F. 297). Wichtig für den Umgang mit den Altgläubigen sind außerdem die Polizeibehörden der Stadt Riga – die Stadtpolizeiverwaltung (LVVA F. 51) und das Ordnungsgericht (LVVA F. 111) – sowie des Kreises Dorpat – die Dorpater Kreispolizeiverwaltung (EAA F. 330) und das Dorpater Ordnungsgericht (EAA F. 949). Darüber hinaus wurden Gerichtsfälle untersucht. Die Altgläubigen wurden seit Nikolaj I. für die Verbreitung ihrer religiösen Lehre gerichtlich verfolgt; seit 1874 klagten die Altgläubigen aber auch ihre Familienrechte vor Gericht ein. Bis zur Einführung der Justizreform in den Ostseegouvernements war die oberste Gerichtsbehörde der Stadt Riga der Magistrat (LVVA F. 749) und die des Kreises Dorpat das Dorpater Landgericht (EAA F. 914). Seit 1889 war das Bezirksgericht (Okružnyj sud) mit Sitz in Riga für das gesamte Gouvernement zuständig 220 Šor: Dokumenty o latvijskich staroverach 127.
Einleitung 43
(LVVA F. 115, EAA F. 416).221 Die wichtigsten Institutionen der Orthodoxen Kirche waren das Rigaer Geistliche Konsistorium (LVVA F. 4754, EAA F. 1655) und die Kanzlei des Bischofs von Riga und Mitau (LVVA F. 7462). Dokumente aus der Hand der Altgläubigen, die für die vorliegende Untersuchung eine Rolle spielen, gibt es fast keine. Der Großteil der überlieferten Zeugnisse sind polemische Schriften gegen die Orthodoxe Kirche und theo logische Arbeiten über die religiöse Lehre unterschiedlicher Altgläubigendenominationen, die meist aus dem 18. Jahrhundert stammen.222 Eine Ausnahme sind die Erinnerungen des 1883 in Riga geborenen Altgläubigen Ivan Ul’janovič Vakon’ja aus dem Jahr 1960.223 Vakon’ja war Schüler der altgläubigen Schule in Riga und nahm nach 1905 als Repräsentant der livländischen Altgläubigen an mehreren Konzilen und Kongressen der Priesterlosen in Moskau und Dünaburg teil. In seinen einzigartigen Erinnerungen beschreibt er die Entwicklung der Gemeinde und das alltägliche Leben der Rigaer Altgläubigen um die Jahrhundertwende. Die Quellenlage wird erst für die Zeit nach 1905 besser. Nachdem das Altgläubigentum legalisiert wurde, organisierten priesterliche und priesterlose Altgläubige Konzile und Kongresse, zu denen Vertreter der Gemeinden des gesamten Imperiums kamen. Die Altgläubigen versammelten sich zu Hunderten und diskutierten Fragen der Bildung, des Aufbaus ihrer Gemeinden, über ihre religiöse Lehre, die Rolle der Gemeindeleiter und ihr Verhältnis zu den Obrigkeiten sowie zu unterschiedlichen Denominationen des Altgläubigentums. Die Sitzungsprotokolle dieser Versammlungen, Vorträge, die auf diesen Konzilen gehalten wurden, und weitere Materialien, die im Rahmen dieser Kongresse entstanden, veröffentlichten die Altgläubigen seit 1909. Zu jener Zeit entstand außerdem ein altgläubiges Zeitschriftenwesen. Diese Quellen, die eine Innensicht der Altgläubigen geben, wurden bisher lediglich von Roy Robson in
221 Der Großteil des Bestandes des Rigaer Bezirksgericht im LVVA wurde während der Sowjetzeit vernichtet. Daher finden sich in LVVA F. 115 nur noch sehr wenige Akten; insbesondere Angelegenheiten der Altgläubigen finden sich nur noch wie Nadeln im Heuhaufen. 222 An erster Stelle sind die »Pomorischen Antworten« (Pomorskie otvety) von Andrej Denisov aus dem Jahr 1726 zu nennen. Sie entstanden als Antwort auf 106 theologische Fragen, die der orthodoxe Missionar Neofit den Altgläubigen am Vyg stellte, mit dem Ziel, die Lehre der Altgläubigen als falsch zu entlarven. Die von Denisov verfassten Antworten auf diese Fragen wurden zur geistigen Grundlage des gesamten priesterlosen Altgläubigentums. Milovidov, Vladimir Fёdorovič: Staroobrjadčestvo v prošlom i natojaščem. Moskau 1969, 25. Außerdem spielt im Laufe dieser Arbeit die Abhandlung Ivan Alekseevs »Über das Sakrament der Ehe« (O tajne braka) aus dem Jahr 1762 eine wichtige Rolle. 223 Vakon’ ja, Ivan Ul’janovič: Vospominanija ob obščine. Vnešnij byt i sostojanie obščiny v poslednie 70 let, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 2: Stat’i, vospominanija, publikacija dokumentov. Riga 2011, 259–282.
44 Einleitung seiner oben genannten Arbeit »Old Believers in Modern Russia«224 ausgewertet. In Kapitel 6 dieser Arbeit werden sie für einen Ausblick auf die Zeit nach 1906 herangezogen.
Formalia Sämtliche Datumsangaben der Arbeit folgen dem julianischen Kalender, der in Russland bis 1918 Gültigkeit hatte und in der Russisch-Orthodoxen Kirche bis heute Verwendung findet. Die Differenz zwischen julianischem und heute gebräuchlichem gregorianischem Kalender betrug vom 18. Februar 1800 bis zum 16. Februar 1900 (nach julianischem Kalender) zwölf Tage, seitdem ist der gregorianische Kalender dem julianischen 13 Tage voraus. Um die Datumsangaben nach julianischem Kalender auf den gregorianischen Kalender umzurechnen, sind daher zwölf bzw. 13 Tage hinzuzuzählen. Für bekannte Orte wie Riga oder St. Petersburg werden die deutschen Bezeichnungen verwendet. Für unbekanntere Orte findet die russische Bezeichnung Verwendung, wobei ihre estnischen bzw. lettischen Namen bei ihrer Erstnennung in Klammern mit angegeben werden. Im Glossar findet sich eine Übersicht über die wichtigsten Orte, die in der Arbeit vorkommen, unter Angabe ihrer russischen und estnischen bzw. lettischen Bezeichnungen. Personennamen erscheinen ebenfalls in ihrer russischen Schreibweise. Das Gleiche gilt für die Bezeichnung von Ämtern und Behörden, abgesehen von zwei Ausnahmen: Seit Pёtr I. bezeichnete sich der Selbstherrscher als Imperator oder Kaiser, in dieser Arbeit wird jedoch auch die in der Forschung übliche, ältere Bezeichnung Zar für den Autokraten verwendet. Die oberste Kirchenbehörde des Russländischen Reiches, der Heiligste Regierende Synod (Svjatejšij Pravitel’stvujuščij Sinod), wird in dieser Arbeit verkürzt als Heiligster Synod bezeichnet. Die Archivangaben folgen der in den benutzten Archiven üblichen Signatur: Nach der Angabe des Archivs (RGIA, LVVA, EAA) folgt die des Bestandes (F. für fond), des Findbuches (op. für opis’), der Akte (d. für delo) und der Seitenangabe (l. für list). Bei sämtlichen Übersetzungen aus dem russischen Original handelt es sich um meine eigenen. Titel russischer Werke, die vor der Rechtschreibreform von 1918 entstanden sind, werden aufgrund der besseren Lesbarkeit entsprechend der reformierten Orthografie angegeben.
224 Robson: Old Believers in Modern Russia.
2. Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums Das Altgläubigentum ist eine sehr mannigfaltige Mischung von Gemeinschaften und Denominationen, die ausgesprochen unterschiedlich sind […] [D]ie vielen Versuche der Definition, was das Altgläubigentum ist, hatten nie Erfolg, und man kann mit Sicherheit sagen, dass man sich keine allgemeine, allumfassende Form des Altgläubigentums vorstellen darf.1 Stellvertreter des Innenministers Sergej Efimovič Kryžanovskij im Jahr 1909 auf der Zweiten Sitzung der Staatsduma
Das vorliegende Kapitel dient der Einführung in die Geschichte und Entwicklung des Altgläubigentums. Es werden die Entstehung des Schismas, die Gründe für die vehemente Ablehnung der Reformen Patriarch Nikons durch die Altgläubigen und die weitere Entwicklung des Altgläubigentums bis Anfang des 19. Jahrhunderts vorgestellt. Darüber hinaus wird ein Überblick über die Geschichte des alten Glaubens in den Ostseegouvernements mit besonderer Berücksichtigung des Gouvernements Livland bis zum Beginn der Regierungszeit Nikolajs I. gegeben. Die in diesem Kapitel dargestellte Lage der Altgläubigen in dieser Region des Russländischen Reiches dient als Ausgangspunkt der folgenden Untersuchung. Anschließend folgt eine Problematisierung der statistischen Angaben über die Anzahl der Altgläubigen mit besonderer Berücksichtigung der Ostseegouvernements.
2.1 Patriarch Nikon und das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche Schon lange vor Patriarch Nikon nahm die Russisch-Orthodoxe Kirche regelmäßig Korrekturen an ihren liturgischen Büchern vor. In den ersten Jahr hunderten nach der Einführung des Christentums in der Rus’ hatten die russischen Schreiber Fehler bei der Übersetzung der griechischen Originale in die russische Redaktion des Kirchenslavischen gemacht, die ausgebessert wurden. Die russische Kirche übernahm Änderungen, die die byzantinische Kirche bei der Weiterentwicklung ihrer Lehre vornahm. Doch die Autorität des byzan 1 [–]: Zakonoproekt o staroobrjadčeskich obščinach v Gosudarstvennoj Dume. Polnyj stenografičeskij otčet. Moskau 1909, 15.
46 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums tinischen Vorbildes litt unter dem Fall Konstantinopels, der Verwandlung des Moskauer Großfürstentums in ein Russländisches Imperium und der Idee von Moskau als Drittem Rom. Mitte des 17. Jahrhunderts gab es einen russischen Kreis der Eiferer für die Frömmigkeit (kružok revnitelej blagočestija), der die liturgischen Bücher ständig prüfte und korrigierte.2 Als Patriarch Nikon im Jahr 1653 Reformen der liturgischen Bücher und einiger Riten der Russisch-Orthodoxen Kirche durchführte, stießen diese Änderungen allerdings auf heftigen Widerstand eines Teils der orthodoxen Geistlichen und einiger Mitglieder des Kreises der Eiferer.3 Sie lehnten die Reformen ab, da Nikon die der RussischOrthodoxen Kirche eigene theologische Tradition überging, die für den Kreis der Eiferer stets eine wichtige Rolle gespielt hatte. Der Moskauer Patriarch orientierte sich stattdessen an Schriften, die von orthodoxen Gelehrten des katholischen Westens geschrieben wurden und damit von der Scholastik beeinflusst waren.4 Zum prominentesten Anführer des Protestes gegen die nikonianischen Änderungen wurde der Protopope Avvakum (1621–1682). Er hatte sich in mehreren Schriften gegen Nikons Reformen gewandt, wurde dafür wiederholte Male verbannt und schließlich auf dem Scheiterhaufen verbrannt.5 Nikons Reformen sahen mehrere Änderungen vor, die man vom heutigen Standpunkt aus als geringfügig erachten könnte. Er ließ die Schreibweise des Namen Jesu an das Griechische anpassen, so dass Jesus in der russischen Redaktion des Kirchenslavischen nicht mehr mit nur einem »i« (Isus), sondern mit zweien geschrieben werden sollte (Iisus).6 Vor dem Gesang »Ehre sei Dir, Gott« führte Nikon ein drittes Halleluja ein. Damit sollte die Dreiheiligkeit symbolisiert werden, doch waren die Gegner der Reformen der Meinung, Halleluja bedeute nichts anderes als »Ehre sei Dir, Gott«, weshalb man durch ein drittes, vorangestelltes Halleluja nicht mehr die Dreiheiligkeit preise, sondern eine irgendwie geartete Viergestalt.7 Daneben reduzierte Nikon die in der Eucharistie 2 Felmy, Karl Christian: Die Deutung der göttlichen Liturgie in der russischen Theo logie. Berlin, New York 1984, 80 f. 3 Gabriele Scheidegger weist in ihrer Habilitationsschrift allerdings darauf hin, dass das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche nicht erst mit Nikons Reformen begann. Als Raskol’niki wurden keinesfalls nur Altgläubige im engeren Sinne bezeichnet. Die Raskol’niki waren von Anfang an keine einheitliche Bewegung, deren soziale Basis und religiösen Überzeugungen uniform waren. Da die exakten Umstände der Frühphase des Altgläubigentums für die vorliegende Arbeit aber keine entscheidende Rolle spielen, bleibe ich in diesem Überblick über die Anfänge des Raskol bei der allerorts in der Forschungsliteratur vorzufindenden vereinfachten Darstellung. Vgl. Scheidegger, Gabriele: Endzeit. Russland am Ende des 17. Jahrhunderts. Bern u. a. 1999, 16 f. 4 Felmy: Die Deutung der göttlichen Liturgie 80 f. 5 Hildebrandt, Gerhard: Nachwort, in: Ders. (Hg.): Das Leben des Protopopen Avvakum. Göttingen 1965, 132–138, hier 132 f. 6 Scheidegger: Endzeit 55. 7 Robson: Old Believers in Modern Russia 4.
Patriarch Nikon und das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche 47
verwendeten Opferbrote (Prosphoren) von sieben auf fünf und ließ ein vierendiges Kreuz anstelle eines achtendigen aufprägen.8 Bei Taufen wurde die Prozessionsrichtung vom Gang mit der Sonne (posolon’) in die Umgangsrichtung entgegen den Lauf der Sonne geändert.9 Die bekannteste Änderung Nikons war jedoch die Bekreuzigung mit drei Fingern anstelle mit zweien.10 Eben diese Änderung folgte Neuerungen in der griechischen Kirche und widersprach der russischen Tradition. Denn auf der Hundertkapitelsynode in Moskau im Jahr 1551 war das Zweifingerkreuz als das für die Russisch-Orthodoxe Kirche verbindliche festgelegt worden.11 Das Große Moskauer Konzil der Jahre 1666 und 1667 erkannte Nikons Reformen als gültig an und erklärte deren Gegner zu Häretikern.12 Die Gegner der Reformen bezeichneten sich von nun an als Altgläubige (starovery) oder Altritualisten (staroobrjadcy), die Anhänger Nikons nannten sie abschätzend Nikonianer (nikoniany). Nachdem sich Zar Aleksej Michajlovič (1629–1676)13 hinter die Entscheidung des Konzils gestellt hatte, verabschiedete Sof’ja Alekseevna (1657–1704)14 zwölf Artikel, in denen die Altgläubigen als Schismatiker (raskol’niki) diffamiert wurden. Sie sollten verfolgt und auf dem Scheiterhaufen verbrannt werden.15 In dieser Situation entschied sich der Großteil der Altgläubigen zur Flucht in abgelegene Gebiete des Imperiums oder sogar über die Grenzen des Russländischen Reiches hinaus. Diejenigen, die versuchten Widerstand zu leisten16 oder an ihrem Zufluchtsort aufgefunden wurden, wurden exekutiert, wenn sie sich beim Anrücken der Truppen des Zaren nicht selbst verbrannten.17 8 Felmy: Die Deutung der göttlichen Liturgie 82. 9 Lotman, Jurij/Uspenskij, Boris: Die Rolle dualistischer Modelle in der Dynamik der russischen Kultur (bis zum Ende des 18. Jahrhunderts), in: Poetica 9 (1977), 1–40, hier 23. 10 Es handelt sich streng genommen in beiden Fällen um eine Bekreuzigung mit fünf Fingern, da nach byzantinischer Art sowohl Daumen, Zeige- und Mittelfinger zusammengelegt werden und die Dreieinigkeit symbolisieren, als auch Ring- und kleiner Finger, die auf die duale Natur Christi hinweisen. Das Gleiche gilt für das so genannte Zweifingerkreuz der Altgläubigen, bei dem Mittel- und Zeigefinger leicht überkreuzt zusammengelegt und ausgestreckt werden und die duale Natur Christi symbolisieren, die übrigen drei Finger vor der Handfläche ebenfalls zusammengelegt werden als Zeichen der Dreifaltigkeit. Avvakum schreibt in seinem Žitie ausdrücklich von einem »Fünffingerkreuz«. Hildebrandt, Gerhard (Hg.): Das Leben des Protopopen Avvakum. Göttingen 1965, 69. 11 Scheidegger: Endzeit 64. 12 Smolitsch, Igor: Geschichte der russischen Kirche. Bd. 2, hg. von Gregory L. Freeze. Wiesbaden 1990, 149. 13 Zar des Russländischen Reiches von 1645 bis 1676. 14 Regentin des Russländischen Reiches von 1682 bis 1689. 15 Podmazov: Rižskie starovery 96. 16 Größte Popularität erlangte der Widerstand der Mönche des Soloveckij-Klosters auf der Insel Solovki im Weißen Meer. Regierungstruppen machten das Kloster dem Erdboden gleich. Crummey: The Old Believers and the World of Antichrist 220. 17 Tret’ jakova, N. V.: Social’no-pravovoj status staroobrjadčestva v doreformennoj i pore formennoj Rossii, in: Voprosy istorii SSSR . Bd. 2. Moskau 1972, 476–498, hier 478. Seit dem
48 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums Dass die als relativ geringfügig erscheinenden Änderungen, die Nikon an Liturgie und Ritus der Kirche vorgenommen hatte, so heftige Reaktionen auf Seiten der Altgläubigen wie auch auf Seiten des Staates hervorriefen, beschäftigt die Forschung seit langem. Auf Arbeiten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts geht die Vorstellung zurück, dass es sich beim Altgläubigentum nur sekundär um eine religiöse Bewegung gehandelt habe. Es sei den Altgläubigen weniger um die Reformen der Liturgie gegangen, sondern sie seien als soziale Protestbewegung zu verstehen, die sich gegen die Leibeigenschaft und die Herrschaft der Staatskirche aufgelehnt habe.18 Diese Interpretation kann heute keine uneingeschränkte Geltung mehr für sich beanspruchen. Doch sollte man die wirtschaftliche und soziale Krise, in der sich das Russländische Reich Mitte des 17. Jahrhunderts befand, nicht übersehen. Die Einführung der Leibeigenschaft im Jahr 1649, der Aufbau eines stehenden Heeres und das Eindringen westlicher Einflüsse über die Ukraine und Polen-Litauen sowie die Opričnina Ivans IV. hatten das Reich in eine Krise gestürzt, die das Schisma katalysierte. Die Altgläubigen wollten in diesen Krisenzeiten an der alten Lebensweise festhalten.19 Ansätze, die die religiösen Überzeugungen der Altgläubigen stärker in den Mittelpunkt stellen, betonen, dass für die damaligen Gläubigen Ritus und Dogma nicht voneinander zu trennen waren und damit Änderungen an den äußeren Formen der Religion auch Änderungen der Glaubensüberzeugungen bedeuten mussten.20 Boris Uspenskij erklärt die unterschiedliche Einstellung von Gegnern und Anhängern der Reformen durch unterschiedliche Zeichenverständnisse, die Mitte des 17. Jahrhunderts parallel existierten. Während die Altgläubigen einem älteren, unkonventionellen Zeichenverständnis angehangen seien, welchem zufolge Form und Inhalt eines Zeichens untrennbar miteinander verbunden waren, hätten die Neugläubigen bereits ein konventionelles Zeichenverständnis angenommen, welches über Polen-Litauen nach Russland gekommen war. Diesem zufolge könne ein Zeichen abhängig von seinem Kontext seine Bedeutung ändern. Die starre Verbindung zwischen Form und Inhalt eines Zeichens sei aufgelöst und Sache der Konvention geworden. Gemäß dem unkonventionellen Zeichenverständnis der Altgläubigen habe die Veränderung der Form automatisch eine Inhaltsveränderung bedeutet. Die Reformen Nikons Ende des 17. Jahrhunderts gingen nur noch sehr wenige Altgläubige den Weg der Selbstverbrennung, doch kamen derartige Fälle in Sibirien bis weit ins 18. Jahrhundert immer wieder vor. Hauptmann: Rußlands Altgläubige 60–69. 18 Begründer dieser These war Afanasij Prokop’evič Ščapov in seiner Arbeit: Ščapov: Russkij raskol staroobrjadstva. 19 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 374. 20 Podmazov: Rižskie starovery 96. Hauptmann, Peter: Altrussischer Glaube. Der Kampf des Protopopen Avvakum gegen die Kirchenreformen des 17. Jahrhunderts. Mit einem Anhang: Das russische Altgläubigentum in der Gegenwart. Göttingen 1963, 67. Pleyer, Viktoria: Das russische Altgläubigentum. Geschichte – Darstellung in der Literatur. München 1961, 29. Robson: Old Belivers in Modern Russia 43.
Die Differenzierung des Altgläubigentums im 18. Jahrhundert 49
an der Schreibweise des Namen Jesu und an den rituellen Zeichen der Liturgie musste von den Altgläubigen auf diese Weise als Eingriff in die Glaubenslehre der russischen Kirche erscheinen.21 Gabriele Scheidegger weist in diesem Zusammenhang auf die starke eschatologische Lehre hin, die unter den Altgläubigen im 17. Jahrhundert weit verbreitet war und die von dem überwiegenden Großteil der Forschung bisher unterbelichtet worden ist. Diese eschatologische Lehre unterschied sich bei unterschiedlichen Gruppen der Altgläubigen: Einige nahmen an, in der Welt herrsche seit Nikons Reformen der Geist des Antichristen, andere identifizierten Pёtr I. mit dem Antichristen selbst und wieder andere nahmen an, dass das Jüngste Gericht zwar bevorstehe, zunächst aber lediglich die letzten Zeiten angebrochen seien, die zur Vorbereitung auf das Jüngste Gericht genutzt werden müssten. Gemeinsam war allen, dass sie eschatologische Erwartungen hatten. Scheidegger betont, dass die Änderungen der Riten und der Liturgie unter dieser Perspektive mit dem Wirken des Antichristen in der Orthodoxen Kirche in Beziehung gesetzt werden konnten, was zu einer Verschärfung der Ablehnung der Reformen geführt habe.22 Was die staatlichen Verfolgungen angeht, so kann es nicht verwundern, dass der Zar in Anbetracht großer Bevölkerungsteile, die sich weigerten, in die Kirche zu gehen, Priestern auswichen und die kirchliche Hierarchie sowie den Zaren selbst verdammten, die Ordnung seines Reiches bedroht sah und alle Mittel einsetzte, um diese wieder herzustellen.23 Daher wurden die Altgläubigen bis Anfang des 20. Jahrhunderts von der Regierung nicht als autonomes, das heißt von der Orthodoxen Kirche unabhängiges, Glaubensbekenntnis anerkannt.24
2.2 Die Differenzierung des Altgläubigentums im 18. Jahrhundert Bedroht durch Folter und Todesstrafe flohen die Altgläubigen in abgelegene Regionen des Russländischen Reiches. Bereits Ende des 17. Jahrhunderts entstanden in drei Regionen des Imperiums Gemeinden der Reformgegner: am Fluss Vyg unweit des Onegasees, jenseits der Volga im Gebiet von Nižnyj Novgorod und an der Grenze zu Polen-Litauen.25 Die Verwaltung des Staates holte die Altgläubigen bald ein, und im 18. Jahrhundert war es kaum mehr möglich, einen abgeschiedenen Ort zu finden, den die staatlichen Obrigkeiten nicht er 21 Uspenskij, Boris: Raskol i kul’turnyj konflikt XVII veka, in: Mal’ts, A. (Hg.): Sbornik statej k 70-letiju prof. Ju. Lotmana. Tartu 1992, 90–129, hier 94–117. 22 Scheidegger: Endzeit 55 f. Diese These geht zurück auf die Vorstellung der dualistischen Natur der russischen Kultur: Lotman/Uspenskij: Die Rolle dualistischer Modelle 1–40. 23 Scheidegger: Endzeit 314. 24 Simon: Konstantin Petrovič Pobedonoscev 165. 25 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 382 f.
50 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums reichten.26 So wurde auch die erste Gemeinde der priesterlosen Altgläubigen am Vyg im 18. Jahrhundert von der Expansion des Staates eingeholt. Die Gemeinde war 1695 von Daniil Vikulin im Gebiet von Olonec, im so genannten Pomor’e, gegründet worden.27 Bereits in den ersten Jahren des 18. Jahrhunderts wurde die Gemeinde unter den Gemeindeleitern Andrej und Semёn Denisov zum wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Altgläubigen.28 Sie betrieben in großem Ausmaß Fischerei und regen Handel mit den Städten St. Petersburg, Kazan’, Archangel’sk, Moskau, dem Ural und Sibirien.29 Im Krieg Russlands gegen Schweden rückte das Olonec-Gebiet, in welchem Zar Pёtr I. seine Kriegsindustrie aufbaute, in die Aufmerksamkeit des Staates.30 Pёtr I. folgte zwar den zwölf Artikeln Sof’ja Alekseevnas nicht mehr, doch erließ er mehrere Gesetze, die die Altgläubigen benachteiligten. So mussten Anhänger des alten Glaubens seit 1714 doppelte Kopfsteuer zahlen,31 das Tragen von Bärten, das für die Altgläubigen Ausdruck religiöser Überzeugung war, zog die Entrichtung einer Bartsteuer nach sich,32 und die Altgläubigen wurden gezwungen, spezielle Kleidung zu tragen, die sie sogleich als Gegner der Reformen kenntlich machte.33 Man kann von einem Umschwung in der Politik gegenüber den Altgläubigen in der Zeit Pёtrs I. sprechen, von der Verfolgung mit dem Ziel der Vernichtung des Altgläubigentums hin zur Unterdrückung mit dem Ziel der Eindämmung des alten Glaubens.34 Dabei folgte Pёtrs Politik pragmatischen Grundsätzen. Der Zar war dazu bereit, die Altgläubigen zu tolerieren, wenn sie sich ihm gegenüber loyal verhielten, wie das Beispiel der Gemeinde am Vyg zeigt. Die Altgläubigen am Vyg flohen nicht vor der staatlichen Macht, sondern ließen sich auf eine Kooperation ein, die der Gemeinde das Überleben sicherte. Sie förderten für den Zaren Eisenerz und transportierten es zum nächstgelegenen Eisenwerk im Dorf Povenec. Im Gegenzug erhielten sie weitgehende Autonomie und das Recht auf freie Religionsausübung.35 Auch nach der Herrschaft Pёtrs I. suchte die Gemeinde den Ausgleich mit dem Staat und weitete ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten kontinuierlich aus. Dadurch konnte die Gemeinde ihre Existenz 26 Crummey: The Old Believers 220. 27 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 384. 28 Crummey: The Old Believers 93–96. 29 Ebd. 73; Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 394. 30 Crummey: The Old Believers 69. 31 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 72 f. 32 Bagirov, Vladimir Aleksandrovič: K voprosu o periodizacii aktov Rossijskogo gosudarstva o staroobrjadcach, in: Meždunarodnye Zavolokinskie Čtenija. Bd. 1. Riga 2006, 46–55, hier 47. Diese Maßnahme war nicht explizit gegen die Altgläubigen gerichtet, sondern gegen die gesamte (städtische) Bevölkerung des Russländischen Reiches, traf die Altgläubigen aber im Besonderen, da sich diese aus religiösen Gründen die Bärte nicht rasierten. 33 Tret’ jakova: Social’no-pravovoj status 480. 34 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 71–73. 35 Crummey: The Old Believers 69.
Die Differenzierung des Altgläubigentums im 18. Jahrhundert 51
bis in die 50er Jahre des 19. Jahrhunderts sicherstellen.36 Die Gemeinde am Vyg kann als erste Gemeinde der Altgläubigen gelten, die versuchte ihre Existenz durch den Ausgleich mit dem Staat und durch den Aufbau einer soliden wirtschaftlichen Basis zu sichern, anstatt zu fliehen oder den Freitod zu wählen.37 Unter Pёtr I. war die Gemeinde am Vyg allerdings ein Einzelfall. Erst unter der toleranteren Politik Pёtrs III. (1728–1762)38 und Ekaterinas II. folgten andere Gemeinden ihrem Beispiel. 1764 gestattete Ekaterina II. denjenigen Altgläubigen, die aus dem Russländischen Reich geflohen waren, die Rückkehr ins Imperium. Ihnen wurde ein Gebiet am großen Irgiz zugewiesen und sie durften in die beiden Hauptstädte Russlands zurückkehren.39 Als 1771 in Moskau die Pest ausbrach, wurde den Altgläubigen erlaubt, Pflegestätten zu errichten. So entstanden die Gemeinde der priesterlichen Altgläubigen am Rogož’-Friedhof und diejenige der priesterlosen Fedoseevcy am Preobraženie-Friedhof (preobraženskoe kladbišče; dt. Verklärungsfriedhof).40 In den Städten durften sich die Altgläubigen in den beiden Kaufmannsgilden und als Meščane registrieren, wenn sie denn über das dafür nötige Kapital verfügten.41 1782 wurde die doppelte Besteuerung aufgehoben und das Städtestatut von 1785 ließ die Wahl von Altgläubigen zu städtischen Amtsträgern zu.42 Die Altgläubigen etablierten sich zunehmend, indem sie öffentlich existierende Gemeinden aufbauten und ihre eschatologischen Erwartungen weitgehend aufgaben sowie zu einer Zusammenarbeit mit dem Staat immer häufiger bereit waren. Manfred Hildermeier spricht in diesem Zusammenhang von einer »Re-Sozialisierung« des alten Glaubens, in deren Zuge der alte Glaube seine Fundamentalopposition gegen die Regierung und gegen seine nicht-altgläubige Umgebung aufgab. Unter dem ersten Gemeindeleiter der Fedoseevcy in Moskau, Il’ja Alekseevič Kovylin (1731–1809), konnte diese bis an den Rand der Selbstverleugnung reichen, wenn der Nastavnik die »antichristlichen« Beamten hofierte, um der Gemeinde das Überleben zu sichern.43 Ende des 18. Jahrhunderts wandten sich einige priesterliche Altgläubige in Moskau an den orthodoxen Metropoliten Platon. Sie wollten ihren alten Riten treu bleiben, gleichzeitig einen Ausgleich mit der staatlichen und kirchlichen Obrigkeit erreichen und ihre Versorgung mit Geistlichen sicher stellen. Der 36 Ebd. 217. 37 Ebd. 70; Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 380–382. 38 Zar des Russländischen Reiches im Jahr 1762. 39 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 379. 40 Blackwell: The Old Believers and the Rise 411 f. 41 Kerov, Valerij Vsevolodovič: Rjabušinskie. Dinastija staroobrjadcev-predprinimatelej, in: Muzej Istorii i Kul’tury Staroobrjadčestva (Hg.): Staroobrjadčestvo. Istorija, kul’tura, sovremennost’. Bd. 3. Moskau 1995, 9–15, hier 9 f. N. V. Kozlova: Kupcy-staroobrjadcy v gorodach evropejskoj Rossii v seredine XVIII veka, in: Otečestvannaja istorija 4 (1999), 3–14, hier 10. 42 Tret’ jakova: Social’no-pravovoj status 492. 43 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 379, 509.
52 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums Metropolit arbeitete Statuten des so genannten Einglaubens (Edinoverie) aus. Altgläubige sollten sich der Orthodoxen Kirche anschließen, ihrer Geistlichkeit unterstellt werden und ihre Gottesdienste nach altem Ritus feiern sowie alte Ikonen und Bücher nutzen dürfen. Das Edinoverie zielte letztlich darauf ab, die Altgläubigen in den Schoß der Orthodoxen Kirche zurück zu führen: Orthodoxe bekamen nicht die Möglichkeit, sich dem Edinoverie anzuschließen.44 Das Verhältnis der Altgläubigen zum Staat und zur offiziellen Kirche spielte seit Beginn der Reformen eine wichtige Rolle innerhalb des Raskol. Unterschiedliche Antworten auf die Frage, wie dieses Verhältnis gestaltet werden sollte, spalteten die Altgläubigen in unterschiedliche Richtungen oder Denominationen – im Russischen als Tolki oder als Soglasija bezeichnet. Bereits Zeitgenossen unterschieden zwischen priesterlichen und priesterlosen Altgläubigen: Diese Aufspaltung war Folge des Umstandes, dass sich auf dem Konzil von 1666/67 kein Bischof dem alten Glauben angeschlossen hatte, mit der Ausnahme des Bischofs Pavel von Kolomna, der bald darauf unter ungeklärten Umständen den Tod fand. Nach der ersten Generation des Altgläubigentums gab es dadurch keine nach den alten Riten geweihten Bischöfe mehr, die zu den Altgläubigen hätten übertreten können. Die Altgläubigen verloren ihre kirchliche Hierarchie. Auf die Frage, wie damit umzugehen sei, fanden die Altgläubigen unterschiedliche Antworten, aufgrund derer sie in die so genannten Priesterlichen (Popovcy) und die Priesterlosen (Bespopovcy) zerfielen. Die Popovcy nahmen Priester, die nach dem neuen Ritual geweiht und zu den Altgläubigen geflohen waren, in ihren Gemeinden auf, wenn sich diese Priester nach alten Riten umweihen ließen. Daher wurden sie auch Beglopopovcy (Fluchtpriesterliche) genannt. Dieser Teil des Altgläubigentums geriet in den Widerspruch, die neuen Rituale scharf zu verurteilen, gleichzeitig aber nach diesen Ritualen geweihte Priester in ihren Reihen aufzunehmen.45 Ihr Verhältnis zur offiziellen Kirche blieb daher widersprüchlich: Sie verurteilten sie einerseits für das Abfallen von der wahren Lehre, benötigten sie aber gleichzeitig für die Weihe der Priester, die sie anschließend abwerben konnten.46 Die Popovščina – das heißt das priesterliche Altgläubigentum – war innerlich weniger gespalten als die Bespopovščina – das priesterlose Altgläubigentum. Dies hängt in erster Linie damit zusammen, dass die Popovcy eine weniger radikale eschatologische Lehre entwickelten, wodurch sie weniger Bedenken hatten, sich mit dem Staat und ihrer andersgläubigen Umgebung einzulassen.47 1846 gründeten die Popovcy in der Belaja Krinica, die zu jener Zeit unter Habsburger Herrschaft stand, eine eigene 44 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 82. 45 Hauptmann, Peter: Das Gemeindeleiteramt bei den priesterlosen Altgläubigen, in: Ders. (Hg.): Unser ganzes Leben Christus unserm Gott überantworten. Studien zur ostkirchlichen Spiritualität. Göttingen 1982, 474–499, hier 476 f. 46 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 387. 47 Smolitsch: Geschichte der russischen Kirche. Bd. 2, 161 f.
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Metropolie. Erster Bischof der priesterlichen Altgläubigen wurde der von der Orthodoxie übergelaufene Metropolit Amvrosij von Sarajevo.48 Einen zweiten Bischofssitz der Popovščina gründete die Moskauer Gemeinde am Rogož’Friedhof im Jahr 1853 ohne Erlaubnis des Staates. Im Jahr 1881 wurden Hoheitsgebiete der beiden Bistümer der Altgläubigen bestimmt. Das Gebiet des Russländischen Reiches wurde dem Moskauer Erzbistum zugeschlagen, alle priesterlichen Altgläubigengemeinden außerhalb des Imperiums der Metropolie in der Belaja Krinica.49 Die priesterlosen Altgläubigen zogen ihre Schlüsse aus der Ablehnung der Reformen und dem Verlust der kirchlichen Hierarchie mit größerer Konsequenz als ihre priesterlichen Glaubensgenossen. Sie verzichteten gänzlich auf eine kirchliche Hierarchie, mussten dadurch aber viel weiter reichende Änderungen in ihren Gottesdienstformen einführen als diejenigen, die Patriarch Nikon auf den Weg gebracht hatte.50 So gab es unter den Priesterlosen keine Geistlichkeit mehr, die die Sakramente hätte verwalten können. Da sie ganz ohne Sakramente aber nicht auszukommen glaubten, behalfen sie sich durch eine Einteilung der Sakramente in unbedingt notwendige, die in Notzeiten auch von Laien gespendet werden könnten, und in diejenigen, auf die in Notzeiten auch verzichtet werden könne. Damit blieben den priesterlosen Altgläubigen lediglich die Sakramente der Taufe und der Beichte.51 Einige priesterlose Altgläubige erkannten darüber hinaus das Sakrament der Ehe an. Diese Anerkennung blieb allerdings umstritten und führte zu Aufspaltungen innerhalb der Bespopovščina. Im Jahr 1694 hatten einige Altgläubige auf einem Konzil in Novgorod festgehalten, dass das Ehesakrament ohne Geistlichkeit nicht mehr gespendet werden könne, und hatten jeglichen Sex verboten.52 Die priesterlosen Altgläubigen der Gemeinde am Vyg, deren Lebensideal dem mönchischen weitgehend entsprach,53 folgten zunächst diesem Gebot der Ehelosigkeit. Neue Ehen durften in der Gemeinde nicht geschlossen werden und die Ehe bereits verheirateter Paare wurde geschieden.54 Diese Einstellung führte zum Streit zwischen dem Leiter der Gemeinde am Vyg Andrej Denisov (1674–1730) und dem ehemali 48 Beliajeff: The Rise of the Old Orthodox Merchants 104–107. 49 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 6. 50 Hauptmann: Das Gemeindeleiteramt 476 f. 51 Smolitsch: Geschichte der russischen Kirche. Bd. 2, 155. Über die Beichte bei den Altgläubigen, s. Paert, Irina: Penance and the Priestless Old Believers in Modern Russia, 1771–c. 1850, in: Cooper, Kate/Gregory, Jeremy (Hg.): Retribution, Repentance, and Recon ciliation. Rochester 2004, 278–290. 52 Pera, Pia: The Old Believers and German Pietism, in: Panzer, Baldur (Hg.): Sprache, Literatur und Geschichte der Altgläubigen. Akten des Heidelberger Symposions vom 28. bis 30. April 1986. Heidelberg 1986, 185–202, hier 185. 53 Hildermeier: Alter Glaube und Neue Welt 383. 54 Crummey: The Old Believers 117.
54 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums gen Vygovec Feodosij Vasil’ev (1661–1711).55 Letzterer hatte mehrere Gemeinden in der Nähe von Nevel’ und am Westufer des Peipussees im heutigen Estland gegründet.56 Seit dem Jahr 1700 standen Vasil’ev und Denisov in engem Briefkontakt, in dem auch die Frage nach der Gültigkeit der Ehe thematisiert wurde, die schließlich zum Streit zwischen den beiden Altgläubigen führte.57 Feodosij Vasil’ev hatte den Mitgliedern in den von ihm gegründeten Gemeinden, die bereits vor Nikons Reformen geheiratet hatten (die so genannten Altverheirateten, russ. staroženy), den Vollzug der Ehe gestattet und zog sich damit die Kritik Andrej Denisovs zu.58 Die Einstellung gegenüber dem Sakrament der Ehe änderte sich aber in den Gemeinden der Pomorcy, benannt nach dem Pomor’e-Gebiet, in dem sich die Vyg-Gemeinde befand, und denen der Fedoseevcy, benannt nach ihrem Gründer Feodosij Vasil’ev. Seit 1751 verurteilten die Fedoseevcy die Ehen sowohl der Staroženy als auch der Novoženy.59 Die P omorcy gingen dagegen dazu über, die Ehe zumindest zu tolerieren.60 Ausschlaggebend für diesen Prozess waren die Schriften des Altgläubigen Ivan Alekseev (1709– 1776). Dieser schrieb 1764 in Starodub, dem kulturellen Zentrum der Altgläubigen im 18. Jahrhundert, das Werk »Über das Sakrament der Ehe« (O tajne braka). In diesem Buch verteidigte er die Gültigkeit der Ehe. Alekseev kritisierte die Folgen der Ehelosigkeit, nämlich die sich verbreitende Praxis des außerehelichen Geschlechtsverkehrs unter priesterlosen Altgläubigen, und argumentierte, dass das Ehesakrament nicht durch einen Priester gespendet werden müsse, sondern sich durch die Liebe der Ehepartner zueinander vollziehe.61 Wichtig für die Wirksamkeit des Ehesakraments seien darüber hinaus die Einwilligung der Eltern, der Ehepartner und der Gemeinde.62 Mittlerweile hatten sowohl Anhänger der Pomorcy als auch der Fedoseevcy Glaubensgemeinden in Moskau gegründet. Die Vorstellungen Alekseevs wurden bereits im Jahr 1765 vom Gemeindeleiter der Moskauer Pomorcy, Vasilij Emel’janov, aufgenommen. Emel’janov spendete das Ehesakrament in der Moskauer Pokrov-Kapelle.63 Der Gemeindeleiter der Fedoseevcy in Moskau, Il’ja Kovylin, sprach sich dagegen entschieden gegen eine Anerkennung der Ehe aus,64 was zu einer Auseinandersetzung der beiden priesterlosen Gemeinden in Moskau führte. In Folge dieses Streits verließen einige Mitglieder die Ge 55 Pera: The Old Believers and German Pietism 186. 56 Klibanov, A. I.: Narodnaja social’naja utopija v Rossii. Period feodalizma. Moskau 1977, 179. 57 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 210 f. 58 Pera: Old Believers and German Pietism 186. 59 Ebd. 60 Crummey: The Old Believers 122. 61 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 149–151. 62 Ebd. 151. 63 Pera: Old Believers and German Pietism 187. 64 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 152–154.
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meinde der Fedoseevcy und ließen sich von Emel’janov trauen.65 Gleichzeitig erfreute sich jedoch der Fedoseevec Sergej Semёnovič Gnusin (1756–1839) großer Popularität, der die Ehe streng verurteilte und predigte, dass der Zar der Antichrist sei. Auch nach der Inhaftierung Gnusins durch die Polizei66 war der Streit über die Anerkennung der Ehe innerhalb der Moskauer Bespopovščina nicht beigelegt, sondern blieb weiterhin unentschieden. Letztendlich entwickelten auch die Fedoseevcy allmählich eine nachsichtigere Einstellung gegenüber verheirateten Gemeindemitgliedern. Dies hing unter anderem mit dem Übertritt einiger Hundert Moskauer Orthodoxer zur Gemeinde der Fedoseevcy im Jahr 1771 zusammen. Die Konvertiten fürchteten, dass die zu jener Zeit ausgebrochene Pestepidemie eine Strafe Gottes für ihren vermeintlich falschen Glauben sei. Nun stand die Moskauer Gemeinde vor der Schwierigkeit, das Keuschheitsgelübde unter den Konvertiten durchzusetzen, welches die Fedoseevcy von ihren Mitgliedern verlangten.67 Waren Verstöße gegen das Gebot der Ehelosigkeit bisher mit teilweise sehr harten Bußstrafen geahndet worden,68 wurde dies in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts in der Moskauer Gemeinde deutlich entschärft. Zwar wurden Mitglieder, die erst nach ihrem Übertritt zum alten Glauben heirateten,69 noch immer auf Lebenszeit aus der Gemeinde ausgeschlossen; gegenüber denjenigen, die sich erst nach ihrer Eheschließung dem alten Glauben angeschlossen hatten, entwickelten die Moskauer Fedoseevcy aber größere Nachsicht, selbst wenn sie nach ihrem Übertritt zum alten Glauben Kinder zur Welt brachten.70 Im Jahr 1798 erkannten die Pomorcy am Vyg das Ehesakrament als kanonisch an.71 Diesem Beispiel folgten im Laufe des 19. Jahrhunderts viele große, vor allem städtische Altgläubigengemeinden, die zumindest eine nachsichtige Einstellung gegenüber ihren verheirateten Mitgliedern entwickelten.72 Die von den priesterlosen Altgläubigen anerkannten Sakramente wurden von den Gemeindeleitern (russ.: nastavnik, vom Verb nastavljat’ = unterweisen, 65 Ebd. 154. 66 Pera, Pia: The Secret Committee on the Old Believers: Moving away from Catherine II’s Policy of Religious Toleration, in: Bartlett, Roger/Hartley, Janet (Hg.): Russia in the Age of the Enlightenment. Essays for Isabel de Madariaga. New York 1990, 222–241, hier 225–227. 67 Paert: Penance 278 f. 68 Ebd. 284. 69 Die Begriffe Novožen und Starožen machten mit der Zeit einen Bedeutungswandel durch. In den ersten Jahrzehnten nach den Reformen des Patriarchen Nikon wurden als Staroženy Personen bezeichnet, die vor den Reformen geheiratet hatten. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff auf Personen angewandt, die vor ihrer Konversion zum alten Glauben geheiratet hatten. Analog dazu machte der Begriff Novožen den gleichen Bedeutungswandel durch. 70 Paert: Penance 285 f. 71 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 153. 72 Potašenko, Grigorij V.: Rižskaja fedoseevskaja obščina i prinjatie brakov v XIX v. O. O. 2007, URL: http://samstar-biblio.ucoz.ru/publ/7–1-0–112 (am 23.3.2012).
56 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums oder russ.: nastojatel’ = Vorsteher, Abt) gespendet,73 die auch die Gottesdienste leiteten. Diese Gemeindeleiter besaßen große Autorität in religiösen und moralischen Fragen. Sie wurden, ähnlich wie orthodoxe Priester, nach ihrer Wahl durch die Gemeinde von einem anderen Gemeindeleiter in ihr Amt gehoben.74 Von den Gemeindeleitern wurde ein frommer Lebensstil erwartet75 und sie durften sich nicht wirtschaftlich betätigen, um von ihren geistlichen Pflichten nicht abgelenkt zu werden.76 In fast allen Fällen handelte es sich bei den Gemeindeleitern um Männer. Frauen wurden nur sehr selten Nastavnici; lediglich für ländliche Gemeinden sind einige Beispiele für Gemeindeleiterinnen bekannt.77 Irina Paert schreibt, dass es durch die Existenz der Nastavniki, die auch geistliche Väter genannt wurden, eine Unterscheidung zwischen Geistlichkeit und Laientum innerhalb des priesterlosen Altgläubigentums gegeben habe.78 Theologisch gesehen war die Frage nach den Unterschieden zwischen Priestern und Gemeindeleitern und darüber, ob letztere als Laien anzusehen seien, jedoch schwieriger zu beantworten und wurde von den Altgläubigen auf dem Ersten Allrussischen Konzil der Christen-Pomorcy, die die Ehe anerkennen (Pervyj Vserossijskij Sobor christian-pomorcev, priemljuščich brak)79 im Jahr 1909 diskutiert.80 Neben den Gemeindeleitern gab es in den priesterlosen Altgläubigengemeinden eine Art Klerus: Kirchendiener (klirošane), Rubrizisten (ustavščiki), Chorleiter (golovščiki), Sänger (pevčie), Vorleser (čtecy), Psalmenleser (psalmoščiki), usw.81 Es bildete sich bei den Altgläubigen aber keineswegs eine klerikale Schicht heraus, die durch Vererbung an die Söhne weitergegeben wurde (soslovie), wie dies in der Orthodoxen Kirche der Fall war.82 Dadurch war es einem einfachen Bauern unter den Altgläubigen möglich, bis zum Gemeinde leiter aufzusteigen, wenn er eine entsprechende Lebensführung an den Tag legte und sich um die Gemeinde verdient machte. Die Zugehörigkeit zum alten Glauben konnte auf diese Weise sozialen Aufstieg ermöglichen, der in der offi 73 In den meisten Altgläubigengemeinden werden die Gemeindeleiter Nastojateli genannt. Unter den baltischen Altgläubigen hat sich beinahe ausschließlich die Bezeichnung Nastavnik durchgesetzt, die aber bedeutungsgleich ist. Hauptmann: Das Gemeindeleiteramt 484 f. 74 Podmazov: Rižskie starovery 98. 75 Hauptmann: Das Gemeindeleiteramt 487. 76 Paert: Penance 283. 77 Ebd. 78 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 78. 79 S. Kapitel 6.3. 80 [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora christian-pomorcev, priemljuščich brak, proischodnešago v carstvujuščem grade Moskve v leto ot sotvorenija mira 1909 maja v dni s 1 po 12. Moskau 1909, 39 f. 81 Hauptmann: Das Gemeindeleiteramt 490 f. 82 Freeze, Gregory L.: The Parish Clergy in Nineteenth-Century Russia. Crisis, Reform, Counter-Reform. Princeton, New Jersey 1983, xxx.
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ziellen Gesellschaft nicht möglich war. Dies mag einer der Gründe dafür sein, dass der alte Glaube in der Bevölkerung des Russländischen Reiches trotz seiner benachteiligten rechtlichen Stellung eine ungebrochene Attraktivität besaß.83 Und tatsächlich stammten die Gemeindeleiter der Moskauer Fedoseevcy laut Polizeiberichten aus den 1840er Jahren alle vom Land und gehörten entweder dem Meščanstvo an oder waren Bauern.84 Ein weiterer Streitpunkt innerhalb des priesterlosen Altgläubigentums war die Frage nach der Anerkennung der Zarenfürbitte in den Gebeten. Diese war von den Altgläubigen aufgrund eschatologischer Vorstellungen zunächst abgelehnt worden. Die Gemeinde am Vyg führte sie im Zuge ihrer Zusammenarbeit mit dem Staat unter Pёtr I. wieder ein. Daraufhin überwarf sich Fotij V asil’ev (1674–1742), mit Mönchsnamen Filipp, mit Semёn Denisov (1682–1740), dem Bruder Andrejs, verließ mit einigen Anhängern die Gemeinde am Vyg und gründete 1737 eine neue Gemeinde an der Umba. 1742 wurde diese Gemeinde der Filippovcy von Soldaten umzingelt und Filipp verbrannte sich mitsamt 70 Gemeindemitgliedern selbst. Die Filippovcy, die das Fürbittgebet ablehnten, existierten als zahlenmäßig schwächste Richtung des priesterlosen Altgläubigentums aber weiterhin.85 ✴ ✴ ✴ Bei dem Altgläubigentum handelt es sich nicht um eine geschlossene Gruppe. Unabhängig davon, ob man nun die wirtschaftliche und soziale Krisensituation des Russländischen Reiches Mitte des 17. Jahrhunderts oder die religiösen Motive samt eschatologischer Erwartungen als Grund für das Schisma in den Vordergrund stellt, ist allen Altgläubigen lediglich die Ablehnung der Reformen Nikons gemeinsam. Doch die Gegner der Reformen konnten nicht einfach an ihren bisherigen Bräuchen festhalten, sondern waren in der neuen Situation, in der sie sich als Schismatiker befanden, gezwungen, Auswege aus den Folgen der Kirchenspaltung zu finden und Neuerungen in Kauf zu nehmen. Diese Än derungen wurden aber keineswegs vorsätzlich eingeführt, sondern stellten nicht intendierte Folgen der Ablehnung der nikonianischen Reformen dar. Verschiedene Kirchenreformgegner fanden unterschiedliche Antworten auf die Fragen, die sich bei der Integration in die andersgläubige Umgebung eröffneten. Die Fragen, wie weit man sich überhaupt in einer Welt einrichten durfte, die bereits vom Antichristen beherrscht war oder zumindest die Herrschaft des Antichristen unmittelbar vorbereitete, wie stark man mit der vom rechten Glauben abgefallenen Umgebung in Kontakt treten durfte, spalteten das Alt 83 Hildermeier: Alter Glaube und Mobilität 337 f. 84 Paert: Penance 283. 85 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 207.
58 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums gläubigentum in unterschiedliche Denominationen. Die unterschiedlichen Antworten, die die Altgläubigen auf diese Fragen fanden, bestimmten, ob sie von der Staatskirche geweihte Priester durch eine Umweihe als altgläubige Priester annehmen konnten oder nicht. Sie bestimmten auch, ob die jeweilige Gemeinde das Ehesakrament durch Laien spenden ließ, oder ob dies ohne Priester nicht möglich sei, oder ein asketisches Leben ohnehin das einzig richtige in Vorbereitung auf das unmittelbar bevorstehende Weltende sei. Und auch die Frage nach der Aufnahme der Fürbitte für den Zaren in die Gottesdienstgebete dreht sich um die Alternative von Kompromisshaltung oder Fundamentalopposition. Angefangen mit der Gemeinde am Vyg, die mit Pёtr I. kooperiert hatte, rückten bis ins 19. Jahrhundert alle größeren Altgläubigengemeinden unabhängig von ihrer jeweiligen Denomination von der anfänglichen eschatologischen Radikalität ab und richteten sich zunehmend in der Welt ein. Diese Entwicklungen des Altgläubigentums in den ersten 200 Jahren seines Bestehens und die Ausdifferenzierung in unterschiedliche Richtungen sind bei der Verwendung des Begriffes Altgläubigentum stets mitzudenken.
2.3 Das Altgläubigentum auf dem Gebiet der Ostseegouvernements Über die ersten Altgläubigen auf dem Gebiet der späteren russischen Gouvernements Estland, Lettland und Kurland geben zwei Quellen Auskunft. Die erste ist das Werk »Uveščanie« (Ermahnung), dessen Autor und Entstehungsdatum unbekannt sind. Hierin werden die ersten zehn Kirchen der Altgläubigen in Kurland und Litauen erwähnt. Die erste wurde 1660 im Dorf Liginiški (lett. Liginišķi) errichtet, welches sich heute im Stadtgebiet von Dünaburg (lett. Daugavpils, russ. Dvinsk oder Dinaburg) befindet. Diese Kirche wurde unter Nikolaj I. zunächst geschlossen und später vollständig zerstört.86 Weitere und genauere Informationen bietet die »Degučiaier Chronik« (Deguckij letopisec, benannt nach der heute lettischen Stadt Degučiai, russ. Degučaj), deren Autorenschaft Vasilij I. Zolotov (1786-ca. 1856) zugesprochen wird, einem gebildeten Altgläubigen, der in den 40er oder 50er Jahren des 19. Jahrhunderts aus der Moskauer Fedoseevcy-Gemeinde nach Litauen, in das Dorf Degučaj gekommen war. Die Chronik berichtet davon, dass bereits im Jahr 1659 Altgläubige in das Herzogtum Kurland gekommen sind und sich nahe der Stadt Dü naburg niedergelassen haben. Nach der Gründung der Kirche in Liginiški folgten weitere Gemeindegründungen in Kurland und insbesondere in Lettgallen.87 86 Ebd. 220. 87 Podmazov, Arnol’d: Rannee staroverie v Latvii, in: [–]: Meždunarodnye Zavolokinskie Čtenija. Bd. 2. Riga 2010, 155–168, hier 159–161.
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Das einzige bekannte Kloster der Altgläubigen aus dieser Zeit wurde 1710 in der Umgebung von Rjapina (estn. Räpina, dt. Rappin) am Fluss Vychandu (estn. Võhandu, dt. Woo) errichtet. Dessen Leiter schlug sich jedoch bald auf die Seite der offiziellen Kirche; 1722 wurde das Kloster zerstört.88 Die größte und einflussreichste Gemeinde der Altgläubigen in den Ostseeprovinzen war und ist die Rigaer Gemeinde. Wann sich die ersten Altgläubigen in Riga niederließen, ist bisher ungeklärt. In dem bereits erwähnten Uveščanie wird die Gründung des ersten Bethauses der Altgläubigen in Riga auf das Jahr 1760 datiert.89 Geweiht wurde diese erste Rigaer Kirche der Altgläubigen von Fёdor Nikiforovič Samanskij (1719–1794), welcher auch der erste Gemeindeleiter der Rigaer Altgläubigen war.90 1798 wurde die Holzkirche durch einen Ziegelbau ersetzt und 1802 erweitert. Zwei weitere Bethäuser der Altgläubigen waren bereits Anfang des 19. Jahrhunderts in Riga bekannt. Diese fielen 1812 einem Feuer zum Opfer, welches in den Vororten Rigas gelegt worden war, weil Gerüchten zufolge Napoleons Armee zur Stadt vorrückte. 1814 wurden die beiden Kirchen wieder aufgebaut.91 Daneben unterhielt die Gemeinde seit 1813 ein Armenhaus, ein Krankenhaus, eine Stätte für Waisenkinder92 und seit 1826 eine eigene Schule.93 Die Führung dieser Einrichtungen sowie das gesamte alltägliche Leben der Gemeinde waren durch die »Regeln für die Verwaltung des Armenhauses, des Krankenhauses, der Waisenabteilung und der Schule der Rigaer Altgläubigengemeinde« (Pravila dlja upravlenija Bogadel’ni, Bol’nicy, Sirotskogo otdelenija i školy Rižskogo staroobrjadčeskogo obščestva; im Folgenden Regeln genannt) geregelt, welche am 28. Februar 1827 vom Generalgouverneur der Ostseegouvernements, Filipp Osipovič Paulučči (1779–1849),94 unterzeichnet wurden.95 88 Ponomarëva, Galina/Šor, Tat’jana: Starovery Ėstonii. Kratkij istoričeskij spravočnik. Tartu 2006, 11. 89 Das Werk Uveščanie ist sehr selten und weder in Deutschland noch in Lettland oder Litauen zu erhalten. Aus diesem Grund zitiere ich die Uveščanie aus einem Aufsatz von A. I. Volovič aus dem Jahr 1927, der 2003 zum zweiten Mal veröffentlicht wurde. Volovič, Anisim Ivanov: Drevlepravoslavie i pervye staroverčeskie chramy v Pribaltike, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Russkie v Latvii. Bd. 3: Iz istorii i kul’tury staroverija. Riga 2003, 48–56, hier 55. 90 Podmazov: Rannee staroverie v Latvii 167. 91 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 220. 92 Podmazov: Rižskie starovery 116. 93 In Riga gab es bis in die 1860er Jahre nur eine russischen Schule, die 1785 von Ekaterina II. errichtet worden war. Insofern stellt die Schule der altgläubigen Gemeinde eine Besonderheit dar und kann dabei helfen, zu erklären, weshalb in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts Altgläubige häufig über einen höheren Alphabetisierungsgrad verfügten als orthodoxe Russen. Fejgmane, Tat’jana: Russkie v dovoennoj Latvii na puti integracii. Riga 2000, 241 f. 94 Generalgouverneur der Ostseegouvernements von 1818 bis 1829. 95 Dieses Dokument wurde unlängst veröffentlicht in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 1: Stat’i, publikacija dokumentov. Riga 2011, 75–112.
60 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums Diese Regeln können als eine Weiterentwicklung eines früheren Statuts aus dem Jahr 1812 angesehen werden, der »Paragrafen über den kirchlichen Aufbau« (Stat’i o cerkovnom stroeniju),96 die zusammen mit den Moskauer Fedoseevcy der Gemeinde am Preobraženie-Friedhof entwickelt worden waren und 1813 in der Rigaer Gemeinde anerkannt wurden.97 Der Großteil der Altgläubigen in Riga gehörte der unteren Schicht der Stadtbewohner, dem Meščanstvo, an.98 Es gab allerdings im 19. Jahrhundert mehrere größere Kaufleute unter den Altgläubigen. Zu nennen wären die Kaufleute K. L. Chlebnikov und Aleksej Petrovič Grebenščikov, die zu Beginn der 1820er Jahre das Gut Grizenberg kauften, welches sie später der Gemeinde vermachten. Von Aleksej Grebenščikov erhielt die Gemeinde in Riga auch ihren Namen.99 Allerdings gaben nicht die Altgläubigen selbst ihr diese Bezeichnung. Bis 1833 hieß sie »Rigaer Altgläubigengemeinde«, doch erhielt Generalgouverneur Matvej Ivanovič Palen (1779–1863)100 im Frühling jenes Jahres den Befehl, dass der Begriff »Altgläubige« keine Verwendung mehr finden solle und das Kranken- und Armenhaus der Gemeinde den Beinamen Grebenščikov erhalten solle.101 Die bekanntesten altgläubigen Kaufleute in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren die Fabrikanten Sidor Terent’evič Kuznecov und Matvej Sidorovič Kuznecov, deren Porzellan- und Fayence-Fabrik im gesamten Russländischen Reich und über dessen Grenzen hinaus bekannt war.102 Über die Organisation der Altgläubigen am Westufer des Peipussees ist relativ wenig bekannt. In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts waren in den meisten Dörfern am Westufer des Sees Gemeinden gegründet worden. Viele von ihnen verfügten über ein Bethaus – das Zentrum des Gemeindelebens. So gab es ein Bethaus in Černyj (estn. Mustvee),103 in Krasnye Gory (estn. Kallaste),104 in den Dörfern Bol’šie und Malye Kol’ki (estn. Suur Kolkja, Väike Kolkja),105 in Kazapel’ (estn. Kasepää),106 Kikita (estn. Kükita)107 und in Dorpat.108 Darüber hin 96 S. hierzu: Morozova, N. A.: »Rižskie stat’i« 1813 goda, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 2: Stat’i, vospominanija, publikacija dokumentov. Riga 2011, 283–302. 97 Ageeva: Starovery Rigi v dokumentach istoričeskich archivov 105. 98 Šor: Derptskie starovery-predprinimateli 106. 99 Zavoloko, Ivan Nikiforovič: O staroobrjadcach g. Rigi. (Istoričeskij očerk). Riga 1933, 9. 100 Carl Magnus Freiherr von der Pahlen. Generalgouverneur der Ostseegouvernements von 1830 bis 1845. 101 Puchljak, Oleg: Aleksej Grebenščikov, in: Ders.: 100 russkich portretov v istorii Latvii. Riga 2008, 43–44, hier 44. 102 Ders.: Kuznecovy, in: Ders.: 100 russkich portretov v istorii Latvii. Riga 2008, 79–80. 103 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 30. 104 EAA F. 291. op. 8, d. 1520, l. 2, 10. 105 EAA F. 291, op. 8, d. 1743, l. 31ob. 106 Šor: Staroobrjadčeskaja molennaja i škola 158. 107 Gemäß einem Schreiben der Altgläubigen des Dorfes an Graf Kankrin aus dem Jahr 1837 wurde das Bethaus Mitte des 18. Jahrhunderts errichtet. LVVA F. 3, op. 5, d. 2102, l. 42–43. 108 EAA F. 291, op. 8, d. 1651, l. 36 f.
Das Altgläubigentum auf dem Gebiet der Ostseegouvernements 61
aus gab es einige Friedhöfe der Altgläubigen: einen in Dorpat, einen auf dem Gebiet der orthodoxen Gemeinde Nos (estn. Nina), zwei in der Gemeinde Voron’ja (estn. Varnja). Gemischtkonfessionelle Friedhöfe, auf denen sowohl Altgläubige als auch Orthodoxe beerdigt wurden, gab es zwei in der Gemeinde Nos, zwei in Černyj und vier auf der Insel Pirisaar (estn. Piirissaar).109 Eigene Schulgebäude der Altgläubigen gab es am Peipussee bis ins frühe 20. Jahrhundert nicht. Die Kinder der Altgläubigen wurden in den Privathäusern von ihren Eltern oder den Nastavniki unterrichtet.110 Über die Anzahl und Namen der Gemeindeleiter am Peipussee ist ebenfalls wenig bekannt. Die Altgläubigen dieser Dörfer gehörten fast ausschließlich dem Stand der Bauern und dem Meščanstvo an und lebten überwiegend in ärmlichen Verhältnissen.111 Ihre Haupterwerbszweige waren die Landwirtschaft und der Fischfang im Peipussee.112 Dies war in der Stadt Dorpat anders. Der Großteil der Altgläubigen in Dorpat gehörte wie auch in Riga dem Meščanstvo an. Doch gab es auch dort einige Kaufleute, wie die Familien Rundal’cev, Barchov oder Lesnikov.113 Die Altgläubigen Livlands gehörten fast ausschließlich der Bespopovščina an. In den Ostseegouvernements schloss sich der Großteil der priesterlosen Gemeinden im Laufe des 19. Jahrhunderts der Lehre der Pomorcy an,114 das heißt, sie erkannten die Ehe an und sprachen die Zarenfürbitte in ihren Gebeten. Dies trifft allerdings nicht auf alle Gemeinden zu. Vor allem unter den Altgläubigen am Peipussee herrschten im 19. Jahrhundert die eheablehnenden Fedoseevcy vor. Die Frage um die Anerkennung der Ehe war im Kreis Dorpat jedoch umstritten: In den Dörfern Kol’kie, Krasnye Gory und Černyj trauten Ende der 1820er Jahre die Gemeindeleiter die Ehen der Altgläubigen.115 Die Altgläubigen am Peipussee lehnten die Ehe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr konsequent ab. Wann die Ehe unter den Rigaer Altgläubigen anerkannt wurde, ist ungewiss. Aller Wahrscheinlichkeit nach hat die Gemeinde spätestens seit den 1830er Jahren die Ehe ihrer Mitglieder in der einen oder anderen Form zugelassen.116 109 Bericht des Dorpater Blagočinnyj Pavel Alekseev an den Rigaer Erzbischof vom 3.10.1855. LVVA F. 3, op. 10, d. 288, l. 7–8. 110 EAA F. 291, op. 8, d. 1072, l. 1–3. 111 So hatten die wenigsten Bewohner jener Dörfer ein Pferd und konnten sich Reisen in die umliegenden Dörfer selten leisten. Schreiben des Dorpater Ordnungsgerichts an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements vom 22.12.1855. LVVA F. 3, op. 10, d. 288, l. 10. 112 Eckhardt, Julius: Bürgerthum und Büreaukratie. Vier Kapitel aus der neusten livländischen Geschichte. Leipzig 1870, 226. 113 S. Šor: Derptskie starovery-predprinimateli 111–119. 114 Potašenko: Rižskaja fedoseevskaja obščina. 115 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 44ob-46. 116 Podmazov, Arnol’d: Rannjaja fedoseevščina v Pribaltike i eё istoričeskoe sud’by, in: Centr Istorii i Kul’tury Staroobrjadčestva Imeni Bojaryni Morozovy, Kul’turno-Palomničeskij Centr Imeni Protopopa Avvakuma, Kul’turno-Prosvetitel’nyj Centr »Staryj Borovsk« (Hg.): Staroobrjadčestvo: Istorija, kul’tura, sovremennost’: Materialy 4-j naučno-praktičeskoj
62 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums Für die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts sind Trauungen im Bethaus der Grebenščikov-Gemeinde überliefert.117 In den ersten eineinhalb Jahrhunderten der Geschichte des Altgläubigentums lebten die Gegner der Reformen Nikons auf dem Gebiet der späteren Ostseegouvernements weitgehend unbehelligt von der russländischen Regierung und der Russisch-Orthodoxen Kirche. Unmittelbar nach ihrer Flucht aus dem Zentrum des Reiches unterstanden die ersten Siedlungsgebiete der Altgläubigen schwedischer Herrschaft und faktisch der deutschbaltischen Ritterschaft.118 Diese war den Altgläubigen gegenüber wohlwollend gesonnen. Daran änderte auch der Anschluss Rigas und Livlands an das Russländische Reich in der Folge des Großen Nordischen Krieges 1721 nichts, da der lokalen Verwaltung im Frieden von Nystad Autonomie in religiösen Fragen zugestanden wurde.119 Die lokale Verwaltung hatte allerdings kein Interesse an einer Stärkung der Orthodoxen Kirche in den Ostseegouvernements, und deshalb auch keinen Anlass zur Bekämpfung des Schismas.120 Die Russisch-Orthodoxe Kirche war bis in die 1830er Jahre nicht in der Lage, gegen die Altgläubigen in Livland, Kurland und Estland vorzugehen. Sie stand vielmehr in einer Minderheitenposition gegenüber den deutschen, lettischen und estnischen Protestanten und verfügte nur über eine sehr rudimentäre Organisation. Noch im Jahr 1833 berichtete der Vikar der St. Petersburger Metropolie Venedikt, dass sich viele Orthodoxe in Riga mit zwei Fingern bekreuzigten, sich bemühten, Ikonen alten Stils zu sammeln, und beim Beten noch immer Lestovki121 und Područniki122 benutzten, also Bräuchen der Altgläubigen anhingen.123 konferencii, prochodivšej 14–15 maja 1998 g. v Moskve. Moskau 1998, 119. Nil’skij, Ivan: Semejnaja žizn’ v russkom raskole: Istoričeskij očerk raskol’ničeskogo učenija o brake. Bd. 2. St. Petersburg 1869, 136. Hauptmann: Rußlands Altgläubige 222. 117 Welchem Trauungsritus sie dabei folgten, ist nicht bekannt. 1885 schrieb Nikolaj Leskov, dass die Altgläubigen in Riga nicht dem Trauungsritus, welchen er in seinem Artikel »Blagoslovennyj brak« beschrieben hatte, folgten. Leskov, Nikolaj Semёnovič: O rižskich prelestnicach i o blagoslovennych brakach, in: Istoričeskij Vestnik 22 (1885), 228–232, hier 231. 118 Stricker, Gerd: Strukturkrise des priesterlosen Altgläubigentums im Baltikum, in: Stimme der Orthodoxie 3 (1996), 74–77, hier 74. 119 Hirschhausen, Ulrike von: Die Grenzen der Gemeinsamkeit. Deutsche, Letten, Russen und Juden in Riga 1860–1914. Göttingen 2006, 66. 120 Podmazov: Rižskie starovery 114. 121 Die Lestovka ist ein dem Rosenkranz ähnliches Hilfsmittel zur Zählung von Gebeten und Kniefällen, das bei Altgläubigen bis heute in Benutzung ist. 122 Područniki sind kleine Handtücher, mit denen die Hände bei Verbeugungen bis an den Boden vor Schmutz geschützt werden, damit man sich anschließend mit sauberen Händen bekreuzigen kann. 123 Pivovarova, N. V.: Rižskie starovery v pervoj polovine XIX veka (po materialam Rossijskogo gosudarstvennogo istoričeskogo archiva), in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 2: Stat’i, vospominanija, publikacija dokumentov. Riga 2011, 89–98, hier 92 f.
Statistische Angaben 63
Daran lässt sich ablesen, dass die Russisch-Orthodoxe Kirchenorganisation so schwach gewesen ist, dass die Reformen Nikons nicht bis in die Ostseegouvernements vorgedrungen waren.124 Diese für die Altgläubigen vorteilhafte Lage in den baltischen Gebieten dauerte bis in die 1820er Jahre an. Daran hatten die Altgläubigen eigenen Anteil: Durch die Unterzeichnung der Regeln durch den Rigaer Generalgouverneur Paulučči im Jahr 1827 konnte die Gemeinde legal existieren. Meines Erachtens sahen sich die Altgläubigen im Gegenzug aber zu sehr weitgehenden Kompromissen mit der staatlichen Macht und der Orthodoxen Kirche gezwungen. Ähnlich wie die Fedoseevcy in Moskau unter Il’ja Kovylin gingen die Altgläubigen in ihrer Kooperation mit dem Staat sehr weit, um ihre Existenz zu sichern. So verpflichteten sie sich in den Regeln, der lokalen Polizei jegliche in das Armenhaus, Krankenhaus oder Waisenhaus kommende oder daraus fort gehende Leute zu melden, das heißt, eng mit der Polizeiverwaltung zusammenzuarbeiten. Im Falle von Waisenkindern, über die nicht bekannt war, welcher Religion ihre Eltern angehörten, versprachen die Altgläubigen, sie nach den Riten der Orthodoxen Kirche zu taufen und zu erziehen.125 Von einer einstigen Protesthaltung des Altgläubigentums und starken eschatologischen Überzeugungen zeugt dieses Dokument nicht mehr.
2.4 Statistische Angaben Die Regierung war bis zur Herrschaft Nikolajs I. nur rudimentär über ihre altgläubigen Untertanen informiert. Weder Einzelheiten ihrer religiösen Lehre noch ihre genaue Anzahl waren bekannt. Zwar gab es verschiedene Bevölkerungszählungen, in denen auch die Altgläubigen gezählt wurden, doch sind diese Angaben höchst unzuverlässig. Denn die lokalen Verwaltungen, die Angaben über die Zahl der Altgläubigen in ihrem Verwaltungsgebiet machen sollten, bemühten sich, die Zahl der religiösen Dissidenten zu untertreiben, um zu zeigen, dass diese erfolgreich bekämpft worden waren. Die Orthodoxe Kirche dagegen übertrieb die Anzahl der Raskol’niki häufig, um auf die Dringlichkeit dieses Problems aufmerksam zu machen. Die statistischen Mängel waren der Regierung Nikolajs I. durchaus bewusst.126 Um diesem Problem Abhilfe zu schaffen, veranlasste der Zar seit Beginn der 1850er Jahre Expeditionen in die zentralen Regionen des Russländischen Reiches, die überwiegend zu dem 124 Podmazov: Rannee staroverie v Latvii 163. 125 [–]: Pravila dlja upravlenija Bogadel’ni, Bol’nicy, Sirotskogo otdelenija i školy Rižskogo staroobrjadčeskogo obščestvo, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Materialy po istorii staroverija. Bd. 1: Stat’i, publikacija dokumentov. Riga 2011, 75–112. 126 Paert, Irina: »Two or twenty million?«. The languages of official statistics and religious dissent in imperial Russia, in: Ab imperio 3 (2006), 75–98, hier 83.
64 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums Ergebnis kamen, dass die Zahl der Raskol’niki gemäß staatlicher Zählungen um den Faktor sieben bis zehn nach oben korrigiert werden müsse. 1891 berichtete der Statistiker fon Bušen, dass etwa zehn Prozent der Bevölkerung des Russländischen Reiches bzw. ein Sechstel der orthodoxen Bevölkerung Altgläubige seien, wobei etwa 88 Prozent von diesen ihren religiösen Dissens verheimlichten.127 Dies nahm einer der wichtigsten Expediteure zu den Altgläubigen, der Schriftsteller Pavel Mel’nikov-Pečerskij, auf und arbeitete weitere Korrekturen ein. Auf Grundlage dieser Arbeit Mel’nikov-Pečerskijs sprach sich der liberale Raskolforscher Aleksandr Stepanovič Prugavin (1850–1920) Ende des Jahrhunderts dafür aus, die Angaben der Bevölkerungszählung von 1897, die 2.173.738 Altgläubige im gesamten Russländischen Reich zählte, um den Faktor fünf bis zehn nach oben zu korrigieren.128 Der Bevölkerungszensus gebe nur die Zahl der offiziell registrierten Altgläubigen an, da die Anzahl der im Geheimen Praktizierenden laut der Regierung ohnehin nicht zu ermitteln sei.129 Ein weiteres Problem ist, dass Edinovercy130 zusammen mit Orthodoxen in einer Kategorie gezählt wurden, und Altgläubige zusammen mit allen anderen von der Orthodoxie abgefallenen Sektanten. Dadurch wurde erstens die Zahl der Orthodoxen tendenziell zu hoch angegeben, wenn man bedenkt, dass sich viele Altgläubige rein formell dem Edinoverie angeschlossen hatten und daher eher als Schismatiker gelten mussten. Außerdem ist unklar, wie viele derjenigen, die in der Kategorie »Altgläubige und von der Orthodoxie Abgefallene« registriert waren, zum alten Glauben gehörten und wie viele zu den zahlreichen russischen Sekten. Zuletzt gab es noch das Problem, dass das Kategoriensystem der Bevölkerungszählung nicht mit der Selbstbeschreibung der Altgläubigen übereinstimmte. Die Altgläubigen selbst sahen sich nicht als Raskol’niki (Schismatiker) an, sondern als die eigentlichen Rechtgläubigen.131 Es ist davon auszugehen, dass die meisten Altgläubigen sich in offiziellen Zählungen entweder als
127 Ebd. 83–87. 128 Simon: Konstantin Petrovič Pobedonoscev 170. 129 Ebd. 91. 130 Das Edinoverie war ein Projekt der Russisch-Orthodoxen Kirche, um die Altgläubigen wieder der Staatskirche zu unterstellen. Es ging auf die Initiative Metropolit Platons aus dem Jahr 1800 zurück und erlangte Gesetzeskraft durch den Erlass Pavel I. »O dozvolenii stroit’ staroobrjadčeskie cerkvi« (No. 19621) aus demselben Jahr. In den Edinoverie-Kirchen wurde der Gottesdienst nach Anleitung alter Bücher und nach alten Riten gefeiert. Der Priester wurde aber nicht von der Gemeinde gewählt, wie dies bei den Altgläubigen üblich war, sondern von der Eparchieleitung in die Gemeinde geschickt und unterstand der Orthodoxen Kirche. Šor, Tat’jana Kuzminična: Evrei i raskol’niki v sekretnoj perepiske ostzejskogo gubernatora (po materialam archiva Lifljandskij, Ėstljandskij i Kurljandskij general-gubernator, 1801–1876 gody), in: Budnickij, O. V. (Hg.): Archiv evrejskoj istorii. Bd. 4. Moskau 2007, 339–352, hier 351. 131 Paert: »Two or twenty million« 97.
Statistische Angaben 65
Orthodoxe ausgaben oder sich komplett den Zählungen entzogen.132 Aus diesen Gründen ist die Zahl der Altgläubigen, die im Russländischen Reich lebten, nicht zu ermitteln. Da die russländische Regierung und die Orthodoxe Kirche die Raskol’niki aber die meiste Zeit als Bedrohung des wahren Glaubens oder der bestehenden sozialen Ordnung wahrnahmen, muss davon ausgegangen werden, dass es sich nicht um eine unbedeutend kleine Minderheit gehandelt haben kann; vielmehr kann man annehmen, dass sie mehrere Prozent der russländischen Bevölkerung ausgemacht haben. Trotz der Probleme, die sich mit offiziellen Statistiken in Bezug auf die Altgläubigen stellen, werden an dieser Stelle die Angaben des Bevölkerungszensus von 1897 und der Berichte der Gouvernementsverwaltungen des Imperiums über die Ostseeprovinzen kurz vorgestellt. Diese können zumindest zeigen, welche regionalen Unterschiede es im Bevölkerungsanteil der Altgläubigen in den Ostseegouvernements gegeben hat und von welchen Zahlen die Regierung ausging. In der zweiten Hälfte der 1850er Jahre lebten in der gesamten Rigaer Eparchie, die zu dieser Zeit noch nicht das Gouvernement Estland umfasste, etwa 15.000 priesterlose Altgläubige.133 Davon sollen ca. 7.000 in der Stadt Riga gewohnt haben und 3.500 im Gouvernement Kurland, wobei allein auf den Kreis Illukst (lett. Ilūkste) 2.740 Altgläubige entfielen.134 Die restlichen Altgläubigen wurden im Kreis Dorpat des Gouvernements Livland gezählt. Die dort lebenden 4.623 Anhänger des alten Glaubens hatten sich vor allem in den Dörfern am Westufer des Peipussees niedergelassen, in denen sie ihre orthodoxen Nachbarn teilweise zahlenmäßig übertrafen.135 Bis 1872 war die Zahl der Altgläubigen in der Rigaer Eparchie, die mittlerweile auch das Gouvernement Estland umfasste, auf etwa 20.000 angestiegen. Davon lebten über 10.000 in Riga und 5.000 in Dorpat und am Westufer des Peipussees.136 Die restlichen 5.000 Altgläubigen wurden im Gouvernement Kurland lokalisiert,137 vorwiegend in den Städten Mitava (lett. Jelgava), Jakobštadt (lett. Jēkabpils), Jaunelgava (lett. Jaunjelgava) und Bauska (lett. Bauska), sowie in den Kreisen Illukst und Jaunelgava. Im Gouvernement Estland lebten laut Angaben des estländischen Gouver 132 Roth, Brigitte: Religionen/Konfessionen, in: Bauer, Henning/Kappeler, Andreas/Roth, Brigitte (Hg.): Die Nationalitäten des Russischen Reiches in der Volkszählung von 1897. Bd. A: Quellenkritische Dokumentation und Datenhandbuch. Stuttgart 1991, 285–301, hier 300. 133 Bericht des Erzbischofs von Riga und Mitau über den Zustand der Rigaer Eparchie 1857. RGIA F. 796, op. 440, d. 1135, l. 13. 134 Bericht P. A. Valuevs über die Lage der Altgläubigen im Gouvernement Kurland 1854. RGIA F. 908, op. 1, d. 77, l. 1 f. 135 Bericht Vladimir Sollogubs an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov über die Lage der Raskol’niki in Dorpat vom 24.7.1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 16. 136 Bericht des Erzbischofs von Riga und Mitau über den Zustand der Rigaer Eparchie 1872. RGIA F. 796, op. 442, d. 492, l. 23. 137 Ebd.
66 Kurze Geschichte des russischen Altgläubigentums neurs nur etwa 30 Altgläubige, die sich alle in Reval aufhielten.138 1897 machten die Altgläubigen zwar weiterhin nur einen relativ geringen Anteil an der Gesamtbevölkerung der Ostseegouvernements aus: In Estland, Livland und Kurland lebten 2.396.081 Menschen, davon 25.660 (1,07 Prozent) Altgläubige und 250.642 (10,46 Prozent) Orthodoxe.139 Da die Altgläubigen aber nicht gleichmäßig über die Kreise der Gouvernements verteilt waren, gab es einige Orte, an denen die Altgläubigen einen sehr viel höheren Anteil an der Bevölkerung hatten. So lebten im Kreis Illukst in Kurland 66.461 Menschen, von denen 6.701 (10,08 Prozent) Altgläubige waren und lediglich 5.351 (8,05 Porzent) orthodox.140 In Livland lebten nach wie vor die meisten Altgläubigen in der Stadt Riga und am Peipussee. In Riga machten 9.609 gezählte Altgläubige 3,40 Prozent der Stadtbewohner aus. Im Kreis Dorpat lebten 190.317 Menschen, wovon 6.182 (3,22 Prozent) dem alten Glauben und 21.962 (11,54 Prozent) der Orthodoxie angehörten.141 Im Gouvernement Estland stellten die 328 registrierten Altgläubigen lediglich 0,08 Prozent der Gesamtbevölkerung.142 Wie bereits erwähnt, sind die genannten Zahlen nicht als verlässlich anzu sehen. Da aus oben genannten Gründen davon ausgegangen werden kann, dass die vorliegenden Zahlen eher eine Unter- denn eine Übertreibung darstellen, kann von einer beträchtlichen Anzahl Altgläubiger ausgegangen werden – insbesondere im Verhältnis zu den Anhängern der Orthodoxie –, die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts anstieg. Außerdem lassen sich die Hauptverbreitungsgebiete des Altgläubigentums in dieser Zeit erkennen, die in der Stadt Riga, im Kreis Illukst und am Peipussee lagen. Im Gouvernement Estland lebte eine vernachlässigbare Anzahl Altgläubiger, die über keine bedeutende Gemeinde verfügten.
138 Schreiben des livländischen Gouverneurs an den Innenminister aus dem Jahr 1874. RGIA F. 1284, op. 218, d. 40, l. 7 ob. 139 Central’nyj statističeskij komitet Ministerstva Vnutrennych Del (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’ naselenija Rossijskoj imperii, 1897 g. Bd. XIX . Kurljandskaja Gubernija. O. O. 1905, 76 f. Central’nyj statističeskij komitet Ministerstva Vnutrennych Del (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’ naselenija Rossijskoj imperii, 1897 g. Bd. XXI. Lifljandskaja Gubernija. O. O. 1905, 2 f. Central’nyj statističeskij komitet Ministerstva Vnutrennych Del (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’ naselenija Rossijskoj imperii, 1897 g. Bd. XLIX . Estljandskaja Gubernija. O. O. 1905, 13. 140 Central’nyj statističeskij komitet (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’. Bd. XIX , 76 f. 141 Central’nyj statističeskij komitet (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’. Bd. XXI, 2 f. 142 Central’nyj statističeskij komitet (Hg.): Pervaja vseobščaja perepis’. Bd. XLIX , 13.
3. Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Nicht der peinigende Glaube ist heilig, sondern jener, der gepeinigt wird. Russisches Sprichwort des 19. Jahrhunderts
Nikolaj I. systematisierte in den Gesetzeskodizes von 1832 bis 1857 die bestehenden Gesetze über das Verhältnis des Zaren zur Orthodoxie, über die Stellung der Orthodoxie im Russländischen Reich, über das Verhältnis zu den nicht-orthodoxen Konfessionen und Religionen im Imperium. Außerdem fanden grundsätzliche Bestimmungen über das Verhältnis zwischen Staat und Altgläubigentum Eingang in den Gesetzeskodex. Die Verordnungen über die Raskol’niki wurden zum größten Teil jedoch nicht veröffentlicht, sondern geheim gehalten und erst drei Jahre nach dem Tod Nikolajs I. publiziert.1 Die kodifizierte und nicht-kodifizierte Gesetzgebung Nikolajs I. über die Altgläubigen ist Ausgangspunkt der weiteren gesetzlichen Entwicklung. Viele Bestimmungen behielten bis 1905/06 ihre Kraft, andere bauten auf dem von Nikolaj I. geschaffenen System auf. Um die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigentum in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu verstehen, muss daher bei der Gesetzgebung Nikolajs I. begonnen werden.
3.1 Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen Seitdem das Moskauer Konzil im Jahr 1666 die Reformen Patriarch Nikons bestätigt und Zar Aleksej Michajlovič sich hinter diese Entscheidung gestellt hatte, waren die Altgläubigen im Russländischen Reich von Staat und Orthodoxer Kirche verfolgt worden.2 Wie in Kapitel 2 bereits beschrieben, war Pёtr I. bereit, der Gemeinde am Vyg weitgehende Autonomie und freie Religionsausübung zu gewähren, wenn diese mit seiner Regierung zusammenarbeitete.3 In allen übrigen Fällen verfolgte Pёtr I. jedoch einen repressiven Kurs gegenüber den Altgläubigen. Erst die Toleranzpolitik des aufgeklärten Absolutismus unter 1 Bazarov, Boris Vandanovič: Istorija Burjatii. Bd. 2: XVII-načalo XX v. Ulan-Ude 2001, 362. [–]: Sobranie postanovlenij po časti raskola. St Petersburg 1858. 2 Smolitsch: Geschichte der russischen Kirche. Bd. 2, 149. Podmazov: Rižskie starovery 96. 3 Crummey: The Old Believers and the World of Antichrist 69.
68 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Ekaterina II. und ihrem Nachfolger Pavel I. (1754–1801)4 bedeutete schließlich eine Verbesserung der Lage der Altgläubigen im gesamten Imperium. Die Forschung ist sich darin einig, dass sich diese Situation mit Regierungsantritt Nikolajs I. erneut verschlechterte.5 Die ersten Gesetze, die die Rechte der Altgläubigen wieder stärker einschränkten, stammen jedoch bereits aus der späten Regierungszeit Aleksandrs I. Auslöser für den Kurswechsel gegenüber den Altgläubigen unter Aleksandr I. waren die Tätigkeiten des St. Petersburger Geheimen Komitees über die Schismatiker und von der Orthodoxie Abweichenden (Sekretnyj Komitet o raskol’nikach i otstupnikach ot Pravoslavija; im Folgenden: Geheimes Komitee). Dieses Komitee war infolge eines Konflikts innerhalb der Moskauer Fedoseevcy-Gemeinde gegründet worden.6 In dieser Moskauer Altgläubigengemeinde konkurrierten zu jener Zeit Lavrentij Ivanovič Osipov (1766–1825) und der geistliche Vater Sergej Gnusin um das Amt des Gemeindeleiters.7 Wie wir in Kapitel 2 gesehen haben, gab es unter den priesterlosen Altgläubigen seit der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Diskussion über die Gültigkeit des Ehesakraments. Sergej Gnusin war ein Befürworter der Ehelosigkeit und predigte den zölibatären Lebensstil.8 Um die Wahl des Moskauer Gemeindeleiters für sich zu entscheiden, wandte sich Osipov nun an die Moskauer Verwaltung und diffamierte Gnusin, indem er von dessen Lehre der Ehelosigkeit berichtete.9 Darüber hinaus verbreite Gnusin die Meinung, dass der Zar mit dem Antichristen in Verbindung stehe.10 In der Folge wurde auf den Vorschlag des Innenministers Viktor Pavlovič Kočubej (1768–1834)11 das Geheime Komitee gegründet, welches die Aufgabe hatte, die Ereignisse in der Preobraženie-Gemeinde der Altgläubigen zu untersuchen.12 Mitglieder des Komitees waren unter anderem der Metropolit von Novgorod, der Bischof von Tver’, der Kriegsgouverneur von St. Petersburg, der Oberprokuror des Heiligsten Synods, der Minister für religiöse An-
4 Zar des Russländischen Reiches von 1796 bis 1801. Von Pavel I. wird sogar behauptet, dass er große Sympathie mit den Altgläubigen hatte und in seiner Hauskirche in der Michaj lovskij-Festung der Gottesdienst nach alten Riten gefeiert wurde. Šor: Evrei i raskol’niki 344. 5 In der jüngeren Literatur findet sich diese Meinung beispielsweise bei: Kovalchuk, Svetlana N.: Der baltische Generalgouverneur Fürst Aleksandr A. Suvorov und die Verfolgung der Altgläubigen in Riga, in: Brüggemann, Karsten/Woodworth, Bradley D. (Hg.): Russland an der Ostsee. Imperiale Strategien der Macht und kulturelle Wahrnehmungsmuster (16. bis 20. Jahrhundert). Wien u. a. 2012, 191–214, hier 200. Gorizontov: Raskol’ničij klin 144. 6 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 187. 7 Ebd. 188. 8 Pera: The Secret Committee on the Old Believers 222–224. 9 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 188. 10 Pera: The Secret Committee 224. 11 Innenminister von 1802 bis 1807 und von 1819 bis 1823. 12 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 187.
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 69
gelegenheiten und für Volksbildung sowie der Innenminister.13 Nachdem das Geheime Komitee seine Aufgabe erfüllt hatte, wurde es in den 1830er Jahren mit dem Ziel reaktiviert, ein einheitliches staatliches Vorgehen gegen den Raskol auszuarbeiten.14 Das Geheime Komitee verurteilte die Lehre der Fedoseevcy über die Ehelosigkeit als Unterwanderung der zivilen Ordnung, als Ungehorsam gegenüber den staatlichen Autoritäten und als Gefährdung des Bevölkerungswachstums im Imperium.15 Da Vertreter der Regierung und der Orthodoxen Kirche die Familie als grundlegenden Baustein des Staates ansahen und ihnen eheliche Verbindungen als Garant für gesellschaftliche Stabilität galten,16 ließ die Lehre der Fedoseevcy von der Ehelosigkeit Unruhe und Destabilisierung der gesellschaftlichen Ordnung befürchten.17 Aller Wahrscheinlichkeit nach war die Regierung bis zu dem beschriebenen Vorfall in der Moskauer Altgläubigengemeinde nicht von der Lehre des Zölibats unter vielen priesterlosen Altgläubigen informiert gewesen.18 Zumindest bezeichnete Zar Aleksandr I. die Lehre Sergej Gnusins als neues Phänomen unter den Altgläubigen,19 was sie keineswegs war, da die Altgläubigen die Ehe bereits auf den Konzilen von Novgorod in den Jahren 1692 und 1694 verurteilt hatten.20 In Folge des Berichts Lavrentij Osipovs begann die Regierung, sich zunehmend für die sozialen und politischen Konsequenzen der religiösen Lehre der priesterlosen Altgläubigen zu interessieren.21 Ein Bericht des Offiziers und Literaten Fёdor Nikolaevič Glinka (1786–1880) an den St. Petersburger Kriegsgouverneur Michail Andreevič Miloradovič (1771–1825)22 über die Altgläubigen in St. Petersburg legte außer 13 Pera: The Secret Committee 229. Der genaue Zeitpunkt der Gründung des Komitees ist umstritten. Ol’ga Eršova nennt das Jahr 1824 als Gründungsdatum. Pia Pera wertet Sitzungsprotokolle des Komitees aus, die ihren Angaben zufolge am 25.2.1820 begannen. Dabei weist Pera die Angaben M. N. Vasil’evskijs zurück, der von einer Gründung des Komitees 1817 ausgeht. Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 137. Pera: The Secret Committee 230, 240. Die Tätigkeiten des Komitees standen aber zweifellos in Zusammenhang mit den Vorgängen in der Gemeinde der Fedoseevcy in Moskau von 1816 bis 1820. 14 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 187. 15 Ebd. 188. 16 Wagner, William G.: Marriage, Property, and Law in Late Imperial Russia. Oxford 1994, 3 f. 17 Pera: The Secret Committee 231. 18 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 188. 19 Pera: The Secret Committee 227. 20 Ebd. 222. 21 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 189. Das Gleiche gilt für den staatlichen Umgang mit den »schädlichsten« Sekten – Duchoborcy, Ikonoborcy, Molokany, Chlysty und Skopcy. Sie wurden als gesellschaftliche Gefahr wahrgenommen, da ihnen nachgesagt wurde, die Ehe zu unterminieren, den menschlichen Körper zu entstellen und die Grundlage der Prokreation zu zerstören. Engelstein, Laura: Castration and the Heavenly Kingdom. A Russian Folktale. Ithaca, London 1999, 51. 22 Kriegsgouverneur von St. Petersburg von 1818 bis 1825.
70 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) dem nahe, dass nicht nur unter den Moskauer Fedoseevcy gesellschaftsgefährdende religiöse Lehren verbreitet waren.23 Die Beobachtungen über die Moskauer und St. Petersburger Altgläubigen wurden fortan auf die Altgläubigen des gesamten Russländischen Reiches extrapoliert.24 Aleksandr I. ließ die altgläubige Lehre vom Zölibat als Verletzung der zivilen Ordnung verurteilen.25 Darüber hinaus stellten einige Verordnungen klar, dass das Altgläubigentum nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt war: Regierungsbehörden sollten sich nicht länger in innere, das heißt religiöse, Angelegenheiten der Altgläubigengemeinden einmischen; und die Gemeinden verloren die Bedeutung juristischer Personen vor Gericht.26 Auf diese Weise begann die Abwendung von der Toleranzpolitik Ekaterinas II. gegenüber den Altgläubigen bereits unter Aleksandr I. Ihren Höhepunkt erreichte die Diskriminierung der Altgläubigen allerdings erst in den späteren Regierungsjahren Nikolajs I. Die Gründe für die Verfolgungen der Altgläubigen unter dem Nachfolger Aleksandrs I. sind einerseits in seinem Selbstverständnis als orthodoxem Herrscher zu sehen, welcher die vorherrschende Religion des Imperiums vor Häresien schützen musste. Im 1832 zum ersten Mal erschienenen Gesetzeskodex ließ Nikolaj I. festhalten, dass der orthodoxe Glaube im Russländischen Imperium der vorherrschende sei und der Zar als orthodoxer Herrscher »der höchste Beschützer und Bewahrer der Dogmen des herrschenden Glaubens und Hüter des rechten Glaubens« sei.27 Der rigide Umgang mit den altgläubigen Untertanen stand andererseits im Kontext des im Allgemeinen repressiven Kurses Nikolajs I., der unter dem Eindruck des Dekabristenaufstands jegliche regierungskritische Bewegung zum Schweigen bringen wollte.28 Letztendlich war die Vorstellung von der Unabhängigkeit der altgläubigen Gemeinschaft vom Staat und ihrer inneren Autonomie nicht mit Nikolajs I. Ideal von einer disziplinierten und stark überwachten Gesellschaft zu vereinbaren.29 Das grundsätzliche Verhältnis zwischen Staat und Altgläubigentum war im Gesetzeskodex dargelegt worden. Die Notwendigkeit, die Gesetze des Impe riums zu systematisieren, war bereits von Ekaterina II. und ihren Nachfolgern erkannt worden, die insgesamt zehn Kommissionen mit dieser Aufgabe betrau-
23 Pera: The Secret Committee 231. 24 Ebd. 25 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 190 f. 26 Pera: The Secret Committee 229. 27 SZ , Bd. 1. St. Petersburg 18332, 16 (Art. 42). 28 Maškovceva: Konfessional’naja politika 8. 29 Zen’kovskij, Sergej Aleksandrovič: Russkoe staroobrjadčestvo v XVII–XIX vv. (prodolženie), in: Jernakoff, Nadja (Hg.): Zapiski russkoj akademičeskoj gruppy v SŠA . Bd. XXX . New York 2000, 261–362, hier 275.
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ten. Zu konkreten Ergebnissen waren diese jedoch nicht gelangt.30 Nikolaj I. verfügte in einem Erlass aus dem Jahr 1826, dass die II. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei einen Gesetzeskodex zusammenstellen sollte. Geleitet wurde diese Abteilung vom Direktor der St. Petersburger Universität Michail Andreevič Balug’janskij (1769–1847), beaufsichtigt und im Wesentlichen bestimmt wurde deren Arbeit jedoch von dem Mitglied der Imperatorischen Russländischen Akademie Michail Michajlovič Speranskij (1772–1839). Das Ergebnis dieser Arbeit war der erste Gesetzeskodex, der im Jahr 1832 in 15 Bänden herausgegeben wurde. Darin enthalten waren alle Gesetze seit dem Moskauer Gesetzeskodex des Jahres 1649 (Sobornoe Uloženie) bis zum 1. Januar 1832 in thematischer Gliederung und nicht in chronologischer,31 wie in der als Vorarbeit zum Gesetzeskodex erstellten »Vollständigen Sammlung der Gesetze des Russländischen Imperiums« (Polnoe Sobranie zakonov Rossijskoj imperii).32 Dieser Gesetzeskodex trat am 11. Januar 1835 in Kraft und galt für alle Bewohner des Russländischen Reiches.33 Am 15. August 1845 wurden darüber hinaus die Arbeiten am Strafrechtskodex abgeschlossen, der am 1. Mai 1846 Kraft erlangte.34 Der erste Paragraf des XIV. Bandes des Gesetzeskodex, der sich mit den Altgläubigen und anderen Häretikern beschäftigt, stammte aus dem Jahr 1667. Er besagt, dass die Schismatiker nicht für ihre Glaubensmeinungen verfolgt werden dürften; es sei ihnen jedoch verboten, andere zum Schisma zu verleiten, die Orthodoxe Kirche und deren Kirchendiener zu beleidigen und von den allgemeinen Regeln der guten Ordnung abzuweichen, die durch die Gesetze festgelegt seien.35 Die Historikerin Ol’ga Eršova, die sich intensiv mit dem Verhältnis zwischen den Altgläubigen und der russländischen Regierung auseinander gesetzt hat,36 beurteilt diese Bestimmung folgendermaßen: Die Stellung [der Altgläubigen im Imperium], die auf diese Weise formuliert war, […] fasst in sich die ganze Ambivalenz und Unklarheit zusammen, die typisch für die gesamte Politik des Staates in dieser Frage [des Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigentum] war.37 30 Eršova, Ol’ga Petrovna: Razvitie Zakonodatel’noj Sistemy v Oblasti Raskola v 50–60-e Gody XIX Veka, in: Staroobrjadčestvo. Istorija. Tradicija. Sovremennost’ 2 (1995), 26–31, hier 26. 31 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 121. 32 Palme, Anton: Die Russische Verfassung. Berlin 1910, 43. 33 Eršova: Razvitie Zakonodatel’noj Sistemy 26. 34 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 124. 35 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 13 f. (Art. 60). 36 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’. Eršova: Razvitie zakonodatel’noj sistemy. Eršova, Ol’ga Petrovna: Rol’ Ministerstva vnutrennych del v formirovanii gosudarstvennoj politiki v otnošenii staroobrjadčestva v 60-e gody XIX veka, in: Staroobrjadčestvo. Istorija. Tradicija. Sovremennost’ 5 (1996), 26–30. 37 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 122. Andere Forscher folgen dieser Einschätzung. Bsp. Kovalchuk: Der baltische Generalgouverneur 201 f.
72 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Dagegen ist zwar einzuwenden, dass ein Teil dieser unklaren Formulierungen in anderen Gesetzen genauer erläutert wird. So präzisiert Artikel 77, was mit der Formulierung gemeint war, dass die Altgläubigen nicht für ihre Glaubensanschauungen verfolgt werden und gleichzeitig niemanden zum Altgläubigentum verleiten durften: Altgläubige durften ihre Riten zwar praktizieren, diese aber nicht öffentlich zur Schau stellen.38 Doch war auch dieser Artikel widersprüchlich, da er die Zugehörigkeit zum alten Glauben per se nicht unter Strafe stellte, jedoch sämtliche Manifestationen desselben.39 Und er ließ großen Spielraum für Interpretationen offen, da es im Ermessen der Beamten lag, wann eine Verleitung zum Raskol vorlag. Darüber hinaus hatte bereits Aleksandr I. die Glaubensanschauung über die Ehe der Fedoseevcy als Verstoß gegen die zivile Ordnung verurteilt, was der Bestimmung widersprach, dass die Altgläubigen nicht für ihre Glaubensmeinungen verfolgt werden sollten. Eršova ist daher darin zuzustimmen, dass viele Bestimmungen über die Altgläubigen sehr unklar formuliert und widersprüchlich waren, wodurch ein großer Interpretationsspielraum geschaffen war.40 Doch bewertet Eršova diese Widersprüchlichkeit und Uneinheitlichkeit als Mangel des Nikolaj’schen Gesetzessystems. Diese Mängel hätten die Regierung daran gehindert, ihre Ziele gegenüber dem Altgläubigentum zu erreichen. Dieses Problem sei noch dadurch verstärkt worden, dass viele Bestimmungen nicht im Gesetzeskodex veröffentlicht worden seien. Dadurch habe die Gouvernementsverwaltung die gesetzliche Lage der Altgläubigen nicht in vollem Umfang gekannt und folglich nicht umsetzen können.41 Man kann jedoch die Frage stellen, ob es überhaupt die Absicht des Monarchen war, einheitliche und eindeutige Prinzipien zu formulieren, die seiner Willkürherrschaft Grenzen gesetzt hätten. Denn das Rechtssystem des Russländischen Reiches stellte den Willen des Zaren über die Gesetze. Gemäß den Staatsgrundgesetzen war der Zar »der absolute und uneingeschränkte Monarch«.42 Gleichzeitig legten die Staatsgrundgesetze fest, dass das Russländische Reich auf Grundlage des positiven Rechts, durch Einrichtungen und Statuten regiert wird, welche vom Selbstherrscher ausgehen.43 Der Monarch sollte also Gesetze beachten, die von ihm selbst oder seinen Vorgängern ausgegangen waren. Dies bedeutete eine Selbsteinschränkung der uneingeschränkten Macht des Zaren. Zwar hatten neben dem Imperator auch der Regierende Senat, der Heiligste Synod und die Ministerien das Recht, neue Gesetze zu initiieren; in Kraft gesetzt wurden sämtliche Gesetze 38 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 16 (Art. 77). 39 Marsden, Thomas: Afanasii Shchapov and the Significance of Religious Dissent in Imperial Russia, 1848–79. Stuttgart 2008, 20. 40 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 122. 41 Ebd. 125 f. 42 SZ , Bd. 1. St. Petersburg 1857, 1 (Art. 1). 43 Ebd. 11 (Art. 47).
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jedoch nur durch den Zaren selbst.44 Wann immer die Gesetze im Widerspruch zum Willen des Zaren standen, wog der Wille des Zaren schwerer als das Gesetz.45 Das Russländische Reich war insofern ein Rechtsstaat, in welchem sich der Zar über bestehende Gesetze hinwegsetzen konnte. Auch die Einführung des Gesetzeskodex sollte keineswegs den autokratischen Willen des Zaren einschränken. Das Hauptmotiv für die Kodifizierung der Gesetze war vielmehr der Versuch, die Verwaltung auf die Anwendung allgemeingültiger Gesetze zu gründen, nach dem Vorbild des westlichen Absolutismus. Es ging um eine Rationalisierung der Herrschaftsinstrumente durch den Monarchen, welche zu einer weitgehenden Vereinheitlichung und Zentralisierung behördlicher Administration führte.46 Keinesfalls beabsichtigte Nikolaj I. mit der Gesetzeskodifizierung jedoch eine Einschränkung seiner autokratischen Macht. Der Kodex sollte eine legale Ordnung schaffen, die nicht auf Gesetzlichkeit beruhte, sondern auf paternalistischer Autorität.47 Einer Rechtsstaatlichkeit, die die autokratische Herrschaft in Frage stellte, sollte erst Aleksandr II. mit der Justizreform von 1864 die Tür öffnen. Insofern kann der Nikolaj’sche Gesetzeskodex sicherlich als ambivalent beschrieben werden; er enthielt Widersprüche, da er es vermied, allgemeine Prinzipien aufzustellen.48 Es wurden Einzelfälle aufgezählt, die die Bedeutung der einzelnen Gesetze häufig im Vagen beließen und zueinander in Widerspruch standen.49 Anstelle des Rechtsstaatsprinzips herr schte unter Nikolaj I. die polizeistaatliche Staatsführung vor, in welcher die Regierung ihre Autorität durch so genannte administrative Maßnahmen ausübt, ihrer Macht also keine gesetzlich festgelegten Grenzen gesetzt sind.50 Im Falle der Altgläubigen setzte Nikolaj I. ausschließlich auf die Anwendung administrativer Maßnahmen, die von der Polizei durchgeführt wurden und nicht der Gerichtsprozessordnung unterlagen, sondern in Band XIV »Über die Verhütung und Verhinderung von Verbrechen« (O Predupreždenii i Presečenii Prestuplenij) 44 Szeftel, Marc: The Form of the Government of the Russian Empire prior to the Constitutional Reforms of 1905–06, in: Curtiss, John Shelton (Hg.): Essays in Russian and Soviet History. Leiden 1963, 105–119, hier 107 f. Je nach Herkunft und abhängig davon, ob eine Bestimmung ein Gesetz, das heißt eine allgemeine Regel war oder aber ein Befehl, welcher das Gesetz implementierte, handelte es sich im damaligen Sprachgebrauch um einen Kodex (uloženie), ein Statut (ustav), eine Urkunde (gramota), eine Verordnung (položenie), eine Anweisung (nakaz), ein Gesetz (zakon) oder einen Erlass (ukaz). Einen klaren Unterschied zwischen diesen unterschiedlichen Arten von Bestimmungen scheint es nicht gegeben zu haben. 45 Szeftel: The Form of Government 106 f. 46 Engelstein, Laura: The keys to happiness: Sex and the search for modernity in fin-desiècle Russia. Ithaca 1992, 21. Baberowski, Jörg: Autokratie und Justiz. Zum Verhältnis von Rechtsstaatlichkeit und Rückständigkeit im ausgehenden Zarenreich 1864–1914. Frankfurt am Main 1996, 13. 47 Wagner: Marriage, Property, and Law 5. 48 Engelstein: The keys to happiness 21 f. Wagner: Marriage, Property, and Law 56. 49 Wagner: Marriage, Property, and Law 57. 50 Engelstein: The keys to happiness 19.
74 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) des Gesetzeskodex festgeschrieben waren.51 Dass Nikolaj I. bezüglich der Altgläubigen widersprüchliche Bestimmungen erließ, erscheint vor diesem Hintergrund weniger als Versäumnis des Zaren – wie Ol’ga Eršova es darstellt –, sondern war Prinzip seiner autokratischen Herrschaft. Auf diese Weise sollte die Regierung trotz der Existenz kodifizierten Rechts, welches ein Erfordernis für eine moderne Verwaltung war, ihren breiten Spielraum im Umgang mit den Altgläubigen beibehalten. Das autokratische Prinzip im staatlichen Umgang mit den Altgläubigen wurde noch dadurch verstärkt, dass der überwiegende Teil der Bestimmungen über die Altgläubigen weder in den Gesetzeskodex noch in die Vollständige Sammlung der Gesetze des Russländischen Imperiums52 aufgenommen wurde. Das Licht der Öffentlichkeit erblickten diese geheim gehaltenen Gesetze erstmals 1858 in der »Sammlung der Bestimmungen über das Schisma« (Sobranie postanovlenij po časti raskola).53 Davor wurden diese Bestimmungen nur einzelnen Behörden und Beamten durch Schreiben des Innenministers bekannt gemacht. Im Folgenden werden die Maßnahmen vorgestellt, die Nikolaj I. gegenüber den Altgläubigen in veröffentlichter und unveröffentlichter Form erließ, und die Ziele herausgearbeitet, die diesen Maßnahmen zu Grunde lagen. Die Bestimmungen betrafen: 1) die religiöse Organisation der Altgläubigen; 2) ihre Familienrechte und die rechtliche Stellung ihrer Kinder; 3) ihr sozioökonomisches Leben.
3.1.1 Die Zerstörung der religiösen Organisation Die wesentlichen Bestimmungen über die Einschränkung der religiösen Organisation der Altgläubigen – das heißt in Bezug auf ihre Bethäuser, ihre geistliche Elite, die Schulen und Gegenstände des religiösen Kultes – stammen aus der Zeit Aleksandrs I. Seit dessen letzten Herrschaftsjahren war es den Alt gläubigen verboten, kirchenähnliche Gebäude zu errichten oder bestehende zu renovieren54 und nach altem Stil gedruckte Gebets- und Gottesdienstbücher 51 Ebd. 20. Darüber hinaus waren die meisten Bestimmungen über die Altgläubigen geheim, das heißt, sie mussten nicht erst vom Regierenden Senat veröffentlicht werden, um in Kraft zu treten. Szeftel: The Form of Government 109 f. 52 Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe. Bd. 1–50. St. Petersburg 1830. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie vtoroe. Bd. 1–55. St. Petersburg 1830–1884. Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie tret’e. Bd. 1–33. St. Petersburg 1881–1913. Im Folgenden: PSZ I–III. 53 [–]: Sobranie postanovlenij po časti raskola. Moskau 1858. Ich benutze für diese Arbeit die vollständigere Ausgabe von 1875: [–]: Sobranie postanovlenij po časti raskola. St. Petersburg 1875. Im Folgenden: SPR . 54 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 14 (Art. 62).
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herzustellen, zu verkaufen55 oder aus dem Ausland einzuführen.56 Außerdem durften die Altgläubigen keine eigenen Friedhöfe errichten. Stattdessen sollten ihnen besondere Plätze auf den orthodoxen Friedhöfen zugewiesen werden, auf denen sie ihre Verstorbenen beerdigen konnten.57 Altgläubige durften Andersgläubige nicht zum Übertritt zum Altgläubigentum bewegen oder ihre Riten und Bräuche öffentlich zur Schau stellen.58 Dies schloss Gesang in der Öffentlichkeit – beispielsweise bei Beerdigungen – oder innerhalb von Gotteshäusern ein, wenn dieser außerhalb des Bethauses zu hören war, das Tragen von Ikonen und Prozessionen jeglicher Art, das Tragen von Gewändern des orthodoxen Klerus oder von Mönchskutten.59 Glockengeläut war in Kapellen und Bethäusern der Altgläubigen verboten60 und diese Gebäude durften von außen nicht als Kirchengebäude zu erkennen sein.61 Diese Maßnahmen sollten die Sichtbarkeit des Altgläubigentums im Imperium einschränken und dadurch Übertritten von Orthodoxen zum alten Glauben vorbeugen. Der Strafgesetzkodex drohte bei dreimaligem Verstoß gegen das Verbot der Zurschaustellung altgläubiger Bräuche mit der Verbannung.62 Besonders den Gemeindeleitern der Altgläubigen konnte schnell der Vorwurf gemacht werden, altgläubige Bräuche und Lehren öffentlich zur Schau gestellt und dadurch missioniert zu haben. Dies gab der Regierung ein Mittel an die Hand, die Gemeindeleiter der Altgläubigen zu verbannen. Nikolaj I. übernahm die repressiven Maßnahmen gegen die religiöse Organisation der Altgläubigen, die von Aleksandr I. geschaffen worden waren, und ergänzte den Maßnahmenkatalog durch eigene Bestimmungen. 1826 wurde das Verbot, Bethäuser der Altgläubigen zu errichten, wiederholt63 und 1830 dasjenige, bestehende Bethäuser zu renovieren.64 Im Jahr 1836 wurde erklärt, dass die Altgläubigen auch keine Bauernhäuser in Bethäuser umwandeln und in
55 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 14 (Art. 65). 56 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 14 (Art. 66). Diese Regelung bezog sich vor allem auf Bücher, die in den Gemeinden der Altgläubigen in Preußen und in Poznań gedruckt wurden. Nikolaj Leskov beispielsweise bekam von dem Pskover Kaufmann Vasilij Nikolaevič Chmelnickij zwei Werke von Pavel Prusskij geschenkt, die in Preußen gedruckt worden waren. Er erwähnte außerdem die Druckerei der Altgläubigen in Poznań. Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 391 f. 57 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 14 (Art. 63). 58 SPR 556–559 (15.10.1858). 59 Ebd. 60 SPR 291 (21.11.1840). 61 SPR 89 (19.8.1826). 62 SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1857, 51 (Art. 207). 63 SPR 89 (19.8.1830). 64 Gavrilin, Aleksandr: Episkop Rižskij Irinarch (Popov) i staroobrjadcy Rigi, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Staroverie Latvii. Riga 2005, 274–279, hier 274.
76 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Kapellen (časovnja)65 keine Altäre errichten durften.66 Im Jahr 1839 wurde präzisiert, dass Altgläubige nicht das Recht hatten, Lehrer zu sein.67 Zuspitzung erfuhr die diskriminierende Gesetzgebung über die Altgläubigen zu Beginn der 1850er Jahre.68 Die Regierung hatte Expeditionen in unterschiedliche Regionen des Imperiums geschickt, die Informationen über Anzahl und Eigenheiten der Lehre der Altgläubigen sammeln sollten.69 Der erfolgreichste und bekannteste Beamte, der mit einer solchen Expedition beauftragt worden war, ist Pavel Ivanovič Mel’nikov-Pečerskij. Er schrieb einen Bericht über die Altgläubigen im Gouvernement Nižegorod, der so reich an neuen Erkenntnissen über die religiösen Dissidenten war, dass er reichsweite Bedeutung erlangte.70 In seinem bemerkenswerten Bericht »Über die derzeitige Stellung des Schismas im Gouvernement Nižegorod im Jahr 1853«71 schrieb er, dass unter allen Altgläubigen Lehren vom Antichrist verbreitet seien. Sie brächten die Orthodoxe Kirche und die russländische Regierung mit der Herrschaft des Antichrist auf Erden in Verbindung. Die Folge sei, dass sämtliche Altgläubige eine feindselige Einstellung gegenüber dem Staat hätten. Mel’nikov-Pečerskij sprach sich in seinem Bericht an den Innenminister für eine Verfolgung der Altgläubigen aus.72 Imperator Nikolaj I. und seine Nachfolger maßen diesen Berichten große Bedeutung zu; sie lieferten die detailliertesten und verlässlichsten Informationen, die die Regierung über ihre altgläubigen Untertanen hatte.73 Mel’nikov-Pečerskijs Bericht ließ Nikolaj I. an der Loyalität der Altgläubigen gegenüber seiner Regierung zweifeln. Darüber hinaus gingen erste Schätzungen des Innenministeriums aus den Jahren 1852 und 1853 davon aus, dass bis zu neun oder zehn Millionen Raskol’niki im Imperium leben könnten. Das waren etwa zehn Mal mehr, als bisher angenommen worden war.74 Nikolaj I. war entschlossen, Maßnahmen zu ergreifen, die das Altgläubigentum eindämmen sollten. Am 18. Februar 1853 65 Diese Kapellen sind kleine Kirchen ohne Ikonostase, in der sich kleinere Menschengruppen zum gemeinsamen Gebet versammeln. Im Unterschied zur katholischen Kapelle verfügen die meisten časovni über einen Altar. 66 SPR 170 (28.4.1836). 67 SPR 269 f. (28.11.1839). 68 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 159. 69 Ebd. 139 f. 70 Im Übrigen fand er auch in der historiografischen Forschung über das Altgläubigentum Resonanz. S. Hildermeier: Alter Glaube und Mobilität. 71 Mel’nikov, Pavel Ivanovič: Otčet o sovremennom sostojanii raskola v Nižegorodskoj gubernii za 1853, in: Dejstvija Nižegorodskoj Učenoj archivnij komissii. Bd. 9: V pamjat P. I. Mel’nikova (Andreja Pečerskago). Teil 2. 72 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 140–150. 73 1881 urteilte A. S. Prugavin, dass diese Berichte Grundlage der Vorstellung der Regierung über die altgläubigen Bevölkerung seien. Sie bestimmten bis heute die Maßnahmen des Innenministeriums gegenüber den Altgläubigen. Prugavin, Aleksandr Stepanovič: Raskol i ego issledovateli, in: Russkaja mysl’ 2 (1881), 332–357, hier 338–340. 74 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 225.
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 77
wurde das Besondere Komitee für die Überprüfung der Bestimmungen über die Schismatiker (Osobyj Komitet dlja peresmotra postanovlenij o raskol’nikach, im Folgenden: Besonderes Komitee) gegründet. Dieses beschloss Notmaßnahmen, die eine Ausbreitung des Altgläubigentums verhindern sollten.75 Am 10. Juni 1853 wurden diese Maßnahmen vom Zaren bestätigt.76 Sie stellen den Höhepunkt der diskriminierenden Gesetzgebung über das Altgläubigentum dar. Die Polizeipräsenz an Orten, an denen Altgläubige lebten, sollte verstärkt werden.77 Außerdem sollten sämtliche Klöster, Einsiedeleien und Friedhöfe der Altgläubigen ausnahmslos geschlossen werden.78 Der Regierung Nikolajs I. ging es nicht mehr nur darum, die Verbreitung des Altgläubigentums zu verhindern; der Zar versuchte das Altgläubigentum durch die vollständige Zerstörung seiner religiösen Organisation empfindlich zu schwächen.79 Doch die Bekämpfung der Altgläubigen sollte unter Nikolaj I. nicht auf Kosten der öffentlichen Ruhe und Ordnung geschehen. Im Hinblick auf die Ostseegouvernements gab es in den geheimen Bestimmungen eine Reihe von Ausnahmeregelungen bezüglich des repressiven Umgangs mit den Altgläubigen. So sollten gemäß einer Bestimmung vom 5. Mai 1839 die Bethäuser der Altgläubigen durch die Gouvernementsleitung geschlossen werden. In den Ostseegouvernements hingegen durfte der Generalgouverneur nicht ohne die vorherige Erlaubnis des Innenministers und des Geheimen Komitees in St. Petersburg Bethäuser schließen. Darüber hinaus sollten versiegelte Bethäuser in den Ostseegouvernements auch nicht unmittelbar nach ihrer Schließung abgerissen werden, sondern erst nach Ablauf einer nicht genauer festgelegten Zeitspanne. In der entsprechenden Bestimmung wird die Hoffnung geäußert, dass die Altgläubigen auf diese Weise weniger Widerstand bei der endgültigen Zerstörung des Bethauses an den Tag legen würden.80 In den Ostseegouvernements war man vorsichtiger im Umgang mit der religiösen Organisation der Altgläubigen als in anderen Regionen des Imperiums. Aufruhr unter der altgläubigen Be völkerung sollte, wenn möglich, vermieden werden.81 Der Eindruck, dass die 75 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 159, 138. 76 Ebd. 159. 77 SPR 469 f. (10.6.1853). 78 SPR 470 (10.6.1853). 79 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 225. 80 SPR 261 f. (5.5.1839). Die Sorge um eine Beeinträchtigung von Ruhe und Ordnung durch die Durchsetzung repressiver Maßnahmen gegen die Altgläubigen fand auch in Gesetzen Niederschlag, die imperiumsweit galten. Seit dem 28.4.1836 war es den Altgläubigen untersagt, in Kapellen Altäre zu errichten, bereits bestehende sollten aber nicht durch die zivilen Behörden zerstört werden, da dies wiederum den Widerstand der Altgläubigen hätte erregen können. SPR 170 (28.4.1836). 81 Der Umgang mit dem Bethaus und Armenhaus der Altgläubigengemeinde in Riga verdeutlicht diese zuweilen widersprüchliche Interessenlage der Regierung. Als das Armenhaus der Altgläubigen in Riga 1853 umgebaut werden sollte, befahl der Imperator, dass diese Um-
78 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Raskol’niki vom Staat anerkannt oder protegiert würden, sollte hingegen vermieden werden. Eine Bestimmung vom 9. April 1838 legte fest, dass an den Taufriten der Altgläubigen keine Polizeioffiziere teilnehmen durften. Dies würde unter den religiösen Dissidenten die Annahme verstärken, ihre Riten würden gesetzlich anerkannt und ihre Gemeindeleiter als geistliche Personen angesehen werden.82 ✴ ✴ ✴ Die Gesetzgebung über die religiöse Organisation der Altgläubigen stand im Spannungsverhältnis zweier Regierungsinteressen: Schutz der Orthodoxen Kirche vor Häresien und Nichtanerkennung des Altgläubigentums als autonomes Glaubensbekenntnis einerseits, andererseits die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung im Imperium. Diese Interessen standen zuweilen im Widerspruch zueinander. Daher hielten die Gesetze Spielräume für die Behandlung von Altgläubigenfragen offen und übertrugen dem Innenminister das Recht, in allen Einzelfällen eine weitgehend freie Entscheidung über den Umgang mit den Altgläubigen zu treffen.
3.1.2 Die Delegitimierung der Ehen und Kinder In Kapitel 2 wurde dargestellt, dass unter den priesterlosen Altgläubigen umstritten war, ob das Sakrament der Ehe ohne Geistlichkeit gespendet werden könne. Diejenigen Priesterlosen, die die Ehen ihrer Gemeindemitglieder in der einen oder anderen Form anerkannten, zählten zu den Pomorcy, diejenigen, die von ihren Mitgliedern ein zölibatäres Leben verlangten, gehörten zu den Fedoseevcy. Die Regierung Nikolajs I. erkannte die Gültigkeit der Ehen, die unter bauten erlaubt seien, da sie nur das Armenhaus, nicht aber das Bethaus der Altgläubigen in Riga betrafen. Die wohltätigen Einrichtungen, die mittlerweile staatlicher Kontrolle unterstellt worden waren, sollten also keinesfalls dem Verfall preisgegeben werden, was Unruhe unter der altgläubigen Bevölkerung erregt und die Frage aufgeworfen hätte, was mit den Einwohnern des Armenhauses hätte geschehen sollen. Das Bethaus der Altgläubigen dagegen durfte nicht renoviert werden und auch die Bitte der Altgläubigen, eine Schule einrichten zu dürfen, wurde abgelehnt, da der Zar befürchtete, dass dies zu einer Verstärkung und Verbreitung des Schismas führen würde. SPR 467 f. (1.5.1853). 82 SPR 226 f. (9.4.1838). Diese Bestimmung war nötig geworden, da die Rigaer Altgläubigen, wenn sie in den Matrikelbüchern der Polizei die Geburt eines Kindes registrieren lassen wollten, Polizeioffiziere zur Taufe baten. Durch die Anwesenheit einer offiziellen Person wollten sie, so der orthodoxe Professor der Geistlichen Akademie in St. Petersburg Ivan Nil’skij, ihren Riten den Anschein der Rechtmäßigkeit verleihen. Möglich geworden sei dies, weil die lutherischen Polizeibeamten kein Bewusstsein für die Unterschiede zwischen Altgläubigentum und Orthodoxie hätten. Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Bd. 2, 140.
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 79
sämtlichen Denominationen des priesterlosen Altgläubigentums geschlossen wurden, nicht an. Dies hing mit der Betonung des Sakramentscharakters der Ehe im Russländischen Reich zusammen. Die Orthodoxe Kirche hatte seit Ende des 18. Jahrhunderts den Sakraments charakter der Ehe betont, um sich die Jurisdiktion in Ehefragen zu sichern, nachdem im Laufe des 18. Jahrhunderts immer mehr Kompetenzbereiche der Staatskirche den zivilen Institutionen übergeben worden waren.83 Auf diese Weise konnte die Russisch-Orthodoxe Kirche auch nach den Reformen Pёtrs I. ihre Macht in Ehe- und Scheidungsfragen bewahren.84 Diese »sacramentalization of marriage«85 hatte zwei Konsequenzen. Erstens wurden Eheannullierungen und -scheidungen in der Staatskirche nahezu unmöglich, da die kirchlichen Autoritäten ein bereits gespendetes Sakrament nicht in Frage stellen wollten; aus diesem Grund lehnten sie Anträge auf Ehescheidung in beinahe allen Fällen ab. Darüber hinaus befürchtete man in kirchlichen Kreisen, dass eine allzu leichtfertige Ehescheidungspraxis die gesellschaftliche Stabilität in Frage stellen würde.86 Metropolit Filaret (Drozdov; 1783–1867)87 drückte diesen Gedanken im Jahr 1861 treffend aus, als er sagte, dass der ganze Staat aus Familien bestehe und Unordnung in seinen konstituierenden Teilen Unordnung im Ganzen bewirke.88 Die zweite Konsequenz der »Sakramentalisierung der Ehe« war, dass die Ehe rechtlich als religiöse Institution definiert wurde. Dadurch bekam die jeweilige kirchliche Autorität jeder staatlich anerkannten Religion im Russländischen Reich das Recht, die Bedingungen für Eheschließungen und -trennungen unter ihren Angehörigen festzulegen, ohne dass sich die Regierung in diese Fragen einmischte.89 Die Möglichkeit einer zivilen Eheschließung gab es im Russländischen Reich dagegen nicht, da sie sowohl in Kirchen- als auch Regierungskreisen als Bedrohung für das moralische Leben angesehen wurde und die orthodoxe Kirchenhierarchie ihre Einführung zu verhindern wusste.90 Das Verständnis der Ehe als Sakrament hatte in Bezug auf die Altgläubigen die Folge, dass die Orthodoxe Kirche deren Ehen nicht anerkannte. Der Heiligste Synod hatte Ehen zwischen priesterlosen Altgläubigen bereits 1722 für ungültig erklärt, da sie nicht von einem Priester getraut worden waren. Er
83 Freeze, Gregory L.: Bringing Order to the Russian Family: Marriage and Divorce in Imperial Russia, 1760–1860, in: The Journal of Modern History 62 (1990), 709–746, hier 719. 84 Ebd. 713. 85 Ebd. 719. 86 Ebd. 722. 87 Moskauer Metropolit von 1821 bis 1867. 88 Wagner: Marriage, Property, and Law 73. 89 Ebd. 67. 90 Werth, Paul W.: Empire, Religious Freedom, and the Legal Regulation of »Mixed« Marriages in Russia, in: The Journal of Modern History 80 (2008), 296–331, hier 301–303.
80 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) wiederholte diese Verurteilung in einem Erlass vom 14. August 1808,91 in dem es hieß, dass es sich bei Ehen der Altgläubigen um außereheliche Verbindungen (soprjaženija ljubodejnyja)92 handele. Staatlicherseits wurden die Ehen der Altgläubigen bis 1839 toleriert. Den Altgläubigen in Riga wurden Matrikelbücher ausgehändigt, in denen sie die Geburten, Todesfälle und Eheschließungen in ihrer Gemeinde registrieren sollten.93 Auch in den Dörfern am Peipussee wurden noch in der zweiten Hälfte der 1820er Jahre Eheschließungen und Geburten in Gemeinderegister eingetragen.94 Bis zur 8. Revision der steuerpflichtigen Bevölkerung des Russländischen Reiches95 wurden altgläubige Eheleute und ihre Kinder als Familie registriert und dadurch legalisiert.96 Zunächst begann sich die Regierung Nikolajs I. für interkonfessionelle Ehen zwischen Altgläubigen und Mitgliedern der Orthodoxen Kirche zu interessieren. Eine Bestimmung vom 7. Juli 1835 sah vor, dass Altgläubige, die in ihren Bethäusern nach altgläubigem Ritus mit Orthodoxen in die Ehe getreten waren, als Verführer (sovratiteli) zum Raskol anzusehen seien. Das Gleiche galt für Personen, die den Trauungsritus anleiteten, das heißt für die Gemeindeleiter der Altgläubigen.97 Das Strafgesetzbuch sah harte Strafen für Verführer vor: Sie verloren alle ihre Standesrechte und wurden in die Strafkolonien im Kaukasus, in Sibirien oder an anderen abgelegenen Orten verbannt.98 Ziel dieser Maßnahme war es, eine Ausbreitung des Altgläubigentums unter Anhängern der Orthodoxie zu verhindern. Ehen zwischen Altgläubigen und Anhängern der staatlich anerkannten nicht-orthodoxen Religionen wurden dagegen nicht als Bedrohung wahrgenommen. Am 91 Paert, Irina: Regulating Old Believer Marriage: Ritual, Legality, and Conversion in Nicholas I’s Russia, in: Slavic Review 63 (2004), 555–576, hier 561. Filjarevič, Tat’jana Sergeevna: Peremena veroispovedanija v matrimonial’nych seljach v srede donskich kazakov v 1-j pol. XIX v., in: Sibirskaja associacija konsul’tantov (Hg.): Sociologija, politologija, filosofija i istorija: tendencii razvitija v sovremennom mire. Materialy meždunarodnoj zaočnoj naučno-praktičeskoj konferencii (17 sentjabrja 2012 g.). Novosibirsk 2012, 114–118, hier 114. 92 Die Orthodoxe Kirche unterschied zwischen ljubodejanie, womit außerehelicher Geschlechtsverkehr bezeichnet wurde, und preljubodejanie, womit Ehebruch bezeichnet wurde. Paert: Old Believers, religious dissent and gender 218. 93 Bericht Vladimir Sollogubs an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov über die Lage der Raskol’niki in Dorpat vom 24.7.1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 2–37, hier: l. 10. 94 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 46. 95 Zwischen 1718 und 1857 wurden zehn solcher Revisionen durchgeführt, in denen diejenigen Untertanen gezählt und verzeichnet wurden, die zur Zahlung von Steuern und Abgabe von Rekruten verpflichtet waren. Keppen, Pёtr: Devjataja revizija. Izsledovanie o čisle žitelej v Rossii v 1851 godu. St. Petersburg 1857, IX . [–]: Revizija, in: Vvedenskij, B. A.: Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 36: Rakovnik – »Romėn«. 2. Ausg. Moskau 1955, 175. 96 Paert: Regulating Old Believer Marriage 561 f. 97 SPR 148 (7.7.1835). 98 SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1857, 53 f. (Art. 216).
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 81
17. März 1839 befand der Zar, dass die Kirchenleitung in Riga Fällen von Mischehen zwischen Altgläubigen und Lutheranern oder Katholiken nicht nachgehen, sondern sich vielmehr darum kümmern solle, die orthodoxe Bevölkerung vor »der Infektion mit dem Schisma« (ot zarazy raskola) zu schützen.99 Das Hauptaugenmerk lag also darauf, die orthodoxe Bevölkerung von der Konversion zum alten Glauben abzuhalten. Aus diesem Grund war es den Angehörigen der besonders schädlichen Sekten auch verboten, orthodox getaufte Kinder bei sich aufzunehmen.100 Seit Ende der 1830er Jahre kriminalisierte die Regierung auch intrakonfessionelle Ehen zwischen Altgläubigen. Zu dieser Entscheidung hatten zwei Gründe geführt: Erstens wurden die Ehen der priesterlosen Altgläubigen als instabil und damit als Gefährdung der Gesellschaft angesehen. Diese Auffassung wurde maßgeblich von der Orthodoxen Kirche verbreitet. Metropolit Filaret war der Meinung, dass nur die Autorität eines Priesters und die geistliche Kraft eines Sakraments die leiblichen Leidenschaften einzäumen und Verletzungen der Sittlichkeit verhindern könnten. Die Verbindungen der priesterlosen Altgläubigen könnten daher, so Filaret, die Stabilität von Familien und die Aufrechterhaltung der Moral nicht garantieren.101 1837 berichtete der Bischof von Riga Irinarch (Popov; 1790–1877),102 dass alleinstehende altgläubige Mütter mit ihren neugeborenen Kindern verwahrlost durch die Gouvernementshauptstadt strichen. Diese Erscheinung führte er auf die Lehre der Rigaer Altgläubigen über das Zölibat zurück und unterließ es, zu erwähnen, dass eine Choleraepidemie im Jahr 1830 viele Mütter zu Witwen und Kinder zu Waisen gemacht hatte.103 Die Meinung der Orthodoxen Kirche war also, dass die Verbindungen der priesterlosen Altgläubigen zu Unzucht, Bigamie, Instabilität und sexueller Anarchie führen würden.104 Dieser Vorstellung schloss man sich in Regierungskreisen Ende der 1830er Jahre an und wollte diese Eheverbindungen rechtlich nicht anerkennen. Zweitens erhoffte sich die Regierung von der Nichtanerkennung der Ehen priesterloser Altgläubiger, dass diese zum Zweck einer gültigen Eheschließung zur Orthodoxen Kirche übertreten würden.105 Schon Zeitgenossen befürchteten, dass die Nichtanerkennung der Ehe der Altgläubigen den instabilen Familienverhältnissen nicht Abhilfe schaffen, sondern dieses Problem zusätzlich verschärfen würde. Einige Beamte in Moskau, Nikolaevsk und Nižnyj Novgorod sprachen sich für größere Toleranz anstelle von Repression aus und führten dafür – genauso wie ihre Kontrahenten – mora 99 SPR 258 (17.3.1839). 100 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 17 (Art. 82). 101 Paert: Regulating Old Believer Marriage 564. 102 Bischof von Riga von 1836 bis 1841. 103 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 203. 104 Paert: Regulating Old Believer Marriage 564. 105 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 199 f.
82 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) lische Argumente an, um zu zeigen, dass die Ehen der priesterlosen Altgläubigen ein geringeres Übel waren als die Zwangstrennung altgläubiger Paare.106 Paradoxerweise hatte der Oberprokuror des Heiligsten Synod Nikolaj Aleksandrovič Protasov im Jahr 1842 eine Klassifikation der Altgläubigen vorgelegt, die die Fedoseevcy aufgrund ihrer Lehre von der Ehelosigkeit als »schädlichste« (vrednejšij) Sekte bezeichnete, während die eheanerkennenden Pomorcy lediglich als »schädliche« (vrednyj) Sekte galten.107 Die Vermutung liegt nahe, dass die staatliche Nichtanerkennung der Ehen der Pomorcy dazu führte, dass sich unter diesen dieselben instabilen Familienverhältnisse verbreiteten, die als gesellschaftsgefährdend wahrgenommen wurden und bisher nur in Bezug auf die Fedoseevcy beobachtet worden waren. Doch der Wunsch Nikolajs I., die Altgläubigen zu einer Konversion zur Orthodoxen Kirche zu bewegen, wog schwerer als derartige Bedenken. Der Zar ließ den Altgläubigen in Riga die Matrikelbücher zur Eintragung von Ehen abnehmen,108 so dass ihre Ehen keine juristische Gültigkeit mehr erlangen konnten, die durch die Registrierung in den Matrikel büchern hergestellt worden war. Seit der 9. Revision des Jahres 1850 wurden Kinder priesterloser Altgläubiger außerdem als illegitim registriert. Die Ehefrauen von Altgläubigen wurden nicht bei ihren Männern, sondern bei den Familien ihrer Eltern registriert.109 Die Ehefrauen priesterloser Altgläubiger sollten damit das Recht verlieren, bei ihren Ehemännern zu leben, solange sie ihre Ehe nicht in der Orthodoxen Kirche trauen ließen.110 Der Entzug der Matrikelbücher diente nicht nur der Diskreditierung alt gläubiger Ehen. Da die Altgläubigen nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt wurden, sollten ihre Gemeindeleiter auch nicht das Recht haben, Matrikelbücher zu führen. Dies hatte für die Altgläubigen Konsequenzen, die über die Ungültigkeit ihrer Eheverbindungen hinausreichten. Registrierungen in den Gemeindebüchern legten den rechtlichen Status eines Individuums, seine Rechte und Pflichten gegenüber dem Staat fest.111 Sie waren Grundlage für alle offiziellen Dokumente, die Auskunft über die eigene Person gaben, ohne die man den Zugang zu Rechten, Privilegien und Verpflichtungen verlor, die der Staat seinen Untertanen verlieh und aufbürdete.112 Ohne Eintragung in die Bücher konnte man keine legitimen Kinder haben, sich nicht in einer Gilde registrieren, keine höheren Schulen oder Universitäten besuchen und genoss 106 Paert: Regulating Old Believer Marriage 568 f. 107 SPR 318 f. (9.12.1842). 108 Bericht Vladimir Sollogubs an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov über die Lage der Raskol’niki in Dorpat vom 24.7.1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 2–37, hier l. 10ob. 109 SPR 428 (10.6.1850). 110 EAA F. 291, op. 8, d. 1690, l. 13ob-14. 111 Avrutin: Jews and the Imperial State 56. 112 Ebd. 83.
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keine Freizügigkeit im Imperium.113 Altgläubige Frauen, die nicht zu den Familien ihrer Ehemänner gerechnet wurden, verloren das Aufenthaltsrecht an ihrem Wohnort, falls dieser mehr als 20 Werst von dem Wohnort ihres Eltern hauses enfernt war, wo sie gemäß den Revisionslisten registriert waren.114 Personen, die außerhalb der Ehe zusammenlebten oder nach altgläubigem Ritus verheiratet worden waren, wurden räumlich voneinander getrennt, weil sie keine entsprechende Matrikelbucheintragung vorweisen konnten. Schwerwiegende Folgen lasteten auch auf Kindern, die keine Abstammung von rechtskräftig verheirateten Eltern durch Registrierungen in den Gemeindebüchern vorweisen konnten. Diese so genannten illegitimen Kinder litten unter einem verminderten Rechtsstatus und waren des Rechts auf Sorge und Unterstützung durch ihre Eltern beraubt.115 Unabhängig von der gesellschaftlichen Stellung ihrer Eltern gehörten illegitim Geborene immer den steuerpflichtigen Ständen der Gesellschaft an.116 Gregory Freeze hat darauf hingewiesen, dass bis zur Militär- und Steuerreform der Jahre 1874 und 1887 die wichtigste Trennungslinie in der Gesellschaft zwischen denjenigen Personen verlief, die steuerpflichtig waren, und denjenigen, die nicht steuerpflichtig waren.117 Zu Ersteren gehörten Meščane und Bauern. Von der Steuerpflicht befreit waren lediglich der Adel und der Klerus,118 seit 1824 außerdem Kaufleute, die in den Kaufmannsgilden registriert waren.119 Angehörige der steuerpflichtigen Stände mussten nicht nur Steuern entrichten, sondern unterlagen auch der Rekrutenpflicht, Körperstrafen und Einschränkungen ihrer Freizügigkeit.120 Die Väter illegitimer Kinder wurden nicht als rechtlicher Elternteil anerkannt. Ihre Vaterschaft konnten sie nicht anerkennen lassen,121 sondern beim Waisengericht lediglich das Recht einklagen, Vormund (opekun) ihrer Kinder zu werden, oder sie gaben sich mit der juristisch nicht definierten Stellung des Erziehers (vospitatel’) zu 113 Ebd. 54. 114 Freeze: Jewish Marriage 127. 115 Wagner: Marriage, Property, and Law 107. 116 Veremenko, V. A.: Dvorjanskaja sem’ja i gosudarstvennaja politika Rossii (vtoraja polovina XIX–načalo XX v.). St. Petersburg 2009, 541. 117 Freeze, Gregory L.: The Soslovie (Estate) Paradigm and Russian Social History, in: American Historical Review 91 (1986), 11–36, hier 21. 118 Veka, A. V.: Istorija Rossii. Moskau u. a. 2005, 447. 119 Hildermeier, Manfred: Bürgertum und Stadt in Russland 1760–1870. Rechtliche Lage und soziale Struktur. Köln, Wien 1986, 193–195. Darüber hinaus bildete sich in den Städten eine »Geldaristokratie« heraus, deren Angehörige keinen Adelstitel hatten, aber mit Ehrenund Prestigetiteln ausgezeichnet wurden, die ihnen bestimmte Privilegien verliehen. So genannte »namhafte Bürger« waren aus dem Stand der steuerpflichtigen Bevölkerung befreit. Ebd. 218–228. 120 Freeze: The Soslovie 21. 121 Zagorovskij, A.: O nezakonnych detjach po russkomu zakonodatel’stvu, in: Vestnik Evropy 17/3 (1882), 379–404, hier 383.
84 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) frieden.122 Illegitime Kinder hatten folglich keine Rechte in Bezug auf ihren biologischen Vater: weder auf den Familiennamen123 und die damit verbundene gesellschaftliche Stellung124 noch auf Unterhalt durch ihren Vater oder auf dessen Erbmasse.125 Ihr Anrecht auf persönliche und finanzielle Obhut durch ihre Mütter währte nur so lange wie das Leben derselben, denn als Erben konnten sie von keinem der Elternteile eingesetzt werden.126 Grund für die harsche Behandlung illegitimer Kinder war eine Kombination aus religiösen Überlegungen und dem Willen, die bestehende soziale und politische Ordnung zu stärken.127 Die genannten Bestimmungen waren nicht in Hinblick auf die Altgläubigen geschaffen worden, sondern galten für sämtliche Einwohner des Russländischen Reiches. Doch waren die Kinder der Altgläubigen ausnahmslos davon betroffen, nachdem die Regierung die Ehen der Altgläubigen für ungültig erklärt hatte. Seither gab es keine Möglichkeit für Altgläubige, legitime Kinder zu haben, wenn sie sich nicht der Orthodoxen Kirche anschlossen.128 Die Nikolaj’sche Gesetzgebung sah für Altgläubige Auswege aus dem Status des illegitim Geborenen vor. Priesterlose Altgläubige konnten ihre Kinder nachträglich legitimieren lassen.129 Zu diesem Zweck mussten sie sich allerdings der Orthodoxie bzw. dem Edinoverie anschließen und sich dazu verpflichten, ihre Kinder orthodox taufen zu lassen und im orthodoxen Glauben zu erziehen.130 Für die Ostseegouvernements gab es von 1842131 bis 1853132 allerdings eine Ausnahme von dieser Regel. Altgläubige, die sich in Edinoverie- oder orthodoxen Kirchen trauen lassen wollten, mussten sich nicht der Orthodoxie oder dem 122 Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja 543–545. 123 Ebd. 124 Zagorovskij: O nezakonnych detjach 384. 125 Ebd. 383. 126 Ebd. 127 Wagner: Marriage, Property, and Law 72. 128 Ivanovskij, N.: Po povodu priznanija raskol’ničeskich brakov, in: Pravoslavnyj sobesednik 1 (1875), 65–84, hier 68. In den Ostseegouvernements war die rechtliche Lage illegitimer Kinder besser als in Zentralrussland. In Bezug auf ihre Mutter und deren Verwandtschaft hatten illegitime Kinder in den Ostseegebieten die gleichen Erbrechte wie ihre legitimen Geschwister. Außerdem hatten sie Anspruch auf Unterhaltszahlungen durch Vater und Mutter. Recht auf das Erbe und den Namen des Vaters hatten sie jedoch nicht und waren dadurch auch in den Ostseegouvernements wesentlich schlechter gestellt als legitime Kinder. Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja 526 f. 129 SPR 438 f. (8.12.1850). 130 SPR 173 f. (7.8.1836). 131 Laut einem Erlass der Heiligsten Synod vom 5.5.1842 gab es in den Gouvernements Kurland, Estland und Livland keine Konversionsforderung für Altgläubige, die ihre Ehe in orthodoxen Kirchen trauen lassen wollten. RGIA F. 1284, op. 208, d. 449, l. 17. 132 Am 31.7.1853 veröffentlichte der Heiligste Synod einen Erlass, der einen Anschluss der Altgläubigen an die Orthodoxie vor einer Eheschließung nach orthodoxem Ritus forderte. Dieser Erlass galt imperiumsweit, einschließlich der Ostseegouvernements. RGIA F. 1284, op. 208, d. 449, l. 16ob-18.
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Edinoverie anschließen. Ihre Kinder mussten sie dennoch orthodox taufen lassen.133 Darüber hinaus konnten altgläubige Kinder den Status illegitim Geborener ablegen, wenn sie nach Erreichen der Volljährigkeit selbst zur Orthodoxie übertraten.134 In diesen Fällen sah eine Bestimmung jedoch vor, dass sie von ihren Eltern getrennt werden sollten, damit diese nicht weiter auf sie einwirken und wieder vom alten Glauben überzeugen konnten.135 Auf diese Weise wurde seit 1850 versucht, die priesterlosen Altgläubigen mit Hilfe der Nichtanerkennung ihrer Ehen zu einem Übertritt zur Staatskirche zu bewegen. Gleichzeitig eröffnete die Gesetzgebung den Altgläubigen Wege aus dem Status illegitim Geborener, die Orthodoxen nicht offenstanden. Die Eheschließung orthodoxer Eltern nach der Geburt ihrer Kinder änderte nichts an deren Status illegitim Geborener.136
3.1.3 Der Ausschluss aus dem sozio-ökonomischen Leben Einige Gemeinden der Altgläubigen waren bereits im 18. Jahrhundert durch Landwirtschaft und Handel zu bedeutendem Wohlstand gelangt.137 Die Toleranzpolitik Ekaterinas II. ermöglichte den Altgläubigen zudem unternehmerische Tätigkeiten in den Städten zu entfalten.138 In Moskau hingen Mitte des 19. Jahrhunderts nur fünf Prozent der Bevölkerung dem alten Glauben an, 15 Prozent der in den Handelsgilden eingetragenen Kaufleute Moskaus waren jedoch Altgläubige, die über 14 Prozent der Textilproduktion in der Umgebung der ehemaligen Hauptstadt kontrollierten.139 Auch in Riga zählten einige große Unternehmer zur Altgläubigengemeinde.140 133 RGIA F. 1284, op. 208, d. 449, l. 17ob. 134 SPR 449 f. (15.5.1852). 135 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 212. 136 Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja 532. 137 Das prominenteste Beispiel für einen solchen Wohlstand ist die Gemeinde der Altgläubigen am Fluss Vyg. Sie lebte von Landwirtschaft, Fischerei und einem weitverzweigten Handelsnetz in die nächstgelegenen Städte und Dörfer. Crummey: Old Believers and the World of Antichrist 138–146. 138 Ebd. 151. 139 Beliajeff: The Rise of the Old Orthodox Merchants If. Raskov, Danila Evgen’evič: Rol’ kupcev-staroobrjadcev v razvitii tekstil’noj promyšlennosti (po materialam Moskovskij gubernii), in: Juchimenko, E. M.: Staroobrjadčestvo v Rossii (XVII–XX vv.). Bd. 3. Moskau 2004, 434–467, hier 439. 140 Im Jahr 1851 waren 1,64 Prozent der Altgläubigen in Riga Kaufleute. Von den 8.188 Altgläubigen in Riga waren im Jahr 1851 135 Kauleute, 6.764 Meščane und 1.286 Bauern. Koval’čuk, Svetlana N.: Rižskie starovery v period gonenij v 40–50-e gody XIX veka, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Staroverie Latvii. Riga 2005, 280–289, hier 284 f. Mitte der 1860er Jahre hatten Kaufleute einen Anteil von 0,96 Prozent an der Gesamtbevölkerung (zwischen 1864 und 1866 lebten im Durchschnitt 80.350 Menschen in Riga, von denen durchschnittlich 768 Personen Kaufleute waren). Eckhardt, R.: Material zu einer allgemeinen Sta-
86 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Pavel Mel’nikov-Pečerskij brachte 1854 die unternehmerische Tätigkeit der Altgläubigen mit dem Erfolg des alten Glaubens in Verbindung, indem er schrieb: »Es ist unstrittig, daß sich die gewerbliche und kommerzielle Tätigkeit in engster Verbindung mit dem Schisma befindet.«141 In der Folge machte die Regierung für die Ausbreitung des Altgläubigentums den wirtschaftlichen Erfolg seiner Anhänger verantwortlich. Ihre Politik zielte darauf ab, diesen ökonomischen Erfolg zu unterminieren, indem sie die Eigentumsrechte der Altgläubigen einschränkte.142 Seit 1836 durften die Altgläubigengemeinden kein Eigentum mehr besitzen. Dazu waren auch Immobilien zu rechnen, wodurch die Gemeinden das Recht verloren, Bethäuser zu unterhalten.143 Seit 1835 durften Altgläubige außerdem kein neues Land mehr kaufen144 oder pachten.145 Die Bestimmungen des Familienrechts sorgten für weitere Einschränkungen im wirtschaftlichen Leben der Altgläubigen. Wie in Kapitel 3.1.2. beschrieben, durften altgläubige Eltern ihre Kinder nicht als Erben einsetzen, weil sie nicht rechtskräftig verheiratet waren.146 Besonders schwierig wurde diese Situation für die altgläubigen Unternehmer nach der 9. Bevölkerungszählung im Jahr 1850, als alle Kinder priesterloser Altgläubiger als illegitime registriert und die Frauen von Altgläubigen nicht als Ehefrauen eingetragen wurden. Diese Registrierungen in den Zensuslisten waren für alle Angelegenheiten der Unternehmensführung und die Vererbung von Eigentum vonnöten.147 Entgehen konnten die Altgläubigen diesen Einschränkungen ihrer wirtschaftlichen Tätigkeiten nur durch den Anschluss an die Orthodoxie oder das Edinoverie. Tatsächlich entschieden sich einige altgläubige Kaufleute für die Konversion oder tistik Livlands und Oesels. Mit Genehmigung des Livländischen statistischen Comitées, aus dem Material desselben zusammengestellt. Riga 1870, 10, 13. 1770 errichtete der Altgläubige N. Artem’ev in Riga ein Lederwerk. Später gründete S. D’jakonov eine der größten lederverarbeitenden Fabriken des gesamten Russländischen Reiches in Riga. I. Chlebnikov besaß eine Baumwollfabrik, F. Grjaznov und N. Ivanov gründeten Eisengießereien. Podmazov: Rannee staroverie v Latvii 165. Die größte Popularität genoss aber die 1841 gegründete Fayencefabrik der Familie Kuznecov. Podmazov: Rižskie starovery 121 f. In der Stadt Dorpat erreichte die Familie Rundal’cev unter den altgläubigen Unternehmern den größten Wohlstand, nachdem sie 1829 ein Fleischgeschäft eröffnet hatte und 50 Jahre später über mehrere Geschäfte und Häuser in Dorpat verfügte. Šor: Derptskie starovery-predprinimateli 108. 141 Mel’nikov: Otčet o sovremennom sostojanii 15–16. Zitiert nach: Hildermeier: Alter Glaube und Mobilität 326. 142 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 211. 143 Ebd. 213. Viele Altgläubigengemeinden reagierten auf diese Bestimmung mit der Überschreibung ihrer Bethäuser an einzelne Gemeindemitglieder. [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora 28. 144 Diese Bestimmung wurde für die Ostseegouvernements am 25.10.1847 wiederholt. SPR 389 f. (25.10.1847). 145 Gavrilin: Episkop Rižskij Irinarch 274 f. 146 Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja 550. 147 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 226 f.
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 87
kauften von den lokalen Kirchengemeinden gefälschte Registrierungen in orthodoxen Gemeindebüchern.148 Auf diese Weise wurde die Nichtanerkennung der altgläubigen Ehen zu einem Instrument, um den wirtschaftlichen Erfolg der Altgläubigen zu behindern und sie zu einem Anschluss an die Staatskirche zu bewegen. Drei Maßnahmen sorgten dafür, dass sämtliche Altgläubige in die steuerpflichtigen Schichten abgedrängt wurden. Die Altgläubigen wurden 1854 aus den Kaufmannsgilden ausgeschlossen und erhielten fortan nur noch provisorische Handelsgenehmigungen.149 Aus demselben Jahr stammt die Bestimmung, dass Personen, die kaufmännisches Kapital registrieren wollten, um in die Kaufmannsgilden aufgenommen zu werden, einen Nachweis über ihre Zugehörigkeit zur Orthodoxen Kirche oder zum Edinoverie vorlegen mussten. Altgläubige Kaufleute und Unternehmer, die nicht konvertieren wollten, wurden als Meščane registriert und verloren diejenigen Privilegien, die sie als Kaufleute der ersten oder zweiten Gilde besessen hatten.150 Sie gehörten fortan den steuerpflichtigen Ständen an. Diesem Zweck diente seit 1837 auch die Bestimmung, dass priesterlose Altgläubige keine gesellschaftliche Ehrungen (obščestvennye otličija) erhalten und priesterliche Altgläubige nur im Fall besonderer Verdienste (prevozchodnaja zasluga oder obščepoleznyj podvig) mit Ehrentiteln und Ehrungen (početnye zvanija i otličija) ausgezeichnet werden durften.151 Titel wie der des »namhaften Bürgers« befreiten ihre Träger von der Steuerpflicht, der Rekrutenpflicht und der Körperstrafe und stellten eine der wenigen Sicherheiten vor dem Abstieg ins Meščanstvo dar.152 Diese Möglichkeit wurde den Altgläubigen seit 1837 verwehrt. Wie in Kapitel 3.1.2. gezeigt wurde, galten sämtliche Kinder der Altgläubigen außerdem als illegitime und gehörten als solche stets den steuerpflichtigen Ständen an. Darüber hinaus wurden die Altgläubigen aus öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Bereits seit 1820 durften sie keine öffentlichen Ämter in Städten, Vororten153 und Volosti bekleiden. Von dieser Regel waren sie nur dann 148 Ebd. 227. 149 Kovalchuk: Der baltische Generalgouverneur 213. 150 Beliajeff: The Rise 156–173. 151 SPR 192 (13.2.1837). Diese Bestimmungen wurden 1853 wiederholt. SPR 472 (10.6.1853). 152 Hildermeier: Bürgertum und Stadt 228 f. Diese Titel wurden auf Lebenszeit verliehen. Kaufleute der ersten oder zweiten Gilde, die mit einem solchen Titel ausgezeichnet worden waren, stiegen durch Verlust des für die Gildenmitgliedschaft nötigen Kapitals nicht mehr in die steuerpflichtigen Schichten der Gesellschaft ab. 153 Russ. posad. Bedeutet wörtlich Stadtviertel, man bezeichnete damit im 19. Jahrhundert aber Stadtviertel, in denen eine bestimme Kategorie von Bewohnern lebte, die zur steuerund wehrpflichtigen Bevölkerung zählten. Hing die Zugehörigkeit zum posad zunächst vom Kapital ab, wurde sie später erblich und war dann nur noch schwer abzuschütteln. Auch wenn man kein Gewerbe mehr betrieb, musste man in diesem Fall weiter Steuern zahlen und Wehrdienst leisten. Hosking: Russland 289. Wohlhabende Kaufleute und Unternehmer, die in
88 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) ausgenommen, wenn in einem Ort ausschließlich Altgläubige lebten.154 Am 2. April 1835 und 30. April 1838 wurde diese Bestimmung noch einmal wiederholt und galt für alle Gouvernements,155 seit 1836 auch explizit für Ämter in der Rigaer Stadtverwaltung.156
3.1.4 Die Zentralisierung des bürokratischen Apparats Die im Vorangegangenen dargestellten Bestimmungen über die Altgläubigen waren von einer Vielzahl von Ministern, kirchlichen Würdenträgern und dem Zaren selbst in verschiedenen Komitees ausgearbeitet worden. An der Umsetzung waren die unterschiedlichsten Beamten und Kirchenleute in St. Petersburg und in den Gouvernements beteiligt. Ein Artikel im »Boten Europas« (Vestnik Evropy) aus dem Jahr 1880 charakterisierte dieses System mit den folgenden Worten: Die unteren Polizeibeamten, in einigen Orten in verstärkter Besetzung, unter der direkten Aufsicht der Gouverneure; alle untere Geistlichkeit und die Konsistorien mit den Erzbischöfen an der Spitze; die lokalen geheimen beratenden Komitees, bestehend aus Erzbischof, Gouverneur, den Vorsitzenden der Kammern des staatlichen Eigentums und den Stabsoffizieren der Polizei; das geheime Komitee in Petersburg unter dem Vorsitz des Metropoliten; das besondere geheime Komitee unter dem Vorsitz Graf Bludovs; der Synod, das Ministerkomitee, die besondere Abteilung der Eigenen Kanzlei. Die unteren Orte sammelten Informationen, stießen Angelegenheiten über ›die äußere Zurschaustellung‹ [des Schismas] und über Verführer [d. h. über den Gilden registriert waren, gehörten seit Ekaterina II. nicht mehr zum posad und mussten folglich keine Steuern zahlen; vom Wehrdienst konnten sie sich durch Ersatzzahlungen befreien; außerdem unterlagen sie keinen Körperstrafen. Die im posad verbliebenen Kleinbürger bildeten das Meščanstvo. Die Kopfsteuer für die Meščane wurde im Jahr 1863 aufgehoben. Hosking: Russland 291–294. 154 SPR 61 f. (27.5.1820). 155 SPR 144 (2.4.1835). SPR 234 (30.4.1838). 156 SPR 182 f. (28.11.1836). Ob diese Bestimmungen von den Altgläubigen als Einschränkung wahrgenommen wurden, mag bezweifelt werden, da die Übernahme von Ämtern auf dem Land und besonders in den Städten mit keinerlei Privilegien verbunden war, oft zu Konflikten mit den Nachbarn führte und vom eigenen Wirtschaften abhielt. Sowohl auf dem Land als auch in der Stadt versuchte der Großteil der Bewohner nicht in öffentliche Ämter gewählt zu werden (Hosking: Russland 237, 293.). Eine Diskriminierung der altgläubigen Bevölkerung stellte ihr Ausschluss aus öffentlichen Ämtern dennoch dar. Vgl. zum schwierigen Verhältnis zwischen Dorfbewohnern und den lokalen Repräsentanten der staatlichen Obrigkeit auch den Aufsatz von Feest, David: In Amt und Würden? Die Beleidigung dörflicher Amtsleute und die Repräsentation des Staates im ausgehenden Zarenreich, in: Baberowski, Jörg/Feest, David/Gump, Christoph (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. Frankfurt am Main, New York 2008, 102–118.
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 89
Altgläubige, die Orthodoxe von ihrer Lehre überzeugten, d. Vf.] an; die höheren über prüften diese Angelegenheiten, machten Verordnungen, aber jede Behörde einzeln und dabei oft vollkommen widersprüchlich von der anderen; schließlich gelangten sie zu einer Entscheidung, die fast immer nicht den allgemeinen Bestimmungen entsprach und auch nicht vorangegangenen Entscheidungen.157
Dieses Geflecht aus Behörden mit unterschiedlichen, teilweise sich überlappenden Kompetenzbereichen, die eine Politik gegenüber dem Raskol ausarbeiten und umsetzen sollten, ist Gegenstand dieses Kapitels. Grundsätzlich war das Innenministerium seit seiner Gründung im Jahr 1802 für alle Angelegenheiten der Altgläubigen zuständig.158 Die Ausarbeitung eines allgemeinen Kurses der Regierung gegenüber den Altgläubigen oblag jedoch besonderen Komitees, die außerdem die Tätigkeiten der vielen beteiligten Beamten und kirchlichen Würdenträger159 koordinieren sollten. Bereits Aleksandr I. hatte auf Koordinierungsprobleme einzelner Regierungsbehörden mit der Einrichtung von Komitees reagiert.160 Diese Komitees standen in der Verwaltungshierarchie über den hohen administrativen und judikativen Behörden, wie dem Ministerkomitee oder dem Regierenden Rat, waren in ihren Entscheidungen jedoch an die Zustimmung des Zaren gebunden.161 Den größten Einfluss in den Komitees konnten in der Regel die daran beteiligten Minister erlangen.162 Daneben saßen die Gouvernementsleiter in einigen Komitees.163 Der Sitz in diesen Komitees verschaffte den Gouverneuren direkten, unbürokratischen, aber gleichsam offiziell reglementierten Zugang zu den höchsten Regierungsinstitutionen und zum Zaren.164 157 R., E.: Russkij raskol i zakonodatel’stvo: Istoričeskie očerki iz novejšego vremeni, in: Vestnik Evropy 15/5 (1880), 68–100, hier 74 f. 158 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 137. 159 Ebd. 136. Um an dieser Stelle die wichtigsten zu nennen: der Heiligste Synod, der Metropolit von St. Petersburg und Novgorod, die Bischöfe, die Gemeindepriester, das Innenministerium, unterschiedliche Abteilungen der Kaiserlichen Kanzlei, die General- bzw. Kriegsgouverneure sowie die zivilen Gouverneure, die Polizei und der Minister für staatliches Eigentum. 160 Die erste solche Einrichtung war das Komitee für Sibirische Angelegenheiten, welches 1813 ins Leben gerufen wurde. Für Sibirien und den Fernen Osten folgten im Laufe des 19. Jahrhunderts das I. und II. Sibirische Komitee, das Komitee für die Sibirische Eisenbahn, das Komitee des Fernen Ostens und das Komitee für die Besiedlung des Fernen Ostens. Remnev, Anatolij: Rossijskaja vlast’ v Sibiri i na dal’nem vostoke: Kolonializm bez Ministerstva kolonij – russkij »Sonderweg«?, in: Aust, Martin/Miller, Aleksej/Vulpius, Ricarda (Hg.): Imperium inter pares: Rol’ transferov v istorii Rossijskoj imperii (1700–1917). Moskau 2010, 150–181, hier 163 f. 161 Remnev: Rossijskaja vlast’ 163. 162 Ebd. 174. 163 Ebd. 173. 164 Ebd. 163.
90 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Im Jahr 1816 wurde das Geheime Komitee über die Schismatiker und von der Orthodoxie Abgefallenen (Sekretnyj Komitet o raskol’nikach i otstupnikach ot Pravoslavija; im Folgenden: Geheimes Komitee) gegründet, welches in Kapitel 3.1. bereits erwähnt wurde. War die Aufgabe dieses Komitees zunächst die Untersuchung der Vorgänge in der Altgläubigengemeinde am PreobraženieFriedhof gewesen, wurde es unter Nikolaj I. reaktiviert und koordinierte seither das Vorgehen aller mit den Angelegenheiten der Altgläubigen betrauten Behörden.165 Dieser Aufgabe entsprechend, saßen im Geheimen Komitee zivile und kirchliche Würdenträger: der Metropolit von Novgorod und St. Petersburg, der Innenminister, der St. Petersburger Polizeichef, der Minister für staatliches Eigentum, die Vorsitzenden der I. und der II. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei sowie der Oberprokuror des Heiligsten Synods.166 1853 wurde ein Besonderes Komitee für die Überprüfung der Bestimmungen über die Schismatiker (Osobyj komitet dlja peresmotra postanovlenij o raskol’nikach; im Folgenden: Besonderes Komitee) in St. Petersburg gegründet, nachdem durch die Berichte Mel’nikov-Pečerskijs und anderer Beamter klar geworden war, dass der alte Glaube trotz der staatlichen Diskriminierung Zulauf erfuhr. Dieses Besondere Komitee überprüfte die bestehenden Bestimmungen über die Altgläubigen und arbeitete neue Gesetze aus, die als Leitfaden für alle administrativen Maßnahmen und Gerichtsangelegenheiten dienten, die die Altgläubigen betrafen.167 Mitglieder des Komitees waren der Vorsitzende der II. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei, der Oberprokuror des Heiligsten Synods und der Innenminister.168 Ergebnis seiner Arbeit waren die am 10. Juni 1853 beschlossenen rigiden Maßnahmen gegen die Altgläubigen, wie beispielsweise die Verstärkung der Polizei an Orten, die von Altgläubigen bewohnt waren. Nach der Ausarbeitung dieses Maßnahmenkatalogs wurde das Besondere Komitee am 17. April 1855 abgeschafft und alle Angelegenheiten bezüglich der Altgläubigen wurden erneut vom Geheimen Komitee übernommen.169 Auf lokaler Ebene wurden Geheime Beratende Komitees für die Angelegenheiten der Schismatiker (Sekretnyj Soveščatel’nyj Komitet po delam o raskol’ni kach, im Folgenden: Beratende Komitees) gegründet. Den Anfang machte das Beratende Komitee in St. Petersburg im Jahr 1825, fünf Jahre später folgte Moskau170 und seit 1837 wurden solche Komitees in allen Gouvernements gegründet, in denen eine größere Zahl Altgläubiger lebte. Die Besetzung der Beratenden Komitees spiegelte diejenige des Geheimen Komitees auf Ebene der 165 Paert: Regulating Old Believer Marriage 565. 166 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 137. 167 Ebd. 159. 168 Ebd. 169 SPR 499–501 (17.4.1855). 170 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 138.
Die Ziele der Politik gegenüber den Altgläubigen 91
Gouvernements bzw. der Eparchien wider: Mitglieder waren der Bischof der jeweiligen Eparchie, der Gouvernementsleiter, der Vorsitzende der Kammer staatlichen Eigentums und der Stabsoffizier der Gendarmerie.171 Das Beratende Komitee in Riga wurde durch einen Beschluss vom 25. Oktober 1847 gegründet. Da diejenigen Amtsträger, die für gewöhnlich in diesen Komitees saßen, in den Ostseegovernements dem lutherischen Bekenntnis anhingen, kamen sie für diesen Posten nicht in Frage. Sie sollten nicht mit Angelegenheiten betraut werden, die das Schisma der Staatskirche betrafen. Daher sollte der Generalgouverneur in Riga neben dem Rigaer Bischof zwei bis drei weitere Mitglieder ernennen.172 Aufgabe des Komitees war es, »Einheitlichkeit in den Verfügungen sowohl der Gouvernements- als auch der Eparchialobrigkeit, betreffs aller Sektirer, Schismatiker und von der Orthodoxen Kirche abgefallener berührender Sachen« herbeizuführen.173 Bis 1849 hatten sich die Beratenden Komitees sämtlicher Angelegenheiten angenommen, die die Altgläubigen betrafen; sie hatten das konkrete Vorgehen in allen Einzelfällen entschieden und diese Entscheidungen als Anweisungen an die entsprechenden Behörden zur Ausführung weitergegeben. Da der Zar diesen Komitees lediglich einen beratenden Zweck zugestanden hatte, sah er sich nun genötigt, deren Tätigkeiten wieder auf diese Funktion einzuschränken.174 Dies war Ausdruck des Bestrebens, die Behandlung der Altgläubigen in allen Fällen in St. Petersburg zu zentralisieren. Die Statuten »Über die Verhütung und Verhinderung der Ausbreitung von Schismen und Häresien unter Orthodoxen« (O predupreždenii i presečenii rasprostranenija raskolov i eresej meždu pravoslavnymi) des Gesetzeskodex legten die Kompetenzen ziviler und kirchlicher Würdenträger auf Gouvernementsebene gegenüber den Altgläubigen fest.175 Die Gemeindepriester waren dafür zuständig, die Tätigkeiten der Altgläubigen zu überwachen und diese von der Lehre der Staatskirche zu überzeugen. Über Belehrungsversuche mussten die Priester dem Eparchieleiter berichten. Der Bischof gab auf Grundlage des Kirchenrechts und besonderer Verordnungen der zivilen Verwaltung Anweisun 171 SPR 244 f. (3.11.1838). 172 SPR 385 (25.10.1847). Im Jahr 1853 waren die Mitglieder des Rigaer Geheimen Beratenden Komitees der Rigaer Erzbischof Platon, der Generalgouverneur der Ostseegouvernements Suvorov, der Kammerherr Valuev und der Leiter des Rigaer Zollbezirks Hesse, der Vorsitzende der Livländischen Fiskalkammer von Kube und der Livländische Stabsoffizier der Gendarmerie von Hildebrant. EAA F. 291, op. 8, d. 1805, l. 1 f. Es stellt sich die Frage, ob von Kube und Hesse der Orthodoxen Kirche angehörten oder ob Suvorov sich nicht an die Weisung aus St. Petersburg gehalten hatte. 173 Suvorov Rymnikski, Generaladjutant Fürst Italiiski: Rechenschafts-Bericht des rigaschen Kriegs-, liv-, ehst- und kurländischen Generalgouverneurs an den Kaiser Nikolaj I. St. Petersburg 1850, 539. 174 SPR 409 (20.11.1849). 175 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 13–18 (Art. 60–91).
92 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) gen an die Gemeindegeistlichkeit, wie mit den Altgläubigen umzugehen war. Er hatte außerdem das Recht, die zivilen Behörden zu kontaktieren, welche verpflichtet waren, die Kirche in ihrem Kampf gegen das Altgläubigentum zu unterstützen.176 Hauptmittel der Orthodoxen Kirche in der Bekämpfung des Altgläubigentums sollte die religiöse Belehrung und Ermahnung sein, sich der Staatskirche anzuschließen.177 Auf Initiative des Innenministers waren die Bischöfe daher im Jahr 1837 angewiesen worden, ihren Priestern einzuschärfen, so oft wie möglich das Gespräch mit den Altgläubigen zu suchen.178 Da die Erfahrung gezeigt hatte, dass derartige Ermahnungen wenig Wirkung auf die Altgläubigen hatten, sollten diese im Fall des Misserfolgs wiederholt werden und im Notfall die Ermahnten von den zivilen Autoritäten ins Geistliche Konsistorium gebracht werden, wo sie vom Bischof persönlich belehrt wurden.179 Erst wenn auch die episkopale Belehrung keine Früchte trug, wurden sie den zivilen Gerichten zur Verurteilung übergeben.180 Um die Belehrungen durch die Geistlichkeit effektiver zu gestalten, wurde großes Augenmerk auf das Verhältnis der Altgläubigen zu den orthodoxen Priestern gelegt. Diese wurden angehalten, in den Gesprächen mit den Raskol’niki deren Vertrauen und Achtung zu erlangen. Am 5. April 1845 wurden die Bischöfe angewiesen, der Gemeindegeistlichkeit einzuschärfen, dass sie »keinesfalls verächtlich oder feindselig, sondern sanftmütig und friedfertig«181 mit Altgläubigen umgehen sollte und diese, »indem sie bei allem eine vernünftige Mäßigkeit und Vorsicht an den Tag legen, durch nichts verärgern, weder durch ihre Reden noch durch ihre Taten«.182 Außerdem sollten die Bischöfe Priester aus Gemeinden entfernen, wenn diese nicht entsprechend feinfühlig mit den Altgläubigen umgegangen waren. Der Verbesserung des Verhältnisses zwischen Altgläubigen und Orthodoxer Kirche galt auch die Anweisung, dass Gemeindepriester in keinem Fall repressive Maßnahmen gegen die Altgläubigen in Stellung bringen sollten; diese Aufgabe oblag den zivilen Autoritäten.183 Zur alleinigen Kompetenz der zivilen Behörden gehörte auch die Verfolgung von Straftaten, die von Altgläubigen begangen worden waren,184 und die Verurteilung von Personen, die die altgläubige Lehre unter Anhängern der Orthodoxie verbreitet hatten. Allerdings konnten Altgläubige nicht nur auf Grundlage
176 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 15 (Art. 74). 177 SPR 195 f. (13.2.1837). 178 Ebd. 179 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 15 f. (Art. 75). 180 SPR 324 f. (6.1.1843). 181 SPR 353–355 (5.4.1845). 182 Ebd. 183 Ebd. 184 Ebd.
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des Strafgesetzbuches verurteilt werden,185 sondern auch mit orthodox-kirchlichen Strafen belegt werden. Sie unterlagen beispielsweise der Klosterhaft,186 das heißt der Einsperrung in ein orthodoxes Kloster, in welchem sie der Aufsicht eines Mönches oder des Abtes unterstanden, der den Häftling von der orthodoxen Lehre überzeugen sollte.187 Eine solche Vermischung säkularer und religiöser Bestrafungen war für das Nikolaj’sche Rechtssystem nicht untypisch188 und wurde auch auf die Altgläubigen angewandt. Die höchsten Würdenträger der zivilen Regierung wie auch der Staatskirche sollten sich in allen Zweifelsfällen über das korrekte Vorgehen gegenüber den Altgläubigen an St. Petersburg wenden. Die Gouverneure mussten dem Innenminister Bericht erstatten, die Vikariats- und Eparchiebischöfe dem Heiligsten Synod.189 Auch an dieser Bestimmung lässt sich erkennen, dass die Regierung danach strebte, die Ausformung der Politik gegenüber den Altgläubigen zu zentralisieren. ✴ ✴ ✴ Das System, welches von Nikolaj I. geschaffen worden war, lässt das Bestreben erkennen, die Tätigkeiten aller an Altgläubigenangelegenheiten beteiligten Institutionen zu koordinieren und endgültige Entscheidungen über das Vorgehen gegen die Altgläubigen zu zentralisieren. Doch baute die Regierung zu diesem Zweck einen unzweckmäßig sperrigen bürokratischen Apparat auf, der viele Beamte im Unklaren ließ, bei wem welche Zuständigkeiten lagen.190 Zu diesem Missstand trug neben der Geheimhaltung vieler Bestimmungen über die Altgläubigen bei, dass die meisten Beamten von der Existenz wesentlicher Behörden, die Altgläubigenfragen behandelten, keine Kenntnis hatten. So sollten von den Beratenden Komitees auf Gouvernementsebene und von deren Entscheidungen neben ihren Mitgliedern nur der Heiligste Synod, dessen Oberprokuror, der Minister für staatliches Eigentum und der Innenminister unterrichtet sein.191 Duplikationen von Institutionen wie im Falle des Geheimen und des 185 Sie wurden auf Grundlage des Strafgesetzbuches verurteilt. SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 17 f. (Art. 87). SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1857, 53 f. (Art. 216). 186 SPR 195 f. (13.2.1837). 187 S. beispielsweise den Fall Aleksandra Turovskajas, die 1853 in ein orthodoxes Kloster gesperrt wurde, weil sie sich weigerte, der Orthodoxen Kirche beizutreten, obwohl ihr Vater orthodox war. RGIA F. 796, op. 134, d. 1883. 188 Engelstein: The keys to happiness 27 f. Es gab nicht nur religiöse Bestrafungen für Vergehen, auf die keine säkularen Bestrafungen zutrafen, sondern auch säkulare Bestrafungen für religiöse Vergehen, wenn diese als Verbrechen gegen den Staat definiert worden waren. Als Beispiel für letzteren Fall kann die Verurteilung der Lehre der Fedoseevcy vom Zölibat als ziviles Vergehen unter Aleksandr I. gelten. 189 SPR 226 f. (9.4.1838). 190 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 138 f. 191 SPR 244 f. (3.11.1838).
94 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Besonderen Komitees oder die Überlappung von Kompetenzen waren typisch für das zarische System und verhinderten in einigen Fällen die effektive Implementierung von Gesetzen.192
3.1.5 Zusammenfassende Betrachtung des Systems Nikolajs I. Bereits unter Aleksandr I. begann die Regierung, Informationen über die altgläubige Bevölkerung des Russländischen Reiches zu sammeln. Diese Informationssammlungen wurden unter Nikolaj I. fortgesetzt und brachten zutage, dass es im Imperium sehr viel mehr Altgläubige gab als bisher angenommen. Es entstand außerdem der Eindruck, dass unter diesen staatsgefährdende Lehren verbreitet waren, die die Loyalität der Altgläubigen gegenüber dem Zaren in Zweifel zogen. Die Regierung reagierte auf diese neuen Erkenntnisse mit dem Versuch, die Altgläubigen zu diskriminieren. Ziel der Politik Nikolajs I. war die Entrechtung der Altgläubigen, in der Hoffnung, die Verbreitung ihrer religiösen Lehre verhindern und sie zur Konversion zur Staatskirche bewegen zu können. Die religiöse Organisation der Altgläubigen sollte zerstört und ihre religiösen Lehrer verbannt werden. Die Ehen der Altgläubigen wurden nicht als gültig anerkannt und die Nastavniki erhielten nicht das Recht, die Matrikelbücher zu führen. Dadurch verloren die Altgläubigen elementare zivile Rechte. Außerdem sollten ihre wirtschaftlichen Tätigkeiten eingeschränkt und die Altgläubigen in die steuerpflichtigen Schichten hinabgedrückt werden. An der Ausarbeitung dieser diskriminierenden Maßnahmen war die Orthodoxe Kirche durch Mitgliedschaft ihrer Repräsentanten im Geheimen, Besonderen und in den Beratenden Komi tees beteiligt. Von der Umsetzung der Beschlüsse sollte sie jedoch ausgeschlossen werden und stattdessen missionarisch auf die Altgläubigen einwirken. Bei allen beschlossenen Maßnahmen wurde die Formulierung klarer und einheitlicher Prinzipien vermieden. Gesetze bezogen sich in erster Linie auf Einzelfälle. Dies hielt die nötigen Spielräume offen, um entsprechend den gegebenen Umständen unterschiedlich entscheiden zu können. Diese Entscheidungen sollten nach Möglichkeit durch den Innenminister, den Zaren oder das Geheime Komitee in St. Petersburg gefällt und somit die Behandlung der Altgläubigen so weit wie möglich zentralisiert werden. Die Obrigkeiten in den Gouvernements bekamen lediglich beratende Funktionen, ebenso wie die Beratenden Komitees, die auf Gouvernementsebene eingerichtet wurden. In 192 Engelstein: The keys to happiness 18. Mangelnde Einheitlichkeit der Verwaltung des Reiches war ein allgemeines Problem der Nikolaj’schen Bürokratie und wurde seit Mitte der 1850er Jahre von Zeitgenossen kritisiert. Dies führte 1857 bzw. 1861 zur Schaffung des Ministerrates und danach zu den Reformen Aleksandrs II. Černucha, V. G.: Vnutrennjaja politika carizma s serediny 50-ch do načala 80-ch gg. XIX v. Leningrad 1978, 136.
Die Diskriminierung der Altgläubigen in Livland 95
Zweifelsfällen über das korrekte Vorgehen gegenüber den Altgläubigen sollten sich die Gouverneure an den Innenminister und die Bischöfe direkt an den Heiligsten Synod wenden. Niedere lokale Beamte hatten oft nicht einmal Zugang zu den gesetzlichen Bestimmungen, weil der Großteil nicht im Gesetzeskodex veröffentlicht, sondern geheim gehalten wurde. Von der Existenz der Beratenden Komitees sollten die meisten Beamten nicht unterrichtet werden. Das für den einzelnen Beamten nur zum Teil bekannte und schwer überschaubare Sammelsurium an Einzelentscheidungen stellte diese vor das Problem, keine klaren Handlungsanweisungen für den Umgang mit der altgläubigen Bevölkerung in ihrem Verwaltungsgebiet zur Hand zu haben. Die »mühselige Menge und Uneinheitlichkeit der Angelegenheiten und Beschlüsse«193 über die Altgläubigen führte den Innenminister 1837 dazu, die wichtigsten Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen zusammenzufassen. Diese Vorlage des Innenministers wurde am 13. Februar desselben Jahres vom Geheimkomitee angenommen;194 seine Kritik war anscheinend berechtigt. Ob diese Maßnahme nennenswerten Erfolg hatte und welche weiteren Umstände eine effektive Implementierung der repressiven Gesetze verhinderten, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
3.2 Die Diskriminierung der Altgläubigen in Livland Die diskriminierende Politik Nikolajs I. gegenüber den Altgläubigen, die 1853 durch die Beschlüsse des Besonderen Komitees ihren Höhepunkt erreichte, wurde in Livland bis 1861 umgesetzt. Nikolajs Nachfolger Aleksandr II. hielt zunächst an den Repressionen fest und beließ Generalgouverneur Aleksandr Arkad’evič Suvorov195 in seinem Amt. Suvorov war ein Verfechter der diskriminierenden Politik gegenüber den Raskol’niki. Bereits wenige Tage nach seinem Amtsantritt in Riga führte er den Altgläubigen seine Abneigung vor Augen. Als er auf dem Rigaer Schloss Bittsteller aus der Bevölkerung empfing, baten zwei Altgläubige, dass der Fürst ihre Kinder von der Rekrutenpflicht befreie. Daraufhin antwortete Suvorov: »Was habt ihr für Kinder, wenn ihr wie Hunde heiratet?«196 Er beleidigte die Altgläubigen für ihre priesterlosen Ehen und schlug ihnen ihre Bitte ab. Zu einer anderen Gelegenheit soll der Generalgouverneur eine wohlhabende und hoch geschätzte altgläubige Einwohnerin Rigas als »unzüchtige alte Jungfer« (bludnaja devka) bezeichnet haben, wofür er sich bei einigen deutschen Beamten entschuldigen musste.197 Seine Abneigung gegen 193 SPR 193–195 (13.2.1837). 194 Ebd. 195 Gorizontov: Raskol’ničij klin 151 f. Rožkov: Cerkovnye voprosy 21. 196 Leskov, Nikolaj Semёnovič: Russkie dejateli v ostzejskom krae, in: Istoričeskij Vestnik 14 (1883), 237–263, 492–519, hier 245. 197 Ebd. 247.
96 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) die Altgläubigen schlug sich auch darin nieder, dass er die repressive Gesetzgebung Nikolajs I. stets umzusetzen bestrebt war, wie im Folgenden gezeigt wird. Suvorov wurde im Jahr 1861 befördert und nach St. Petersburg versetzt. Zur gleichen Zeit änderte Aleksandr II. seinen Kurs gegenüber den Altgläubigen.198 Die Jahre von etwa 1850 bis 1861 können daher als Zeit der stärksten Diskriminierung der Altgläubigen Livlands gelten und bilden den chronologischen Rahmen der nachstehenden Untersuchung. Das Hauptaugenmerk der livländischen Regierung lag in jenen Jahren auf der religiösen Organisation der Altgläubigen, auf deren Ehen und Familien und auf so genannten Verbrechen gegen den Glauben (prestuplenija protiv very). Darunter wurden Vergehen einzelner Altgläubiger verstanden, die gegen die Grundlagen des orthodoxen Glaubens oder der Orthodoxen Kirche verstießen, wie beispielsweise Lästerung der orthodoxen Lehre, Missionierung unter Angehörigen der Orthodoxie, Verbreitung von Häresien und Schismen usw.199 In den folgenden Kapiteln wird die Umsetzung der diskriminierenden Politik Nikolajs I. gegenüber den Altgläubigen anhand der Zerstörung ihrer religiösen Organisation und des Vorgehens gegenüber individuellen Altgläubigen, die sich Verbrechen gegen den Glauben schuldig gemacht hatten, dargestellt. Denn anhand dieser beiden Beispiele lässt sich am deutlichsten demonstrieren, inwieweit die lokale Regierung den repressiven Kurs gegenüber den Altgläubigen umsetzen konnte und in welchen Fällen sie an Grenzen der Durchsetzbarkeit stieß. Der Umgang mit den Ehen der Altgläubigen spielt hier nur eine untergeordnete Rolle, er wird umfassend in den Kapiteln 4 und 5 thematisiert.
3.2.1 Die Zerstörung der religiösen und karitativen Einrichtungen Zu Beginn des 19. Jahrhunderts galt die Gemeinde in Riga unter den Altgläubigen im Russländischen Reich als Ideal einer Altgläubigengemeinde.200 Grund für ihren guten Ruf war die Vielzahl ihrer religiösen und karitativen Einrichtungen. Die Gemeinde verfügte über zwei Bethäuser in der Moskauer und über ein weiteres in der St. Petersburger Vorstadt,201 die von vier Gemeindeleitern geführt wurden. Die Gemeinde unterhielt einen Kirchenchor, es gab eine Schule 198 Gorizontov: Raskol’ničij klin 163. 199 Die vorgesehenen Bestrafungen für diese »Verbrechen gegen den Glauben« finden sich in den ersten beiden Kapiteln von Abschnitt 2 des Strafgesetzbuches unter dem Titel »Über Verbrechen gegen den Glauben und über die Verletzung von Bestimmungen, die diesen schützen« (O prestuplenijach protiv very, i o narušenii ograždajuščich onuju postanovlenij). SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1857, 46–58 (Art. 198–229). 200 Leskov, Nikolaj Semёnovič: S ljud’mi drevlego blagočestija, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 3: Sočinenija 1862–1864. Moskau 1996, 482–588, hier 493. 201 Pivovarova: Rižskie starovery 91.
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für altgläubige Kinder, ein Armenhaus mit Waisenabteilung und ein Krankenhaus.202 In der Schule lernten in den 1820er Jahren etwa 110 Mädchen und Jungen203 Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten.204 Selbst der Erzbischof von Riga und Mitau, Platon, musste in einem Bericht über die Lage der Rigaer Eparchie 1857 eingestehen, dass das Rigaer Bethaus einen sehr wohlhabenden Eindruck mache und das Altenheim wie auch das Krankenhaus sehr schön seien.205 Die Existenz dieser Einrichtungen war der Gouvernementsregierung bekannt. Ihr Verhältnis zum Staat war in Statuten geregelt, die im Jahr 1827 von Generalgouverneur Filipp Paulučči bestätigt worden waren und die den Einrichtungen ein großes Maß an Autonomie verliehen.206 Über den Aufbau der Altgläubigengemeinden am Peipussee ist weit weniger bekannt. In mehreren Dörfern hatten die Altgläubigen hölzerne Bethäuser errichtet, die in einigen Fällen auch als Schulen für deren Kinder genutzt wurden. Lehrer der Kinder waren meist die Gemeindeleiter.207 Unter Nikolaj I. wurden die Bethäuser der Altgläubigen versiegelt und zerstört, Schulen und karitative Einrichtungen geschlossen oder staatlicher Kontrolle unterstellt. Die Bethäuser und das Kircheninventar In der Amtszeit des Generalgouverneurs Matvej Ivanovič fon Palen wurden die ersten Bethäuser der livländischen Altgläubigen geschlossen. Das hölzerne Bethaus in der St. Petersburger Vorstadt Rigas, das so genannte Panin-Bethaus, wurde 1843 versiegelt208 und das neue oder Puškov-Bethaus in der Moskauer Vorstadt im Jahr 1836 an das Edinoverie übergeben. Generalgouverneur fon Palen hatte die Altgläubigen vor die Wahl gestellt, das Bethaus freiwillig abzugeben und dadurch das Inventar des Bethauses retten und behalten zu können, oder aber die Übergabe zu verweigern. In letzterem Fall werde das Bethaus 202 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 386. 203 Podmazov: Rižskie starovery 116. 204 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 400. 205 RGIA F. 796, op. 440, d. 1135, l. 13. 206 Die Statuten mit dem Titel »Pravila dlja upravlenija Bogadel’ni, Bol’nicy, Sirotskogo otdelenija i školy Rižskogo staroobrjadčeskogo obščestva« sind abgedruckt in: Ivanov (Hg.): Rižskij staroobrjadčeskij sbornik. Bd. 1, 75–112. 207 In vielen Fällen übernahmen die Gemeindeleiter die Funktion von Lehrern. In Tichotka und Kikita wurden altgläubige Jungen von den Gemeindeleitern im Bethaus unterrichtet. EAA F. 291, op. 8, d. 1072. In Kikita unterrichteten die Gemeindeleiter die Kinder der Altgläubigen außerdem im Kirchenslavischen und im Kirchengesang. Šor: Staroobrjadčeskaja molennaja i škola 157. 208 Puchljak, Oleg: Rižskie staroobrjadčeskie molennye v pervoj polovine XIX veka (Po materialam kanceljarii rižskogo general-gubernatora), in: Illarion Ivanovič Ivanov (Hg.): Staroverie Latvii. Riga 2005, 259–273, hier 270. Das Bethaus war benannt nach dem Besitzer des Gebäudes Kuz’ma Gavrilov Panin.
98 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) samt Inventar vollständig zerstört und eine neue Edinoverie-Kirche an Ort und Stelle errichtet, drohte der Generalgouverneur. Die geistlichen Väter der Altgläubigen entschieden sich für die erste Variante.209 Der Generalgouverneur erreichte damit sein Ziel, der Übergabe des Bethauses den Anschein eines freiwilligen Anschlusses der Altgläubigengemeinde an das Edinoverie zu geben.210 Doch wer hatte die Enteignung des Bethauses initiiert? Der Spezialist für die Geschichte der Orthodoxen Kirche in Lettland Aleksandr Gavrilin ist sich sicher, dass die Staatskirche in Person Bischof Irinarchs diese Maßnahme nicht befürwortet habe. Der Bischof habe sich stets gegen Repressionen der altgläubigen Bevölkerung in Riga ausgesprochen. Initiative und Durchführung der Enteignung seien allein von den weltlichen Autoritäten ausgegangen, die Orthodoxe Kirche bei diesen Entscheidungen gleichsam übergangen worden.211 Der Beamte für besondere Aufträge des Rigaer Generalgouverneurs Vladimir Sollogub stellt Irinarchs Bestrebungen in einem Bericht aus dem Jahr 1860 anders dar. Der Bischof habe die Altgläubigen in der Ausübung ihrer Rituale und ihres Gottesdienstes einschränken wollen, um sie ins Edinoverie zu drängen. Auf Betreiben Irinarchs seien die Schule in Riga zerstört und zwei der drei Bethäuser geschlossen worden.212 Da die Schule bereits im Jahr 1832 geschlossen wurde213 und Bischof Irinarch erst im Jahr 1836 nach Riga kam, muss Vladimir Sollogub sich in diesem Detail geirrt haben. Untersucht man jedoch die Schließungen der Bethäuser in den Gemeinden am Peipussee, muss man Sollogubs Einschätzung zustimmen, dass der Orthodoxen Kirche stark an einer Zerstörung der altgläubigen religiösen Organisation gelegen war. 1846 wurde das Bethaus im Dorf Černyj versiegelt,214 zwei Jahre später dasjenige in Kol’kie,215 1851 wurde der Kaufmann Ivan Rundal’cev zum Verkauf seines Bethauses in Dorpat an einen Lutheraner gezwungen216 und 1850 wurde das Bethaus in Krasnye Gory zerstört, nachdem es 13 Jahre zuvor versiegelt worden war.217 209 Gavrilin: Episkop Rižskij Irinarch 277. 210 SPR 171 (16.5.1836). 211 Gavrilin: Episkop Rižskij Irinarch 276 f. 212 Bericht Sollogubs an den Rigaer Generalgouverneur Suvorov über die Lage der Raskol’niki im Kreis Dorpat. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 10ob. 213 SPR 112 f. (14.5.1832). 214 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 30. 215 EAA F. 291, op. 8, d. 1743, l. 31ob. 216 EAA F. 291, op. 8, d. 1651, l. 64–66ob. Interessanterweise musste im Fall des Dorpater Bethauses ein Vorwand gefunden werden, um es erst zu verschließen und anschließend zu verkaufen. Auf Anfrage Erzbischof Platons, der sich von einer Schließung des Bethauses den Anschluss der örtlichen Altgläubigen an die Staatskirche erhoffte, stellte der Stabsoffizier der Gendarmerie fest, dass der Schornstein des Hauses eingefallen und das Gebäude daher einsturzgefährdet sei. Dies diente als offizieller Grund für die Versiegelung des Bethauses. EAA F. 291, op. 8, d. 1651, l. 30–34ob. 217 EAA F. 291. op. 8, d. 1520, l. 2, 10.
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Die Initiative zur Versiegelung und zum Verkauf der Bethäuser in Černyj und Dorpat gingen von den Priestern Orlov218 und Berezskij219 aus, die ihre Klagen an den Rigaer Bischof Filaret (Gumilevskij, 1805–1866)220 bzw. Erzbischof P laton trugen, welcher die zivilen Autoritäten benachrichtigte. Den Anstoß zur Zerstörung des Bethauses in Krasnye Gory gab das Beratende Komitee in Riga,221 in welchem Vertreter der kirchlichen und zivilen Autoritäten saßen. Ohne Mitwissen des Bischofs von Riga wurden hier keine Vorstöße gegen die Altgläubigen unternommen. Möglicherweise hatte sich die Einstellung der Orthodoxen Kirche in Livland gegenüber den Altgläubigen seit Bischof Filaret222 im Vergleich zur Zeit Bischof Irinarchs erheblich verändert. Spätestens seit der Amtszeit Platons gab es jedoch kaum einen Vorstoß gegen die Altgläubigen, der nicht von den Würdenträgern der Orthodoxen Kirche initiiert wurde. Die Repräsentanten der Staatskirche befürworteten die Schließung der Bethäuser uneingeschränkt. Die zivilen Beamten teilten diesen Kurs, doch galt ihre Sorge auch der Ruhe und Ordnung in den Dörfern, die durch die Versiegelung von Kirchengebäuden gestört werden konnte. Das Bethaus in Černyj hatte die Bäuerin Anna Isakova Gorjuškina der Orthodoxen Kirche geschenkt,223 nachdem sie sich – wahrscheinlich aufgrund ihrer zweiten Ehe mit einem orthodoxen Mann – der Staatskirche angeschlossen hatte.224 Der Priester Orlov beklagte, dass die Altgläubigen aber weiterhin ihre Gottesdienste in dem Bethaus feierten, und verlangte dessen Versiegelung.225 Der Innenminister erkundigte sich beim Rigaer Generalgouverneur Evgenij Aleksandrovič Golovin (1782–1858),226 ob Unruhen seitens der Altgläubigen zu erwarten seien, wenn das Bethaus geschlossen würde.227 Tatsächlich sprach sich das Dorpater Ordnungsgericht gegen eine Schließung des Bethauses aus, da es Aufruhr der örtlichen Bevölkerung befürchtete.228 Generalgouverneur Golovin ließ den Innenminister wissen: Unter den vorliegenden religiösen Umständen der Region halte ich es für angebracht, die erwähnte Anordnung vorläufig zu stoppen und sie erst dann auszuführen, wenn die Aufmerksamkeit der lokalen Leitung nicht ausschließlich auf die Umstände 218 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 1. 219 EAA F. 291, op. 8, d. 1651, l. 2. 220 Bischof von Riga von 1841 bis 1848. 221 EAA F. 291, op. 8, d. 1520, l. 5. 222 Filaret (Gumilevskij) war vom 21.12.1841 bis zum 6.11.1848 Bischof von Riga. Ihm folgte Platon (Gorodeckij), in dessen Amtszeit Riga zu einer eigenständigen Eparchie aufgewertet und Platon selbst zum Erzbischof ernannt wurde. 223 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 1. 224 Ebd., l. 34 f. 225 Ebd., l. 34 f. 226 Generalgouverneur der Ostseegouvernements von 1845 bis 1847. 227 Ebd., l. 6 f. 228 Ebd., l. 4ob.
100 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) gerichtet ist, die verbunden sind mit dem Übertritt eines bedeutenden Teils der eingeborenen Völker zur Orthodoxie.229
Der Zar setzte sich über diese Bedenken hinweg und ließ das Bethaus durch einen Befehl vom 16. November 1847 versiegeln.230 Die Bekämpfung der Altgläubigen wog schwerer als die Sorge um Ruhe und Ordnung in den Dörfern am Peipussee. Anschließend wurde der Oberpriester der St. Petersburger Edinoverie-Kirche Michail Ivanov nach Černyj geschickt, wo er das Bethaus der Altgläubigen im Frühjahr 1848 zu einer Kapelle des Edinoverie umweihte.231 Im Fall der Zerstörung des bereits versiegelten Bethauses in Krasnye Gory machte das Ordnungsgericht einige Vorschläge, wie die zu erwartende Unruhe unter den Altgläubigen vermindert werden könnte. Entgegen gesetzlicher Bestimmungen sollte der Erlös aus dem Verkauf der Baumaterialien des abgerissenen Bethauses nicht dem Amt für Öffentliche Fürsorge (Prikaz Obščestvennogo Prizrenija) zukommen, sondern der Altgläubigengemeinde, und das Inventar des Bethauses sollte seinen Besitzern übergeben werden.232 Der Befehl des Zaren, der die Zerstörung des Bethauses anberaumte, trug dem ersten Vorschlag des Ordnungsgerichts Rechnung; und Generalgouverneur fon Palen sollte einen passenden Zeitpunkt für die Zerstörung des Bethauses finden und alle nötigen Maßnahmen anwenden, um Unruhen unter der altgläubigen Bevölkerung vorzubeugen.233 Das Inventar sollte – mit Ausnahme von Gottesdienstbüchern, Ikonen und Handschriften über die Lehre der Altgläubigen – seinen Besitzern zurückgegeben werden, wenn diese sich der Orthodoxie oder dem Edinoverie anschlossen, so der Innenminister an den Rigaer Generalgouverneur.234 Wie bei der Übergabe des altgläubigen Bethauses in Riga im Jahr 1836 an die Edinoverie-Kirche wurde auch mit der Zerstörung des Bethauses in Krasnye Gory das Ziel verfolgt, die Altgläubigen zu einem Übertritt zur Staatskirche zu bewegen. ✴ ✴ ✴ Die Initiative zur Schließung und Zerstörung von Bethäusern am Peipussee ging seit Ende der 1840er Jahre von kirchlichen Würdenträgern aus. Die Ent 229 Ebd., l. 7. Nachdem es in den Gouvernements Est- und Livland zu Missernten gekommen war, machten sich Anfang der 1840er Jahre Gerüchte breit, dass diejenigen, die den Glauben des Zaren annahmen, Land bekommen würden. Dies führte zu einer Massenkonversion estnischer und lettischer Bauern in Livland. Mehr als 100.000 von ihnen traten zur Orthodoxie über. Kasekamp, Andres: A History of the Baltic States. Basingstoke 2010, 71. 230 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 12ob-13. 231 Ponomarёva, Galina/Šor, Tat’jana Kuzminična: Iz istorii edinoverija v Pričud’e, in: Belobrovceva, I. (Hg.): Russkie v Pribaltike. Moskau 2010, 11–20, hier 15. 232 EAA F. 291, op. 8, d. 1520, l. 2ob-3. 233 Ebd., l. 6ob-7. 234 Ebd.
Die Diskriminierung der Altgläubigen in Livland 101
scheidung darüber fällte jedoch der Zar. Zwar war der Innenminister stets an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung interessiert und erkundigte sich beim jeweiligen Rigaer Generalgouverneur über zu erwartende Unruhen. Doch das gemeinsame Ziel von Regierung und Staatskirche, das Altgläubigentum zu bekämpfen, hatte Vorrang vor dieser Sorge. Die zivile Regierung unter den Generalgouverneuren fon Palen und Suvorov zog zusammen mit der Staatskirche an einem Strang bei der Bekämpfung der religiösen Organisation der Altgläubigen. Auf die eine oder andere Weise wurden bis 1851 sämtliche Bethäuser der Altgläubigen im Kreis Dorpat versiegelt oder zerstört.235 Lediglich Generalgouverneur Golovin hatte versucht, gegenüber der Zerstörung des Bethauses in Černyj Einwände zu erheben. Darüber hinaus wurden die Gemeindeleiter verbannt und die Altgläubigen in Nordlivland auf diese Weise ihrer geistlichen Elite beraubt.236 In Riga wurde eines der Bethäuser geschlossen, ein anderes in eine Edinoverie-Kirche umgewandelt und das dritte Bethaus überlebte nur dank des Widerstands der Altgläubigen, worauf weiter unten noch eingegangen wird. Die Schließung aller übrigen Bethäuser wurde durch die Konfiszierung der religiösen Kultgegenstände komplettiert, ohne die die Altgläubigen keine neuen Bethäuser in ihren Privatwohnungen einrichten konnten. Damit die Altgläubigen keine neuen Gottesdienstbücher herstellen konnten, wurde ihre Druckerei in Riga geschlossen.237 Und seit 1845 durften Altgläubige reichsweit auch nicht mehr in Ikonenmalereien beschäftigt werden, was dem Ziel diente, der Verbreitung von Ikonen nach altem Stil vorzubeugen.238 Die Schulen und karitativen Einrichtungen Die Versiegelung und Zerstörung der altgläubigen Bethäuser war in den geheimen Gesetzen vom 10. Juni 1853 für das gesamte Russländische Reich beschlossen worden, wie in Kapitel 3.1.1. gezeigt wurde. Doch auch die Schulen und karitativen Einrichtungen der Altgläubigen sollten geschlossen werden. Dies wurde in Einzelbestimmungen festgelegt, die die Schließung dieser Institutionen nicht zu einem allgemeinen Prinzip erhoben, sondern sich jeweils nur mit Einzelfällen beschäftigten. So wurde die Schule der Altgläubigen in Riga durch eine Bestimmung vom 14. Mai 1832 geschlossen, da sie nicht den Regeln des Statuts für Kreis- und Gemeindeschulen entspreche und außerdem ein Altgläubiger 235 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 41 f. Das Bethaus in Černyj wurde im Januar 1848 versiegelt, dasjenige in Kikita mehr als zehn Jahre zuvor geschlossen. EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 20, 30. 236 Bericht Vladimir Sollogubs an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov über die Lage der Raskol’niki in Dorpat vom 24.7.1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 7. 237 SPR 198 (19.3.1837). 238 SPR 348 f. (5.1.1845).
102 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) die Aufgabe des Lehrers übernommen habe, obwohl Altgläubige laut einem Beschluss aus dem Jahr 1820 keine öffentlichen Ämter übernehmen durften.239 Am Peipussee gab es keine Schulgebäude; stattdessen unterrichteten die Gemeindeleiter die altgläubigen Kinder in Bethäusern oder in ihren Privatwohnungen. Im Februar 1847 berichtete der Priester von Černyj Aleksej Lekarev dem Bischof Filaret, dass die Gemeindeleiter von Černyj – Sofron Sofronov – und von Kikita – Ignatij Trifonov – Schulen eingerichtet hätten, in denen sie altgläubigen Jungen Lesen und Schreiben beibrächten.240 Das Dorpater Ordnungsgericht korrigierte diesen Bericht: Die beiden Nastavniki hätten keine Schulen eingerichtet, sondern im Bethaus schon seit einiger Zeit immer wieder altgläubige Kinder unterrichtet.241 Generalgouverneur Evgenij Golovin, der sich bereits gegen die Zerstörung des Bethaues in Černyj ausgesprochen hatte, sträubte sich gegen weitere Bedrückungen der Altgläubigen. Er schrieb dem Rigaer Bischof, dass er zwar gegen Schulen vorgehen könne, nicht aber gegen die private Ausbildung von altgläubigen Kindern durch die Gemeindeleiter.242 Der Bischof von Riga teilte diese Meinung nicht. Er schrieb dem Generalgouverneur, dass altgläubige Kinder in orthodoxen Gemeindeschulen erzogen werden mussten, wenn nötig nach altgedruckten Büchern.243 Die Zulassung von Schulen der Altgläubigen, die unmittelbar von ihren Gemeindeleitern geleitet wurden, führe zu einer Ausbreitung des Schismas und stünde somit den Zielen der Regierung – der Schwächung des Raskol – entgegen. Der Bischof schloss seine Belehrung des Generalgouverneurs mit der Mahnung, dass den Gemeindeleitern Sofronov und Trifonov nicht erlaubt werden könne, Schulen zu betreiben, weil sie nicht die erforderliche Ausbildung am Gymnasium genossen hätten.244 Dem Ordnungsgericht wurde daraufhin mitgeteilt, dass die Erziehung altgläubiger Kinder durch die Gemeindeleiter am Peipussee streng verboten war.245 Darüber hinaus gerieten die karitativen Einrichtungen der Altgläubigen ins Visier der Regierung. Im Jahr 1833 büßten die Rigaer Altgläubigen die Kontrolle über ihre karitativen Einrichtungen ein. Die Statuten für die Verwaltung des Armenhauses, des Krankenhauses, der Waisenabteilung und der Schule der R igaer altritualistischen Gesellschaft, die 1827 vom Generalgouverneur Paulučči bestätigt worden waren, wurden am 26. März 1833 abgeschafft und durch neue Statuten ersetzt. Das Armen- und Krankenhaus in der Moskauer
239 SPR 112 f. (14.5.1832). Bezieht sich auf: SPR 61 f. (27.5.1820). 240 EAA F. 291, op. 8, d. 1072, l. 1. 241 Ebd., l. 3. 242 Ebd., l. 5. 243 In diesem Fall sollten die entsprechenden Bücher allerdings von den Altgläubigen selbst zur Verfügung gestellt werden. Ebd., l. 8ob. 244 EAA F. 291, op. 8, d. 1072, l. 6 f. 245 Ebd., l. 13.
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Vorstadt sollte in Zukunft den Beinamen Grebenščikov erhalten.246 Dementsprechend hießen die neuen Statuten »Regeln für das Grebenščikov’sche Armen- und Krankenhaus« (Pravila dlja Bogadel’ni i Bol’nicy Grebenščikovskich). Die Einrichtungen verloren ihre Selbstverwaltungsrechte und wurden staatlicher Kontrolle unterstellt.247 Laut einem Beschluss vom 1. Mai 1853 sollte eine Person orthodoxer Konfession mit festem Wohnsitz in Riga zum Kurator der Grebenščikov-Einrichtungen ernannt werden und die Tätigkeiten dieser Institutionen überwachen.248 Im Jahr 1831 waren die General- und Kriegsgouverneure ermahnt worden, keinerlei Statuten für Gesellschaften zu bestätigen, ohne sich vorher mit den zuständigen Ministern zu beraten.249 Offenbar hatte der ehemalige Generalgouverneur Paulučči eigenmächtig gehandelt und weder den Zaren noch den Innenminister um Erlaubnis für die Bestätigung der Statuten der Rigaer Altgläubigen gebeten.250 Im Jahr 1833 wurde die Waisenabteilung in Riga geschlossen. Die männlichen Vollwaisen sollten dem Rigaer Bataillon der Kriegskantonisten251 übergeben, weibliche Vollwaisen wohltätigen Einrichtungen unter Führung des Amtes für öffentliche Fürsorge (Prikaz Obščestvennogo Prizrenija) überantwortet werden.252 Bitten der Vorsteher des altgläubigen Bethauses in Riga, die Aufsicht über diese Kinder übernehmen zu dürfen, wurden nicht erhört. Die Regierung verfolgte andere Pläne: Sie wollte die Kinder der Orthodoxie anschließen.253 Denn Vollwaisen, deren Eltern unbekannt waren, mussten im Russländischen Reich orthodox getauft werden.254 246 Die Einrichtungen wurden von der Regierung nach dem altgläubigen Kaufmann Aleksej Petrovič Grebenščikov benannt, um die Bezeichnung »Altgläubige« zu vermeiden. Die Altgläubigen Rigas übernahmen diese Namensgebung in der Folge sowohl für das Armen- und Krankenhaus wie auch für ihre Gemeinde im Allgemeinen. S. Kapitel 2.3. 247 SPR 116–119 (26.3.1833). In dieser Bestimmung sind auch die neuen Statuten des Armen- und Krankenhauses abgedruckt. 248 SPR 467 f. (1.5.1853). 249 SPR 108 (2.4.1831). 250 Auf wessen Initiative die Schließung der Schule in Riga und die Abschaffung von Pauluččis Statuten zurückgingen, ist nicht überliefert. Der damalige Kurator des altgläubigen Krankenhauses, Petr Andreevič Pimenov, verriet dem Schriftsteller Nikolaj Leskov, dass die Gemeinde die zivile Leitung um eine Ausweitung des Schulprogramms gebeten hatte und daraufhin die Schule geschlossen und die Statuten abgeschafft worden waren. Leskov, Nikolaj Semёnovič: Irodova rabota. Russkija kartiny v Ostzejskom krae, in: Istoričeskij Vestnik 8 (1882), 185–207, hier 190. 251 Als Kantonisten (kantonisty, eine Übernahme aus dem Deutschen) wurden minderjährige Soldatensöhne bezeichnet, die vom Tag ihrer Geburt an im Militärdepartement verzeichnet waren. Im Alter von sieben bis 15 Jahren wurden sie in Militärschulen erzogen und danach zum Militärdienst eingezogen. Aus dem Militärdienst durften sie bis 1856 nicht austreten. Paert: Old Believers, religious dissent and gender 220 f. 252 SPR 116–119 (26.3.1833). 253 SPR 115 f. (24.2.1833). 254 Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja 533.
104 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Die radikalste Maßnahme gegenüber den altgläubigen Waisenkindern war von Generalgouverneur Aleksandr Suvorov ausgegangen. Nikolaj Leskov, der 1863 Riga mit dem Auftrag besuchte, dem Volksbildungsminister über die Schulen der Altgläubigen zu berichten,255 beschrieb die Folgen der Schließung der Schule in Riga: Unter der altgläubigen Jugend breiteten sich Analphabetismus, Armut und Kriminalität aus. Da die Altgläubigen ihre Kinder nicht auf Schulen der orthodoxen Priester schicken wollten und sich eine Ausbildung in den deutschen Bildungseinrichtungen nicht leisten konnten, verwahrlose die altgläubige Jugend. Altgläubige Mädchen seien gezwungen, sich in äußerst jungem Alter zu prostituieren und altgläubige Jungen würden in der ganzen Stadt bald nur noch als Taschendiebe256 bezeichnet.257 Am 11. Juli 1848 bat Generalgouverneur Suvorov den Innenminister Lev Alekseevič Perovskij (1792–1856)258 um Erlaubnis, alle verarmten und obdachlosen Kinder der Altgläubigen in Riga an das Bataillon der Kriegskantonisten übergeben zu dürfen. Sie stellten eine erhebliche Bedrückung der städtischen Gesellschaft dar. Diesem Problem solle Abhilfe geschaffen werden.259 Noch bevor Suvorov die erbetene Erlaubnis erhalten hatte, hieß er den Rigaer Polizeimeister Grin alle Vollwaisen der Altgläubigen in Gewahrsam zu nehmen. Altgläubige Jungen wurden dem Bataillon der Kriegskantonisten in Pskov, Mädchen dem Amt für öffentliche Fürsorge übergeben.260 Am 26. November 1849 erhielt Suvorov vom Innenminister Antwort auf seine Bitte. Der Zar persönlich hatte sich um die Angelegenheit gekümmert. Er hieß Suvorovs Bitte gut, wollte die Maßnahme aber nicht nur auf die Kinder der Altgläubigen, sondern auf alle obdachlosen Waisenkinder – auch auf orthodoxe – ausgeweitet wissen.261 Offenbar ging es Nikolaj I. bei dieser Angelegenheit weniger um die Bekämpfung der Schismatiker als vielmehr um die Aufrechterhaltung der städtischen Ordnung, weshalb er alle verwahrlosten Kinder verhaften lassen wollte. Generalgouverneur Suvorov ließ Anfang des Jahres 1850 erneut Jagd auf altgläubige Waisenkinder machen. Dabei hielt er sich weder an die Anweisung des Zaren, auch Orthodoxe gefangen nehmen zu lassen, noch daran, die Gefangenen den Kriegskantonisten zu übergeben. Stattdessen wurden alle elf altgläubigen Arrestanten nach Absprache mit dem Rigaer Erzbischof Platon dem Priester Svetlov überstellt, der sie orthodox taufen sollte.262 Nikolaj 255 Leskov, Andrej: Žizn’ Nikolaja Leskova po ego ličnym, semejnym i nesemejnym zapisjam. Bd. 1. Moskau 1984, 244–247. 256 Unter der deutschen Bevölkerung wurden sie nach der russischen Bezeichnung Karmanščiki als Karmantschicken bezeichnet. Eckhardt: Bürgerthum und Büreaukratie 237. 257 Ebd. 236 f. 258 Innenminister von 1841 bis 1852. 259 Leskov: Irodova rabota 191. 260 Hauptmann: Rußlands Altgläubige 222. 261 Leskov: Irodova rabota 192. SPR 407 f. (20.11.1849). 262 Leskov: Irodova rabota 192 f.
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Leskov urteilte in einer Rückschau im Jahr 1882 über die Taten Suvorovs, dass die Altgläubigen Rigas unter diesem Generalgouverneur schlimmer behandelt worden seien als alle anderen Altgläubigen des Russländischen Reiches, obwohl auch diese unter der Regierung Nikolajs I. gelitten hatten.263 Erzbischof Platon, der sich mit Generalgouverneur Suvorov in ständigem Konflikt über die Lage der Orthodoxen Kirche in den Ostseegouvernements befand,264 hatte gegen die strengen Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen nichts einzuwenden, sondern arbeitete auf diesem Gebiet eng mit dem Generalgouverneur zusammen.
3.2.2 Die gerichtliche Verfolgung von Altgläubigen Die religiöse Organisation der Altgläubigen in Livland wurde unter Nikolaj I. durch die Polizeiorgane weitgehend zerstört. Schwieriger gestaltete sich jedoch die Verfolgung einzelner Altgläubiger, die so genannte Verbrechen gegen den Glauben (prestuplenija protiv very) begangen hatten. Unter dieser Kategorie wurden Vergehen subsumiert, die gegen die Grundlagen des orthodoxen Glaubens und der Orthodoxen Kirche verstießen. Gemäß dem Gesetzeskodex wurden darunter Lästerung der Orthodoxen Kirche, Abfallen von derselben sowie die Verbreitung von Häresien und Schismen unter Anhängern der Orthodoxie verstanden. Dazu zählten auch Verstöße gegen das Verbot, nach altem Stil gedruckte Bücher zu drucken und Bethäuser, Einsiedeleien oder Klöster zu gründen.265 Die Verbrechen gegen den Glauben sind zu unterscheiden von Vergehen, die nicht mit dem Glaubensbekenntnis in Zusammenhang standen, wie Diebstahl, Totschlag oder Brandstiftung. Diese wie jene wurden von den Gerichten verurteilt.266 Es handelte sich also nicht um administrative Maßnahmen, sondern um eine gerichtliche Verfolgung der Altgläubigen. Anton Stadnikov weist jedoch darauf hin, dass zivile und kirchliche Obrigkeiten bis zur Justizreform des Jahres 1864 massiven Einfluss auf die Gerichte hatten und die gerichtliche Verfolgung der Altgläubigen Teil desselben Systems war, welches in anderen Bereichen auf polizeistaatliche Maßnahmen zurückgriff.267 Im Folgenden werden die Versuche der livländischen Regierung untersucht, Altgläubige für die Verbreitung ihrer religiösen Lehre zur Verantwortung zu ziehen, da sich an diesem Beispiel die Grenzen der Durchsetzbarkeit von Disziplinierungsmaßnahmen gegenüber den Altgläubigen am besten darstellen lassen. Drei Umstände standen der Verfolgung individueller Altgläubiger im Weg: die problematische Zu 263 Ebd. 195. 264 Leskov: Russkie dejateli 253. 265 SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1857, 46–58 (Art. 198–229). 266 Stadnikov: Moskovskoe staroobrjadčestvo 57. 267 Ebd. 84.
106 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) sammenarbeit zwischen einzelnen Behörden, insbesondere zwischen zivilen und kirchlichen; fehlende Bestrafungsmöglichkeiten für Altgläubige, die sich Verbrechen gegen den Glauben schuldig gemacht hatten; und unzureichende Kontrolle der Verwaltung über die altgläubige Bevölkerung. Die Zusammenarbeit ziviler und staatskirchlicher Behörden Im Frühjahr 1852 wandte sich die ehemalige Altgläubige Irina Žaršina, die sich erst vor Kurzem der Orthodoxen Kirche angeschlossen hatte, an den Dorpater Oberpriester Berezskij. Sie berichtete, dass sie von ihrem ehemaligen Lebensgefährten, dem Altgläubigen Emel’jan Osipov, für ihren Übertritt zur Staatskirche mit den Worten »du selbst gabst Deine Seele an den Teufel und führtest andere in die Hölle« beleidigt worden sei.268 Sie habe sich in solchem Maße verhöhnt gefühlt, dass sie Emel’jan eine Tasse an den Kopf geworfen habe, sodass er geblutet habe.269 Der Dorpater Oberpriester Berezskij wandte sich daraufhin an den Dorpater Stabsoffizier der Gendarmerie Serebrenikov, damit dieser eine Untersuchung über Emel’jan Osipov anstellen lasse.270 Der Dorpater Polizeimeister Kurovskij erhielt den Befehl, den Angeklagten zu verhaften und Zeugen zu dieser Angelegenheit zu befragen.271 Nach drei Monaten erreichte die Angelegenheit den Beamten für besondere Aufträge V. Vasil’ev, der den Vorfall dem Beratenden Komitee in Riga schilderte. In seiner Darstellung wies Vasil’ev darauf hin, dass Gemeindegeistliche sich gemäß den Statuten für die orthodoxe Geistlichkeit vom 5. April 1845 mit Forderungen und Berichten ausschließlich an den Bischof richten durften und nicht an die zivilen Autoritäten, wie im vorliegenden Fall geschehen. Die Polizeibehörden durften ihrerseits ohne die Erlaubnis des Gouverneurs keine Untersuchungen über Altgläubige anstellen, die mit ihrem Glaubensbekenntnis zusammenhingen.272 Das Beratende Komitee in Riga entließ Emel’jan Osipov aufgrund mangelnder Beweise aus der Haft – die befragten Zeugen hatten sich gegenseitig und der Anklägerin in unterschiedlichen Aspekten widersprochen; von einem Verfahren vor einem zivilen Gericht wurde abgesehen. Über das Verhalten des Oberpriesters Berezskij sollte der Erzbischof von Riga und Mitau urteilen und über das Schicksal der Polizeibeamten der Generalgouverneur Suvorov entscheiden.273 Die Entscheidung Erzbischof Platons ist im untersuchten Bestand nicht überliefert. Der Stabsoffi-
268 EAA F. 291, op. 8, d. 1756, l. 9. 269 Ebd., l. 9ob. 270 Ebd., l. 29ob. 271 Ebd., l. 9–11ob. 272 Ebd., l. 19ob-20ob. 273 Entscheidung des Rigaer Beratenden Komitees vom 22. Oktober 1852. Ebd., l. 29–30ob.
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zier der Gendamerie Serebrenikov jedoch wurde aus Dorpat nach Berdičev versetzt und der Dorpater Polizeimeister Kurovskij nach Taganrog.274 An diesem Fall lassen sich mehrere Eigenheiten erkennen, die charakteristisch für die Verfolgung der Altgläubigen für Verbrechen gegen den Glauben waren. Erstens waren sowohl zivile Beamte als auch staatskirchliche Würdenträger an der Behandlung solcher Fragen beteiligt. Wie im Folgenden gezeigt wird, verfolgten diese Parteien häufig unterschiedliche Interessen. Die Gemeindepriester sorgten sich als Diener der Staatskirche in erster Linie um den Schutz ihrer Gemeindemitglieder vor dem alten Glauben; die zivilen Beamten waren dagegen stärker mit der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung sowie der staatlichen Kontrolle über die altgläubige Bevölkerung beschäftigt, wie in Unterpunkt »Unklare Disziplinierungskompetenzen ziviler und kirchlicher Behörden« gezeigt wird. Die meisten Untersuchungen über von Altgläubigen verübte Verbrechen gegen den Glauben wurden daher von den kirchlichen Würdenträgern initiiert. Zweitens kann an dem soeben vorgestellten Fall abgelesen werden, dass die orthodoxe Kirchenhierarchie keine eigene Durchsetzungsmacht besaß.275 Die Orthodoxe Kirche musste sich an die zivile Leitung wenden, wenn Untersuchungen über die Altgläubigen angestrengt werden sollten. Drittens illustriert der Fall, dass es in der Behandlung von Altgläubigen angelegenheiten einen stark hierarchisierten und zentralisierten Behördenweg gab, der stets den Generalgouverneur mit einschloss. Ohne Wissen des obersten Gouvernementsleiters sollten keine Untersuchungen über die Altgläubigen vorgenommen oder Entscheidungen getroffen werden. Von der orthodoxen Gemeindegeistlichkeit initiierte Angelegenheiten mussten stets über den Oberpriester (blagočinnyj) an den Eparchiebischof geleitet werden, der durch direkten Zugang zum Generalgouverneur und ständigen Sitz im Beratenden Komitee großen Einfluss in Altgläubigenfragen hatte. Leitete er eine Angelegenheit an den Generalgouverneur weiter, so gab dieser seine Anordnungen über den livländischen Gouverneur den Polizeibehörden bekannt. Das zuständige Ordnungsgericht – eine Polizeibehörde ohne die gerichtliche Kompetenz der Urteils sprechung – stellte eine Voruntersuchung an und konnte die Angeklagten an das Landgericht oder den städtischen Magistrat überstellen. Deren Urteile wurden anschließend vom livländischen Hofgericht auf dem Rigaer Schloss überprüft. In allen Zweifelsfällen galt das Beratende Komitee als letzte Entscheidungsinstanz auf Gouvernementsebene. Zwar sollten diese Komitees lediglich 274 Ebd., l. 30. 275 Durch die Säkularisation hatte die Orthodoxe Kirche ihre Exekutivgewalt über etwa zwei Millionen Bauern verloren. Freeze: Bringing Order 716. In den Ostseeprovinzen kam der mangelhafte strukturelle Aufbau der Kirche erschwerend hinzu, welcher weiter unten genauer beschrieben wird. Vgl. dazu auch: Gavrilin, Aleksandr: Očerki istorii Rižskoj eparchii. 19 vek. Riga 1999, 184 f.
108 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) beratende Funktion haben, das heißt die St. Petersburger Regierung über die Lage der Altgläubigen im jeweiligen Gouvernement informieren, doch neigten sie dazu, auch gerichtliche Funktionen zu übernehmen.276 Gelangte auch das Beratende Komitee zu keiner Entscheidung, beauftragte es den Generalgouverneur, sich an den Innenminister zu wenden,277 welcher in Absprache mit dem Heiligsten Synod278 und gegebenenfalls weiteren Ministern eine Entscheidung fällte und diese zurück an den Generalgouverneur schickte.279 Die im Vorangegangenen beschriebene Abhängigkeit der Kirche von zivilen Institutionen im Vorgehen gegen die Altgläubigen führte in vielen Fällen zum Vorwurf der Nachlässigkeit. Im Januar 1860 sollte das Bethaus der Altgläubigen in Kazapel’ abgerissen und die Baumaterialien vom Kirchenältesten abtrans portiert werden. Das Dorpater Ordnungsgericht befürchtete, dass dabei Unruhe unter den Einwohnern des Dorfes entstehen könne. Aus diesem Grund wandte es sich an den örtlichen Priester Michail Malein und bat ihn, von einem Abriss des Gotteshauses abzusehen. Malein beschwerte sich über diesen Vorstoß des Ordnungsgerichts bei Oberpriester Pavel Petrovič Alekseev.280 Die Nachsicht der zivilen Behörden sorge für eine Ausbreitung des Raskol, so der Priester. Würde weiterhin so mit den Altgläubigen verfahren, müssten sich die orthodoxen Priester nicht länger darum Sorgen machen, wie sie die Altgläubigen zum Anschluss an die Orthodoxe Kirche bewegen, sondern wie sie verhindern können, dass sämtliche orthodoxe Gemeindemitglieder zum alten Glauben übertreten.281 Tatsächlich berichtete der orthodoxe Priester des Dorfes Černyj Ščepetov im Jahr 1861 von Gerüchten, die unter den Altgläubigen des Dorfes kursierten, dass Edinovercy zum alten Glauben übertreten und Bethäuser errichten dürften. In der Folge hätten sich bereits einige Edinovercy dem Raskol angeschlossen. Der Priester legte den Altgläubigen Černyjs in einem Schreiben an den Erzbischof folgende Worte in den Mund, die sie seiner Darstellung zufolge für die Überzeugung von Edinovercy vom alten Glauben nutzten:
276 SPR 409 (20.11.1849). 277 Beispielsweise: RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 1. 278 Der Innenminister beriet sich vor allem dann mit dem Oberprokuror des Heiligsten Synods, wenn es um kirchenrechtliche Fragen ging. Bsp. RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 11 f. 279 Darüber hinaus konnten die St. Petersburger Behörden durch die jährlichen Berichte des Generalgouverneurs an den Innenminister und des Bischofs an den Heiligsten Synod über die Lage im Gouvernement bzw. in der Eparchie in Altgläubigenangelegenheiten involviert werden. Beispiele für solche Berichte finden sich in: EAA F. 291, op. 1, d. 15963; RGIA F. 797, op. 24, d. 92; RGIA F. 796, op. 440, d. 1135. In einigen Fällen richteten Altgläubige Bittschriften direkt an Beamte der St. Petersburger Zentrale, wodurch diese in die Angelegenheit hineingezogen wurden. Ein Beispiel für eine solche Bittschrift findet sich in: RGIA F. 796, op. 134, d. 1883. 280 LVVA F. 7462, op. 1, d. 266, l. 12 f. 281 Ebd., l. 11ob.
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Sie (die Schismatiker) eröffneten ihre öffentlichen Bethäuser in Privathäusern nicht eigenmächtig, sondern dies ist der Wille des Zaren […] Der Zar selbst überzeugte sich nun davon, dass es auf der Welt tatsächlich nur einen wahrhaftigen Glauben gab und gibt, dass dies der »alte« ist, den er (der Zar), möglicherweise, bald selbst annehmen wird; bisher erlaubte er lediglich allen Untertanen, zum alten Glauben überzutreten. Entgegengesetztes denken und reden allein die Popen, die zivilen Obrigkeiten aber, die den Willen des Zaren kennen, schweigen.282
Die Tatenlosigkeit der zivilen Obrigkeiten ist in der Darstellung Ščepetovs dafür verantwortlich, dass die Altgläubigen am alten Glauben festhielten und die Regierung ihr Ziel der Eindämmung des Schismas nicht erreichen konnte. Eine mögliche Erklärung für die Meinungsverschiedenheiten zwischen zivilen und kirchlichen Obrigkeiten im Umgang mit den Altgläubigen ist deren unterschiedliche Interessenlage. Während es der Orthodoxen Kirche ausschließlich um die Bedrückung der Altgläubigen ging mit dem Ziel, diese zu einem Anschluss an die Staatskirche zu bewegen, war der Gouvernementsverwaltung an der Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung gelegen. Eine weitere Erklärung für die Ablehnung repressiver Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen durch die zivilen Behörden ist, dass viele Polizeibeamte und Richter in Livland deutsche Lutheraner waren. Der Beamte für besondere Aufträge Vladimir Sollogub betont in einem Bericht an den Generalgouverneur aus dem Jahr 1860, dass die deutschen Lutheraner, welche in den Ostseegouvernements einen Großteil der örtlichen Verwaltungsposten besetzten,283 besondere Nachsicht mit den Altgläubigen hätten.284 Und auch der Rigaer Stabsoffizier erklärte die Stärke des alten Glaubens im Gouvernement Livland dadurch, dass die zivilen Autoritäten der orthodoxen Geistlichkeit nicht ausreichend bei der Bekämpfung des Schismas geholfen hätten. Grund dafür sei, dass die Repräsentanten der zivilen Obrigkeiten im gesamten Gouvernement keine Orthodoxen, sondern Lutheraner seien, die mit den Raskol’niki nach dem Prinzip der Glaubenstoleranz, die für die lutherische Kirche typisch sei, Mitleid hätten.285 Der erste Bischof von Riga, Irinarch, sah ebenfalls das Problem darin, dass im Rigaer Magistrat und in den Gerichten Livlands keine Orthodoxen saßen, die seiner Ansicht nach die einzigen waren, die die Dogmen der Orthodoxen Kirche hätten schützen können.286 Zwar richteten sich nicht alle Beschwerden von Seiten der orthodoxen Priester gegen zivile Beamte, die deutsche Lutheraner und daher dem Verdacht 282 EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 4 f. Meine Hervorhebung. 283 S. hierzu auch die Beschwerden des Rigaer Bischofs Irinarch beim Geheimpolizeichef Benkendorf in: Pivovarova: Rižskie starovery 93. 284 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 15. 285 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 396 f. 286 Pivovarova: Rižskie starovery 93 f.
110 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) »lutherischer Toleranz« ausgesetzt waren.287 Doch finden sich tatsächlich viele Fälle, in denen sich deutsche Beamte des Dorpater Ordnungsgerichts und unterschiedlicher Gerichtsinstitutionen in Livland gegen eine Verfolgung der Altgläubigen aussprachen. Ein Beispiel für einen solchen Fall ereignete sich in Dorpat in den Jahren 1855 bis 1860. Die Altgläubige Dar’ja Jakovleva war von ihrem Ehemann verlassen worden, nachdem dieser sich der Orthodoxie angeschlossen hatte. Nun sollten ihre gemeinsamen Kinder ebenfalls orthodox gesalbt werden; Dar’ja wehrte sich dagegen und ging auf die Ermahnungen des Ordnungsgerichts nicht ein, sich bei dem Priester der Gemeinde in Nos zu melden und ihre Kinder von diesem salben zu lassen. Das Ordnungsgericht war nicht bereit, strengere Maßnahmen gegen die Altgläubige anzuwenden, und räumte ihr stattdessen einen Monat Bedenkzeit ein.288 Im weiteren Verlauf der Angelegenheit wurde Dar’ja Jakovleva dazu gebracht, ihre Tochter Anastasija orthodox taufen zu lassen. Ihren Sohn jedoch versteckte die Altgläubige vor den Obrigkeiten, damit dieser nicht auch getauft werden konnte.289 Schließlich gelangte die Sache vor das livländische Hofgericht. Dieses sprach Dar’ja Jakovleva von jeder Bestrafung frei, da bereits ihre Tochter gegen den Willen der Mutter orthodox getauft worden war. Der Erzbischof von Riga war mit diesem Urteil, welches nicht den gesetzlichen Bestimmungen entsprach, unzufrieden und strengte eine Überprüfung desselben vor dem Regierenden Senat an.290 Er kritisierte das Dorpater Ordnungsgericht und das livländische Hofgericht dafür, keine repressiven Maßnahmen gegen Dar’ja Jakovleva anwenden zu wollen. Die Inschutznahme der Altgläubigen durch die deutschen Lutheraner war nicht immer uneigennützig. Ein Beamter des Generalgouverneurs der Ostseegouvernements, Hofrat Šmit, kritisierte in einem Bericht an seinen Vorgesetzten, dass die Schule und zwei Bethäuser der Altgläubigen in Riga geschlossen worden waren. Seitdem breite sich unter den Altgläubigen der Stadt Trunkenheit und Armut aus. Hofrat Šmit wollte diesen Missstand im Sinne der öffentlichen Ordnung beheben.291 Für die deutschen Gutsbesitzer, die sich in vielen Fällen für ihre altgläubigen Bauern einsetzten, stand das Interesse im Vordergrund, ihre Arbeitskräfte nicht an den Kampf von Staat und Kirche gegen das Schisma zu verlieren.292 Darüber hinaus liegt die Vermutung nahe, dass viele Deutsche kein Interesse an einer erfolgreichen Bekämpfung der Altgläubi
287 Vergleichbare Fälle finden sich in: EAA F. 291, op. 1, d. 16094; LVVA F. 7462, op. 1, d. 261; RGIA F. 796, op. 134, d. 1883. 288 EAA F. 291, op. 1, d. 15891, l. 1–2ob. 289 Ebd., l. 16 f. 290 Ebd., l. 39–40ob. 291 Leskov: Irodova rabota 200. 292 Ebd. 188.
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gen hatten, da dies eine Stärkung der Orthodoxen Kirche in Livland bedeutet hätte.293 Um diese Nachsicht der deutsch-lutherischen Beamten zu verhindern, verständigten sich Erzbischof Platon und Generalgouverneur Suvorov in einigen Fällen darauf, die entsprechenden Behörden zu umgehen. Im Jahr 1856 hatte der Altgläubige Pёtr Kutkin aus Dorpat die Ikonen der Orthodoxen Kirche beleidigt und dies öffentlich zugegeben. Anstatt ihn an das Dorpater Landgericht zu übergeben, verständigten sich Suvorov und Platon darauf, nach administrativer Ordnung mit ihm zu verfahren. Kutkin wurde für drei Tage inhaftiert und anschließend ermahnt, dass er solche Lästerungen nicht wiederholen dürfe.294 Umgekehrt sind Fälle, in denen zivile Beamte über Nachlässigkeiten orthodoxer Kirchendiener im Kampf gegen die Altgläubigen klagen, nur selten zu finden. Ein Beispiel wäre der Bericht des Polizeimeisters von Riga aus dem Jahr 1836. Er schrieb, dass die Priester der Stadt sich nicht ausreichend um den Schutz ihrer Gemeinden sorgten und Orthodoxe deswegen zum Altgläubigentum überträten.295 Der Polizeimeister machte die Orthodoxe Kirche für die Verbreitung des Raskol in Riga verantwortlich. Unklare Disziplinierungskompetenzen ziviler und kirchlicher Behörden Zum Zankapfel zwischen zivilen und kirchlichen Würdenträgern konnte auch der Umstand werden, dass deren Kompetenzen hinsichtlich der Altgläubigen nicht in allen Fällen klar getrennt waren. Dies trifft insbesondere auf die Bestrafung von Altgläubigen für Verbrechen gegen den Glauben zu. Dem Erzbischof von Riga und Mitau war 1852 zu Ohren gekommen, dass es in Riga mehrere Orthodoxe gab, die mit Altgläubigen zusammenlebten, ohne in einer orthodoxen Kirche geheiratet zu haben. Nachdem der Erzbischof diese Paare ermahnt hatte, ihre Lebenspartnerschaften in der Kirche trauen zu lassen, und diese darauf nicht eingegangen waren, stellte sich die Frage, wie die Delinquenten zu bestrafen seien.296 Die Befürchtung auf Seiten der zivilen wie auch der kirchlichen Akteure war, dass Kinder aus solchen interkonfessionellen Verbindungen stets nach den alten Riten getauft würden und dadurch das Schisma gestärkt würde.297 293 Generalgouverneur Suvorov befand sich schon bei der Errichtung der Rigaer Eparchie 1850 in einem Konflikt zwischen Rücksichtnahme auf den deutschsprachigen Adel, der einer Stärkung der Orthodoxie ablehnend gegenüberstand, und seiner Verpflichtung gegenüber dem Zaren, welcher die Orthodoxie in den Ostseegouvernements ausbauen wollte. Gavrilin: Očerki po istorii Rižskoj eparchii 187 f. 294 LVVA F. 3, op. 10, d. 379, l. 7. 295 EAA F. 291, op. 8, d. 1490, l. 1 f. 296 RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 2 f. 297 RGIA F. 797, op. 24, d. 103, l. 1; RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 1; RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 5ob.
112 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Diese Verbindungen sollten daher entweder getrennt werden oder die Zusammenlebenden mussten ihre Lebenspartnerschaften in einer orthodoxen Kirche trauen und damit legalisieren lassen. Bezüglich der Trauung von Altgläubigen in orthodoxen Kirchen gab es in den Ostseegouvernements zwei sich widersprechende Erlasse des Heiligsten Synods. Ein Edikt vom 31. Juli 1853 forderte einen Anschluss der Altgläubigen an die Orthodoxie, bevor sie in einer orthodoxen Kirche heiraten durften.298 Die Gouvernements Kurland, Estland und Livland betreffend war jedoch elf Jahre zuvor, am 5. Mai 1842, ein Edikt erlassen worden, welches von dieser Konversionsforderung gegenüber Altgläubigen absah.299 Bemerkenswerterweise erkundigte sich Platon beim Oberprokuror des Heiligsten Synods, ob er Generalgouverneur Suvorov überhaupt vom Edikt des 31. Juli 1853 unterrichten durfte, da es sich um eine geheime Bestimmung des Synods handelte.300 Dieser Umstand ist deswegen so verwunderlich, da die Durchsetzung derartiger Erlasse den zivilen Behörden und damit in höchster Instanz innerhalb der Ostseegouvernements dem Generalgouverneur oblag. Entscheidende Beamte waren in einigen Fällen über wichtige Anordnungen der höchsten Regierungsorgane nur unzureichend in Kenntnis gesetzt worden.301 Platon erhielt einen positiven Entscheid des Synods. Generalgouverneur Suvorov sprach sich in der Folge dafür aus, dass die ältere, spezifisch die Ostseegebiete betreffende Regelung beibehalten werden solle, da er sich von der jüngeren Bestimmung nicht den gewünschten Effekt versprach: Die Altgläubigen selbst seien zu einem Übertritt zur Orthodoxie nur selten bereit, unter anderem weil sie sich dadurch in den Augen ihrer Glaubensgenossen diskreditierten. Verlangte man von den Altgläubigen bei ihrer Trauung allerdings keine Konversion, wie es im älteren Erlass vorgesehen war, so ließen sich einige Altgläubige in einer orthodoxen Kirche trauen, um ihre Kinder dadurch zu legalisieren und vor dem Status der illegitimen Kinder und den damit verbundenen Nachteilen302 zu bewahren. Gleichzeitig verpflichteten sich die Altgläubigen durch ihre Trauung in einer orthodoxen Kirche zur Taufe und Erziehung ihrer Kinder im orthodoxen Glauben. Auf lange Sicht, so die Argumentation des 298 RGIA f. 1284, op. 208, d. 449, l. 16 f. 299 Ebd., l. 16ob-19. 300 RGIA F. 797, op. 24, d. 95, l. 1 f. 301 Weitere Beispiele für den mangelhaften Kenntnisstand von leitenden Beamten in Livland: 1853 erkundigte sich der Generalgouverneur der Ostseegouvernements beim Innenminister, wie mit Kindern von Altgläubigen umzugehen sei, die aus illegitimen Ehen stammten. EAA F. 291, op. 8, d. 1806, l. 3ob. Am 3.5.1861 musste der Staatsbeamte für besondere Aufträge, Vladimir Aleksandrovič Sollogub, den Generalgouverneur darüber aufklären, dass Altgläubige durch einen Übertritt zum Edinoverie dem Militärdienst entgehen konnten. EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 10–11. 302 S. Kapitel 3.1.2 Illegitim Geborene erhielten keine Registrierung und entbehrten damit der nötigen Dokumente für eine höhere Bildung, einen Arbeitsplatz, einen Wohnort oder einen In- wie Auslandsausweis. Außerdem durften sie nicht als Erben eingesetzt werden.
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Generalgouverneurs, führe der alte Erlass eher dazu, dass Altgläubige der Orthodoxie angeschlossen würden, als das neue Edikt.303 Der Heiligste Synod war aber zu keinerlei Einlenken bereit und hielt an seiner Konversionsforderung gegenüber den altgläubigen Heiratswilligen fest.304 Dies zeigt, dass weltliche und geistliche Würdenträger unterschiedliche Vorstellungen davon hatten, wie das gemeinsame Ziel – der Anschluss der Altgläubigen an die Orthodoxie – zu erreichen sei. Darüber hinaus gab es zwischen diesen Parteien Uneinigkeit in der Frage, ob die Altgläubigen, die außerehelich mit Orthodoxen zusammenlebten, der Bußstrafe der Orthodoxen Kirche unterlagen. Die Orthodoxen unterlagen zweifellos der orthodox-kirchlichen Jurisdiktion. Daran, dass sie für ihre Zusammenschlüsse mit Altgläubigen mit bis zu sechs Monaten Klosterhaft und täglich 150 Verbeugungen bis auf den Boden zu rechnen hatten, ließ keiner der beteiligten Diskutanten Zweifel aufkommen.305 Der Heiligste Synod sprach sich in einem Edikt vom 31. Dezember 1855 dafür aus, dass Altgläubige der gleichen Strafe zugeführt werden sollten. Erzbischof Platon schloss sich dieser Entscheidung an und wies darauf hin, dass Orthodoxe zum Altgläubigentum übertreten würden, wenn die Altgläubigen nicht ebenso hart bestraft würden wie die Orthodoxen.306 Darüber hinaus hieß es im Edikt vom 31. Dezember 1855, dass die zivile Gesetzgebung die Altgläubigen nicht als eigenständiges Glaubensbekenntnis anerkenne, die Altgläubigen nicht über eine eigene Hierarchie verfügten und daher auch nicht der Aufsicht der Orthodoxen Kirche entzogen seien. Da sie die Bußregeln gemäß dem nach altem Stil gedruckten Steuermannbuch (staropečatnaja kormčaja kniga) anerkannten, unterlägen sie der Bestrafung durch die Orthodoxe Kirche.307 Der Rigaer Generalgouverneur und der Minister für Staatliches Eigentum, Vasilij Aleksandrovič Šeremetev, wandten sich gegen die Vorstellung des Heiligsten Synods und argumentierten, dass die Altgläubigen keinesfalls der kirchlichen Bußstrafe unterzogen werden könnten. Šeremetev zeigte sich in einem Schreiben an den Innenminister vom 30. Januar 1857 über das Edikt vom 31. Dezember 1855 empört. Die Altgläubigen respektierten die Orthodoxe Kirche nicht, sondern sähen sie als die vom wahren Glau 303 RGIA F. 1284, op. 208, d. 449, l. 16ob-19. 304 Ebd., l. 24. 305 RGIA F. 797, op. 24, d. 103, l. 2, 21–22ob. 306 Ebd., l. 25ob-26. 307 RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 16. Das Steuermannsbuch ist eine Sammlung des aus dem Griechischen übersetzten kodifizierten Kirchenrechts. Als Grundlage dieser Kodi fizierung dienten unterschiedliche Redaktionen des Nomokanons. 1653 wurde das Steuermannsbuch zum ersten Mal mit Autorisierung der Russisch-Orthodoxen Kirche gedruckt. In der Folge galt diese Sammlung des Kirchenrechts für das gesamte Moskauer Reich. Seit Pёtr I. verlor das Steuermannsbuch jedoch an Bedeutung. Günther-Hielscher, Karla/Glötzner, Victor/Schaller, Helmut Wilhelm: Real- und Sachwörterbuch zum Altrussischen. Neu bearbeitet von Ekkehard Kraft. Wiesbaden 21995, 125.
114 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) ben abgefallene an. Daher könne die orthodoxe Bußstrafe auch nicht auf sie angewandt werden. Dies werde die Altgläubigen nicht zur Konversion veranlassen, sondern nur ihren Widerstand wecken.308 Der Generalgouverneur und der Minister für Staatliches Eigentum waren sich darin einig, dass die Altgläubigen daher von den zivilen Gerichten verurteilt werden müssten. Auf diese Weise versuchten sowohl die Minister als auch der Heiligste Synod, die Bestrafung der Altgläubigen ihrem Zuständigkeitsbereich zuzuschlagen. Einer Bestrafung der Altgläubigen durch die zivilen Gerichte stand jedoch ein Hindernis im Weg. Es gab keine gesetzlich festgelegten zivilen Strafen für ihr Vergehen. Die Altgläubigen konnten lediglich für unsittliches Verhalten angeklagt und zu einem kurzen Arrest verurteilt werden. Die Erfahrung hatte jedoch gezeigt, dass sie ihr unbotmäßiges Verhalten nach ihrer Entlassung meist fortsetzten.309 Grund für die fehlenden Bestrafungsmöglichkeiten war, dass das Eherecht im Russländischen Reich Angelegenheit der religiösen Institutionen der staatlich anerkannten Glaubensgemeinschaften war.310 Dazu zählte auch die Disziplinierung der Gemeindemitglieder durch die religiösen Institutionen, sowohl auf Grundlage ihrer religiösen Regeln als auch staatlicher Bestimmungen.311 Die Regierung hatte lediglich ein Mindestalter für die Eheschließung aller Untertanen festgelegt und die Bigamie verboten, ausgenommen davon waren Angehörige des Islam.312 Eingang in den Gesetzeskodex von 1832 hatte nur das Ehe- und Familienrecht für Mitglieder der Orthodoxen Kirche gefunden.313 Für die Altgläubigen, die weder der Orthodoxie noch einer staatlich anerkannten Glaubensgemeinschaft angehörten, gab es entsprechende Regelungen und Disziplinierungsmaßnahmen nicht. In dieser Situation kam es zu Kompetenzstreitigkeiten zwischen kirchlichen und zivilen Beamten, die sich um die Frage drehten, ob die Altgläubigen dem orthodoxen Eherecht und damit auch der Bestrafung durch die orthodoxe Kirchenhierarchie unterlagen oder nicht. Handelte es sich bei den Altgläubigen prinzipiell um Angehörige der Orthodoxen Kirche oder waren sie der Aufsicht durch die Staatskirche entzogen? Im oben 308 RGIA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 21ob-22. 309 Ebd., l. 3ob-4, 8ob-9, 22ob. 310 Freeze: Jewish Marriage 74. 311 Ebd. 78. 312 Ebd. Dennoch hatte die Regierung ein Interesse daran, ein gewisses Maß an Einheitlichkeit im Bereich des Eherechts zu etablieren und bestimmte Praktiken zu beseitigen, die als schädlich für das Staatswesen angesehen wurden. Im Falle der Juden führte dies zur Schaffung der Rabbinischen Kommission und des Amts des Kronrabbiners. Die Rabbinische Kommission sollte als oberste Gerichtsinstanz der jüdischen Bevölkerung dienen, durch welche den Bestimmungen der Regierung Kraft verliehen werden sollte. Auf Ebene der Gemeinden sollten die neu eingesetzten Kronrabbiner die staatlichen Mindeststandards im Eherecht durchsetzen. Ebd. 74–95. 313 Über die Familienrechte und -pflichten. SZ , Bd. 10. St. Petersburg 1857, 1–72 (Art. 1–382).
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dargelegten Fall wurde diese Frage nicht entschieden, sondern die Angelegenheit schließlich der II. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei übergeben, die die bestehenden Gesetze über die Altgläubigen sammeln und ordnen sollte.314 Fehlende Disziplinierungsmöglichkeiten der Altgläubigen gab es nicht nur im Fall der Ehegesetzgebung. Im Jahr 1848 hatte sich der altgläubige Bauer Rodion Petrov Grech der Myza315 Allackivi der Orthodoxie angeschlossen. Er war aber nur in den drei darauffolgenden Jahren zur Beichte und der Eucharistie in die orthodoxe Kirche gekommen, in den folgenden Jahren nicht mehr. Auf Ermahnungen des örtlichen Priesters Lekarev und des Rigaer Erzbischofs reagierte er nicht. Über die Hartnäckigkeit des Altgläubigen verärgert, schlug Platon vor, Petrov vor ein Strafgericht zu bringen.316 Tatsächlich befand das Dorpater Landgericht Rodion Grech für schuldig.317 Doch sah seine Bestra‑ fung entsprechend geltenden Gesetzen lediglich weitere Ermahnungen durch die Geistlichkeit vor,318 was kein Einzelfall war.319 Ob anschließende Versuche Erzbischof Platons, Grech der orthodoxen Bußstrafe und der Klosterhaft zu unterziehen,320 Erfolg hatten oder nicht, ist leider nicht überliefert. In anderen Fällen scheiterten derartige Versuche jedoch: Die altgläubige Einwohnerin Rigas Aleksandra Turovskaja war von ihrer Mutter nach den alten Riten getauft worden, obwohl diese mit einem Orthodoxen verheiratet gewesen war. Im Jahr 1851 hatte der orthodoxe Priester der Blagoveščenie-Kirche, Sergej Svetlov, Aleksandra Turovskaja mehrere Male ermahnt, sich der Staatskirche anzuschließen. Doch sie reagierte auf diese Versuche nicht und auch nicht auf die Ermahnungen Erzbischof Platons. Das Geistliche Konsistorium beschloss daraufhin, dass Generalgouverneur Suvorov sie von der Rigaer Polizei in das Predteča-Kloster in Pskov bringen und der Aufsicht der Äbtissin unterstellen lassen solle.321 Diese Klosterhaft währte jedoch nicht lange. Denn Aleksandra Turovskajas Schwester, Natal’ja Turovskaja, die der Orthodoxie angehörte, beschwerte sich in einem Schreiben an den Oberprokuror des Heiligsten Synods. Ihre Schwester sei verhaftet, von einem Konvoi nach Pskov gebracht und dort wie eine Gefangene eingesperrt worden. Es sei ihr verboten, Kontakt mit der Außenwelt zu unterhalten, als sei sie eine Kriminelle. Außerdem werde Alek 314 RIGA F. 1284, op. 208, d. 447, l. 31. 315 Eine Myza ist die Bezeichnung für ein Gut, vergleichbar mit einem kleinen Dorf, welche vor allem in den Ostseegouvernements Verbreitung fand. 316 EAA F. 291, op. 8, d. 1879, l. 1 f. 317 Ebd., l. 12. 318 Ebd. 319 Ein weiteres Beispiel findet sich in EAA F. 914, op. 1, d. 1638, l. 65, in dem der orthodox getaufte Vasilij Korotkov vom Dorpater Landgericht für Abfallen von der Orthodoxie zum alten Glauben zu Ermahnungen durch die geistliche Leitung vor dem Rigaer Geistlichen Konsistorium verurteilt wird. Das livländische Hofgericht bestätigte dieses Urteil. 320 EAA F. 291, op. 8, d. 1879, l. 18 f. 321 RGIA F. 796, op. 134, d. 1883, l. 2–5.
116 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) sandra für die Landwirtschaft ihres Vaters benötigt.322 Ihre Beschwerde fand Gehör: Der Heiligste Synod verfügte in einem Erlass vom 16. November 1853, dass auf Aleksandra Turovskaja, die von Geburt an dem Raskol angehörte, nur durch Überzeugungsarbeit und durch Ermahnungen eingewirkt werden dürfe. Keinesfalls solle auf Mittel zurückgegriffen werden, die den Anschein von Verfolgungen hätten und zu denen die Eparchieleitung rechtlich keine Erlaubnis habe. Daher müsse Aleksandra »umgehend aus dem Kloster entlassen werden, und der zuverlässigen geistlichen Sphäre zur Ermahnung am Wohnort [Aleksandras] im Geiste des Sanftmutes und der christlichen Liebe übergeben werden«.323 Der Versuch des Geistlichen Komitees, die Altgläubige mit der Klosterhaft zu bestrafen, schlug fehl und Aleksandra Turovskaja wurde aus dem Predteča-Kloster entlassen. ✴ ✴ ✴ Altgläubige konnten von den zivilen Obrigkeiten mit nur sehr geringen Strafen belegt werden, die in den Augen der Beamten wenig Wirkung zeigten. Von Seiten der Kirche waren die Altgläubigen Ermahnungen und Belehrungen ausgesetzt, die in vielen Fällen ebenfalls wenig Einfluss auf ihr Verhalten hatten. Schärfere Maßnahmen, wie die Klosterhaft, waren gesetzlich für Altgläubige nicht vorgesehen und entsprachen nicht dem Ziel des Heiligsten Synods, das Verhältnis zwischen Altgläubigen und orthodoxer Geistlichkeit zu verbessern. Dem Generalgouverneur Suvorov blieb in einem Schreiben an den Erzbischof nichts anderes übrig als zu schließen: Fast alle Angelegenheiten über [die Altgläubigen] endeten ohne bedeutende Konsequenzen. Die Einen von diesen Abtrünnigen wurden mit kurzzeitigem Arrest bestraft, und Andere nur der geistlichen Belehrung zur Rückkehr in die Orthodoxie unterzogen, aber die Ermahnungen blieben fruchtlos.324
Dies hatte zur Folge, dass Altgläubige für ihre Vergehen straffrei ausgingen, während Anhänger der Orthodoxie für dieselben Verstöße mit harten Bußstrafen belegt werden konnten. Zwar wurden in der Praxis öffentliche Bußstrafen (epitimija), die Klosterhaft und der Ausschluss aus der Gemeinde für einige Monate bis hin zu einigen Jahren vorsahen,325 nur sehr selten verhängt – meistens
322 Ebd., l. 7–8. 323 Ebd., l. 9ob. 324 Schreiben Generalgouverneur Suvorovs an Erzbischof Platon vom 16.11.1849. EAA F. 291, op. 8, d. 1490, l. 1ob-2. 325 Freeze, Gregory L.: The Wages of Sin. The Decline of Public Penance in Imperial Russia, in: Batalden, Stephen K. (Hg.): Seeking God. The Recovery of Religious Identity in Orthodox Russia, Ukraine, and Georgia. DeKalb 1993, 53–82, hier 53.
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nur bei mehrfacher Wiederholung derselben Sünde;326 an einer prinzipiellen Ungleichheit im Umgang mit Orthodoxen auf der einen und Altgläubigen auf der anderen Seite änderte das jedoch nichts. Erzbischof Platon befürchtete, dass die Straffreiheit der Altgläubigen ein Beweggrund für Orthodoxe sein könnte, sich dem Altgläubigentum anzuschließen. Sie stand somit den Zielen entgegen, die die Regierung und die Staatskirche gegenüber den Altgläubigen verfolgten. Die fehlende Kontrolle der Verwaltung über die altgläubige Bevölkerung Der Altgläubige Artemij Karpov Sokolov war mit Kleopatra Nikonova verheiratet. Im Jahr 1853 lebte Sokolov in Riga und war im Arbeiter-Oklad der Stadt registriert. Seine Ehefrau und seine Kinder Ivan und Aleksandr lebten dagegen in St. Petersburg, wo Sokolov sie 16 Jahre zuvor zurückgelassen hatte. Die Listen der 8. Revision verzeichneten Kleopatra als verheiratet. Sie und ihre Kinder waren als Angehörige der Orthodoxen Kirche registriert. Artemij Sokolov war in Riga mit einer altgläubigen Meščanka aus Šlok, Praskov’ja Ivanova, zusammengezogen und hatte mit dieser zwei Töchter. Die Kommission zur Überprüfung und Korrektur der Revisionslisten über die Rigaer Schismatiker (Komissija učreždennaja dlja poverki i ispravlenija revizskich skazok o Rižskich raskol’nikach) erkundigte sich im Jahr 1853 bei Generalgouverneur Suvorov, ob die beiden unehelichen Töchter in den Revisionslisten bei ihrem Vater registriert werden sollten oder nicht.327 Der Generalgouverneur stellte klar, dass die illegitimen Töchter nicht bei ihrem Vater registriert werden durften.328 Das Beratende Komitee in Riga beriet darüber hinaus, wie Sokolov dafür zu bestrafen sei, dass er seine orthodoxe Familie verlassen und seine Kinder aus einer unehelichen Verbindung mit einer Altgläubigen nach den alten Riten hatte taufen lassen. Um diese Frage zu beantworten, musste festgestellt werden, ob Sokolov von Geburt an dem Raskol angehörte oder vom orthodoxen zum alten Glauben übergetreten war.329 Es folgte eine mehr als drei Jahre währende Untersuchung, ob Sokolov jemals Mitglied der Orthodoxen Kirche gewesen war. Daran beteiligt waren die oben genannte Kommission, die beiden Polizeimeister von Riga, der Generalgouverneur, der Erzbischof von Riga und Mitau, die St. Petersburger Polizeiverwaltung, der Priester der St. Petersburger Einzug-in-JerusalemGemeinde und weitere zivile und kirchliche Würdenträger. Um in den Matrikelbüchern der Orthodoxen Kirche nach einem Eintrag Sokolovs suchen zu können, musste dieser nach seinem Geburtsort und den Namen seiner Eltern
326 Ebd. 59. 327 LVVA F. 1, ob. 10, d. 1621, l. 1 f. 328 Ebd., l. 5. 329 Ebd., l. 8–8a.
118 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) befragt werden.330 In den Gemeindebüchern seiner Geburtsstadt Riga konnte kein Eintrag gefunden werden. Seine Ehefrau Kleopatra Nikonova sagte aus, dass er bei ihrer Eheschließung weder der Orthodoxie noch dem Edinoverie angehört hatte. Erzbischof Platon schloss nach dreieinhalb Jahren ergebnisloser Suche, »dass Artemij Sokolov, aller Wahrscheinlichkeit nach, seit seiner Geburt Schismatiker war«.331 Daher konnte er nicht für das Abfallen von der Orthodoxie, sondern lediglich für Ehebruch angeklagt werden. Zu einem Verfahren kam es gegen Sokolov jedoch nicht mehr, da dieser am 3. Februar 1857 im Alter von 53 Jahren verstarb.332 Die Obrigkeiten hatten große Probleme bei der Identifizierung einzelner Altgläubiger. Die religiösen Eliten der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse wurden unter Nikolaj I. dazu verpflichtet, die Matrikelbücher in ihren Gemeinden zu führen, in denen sie die Lebensdaten ihrer Mitglieder eintrugen. Den Altgläubigen wurde diese Pflicht nicht auferlegt, da dies eine Anerkennung ihrer Gemeindeleiter als geistliche Personen bedeutet hätte. Im Januar 1834 wurden den Altgläubigen in Riga entsprechende Bücher abgenommen.333 1839 verloren auch die priesterlichen Altgläubigen das Recht, Matrikelbücher zu führen.334 Dadurch ging die Regierung des zentralen Instruments zur Dokumentation der altgläubigen Bevölkerung und damit auch zur Identifikation einzelner Altgläubiger verlustig.335 Dies stellte die Bestrafung der Altgläubigen für Verbrechen gegen den Glauben vor das Problem, nicht mit Sicherheit feststellen zu können, ob ein Individuum von Geburt an dem Altgläubigentum angehörte oder ob es sich um einen Konvertiten handelte. Doch spielte diese Unterscheidung eine wichtige Rolle. Denn für die Zugehörigkeit zum Altgläubigentum durfte man nicht bestraft werden, sehr wohl aber für die Konversion vom orthodoxen zum alten Glauben. Die Verwaltung musste auf die Befragung der betroffenen Personen zurückgreifen und die Orthodoxe Kirche in den Gemeinderegistern ihrer Gemeinden nach diesen suchen lassen. Eine weitere Quelle der Dokumentation von Einzelpersonen waren die Revisionen der steuerpflichtigen Bevölkerung. Von 1718 bis 1857 wurden zehn solcher Revisionen durchgeführt.336 In den erstellten Listen wurden sämtliche 330 Ebd., l. 29 f. 331 Ebd., l. 33 f. 332 Ebd., l. 43 f. 333 SPR 124 (29.1.1834). 334 SPR 263 (5.5.1839). 335 Eine kulturelle Grenze zwischen der altgläubigen und der orthodoxen Bevölkerung gab es nicht, so dass diese beiden Bevölkerungsgruppen nicht anhand von sprachlichen oder modischen Unterschieden hätten unterschieden werden können. Das Verschwinden der kulturellen Grenze zwischen Juden und Nicht-Juden in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts beschreibt Avrutin als eines der größten Probleme bei der Identifizierung von jüdischen Individuen. Avrutin: Jews and the Imperial State 8–10. 336 [–]: Revizija 175.
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Personen und deren Familien verzeichnet, die Steuern zahlen und bei der Rekrutenaushebung teilnehmen mussten. Die Revisionen erfassten also nicht die Gesamtbevölkerung.337 In Livland dienten die Revisionslisten – in Ermangelung von Matrikelbüchern – als Grundlage für die Ausgabe von Dokumenten an die Altgläubigen. Sie benötigten eine Eintragung in den Revisionslisten, um Ausweise und Quittungen über Steuerzahlungen (tuziki) zu bekommen.338 Die Führung der Revisionslisten erwies sich in Livland allerdings als schwierig. Hofrat Šmit sollte im Auftrag des Generalgouverneurs Suvorov überprüfen, ob die Listen der 9. Revision in Livland korrekt geführt wurden. Er berichtete, dass die Altgläubigen in Riga, Vol’mar (lett. Valmiera) und Šlok (lett. Sloka) keine Zeugnisse über ihre Registrierung in der 9. Revision ausgehändigt bekämen. Der Dorpater Magistrat habe dagegen versäumt, in den Listen anzugeben, dass es sich bei den Registrierten um Altgläubige handelte. Und auch die in Kapitel 3.1.2. beschriebene Bestimmung, dass Frauen priesterloser Altgläubiger in der 9. Revision nicht als Ehefrauen ihrer Männer registriert werden sollten, wurde im Kreis Dorpat missachtet. Den Grund für diese fehlerhafte Buchführung sah Hofrat Šmit darin, dass die Bestimmungen über die Führung der Revisionslisten die Polizeibehörden in Livland zu spät erreicht und dass die Polizeibeamten kein ausreichendes Verständnis dieser Bestimmungen hätten.339 Dieses fehlende Verständnis konnte in der Folge offenbar nicht ausgeräumt werden, da bei der 10. Bevölkerungszählung im Jahr 1857 erneut die Frage aufkam, wie Familien der Altgläubigen in die Revisionslisten eingetragen werden sollten.340 Den Mangel verlässlicher Dokumentation über die altgläubige Bevölkerung konnte die Regierung auch nicht durch direkte Kontrolle der Altgläubigen mit Hilfe von Polizeibeamten ausgleichen, da sie infolge der stets nur spärlich gefüllten Staatskasse ohnehin unter Personalmangel litt.341 Stattdessen war sie auf die Mitarbeit der örtlichen Bevölkerung angewiesen, wenn sie ihre Herrschaft in die einzelnen Orte hinein ausdehnen wollte. Auf dem Land wurden Dorfbewohner in offizielle Ämter erhoben und auf diese Weise zu Helfern der Verwaltung gemacht.342 Der Generalgouverneur der Ostseegouvernements Suvorov beklagte sich 1857 gegenüber dem Innenminister Lanskoj, dass die Bevölkerung in vielen Dörfern am Peipussee beinahe ausschließlich dem alten Glauben angehöre, wodurch es für die örtliche Verwaltung unmöglich sei, in diesen Dörfern 337 Keppen: Devjataja revizija IX . 338 Dies forderte das Rigaer Beratende Komitee auf einer Sitzung am 5.11.1851. EAA F. 291, op. 8, d. 1690, l. 11. 339 LVVA F. 3, op. 1, d. 2469, l. 63–64ob. 340 SPR 528 (14.9.1857). 341 Hartley, Janet M.: Provincial and local government, in: Lieven, Dominic (Hg.): The Cambridge History of Russia. Bd. 2: Imperial Russia, 1689–1917. Cambridge 2006, 449–467, hier 455. 342 Feest: In Amt und Würden? 102.
120 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) einen Bezirksleiter343 zu wählen, der dem orthodoxen Glaubensbekenntnis angehörte. Durch die Wahl von Raskol’niki zu den Leitern der Siedlungen, welche gesetzliche Bestimmungen verletze,344 werde die gesellschaftliche Ordnung pausenlos erschüttert und es gebe keinerlei Möglichkeiten für die Verwaltung, die gesetzeswidrigen Aktivitäten der Altgläubigen in dieser Gegend zu unterbinden.345 Der Gouverneur von Livland Maksim Antonovič Ėssen und das Dorpater Ordnungsgericht wiesen darauf hin, dass dieses Problem zusätzlich durch die Tatsache verschärft werde, dass es in dem Gebiet am Westufer des Peipussees ganze 23 Dörfer der Raskol’niki gebe, sodass die örtliche Polizei ohne die Hilfe der Bezirksleiter keine Überwachung der Altgläubigen sicherstellen könne.346 Darüber hinaus dominierten die Altgläubigen in einigen Dörfern die Wahlen in ihren Gemeinden und setzten Personen auf die entsprechenden Posten, die ihnen wohlgesonnen waren. Am 11. Januar 1860 hatten die Altgläubigen, laut einem Bericht des Priesters von Voron’ja Michail Malein, den Kirchenältesten (cerkovnyj starosta) beschimpft und geschubst, als er das Bethaus der Altgläubigen abreißen und die Materialien für den Aufbau einer orthodoxen Kirche nach Voron’ja transportieren lassen wollte. Der Sotskij des Dorfes, Snetkov, behauptete, er habe diesen Vorfall nicht mitbekommen. Der verärgerte Priester Malein führte Snetkovs Aussage darauf zurück, dass er den Altgläubigen die Wahl zum Sotskij zu verdanken habe.347 Und auch der S otskij des Dorfes Meži auf der Insel Pirisaar, der Orthodoxe Ivan Ivanov Smolkin, sagte vor dem Dorpater Ordnungsgericht im Sinne der Altgläubigen aus. Sie waren vom orthodoxen Priester angeklagt worden, Gerüchte verbreitet zu haben, dass der Übertritt zum alten Glauben erlaubt sei.348 Um Altgläubige für ihre Vergehen zur Verantwortung zu ziehen, konnten auch nicht deren Gemeindeleiter haftbar gemacht werden. Sie standen der Regierung nicht als Ansprechpartner zur Verfügung, da sie nicht als geistliche Personen anerkannt wurden und sich dadurch jeder Verpflichtung entziehen konnten. Noch Ende der 1860er Jahre hatten die lokalen Autoritäten Schwierigkeiten, einen Verantwortlichen unter den Altgläubigen zu finden. 1869 wurde der altgläubige Kaufmann Semёn Petrov Rundal’cev unter altgläubigem Gesang und nach altgläubigen Riten auf dem städtischen Friedhof beerdigt. Dies 343 Zemskij Načal’nik: Beamter auf Ebene der ländlichen Gesellschaften (sel’skie ob ščestva) oder der Volosti, der Verwaltungsbefugnisse, vor allem Fragen der Landnutzung unter der bäuerlichen Bevölkerung, und niedere gerichtliche Kompetenzen innehatte. 344 Von 1820 bis 1863 durften Altgläubige, die nicht zu den besonders schädlichen Sekten gezählt wurden, lediglich die Aufgaben des Försters, des Desjatskij (Helfer des Sotskij, der polizeiliche Aufgaben in einer Siedlung hatte) und des Storož übernehmen. Maškovceva: Konfessional’naja politika 13. 345 RGIA F. 384, op. 6, d. 1328, l. 2ob-3. 346 Ebd., l. 4. 347 LVVA F. 7462, op. 1, d. 266, l. 10 f. 348 EAA F. 914, op. 1, d. 1638, l. 31–32ob.
Die Diskriminierung der Altgläubigen in Livland 121
verstieß gegen das Verbot einer öffentlichen Zurschaustellung des Raskol. Der Polizeimeister von Dorpat Oberst Jannau versuchte daraufhin den Leiter der Dorpater Altgläubigengemeinde Timofej Mašugov zur Verantwortung zu ziehen. Dieser wies die Verantwortung kurzerhand von sich. Er erklärte, dass ein gewisser Trofim Bainščikov die versammelten Altgläubigen zu öffentlichem Gesang angetrieben habe. In der Folge blieb dem Polizeimeister nichts anderes übrig, als nach diesem gewissen Bainščikov schicken und diesen ermahnen zu lassen.349 Die Gemeindeleiter der Altgläubigen wurden nicht als geistliche Personen anerkannt, die für Vergehen in ihren Gemeinden verantwortlich gemacht werden konnten. Mit ihrer Diskriminierung ging ein Verlust an Disziplinierungsmöglichkeiten für die Regierung einher. Die Beamten der Verwaltung mussten daher bei jeder Angelegenheit, die die Altgläubigen betraf, die betroffenen Personen selbst ausfindig machen und zur Verantwortung ziehen. Wie alle anderen Aufgaben der Verwaltung des Imperiums, die in niemandes Zuständigkeit fielen, wurde auch diese der Polizei übergeben.350 Doch konnten sich die gesuchten Personen häufig ihrer Bestrafung entziehen, indem sie in ein anderes Gouvernement gingen und sich so aus dem Zuständigkeitsbereich der örtlichen Behörden entfernten.351 Dementsprechend schlug Graf Sollogub 1860 vor, für die Dörfer Rajuš (estn. Raja), Nikitov352 und Tichotka (estn. Tiheda) je einen Altgläubigen offiziell zum Verantwortlichen zu ernennen, der für mögliche entstehende Ordnungswidrigkeiten zuständig war.353 Auf diese Weise sollte die Regierung bessere Kontrolle über die altgläubige Bevölkerung in den Dörfern am Peipussee erlangen und repressive Bestimmungen über die Altgläubigen zuverlässiger umsetzen können. Die lokale Verwaltung diskutierte daher darüber, ob sie für die Gemeinden am Peipussee einen für das Ufergebiet zuständigen Inspektor (pribrežnyj nadziratel’)354 einsetzen solle, um diesem Kontrollverlust Abhilfe zu schaffen. Auch die Orthodoxe Kirche versuchte seit der zweiten Hälfte der 1830er Jahre ihre Präsenz in den Ostseegouvernements zu verstärken. Im Jahr 1836 wurde das Rigaer Vikariat gegründet, welches dem Erzbischof von Pskov unterstand. Das Ziel bei der Einrichtung des Vikariats war die »Schwächung des in genannter Stadt [Riga, d. Vf.] unter den Bewohnern russischer Herkunft wach 349 EAA F. 291, op. 1, d. 12388, l. 10–11ob. 350 Hosking: Russland, S. 364. 351 EAA F. 291, op. 8, d. 1879, l. 6. 352 Welches Dorf hiermit gemeint sein soll, ist unklar. 353 EAA F. 1655, op. 2, d. 2986, l. 6. 354 Dieses Amt war 1819 durch den damaligen Generalgouverneur der Ostseegouvernements Filipp Paulučči geschaffen worden. Es diente damals dem Kampf gegen Landstreicher und den Schmuggel. Von 1819 bis 1842 hatte G. Karlan dieses Amt inne, nach ihm erklärte sich aber niemand mehr dazu bereit, da man für diese Aufgabe weder Bezahlung noch einen besonderen Titel verliehen bekam. RGIA F. 384, op. 6, d. 1328, l. 4 f.
122 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) senden Schismas«,355 wie Generalgouverneur Suvorov in einem Rechenschaftsbericht gegenüber dem Zaren 1850 bekannt gab. Eine der wichtigsten Aufgaben des ersten Rigaer Vikariatsbischofs Irinarch war die Mission unter den Altgläubigen und die Mission für das Edinoverie.356 Dies führte 1837 zur Umwandlung des Puškov-Bethauses der Altgläubigen in Riga in eine Edinoverie-Kirche.357 Elf Jahre später wurde in dem zuvor versiegelten Bethaus der Altgläubigen in Černyj die erste Edinoverie-Kirche am Peipussee eingerichtet und 1849 geweiht.358 Im Jahr 1850 folgte die Aufwertung des Rigaer Vikariats zu einer eigenständigen Eparchie, der die Gouvernements Livland und Kurland, seit 1865 außerdem Estland unterstanden. Erster Bischof der Rigaer Eparchie wurde Platon, der seit 1848 Vikariatsbischof in Riga gewesen war. Am 21. April 1850 wurde Platon in den Rang des Erzbischofs von Riga und Mitau erhoben.359 Grund für den Ausbau der orthodox-kirchlichen Infrastruktur in Riga waren allerdings nicht nur die Altgläubigen, sondern auch die insgesamt schwache Stellung der RussischOrthodoxen Kirche in dieser Region – insbesondere im Vergleich zur Evangelisch-Lutherischen Kirche. Nachdem in den 1840er Jahren Tausende estnischund lettischsprachige Lutheraner zur Orthodoxie übergetreten waren, musste die Orthodoxe Kirche in den Ostseegouvernements gestärkt werden, wollte man die neuen Konvertiten nicht wieder an das Luthertum verlieren.360 Die Anzahl der orthodoxen Kirchen in Livland wurde unter Nikolaj I. mehr als verdoppelt. 1846 gab es 26 Kirchen im gesamten Gouvernement und 1848 wurde beschlossen, weitere 36 Kirchen zu bauen, wovon bereits zwei Jahre später 24 errichtet worden waren.361 Am Peipussee wurden 1853 außerdem eine orthodoxe Kirche in Voron’ja und eine auf der Insel Pirisaar gegründet, wo es je schon eine Kirche des Edinoverie gab. Orthodoxe Gemeindeschulen wurden in Černyj, Nos, Voron’ja, Pirisaar, Lagepera (estn. Lahepera) und in Kol’kie eingerichtet. Außerdem waren in Černyj und in Loguza orthodoxe Kapellen aufgebaut worden.362 Der Beamte für besondere Aufträge des Generalgouverneurs Suvorov, Graf Vladimir Sollogub, kritisierte im September 1861 gegenüber dem General gouverneur dennoch den dürftigen strukturellen Ausbau der Orthodoxen Kirche in den Dörfern am nordwestlichen Ufer des Peipussees. In den Ortschaften von Loguza bis Tichotka breite sich der alte Glaube aus, auch in jenen Siedlungen, in denen der überwiegende Teil der Bevölkerung orthodox sei. Dies liege daran, dass es zu wenige Priester und orthodoxe Kirchengebäude gebe. Die Ein 355 Suvorov-Rymniksi: Rechenschafts-Bericht 539. 356 Gavrilin: Episkop Rižskij Irinarch 275. 357 Puchljak: Rižskie staroobrjadčeskie molennye 268 f. 358 Ponomarëva/Šor: Starovery Ėstonii 15. 359 Gavrilin: Očerki istorii Rižskoj eparchii 189. 360 Ebd. 184, 196 f. 361 Suvorov-Rymnikski: Rechenschafts-Bericht 540. 362 RGIA , F. 797, d. 24, op. 92, l. 20 f.
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wohner von Loguza müssten in die nächstgelegene Kirche, die sich im Dorf Černyj befand, einen Weg von 14 Werst (etwa 15 km) zurücklegen. Da sei es verständlich, wenn sie zu den Altgläubigen gingen und sich deren Lehre anschlössen.363 Und tatsächlich äußerte der Altgläubige Jakov Nikitin Baranin aus dem Dorf Kol’ki gegenüber Erzbischof Platon, dass er von Geburt an orthodox gewesen, später aber zum alten Glauben übergetreten sei, da es in den Ortschaften am Peipussee keine orthodoxen Kirchen gegeben habe.364 Es waren schlicht nicht ausreichend Priester vorhanden, um die Orthodoxen bei ihrem Glauben halten zu können. Erzbischof Platon wies außerdem darauf hin, dass am Peipussee mehr orthodoxe als Edinoverie-Kirchen gegründet worden waren, da er keinen Edinoverie-Priester kenne, der befähigt wäre, in effektiver Weise auf die Altgläubigen einzuwirken.365 Das Edinoverie scheint also ebenfalls mit Personalproblemen gekämpft zu haben. ✴ ✴ ✴ Die Verwaltung verfügte nicht über eine zuverlässige Dokumentation der altgläubigen Bevölkerung. Matrikelbücher durften die Altgläubigen nicht führen und die Listen der 9. Revision aus dem Jahr 1850 erwiesen sich als unzuverlässig. Altgläubige konnten daher nur schwer identifiziert werden und die Feststellung, ob ein Individuum von Geburt an dem Raskol angehörte oder im Laufe seines Lebens vom orthodoxen zum alten Glauben konvertiert war, erwies sich als langwieriger Prozess, der nur mit Hilfe der betroffenen Altgläubigen abgeschlossen werden konnte. Die Nichtanerkennung der altgläubigen Gemeindeleiter als geistliche Personen entzog der Regierung die Ansprechpartner unter der altgläubigen Bevölkerung, die für Vergehen der Gemeindemitglieder zur Verantwortung gezogen werden konnten. Die in der Einleitung beschriebenen Kontrollmechanismen des »confessional state« konnte die Regierung im Fall der staatlich nicht anerkannten Altgläubigen nicht nutzen, um Handhabe über diese zu erlangen. Die zahlenmäßige Dominanz der Altgläubigen in den Dörfern am Peipussee führte darüber hinaus dazu, dass sie die Wahlen der aus der Dorfbevölkerung gewählten untersten Beamten bestimmen konnten. Sie nutzten diese Einflussmöglichkeit, um Personen in diese Ämter zu wählen, die sich gegenüber den Polizeibehörden in ihrem Sinne aussprachen. Verschärft wurde das Kontrollproblem der Regierung über die Altgläubigen durch einen Personalmangel der zivilen Verwaltung und einen nur rudimentären Aufbau der Orthodoxen Kirche in Livland. Diese Umstände erschwerten die Verfolgung der Altgläubigen für so genannte Verbrechen gegen den Glauben. 363 EAA F. 1655, op. 2, d. 2986, l. 2 f. 364 LVVA F. 3, op. 10, d. 364, l. 12ob. 365 RGIA F. 797, d. 24, op. 92, l. 21 f.
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3.2.3 Der Widerstand der Altgläubigen Im Folgenden werden die Widerstandsformen der Altgläubigen gegen die Zerstörung ihrer religiösen Organisation und die Verfolgung einzelner Gemeindemitglieder für Verbrechen gegen den Glauben untersucht. Da die Altgläubigen mit wenigen Ausnahmen den bäuerlichen und unteren städtischen Bevölkerungsschichten – dem Meščanstvo – angehörten, bietet es sich an, an die Ergebnisse der Forschung über bäuerlichen Widerstand anzuschließen. Besonders nennenswert sind die Analysen von James C. Scott und Michael Adas. Scott interessiert sich in seiner Monografie »Weapons of the Weak«366 für bäuerliche Widerstandsformen in einem malaysischen Dorf in den 1980er Jahren. Adas wirft einen historisch interessierten Blick auf bäuerlichen Protest und bäuerliche Abwehrmechanismen auf Java und in Malaysia im 19. Jahrhundert.367 In beiden Untersuchungen ist der Widerstand der Bauern gegen Forderungen des Staates und der gutsbesitzenden Elite auf die Arbeitskraft und wirtschaftliche Produktion der Dorfgemeinschaft gerichtet. Hohe Forderungen von Rekruten und Abgaben in Form von Geld oder Naturalien empfanden die Dorfbewohner als Angriff auf das Wohlergehen ihrer Familie und Gemeinde und versuchten diese abzuwehren. Scott und Adas machen deutlich, dass Rebellionen und Aufstände368 bzw. direkte, gewaltsame Konfrontationen mit den Obrigkeiten369 die Ausnahme waren. Die bäuerliche Bevölkerung versuchte in der Regel den offenen Zusammenstoß mit den Beamten zu vermeiden. Unabhängig davon, ob man dies nun wie Scott »everyday forms of peasant resistance«370 nennt oder »avoidance protest«371 wie Adas, sind damit Unterschlagung, Flucht, falsche Konformität, simuliertes Nichtwissen und Verweigerung372 gemeint, die von Individuen oder Dorfgemeinden genutzt wurden, um unmittelbare, meist materielle Vorteile zu erlangen.373 Revolutionen, Bauernkriege und Aufstände374 stellten dagegen die existierende Ordnung in Frage, setzten auf institutionelle,
366 Scott, James C.: Weapons of the Weak. Everyday Forms of Peasant Resistance. New Haven, London 1985. 367 Adas, Michael: From Avoidance to Confrontation: Peasant Protest in Precolonial and Colonial Southeast Asia, in: Comparative Studies in Society and History 23 (1981), 217–247. 368 Scott: Weapons of the Weak xv. 369 Adas: From Avoidance 217. 370 Scott: Weapons of the Weak xvi. 371 Adas: From Avoidance 217. 372 Scott: Weapons of the Weak xvi. Adas: From Avoidance 217. 373 Scott: Weapons of the Weak 33. 374 Ebd. xvf. Werth, Paul W.: From Resistance to Subversion: Imperial Power, Indigenous Opposition, and Their Entanglement, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 1/1 (2000), 21–43, hier 23.
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öffentliche Konfrontation375 und hatten systematische, de jure Veränderungen zum Ziel.376 Da all dies auf die alltäglichen oder ausweichenden Widerstands formen nicht zutrifft, lassen sich diese auch als individuelle Selbsthilfe beschreiben, die informal, verborgen und defensiv ist. Die Untersuchung altgläubigen Widerstands in Livland schließt an die beschriebene Forschung an. Dabei werden drei Kategorien des Widerstands unterschieden. 1. Ausweichender Widerstand, der sich größtenteils mit Adas’ »ausweichendem Protest«377 deckt. Er geht von Individuen oder kleinen Personengruppen aus, mit dem Ziel individueller, unmittelbarer Vorteile. Eine direkte Konfrontation mit den Obrigkeiten wird vermieden. Beispiele für ausweichenden Widerstand sind Flucht, vorgeblicher Konformismus und Verweigerung. 2. Konfrontativer Widerstand, welcher sich unwillkürlich in direkter Auseinandersetzung mit den Obrigkeiten befindet, gleichzeitig aber noch keine »Bauernbewegung«,378 Revolution oder Rebellion ist, weil er größerer Planung und Koordination entbehrt sowie zeitlich und lokal stark begrenzt ist. Es kann zwischen defensivem konfrontativem Widerstand, der der Abwehr gegen den Zugriff auf das Individuum, die Familie oder die Gemeinde dient, und aggressivem konfrontativem Widerstand unterschieden werden, bei welchem die Widerstand Leistenden selbst aktiv werden, um ihre Situation zu verbessern, wobei sie in Konflikt mit den Obrigkeiten geraten. Bei beiden Formen handelt es sich um relativ spontane Akte der kollektiven Selbsthilfe von Dorfgemeinden gegen Zugriffe von außen. Beispiele für defensiven konfrontativen Widerstand 375 Scott: Weapons of the Weak 32 f. 376 Ebd. 33. 377 Adas versucht darüber hinaus, Abwehrmechanismen der Bauern gegen zu hohe Abgabeforderungen von bäuerlichem Protest zu unterscheiden, der sich ebenfalls gegen die Abgabeforderungen richtet. Mir scheint diese Unterscheidung unfruchtbar zu sein. Adas selbst gesteht zu, dass die Quellenlage eine klare Unterscheidung zwischen Protest und Widerstand sehr schwierig macht und kommt schließlich zum Schluss, dass die Obrigkeiten den bäuerlichen Widerstand explizit als Protest identifizieren müssen, damit dieser als solcher verstanden und untersucht werden kann (Adas: From Avoidance 219). Dagegen ist einzuwenden, dass die Obrigkeiten ebenfalls nicht immer klar unterscheiden konnten, ob bestimmte Handlungen der Bauern als Widerstand oder als Protest zu verstehen waren. Darüber hinaus stellt sich die Frage, ob nicht jegliche Abwehrmechanismen gegen hohe Abgabeforderungen als Protest bezeichnet werden können, da damit immer fehlendes Einverständnis mit der Höhe der Forderungen einhergeht. Ich verwende in meiner Kategorisierung den Begriff Protest nur für große Bewegungen, die ihr fehlendes Einverständnis mit der herrschenden Ordnung artikulieren, sodass in diesen Fällen kein Zweifel daran aufkommen kann, dass es sich um eine Protesthaltung der Akteure handelt. 378 Die Unterscheidung stärker konfrontativen Widerstandes von »Bauernbewegungen« geht zurück auf: Engel, Barbara Alpern: Women, Men, and the Languages of Peasant Resistance, 1870–1907, in: Frank, Stephen P./Steinberg, Mark D. (Hg.): Cultures in Flux. LowerClass Values, Practices, and Resistance in Late Imperial Russia. Princeton 1994, 34–53, hier 36 f.
126 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) sind Ungehorsam, das Verfassen von Bittschriften379 oder Handgreiflichkeiten gegenüber Beamten. Aggressiver konfrontativer Widerstand drückt sich in Brandstiftung oder Plünderungen auf dem Gut eines Gutsbesitzers oder eines Priesters aus. 3. Offener Protest, der eine Bewegung einer Bevölkerungsgruppe mit einem Zusammengehörigkeitsbewusstsein380 und gemeinsamen Zielen voraussetzt, welche nach einer de jure Veränderung herrschender Zustände strebt und dadurch die bestehende Herrschaftsordnung in Frage stellt. Offener Protest ist stets aggressiv und konfrontativ und wird von einer großen Bevölkerungsgruppe getragen, die untereinander gut vernetzt ist. Auf welche Formen des Widerstands griffen die livländischen Altgläubigen zurück? In nur sehr wenigen Fällen versuchten sie, die Versiegelung oder Zerstörung ihrer Bethäuser zu verhindern. Der Dorpater Kaufmann Ivan Rundal’cev leistete gegen die Schließung seines Bethauses keinerlei Widerstand. Zwar bat er Generalgouverneur Suvorov, das Bethaus wieder eröffnen zu dürfen, jedoch nur um es verkaufen zu können.381 Größere Hoffnungen machten sich fünf Altgläubige des Dorfes Černyj, als sie eine Bittschrift nach Riga schickten. Sie baten Generalgouverneur Golovin, ihr Bethaus entsiegeln zu lassen, da dieses vom Kreispolizeichef und vom orthodoxen Priester der Stadt Dorpat vollkommen zu Unrecht geschlossen worden sei. Sie versicherten dem General gouverneur, nur in Ruhe ihre altgläubigen Riten vollziehen zu wollen.382 Kritik am staatlichen Umgang mit den Altgläubigen im Russländischen Reich findet sich in der Bittschrift nicht. Stattdessen beschuldigten die Altgläubigen die örtlichen zivilen und geistlichen Würdenträger des ungerechten Umgangs mit ihnen und gingen davon aus, dass auch der Generalgouverneur dies für Unrecht halten und die Schließung des Bethauses wieder rückgängig machen würde. Andere versuchten der Zerstörung ihres Bethauses vorzubeugen. Den Altgläubigen des Dorfes Krasnye Gory war bekannt geworden, dass Bethäuser, die seit Ende der 1820er Jahre renoviert worden waren, von der Polizei geschlossen und letztendlich zerstört werden konnten. Laut einem Bericht des livländischen Gouverneurs an Suvorov hatten sie seit 13 Jahren keine Reparaturen an ihrem Bethaus mehr vorgenommen, um der Regierung keinen Anlass zu einer Schließung desselben zu geben.383 Das Beratende Komitee ließ das Bethaus dennoch zerstören.
379 Paul Werth weist darauf hin, dass Bittschriften zwar Unzufriedenheit mit der herrschenden Ordnung ausdrücken konnten, diese jedoch selten als Ganze in Frage stellten, sondern vielmehr bestimmte Missbräuche und Praktiken kritisierten. Werth: From Resistance to Subversion 28. 380 Adas: From Avoidance 228. 381 EAA F. 291, op. 8, d. 1651, l. 60 f. 382 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 27–28ob. 383 EAA F. 291, op. 8, d. 1520, l. 3 f.
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Lediglich in zwei Fällen gingen die Altgläubigen bei der Zerstörung bzw. Versiegelung ihrer Bethäuser auf Konfrontationskurs mit den Obrigkeiten. Am 11. Januar 1860 versammelten sich die Altgläubigen des Dorfes Kazapel’, als die Baumaterialien ihres zuvor zerstörten Bethauses abtransportiert werden sollten. Laut dem Bericht des Priesters von Voron’ja schubsten die Altgläubigen den Kirchenältesten, der mit dem Abtransport beauftragt war.384 Das Dorpater Ordnungsgericht riet dem orthodoxen Priester daraufhin, vom Abtransport abzusehen, um weitere Ausschreitungen zu verhindern.385 Zum gemeinsamen Widerstand versammelten sich auch die Altgläubigen in Riga. Arnol’d Podmazov, einer der besten Kenner der Geschichte der Rigaer Altgläubigen, schreibt, dass Generalgouverneur Suvorov das letzte Bethaus der Altgläubigen in der Stadt schließen lassen wollte. Im April 1859 schickte er den Polizeimeister der Stadt zusammen mit einigen Polizeibeamten zum Bethaus in der Moskauer Vorstadt. Als diese dort ankamen, versammelte sich die Gemeinde der Altgläubigen, mit Äxten und Haken bewaffnet. Um ein Blutvergießen zu vermeiden, musste der Polizeimeister unverrichteter Dinge abziehen; kurz darauf traf der Generalgouverneur höchstpersönlich zusammen mit einigen Soldaten ein. Die Altgläubigen drohten, den Generalgouverneur mit Steinen zu bewerfen, sodass auch dieser den Schauplatz verlassen musste. Das Bethaus in Riga sollte auch in Zukunft nicht mehr geschlossen werden. Podmazov bezieht sich in seiner Beschreibung der Ereignisse auf einen Bericht Nikolaj Leskovs, den er leider nicht zitiert,386 weshalb die entsprechende Passage Leskovs nicht gefunden werden konnte. In seinem Aufsatz »Die Arbeit des Herodes«387 schreibt Leskov jedoch, dass Augenzeugen berichteten, Suvorov sei eines Tages auf seinem Pferd vor dem Bethaus erschienen und habe das versammelte Volk wutentbrannt angeschrien. Ob Suvorov tatsächlich das Bethaus schließen lassen wollte, erwähnt Leskov leider nicht. Die versammelten Altgläubigen riefen Suvorov – laut Leskov – zu, dass er verschwinden solle und begannen besagte Steine aufzuheben. Hätte Suvorov nicht auf der Stelle kehrtgemacht, so die von Leskov befragten altgläubigen Zeugen, »hätten die unsrigen ihm einen russischen Krieg gemacht«.388 Was auch immer der Grund für Suvorovs Erscheinen vor dem Bethaus in der Moskauer Vorstadt gewesen sein mag, der Widerstand der Altgläubigen ließ ihn von seinem Vorhaben absehen und hat möglicherweise die Schließung des letzten Bethauses der Rigaer Altgläubigen verhindert. Stärkeren Widerstand legten die Altgläubigen gegen Versuche des Staates an den Tag, ihre Kinder gewaltsam orthodox zu taufen. Der Altgläubige Vasilij 384 LVVA F. 7462, op. 1, d. 266, l. 10 f. 385 Ebd., l. 12 f. 386 Podmazov: Rižskie starovery 119. 387 Leskov: Irodova rabota. 388 Ebd. 197.
128 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Korotkov, der in Meži auf der Insel Pirisaar lebte, war 1854 in Dorpat zur Orthodoxen Kirche übergetreten.389 Er hoffte durch seine Konversion der Bestrafung für einen von ihm begangenen Diebstahl entgehen zu können.390 Bei dieser Gelegenheit hatte er auch seine Kinder orthodox taufen lassen.391 Nach der Untersuchung des Diebstahls in Dorpat war Korotkov zusammen mit seinen Kindern nach Meži zurückgekehrt. Dort besuchten weder er noch seine Kinder die orthodoxe Kirche und Korotkov weigerte sich gegenüber dem örtlichen Priester, sich oder seine Kinder in die Hände der Orthodoxie zu übergeben.392 In der Folge wurden Korotkov und seine Lebensgefährtin Praskov’ja Alekseevna wiederholt vor das Dorpater Ordnungsgericht bestellt und der Erziehung ihrer Kinder nach der Lehre der Altgläubigen sowie der »Verführung zum R askol« (sovraščenie v raskol)393 angeklagt.394 Doch die beiden Altgläubigen hielten an ihrer Weigerung fest, die Kinder in die orthodoxe Kirche zu schicken.395 Praskov’ja sagte vor dem Dorpater Ordnungsgericht aus: [W]eder er [Vasilij Korotkov] noch ich werden je von [dem Altgläubigentum] abfallen und, was man auch gegen uns unternehmen mag, dafür Sorge tragen, daß unsere Kinder nicht nach den Grundsätzen der rechtgläubigen Kirche unterrichtet und erzogen werden, sondern wie wir bis an ihr Ende im Raskol verbleiben sollen. Ein jedes Bemühen, uns von diesem Vorsatz abwendig zu machen, ist durchaus vergeblich und zwecklos.396
Das Dorpater Landgericht befand beide Angeklagten für schuldig.397 Das livländische Hofgericht musste diesem Urteil jedoch widersprechen, da die Schuld Praskov’jas nicht erwiesen und Vasilij Korotkov zwar für die Erziehung seiner Kinder nach der Lehre der Altgläubigen zu bis zu zwei Jahren Haft zu verurteilen sei, das Gnadenmanifest anlässlich der Thronbesteigung Aleksandrs II. jedoch alle Angeklagten begnadige, welche nicht zum Verlust ihrer persönlichen oder Standesrechte verurteilt wurden.398 Vasilij Korotkov und Praskov’ja
389 EAA F. 914, op. 1, d. 1638, l. 19. 390 Ebd., l. 19 f. Tatsächlich war Korotkov nach seiner Konversion vom Ordnungsgericht wieder auf freien Fuß gesetzt worden. Die Praxis, Konversionswillige von Strafen für zivile oder strafrechtliche Vergehen zu befreien, gab es nicht nur im Fall der Altgläubigen. Weißrussische katholische Bauern, die zur Verbannung verurteilt wurden, konnten ihrer Bestrafung entgehen, wenn sie konvertierten. Staliūnas: Making Russians 146. 391 EAA F. 914, op. 1, d. 1638, l. 19 f. 392 Ebd., l. 9 f. 393 Ebd., l. 4 f., 19–22, 31–32ob, 53. 394 Ebd. 395 Ebd., l. 19 f., 65 f. 396 Ebd., l. 89–91. 397 Ebd., l. 114ob-115. 398 PSZ II, Bd. 31, Nr. 30877, 785–792 (26.8.1856).
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lekseevna gingen daher straffrei aus. Ihre Kinder sollten dennoch orthodoxen A Verwandten oder Vormündern zur Erziehung übergeben werden.399 Der Fall Dar’ja Jakovlevas stellte die lokalen Behörden vor noch größere Probleme. Die Altgläubige war von ihrem Lebensgefährten und Vater ihrer Kinder Maksim Osipov Koponov verlassen worden. Maksim Koponov war der Orthodoxie beigetreten und hatte den Dorpater Oberpriester gebeten, seinen neun Jahre alten Sohn Matvej ebenfalls der Orthodoxen Kirche anzuschließen. Was mit seiner wenige Monate alten Tochter Anastasija geschehen werde, interessiere ihn hingegen nicht.400 Tatsächlich sah eine Bestimmung vom 25. Oktober 1847 vor, dass illegitime Kinder, die bei unverheirateten altgläubigen Frauen lebten, orthodox getauft werden sollten.401 Dar’ja Jakovleva weigerte sich jedoch, ihre Kinder orthodox taufen zu lassen. Alle Ermahnungen des Dorpater Ordnungsgerichts und des Dorpater Oberpriesters Alekseev stießen bei ihr auf taube Ohren.402 Mitte des Jahres 1856 gelang es der Landpolizei (zemskaja policija), Jakovlevas Tochter Anastasija zum Priester von Nos zu bringen, der diese orthodox taufte.403 Ihren Sohn Matvej hielt Dar’ja Jakovleva versteckt. Das Ordnungsgericht berichtete dem livländischen Gouverneur, dass die Altgläubige am 24. Juli 1856 das Dorf Kol’ki zusammen mit ihrem Sohn verlassen habe, zu einem Ort im Kreis Gdov (in der Nähe von Pskov) gereist und anschließend ohne ihren Sohn an den Peipussee zurückgekehrt sei. Wo sie diesen versteckt hatte, verriet Dar’ja nicht.404 Die Angelegenheit kam schließlich vor das livländische Hofgericht, welches die Altgläubige Ende des Jahres 1858 von der Anklage freisprach, ihren Sohn zum Schisma verführt zu haben; die Begründung für diese Entscheidung lautete, dass sie bereits ihre Tochter gegen ihren Willen habe orthodox taufen lassen müssen.405 Der Rigaer Erzbischof, der mit diesem Urteil nicht zufrieden war, wollte sich damit an den Regierenden Senat wenden.406 Dieser Wunsch wurde jedoch nicht erfüllt. Zumindest war Matvej am 17. Januar 1860 noch immer nicht getauft worden und Dar’ja Jakovleva hatte keine Bestrafung erfahren, als sie ein Schreiben an den Rigaer Generalgouverneur richtete. Darin diskreditierte sie den Vater ihrer Kinder, Maksim Osipov, als Trunkenbold, der zuerst seine Familie ruiniert und dann Selbstmord be 399 EAA F. 914, op. 1, d. 1638, l. 115ob. Schon bei der Thronbesteigung Nikolajs I. und auch später unter Aleksandr III. sowie anlässlich des 300-jährigen Herrschaftsjubiläums der Romanovs unter Nikolaj II. wurden Altgläubige, die vor Gericht standen, durch Gnaden manifeste freigesprochen. Stadnikov: Moskovskoe staroobrjadčestvo 74 f. 400 EAA F. 291, op. 1, d. 15891, l. 1 f. 401 Ebd., l. 22. 402 Ebd., l. 9 f. 403 Ebd., l. 14. 404 Ebd., l. 16 f. 405 Ebd., l. 39–40. 406 Ebd., l. 40ob.
130 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) gangen habe. Die orthodoxe Geistlichkeit dränge sie nun aus ihr unbekannten Gründen, ihren gemeinsamen Sohn orthodox taufen zu lassen. Dar’ja wusste nicht mehr, wo sie Matvej vor den Übergriffen verstecken sollte und wandte sich an den Generalgouverneur in der Hoffnung, dass dieser ihre Familie vor den Verfolgungen der Orthodoxen Kirche schützen würde.407 Die Bittschrift scheint Eindruck auf Generalgouverneur Suvorov gemacht zu haben. Sein Brief an den Rigaer Erzbischof ist nicht erhalten, dafür aber dessen Antwortschreiben vom 9. März 1860. Platon erklärte sich damit einverstanden, dass auf die Bitte Dar’ja Jakovlevas eingegangen und ihr Sohn Matvej im alten Glauben belassen werde, wenn sich die Mutter dazu bereit erkläre, ihre Tochter Anastasija, die bereits mit der Orthodoxen Kirche vereinigt wurde, nach der orthodoxen Lehre zu erziehen und sie in die Kirche zu schicken.408 Weder die zivilen noch die kirchlichen Behörden wussten sich zu helfen, wie sie dem Widerstand Dar’ja Jakovlevas begegnen sollten, und zeigten sich am Ende zu einem Kompromiss bereit. Doch wollte Dar’ja auch auf diesen Kompromiss nicht eingehen und ihre Tochter nicht orthodox erziehen.409 Ob diese Hartnäckigkeit weitere Folgen hatte, ist nicht überliefert. Als Generalgouverneur Suvorov obdachlose Waisenkinder von der Polizei verhaften und anschließend orthodox taufen ließ, setzten sich die Rigaer Altgläubigen zur Wehr. Angehörige dieser Kinder, ihre »Tanten«410 und Geschwister kamen zum Zeitpunkt der Myronsalbung in die Kirchen gestürmt und beklagten sich dort lauthals über das verübte Unrecht.411 Die Altgläubige Marfa Karpova Micheeva, deren Bruder Andrijan Micheev mit der Orthodoxie vereinigt werden sollte, klagte so laut, dass sich ihr auf ihrem Weg zur Kirche einige neugierige Passanten anschlossen, während sie auf ihren Bruder einredete, dass er sich gegen die Myronsalbung zur Wehr setzen solle. Tatsächlich wehrte sich ihr Bruder mit Händen und Füßen gegen Priester Svetlov, welcher schließlich davon absehen musste, Andrijan orthodox zu salben. Marfa Karpova und ihr Bruder wurden daraufhin inhaftiert; Andrijan erklärte sich nach einiger Zeit zum Übertritt zur Orthodoxie bereit und Marfa wurde auf unbestimmte Zeit in Haft belassen.412
407 Ebd., l. 41 f. 408 Ebd., l. 44. 409 Ebd., l. 49 f. 410 Da die Ehen der Altgläubigen staatlich nicht anerkannt wurden und viele Altgläubige Rigas ehelos miteinander zusammen lebten, könnte es sich bei diesen Tanten ebenso gut um die leiblichen Mütter der Kinder gehandelt haben. Doch sind die tatsächlichen Verwandtschaftsverhältnisse der hier Beteiligten aufgrund der Darstellungsweise der imperialen Beamten nicht aufzuklären. 411 Leskov: Irodova rabota 194. 412 Ebd.
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In den beschriebenen Fällen gerieten die Altgläubigen in Konflikt mit den Obrigkeiten. Dennoch hielten sie an ihrer Verweigerung fest, sich oder ihre Kinder der Orthodoxie anzuschließen; dies bereitete den lokalen Behörden erhebliche Probleme. Der Konflikt war dabei nicht von den Altgläubigen selbst ausgegangen. Es handelte sich lediglich um die Abwehr von Übergriffen auf ihre Kinder. Wenn möglich, griffen die Altgläubigen auf ausweichende Formen des Widerstands zurück. So gingen sie auf Belehrungen orthodoxer Priester, sich der Orthodoxen Kirche anzuschließen, nicht ein oder weigerten sich, Gesprächsangebote der Priester anzunehmen. Der Dorpater Oberpriester Berezskij schrieb dem Bischof von Riga, dass er die Altgläubigen des Dorfes Krasnye Gory ermahnt hatte, sich der Orthodoxie anzuschließen, nachdem ihr Bethaus zerstört worden war. Er musste jedoch berichten, dass sämtliche Altgläubige des Ortes »aufgrund ihrer Ignoranz und Verwurzelung im Raskol […] sich nicht bereit erklären, die Orthodoxie oder das Edinoverie anzunehmen«.413 Sie hätten dem Oberpriester auf seine Versuche geantwortet: Belass uns darin, worin wir geboren sind, und worin wir sterben wollen; für unsere Taten und Verirrungen werden wir selbst Gott Antwort geben; wir sind viele auch in Riga und in St. Petersburg und wir sind überall.414
Diese Aussage zeugt von dem Bewusstsein der Altgläubigen, eine zusammengehörige, zahlenmäßig große Gruppe zu sein und gibt einen Hinweis auf die Vernetzung der Altgläubigengemeinden untereinander, auch über Livland hinaus. Die Gemeindeleiter am Peipussee stammten aus Dorpat, Riga oder Reval.415 Und die Kaufleute der Altgläubigen in unterschiedlichen Städten unterhielten Handelskontakte untereinander wie der Dorpater Kaufmann Ivan Rundal’cev mit Vasilij Chmel’nickij in Pskov.416 Das Gefühl der Zusammengehörigkeit mag der Grund gewesen sein, dass auch weitere Ermahnungen des Priesters keinen Erfolg hatten. Als drei Jahre später der Priester von Nos die Altgläubigen in Krasnye Gory besuchte und belehren wollte, antworteten sie noch immer: »Was will die Obrigkeit von uns? Falls sie wünscht, dass wir alle orthodox wären, dann schreib auf, dass dies noch nie so war und freiwillig so auch nie sein wird.«417 Die Altgläubigen des Dorfes Voron’ja versuchten, sämtlichen Gesprächen mit dem lokalen Priester auszuweichen. So sagte der Altgläubige D mitrij Karpov Remelev vor dem Ordnungsgericht aus:
413 EAA F. 291, op. 8, d. 1520, l. 27. 414 Ebd., l. 27 f. 415 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 44–51ob. 416 Nachdem Rundal’cevs Gebäude in Dorpat geschlossen war, entnahm er ohne Erlaubnis dessen Inventar und wollte es an den Pskover Kaufmann Chmelnickij verkaufen. EAA F. 291, op. 8, d. 1651, l. 46 f. 417 EAA F. 291, op. 8, d. 1520, l. 39 f.
132 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) Wir [die Altgläubigen des Dorfes Voron’ja, d. Vf.] fürchten uns im Allgemeinen davor, mit dem Geistlichen Malein ein noch so gleichgültiges Gespräch zu führen, da uns leider nur zu gut bekannt ist, daß er unseren unschuldigsten Worten eine falsche, uns schädliche Deutung zu geben liebt.418
Auf diese Weise wichen die Altgläubigen der Konfrontation mit den Obrigkeiten aus, indem sie sich den Ermahnungen und Belehrungen der orthodoxen Priester verweigerten oder ihnen aus dem Weg gingen. Die lokale Verwaltung wusste sich meist nicht anders zu helfen als die Altgläubigen erneut ermahnen zu lassen. Darüber hinaus machten sich in den Dörfern am Peipussee nach dem Tod Nikolajs I. bald Gerüchte breit, dass nun bessere Zeiten für die Altgläubigen anbrechen würden,419 was die Missionsversuche der orthodoxen Geistlichen weiter erschwerte. Das oben genannte Zitat des Altgläubigen Dmitrij Karpov Remelev führt das schlechte Verhältnis der Altgläubigen zu den orthodoxen Priestern vor Augen. Dieses mag ein Grund dafür gewesen sein, dass die Altgläubigen niemals Bittschriften an die orthodoxe Kirchenhierarchie richteten, sondern stets an zivile Beamte – häufig in der Hoffnung, vor Übergriffen der orthodoxen Geistlichkeit beschützt zu werden. Bestes Beispiel hierfür ist die bereits erwähnte Bitte Dar’ja Jakovlevas an den Rigaer Generalgouverneur, sie und ihr Kind vor den Verfolgungen des Dorpater Priesters zu schützen.420 Die Bittgesuche der Altgläubigen hatten selten Erfolg. Sie zeigen jedoch, dass die Altgläubigen hofften, die zivilen Autoritäten würden sie vor Benachteiligungen und Verfolgungen beschützen. Diese Hoffnung war oft mit der Vorstellung verbunden, dass alle repressiven Maßnahmen gegen die Altgläubigen von der Orthodoxen Kirche ausgingen. Nicht in allen Fällen leisteten die Altgläubigen Widerstand; einige gaben dem Druck von Staat und Kirche nach. Im Jahr 1848 schlossen sich etwa 300 der schätzungsweise 750421 Altgläubigen des Dorfes Černyj nach dem Umbau ih 418 EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 18ob. 419 EAA F. 291, op. 8, d. 1520, l. 43ob. Darius Staliūnas bezeichnet in seiner Untersuchung der staatlichen Politik gegenüber den weißrussischen Katholiken, die zur Konversion zum orthodoxen Glauben gebracht werden sollten, Gerüchte als eines der wichtigsten Mittel des Widerstandes gegen solche Versuche. Staliūnas: Making Russians 156. 420 Auch Paul Werth beobachtet, dass Bittschriften stets an diejenigen Behörden gerichtet wurden, von denen sich die Bittsteller das größte Verständnis für ihre Bitten erhofften. Werth: From Resistance to Subversion 28. Weitere Bittschriften an die Generalgouverneure richteten die Altgläubigen von Černyj, in denen sie darum baten, ihr Bethaus wieder eröffnen zu lassen, nachdem es versiegelt worden war. S. Kapitel 3.2.1. Und die Altgläubigen des Kreises Dorpat baten Generalgouverneur Suvorov, dass sie von der Pflicht befreit würden, Plakatausweise zu tragen, in denen sie als unverheiratet registriert waren, obwohl sie nach den alten Riten getraut worden waren. LVVA F. 3, op. 1, d. 105 f. 421 Zwei Jahre zuvor lebten in Černyj laut einem Bericht des livländischen Gouverneurs an den Generalgouverneur vom 8.8.1846 731 Altgläubige; außerdem lebten in dem Dorf 238 Orthodoxe und zehn Edinovercy. EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 4ob.
Die Diskriminierung der Altgläubigen in Livland 133
res Bethauses in eine Edinoverie-Kirche dem Einglauben an.422 Allerdings mutmaßte Generalgouverneur Suvorov, dass die meisten Edinovercy in Černyj nur vordergründig zum neuen Glauben übergetreten seien.423 Tatsächlich war die Zahl der Eingläubigen in Černyj etwa 25 Jahre später auf 273 gesunken, während die Altgläubigen mit 1.715 Einwohnern mittlerweile 41 Prozent der Bevölkerung Černyjs ausmachten.424 Auf längere Sicht war dem Edinoverie in Livland kein Erfolg beschieden. Doch welche Gründe bewegten die Altgläubigen, zur Orthodoxen Kirche überzutreten? Konversionen sind in vielen Fällen mit interkonfessionellen Eheschließungen verbunden. Ehen bzw. ehelose Partnerschaften zwischen Altgläubigen und Orthodoxen hat es in Livland zwar gegeben und die Regierung erließ mehrere Gesetze zu diesem Thema, doch war die Sorge ziviler und kirchlicher Autoritäten in erster Linie, dass die orthodoxen Partner solcher Verbindungen in fast allen Fällen zum Altgläubigentum übertraten.425 Die Hoffnung, dass interkonfessionelle Ehen die Altgläubigen der Orthodoxen Kirche näher bringen könnten, wurde in Regierungs- und Kirchenkreisen unter Nikolaj I. nicht gehegt und es finden sich auch keine priesterlichen Berichte über derartige Konversionserfolge. Ehen und Lebenspartnerschaften zwischen Altgläubigen und Orthodoxen können als Hauptgrund für Konversionen von Altgläubigen zur Orthodoxie daher ausgeschlossen werden. Mehr Aufschluss gibt ein Bericht Erzbischof Platons an den Heiligsten Synod, in welchem er die Übertritte der livländischen Altgläubigen zur Orthodoxie unaufrichtig nennt. Grund für die Konversion seien nicht die religiösen Überzeugungen der Konvertiten, sondern weltliche Vorteile, die sie dadurch erlangten. Sie konnten durch ihre Konversion dem Militärdienst oder den Bestrafungen für bestimmte Vergehen entgehen. Aus diesem Grund kehrten die Konvertiten bald wieder zum alten Glauben zurück.426 Zwei Einwohner des Dorfes Tichotka, Savva Ermolaev und Ivan Borobkov, gaben bei einer Untersuchung vor dem Dorpater Ordnungsgericht zu, dass sie nur in der Absicht zum E dinoverie übergetreten waren, dem Militärdienst zu entgehen. Nun aber wollten sie wieder dem alten Glauben angehören.427 Andere versuchten, laut Erzbischof Platon, durch einen Übertritt zur Orthodoxie ihre als außerehelich gezeugten und da-
422 Ponomarёva/Šor: Iz istorii edinoverija 15. 423 Ebd. 15 f. 424 Ebd. 17 f. 425 Schreiben des Innenministers an den Oberprokuror des Heiligsten Synods vom 11.11.1854, in welchem er die Meinung des Beratenden Komitees in Riga wiedergibt. RGIA F. 797, op. 24, d. 103, l. 2 f. 426 Bericht Erzbischof Platons vor dem Heiligsten Synod am 23.12.1857. RGIA F. 797, op. 24, d. 92, l. 19. 427 EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 10 f.
134 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) mit als illegitim angesehenen Kinder zu legitimieren.428 Die in Kapitel 3.1.2. beschriebenen weltlichen Anreize, die der Staat für den Übertritt zur Orthodoxie gesetzlich festgelegt hatte, waren einigen Altgläubigen bekannt geworden. Sie wollten von diesen Vorteilen Gebrauch machen, gleichzeitig aber keineswegs ihre altgläubige Gemeinde und ihre religiösen Überzeugungen verlassen. Die staatlichen Anreize allein konnten einen festen Anschluss der Altgläubigen an die Orthodoxie und damit eine Überwindung der Schismas der Staatskirche daher nicht gewährleisten. Als weiteren Grund für den erneuten Rückfall zum alten Glauben sah Platon den Einfluss der Altgläubigen an, die nicht konvertiert waren.429 Der Dorpater Oberpriester Alekseev teilte diese Meinung430 und beschuldigte die Altgläubigen der Dörfer am Peipussee, im Allgemeinen schlecht auf die Orthodoxen einzuwirken. So beschwerte er sich am 12. September 1856 bei Erzbischof Platon, dass die Altgläubigen des Kreises Dorpat an Sonn- und Feiertagen zum Fischen auf den See führen, um ihre orthodoxen Nachbarn vom Kirchgang an diesen Tagen abzuhalten. Da Letztere fürchten müssten, selbst nichts mehr fangen zu können, führen sie ebenfalls zum Fischen hinaus und die Kirchen blieben leer.431 Doch war das Verhältnis zwischen Altgläubigen und Konvertiten tatsächlich so schlecht wie von den kirchlichen Würdenträgern beschrieben? Anna Egorova berichtete dem Dorpater Oberpriester Alekseev, dass sie sich zusammen mit ihrem Ehemann der Orthodoxie angeschlossen habe. In der Folge sei sie von ihren Nachbarn im Dorf Rajuši, Sergij Charlamov und dessen Lebensgefährtin Vasilisa Potanova sowie dessen Bruder Ivan Charlamov, verspottet und geschlagen worden, so dass sie am 2. Februar 1858 ein totes Kind zur Welt gebracht habe. Die Angeklagten hätten dies als Strafe Gottes für ihre Abkehr vom alten Glauben bezeichnet.432 Das Dorpater Ordnungsgericht stellte daraufhin eine Untersuchung an. Sergij Charlamov bestritt sämtliche Anschuldigungen und berichtete von einem Streit, den er und seine Lebensgefährtin vor etwa einem Jahr mit Anna Egorova und ihrem Mann gehabt hätten. Bei diesem habe Anna Egorova seiner Frau Vasilisa Potanova aus heiterem Himmel einen Eimer schmutzigen Wassers über den Kopf gegossen und ihn selbst mit dem Spaten schlagen wollen. Da dieser Streit aber beigelegt worden sei und sie seitdem in gegenseitigem Einvernehmen miteinander lebten, verstehe er ihre 428 RGIA F. 797, op. 24, d. 92, l. 28. 429 EAA F. 291, op. 1, d. 15963, l. 3ob. 430 Im bereits zitierten Fall Vasilij Korotkovs, der sich für die Erziehung seiner Kinder vor dem Dorpater Ordnungsgericht verantworten musste, musste dessen Lebensgefährtin Praskov’ja auf Initiative Alekseevs eine Verpflichtung unterschreiben, dass sie keinen schlechten Einfluss auf Korotkov in Bezug auf dessen Übertritt zur Orthodoxie ausüben werde. EAA F. 914, op. 1, d. 1638, l. 19ob. 431 LVVA F. 3, op. 10, d. 383, l. 1 f. 432 EAA F. 291, op. 1, d. 15966, l. 2 f.
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Anklage nicht. Auch Ivan Charlamov stritt ab, dass er jemals jemanden wegen des Übertritts zur Orthodoxie beleidigt habe. Doch auch er habe mit Egorova einen Streit gehabt, bei welchem er ihr den besagten Eimer aus der Hand gerissen habe und dieser dabei kaputtgegangen sei. Dafür habe er ihr zehn Kopeken zahlen müssen, womit die Angelegenheit beigelegt gewesen sei.433 Am Ende konnte Anna Egorova keine Zeugen beibringen, die Beleidigungen oder körperliche Übergriffe auf ihre Person bestätigen konnten, und sah von ihrer Klage ab. Das Ordnungsgericht fügte hinzu, dass Egorova als Unruhestifterin bekannt und dass dem Ordnungsgericht noch nie untergekommen sei, dass Altgläubige neuübergetretene Orthodoxe in irgendeiner Weise beleidigt hätten.434 Der Fall endete mit einem Freispruch der Angeklagten durch das Dorpater Ordnungsgericht. Es widersprach der Vorstellung, dass die Altgläubigen schlechten Einfluss auf die Konvertiten hatten. Unabhängig davon, ob die Beschuldigungen der orthodoxen Priester gerechtfertigt waren, dass Altgläubige schlechten Einfluss auf neu gewonnene Mitglieder der Orthodoxen Kirche hatten, gab es Pläne, diejenigen Konvertiten, die wieder zum alten Glauben zurückkehrten, umzusiedeln. Durch ihr Fernbleiben aus den orthodoxen Kirchen gäben sie ein schlechtes Vorbild für die übrigen Konvertiten und Altgläubigen ab, unter denen sich die Idee verbreite, dass man zur Errettung seiner Seele der Orthodoxen Kirche nicht bedürfe, so Erzbischof Platon an den Heiligsten Synod.435 Der Vorschlag Platons, die Konvertiten umzusiedeln, wurde vom Heiligsten Synod436 und vom Rigaer Generalgouverneur befürwortet.437 Zum Widerstand der Altgläubigen sind auch Versuche zu zählen, sich die gesetzliche Ordnung eigennützig anzueignen bzw. Gesetzeslücken zum eigenen Vorteil zu nutzen. Wie bereits dargestellt, stellte die Identifizierung von Einzelpersonen die Regierung vor größere Probleme.438 Die priesterlosen Altgläubi 433 EAA F. 296, op. 4, d. 2161, l. 7ob-8. 434 EAA F. 291, op. 1, d. 15966, l. 7. 435 RGIA F. 797, op. 24, d. 92, l. 22ob. 436 Ebd., l. 34ob. 437 Ebd., l. 30 f. 438 In Riga dienten neben den Registrierungen in den Revisionslisten Bescheinigungen über Steuerzahlungen (tuziki) als gültige Dokumente, die ihren Träger zum Aufenthalt in Riga berechtigten – entgegen den für das gesamte Russländische Reich geltenden Bestimmungen. EAA F. 297, op. 6, d. 229, l. 5 f. Nun bekamen in der Regel nur die männlichen Familienoberhäupter eine Steuerbescheinigung sowie deren Söhne, wenn diese denn in der letzten Revision bei ihren Vätern eingetragen waren. Falls ein solches Familienmitglied vor Beginn der nächsten Revision verstarb, wurde dieser Todesfall in den existierenden Revisionslisten nicht erwähnt. Diese Tatsache gab den Vätern der Verstorbenen die Möglichkeit, deren Tuziki anderen Personen zu geben, die damit deren Identität annahmen und folglich gültige Dokumente zum Aufenthalt in Riga besaßen. Im Falle von Frauen waren die schriftlichen Aufzeichnungen in Riga noch mangelhafter: Töchter erhielten überhaupt keine schriftlichen Dokumente und in den Tuziki der Familienoberhäupter wurden Töchter nicht erwähnt. Frauen der steuerpflichtigen Stände war es daher ohne Dokumente möglich, sich in Riga
136 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) gen Rigas sowie das Grebenščikov-Armenhaus nutzten Lücken in der Registrierung von Personen aus, um entlaufene und ausweislose Personen, die nicht in Riga registriert waren, bei sich aufzunehmen.439 Vergleichbare Vorgänge wurden auch für andere priesterlose Gemeinden beschrieben und es wurde darauf hingewiesen, dass die Altgläubigen auf diese Weise Mission betrieben. Wer als unfreier Bauer dem Gutsherren entfloh, konnte Aufnahme in den städtischen Gemeinden der Altgläubigen finden und von diesen Dokumente bekommen, die ihnen den Aufenthalt in der Stadt erlaubten. Voraussetzung für die Aufnahme in die Altgläubigengemeinde und damit in die Stadt war der Anschluss an den alten Glauben, falls es sich bei den Entlaufenen nicht ohnehin schon um Altgläubige handelte.440 Die livländische Gouvernementsleitung schlug in dieser Situation vor, dass die Steuerverwaltung von den Kuratoren des Grebenščikov-Armenhauses Listen über Geburten und Todesfälle unter den Altgläubigen erhalten solle, wodurch das Problem gelöst würde. Generalgouverneur Suvorov musste den livländischen Gouverneur Ėssen am 17. Oktober 1852 darauf hinweisen, dass die Verwaltung von den Altgläubigen keinerlei Zeugnisse annehmen dürfe, weil allein die Polizei das Recht habe, Listen über die altgläubige Bevölkerung zu führen.441 Tatsächlich schrieb der Innenminister am 9. Dezember 1853 dem Generalgouverneur, dass die Polizei an jenen Orten der Ostseegouvernements verstärkt werden solle, an denen Altgläubige lebten. Aufgabe der Polizei sollte es sein, Listen über die Geburten und Todesfälle unter den Altgläubigen zu führen. Suvorov schlug daraufhin vor, am Peipussee einen Inspektor einzusetzen, der dem Dorapter Ordnungsgericht unterstand und die Altgläubigen in den Ortschaften am Ufer des Sees beaufsichtigen sollte. Der Innenminister verwarf diesen Vorschlag. Stattdessen sollte sich die lokale Polizeiverwaltung in Form der Volost’-Gerichte, der Votčina-Polizei (votčinaja policija) und der Gemeindegerichte um die Angelegenheit kümmern. Eine Kommission unter dem Vorsitz Vladimir Sollogubs, auf die wir später noch zu sprechen kommen werden, wandte 1861 ein, dass diese lokalen Polizeiinstitutionen der Aufgabe nicht gerecht werden könnten, weil die deutsch-lutherischen Amtsinhaber weder von der Sprache der Altgläubigen noch von ihren religiösen Lehren Kenntnis hätten.442 Auf die Listen über die altgläubige Bevölkerung, die von den lokalen Polizeibehörden geführt wurden, war unter diesen Umständen aufzuhalten, solange sie nicht verheiratet waren oder dem Arbeiter-Oklad angehörten. Eben diese Lücken nutzten Altgläubige aus, um Personen ohne Registrierung in Riga in ihren Familien aufzunehmen. EAA F. 297, op. 6, d. 229, l. 1–3. 439 Privatpersonen: EAA F. 297, op. 6, d. 229, l. 1–3. Grebenščikov-Armenhaus: LVVA F. 7040, op. 1, d. 12, l. 1. 440 Hildermeier: Alter Glaube und Mobilität 335 f. Ryndzjunskij: Staroobrjadčeskaja organizacija 209. 441 EAA F. 297, op. 6, d. 229, l. 22 f. 442 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 39ob-42ob.
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kein Verlass. Die Altgläubigen nutzten solche Probleme der Verwaltung aus, um eigene Ziele zu verfolgen. ✴ ✴ ✴ Die religiöse Organisation der Altgläubigen wurde unter Nikolaj I. zerstört. Die Altgläubigen leisteten dagegen zwar in einzelnen Fällen ausweichenden Widerstand, wenn sie keinen Anlass zur Zerstörung ihres Bethauses geben wollten, und defensiven konfrontativen Widerstand, wenn sie Bittschriften an die zivilen Behörden verfassten oder wenn sie sich vor dem Bethaus versammelten und Handgreiflichkeiten gegenüber den zivilen und geistlichen Würdenträgern androhten. Erfolg war jedoch nur der Versammlung der Gemeinde vor dem Grebenščikov-Bethaus beschieden, welches seit seiner Gründung 1760/70 bis zum Ende des Russländischen Reiches nicht geschlossen wurde. Weitere Maßnahmen der Regierung, die dem Anschluss der Altgläubigen an die Orthodoxie dienen sollten und gegen die die Altgläubigen sich zur Wehr setzten, waren Zwangstaufen altgläubiger Waisenkinder und die Belehrungen und Ermahnungen durch orthodoxe Priester. Die Untersuchung hat gezeigt, dass die Altgläubigen, wenn möglich, die direkte Konfrontation mit den Obrigkeiten vermieden. Befanden die Altgläubigen sich aber bereits in Konflikt mit diesen, so griffen sie auf defensive Formen des konfrontativen Widerstandes zurück – sie wehrten sich mit Händen und Worten gegen die Übergriffe von Priestern; sie hielten Versprechungen, die sie vor dem Ordnungsgericht gemacht hatten, nicht ein; und sie schrieben Bittschriften an die zivilen Autoritäten, in der Hoffnung, diese würden sie vor den Übergriffen der Orthodoxen Kirche beschützen. In keinem Fall suchten die Altgläubigen selbst die Konfrontation mit den Obrigkeiten oder griffen unliebsame orthodoxe Priester an. Auch offener Protest in Form einer »Altgläubigenbewegung«, die die Lage der Altgläubigen im Russländischen Reich anprangerte, kam nicht zustande, obwohl die Altgläubigen wahrscheinlich über ein entsprechendes Zusammengehörigkeitsgefühl sowie ein Netzwerk verfügten, welches über die Grenzen Livlands hinaus ging. Das Ziel der Regierung, die Altgläubigen zu einem Anschluss an die Orthodoxe Kirche zu bewegen, scheiterte nicht zuletzt an deren Widerstand. Das bedeutet nicht, dass es keine Anschlüsse gab. Doch handelte es sich dabei nicht selten um rein nominelle Konversionen aufgrund weltlicher Vorteile, die den Altgläubigen für ihren Übertritt versprochen worden waren. Die Konvertiten hörten schnell wieder auf, die Kirchen zu besuchen, und bezeichneten sich erneut als Altgläubige. Dies mag sowohl daran gelegen haben, dass sie entgegen ihren religiösen Überzeugungen Angehörige der Staatskirche geworden waren, als auch am Druck ihrer altgläubigen Gemeinde, wobei ein schlechtes Verhältnis zwischen Altgläubigen und Konvertiten nicht nachgewiesen werden konnte. Darüber hinaus machten sich die Gemeinden Gesetzeslücken zunutze, um entlaufene Personen in ihren Gemeinden aufzunehmen.
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3.3 Das System Nikolajs I. und die Altgläubigen in Livland Informationssammlungen über die altgläubige Bevölkerung des Reiches unter Aleksandr I. und seinem Nachfolger brachten zum Vorschein, dass die Regierung von sehr viel mehr altgläubigen Untertanen ausgehen musste als bisher angenommen. Neue Kenntnisse über ihre religiösen Lehren ließen die Altgläubigen als staatsgefährdende Gruppe erscheinen und die Zaren an ihrer Loya lität gegenüber der Regierung zweifeln. Unter diesen Umständen lag die Vorstellung nahe, dass die Altgläubigen durch Konversion zur Staatskirche zu loyalen Untertanen würden. Um dieses Ziel zu erreichen, griff Nikolaj I. nicht auf missionarische Überzeugungsarbeit der orthodoxen Priester zurück, sondern auf diskriminierende Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen. Sie wurden im religiösen, Familien- und wirtschaftlichen Leben entrechtet und konnten sämtliche Nachteile nur dann ablegen, wenn sie sich der Orthodoxen Kirche anschlossen. Derartige Versuche, nicht-orthodoxe Untertanen durch Zuckerbrot und Peitsche zur Konversion zu bewegen, waren eine alte Strategie im Russländischen Reich. Bereits Mitte des 18. Jahrhunderts hatte es gewaltsame Übergriffe auf die religiöse Organisation und die rechtliche Stellung der Tataren an der Volga gegeben, mit dem Ziel, diese zu einem Übertritt zur Orthodoxie zu bewegen und sich damit deren Loyalität zu versichern.443 Mitte des 19. Jahrhunderts sollten katholische, weißrussische Bauern im nord-westlichen Gebiet mit Hilfe materieller Vorteile von einer Konversion überzeugt werden. Flankiert wurden diese Versprechen durch die Schließung katholischer Kirchen und durch Zwangstaufen der Bevölkerung.444 Diese weißrussischen Bauern galten, da sie der »großrussischen« Ethnie angehörten, als loyale Untertanen des Zaren, deren Treue nur durch ihre Zugehörigkeit zur katholischen Kirche infrage stand.445 Die Altgläubigen gehörten zweifelsfrei ebenfalls der russischen Ethnie an. Doch auch in ihrem Fall verhinderte ihr Glaubensbekenntnis, dass sie als loyale Untertanen galten. Selbst in einer von lutherischen Deutschen, Esten und Letten dominierten Region wurden die livländischen Altgläubigen nicht als »russisches Element« wahrgenommen. In anderen Fällen konnten Sektenangehörige in Koloniegebieten durch ihre Zugehörigkeit zur russischen Ethnie als Transmissionsriemen staatlicher Herrschaft wahrgenommen werden und die Regierung verzichtete auf die Anwendung repressiver Maßnahmen.446 Die Gründung des Vikariats für die Ostseegouvernements in Riga 1836 dagegen verfolgte so 443 Khodarkovsky, Michael: »Not by Word Alone«: Missionary Policies and Religious Conversion in Early Modern Russia, in: Comparative Studies in Society and History 38 (1996), 267–293, hier 278–284. 444 Staliūnas: Making Russians 146–150. 445 Ebd. 136. 446 Breyfogle: Heretics and Colonizers 144.
Das System Nikolajs I. und die Altgläubigen in Livland 139
wohl das Ziel, die Orthodoxe Kirche in Anbetracht der lutherischen Dominanz in jener Region zu stärken, als auch die Bekämpfung des Altgläubigentums zu ermöglichen. Seitdem arbeiteten Staat und Orthodoxe Kirche bei der Verfolgung der Altgläubigen Livlands zusammen. Spätestens seit der Amtszeit des Bischofs Filaret unterstützte die Orthodoxe Kirche das gewaltsame Vorgehen gegen die religiöse Organisation der Altgläubigen und gegen Einzelpersonen, die sich so genannter Verbrechen gegen den Glauben schuldig gemacht hatten. Die Generalgouverneure Nikolajs I. hatten dagegen zum Teil andere Interessen. Insbesondere Filipp Paulučči hing stärker einem früh-aleksandrinischen Toleranzkurs gegenüber den Altgläubigen an und hatte den karitativen Einrichtungen der Altgläubigen in Riga im Alleingang Statuten und damit relativ große Autonomie gewährt. Sein Nachfolger fon Palen nahm von diesem Kurs Abstand, ließ die Statuten abschaffen und Bethäuser der Altgläubigen schließen. Die Effektivität dieses rigiden Vorgehens gegen die Raskol’niki stellte Evgenij Aleksandrovič Golovin während seiner kurzen Amtszeit infrage und sprach sich im Sinne der Erhaltung von Ruhe und Ordnung gegen die Schließung von Bethäusern aus. Damit hatte er jedoch keinen Erfolg; der Zar setzte sich über seine Bedenken hinweg. Mit Aleksandr Arkad’evič Suvorov hatte Nikolaj I. einen Generalgouverneur gefunden, der den diskriminierenden Kurs gegenüber den Altgläubigen nicht nur bereitwillig umsetzte, sondern selbst Maßnahmen vorschlug, die über die üblichen Repressionen der Altgläubigen im Russländischen Reich hinausgingen. Er ließ Jagd auf obdachlose Waisenkinder der Altgläubigen machen und sie gegen ihren Widerstand orthodox taufen. Die Zusammenarbeit von ziviler Regierung und Staatskirche im Kampf gegen die livländischen Altgläubigen erreichte mit Generalgouverneur Suvorov und Erzbischof Platon ihren Höhepunkt. Diese beiden höchsten Vertreter der weltlichen und geistlichen Obrigkeiten auf Ebene des Gouvernements bzw. der Eparchie waren für den Umgang mit den Altgläubigen von großer Bedeutung. Denn Nikolaj I. hatte ein höchst bürokratisches und zentralisiertes System geschaffen, in dem die unteren lokalen Beamten und die orthodoxe Gemeindegeistlichkeit ohne Wissen des Generalgouverneurs und des Erzbischofs keine Maßnahmen gegen die Altgläubigen ergreifen durften. Die Zentralisierung der Entscheidungsfindung ging so weit, dass an der Schließung von Bethäusern und der Verfolgung einzelner Alt gläubiger häufig der Innenminister, der Heiligste Synod oder der Zar selbst beteiligt waren. Dabei gestaltete sich die Zusammenarbeit zwischen zivilen und kirchlichen Würdenträgern nicht immer einfach. Staat und Kirche zogen grundsätzlich an einem Strang, um die religiöse Organisation der Altgläubigen zu zerstören. Gerichtliche Verfolgungen der Altgläubigen für Verbrechen gegen den Glauben gestalteten sich jedoch schwieriger. Zwar hatten zivile Beamte und die Staats
140 Die Diskriminierung der Altgläubigen unter Nikolaj I. (1825–1855) kirche im Russländischen Reich großen Einfluss auf die Entscheidungen der Gerichte. In Livland urteilten die von deutschen Lutheranern besetzten Landund Hofgerichte sowie die Magistrate jedoch häufig nicht im Sinne des Nikolaj’schen Repressionskurses. Sie zeigten im Rahmen ihrer Möglichkeiten Unwillen gegen die Verfolgung der Altgläubigen. Ähnliches gilt für das Vorgehen der livländischen Polizeibeamten. Orthodoxe Priester und Erzbischof Platon beschwerten sich mehrere Mal über diese Nachlässigkeit der zivilen Beamten, die jedoch nicht in allen Fällen deutsche Lutheraner waren. Vielmehr gab es grundsätzliche Interessenunterschiede zwischen Staatskirche und Gouvernementsregierung. Die Orthodoxe Kirche war in erster Linie um den Schutz ihrer Mitglieder vor der Konversion zum Altgläubigentum besorgt. Die Repräsentanten der Staatskirche wandten sich an die zivile Regierung mit der Bitte, repressive Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen zu ergreifen. Sie wollten das Altgläubigentum ganz im Geiste Nikolajs I. bekämpfen, in der Hoffnung, das Schisma der Kirche in naher Zukunft zu überwinden. Zivile Beamte sorgten sich dagegen in vielen Fällen um die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung, die nicht durch die Verfolgung der Altgläubigen gestört werden sollte.447 Diese unterschiedlichen Interessen konnten zu Auseinandersetzungen zwischen Staatskirche und Regierung über den Umgang mit den Altgläubigen in Livland führen. Das größte Hindernis für die Umsetzung repressiver Maßnahmen gegen die Altgläubigen war jedoch die Nichtanerkennung des Altgläubigentums durch den Staat. Die Ideologie des »orthodoxen Zarentums« verhinderte eine solche staatliche Anerkennung der Raskol’niki als autonomes, von der Orthodoxen Kirche unabhängiges Glaubensbekenntnis.448 Die religiöse Elite der Altgläubigen erhielt daher nicht die Rechte und Pflichten geistlicher Personen. Sie führte keine Matrikelbücher, in denen die Lebensdaten der Gemeindemitglieder verzeichnet waren, wodurch eine Identifizierung altgläubiger Einzelpersonen erschwert wurde; und sie fungierte nicht als Ansprechpartner der Verwaltung, die für Vergehen innerhalb ihrer Gemeinden verantwortlich gemacht werden konnten. Die Regierung konnte auch nicht auf die Disziplinierung altgläubiger Gemeindemitglieder durch die Nastavniki in ihrem Sinne Einfluss nehmen. Dies stellte insbesondere in Eheangelegenheiten ein Problem dar. Der Gesetzeskodex hatte kein allgemein verbindliches Eherecht etabliert und es stattdessen den religiösen Institutionen der anerkannten Glaubensbekenntnisse überlassen, die Bedingungen für Eheschließungen und -scheidungen festzulegen sowie die 447 Tatsächlich lässt sich die Aufgabe der Gouverneure als die Aufrechterhaltung von »Stille und Ruhe« (tišina i spokojstvo) beschreiben. Schattenberg, Susanne: Weder Despot noch Bürokrat: Der russische Gouverneur in der Vorreformzeit, in: Baberowski, Jörg/Feest, David/Gump, Christoph (Hg.): Imperiale Herrschaft in der Provinz. Repräsentationen politischer Macht im späten Zarenreich. Frankfurt am Main, New York 2008, 81–101, hier 84. 448 Dolbilov: Russifying Bureaucracy 113.
Das System Nikolajs I. und die Altgläubigen in Livland 141
Bestrafung für Vergehen in Zusammenhang mit der Ehe gemäß religiösen Regeln zu vollziehen. Nichtsdestotrotz versuchte die Regierung, bestimmte Mindeststandards im Eherecht der anerkannten Glaubensbekenntnisse zu etablieren und damit auf die Disziplinierung der Gemeindemitglieder einzuwirken.449 Auf die Disziplinierung der Altgläubigen durch ihre Gemeindeleiter hatte der Staat aufgrund der Nichtanerkennung des Altgläubigentums keinen Einfluss. Und zivile Bestrafungen für Vergehen waren im Eherecht nicht festgelegt worden. Altgläubige gingen daher in vielen Fällen für Vergehen straffrei aus, während ihre orthodoxen Nachbarn der Bestrafung durch die Orthodoxe Kirche unterlagen. Die Kontroll- und Disziplinierungsmechanismen, die das Russländische Reich durch Anerkennung nicht-orthodoxer Religionen und die Kooptierung der religiösen Elite über den Großteil der im Reich lebenden Untertanen etabliert hatte, gab es gegenüber der altgläubigen Bevölkerung nicht. Die Konsequenz war mangelnde Kontrolle der Regierung über die Altgläubigen. Diskriminierung bedeutete in diesem Fall einen Mangel an Disziplinierung. Dieses Kontrollproblem wurde zusätzlich durch die geringe Präsenz ziviler Beamter und orthodoxer Priester in den Gemeinden der Altgläubigen am Peipussee verschärft. Auf diese Weise reichte die staatliche Herrschaft nur rudimentär in die ländlichen Gebiete Livlands hinein und die Verfolgung der Altgläubigen konnte nur in eingeschränktem Maße durchgesetzt werden. Dieser Umstand eröffnete darüber hinaus großen Spielraum für ausweichende Widerstandsformen der Altgläubigen gegenüber staatlichen und kirchlichen Zugriffen. Die Altgläubigen entzogen sich Beamten und orthodoxen Priestern, verweigerten die Befolgung von Anweisungen der Polizeibehörden und schützten falsche Konformität vor, wenn sie nominell zur Staatskirche übertraten, aber an den alten Riten festhielten und die orthodoxen Gottesdienste nicht besuchten. Solche Widerstandsformen, die die Konfrontation mit den Obrigkeiten vermieden, waren unter den Altgläubigen Livlands am weitesten verbreitet und die Verwaltung hatte große Schwierigkeiten, dagegen vorzugehen. Die Konfrontation mit der Regierung oder der Kirche vermieden die Altgläubigen wenn möglich. Gegen gewaltsame Übergriffe auf ihre Bethäuser und Kinder setzten sie sich in einigen Fällen jedoch mit Handgreiflichkeiten oder der Androhung derselben zur Wehr.
449 Freeze: Jewish Marriage 74.
4. Der Umschwung des staatlichen Umgangs mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) [A]ufrichtige Überzeugungen müssen geachtet werden – ich will, dass in meinem Staat die Toleranz regiere!1 Zar Aleksandr II.
Mit der Thronbesteigung Aleksandrs II. verbanden viele Altgläubige die Hoffnung, dass sich ihre Lage im Russländischen Reich verbessern würde.2 Tatsächlich sollten, angestoßen durch die Niederlage im Krimkrieg, alle Sphären des öffentlichen Lebens unter Aleksandr II. umgestaltet werden. Im Zuge der so genannten Großen Reformen sorgte der neue Zar für einige Verbesserungen der rechtlichen Lage nicht-orthodoxer Gruppen im Reich. Die Altgläubigen sollten nicht länger eingeschränkt und unterdrückt werden; der neue Zar forderte ein »tiefes und allseitiges Studium des Raskol«.3 Seit den späten 1850er Jahren begannen russische Gelehrte, sich intensiv mit dem Altgläubigentum auseinanderzusetzen. 1862 kritisierte Pavel Ivanovič Mel’nikov-Pečerskij in dem ersten seiner fünf »Briefe über den Raskol«,4 dass die russische Gesellschaft und Verwaltung zu wenig über den Raskol wisse und dass in bisherigen Werken über die Raskol’niki voreilig Schlüsse gezogen worden seien. Wolle man das »Wesen des Raskol«5 erklären, müsse man aufwändige Materialsammlungen anstellen6 und mit den Raskol’niki persönlich in Kontakt treten.7 Als seien Mel’nikovs 1 Kel’siev, Vasilij: Pravitel’stvennyja rasporjaženija po delam o raskol’nikach pri Nikolae i Aleksandre, in: Ders.: Sbornik pravitel’stvennych svedenij o raskol’nikach. Bd. 2. London 1861, 171–220, hier 189 f. 2 Lekler: Staroobrjadcy i car’-osvoboditel’ 306. 3 [–]: Obzor meroprijatij Ministerstva vnutrennich del po raskolu s 1802 po 1881 god. St. Petersburg 1903, 182. 4 Mel’nikov: Pis’ma o raskole. 5 Ebd. 203 f. 6 Ebd. 7 Ebd. 210. Mel’nikov schreibt, dass man Ende des 17. und im 18. Jahrhundert ein größeres Verständnis vom Raskol gehabt habe, weil man sich offen mit dem Thema auseinandergesetzt habe. Zu Mel’nikovs Zeiten jedoch seien die wichtigsten Bücher über den Raskol, die von orthodoxen Geistlichen und Raskol’niki stammten, nicht mehr erhältlich und unter Nikolaj I. sei es praktisch verboten gewesen, überhaupt zu schreiben, dass es in Russland Raskol’niki gebe. Dadurch sei die Gesellschaft in Unkenntnis über den Raskol geraten. Ebd. 205–217.
Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums 143
Bitten erhört worden, begann seit Ende der 1850er Jahre eine neue Auseinandersetzung mit den Altgläubigen durch Vertreter der Orthodoxen Kirche, durch Regierungsbeamte und Mitglieder der Intelligencija, der sich sogar die radikalen Emigranten rund um Aleksandr Gercen anschlossen. Ziel des vorliegenden Kapitels ist es, zu zeigen, dass diese Auseinandersetzung der Gelehrten mit dem Altgläubigentum den Umgang des Staates mit dieser religiösen Gruppe seit den späten 1850er Jahren veränderte. Die Debatte um die Altgläubigen im Russländischen Reich beeinflusste nicht zuletzt das Denken der mit den Angelegenheiten der Altgläubigen befassten Regierungsbeamten. Lokale Beamte, die dem Generalgouverneur von Riga unterstellt waren, beschäftigten sich mit der Lage der Altgläubigen in Livland und formulierten konkrete Vorschläge für den Umgang der Regierung mit dieser religiösen Gruppe. Vermittelt durch diese Regierungsbeamten verbanden sich Ideen der russländischen Intellektuellen im In- und Ausland über die Altgläubigen mit den Interessen der Regierung und entfalteten ihre Wirksamkeit in der konkreten Politik gegenüber den Altgläubigen im Gouvernement Livland. In diesem Kapitel werden folgende Fragen erörtert: Welche Ziele sollten aus Sicht von Staatsbeamten, Oppositionellen und Kirchenvertretern gegenüber den Altgläubigen verfolgt werden? Schlugen sich diese Vorschläge in der gesetzlichen Lage über das Altgläubigentum nieder? Welche Veränderungen im staatlichen Umgang mit den Altgläubigen Livlands lassen sich seit der Regierungszeit Aleksandrs II. erkennen? Welche Rolle spielte die Nationalitätenpolitik in dieser Zeit in Bezug auf die russischen Altgläubigen in den Ostseegouvernements?
4.1 Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums Für die Entstehung einer Diskussion über die Altgläubigen waren die Arbeiten Afanasij Prokop’evič Ščapovs (1831–1876) maßgeblich verantwortlich. Dieser legte 1859 eine neue Interpretation des Altgläubigentums vor, der zufolge das Schisma Protest gegen die politischen und sozialen Zustände im Reich seit Zar Aleksej Michajlovič und insbesondere seit den Reformen Pёtrs I. war. Dass diese neue Interpretation des Raskol das Interesse der gebildeten russischen Gesellschaft erregte, lag nicht zuletzt daran, dass sie von den Londoner Emigranten rund um Aleksandr Ivanovič Gercen (1812–1870), Nikolaj Platonovič Ogarёv (1813–1877) und Vasilij Ivanovič Kel’siev (1835–1872) rezipiert wurde. Diese wollten sich die den Altgläubigen unterstellten anti-staatlichen Ressentiments für eine politische Umwälzung im Russländischen Reich zunutze machen.
144 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881)
4.1.1 Der alte Glaube als sozio-politischer Protest Vertreter der Orthodoxen Kirche hatten sich Ende des 17. und im 18. Jahrhundert mit der Lehre der Altgläubigen auseinandergesetzt und versucht, in polemischen Schriften die Richtigkeit der orthodoxen Position nachzuweisen. Mitte des 19. Jahrhunderts kam in der Staatskirche erneut Interesse für die Altgläubigen auf. Im Jahr 1858 erschien die »Geschichte des russischen Schismas, bekannt unter der Bezeichnung Altgläubigentum« von dem orthodoxen Kirchenhistoriker Michail Petrovič Bulgakov (1816–1882).8 Darin wird die Vorgeschichte und Geschichte des Altgläubigentums von 1419 bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts behandelt. Bulgakov legte seinem zweibändigen Werk den Anspruch zugrunde, die Ereignisse der Kirchengeschichte wissenschaftlich darzulegen und gleichzeitig eine moralische Aufgabe zu meistern: Den Raskol’niki sollten ihre Verirrungen vor Augen geführt und den Orthodoxen ein richtiges Verständnis vom Altgläubigentum vermittelt werden, um sie vor der Konversion zum alten Glauben zu bewahren.9 Der offiziellen Position der Orthodoxen Kirche jener Zeit folgend, verstand Bulgakov das Altgläubigentum in seiner »Geschichte« als religiöse Irrlehre, die aufgrund mangelnder theologischer Bildung entstanden sei.10 Er versuchte in seinem Werk daher die Richtigkeit der orthodoxen theologischen Lehre gegenüber derjenigen der Altgläubigen nachzuweisen. Staat und Kirche hatten bereits unter Nikolaj I. großes Interesse für die Ehen der Altgläubigen entwickelt. 1869 veröffentlichte ein Professor der Geistlichen Akademie in St. Petersburg, Ivan Fёdorovič Nil’skij (1831–1894), eine Pionierstudie über das Eheverständnis der priesterlosen Altgläubigen,11 welche auf Werken basierte, die die Altgläubigen zu diesem Thema geschrieben hatten. Wie Bulgakov folgte auch Nil’skij der Auffassung, dass die Entstehung und das Fortbestehen des Altgläubigentums auf religiöse Gründe zurückzuführen seien, und bemühte sich, theologische Irrtümer der Altgläubigen in ihrem Verständnis vom Ehesakrament aufzudecken. Eine andere Interpretation der Gründe für das russische Kirchenschisma lieferte 1858 Afanasij Prokop’evič Ščapov. Ščapov hatte in Kazan’ an der Geistlichen Akademie und der Universität studiert.12 Er schloss sein Studium mit der
8 Bulgakov, Michail Petrovič: Istorija russkago raskola, izvestnago pod imenem staroobrjadstva. Vtoroe izdanie. St. Petersburg 1858. 9 Ebd. II. 10 Potašenko, Grigorij V.: Staroverie v Litve. Vtoraja polovina XVII – načalo XIX vv. Issledovanija, dokumenty i materialy. Vilnius 2006, 18. 11 Nil’skij, Ivan Fёdorovič: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Bd. 1–2. St. Petersburg 1869. 12 [–]: Afanasij Ščapov, in: Vvedenskij, B. A. (Hg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 48. Moskau. 1957, 250 f.
Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums 145
Arbeit »Das russische Raskol-Altgläubigentum«13 aus dem Jahr 1859 ab. Darin entwickelt Ščapov die Vorstellung, dass das Altgläubigentum im 17. Jahrhundert nicht in erster Linie in Ablehnung der Reformen Patriarch Nikons entstanden sei. Der religiöse Protest sei nur der »Deckmantel«14 für den Protest gegen Zentralisierungsbestrebungen des Staates und die Einführung ausländischer Neuerungen in die alte russische Kultur gewesen.15 Seelenrevisionen, Leibeigenschaft und Rekrutenpflicht hätten den Widerstand der Landbevölkerung hervorgerufen.16 Ščapov beschrieb das Altgläubigentum auf diese Weise als politischen und sozialen Protest gegen die Reformen von Staat und Kirche seit Mitte des 17. Jahrhunderts. Diese These baute er drei Jahre später in »Zemstvo und Raskol«17 aus und schloss damit seine einflussreiche Neuinterpretation des Altgläubigentums ab. »Zemstvo und Raskol« war von den Schriften Freiherr August Franz Ludwig Marias von Haxthausen (1792–1866) beeinflusst. Haxthausen war in den Jahren 1843 und 1844 nach Russland gereist, um im Auftrag Nikolajs I. die Agrarverfassung des Landes zu beschreiben.18 In den Jahren 1847 bis 1852 erschien seine dreibändige Darstellung »Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands«.19 Darin beschreibt Haxthausen die periodische Umverteilung des Bodens in bäuerlichen Landgemeinden als Besonderheit Russlands im Vergleich zu den westeuropäischen Staaten und schlägt einen alternativen Weg des Reiches in die Industrialisierung auf Grundlage des Gemeindeprinzips vor.20 Ščapov nahm die bäuerliche Landgemeinde der vorpetrinischen Zeit ebenfalls als Ausgangspunkt für seine Darstellung der Geschichte des Schismas. Die Ostslaven hätten sich in Eigeninitiative zu kulturell homogenen Gemeinden zusammengeschlossen,21 die sich durch Selbstverwaltung und Selbstjustiz ausgezeichnet hätten. Unter Zar A leksej Michajlovič sei diese soziale und politische Ordnung zunichte gemacht worden.22 Damit sei die Bindung der Bauern an ihre Scholle einher-
13 Ščapov: Russkij raskol staroobrjadstva, razsmatrivaemyj v svjazi s vnutrennym sostojaniem russkoj cerkvi i graždanstvennosti v XVII v. i v pervoj polovine XVIII. Kazan’ 1859. 14 Ebd. 54 f., If. 15 Ebd. II. 16 Ebd. 17 Ščapov, Afanasij Prokop’evič: Zemstvo i raskol. St. Petersburg 1862. 18 [–]: Gakstgauzen, Avgust, in: Vvedenskij, B. A. (Hg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 10. Moskau 1952, 112. 19 Haxthausen, Freiherr August von: Studien über die inneren Zustände, das Volksleben und insbesondere die ländlichen Einrichtungen Rußlands. 3 Bände. Hildesheim, New York 1973. 20 Beyer: Das altgläubige Unternehmertum Russlands 50. 21 Ebd. 46. 22 Ščapov: Zemstvo i raskol 17.
146 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) gegangen,23 die Schaffung eines Klerus als von der Bevölkerung getrenntem Stand – wodurch die Geistlichkeit ihren moralischen Einfluss auf das Volk verloren habe –24 und die Einführung ausländischer, namentlich deutscher Neuerungen.25 Die Folge seien allgegenwärtige Aufstände des Volkes gegen die neue Ordnung gewesen, die allerdings noch isoliert voneinander abgelaufen seien und deswegen leicht niedergeschlagen werden konnten.26 Zu einer vereinten Bewegung sei der Raskol zum ersten Mal beim Aufstand der »Kosaken-Schismatiker«27 unter Stepan Razin gekommen, der sich gegen die lokalen Machthaber richtete, die von Moskau eingesetzt worden waren.28 Ein weiteres Beispiel für den gemeinsamen Aufstand der Raskol’niki sei der Aufstand der Strel’cy ge wesen, der die gleiche, gegen das Moskauer Zentrum gerichtete, Stoßrichtung gehabt habe und zudem gegen ausländische Neuerungen gerichtet gewesen sei.29 Neue Brisanz habe die Bewegung durch die Lehre vom Antichrist erhalten, die sich während der Herrschaft Pёtrs I. verbreitete.30 Davon beeinflusst seien Teile des Volkes in bisher unbesiedelte Gebiete geflohen. Ščapov schreibt, sie »laufen in die Wälder, die Berge und in die Einöde, um ihre Seele vor dem Antichrist zu retten und erneut Gegenden zu kolonisieren, Siedlungen zu errichten, ungebundene, freie Gemeinden, auf den Grundlagen der freien […] Gemeindeselbstverwaltung«31 und der eigenen Gerichtsbarkeit.32 Ščapov machte für den Zulauf, den die Altgläubigen genossen, nicht ihre religiöse Lehre verantwortlich. Es sei den Altgläubigen nicht um die Reformen Patriarch Nikons gegangen, sondern darum, dass sie ihr freies Leben verloren hatten, welches sie sich nach der Flucht in die Einöde wieder neu aufbauten.33 Auf diese Weise stellte Ščapov das Altgläubigentum als sozialen und politischen Protest des einfachen Volkes gegen den staatlichen Zugriff auf die Bevölkerung unter Aleksej Michajlovič und Pёtr I. dar. Dass das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche theologische Gründe gehabt habe, wie die Orthodoxe Kirche behauptete, bestritt Ščapov sowohl in Bezug auf den Beginn der Kirchenspaltung als auch auf die weitere Entwicklung des Raskol. 23 Ebd. 19. 24 Ebd. 20. 25 Ebd. 23. 26 Ebd. 26 f. 27 Ebd. 45. 28 Ebd. 45–48. 29 Ebd. 52–54. Der Hinweis auf den Protest gegen ausländische Neuerungen lässt darauf schließen, dass sich Ščapov hier auf den zweiten Aufstand der Strel’cy im Jahr 1698 bezieht. 30 Ebd. 71. 31 Ebd. 85 f. 32 Ebd. 139. 33 Dieses freie Leben der Gemeinden, ohne Zugriff des Staates und dessen Reglementierungen, macht Ščapov auch für den wirtschaftlichen Erfolg einiger Altgläubiger verantwortlich. Ebd. 106 f.
Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums 147
In Kapitel 3 war bereits die Rede davon, dass Pavel Mel’nikov-Pečerskij als Beamter unter Nikolaj I. auf die politischen und gesellschaftlichen Implikationen der religiösen Lehren priesterloser Altgläubiger hingewiesen hatte. Ščapovs Neuinterpretation ging jedoch einen Schritt weiter. Wer Ščapovs Verständnis vom Altgläubigentum folgte, konnte es nicht länger als religiösen Dissens ansehen, dessen Lehre politische und soziale Folgen hatte. Der Raskol erschien als sozialer und politischer Protest per se, dessen religiöses Symbolsystem nur mehr Ausdruck dieses Protestes war. Ohne Unterschiede zwischen einzelnen Richtungen des Raskol zu machen, ist der religiöse Dissens bei Ščapov »gemeinschaftliche Opposition des steuerpflichtigen Landes, der Volksmasse gegen den gesamten staatlichen Aufbau – den kirchlichen wie auch den zivilen«34 und »jahrhundertelange Ablehnung […] des Allrussländischen Impe riums mit seinen ausländischen deutschen Beamten und Einrichtungen«.35 Fast zehn Jahre vor Ščapov hatte Ivan Petrovič Liprandi (1790–1880) die politische Stoßrichtung der Sekten und Altgläubigen des Russländischen Reiches dargestellt und dabei zwischen unterschiedlichen Richtungen des Raskol unterschieden. Liprandi leitete im Jahr 1844 die polizeiliche Überwachung der Moskauer Altgläubigen am Preobraženie-Friedhof.36 Liprandis »Kurze Übersicht über die in Russland existierenden Schismen, Häresien und Sekten in ihrer religiösen und politischen Bedeutung«37 wurde im Russländischen Reich nicht veröffentlicht. Das Buch erschien im Jahre 1883 in Leipzig. Russischen Intellektuellen war es allerdings spätestens seit seiner Aufnahme in die »Sammlung der Regierungszeugnisse über die Raskol’niki«38 von Vasilij Ivanovič Kel’siev bekannt, die dieser 1860 in der Londoner Freien Russischen Presse herausgab und die ihren Weg ins Russländische Reich fand. Liprandi unterschied in seiner Abhandlung zwei Arten des religiösen Dissenses: rein religiöse Gruppierungen und politische Spielarten des Raskol. Liprandi legte der Einteilung der einzelnen Sekten und Denominationen des Altgläubigentums in diese zweiteilige Klassifikation die Beständigkeit ihrer jeweiligen Lehre zugrunde. Die rein religiösen Gruppen zeichneten sich dadurch aus, dass sie an der religiösen Lehre ihrer Vorgänger festhielten.39 Repräsentanten der politischen Sekten des Raskol dagegen passten sich ständig an wechselnde Umstände an, indem sie ihre religiösen Texte willkürlich auslegten und sogar die religiöse Überlieferung ihrer Vorfahren veränderten.40 Ihr Ziel sei eine neue politische Ordnung, durch 34 Ebd. 28. 35 Ebd. 29 f. 36 Beyer: Das altgläubige Unternehmertum 43. 37 Liprandi: Kratkoe obozrenie. 38 Kel’siev, Vasilij Ivanovič (Hg.): Sbornik pravitel’stvennych svedenij o raskolnikach. Bd. 1–3. London 1860–1862. 39 Liprandi: Kratkoe obozrenie 10. 40 Ebd. 15 f.
148 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) welche sie ihre Erlösung noch im Diesseits zu erlangen hofften.41 Aufgrund dieser Kriterien zählt Liprandi zu den rein religiösen Dissidenten sowohl die priesterlichen Altgläubigen als auch die Fedoseevcy.42 Diese Einteilung verwundert insbesondere deswegen, weil die Fedoseevcy aufgrund ihrer Ablehnung der Ehe und des Fürbittgebets für den Zaren in Regierungskreisen als besonders schädlich galten.43 Liprandi gestand zwar zu, dass die Fedoseevcy diese Überzeugungen mit den politischen Sekten teilten; da sie jedoch schon seit Beginn der Kirchenspaltung an dieser Lehre festhielten, seien sie zu den rein religiösen Gruppen zu zählen.44 Zu den politischen Gruppen gehören gemäß Liprandi sämtliche priesterlose Altgläubige – mit Ausnahme der Fedoseevcy –, Sekten, die aus dem Christentum entstanden waren, wie die Duchobory oder Ikonoborcy, und diejenigen Sekten, die mit der christlichen Lehre nichts gemein hätten wie Chlysty oder Skopcy.45 Laut Liprandi waren alle politischen Gruppen der herrschenden Ordnung gegenüber feindlich gesinnt.46 Als besonders besorgniserregend erscheint ihm, dass es sich dabei um etwa sechs Millionen Einwohner des Russländischen Reiches handele, die untereinander gut vernetzt seien47 und zum Teil großen Wohlstand erwirtschaften konnten.48 Liprandi stellt die Altgläubigen und Sektenangehörigen der politischen Richtung als Gefahr für den Staat dar. Dass es bisher keinen Aufstand der Altgläubigen gegeben habe, liege nur daran, dass sich noch keine gebildete Person an die Spitze einer politischen Sekte gestellt habe.49 Liprandi erkennt in den Slavophilen allerdings gebildete Leute, die ähnliche Ziele verfolgten wie die Altgläubigen. Sie verstünden die Zeiten vor Pёtr I. (starina) ebenfalls als Idealzustand der russischen Gesellschaft. Zwar gehe es ihnen im Unterschied zu den Altgläubigen nicht um die religiösen Reformen Nikons, sondern um Veränderungen in der Lebensweise und der Literatur. Doch fürchtet Liprandi, dass diese Unterschiede überwunden werden und die gebildeten Slavophilen sich mit der Masse an Altgläubigen verbünden könnten, wodurch eine ernst zu nehmende Gefahr für den russländischen Staat entstünde.50 Im Gegensatz zu Ščapov unterscheidet Liprandi zwischen verschiedenen Richtungen des religiösen Dissenses. Er nimmt ihre religiösen Über-
41 Ebd. 49 f. 42 Ebd. 10–13. 43 Siehe die Einteilung der Sekten des Russländischen Reiches in »weniger schädliche«, »schädliche« und »schädlichste« im Jahr 1842 durch den Oberprokuror des Heiligsten Synods Nikolaj Protasov. Kapitel 3.1.2. 44 Liprandi: Kratkoe obozrenie 16 f. 45 Ebd. 52. 46 Ebd. 50. 47 Ebd. 48 Ebd. 77. 49 Ebd. 16. 50 Ebd. 80 f.
Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums 149
zeugungen als Ausgangspunkt seiner Einteilung und gesteht selbst denjenigen Gruppen, welche er politische nennt, einen religiösen Charakter zu.51 Die Interpretationen des Altgläubigentums von Ščapov und Liprandi wurden von Pavel Ivanovič Mel’nikov-Pečerskij52 rezipiert und veranlassten ihn, seine Vorstellungen über den Raskol zu überdenken. Mel’nikov kann als guter Kenner des Altgläubigentums gelten. Er war in Nižnyj Novgorod geboren, wuchs jedoch im Kreis Semёnov auf, wo er Kontakt zu den in der Nachbarschaft lebenden Altgläubigen hatte. Als Beamter für besondere Aufträge des Gouvernements von Nižegorod hatte er sich für besonders harte Verfolgungen der Altgläubigen ausgesprochen.53 Seitdem hatte sich seine Interpretation des religiösen Dissenses verändert. In Kapitel 3.1.1. wurde gezeigt, dass Mel’nikov-Pečerskij 1853 alle Raskol’niki als dem russländischen Staat gegenüber feindlich gesinnt beschrieben hatte, da unter ihnen die Lehre vom Antichrist verbreitet sei. Im Jahr 1857 schrieb Mel’nikov-Pečerskij einen »Bericht über den russischen Raskol, zusammengestellt von Mel’nikov für den Großfürsten Konstantin Nikolaevič im Auftrag [Innenminister] Lanskojs«.54 Darin unterscheidet Mel’nikov drei Richtungen des Raskol: priesterliche Altgläubige, welche er auch Altgläubige (staroobrjadcy) nennt, die zur Zeit der Reformen Nikons aufgrund mangelnden Verständnisses für die eingeführten Veränderungen entstanden seien; priesterlose Raskol’niki, deren Anfänge im 14. Jahrhundert bei den Strigol’niki lägen;55 und Häretiker, die noch vor der Annahme des Christentums durch Großfürst Vladimir entstanden seien.56 Die Entstehung von Priesterlosen und Häretikern führt Mel’nikov-Pečerskij auf Einflüsse aus dem Ausland zurück, während er in den priesterlichen Altgläubigen ein rein russisches Phänomen erblickt. Damit einhergehend schätzt er die Priesterlosen und Häretiker als ausnahmslos schädlich für Staat und Kirche ein.57 Für eine Verfolgung der priesterlichen Altgläubigen spricht sich Mel’nikov-Pečerskij in seinem »Bericht über den russischen 51 Ebd. 49 f. 52 Neben seiner dienstlichen Auseinandersetzung mit den Altgläubigen schrieb Mel’nikov-Pečerskij zwei Romane über das alltägliche Leben unter den Altgläubigen: Pečerskij, Andrej: V lesach. St. Petersburg 1881. Mel’nikov, Pavel Ivanovič: Na gorach. Razskazano Andreem Pečerskim. St. Petersburg 1881. Zeitgenossen kritisierten, dass es sich dabei nicht um realistische, sondern um stark romantisierte Darstellungen der Altgläubigen handele, die von den tatsächlichen Gegebenheiten stark abwichen. Bezobrazov, V. P.: Rezension zu Andrej Pečerskij: V lesach, in: Russkaja Mysl’ 11 (1883), 129. 53 [–]: Mel’nikov, Pavel Ivanovič, in: Vvedenskij, B. A. (Hg.): Bol’šaja sovetskaja ėnciklopedija. Bd. 27. Moskau 1954, 125. 54 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole 166–198. 55 Die Strigol’niki hatten die Simonie der Orthodoxen Kirche kritisiert und in der Folge die kirchliche Hierarchie abgelehnt. Ihre neu gegründeten Gemeinden wurden ähnlich wie bei den priesterlosen Altgläubigen von Nastavniki geleitet, wodurch die Spendung der verschiedenen Sakramente infrage stand. 56 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole 169. 57 Ebd. 169 f.
150 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Raskol« 1857 nicht mehr aus. Vielmehr erklärt er, dass das priesterliche Altgläubigentum nur aufgrund der Ablehnung der Reformen Nikons und der anschließenden Verfolgung durch die Regierung entstanden sei. Unter Pёtr I. habe sich die Opposition zwischen Altgläubigen und Staat durch die Einführung deutscher staatlicher Institutionen und die Abschaffung des Patriarchats der Orthodoxen Kirche zugespitzt.58 Die Verfolgung der Altgläubigen durch den Staat führte in Mel’nikov-Pečerskijs Darstellung nicht nur zur Entstehung des priesterlichen Altgläubigentums, sondern mache dieses zu einer politischen Gefahr: Im Jahr 1846 war es einigen Gemeinden der Popovščina gelungen, in der Belaja Krinica auf Habsburger Territorium ein Kloster zu gründen und den Metropoliten von Sarajevo, Amvrosij, zu einem Übertritt zum Altgläubigentum zu bewegen.59 In der Folge, so Mel’nikov-Pečerskij, gelte der österreichische Herrscher unter den priesterlichen Altgläubigen im In- und Ausland nun als Beschützer des alten Glaubens. Deswegen sympathisierten diese Altgläubigen mit der österreichischen Regierung und stünden der russländischen ablehnend gegenüber.60 Im Kriegsfall mit Österreich könne der altgläubige Metropolit der Belaja Krinica in Bischofsmontur nach vornikonianischem Stil und mit achtendigem Kreuz vor den Truppen der Habsburger marschieren. Dann würden sich bis zu fünf Millionen Einwohner des Russländischen Reiches, die einen Großteil des russischen Kapitals akkumuliert hatten, gegen die Regierung erheben.61 Diese Beschreibung einer politischen Gefahr, die von den Altgläubigen ausgehe, erinnert sehr stark an Liprandis Befürchtungen. Mel’nikov-Pečerskij macht für die Entstehung einer solchen Bedrohung allerdings allein die staatliche Verfolgung der priesterlichen Altgläubigen verantwortlich, die er angesichts dessen, dass sich die priesterlichen Altgläubigen abgesehen von der äußeren Form ihrer Riten nicht von der Orthodoxie unterschieden, als unnötig beschreibt.62 Im Jahr 1862 veröffentlichte Mel’nikov-Pečerskij fünf »Briefe über den Raskol«, in denen er seine Ansichten über den religiösen Dissens weiter revidierte. Er kritisiert in seinen ersten beiden Briefen, dass die russländische Gesellschaft und Verwaltung nicht wisse, was der Raskol eigentlich sei.63 Grund für die Unkenntnis sei die repressive staatliche Politik, insbesondere unter Nikolaj I. Diese habe dazu geführt, dass die Altgläubigen ihre Angelegenheiten im Verborgenen regelten. Die Zensur habe jegliche Auseinandersetzung mit dem Raskol in der russischen Gesellschaft verhindert.64 Die Folgen der kritisierten Unkenntnis über den Raskol beschreibt Mel’nikov-Pečerskij in seinem dritten Brief. 58 Ebd. 177 f. 59 Beliajeff: The Rise of the Old Orthodox Merchants 104–107. 60 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole 191 f. 61 Ebd. 193. 62 Ebd. 193–198. 63 Mel’nikov: Pis’ma o raskole 203. 64 Ebd. 214.
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Sowohl in der öffentlichen Diskussion als auch in der Gesetzgebung sei nur unzureichend zwischen verschiedenen Gruppen unterschieden worden, die unter der Bezeichnung Raskol zusammengefasst wurden.65 Zwar habe es seit 1830 verschiedene Versuche der Regierung gegeben, die Sekten des Russländischen Reiches in schädliche und weniger schädliche einzuteilen. Doch seien diese Klassifikationen anhand zweifelhafter Kriterien66 und mit unzureichendem Verständnis vom Raskol vorgenommen worden.67 Die fehlende bzw. fehlerhafte Differenzierung habe zu einer unangemessenen Behandlung vieler religiöser Dissidenten durch die Regierung geführt.68 Aufgrund dieses Missstandes schickt sich Mel’nikov-Pečerskij in seinem fünften Brief an, eine eigene Unterteilung des religiösen Dissenses aufzustellen. Seine Grundlage war das kanonische Recht der Russisch-Orthodoxen Kirche, welches zwischen Häretikern (eretiki), Schismatikern (raskol’niki, schizmatiki) und Podcerkovniki unterschied.69 Zu den Häretikern zählt Mel’nikov-Pečerskij Duchoborcy und Molokany. Sie zeichneten sich dadurch aus, dass sie nicht alle Dogmen der Orthodoxen Kirche anerkennten und aufgrund ausländischer und insbesondere protestantischer Einflüsse entstanden seien.70 Dadurch unterschieden sie sich grundlegend von den Schismatikern, zu denen Mel’nikov-Pečerskij die priesterlosen Altgläubigen zählt, und den Podcerkovniki, worunter die priesterlichen Altgläubigen zu verstehen sind. Diese seien originär russische Erscheinungen, deren Entstehung nicht auf ausländische Einflüsse zurückzuführen sei.71 Seine Überlegungen führen M el’nikov-Pečerskij in den »Briefen über den Raskol« aus dem Jahr 1862 dazu, auch die priesterlosen Altgläubigen vor staatlichen Bedrückungen bewahren zu wollen. Trotz der Betonung religiöser Überzeugungen bei der Klassifikation des religiösen Dissenses übernahm Mel’nikov-Pečerskij die Vorstellungen Ščapovs über den politischen und sozialen Charakter des altgläubigen Protests. Er schreibt, dass sich die Altgläubigen im 17. Jahrhundert gegen Reformen des zivilen Lebens gerichtet und seitdem die gesellschaftliche, zivile und familiäre Ordnung der russischen Starina zu ihrem Ideal erhoben hätten.72 Bereits in seinem »Bericht über den russischen Raskol« von 1857 entsteht aus der Ver 65 Dies galt laut Mel’nikov im Übrigen auch für die Untersuchungen Ščapovs. Ebd. 204 f. 66 Ebd. 220 f. 67 Ebd. 223–230. 68 Mel’nikov vergleicht die Bezeichnung vieler unterschiedlicher religiöser Gruppen als Raskol’niki und die Folgen dieser Vereinfachung mit einem Arzt, der jede Krankheit als Unwohlsein bezeichnet, ihr die gleichen Eigenschaften zuschreibt und sie mit ein und dem selben Mittel zu heilen versucht. Ebd. 218 f. 69 Ebd. 242. 70 Ebd. 243 f. 71 Ebd. 245. 72 Ebd. 246.
152 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) mischung religiöser und sozialer Kriterien zur Erklärung des Kirchenschismas Mel’nikovs etwas widersprüchliche Definition des priesterlichen Altgläubigentums als »Opposition der Starina gegen Reformen der Regierung, die von veralteten Bräuchen abfallen […] musste, um Russland aus der chinesischen Stagnation [den Folgen der Mongolenherrschaft, d. Vf.] zu befreien. Die schismatische Opposition wirkt im Namen des Glaubens.«73 Einen politischen Impetus erkennt Mel’nikov-Pečerskij im Altgläubigentum 1862 jedoch nicht mehr – im Unterschied zu seinen eigenen Ausführungen von 1857 und zu Ščapovs Vorstellungen. Zwar gelte die soziale und politische Ordnung der Starina unter Altgläubigen als Ideal, doch strebten sie nicht danach, diese im Diesseits verwirklichen zu können. Stattdessen erwarteten sie in der nahen Zukunft die Ankunft des Antichrist und das Jüngste Gericht. Unter diesen Umständen sei es undenkbar, dass die Altgläubigen politisch aktiv würden.74 Hatte die Lehre vom Antichrist, die unter den Altgläubigen seit Pёtr I. verbreitet war, Mel’nikovPečerskij 1853 in seinem Bericht »Über die derzeitige Stellung des Schismas im Gouvernement Nižegorod« zu der Einschätzung geführt, dass alle Altgläubigen dem Staat gegenüber feindlich gesinnt und Repressionen das geeignete Mittel gegen sie seien,75 so stellte Mel’nikov-Pečerskij die Altgläubigen neun Jahre später aufgrund ihrer eschatologischen Erwartungen als unpolitisch dar. Die Häretiker dagegen, die Mel’nikov-Pečerskij von den Schismatikern unterschieden hatte, erwarteten noch im Diesseits ein goldenes Zeitalter für ihre Lehre und ihre Sekte. Dies unterscheide sie von Raskol’niki und Podcerkovniki und mache sie zu einer politischen Gefahr.76 Ähnlich wie Liprandi unterscheidet Mel’nikov-Pečerskij also zwischen religiösen Dissidenten, die ihre Erlösung im Jenseits suchen und damit politisch ungefährlich seien, und Sekten, die im Diesseits die Erlösung erwarten und daher politisch unzuverlässig seien. Angefangen bei seiner Beschreibung »Über die Lage der Raskol’niki« aus dem Jahr 1853, über seinen »Bericht« von 1857 bis zu seinen »Briefen« Anfang der 1860er Jahre änderte sich Mel’nikov-Pečerskijs Vorstellung vom adäquaten staatlichen Umgang mit den Altgläubigen fundamental. Er wurde von einem Verfolger der Altgläubigen zu einem Verteidiger ihrer Lehre, die er als der orthodoxen sehr nahe stehend beschrieb, und ihres Wesens, welches er als originär russisch verstand. Es bleibt unklar, was den Gesinnungswandel Mel’nikov-Pečerskijs bewirkt haben mag. Er setzte sich kritisch mit den Untersuchungen über den religiösen Dissens seiner Zeit auseinander und widersprach der neuen Interpretation Ščapovs. In den Zeitschriften
73 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole 175. Hervorhebung im Original. 74 Mel’nikov: Pis’ma o raskole 248 f. 75 S. Kapitel 3.1. 76 Mel’nikov: Pis’ma o raskole 249.
Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums 153
der Zeit wurde er dafür als hinterwäldlerisch kritisiert.77 Insbesondere von Seiten der Orthodoxen Kirche wurde ihm der Ruf als Kenner des Altgläubigentums aberkannt, da seine Ausführungen der Interpretation und den Zielen der Staatskirche zuwiderliefen.78 Die öffentliche Meinung der 1860er Jahre folgte einer anderen Interpretation des Raskol, die von den Schriften Ščapovs beeinflusst war. Dies gilt auch für das Denken radikaler Emigranten in London, die sich die Altgläubigen für ihre revolutionären Ziele zu Nutze machen wollten. Einflussreiche Personen in Livland dagegen folgten Mel’nikov-Pečerskijs Auffassung und seinen Ratschlägen über den staatlichen Umgang mit den Altgläubigen, wie wir später sehen werden.
4.1.2 Die Altgläubigen als revolutionäre Kraft Neue Interpretationen für die Gründe des Schismas der Russisch-Orthodoxen Kirche interessierten nicht nur russische Gelehrte innerhalb des Reiches. Radikale Oppositionelle, die aufgrund ihrer Kritik an der Zensur im Russländischen Reich, an der Verweigerung des Rechts auf Privatsphäre und der Verfolgung von Dissidenten das Imperium verlassen hatten,79 nahmen Ščapovs, Liprandis, Mel’nikovs und weitere Werke wahr und bemühten sich selbst um die Sammlung von Materialien über das russische Altgläubigentum. 1847 hatte Aleksandr Ivanovič Gercen zusammen mit seiner Ehefrau, seiner Mutter und seinen Söhnen Russland verlassen. Er wurde Staatsbürger der Schweiz und gründete 1853 mit Hilfe polnischer Emigranten in London die Freie Russische Presse (Vol’naja russkaja tipografija).80 Die Zeitschrift mit der größten Auflage, die die Londoner Druckerei herausgab, war »Die Glocke« (Kolokol),81 die in den Jahren 1857 bis 1868 in 245 Ausgaben erschien. Die Zeitschrift war Sprachrohr der radikalen Opposition in Russland, die die Einführung der Meinungsfreiheit, die Abschaffung von Körperstrafen und die Emanzipation der leibeigenen Bauern forderte.82 Herausgegeben in London, ge 77 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 483. 78 Stadnikov: Moskovskoe staroobrjadčestvo 6. 79 Frede, Victoria: Freedom of Conscience, Freedom of Confession, and »Land and Freedom« in the 1860s, in: Kritika: Explorations in Russian and Eurasian History 13/3 (2012), 561–584, hier 561. 80 Williams, Helen: Ringing the Bell: Editor-Reader Dialogue in Alexander Herzen’s »Kolokol«, in: Book History 4 (2001), 115–132, hier 116 f. 81 Weitere Zeitschriften, die von der Freien Russischen Presse herausgegeben wurden, waren der »Polarstern« (Poljarnaja zvezda), die »Allgemeine Versammlung« (Obščee Veče), von der weiter unten noch die Rede sein wird, und der »Historische Sammelband der Freien Russischen Presse« (Istoričeskij Vestnik Vol’noj russkoj tipografii). 82 Williams: Ringing the Bell 120.
154 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) langte »Die Glocke« auf unterschiedlichen Wegen in die Hände der Intelligencija in St. Petersburg, Moskau und andernorts im Russländischen Reich.83 Die Londoner Publikationen über die Altgläubigen waren in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Vasilij Kel’sievs »Sammlung von Regierungszeugnissen über die Raskol’niki« Das Interesse an den Altgläubigen wurde in den Kreisen rund um die Freie Russische Presse durch Afanasij Ščapovs »Das russische Raskol-Altgläubigentum« angestoßen. Aleksandr Gercen rekrutierte Vasilij Ivanovič Kel’siev,84 um sich in London diesem Thema zu widmen.85 Im Auftrag Gercens gab Kel’siev zwischen 1860 und 1863 in vier Bänden eine »Sammlung von Regierungszeugnissen über die Raskol’niki«86 heraus. Darin finden sich Dokumente und Berichte von Regierungsbeamten über den staatlichen Umgang mit den Altgläubigen, die als geheim klassifiziert worden waren.87 Kel’siev wollte diese Dokumente der russischen Gesellschaft zugänglich machen. In der »Sammlung«, die Kel’siev mit einem Vorwort versah,88 sind unter anderem Mel’nikov-Pečerskijs »Bericht über den russischen Raskol« aus dem Jahr 185789 und Liprandis »Kurzer Überblick über die in Russland existierenden Schismen, Häresien und Sekten« von 1853 abgedruckt.90 In seinem Vorwort zur »Sammlung der Regierungszeugnisse über die Raskol’niki« beschreibt Kel’siev die Geschichte Russlands als Widerstreit des imperialen Zentrums, welches um staatliche Einheit besorgt sei, mit den Regionen, die ihre Autonomie bewahren wollten.91 Diese regionale Autonomie habe sich durch die Gleichheit aller Mitglieder einer Gemeinde und eine gewählte Selbst 83 Miller, Martin A.: The Russian Revolutionary Émigrés, 1825–1870. Baltimore, London 1986, 108. 84 Kel’siev hatte sich bereits im Alter von 20 Jahren in St. Petersburg dem Radikalismus zugewandt. Nachdem er bis 1855 an der Handelsschule in St. Petersburg studiert hatte, arbeitete er für die Russisch-Amerikanische Handelsgesellschaft. Als er 1858 in deren Auftrag nach Nordamerika reisen sollte, entschied er sich bei einem Zwischenstopp in London, in England zu bleiben und für die Freie Russische Presse zu arbeiten. Frede: Freedom of Conscience 567. Beyer: Das altgläubige Unternehmertum 48. P., D.: Novye podvigi našich londonskich agitatorov, in: Russkij Vestnik 41 (1862), 425–438, hier 427 f. 85 Levintova, Ekaterina: Does History Repeat Itself? Public Discourse of the Contem porary Russian Old Believer Elite, in: The Slavonic and East European Review 85 (2007), 753–779, hier 758. 86 Kel’siev: Sbornik pravitel’stvennych svedenij. 87 P., D.: Novye podvigi 428. Williams: Ringing the Bell 124. 88 Kel’siev, Vasilij Ivanovič: Predislovie, in: Ders. (Hg.): Sbornik pravitel’stvennych sve denij o raskol’nikach. Bd. 1. London 1860, III–XL . 89 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole. 90 Liprandi: Kratkoe obozrenie. 91 Kel’siev: Predislovie III.
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verwaltung ausgezeichnet.92 Nachdem sich der Moskauer Zentralstaat durchgesetzt hatte, hätten die Ideale der regionalen Autonomie im Kosakentum in den südlichen Steppen, an der Volga, dem Don und am Dnepr weitergelebt.93 Mit dem Kosakentum habe sich der Raskol verbunden, der sich nicht nur gegen die Regierung, sondern auch gegen die Orthodoxe Kirche gewandt und darüber hinaus alle ausländischen Einflüsse abgelehnt habe.94 Diese Darstellung der Geschichte des Raskol erinnert sehr stark an Ščapov. Wir erinnern uns, dass auch dieser eine enge Verbindung zwischen Kosakentum und Altgläubigen angenommen hatte. Er hatte den Raskol als genuin russisches Phänomen beschrieben, welches sich gegen die Übernahme ausländischer Bräuche und staatlicher Institutionen gewehrt habe. Und er sah in der Gemeindestruktur der Raskol’niki die Landgemeinde der russischen Starina mit eigener Rechtsprechung und Selbstverwaltung verwirklicht.95 Kel’siev führt weiter aus, dass sich das Altgläubigentum sogleich nach seiner Entstehung in unterschiedliche Richtungen aufgespalten habe. Wie Mel’nikov-Pečerskij vor ihm beschreibt Kel’siev die Popovščina als zahlenstärkste Richtung des Altgläubigentums, deren Einfluss seit der Gründung ihrer Metropolie in der Belaja Krinica täglich ansteige.96 Kel’siev konkretisiert Ščapovs Idee vom Altgläubigentum als sozialem und politischem Protest, indem er den Altgläubigen konkrete Forderungen unterstellte: Der Raskol wünsche die Abschaffung von Steuern für den Unterhalt der Regierung, er erkenne zentrale Gerichte nicht an und regele seine Angelegenheiten intern durch die Gemeindeleiter, er fordere die Aufhebung der Ausweispflicht und die Gewährung vollständiger persönlicher Freiheit. Daher lehne der Raskol jede Art polizeilicher Kontrolle ab und habe Zar Pёtr I. für die Einführung der Kopfsteuer zum Antichrist erklärt. Außerdem fordere er die Freiheit des Bekenntnisses (svoboda ispovedaija) für alle Richtungen des Altgläubigentums.97 Laut Kel’siev habe sich bisher allerdings kein führender Kopf gefunden, der diese Forderungen in geordneter Form äußern könnte.98 In der Gefahr, die Liprandi durch ein Zusammengehen der Altgläubigen mit den gebildeten Slavophilen beschrieben hatte, sieht Kel’siev die Chance der Londoner Oppositionellen: Ob die Altgläubigen ihren Forderungen Nachdruck verleihen, »hängt nur von ihrer Annäherung an die gebildete Minderheit ab, die keineswegs feindlich gegenüber ihnen ist, und die mit dem Raskol viele gemeinsame Feinde hat«99 –
92 Ebd. IV. 93 Ebd. 94 Ebd. 95 S. Kapitel 4.1.1. 96 Kel’siev: Predislovie VIIf. 97 Ebd. XXVIII–XXX . 98 Ebd. V. 99 Ebd. XL .
156 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) womit Kel’siev auf die russischen Oppositionellen verweist. Tatsächlich sollte die revolutionäre Organisation »Land und Freiheit« (Zemlja i Volja) versuchen, die Altgläubigen für ihre Sache zu gewinnen. Zemlja i Volja war im Jahr 1861/62 von Vasilij Kel’siev, Nikolaj Platonovič Ogarёv, Nikolaj Aleksandrovič Serno-Solov’ёvič (1834–1866) und anderen Oppositionellen gegründet worden.100 Ziel der Organisation war die Koordinierung von Revolutionären in ganz Russland in der Erwartung eines großen Bauernaufstandes in Folge der Bauernemanzipation im Frühjahr 1863.101 Aleksandr Gercen war seit Längerem der Überzeugung gewesen, dass die St. Petersburger Regierung nur mit Hilfe der Altgläubigen und Sektenangehörigen gestürzt werden könne.102 Angestoßen durch die Ščapov’sche Vorstellung von der Unzufriedenheit der Altgläubigen mit der politischen Ordnung gingen die Revolutionäre davon aus, dass die Altgläubigen ihre Ziele teilten. Sie versuchten die religiösen Dissidenten des Russländischen Imperiums für eine Revolution gegen die Regierung zu gewinnen.103 Zu diesem Zweck hatte sich Kel’siev für die Ausweitung der Politik der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) auf die Altgläubigen aller Richtungen ausgesprochen,104 des Rechtes also, als Gemeinschaft die eigene Religion auf dem Territorium des Russländischen Reiches in Gottesdiensten und Riten praktizieren zu dürfen.105 In Flugblättern der Organisation Zemlja i Volja, die 1863 während des polnischen Aufstandes verteilt wurden und die an das einfache Volk gerichtet waren – welches zu einem erheblichen Teil dem Altgläubigentum und anderen Sekten angehörte –, fand sich die Forderung nach Freiheit des Glaubensbekenntnisses (svoboda veroispovedanija) wieder.106
100 Frede: Freedom of Conscience 562 f. Diese erste Organisation Zemlja i Volja ist nicht zu verwechseln mit der späteren gleichnamigen Gruppe, die 1876 ins Leben gerufen wurde. Im Unterschied zu dieser bildete jene Zemlja i Volja, von welcher hier die Rede ist, nur eine lose Schirmorganisation der radikalen und liberalen Gegner der Autokratie ohne kohärente Ideologie. 101 Ebd. 563. 102 Ebd. 566. 103 Ebd. 561. 104 Frede urteilt über Kel’sievs Absichten: »[H]e was less interested in the rights of Russian subjects under the existing regime than he was in fomenting revolution among peasant dissenters.« Ebd. 569. Im Übrigen hatte sich Kel’siev in seinem Vorwort zur »Sammlung der Regierungszeugnisse über die Raskol’niki« für die Freiheit des Glaubensbekenntnisses ausgesprochen, weil er glaubte, dass Verfolgungen religiösen Fanatismus hervorbrächten und es sinnlos sei, den Leuten die Ausübung von Riten zu verbieten, selbst wenn diese ihnen selbst schadeten, solange sie sie freiwillig vollzogen. Weil dies stark den Ausführungen John S tuart Mills über die Nichteinmischung des Staates in die religiösen Praktiken der Mormonen in »On Liberty« ähnelt, nimmt Victoria Frede an, dass Kel’siev Mills Werk gelesen hatte, bevor er sein Vorwort verfasste. Ebd. 569. 105 Werth: The Emergence of »Freedom of Conscience« 593. 106 Frede: Freedom of Conscience 576.
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Nikolaj Ogarёv und das Obščee Veče Nicht nur in Flugblättern richteten sich die Revolutionäre rund um die Freie Russische Presse und die Organisation Zemlja i Volja an die altgläubige Bevölkerung. 1862 gründete Ogarёv zusammen mit Kel’siev in London die Zeitschrift »Allgemeine Versammlung« (Obščee Veče), welche bis Mitte des Jahres 1864 erschien. Der Titel spielte auf die in der Forschung als Volksversammlungen übersetzten Organe der Interessenvertretung des Volkes der mittelalterlichen Rus’ an.107 So sollte auch die Zeitschrift Obščee Veče Kel’sievs Vorstellungen zufolge als Artikulationsorgan der Interessen des bäuerlichen Volkes dienen. Allerdings wollte Kel’siev die Zeitschrift, die der religiös heterodoxen Landbevölkerung ein Forum bieten sollte, in erster Linie religiösen Fragen gewidmet wissen. Ogarёv bevorzugte jedoch soziale und politische Fragen und konnte sich gegen Kel’siev durchsetzen, der daraufhin im Oktober 1862 in das Osmanische Reich reiste, um dort in direkten Kontakt mit den Altgläubigen zu treten.108 Die Idee, das Obščee Veče zu einem Forum für Altgläubige und Sektenangehörige zu machen, behielt Ogarёv jedoch bei. In der ersten Ausgabe vom 15. Juli 1862 schreiben die Herausgeber: Im Kolokol war die Stimme der unterdrückten Altgläubigen nicht zu hören […]; nicht zu hören waren die Klagen der Bauern […] über das, was sie von den mächtigen Leuten erdulden; Angelegenheiten des Glaubens blieben nebensächlich; die Überzeugungen der so genannten unteren Stände wurden nicht ausgesprochen. […] Zur Allgemeinen Versammlung laden die Herausgeber alle ein: Altgläubige, Händler und Handwerker, Bauern und Meščane, Adelige, Soldaten und Raznočincy.109
Ogarёv war davon überzeugt, dass die Raskol’niki die revolutionärsten Elemente des russischen Volks seien, weshalb er die Propaganda im Obščee Veče an eben diese Gruppe richten wollte.110 Wie in den Flugblättern von Zemlja i Volja forderte Ogarёv in seinen Beiträgen im Obščee Veče Konfessionsfreiheit für Altgläubige und Sektenangehörige, die er als Voraussetzung für sämtliche zivile Freiheiten begriff. Die Forderung nach Glaubensfreiheit müsse sich mit dem Anspruch auf autonome Verwaltung des Landes verbinden.111 Daher rief Ogarёv die Altgläubigen dazu auf, ein Konzil der führenden Köpfe aller Altgläubigen-Denominationen einzuberufen.112 107 Goehrke, Carsten: Groß-Novgorod und Pskov/Pleskau, in: Hellmann, Manfred (Hg.): Handbuch der Geschichte Russlands. Bd. 1/I. Stuttgart 1981, 431–483, hier 461 f. Insbesondere das Veče in Novgorod im 12. Jahrhundert wird als demokratische Institution angesehen, in der das Volk seine Interessen artikulieren und den Fürsten sowie dessen Stellvertreter bestellen und entlassen konnte. 108 Frede: Freedom of Conscience 578. 109 Obščee Veče vom 15.7.1862, 1. 110 Mervaud, Michel: Une alliance ambiguё: Herzen, Ogarev et les vieux-croyants, in: Revue des études slaves 69 (1997), 119–134, hier 119. 111 Ebd. 120. 112 Ebd. 125.
158 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Die Altgläubigen sollten ihre inneren Differenzen beilegen und sich zusammenschließen. Vereint sollten sie vom Heiligsten Synod die gleichen Rechte fordern, die andere staatlich anerkannte Glaubensbekenntnisse wie Judentum oder Islam bereits hatten.113 Außerdem sollte die Versammlung den Weg zur Einberufung eines zemskij sobor ebnen.114 Der Begriff zemskij sobor war von dem Slavophilen Konstantin Sergeevič Aksakov (1817–1860) im Jahr 1850 geprägt worden.115 Er bezeichnete die Reichsversammlungen der vorpetrinischen, Moskauer Rus’,116 die in den Quellen allerdings nur »Versammlungen« (sobory) oder »ganzes Land« (vsja zemlja) genannt werden. Das Adjektiv zemskij stammt von Aksakov selbst, womit er den Versammlungen einen gesamtgesellschaftlichen Charakter verleihen wollte, welcher das Moskauer Reich laut dem Slavophilen vom Westen unterscheide. Außerdem nahm Aksakov an, dass diese Versammlungen von den zemskie ljudi117 dominiert worden seien,118 welche er den Dienstleuten (služilye ljudi) gegenüberstellte. Aksakov ging auf diese Weise von einer Gegenüberstellung von Land (zemlja) und Staat aus,119 wobei die Reichs‑ versammlung bei Aksakov als Bund des Fürsten mit dem Volk gedacht wurde.120 Den zemskie sobory wurde von Aksakovs Anhängern eine wichtige politische Bedeutung als Organe der Opposition des Volkes gegen die höheren »Klassen«121 der Bojaren und der geistlichen Obrigkeiten122 zugesprochen.123 113 Ebd. 129 f. Die hier angesprochenen Beiträge im Obščee Veče stammen von einem anonymen »Staroverec«, welchen Michel Mervaud mit Ogarёv selbst identifiziert. 114 Ebd. 125. 115 Aksakov, Konstantin Sergeevič: Ob osnovnych načalach russkoj istorii, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 1. Moskau 1861, 1–16. 116 Es gab im 16. und 17. Jahrhundert sowohl staatliche Versammlungen oder Sobory als auch kirchliche. Ganz klar getrennt waren die staatliche und die kirchliche Sphäre auf diesen Sobory allerdings nicht. So waren an den staatlichen Versammlungen des 17. Jahrhunderts Würdenträger der Orthodoxen Kirche beteiligt und an den kirchlichen Sobory waren Laien beteiligt. Stan, Liviu: Die Laien in der Kirche. Eine historisch-kirchenrechtliche Studie zur Beteiligung der Laien an der Ausübung der Kirchengewalt. Aus dem Rumänischen übersetzt von Hermann Pitters. Herausgegeben von Stefan Tobler. Würzburg 2011, 164–167. 117 Zemskie Ljudi oder Zemlja bezeichnet die im 17. Jahrhundert an der gewählten Kommunalverwaltung aktiv oder passiv beteiligte Bevölkerung, die vorwiegend aus Steuerzahlern bestand, aber nicht ökonomisch-rechtlich definiert war. Torke, Hans-Joachim: Die staatsbedingte Gesellschaft im Moskauer Reich: Zar und Zemlja in der altrussischen Herrschaftsverfassung. 1613–1689. Leiden 1974, 1. 118 Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft 119 f. 119 Ebd. 44. 120 Ebd. 121. 121 Von Ständen im westlichen Sinne des Wortes kann für Russland vor 1861 kaum gesprochen werden. Ebd. 1. 122 Ključevskij, Vasilij Osipovič: Sostav predstavitel’stva na zemskich soborach drevnej Rusi, in: Russkaja Mysl’ 11 (1890), 141–178, hier 142. 123 Der Interpretation Konstantin Aksakovs widersprach 1858 der Historiker Sergej Michajlovič Solov’ev (1820–1879) im achten Band seiner »Geschichte Russlands seit der ältes
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Bei Ogarёv verband sich diese Idee von den zemskie sobory mit den Zielen der Revolutionäre bezüglich der Altgläubigen: Schon Aleksandr Gercen hatte von Ščapov die Vorstellung übernommen, dass die Gemeinden der Altgläubigen nach dem Vorbild der Landgemeinden der russischen Starina mit periodischer Umverteilung des Bodens, eigener Gerichtsbarkeit und Selbstverwaltung aufgebaut waren. So verstand Gercen diese altrussische Bauerngemeinde als Grundlage einer zukünftigen sozialistischen Ordnung.124 In der Folge verfolgten die Schlüsselfiguren von Zemlja i Volja zwei Ziele: Das Land sollte umverteilt und an die Bauern gegeben werden; auf allen Ebenen der Verwaltung sollten repräsentative Regierungen eingerichtet werden.125 Der Zemskij sobor, den Ogarёv von den Altgläubigen im Obščee Veče forderte, sollte diese Forderungen verwirklichen, die bestehende Ordnung stürzen und eine neue etablieren, die auf einer selbst gewählten Verwaltung basierte. Der Versuch der Kontaktaufnahme zu den Altgläubigen Der polnische Aufstand hatte gezeigt, dass die Bauern, insbesondere die Altgläubigen, nicht zu einer Revolution zu bewegen waren. Vasilij Kel’siev versuchte seit 1863 zu einem Anführer des alten Glaubens Kontakt aufzubauen.126 Er war bereits im Oktober 1862 ins Osmanische Reich gereist und hatte sich mitsamt seiner Familie in Tulcea niedergelassen. Von dort aus versuchte er ein Schmugglernetzwerk aufzubauen, um Druckwerke nach Russland zu bringen, die dort verboten waren. Außerdem agitierte er unter den dort lebenden Altgläubigen für eine Revolution.127 Seit Anfang des Jahres 1863 führte Kel’siev in Konstantiopel Verhandlungen mit dem Altgläubigen Osip Semёnovič Gončarov (1793–1880). Gončarov war ein Kosakenataman, der unter den Einwohnern der Dobružda und den Emigranten von Tulcea hohes Ansehen genoss. Er war zu materiellem Wohlstand gelangt, war eine Führungspersönlichkeit und bewies Geschick im Umgang mit einflussreichen Personen und den Obrigkeiten des Osmanischen Reiches. Kel’siev verfolgte in den Verhandlungen mit Gončarov zwei Absichten: Er wollte eine Druckerei der Altgläubigen in Tulcea aufbauen128 und eine Schule für die Kinder der dortigen Altgläubigen einrichten.129 Im Juni ten Zeit« (Solov’ev, Sergej Michajlovič: Istorija Rossii s drevnejšich vremen. 29 Bände. St. Petersburg 1851–1879.). Daraufhin entbrannte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein Streit darum, ob die Zemskie Sobory im Verhältnis zum Herrscher oppositionellen Charakter gehabt hatten oder nicht. Torke: Die staatsbedingte Gesellschaft 121. 124 Frede: Freedom of Conscience 566. 125 Ebd. 563. 126 Mervaud: Une alliance ambiguё 121. 127 Frede: Freedom of Conscience 570. 128 Mervaud: Une alliance ambiguё 123. 129 P., D.: Partija Gercena i staroobrjadcy, in: Russkij Vestnik 68 (1867), 400–410, hier 403.
160 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) 1863 brach Gončarov nach Frankreich auf und wollte sich im Herbst mit Gercen und Ogarёv in London treffen. Wie dieses Treffen verlief, ist unklar. Doch nachdem Gončarov nach Tulcea zurückgekehrt war, zerstritt er sich mit Kel’siev und die radikalen Oppositionellen mussten ihre Ziele gegenüber den Altgläubigen im Osmanischen Reich aufgeben.130 Nach diesem Rückschlag startete Vasilij Kel’siev den letzten Versuch der Revolutionäre, die Altgläubigen auf ihre Seite zu ziehen. Er versuchte, einen orthodoxen Bischof für jene priesterlichen Altgläubigen zu gewinnen, die die Metropolie in der Belaja Krinica nicht anerkannten. 1863 war der russisch-orthodoxe Bischofssitz von Jerusalem abgeschafft worden. Der dortige Bischof Archimandrit Kirill wurde, da in der Russisch-Orthodoxen Kirche kein anderer Bischofssitz vakant war, vorläufig dem Erzbischof von Kazan’ unterstellt.131 Kel’siev hoffte nun, Kirill dazu überreden zu können, Bischof der Altgläubigen in Kleinasien zu werden. In einem Brief vom 21. Oktober 1863 bat er Kirill, nach Konstantinopel zu kommen und sich an die Spitze der Altgläubigen des Osmanischen Reiches zu stellen.132 In seinem Brief wiederholte Kel’siev seine Vorstellungen über das Altgläubigentum und die Gründe, weshalb Ogarёv, Gercen und er selbst sich so sehr für die Altgläubigen interessierten. Diese seien die Bewahrer der Bräuche, der Überzeugungen und der Lebensart der Starina, die jedwede ausländische Neuerung ablehnten. Stattdessen wollten sie ein originär russisches Leben auf Grundlage der Gleichheit aller, der Selbstverwaltung der Gemeinden durch gewählte Personen, der Freizügigkeit und der Priesterwahl durch die Gemeinde aufbauen. Da die Altgläubigen und die Kosaken in ihren Gemeinden viele dieser Grundsätze bereits verwirklicht hätten, könnten sie als Ausgangspunkt für den Aufbau einer neuen Zivilisation mit einer juristischen und ökonomischen Ordnung dienen, die sich von der der westlichen Welt unterscheide, ihr aber keineswegs unterlegen sei. Aus diesem Grund suche die »Partei Gercens, deren Vertreter ich [Vasilij Kel’siev] hier bin«133 eine Annäherung an die Altgläubigen.134 Mit dieser Äußerung machte Vasilij Kel’siev deutlich, dass er nicht im Auftrag der Altgläubigen handelte, sondern im Namen der Revolutionäre rund um die Freie Russische Presse. Er hoffte, bei Erfolg seines Vorhabens einen mächtigen Verbündeten an der Spitze der Altgläubigen und damit Einfluss auf diese zu haben. Eine Antwort von Kirill erhielt Kel’siev nicht. Der Archimandrit verstarb drei Jahre später in Kazan’. Der Brief Kel’sievs wurde im »Orthodoxen Gesprächspartner« (Pravoslavnyj sobesednik) von 1867 abgedruckt, der von der Geistlichen Akademie in Kazan’ herausgegeben wurde.135 130 Mervaud: Une alliance ambiguё 123–125. 131 P., D.: Partija Gercena 403 f. 132 Ebd. 405–408. 133 Ebd. 406 f. 134 Ebd. 135 Ebd. 409 f.
Der Paradigmenwechsel in der Interpretation des Altgläubigentums 161
Das Scheitern aller Bestrebungen Der Publizist D. P.136 bezweifelte bereits nach der zweiten Ausgabe des Obščee Veče im Jahr 1862, dass die Londoner Emigranten das einfache Volk erreichen könnten. Ihr Verständnis für die Bedürfnisse und die Überzeugungen sowohl der Altgläubigen als auch des russischen Volkes im Allgemeinen sei unzureichend.137 Man müsse »bis zum Äußersten blind, bis zur Torheit verblendet sein, um auf irgendeinen Erfolg des Obščee Veče unter den Altgläubigen und überhaupt unter dem russischen einfachen Volk zu hoffen«,138 schreibt D. P. im »Russischen Boten« (Russkij Vestnik). Die weitere Entwicklung sollte ihm Recht geben. Anfang des Jahres 1864 veröffentlichte der Altgläubigenmetropolit der Belaja Krinica einen bischöflichen Rundbrief (Archipastyrskoe poslanie) an die Gemeindemitglieder: [J]ede Vernunft und Untertänigkeit zeigt vor eurem Zaren, und haltet euch fern von allen seinen Feinden und Verrätern, sowie von aufständischen gesetzlosen Polen, und umso mehr von den hinterlistigen Gottlosen, die sich in London einnisteten und von dort aus mit ihren Schriften die europäischen Staaten empören… Lauft fort von jenen dreifach Verfluchten, auf die gleiche Weise, wie Menschen vor dem Angesicht der fürchterlichen Tiere und der kriechenden Schlangen davonlaufen; sie sind im Grunde Vorreiter des Antichrist, die versuchen durch Chaos der Ankunft des gestorbenen Sohnes zuvorzukommen.139
Metropolit Kirill warnte die Altgläubigen davor, mit den Londoner Oppositionellen in Kontakt zu treten. Und tatsächlich verweigerten die Altgläubigen in Tulcea schließlich die Kontaktaufnahme mit Vasilij Kel’siev.140 Der Kosakenataman Osip Gončarov übergab die Briefe, die er von Gercen und Ogarёv erhalten hatte, im Mai 1864 der Dritten Abteilung – das heißt der russländischen Geheimpolizei – in Konstantinopel.141 Das Obščee Veče wurde am 15. Juli 1864 eingestellt.142 Die Organisation Zemlja i Volja wurde Ende des Jahres aufgelöst, weil man die Hoffnung verloren hatte, dass die bäuerliche Bevölkerung den Aufstand üben könnte.143 Nach seinen erfolglosen Bemühungen, mit den Altgläubigen im Osmanischen Reich Kontakt aufzunehmen, erlitt Vasilij Kel’siev eine Reihe von 136 Die Initialen legen nahe, dass es sich um Dmitrij Ivanovič Pisarev (1840–1868) handelt, der mit Gercen, Serno-Solovёvič und Černiševskij in Verbindung stand. Mit Sicherheit lässt sich dies jedoch nicht feststellen. 137 P., D.: Novye podvigi 432. 138 Ebd. 436. 139 Zitiert nach: P., D.: Partija Gercena 401. 140 Frede: Freedom of Conscience 569. 141 Ebd. 581. 142 Mervaud: Une alliance ambiguё 133. 143 Frede: Freedom of Conscience 583.
162 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Schicksalsschlägen. Im Juni 1864 starb sein Bruder Ivan, der zu ihm in die Türkei gereist war, an Typhus. Seine zwei Töchter starben aufgrund der Cholera und seine Frau erlag der Tuberkolose. Am 11. Juni 1867 berichteten die »Moskauer Nachrichten« (Moskovskie Vedomosti), dass sich Vasilij Kel’siev den russischen Beamten in der Türkei gestellt hatte, sich verhaften und nach St. Petersburg hatte bringen lassen.144 In seinem »Geständnis« (Ispoved’) an den Zaren145 schrieb er im Jahr 1867, dass er die russischen Bauern immer gefürchtet und eingesehen habe, dass die Altgläubigen keine Glaubenstoleranz für alle forderten, sondern nur ihren eigenen Glauben verbreitet wissen wollten.146 Gewiss schrieb Kel’siev diese Zeilen mit ihrem Adressaten im Hinterkopf. Doch lässt sein Geständnis darauf schließen, dass er und auch die übrigen Oppositionellen ihre Hoffnungen in die Altgläubigen aufgegeben und eingesehen hatten, dass die eigenen Ziele nicht mit denen der Altgläubigen übereinstimmten.147 Welchen Einfluss hatten die Vorstellungen Gercens, Ogarёvs, Kel’sievs und anderer Revolutionäre auf die russische Gesellschaft und die Regierungsbeamten? Wie viele Leser die Publikationen der Freien Russischen Presse erreichten, kann nicht genau ermittelt werden, da die Druckwerke in Russland verboten waren. Gercens Zeitgenosse Boborykin schrieb, dass der Kolokol in Russland von Personen aller Stände gelesen worden sei, »from the Winter Palace to the smallest police-office«.148 Die Ideen der Revolutionäre über ihre Zusammenarbeit mit den Altgläubigen waren in Russland ebenfalls bekannt,149 wie aus zahlreichen Auseinandersetzungen mit diesem Thema in russischen Zeitschriften ersichtlich ist. Und auch wenn ihre Bemühungen, mit der altgläubigen Bevölkerung zusammenzugehen und gemeinsame Ziele durchzusetzen, letztendlich scheiterten, blieb die Idee, dass revolutionäre Oppositionelle sich den bäuerlichen Dissens zu Nutze machen könnten, bis ins frühe 20. Jahrhundert bestehen.150 So sah der Oberprokuror des Heiligsten Synods Konstantin Petrovič Pobedonoscev (1827–1907) in den Altgläubigen noch 20 Jahre nach der letzten Ausgabe des Obščee Veče gefährliche potentielle Verbündete der Liberalen.151
144 Miller: The Russian Revolutionary Émigrés 124. 145 Vasilij Kel’siev schrieb sein »Geständnis« (ispoved’) mit dem Ziel, wieder im Russländischen Reich leben zu dürfen. Er war der erste der Emigranten, der wieder nach Russland zurückkehrte und auf die Seite der Autokratie überlief. Ebd. 122. 146 Frede: Freedom of Conscience 570. 147 Ebd. 570. 148 Boborykin, Pёtr Dmitrievič: Nihilism in Russia, in: Fortnightly Review 10 (1868), 117–138, hier 126. 149 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 483. 150 Frede: Freedom of Conscience 567. 151 Simon: Konstantin Petrovič Pobedonoscev 186 f.
Der Kurswandel unter Aleksandr II. 163
4.2 Der Kurswandel unter Aleksandr II. Mel’nikov-Pečerskij hatte in seinem »Bericht über den russischen Raskol« des Jahres 1857 den undifferenzierten Umgang der Regierung mit den Altgläubigen kritisiert und staatliche Verfolgungen dafür verantwortlich gemacht, dass die priesterlichen Altgläubigen für die Regierung zu einer Gefahr werden könnten.152 Zar Aleksandr II. scheint Mel’nikov-Pečerskijs Ratschlägen Gehör geschenkt zu haben. Er berief einen Rat ein, der aus acht Beamten bestand – darunter Viktor Nikitič Panin (1801–1874), der 1864 den Vorsitz über eine Kommission erhalten sollte, die Vorschläge über die Gewährung religiöser und ziviler Rechte an die Altgläubigen ausarbeiten sollte. Gegenüber diesem Rat verkündete Aleksandr II.: Meine Herren, ich befinde, dass die Maßnahmen gegen die zivilen Vergehen, die von dem Herren Innenminister angenommen und von meinem verstorbenen Vater bekräftigt wurden, unnötig sind: Die Polizei muss ihre Verpflichtung erfüllen; die Geistlichkeit soll predigen und belehren: aber aufrichtige Überzeugungen müssen geachtet werden – ich will, dass in meinem Staat die Toleranz regiere!153
Hoffnungen der Altgläubigen, dass unter Aleksandr II. bessere Zeiten für ihre Gemeinden anbrechen würden,154 schienen angesichts solcher Aussagen begründet zu sein. Doch ob die Altgläubigen Lettgallens, Kurlands und Livlands zurecht so weit gingen, Aleksandr II. gar als ihren »Zaren-Befreier« (car’-osvoboditel’) anzusehen,155 ist Gegenstand des vorliegenden Kapitels.
4.2.1 Aleksandr II.: Zar-Befreier der Altgläubigen? Nach seiner Thronbesteigung bestätigte Aleksandr II. die wesentlichen Bestimmungen über die Altgläubigen, die unter seinem Vater erlassen worden waren. Ziel des neuen Zaren war es nicht, das System des Umgangs mit den Raskol’niki grundlegend zu verändern; vielmehr war Aleksandr II. der Meinung, dass Missstände, die sich in diesem Bereich ergeben hatten, auf die ungenaue und falsche Durchführung bestehender Vorgaben durch die lokalen Verwaltungen zurückzuführen seien. Daher beauftragte er das Innenministerium, eine Instruktion 152 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole 193–198. S. Kapitel 4.1.1. 153 Kel’siev: Pravitel’stvennyja rasporjaženija 189 f. 154 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 423. 155 Lekler: Staroobrjadcy Latvii i car’-osvoboditel’ 306 f. Lekler erklärt diese freundschaftliche Gesinnung der Altgläubigen gegenüber dem Zaren mit der Aufhebung der Leibeigenschaft sowie der Erlaubnis einiger Altgläubiger, die in Kriegssiedlungen nahe Dinaburg untergebracht waren, wieder nach Lettgallen zurückkehren zu dürfen. Ebd.
164 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) für den Umgang mit den Altgläubigen auszuarbeiten. Am 15. Oktober 1858 bestätigte Aleksandr II. die vom Innenministerium ausgearbeitete »Instruktion als Leitfaden für ausübende Tätigkeiten und Beratungen bezüglich Angelegenheiten, die den Raskol betreffen« (Nastavlenie dlja rukovodstva pri ispolnitel’nych dejstvijach i soveščanijach po delam, do raskola otnosjaščimsja, im Folgenden: Instruktion). In der Instruktion fanden sich die repressiven Maßnahmen des Systems Nikolajs I. wieder: Ziel der Regierung sei die Bekämpfung des Raskol. Zu diesem Zweck müsse Artikel 60 des XIV. Bandes des Gesetzeskodex unter allen Umständen beachtet werden –156 jener Artikel also, der aufgrund seiner ungenauen Formulierung die Willkür der Obrigkeiten im Umgang mit den Altgläubigen unter Nikolaj I. ermöglicht hatte.157 Außerdem blieben alle Einschränkungen der religiösen Organisation der Altgläubigen in Kraft: So durften die Altgläubigen gemäß der Instruktion keine Bethäuser, Einsiedeleien oder Klöster errichten;158 sie durften ihre Riten und ihre Lehre nicht öffentlich zur Schau stellen;159 Bitten von Altgläubigen um Erlaubnis, nach ihren Riten zu heiraten, ihre Kinder zu taufen oder Verstorbene zu beerdigen, sollten nicht beantwortet werden, da sich die Regierung nicht in ihre religiösen Angelegen heiten einmische.160 Zwischen 1858 und 1863 ließ Aleksandr II. jedoch einige repressive Bestimmungen aufheben: Bezüglich der religiösen Organisation der Altgläubigen wurde am 3. Juni 1858 ein Gesetz erlassen, welches die Konfiszierung von Ikonen, Büchern und anderen Kultgegenständen an eindeutigere Regeln band. Ziel des Gesetzes sollte es sein, Missmut der Altgläubigen, der durch das bisherige rigorose Vorgehen erregt worden war, in Zukunft zu verhindern.161 Zwar kann die neue Bestimmung durchaus als Verbesserung der Lage der Altgläubigen im Russländischen Reich angesehen werden, doch blieben die wesentlichen Einschränkungen ihrer religiösen Organisation bestehen: das Verbot, neue Bethäuser zu errichten und alte Bethäuser zu renovieren. Auch wurden 156 SPR 556–559 (15.10.1858). 157 Vgl. Kapitel 3.1. Der Paragraf besagt, dass die Altgläubigen nicht für ihre Meinungen über den Glauben verfolgt werden dürften. Doch es sei ihnen verboten, andere zu ihrem Schisma zu verleiten, die Orthodoxe Kirche oder ihre Diener zu beleidigen und die »allgemeinen Regeln der guten Ordnung« zu verletzen. SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 13 f. (Art. 60). 158 SPR 556–559 (15.10.1858). 159 Ebd. Wie schon unter Nikolaj I. wurden unter öffentlicher Zurschaustellung des Raskol verstanden: Prozessionen; Gesang außerhalb der Gebetshäuser und Gesang innerhalb von Gebetshäusern, der außerhalb hörbar ist; die Feier von Taufen und Hochzeiten; das Geleit Verstorbener zum Friedhof in kirchlichen Gewändern oder unter Gesang; das Tragen von Mönchsgewändern; die Eröffnung neuer und die Erneuerung bestehender Bethäuser; die Nutzung von Glocken und das Anbringen von Kreuzen an Bethäusern. 160 SPR 556–559 (15.10.1858). 161 SPR 553–556 (3.6.1858).
Der Kurswandel unter Aleksandr II. 165
die Gemeindeleiter der Altgläubigen nicht als geistliche Personen mit den damit verbundenen Standesrechten und -pflichten anerkannt. Bezüglich der Fami lienrechte der Altgläubigen wurde am 25. Januar 1861 entschieden, dass Artikel 208 des Strafgesetzbuches nicht auf Altgläubige angewandt werden dürfe, die in einer orthodoxen Kirche getraut worden waren und ihre Kinder im Altgläubigentum erzogen hatten.162 Artikel 208 sah vor, dass Eltern, die sich verpflichtet hatten, ihre Kinder orthodox zu taufen und zu erziehen, und dieser Verpflichtung nicht nachgekommen waren, mit ein bis zwei Jahren Gefängnishaft zu bestrafen und dass ihre Kinder an orthodoxe Verwandte oder Vormünder zu übergeben waren.163 Zwar muss die Abschaffung dieser Bestimmung als Abkehr von repressiven Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen gedeutet werden, doch traf sie nicht den Kern der entrechtenden Gesetzgebung in diesem Bereich. Nach wie vor war es den Altgläubigen nicht erlaubt, ihre eigenen Matrikel bücher zur Eintragung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen zu führen. Die damit zusammenhängende rechtliche Nichtanerkennung der Ehen der Altgläubigen, die nach den alten Riten durch ihre Gemeindeleiter geschlossen worden waren, blieb unter Aleksandr II. zunächst bestehen, wodurch die Altgläubigen und ihre Kinder aus den meisten Angelegenheiten des Familienrechts ausgeschlossen blieben. Lediglich im sozio-ökonomischen Bereich wurde unter Aleksandr II. ein Kernpunkt der repressiven Gesetzgebung abgeschafft. 1863 wurde den Altgläubigen erlaubt, sich dem Kaufmannsstand anzuschließen.164 Ihnen wurde zum ersten Mal seit langer Zeit wieder ein Weg eröffnet, den steuerpflichtigen Ständen zu entkommen.165 Darüber hinaus wurden die Altgläubigen zur Wahl öffentlicher Land- und Volost’-Ämter zugelassen. Ausgenommen blieben nur die Ämter des Volost’-Hauptes und des Landältesten.166 Dies bedeutete allerdings nicht, dass die Regierung die Altgläubigen nun als loyale Untertanen betrachtete, sondern hing vielmehr mit der Notwendigkeit zusammen, die entsprechenden Ämter auch in Ortschaften zu besetzen, in denen praktisch ausschließlich Altgläubige lebten. Diese Stoßrichtung des Gesetzes wird durch den Zusatz deutlich, dass Altgläubige in den westlichen Gouvernements sämtliche ländliche Ämter ohne Ausnahmen übernehmen durften, da sie in diesem Gebiet das »russische Element« bildeten.167 Mit der Einführung einer neuen Städteordnung im Jahr 1870 wurden die Altgläubigen außerdem zu
162 SPR 579 f. (25.1.1861). 163 SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1857, 51 f. (Art. 208). 164 SPR 602 (13.11.1863). 165 Zuvor war ihnen lediglich die Möglichkeit eröffnet worden, auf befristete Zeit Kaufmannsprivilegien zu erhalten, wodurch sie aber in den steuerpflichtigen Schichten verblieben. Kel’siev: Pravitel’stvennyja rasporjaženija 202. 166 PSZ II, Bd. 38, Nr. 40334, 264 f. (29.11.1863). 167 Ebd.
166 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Wahlen sämtlicher öffentlicher städtischer Ämter zugelassen.168 Alle anderen Einschränkungen der Altgläubigen im sozio-ökonomischen Bereich, wie beispielsweise das fehlende Recht, Ehrentitel verliehen zu bekommen, blieben auch unter Aleksandr II. bestehen. Der Zar nahm auf diese Weise nur punktuelle Verbesserungen der Lage der Altgläubigen vor. Die beschränkte Ausweitung der Rechte der Altgläubigen sollte allerdings nicht der Ausbreitung des alten Glaubens Vorschub leisten. Ziel der Regierung war es weiterhin, den Übertritt Orthodoxer zum alten Glauben zu verhindern. Doch setzte die Regierung nicht länger ausschließlich auf entrechtende Maßnahmen; stattdessen setzte sich die Überzeugung durch, dass die Bildung der orthodoxen Bevölkerung der beste Schutz vor deren Übertritt zum alten Glauben sei. Daher wurde die orthodoxe Geistlichkeit durch ein Gesetz vom 27. Februar 1866 dazu verpflichtet, die Bevölkerung in ihren Predigten zum Besuch von Schulen aufzurufen. In den geistlichen Seminaren wurde Pädagogik als Ausbildungsfach eingeführt, um den Kontakt zwischen Geistlichkeit und Gemeindemitgliedern zu verbessern.169 Die Bildung des Volkes war auch das Ziel der seit dem 8. Mai 1864 eingerichteten orthodox-kirchlichen Bruderschaften. Ihre Aufgabe war es, durch Wohltätigkeit und Aufklärung auf die Altgläubigen einzuwirken und diese dadurch an die Staatskirche anzunähern.170 Die gesetzlichen Änderungen Aleksandrs II. bedeuteten keine grundlegende Reform des repressiven Systems seines Vaters gegenüber den Altgläubigen. Der neue Zar behielt die Praxis bei, die Angelegenheiten der Altgläubigen geheimen Beratenden Komitees zu übergeben,171 wodurch der staatliche Umgang mit den religiösen Dissidenten Geheimsache blieb. Eine öffentliche Diskussion über die staatliche Gesetzgebung in diesem Bereich wurde dadurch unterbunden. Doch kritische Stimmen am System Nikolajs I. mehrten sich – nicht nur auf Seiten radikaler Oppositioneller. In Livland äußerten einige Staatsbeamte Kritik am Umgang mit den Altgläubigen. Um den Kurs der Regierung Aleksandrs II. gegenüber den Altgläubigen besser verstehen zu können, muss man nicht nur einen Blick auf die Gesetzgebung jener Zeit werfen, sondern die konkrete Ausgestaltung der Politik untersuchen. Dies geschieht im Folgenden am Beispiel der Altgläubigen in Livland.
168 SPR 662 (16.6.1870). 169 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 128. 170 Ebd. 171 Tomsk: SPR 563 (25.12.1858). Orenburg: SPR 571 f. (1.12.1859).
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4.2.2 Die Altgläubigen in Livland unter Aleksandr II. Pavel Mel’nikov-Pečerskij hatte im Jahr 1862 in seinen »Briefen über den Raskol« kritisiert, dass die Regierung zu schlecht über das Altgläubigentum informiert sei, um eine kohärente Politik entwickeln zu können.172 Der Regierung Aleksandrs II. war dieser Missstand durchaus bewusst. Anfang der 1860er Jahre erhielten der Beamte für Besondere Aufträge Vladimir Aleksandrovič Sollogub und der Schriftsteller Nikolaj Semёnovič Leskov den Auftrag, die Regierung über die Eigenarten und Tätigkeiten der Altgläubigen in Livland zu unterrichten. Beide Beamte gaben Empfehlungen an die Regierung ab, wie bezüglich ihrer Bethäuser, der Schulen und ihrer Integration in die staatliche Verwaltung mit den Altgläubigen umzugehen sei. Bevor wir zu diesen konkreten Vorschlägen und deren Umsetzung in den 1860er Jahren kommen, wollen wir Sollogub und Leskov in der neu erwachten Diskussion über das Altgläubigentum verorten. Nikolaj Leskov war vom Minister für Volksbildung Aleksandr Vasil’evič Golovnin (1821–1886) zu den Altgläubigen geschickt worden, um Möglichkeiten für den Aufbau von Volksschulen für die Kinder der Altgläubigen auszuloten.173 Aufgrund eingeschränkter finanzieller Mittel des Innenministeriums für eine solche Reise fiel die Wahl auf zwei unweit von St. Petersburg gelegene Altgläubigengemeinden.174 Leskov brach am 12. Juli 1863 in Richtung Pskov auf175 und fuhr einige Tage später von dort aus nach Riga. Seine in den beiden Städten gemachten Erfahrungen mit der altgläubigen Bevölkerung legte er in seinem Bericht »Über die Raskol’niki der Stadt Riga, insbesondere in Bezug auf die Schulen«176 dar. Der Volksbildungsminister ließ diesen Bericht in 60 Exemplaren drucken und an die Minister und Mitglieder des Regierenden Rates ausgeben.177 Für die Öffentlichkeit durfte der Bericht erst nach dem Tod des ehemaligen Generalgouverneurs der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov im Jahr 1882 herausgegeben werden.178 Weitere Materialien über seine Reise veröffentlichte Leskov in den Aufsätzen »Schulen des Raskol«,179 »Mit Leuten der alten Frömmigkeit«,180 »Zwei Meinungen bezüglich der Ehe‑ 172 Mel’nikov: Pis’ma o raskole 219 f. 173 Leskov wollte auf seiner Reise unter anderem Tver’, Romanov, Jaroslavl’, Kostroma, Kazan’, Perm’, Tjumen’, Zlatoust, Saratov, Samara, Simbirsk und Moskau besuchen. 174 Leskov, Andrej: Žizn’ Nikolaja Leskova 244–247. 175 Ebd. 176 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 384–459. 177 Leskov, Andrej: Žizn’ Nikolaja Leskova 247. 178 Kovalchuk: Der baltische Generalgouverneur 199. 179 Leskov, Nikolaj Semёnovič: Raskol’nič’i školy, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 3: Sočinenija 1862–1864. Moskau 1996, 170. 180 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 482–588.
168 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) frage«181 und »Den Rigaer Priesterlosen«,182 welche im Jahr 1863 in der Zeitschrift »Sammlung zur Lektüre« (Biblioteka dlja Čtenija) erschienen. Was schrieb Leskov in diesen Werken über die Altgläubigen Livlands und was empfahl er seinem Vorgesetzten? Nikolaj Leskov war sowohl mit Afanasij Ščapov als auch mit Pavel Mel’nikov-Pečerskij persönlich bekannt183 und hatte vor seiner Abreise nach Pskov sogar die Werke der Londoner Emigranten über die Altgläubigen rezipiert.184 Er teilte deren Vorstellung vom Altgläubigentum als Ausdruck politischer Unzufriedenheit jedoch nicht.185 Ščapov hatte die Raskol’niki als relativ geschlossene Gemeinschaft beschrieben, die durch gemeinsame Ziele vereint sei. Dies war von Aleksandr Gercen, Vasilij Kel’siev und Nikolaj Ogarёv aufgenommen worden und hatte diese dazu veranlasst, die Altgläubigen zu einem Aufstand bewegen zu wollen. Nikolaj Leskov weist deren Vorstellungen in seinem Bericht an Golovnin zurück. Er schreibt, die Altgläubigen seien keine gesellschaftliche Kraft, da sie weder gemeinsame Ziele noch Solidarität nach innen besäßen.186 Vielmehr folgt Leskov der Vorstellung Pavel Mel’nikov-Pečerskijs, den er als »einzigen […] unvoreingenommenen zeitgenössischen Schriftsteller über den Raskol« beschreibt.187 Er glaubte nicht an die Bereitschaft der Raskol’niki zu einem offenen Aufstand.188 So sei die Ablehnung des Fürbittgebets für den Zaren unter den Fedoseevcy laut Leskov auch nicht als Opposition gegen den Thron oder die Obrigkeiten zu verstehen; vielmehr handele es sich um eine alte Tradition, die keinerlei politische Bedeutung mehr habe.189 Geheime Zusammenkünfte der Altgläubigen, wie die Zeitschrift der Oppositionellen Vasilij Kel’siev und Nikolaj Ogarёv Obščee Veče ihren Lesern weismachen wollte,190 gebe es nicht, weil die Schismatiker untereinander zu stark entzweit seien. Die unterschiedlichen Raskol’niki seien lediglich durch ihren gemeinsamen Hass auf die orthodoxe Geistlichkeit und ihre Respekt losigkeit gegenüber den Beamten, die sie verfolgten, miteinander verbunden.191 181 Leskov, Nikolaj Semёnovič: Dva mnenija po voprosu o brakach, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 3: 1862–1864. Moskau 1996, 593–598. 182 Leskov, Nikolaj Semёnovič: Rižskim bespopovcam, in: Ders.: Polnoe sobranie sočinenij. Bd. 3: Sočinenija 1862–1864, 589. 183 Ageeva, Elena Aleksandrovna: Rižskaja Grebenščikovskaja staroobrjadčeskaja obščina v 1863 g. po dokumentam archiva N. S. Leskova v Rossijskom gosudarstvennom archive literatury i iskusstva, in: Ivanov, Illarion Ivanovič (Hg.): Staroverie Latvii. Riga 2005, 290–304, hier 290. 184 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 483 f. 185 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 145. 186 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 573 f. 187 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 448. 188 Ebd. 189 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 571. 190 Für eine Darstellung der Ziele dieser Zeitschrift, s. Kapitel 4.1.2. 191 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 574.
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Und so hielten sie umso stärker zusammen und an ihrem Glauben fest, je schlechter ihre Lage im Russländischen Reich war.192 Denn die Verfolgungen bänden die Altgläubigen stärker zusammen und ließen sie über innere Probleme hinwegsehen. Leskov schreibt: »Der Raskol […] betrachtet all diese seltsamen Verfolgungen oft als Wunde, durch welche die inneren Leiden des Organismus erleichtert werden.«193 Würden die Verfolgungen aufhören, gäbe es folglich überhaupt keine Solidarität unter den Altgläubigen mehr, weil die Unterschiede zwischen unterschiedlichen Arten des Raskol zu groß seien.194 Wie Mel’nikov-Pečerskij in seinem »Bericht über den russischen Raskol«195 aus dem Jahr 1857 sah Leskov keine Gefahr von den Altgläubigen ausgehen, wenn die Regierung ihre Verfolgungen einstellen würde. Im Unterschied zu Ščapov, Kel’siev und Ogarёv betonte Leskov die Unterschiede zwischen einzelnen Richtungen des Raskol und glaubte nicht, dass diese überwunden werden könnten, wie Nikolaj Ogarёv in der Zeitschrift Obščee Veče gehofft hatte. Leskovs Schlussfolgerung war, dass man das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche überwinden könne, wenn die Regierung die Altgläubigen nicht länger verfolgen und ihnen zivile Rechte gewähren sowie Schulen für ihre Kinder einrichten würde. Eine Notwendigkeit, den »Raskol auszurotten«, wie das offizielle Ziel der Regierung gegenüber dem Altgläubigentum seit Nikolaj I. lautete, erkannte Leskov allerdings nicht, da er von den Altgläubigen keine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung ausgehen sah.196 Wie kein anderer Beamter der Regierung jener Zeit zeigte Nikolaj Leskov in seinem Bericht an Volksbildungsminister Golovnin sowohl Verständnis für die Altgläubigen als auch Sympathie mit ihnen. Drei Jahre vor Nikolaj Leskov hatte Vladimir Aleksandrovič Sollogub einen Bericht über die livländischen Altgläubigen verfasst.197 Von 1860 bis 1863 diente er von Dorpat aus unter Generalgouverneur Suvorov als Beamter für besondere Aufgaben.198 In diesem Amt erhielt er die Aufgabe, über die Altgläubigen im Kreis Dorpat zu berichten und Maßnahmen aufzuzeigen, die geeignet schienen, die »Sittlichkeit« in diesem Teil der Bevölkerung aufrecht zu erhalten.199 Sollogub schrieb am 24. Juli 1860 einen knapp 80 Seiten langen Bericht, in welchem er den Kurs Nikolajs I. gegenüber den Altgläubigen umfassend kritisierte, 192 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 454. 193 Ebd. 450. 194 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 574. 195 Mel’nikov: Zapiska o russkom raskole 191 f. 196 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 454. 197 Sollogub war von St. Petersburg nach Dorpat gezogen, um sich dort mit seiner Familie niederzulassen. Dorpat war ihm bereits vertraut, da er die dortige Universität besucht und Diplomatie studiert hatte. Sollogub, V. A.: Vospominanija. Moskau 1931, 490. 198 Dienstbuch Vladimir Aleksandrovič Sollogubs. EAA F. 291, op. 1, d. 264, l. 1–18. 199 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 2.
170 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Probleme im Verhältnis zu den Raskol’niki in Dorpat und deren Gründe darlegte und Maßnahmen für den zukünftigen Umgang mit den Altgläubigen am Peipussee vorschlug. Sollogub setzt sich in seinem Bericht nicht mit dem Schisma als gesamtrussischem Phänomen auseinander. Inhaltliche Übereinstimmungen mit den Werken Afanasij Ščapovs und Ivan Liprandis weisen zwar darauf hin, dass Sollogub deren Schriften über den Raskol rezipiert hatte, doch beschränkte sich Sollogub in seinem Bericht ausschließlich auf die Altgläubigen in den Ostseegouvernements, mit Fokus auf den Kreis Dorpat. Auf Unterschiede zwischen den Varianten des Raskol ging Sollogub nicht ein; in dem von ihm behandelten Gebiet lebten ohnehin ausnahmslos priesterlose Altgläubige. Unklar bleibt, ob Sollogub in den Altgläubigen Livlands eine Gefahr für den Staat oder die Gesellschaft erkannte. Er äußert dies an keiner Stelle explizit. Allerdings folgt er der Interpretation Ščapovs, dass der Raskol Protest gegen die politischen Zustände sei. »[W]eder das zweifingrige Kreuzeszeichen noch äußerliche Riten [machen] das Wesen des Raskol aus«,200 schreibt Sollogub in seinem Bericht an den Generalgouverneur, »der Raskol selbst ist kein Glaubensbekenntnis, sondern nichts anderes als der Starrsinn dunkler und in der Wurzel verbissener Leute«.201 Sollogub begreift das Altgläubigentum also nicht als eine religiöse Erscheinung. Stattdessen macht er drei Gründe für die Existenz des Schismas verantwortlich. Erstens speise sich der Raskol aus dem Hass des Volkes gegen die orthodoxen Priester. Bei den Altgläubigen werde dies dadurch verstärkt, dass die Gemeindegeistlichkeit sie an der Ausübung ihrer Bräuche und in ihrer alltäglichen Ruhe störe.202 Sollogub beschreibt einen konkreten Fall: Eines Tages seien ein Bauer und eine Bäuerin zu ihm nach Dorpat gekommen und hätten sich unter Tränen beklagt, dass der orthodoxe Priester von Nos ihnen ihre Kinder weggenommen und unter Gewaltanwendung orthodox getauft habe. Anschließend sollten die Kinder orthodoxen Vormündern zur Erziehung übergeben werden. Die Wegnahme ihrer Nachkommen verletze die Gefühle der Eltern und stelle für viele Familien ein wirtschaftliches Problem dar, weil ihnen die für die Landwirtschaft notwendigen Arbeitskräfte genommen würden. Sollogub kritisiert, dass die orthodoxen Priester gewaltsam gegen die Altgläubigen vorgingen und dabei Rückendeckung von der Regierung erhielten. Dies werfe ein schlechtes Licht auf die Staatskirche und bringe den Raskol’niki Mitleid ein. Der Fall stelle gar die Geschichte des jüdischen Jungen Mortara in den Schatten, die seinerzeit das gesamte aufgeklärte Europa empört habe.203 Der jüdische Junge Edgardo Mortara war 1858 durch den Kirchenstaat entführt worden. 200 Ebd., l. 28ob. 201 Ebd., l. 3ob-4. 202 Ebd., l. 2ob. 203 Ebd., l. 17ob-19.
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Angeblich war er von einem Dienstmädchen katholisch getauft worden; durch seine Entführung sollte sichergestellt werden, dass er eine christliche Erziehung bekommen werde. Diesem Vorgehen des Kirchenstaates wurde von der europäischen Öffentlichkeit mit großer Empörung begegnet.204 Durch diese Bemerkung kritisierte Sollogub sowohl den repressiven Umgang mit den Altgläubigen als auch die Einmischung der orthodoxen Geistlichkeit in die Angelegenheiten der Raskol’niki. Der zweite Grund für das Schisma sei die mangelnde Aufklärung und Bildung der Altgläubigen.205 Der dritte und für Sollogub wichtigste Grund für das Fortbestehen des Altgläubigentums sei der Ausschluss der Altgläubigen aus dem russländischen Recht. Er kritisiert in seinem Bericht an Suvorov, dass der Umstand, dass viele Gesetze nicht für die Altgläubigen galten, gegen die Prämissen der modernen Legislatur verstoße und in vielen Fällen zu Straflosigkeit der Altgläubigen für zivile Vergehen führe.206 Dies trage dazu bei, dass das Altgläubigentum in Livland an Anhängern dazugewinne, da sich im Volk die Meinung verbreite, die Raskol’niki stünden außerhalb des Gesetzes.207 Entsprechend den drei Gründen, die Sollogub für die Existenz des Altgläubigentums verantwortlich macht, schlägt er drei Maßnahmen vor, die die Regierung ergreifen solle: Die Geistlichkeit dürfe sich nicht mehr in die Angelegenheiten der Raskol’niki einmischen, damit der Widerstand der Altgläubigen gegen die Orthodoxe Kirche sinke. Der Unwissenheit der Altgläubigen müsse man durch die Einrichtung von Schulen für ihre Kinder entgegenw irken.208 Zuletzt müsse man den Altgläubigen zivile Rechte verleihen.209 Sollogubs Verständnis vom Raskol unterschied sich stark von demjenigen Nikolaj Leskovs. Ungleich Leskov legte er in seinem Bericht keine persönliche Sympathie mit den Altgläubigen an den Tag. Beiden Beamten war jedoch gemeinsam, dass sie das Nikolaj’sche System des staatlichen Umgangs mit den Raskol’niki kritisierten und ähnliche Verbesserungsvorschläge vorbrachten: Der repressive Umgang mit den Altgläubigen solle aufgegeben werden, es müssten Schulen für die Kinder der Altgläubigen eingerichtet und den Altgläubigen zivile Rechte verliehen werden. In den folgenden Kapiteln wird gezeigt, ob diese Empfehlungen Gehör fanden und in Livland umgesetzt wurden. Es werden drei Bereiche des Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigen untersucht, die so 204 Dittrich, Lisa: Antiklerikalismus in Europa. Öffentlichkeit und Säkularisierung in Frankreich, Spanien und Deuschland (1848–1914). Göttingen 2014, 11. 205 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 4. 206 Ebd., l. 4ob. Inspiration für diese Kritik mag Sollogub bei Ivan Liprandi gefunden haben. Dieser hatte bereits zuvor darauf hingewiesen, dass der Ausschluss der Altgläubigen aus den Gesetzen für diese bestimmte Vorteile mit sich brachte. Liprandi: Kratkoe obozrenie 66–68. 207 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 5. 208 Ebd., l. 14 f. 209 Ebd., l. 36.
172 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) wohl für Leskov und Sollogub als auch für die livländische Regierung in den 1860er Jahren die wichtigste Rolle spielten: 1. Der Umgang mit den Bethäusern der Altgläubigen; 2. der Umgang mit Schulen für die Kinder der Altgläubigen und 3. Überlegungen zur Integration der Altgläubigen in die zivile Verwaltung. Die Bethäuser der Altgläubigen Mit Ausnahme des Grebenščikov-Bethauses in der Moskauer Vorstadt von Riga waren unter Zar Nikolaj I. und Generalgouverneur Aleksandr Arkad’evič Suvorov alle Bethäuser der Altgläubigen in Livland geschlossen worden. Am 7. März 1861 legte der Beamte für besondere Aufträge, Hofrat Šmit, General gouverneur Suvorov einen Bericht über die Altgläubigen am Peipussee vor. Darin kritisierte Šmit, dass die Schließung der Bethäuser nicht zum Anschluss der Altgläubigen an die Orthodoxie geführt habe. Vielmehr hielten sie aufgrund der Verfolgungen noch stärker an ihrem Glauben fest, weil Repressionen Mär tyrer unter ihnen hervorbrächten.210 Tatsächlich überdachte die Regierung in Livland und St. Petersburg seit 1860 ihren Kurs gegenüber der religiösen Organisation der Altgläubigen. Im Jahr 1861 richteten die Altgläubigen der Dörfer Černyj und Kikita Bethäuser in Wohnhäusern von Gemeindemitgliedern ein.211 In Černyj diente das Haus des verstorbenen Altgläubigen Vasilij Stogov als Versammlungsort für Gottesdienste und Gebete.212 Am 12. April 1861 schrieb der orthodoxe Priester jenes Dorfes, Nikita Ščepetov, einen Bericht an den Erzbischof von Riga und Mitau Platon. Er warnte davor, dass einige Orthodoxe in Černyj nicht mehr die Kirche, sondern das Bethaus der Altgläubigen besuchten. Außerdem mache sich am Peipussee das Gerücht breit, es sei Orthodoxen nun erlaubt, sich dem Raskol anzuschließen. Insbesondere Personen, die sich erst vor Kurzem dem orthodoxen Glauben oder der Edinoverie-Kirche zugewandt hatten, träten nun wieder zum Raskol über.213 In Folge dieses Berichts forderte Erzbischof Platon den Generalgouverneur dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen, damit den Altgläubigen erklärt werde, dass der Übertritt von der Orthodoxen Kirche zum alten Glauben unter keinen Umständen erlaubt sei214 und dass die unter ihnen verbreiteten Gerüchte haltlos seien.215 210 Nikolaj Leskov gibt den Bericht des Beamten Šmit wörtlich wieder. Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 426–428. 211 Schreiben des Erzbischofs von Riga und Mitau Platon an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Suvorov vom 20.9.1861. EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 30. 212 Schreiben des livländischen Gouverneurs Oettingen an den Generalgouverneur Al’bedinskij vom 5.7.1867. EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 37. 213 EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 5–6. 214 Ebd., l. 1ob. 215 Ebd., l. 54.
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Bezüglich des Bethauses wies Erzbischof Platon Generalgouverneur Suvorov darauf hin, dass den Altgläubigen gemäß den Artikeln 62 und 64 des XIV. Bandes des Gesetzeskodex nicht erlaubt war, Bethäuser zu errichten.216 Das Dorpater Ordnungsgericht sollte die unerlaubte Eröffnung der Bethäuser in Černyj und Kikita untersuchen. Im Dezember 1861 berichtete es dem livländischen Gouverneur Maksim Antonovič Essen, dass es sich nicht um Bethäuser handele, sondern lediglich um einzelne Zimmer in Wohnhäusern von Altgläubigen, die für die Feier des Gottesdienstes eingerichtet worden seien. Gemeindeleiter der Altgläubigen gebe es in den Dörfern nicht. Die Gebete würden von unterschiedlichen Personen gelesen, in erster Linie von Kindern der Altgläubigen.217 Das Dorpater Landgericht sah auf der Grundlage dieser Voruntersuchung keine Veranlassung, eine Untersuchung anzustellen. Erstens habe nicht bestätigt werden können, dass die Altgläubigen überhaupt Bethäuser errichtet hatten, und zweitens seien Versammlungen zum gemeinsamen Gebet nicht verboten. Dieser Einschätzung schloss sich der livländische Gouverneur gegenüber Generalgouverneur Vil’gel’m Karlovič fon Liven (1800–1880)218 an.219 Ähnliches hatte sich auf der Insel Pirisaar zugetragen. Im Dorf Meži hatten die Altgläubigen in zwei Häusern Gebetsräume eingerichtet. Die Häuser wurden am 7. August 1861 versiegelt. Das Rigaer Geheime Beratende Komitee ließ diese jedoch im November desselben Jahres wieder entsiegeln mit dem Argument, dass es sich bei den Häusern um Wohnhäuser handele.220 Sowohl die Gerüchte darüber, dass es erlaubt sei, sich aus der Orthodoxie oder dem Edinoverie dem alten Glauben anzuschließen, als auch die Einrichtung von Gebetsräumen in den Privatwohnungen zweier Altgläubiger in Černyj und Kikita blieben letztlich folgenlos, obwohl die Nikolaj’schen Gesetze noch immer in Kraft waren, die die Errichtung von Bethäusern und den Umbau von Bauernhäusern zu Bethäusern verbaten. In Černyj wurde der Betraum bis 1866 genutzt. Im März jenes Jahres baten die Altgläubigen Fedor Klimov und Vasilij Stogov den Generalgouverneur der Ostseegouvernements um Erlaubnis, ein neues Bethaus errichten zu dürfen.221 Generalgouverneur Pёtr Andreevič Šuvalov ließ den Altgläubigen durch das Dorpater Ordnungsgericht die Erlaubnis erteilen, ihr bisheriges Bethaus zu renovieren und im Zuge dessen auch zu vergrößern.222 Am 13. April 1866 berichtete der Edinoverie-Priester des Dorfes Černyj dem Erzbischof von Riga und Mitau jedoch, dass die Altgläubigen am 216 Ebd., l. 30 f. 217 Ebd., l. 40–41. 218 Wilhelm Heinrich Freiherr von Lieven. Generalgouverneur der Ostseegouvernements von 1861 bis 1864. 219 Ebd., l. 42–43. 220 EAA F. 1655, op. 2, d. 2985, l. 5ob. 221 EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 21. 222 EAA F. 296, op. 9, d. 461, l. 1.
174 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) 8. April jenes Jahres angefangen hätten, ein neues Bethaus zu errichten. Darüber hinaus hätten sie ihre Glaubensgenossen in Riga gebeten, ihnen einen Nastavnik zu übersenden.223 Wie bereits einige Jahre zuvor befürchtete Erzbischof Platon nun, dass das neue Bethaus dazu beitragen könnte, dass sich orthodoxe Einwohner des Ortes dem Raskol anschließen würden. Dies gelte insbesondere für diejenigen Anhänger der Staatskirche, die sich erst vor kurzer Zeit der Orthodoxie angeschlossen hatten. Platon wies Šuvalov daher darauf hin, dass es weder gestattet sei, neue Bethäuser zu errichten, noch alte zu erneuern. Er forderte den Generalgouverneur dazu auf, Maßnahmen zu ergreifen, die den in Angriff genommenen Bau stoppen sollten.224 Daraufhin wurde der Vorsitzende des Dorpater Ordnungsgerichts nach Černyj entsandt. Dieser stellte fest, dass die Altgläubigen das ehemalige Wohnhaus in ein Bethaus umgewandelt hatten. Dieses war jedoch derart baufällig, dass der Ordnungsrichter den Altgläubigen den Zutritt zum Gebäude verbieten musste. Außerdem untersagte er ihnen die Fertigstellung des neuen Bethauses, wie ihm vom livländischen Gouverneur aufgetragen worden war.225 Nun baten die Altgläubigen das Ordnungsgericht, das im Bau befindliche Gebäude fertigstellen zu dürfen.226 Sie bekamen vom Generalgouverneur die Erlaubnis unter der Auflage, dass darin unter keinen Umständen ein Bethaus eingerichtet, sondern es nur als Wohnhaus genutzt werden dürfe.227 Erst 1871 stellte sich heraus, dass die Altgläubigen der Weisung des Generalgouverneurs nicht nachgekommen waren. Sie hatten im neu erbauten Gebäude ein Bethaus eingerichtet und feierten darin ihre Gottesdienste.228 Das Gleiche geschah im Dorf Kikita. Das Dorpater Ordnungsgericht hatte den Altgläubigen im Jahr 1865 erlaubt, ein neues Wohnhaus zu errichten, welches diese anschließend entgegen allen Verboten als Bethaus nutzten.229 Nicht nur hatte Generalgouverneur Šuvalov den Altgläubigen von Černyj entgegen geltenden Gesetzen erlaubt, ihr Bethaus zu renovieren; er erlaubte den Einwohnern von Voron’ja zu jener Zeit sogar die Errichtung eines neuen Bethauses.230 Dies rief sogleich den Protest des orthodoxen Gemeindegeistlichen des Dorfes hervor. Priester Michail Malein schrieb an Erzbischof Platon, dass sich die Altgläubigen Voron’jas nicht mit ihrem Bethaus zufrieden gäben, welches im Privathaus ihres Nastavnik Ul’jan Timofeev Mošarov eingerichtet sei. Stattdessen errichteten sie ein neues Bethaus, welches nur 100 Schritte von der 223 Ebd., l. 3 f. 224 Ebd., l. 3ob-4. 225 Ebd., l. 8 f. 226 Ebd., l. 12 f. 227 Ebd., l. 10 f. 228 Schreiben des livländischen Gouverneurs Vrangel’ an Generalgouverneur Bagrationi vom 1.9.1871. EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 38ob. 229 EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 38. 230 EAA F. 291, F. op. 1, d. 12381, l. 10ob.
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orthodoxen Kirche entfernt liege. Im Sommer werde der Gesang der Altgläubigen bei offenen Fenstern den Gottesdienst der Orthodoxen stören können. Grund für diese unerhörten Handlungen der Altgläubigen sei die Nachsicht, die die zivilen Obrigkeiten mit ihnen walten ließen. Dadurch würden sie in ihrer Überzeugung bestärkt, dass der Raskol nicht schlechter behandelt werde als die Оrthodoxe Kirche.231 Die Altgläubigen würden glauben, »dass sie nur irgendetwas wollen [müssten] und die Angelegenheit sei abgeschlossen – alles würde gemäß ihrer Wünsche. Und dies dient unter anderem als Grund für die Verbreitung des Raskol und den Übertritt von Orthodoxen zum Raskol.«232 Der Gemeindepriester befürchtete, dass der Verzicht auf die Anwendung jener repressiven Maßnahmen, die seit Nikolaj I. gesetzlich vorgesehen waren, zu einer Ausbreitung des Altgläubigentums im Kreis Dorpat führen würde. Erzbischof Platon wandte sich daraufhin am 28. Oktober 1865 an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Šuvalov mit der Forderung, den Bau des Bethauses zu stoppen.233 Der livländische Gouverneur von Oettingen, der das Dorpater Ordnungsgericht anwies, den Bau des Bethauses in Voron’ja zu stoppen, begründete seinen Befehl damit, dass die Altgläubigen jenes Dorfes bereits ein Bethaus besäßen.234 Die Existenz von Bethäusern der Altgläubigen, die seit 1861 in den Dörfern am Peipussee ohne Erlaubnis der Obrigkeiten errichtet worden waren, wurde Mitte der 1860er Jahre von der lokalen Regierung hingenommen. Die den weltlichen Behörden von Priester Malein vorgeworfene Nachsicht mit den Altgläubigen ging so weit, dass der Gemeindegeistliche nicht mehr sicher war, ob das Gesetz, welches den Bau von Bethäusern verbot, überhaupt noch in Kraft war.235 Die Altgläubigen behaupteten gegenüber dem Ordnungsgericht, wie sie es bereits in Černyj und Kikita gemacht hatten, dass sie kein Bethaus, sondern ein Wohnhaus errichteten.236 Ungeachtet der Erfahrungen, die wenige Jahre zuvor in Černyj und Kikita gemacht worden waren, erlaubte das Dorpater Ordnungsgericht die Fertigstellung des Gebäudes unter der Bedingung, dass es nur als Wohnhaus, nicht aber als Bethaus oder Schule genutzt werde.237 Gut vier Jahre später, zu Beginn des Jahres 1868, schrieb Priester Malein einen neuen Bericht, aus dem hervorging, dass die Altgläubigen das neue Gebäude sehr wohl als Bethaus nutzten und darin seit 1867 Gottesdienste feierten.238 Sie hatten
231 Ebd., l. 14 f. 232 Ebd., l. 14ob. 233 EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 2–3. 234 Ebd., l. 11 f. 235 Ebd., l. 15 f. 236 Ebd., l. 17ob. 237 Ebd., l. 21ob. 238 EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 1 f.
176 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) sich, wie ihre Glaubensgenossen in Černyj und Kikita, nicht an die Weisung des Dorpater Ordnungsgerichts gehalten. Um der Sache auf den Grund zu gehen, ließ Generalgouverneur Pёtr Pavlovič Al’bedinskij (1826–1883)239 den Helfer des Leiters der livländischen Gouvernementspolizeiverwaltung Kapitän Rėmer (dt. Römer) mit dem Auftrag nach Voron’ja schicken, zu überprüfen, ob das Gebäude tatsächlich als Bethaus genutzt werde.240 In der Nacht von Samstag, den 18. Januar, auf Sonntag, den 19. Januar 1869, begab sich Rėmer von Dorpat aus nach Voron’ja, um zum Morgengottesdienst der Altgläubigen, der von Mitternacht bis sechs Uhr morgens gefeiert wurde, in dem Dorf anzukommen.241 Dort fand der livländische Polizeibeamte die Altgläubigen tatsächlich beim Gottesdienst in ihrem Bethaus an. Kapitän Rėmer versammelte den Sotskij und den Staršina von Voron’ja, den Küster der orthodoxen Kirche, den Gemeindeleiter der Altgläubigen und den Besitzer des Bethauses. Er fragte die Altgläubigen, mit wessen Erlaubnis sie ein Bethaus besaßen und ob das Ordnungsgericht ihnen nicht verboten habe, ein Bethaus zu eröffnen. Die Altgläubigen antworteten, dass in allen Dörfern am Peipussee Bethäuser existierten, weshalb sie annahmen, ebenfalls ein Bethaus besitzen zu dürfen. Polizeikapitän Rėmer fuhr anschließend am Westufer des Peipussees Richtung Norden bis nach Černyj und musste feststellen, dass die Altgläubigen nicht nur in Voron’ja und Meži, sondern auch in Kikita, Černyj, Krasnye Gory und Kazapel’ Bethäuser unterhielten.242 Den Altgläubigen von Voron’ja nahm er die Schlüssel ihres Bethauses ab und ordnete an, dass niemand das Gebäude betreten dürfe. Außerdem konfiszierte er sämtliche Ikonen und Gottesdienstbücher.243 Rėmers Vorgesetzter, der Leiter der livländischen Gouvernementspolizeiverwaltung, unterrichtete Generalgouverneur Al’bedinskij von den gewonnenen Erkenntnissen: [D]ie Altgläubigen erlauben sich tatsächlich erhebliche religiöse Freiheit, aber weil der Hauptteil der Bevölkerung dort seit langer Zeit dem Raskol angehört, werden strenge Maßnahmen kaum irgendeinen Nutzen bringen, sondern im Gegenteil den jahrhundertealten engstirnigen Fanatismus der Altgläubigen entfachen, die in den letzten Jahren, in denen sie keinen Verfolgungen unterlagen, ruhig lebten und sich gehorsam allen Anordnungen der lokalen Obrigkeiten fügten, die keine religiösen Themen berührten.244
Die livländische Polizeiverwaltung erkannte an, dass die Altgläubigen gegen geltende Gesetze verstießen. Doch war ihr Leiter der Überzeugung, dass Re 239 Generalgouverneur der Ostseegouvernements von 1866 bis 1870. 240 Ebd., l. 6–8. 241 Ebd., l. 6. 242 Ebd., l. 6–8. 243 Ebd., l. 10. 244 Ebd., l. 4ob.
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pressionen nicht dazu führen würden, dass die Regierung ihre Ziele gegenüber den Altgläubigen erreichen würde. Darüber hinaus seien die Altgläubigen gute und ruhige Untertanen, die die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht gefährdeten. Die Altgläubigen wandten sich an den Gutsbesitzer von Kavast’, auf dessen Grund und Boden sich das Dorf Voron’ja befand. Dieser stellte die Lage gegenüber dem Generalgouverneur ähnlich dar wie die livländische Polizeiverwaltung: Das Woronjasche Bet- und Schulhaus steht nun seit drei Wochen geschlossen, die Leute haben keinen Ort, um ihre Andacht zu verrichten, und meine armen Russen bitten Ew. [Eure] Excellenz flehentlich, Sie möchten die Wieder-Eröffnung desselben gütigst gestatten! Sie sind sich keiner Schuld bewusst, haben mit keiner einzigen Autorität irgend einen Conflict gehabt, und meine Leute sind gewiß die ruhigsten, friedlichsten am ganzen Peipus-Strande, da sie durch mich sehr wohl wissen, daß ihre Duldung nur von ihrem Betragen abhängig ist.245
Aaron Richter verteidigte die altgläubigen Bauern, die auf seinem Gut lebten, indem er sie als ruhig und friedlich beschrieb. Er erbat bei Generalgouverneur Al’bedinskij die Erlaubnis, das Bethaus in Voron’ja wieder zu eröffnen. Schließlich würden »meine Leute […] nichts weiter wünschen als in Stille und Ruhe, auf ihre Weise, zu Gott beten zu dürfen«.246 Darüber hinaus habe Generalgouverneur Šuvalov den Bau des Bethauses seinerzeit erlaubt.247 Schließlich gelangte die Angelegenheit an den Heiligsten Synod, der vom Rigaer Erzbischof über die Ereignisse in Kenntnis gesetzt worden war. Der Stellvertreter des Oberprokurors schrieb Innenminister Aleksandr Egorovič Timašev (1818–1893), dass dieser die Schließung der Bethäuser am Peipussee veranlassen solle, da die Bethäuser entgegen geltenden Bestimmungen erbaut worden waren.248 In einem Briefwechsel im Herbst 1869 kamen Generalgouverneur Al’bedinskij und Innenminister Timašev darüber überein, dass die Schließung der Bethäuser keinen Nutzen haben und nur den »Fanatismus« der Altgläubigen steigern würde.249 Der Innenminister glaubte nicht, dass die Schließung der Bethäuser am Peipussee dazu führen würde, dass die Altgläubigen sich der Orthodoxie anschlössen. Er befand »die Anwendung der bestehenden Beschlüsse über die Betgebäude der Raskol’niki auf die von den Raskol’niki im Kreis Dorpat am Ufer des Peipussees vor fünf Jahren errichteten Bethäuser zum jetzigen Zeitpunkt für unpassend«.250 ✴ ✴ ✴ 245 Ebd., l. 10. 246 Ebd., l. 10ob. 247 Ebd. 248 Ebd., l. 19ob-20. 249 Ebd., l. 24 f. 250 Ebd., l. 25.
178 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Die Obrigkeiten duldeten die Gebetsräume, die die Altgläubigen seit Anfang der 1860er Jahre in Wohnhäusern in den Dörfern am Peipussee eingerichtet hatten. Die Polizeibehörde des Dorpater Ordnungsgerichts und auch das Dorpater Landgericht interpretierten die Gebetsräume nicht als Bethäuser, die gemäß Band XIV des Gesetzeskodex der Schließung unterlagen. Seit Mitte der 1860er Jahre begannen die Altgläubigen am Peipussee, neue Bethäuser zu errichten. Auf Forderung der staatskirchlichen Würdenträger wurde die Errichtung neuer Bethäuser untersagt. Doch durften die Altgläubigen in allen Fällen ihre begonnenen Bauvorhaben abschließen, wenn sie die Gebäude lediglich als Wohnhäuser benutzen würden. Die Erfahrung, dass die Altgläubigen sich an diese Auflage nicht hielten, konnte an diesem Vorgehen der Gouvernementsregierung nichts ändern. Stattdessen wurden die auf diese Weise neu entstandenen Bethäuser der Altgläubigen in Kazapel’, Krasnye Gory, Kikita, Černyj, Meži und Voron’ja geduldet. Für diese neue Haltung der zivilen Regierung waren zwei Überzeugungen der Protagonisten – von der livländischen Polizeiverwaltung über den Generalgouverneur der Ostseegouvernements bis hin zum Innenminister – auschlaggebend: Erstens waren sie der Meinung, die altgläubige Bevölkerung am Peipussee gefährde die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht. Wie in Kapitel 3 bereits gezeigt wurde, war dies eine der Prämissen für einen toleranten Kurs der imperialen Regierung gegenüber einer jeden Bevölkerungsgruppe. Zweitens hatte sich ausgehend von den Berichten Šmits und Vladimir Sollogubs unter den weltlichen Obrigkeiten in Livland und St. Petersburg die Überzeugung durchgesetzt, dass die Anwendung von repressiven Maßnahmen keinen Nutzen bringe. Unter Aleksandr II. waren keine neuen gesetzlichen Bestimmungen über die Bethäuser der Altgläubigen erlassen worden. Innenminister Timašev befahl Ende der 1860er Jahre jedoch, die existierenden Gesetze in Livland nicht anzuwenden. In der konkreten Umsetzung der Politik gegenüber den Bethäusern der Altgläubigen lässt sich in Livland seit den 1860er Jahren ein deutlicher Kurswechsel der Regierung beobachten. Der neue Kurs genoss allerdings nicht die Zustimmung der orthodox-kirchlichen Obrigkeiten. Die lokale Gemeindegeistlichkeit und der Erzbischof von Riga und Mitau befürchteten vielmehr, dass der Verzicht auf die Anwendung der repressiven Gesetzgebung zu einer Ausbreitung des Altgläubigentums führen werde. Dies stand im Widerspruch zu den Bemühungen der Staatskirche, die Altgläubigen für die Orthodoxie zu gewinnen. Doch fanden die Bedenken der kirchlichen Würdenträger in den 1860er Jahren bei der zivilen Verwaltung kein Gehör mehr.
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Die Schulen der Altgläubigen Unter Nikolaj I. waren nicht nur die Bethäuser der Altgläubigen in Livland geschlossen worden, sondern auch deren Schule in Riga. In den Dörfern am Peipussee verfügten die Altgläubigen nicht über eigene Schulgebäude. Der Unterricht fand in Privatwohnungen statt. Die Unterweisung altgläubiger Kinder durch so genannte Raskollehrer (raskoloučiteli) war untersagt worden.251 In den 1860er Jahren wurde der Umgang mit den Schulen der Altgläubigen unter Volksbildungsminister Aleksandr Vasil’evič Golovnin überdacht. Auslöser dafür waren Bitten der Altgläubigen gewesen, Schulen für ihre Kinder eröffnen zu dürfen. Im Jahr 1860 richtete der Altgläubige Michail Grigor’evič Smolkin im Namen seiner Glaubensgenossen der Dörfer Černyj, Kikita, Krasnye Gory, Kol’ki, Kazapel’, Voron’ja und Meži eine Bittschrift an die Regierung. Darin bat er um Erlaubnis, Schulen für die Gemeinden einrichten zu dürfen. Die condicio sine qua non sei allerdings, dass die Schulen nicht von orthodoxen Priestern geführt würden. Die Lehrer sollten von den Altgläubigen aus ihrer Mitte gewählt werden. Der Unterricht sollte Lesen, Schreiben und das Gesetz Gottes (Zakon Božija) umfassen,252 das heißt Gebete, christliche Lebensführung und die heilige Geschichte gemäß dem Alten und dem Neuen Testament.253 Eine ähnliche Bittschrift erreichte das Dorpater Ordnungsgericht am 25. November 1860. Hierin bat erneut Michail Grigor’evič Smolkin zusammen mit Semёn Petrov Krechov und Grigorij Michajlovič Smolkin um Erlaubnis, in Kikita eine Schule für die Kinder der Altgläubigen aus Kikita und Tichotka errichten zu dürfen. Sie begründeten ihre Bitte damit, dass die Lage ihrer Kinder, die ohne jede Bildung aufwachsen mussten, ausgesprochen desolat sei. In der Schule sollten daher Lesen, Schreiben und die Grundrechenarten vermittelt werden.254 Von Religionsunterricht war keine Rede mehr. Möglicherweise hofften die Altgläubigen, dass ihre Bitte eher Gehör fände, wenn sie von der Forderung des Religionsunterrichts absahen. Bereits am 24. Juli 1860 hatte sich Vladimir Sollogub in seinem Bericht an Generalgouverneur Suvorov für die Gründung besonderer Schulen für die Kinder der Altgläubigen ausgesprochen. Einer der Gründe für die Existenz des Kirchenschismas sei die mangelnde Bildung der Altgläubigen.255 Die Einrichtung von Schulen für die Altgläubigen könne diesem Problem Abhilfe schaffen. Sollogub war sich jedoch bewusst, dass die Elementarbildung der Bevölkerung der orthodoxen Gemeindegeistlichkeit unterlag und die Altgläubigen nicht 251 EAA F. 291, op. 8, d. 1072, l. 13. 252 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 428 f. 253 Šor: Staroobrjadčeskaja molennaja i škola 163. 254 EAA F. 291, op. 1, d. 16051, l. 3–4. 255 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 3ob-4.
180 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) dazu bereit waren, ihre Kinder zu orthodoxen Priestern zu schicken.256 Daher müssten besondere Schulen gegründet werden,257 deren Lehrer die Altgläubigen selbst wählen dürfen sollten.258 Der Besuch dieser Schulen sollte obligat sein und die entstehenden Kosten von den Altgläubigen selbst getragen werden. Unterrichtsfächer sollten laut Sollogub Schreiben, Lesen und Rechnen, in der Stadt Dorpat zusätzlich Geografie, Geschichte, Grammatik und Gesang sein. Reli gionsunterricht schloss Sollogub explizit aus dem Lehrplan aus.259 Angestoßen durch die Bittschriften der Altgläubigen und die Empfehlung Sollogubs, diskutierte die livländische Verwaltung über Möglichkeiten zur Einrichtung entsprechender Schulen. Das Dorpater Ordnungsgericht schloss sich Sollogubs Meinung an, dass es zwecklos sei, die Kinder der Altgläubigen auf Schulen der orthodoxen Priester zu schicken. Dies riefe nur den Widerstand der Altgläubigen hervor. Darüber hinaus sei der Zweck der orthodoxen Schulen in erster Linie die Unterweisung in orthodoxer Religionslehre, was für die Kinder der Altgläubigen nicht in Frage komme. Das Ordnungsgericht wollte den Bittschriften der Altgläubigen daher nachkommen und Schulen einrichten, deren Lehrer die Altgläubigen selbst aus ihrer Mitte würden wählen dürfen. Dieser Meinung schloss sich der livländische Gouverneur Essen an.260 Der Erzbischof von Riga und Mitau, Platon, wehrte sich jedoch gegen diese Pläne der zivilen Verwaltung. Gegenüber Generalgouverneur Suvorov, der sich ebenfalls für die Einrichtung der Schulen ausgesprochen hatte,261 brachte Platon juristische und praktische Einwände vor. Ein geheimes Zirkular des Heiligsten Synods vom 29. Oktober 1836 schreibe vor, dass die lokale orthodoxe Geistlichkeit die Raskol’niki zu unterrichten habe.262 Das Gesetz über die Volksschulen besage außerdem, dass der Unterricht im Katechismus an jeder Volksschule verpflichtend sei und dass Lehrer von Volksschulen eine entsprechende Ausbildung vorweisen müssten.263 Unter den Altgläubigen fänden sich darüber hinaus keine Personen, die die sittlichen und Bildungsanforderungen für den Einsatz als Lehrer erfüllen würden.264 Das Ziel Platons und des Heiligsten Synods war es, durch die Einführung der Schulpflicht den Einfluss der Orthodoxen Kirche auf die Altgläubigen zu stärken.265 Der Religionsunterricht durch orthodoxe Priester sollte die Kinder der Altgläubigen an den orthodoxen Glauben heran 256 Ebd., l. 25. 257 Ebd., l. 25ob. 258 Ebd., l. 36ob. 259 Ebd., l. 25ob. 260 EAA F. 291, op. 1, d. 16051, l. 1–2ob. 261 Ebd., l. 7 f. 262 Ebd., l. 9. 263 Ebd., l. 7ob-8. 264 Ebd., l. 9ob. 265 RGIA F. 797, op. 23, d. 92, l. 20 f.
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führen.266 Im Gegensatz zu den zivilen Beamten ging es der Staatskirche nicht darum, das Altgläubigentum durch Alphabetisierung zu schwächen. Im Gegenteil: Erzbischof Platon fürchtete, dass die Bildung der Altgläubigen zu einem Erstarken des Raskol führen könne. Würden Raskol’niki als Lehrer eingesetzt, eröffne dies den Altgläubigen die Möglichkeit, ihre Glaubensvorstellung an ihre Kinder in der Schule weiterzugeben. Die Verbreitung der Lese- und Schreibfähigkeit eröffne außerdem die Möglichkeit zur Ausbildung weiterer Nastavniki und sei aus diesem Grund nicht wünschenswert.267 Der Heiligste Synod forderte bezüglich der Schulpflicht für Altgläubige, dass ihre Kinder von orthodoxen Priestern unterrichtet würden268 und orthodoxer Religionsunterricht obligatorisch für sie sei.269 Der Synod war lediglich zu zwei Zugeständnissen gegenüber den Altgläubigen bereit. Ihre Kinder sollten mit nach altem Stil gedruckten Büchern unterrichtet werden, wenn dies den Wider stand ihrer Eltern schmälerte, sie auf die Schulen der orthodoxen Priester zu schicken. Außerdem sollten die Lehrer darauf achten, den Raskol nicht zu heftig zu tadeln, um die Altgläubigen nicht zu verärgern.270 Erzbischof Platon hatte die Meinung des Heiligsten Synods zunächst uneingeschränkt geteilt. Daher hatte er sich für die Eröffnung von Schulen in Riga und am Westufer des Peipussees ausgesprochen, auf denen orthodoxe und altgläubige Kinder gemeinsam von orthodoxen Geistlichen in Lesen, Schreiben und dem Gesetz Gottes unterrichtet werden sollten.271 In einem Schreiben an den Generalgouverneur vom 26. Mai 1861 erklärte er sich außerdem dazu bereit, orthodoxe oder lutherische Laien als Lehrer zuzulassen, wenn diese denn auch Bibelgeschichte und den Katechismus in den Lehrplan aufnähmen. Denn Schulen für Altgläubige, in denen das Gesetz Gottes nicht gelehrt würde, brächten keinen Nutzen.272 Die Altgläubigen der Dörfer am Peipussee erhielten auf ihre Bitten keine Antwort. Eine offizielle Erlaubnis zur Eröffnung von besonderen Schulen für ihre Kinder bekamen die Altgläubigen des Kreises Dorpat erst im Jahr 1916, als in Kazapel’ eine entsprechende Schule eröffnet werden durfte.273 Aus einem Bericht Nikolaj Leskovs geht jedoch hervor, dass die Altgläubigen von Voron’ja und Kol’ki 1860 ohne Erlaubnis der Obrigkeiten Schulen einrichteten. Laut Leskov duldeten die deutschen Beamten des Kreises diese Bildungseinrichtungen. Der Direktor der Dorpater Gymnasien äußerte gegenüber dem Ober 266 EAA F. 384, op. 1, d. 1036, l. 3. 267 EAA F. 291, op. 1, d. 16051, l. 10 f. 268 EAA F. 1655, op. 2, d. 2993, l. 2. 269 EAA F. 384, op. 1, d. 1036, l. 3. 270 EAA F. 1655, op. 2, d. 2993, l. 2ob. 271 EAA F. 291, op. 1, d. 15963, l. 4 f. 272 EAA F. 291, op. 1, d. 16051, l. 10ob. 273 Šor: Staroobrjadčeskaja molennaja i škola 161.
182 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) priester (blagočinnyj) Alekseev jedenfalls, dass eine Schließung der Schulen keinen Nutzen bringe, da man in den abgelegenen Dörfern am Peipussee nicht sicherstellen könne, dass die Altgläubigen nicht sogleich wieder neue Schulen eröffneten.274 Damit verlief die Angelegenheit im Sande. In Riga stellte sich die Situation anders dar. Volksbildungsminister Golovnin dachte darüber nach, im gesamten Russländischen Reich spezielle Schulen für die Altgläubigen einrichten zu lassen. Er beauftragte Nikolaj Leskov, sich mit Schulen von Altgläubigen vertraut zu machen und über Möglichkeiten für den Aufbau von speziellen Schulen unter staatlicher Aufsicht zu berichten. Leskov hatte zunächst geplant, die innerrussischen Gouvernements von St. Petersburg bis in den Südural zu bereisen,275 um dort mit den Altgläubigen bekannt zu werden und den Aufbau der geheimen Schulen von Popovcy, Bespopovcy und Molokany kennenzulernen. Aufgrund mangelnder Finanzkraft des Innenministeriums verwarf Minister Golovnin dieses ambitionierte Vorhaben jedoch und machte Leskov den Vorschlag, stattdessen von St. Petersburg aus in das nahe gelegene Pskov und nach Riga zu fahren. In Riga sollte Leskov die Schule der Grebenščikov-Gemeinde untersuchen,276 wobei Volksbildungsminister Golovnin nicht bekannt war, dass diese Schule bereits im Jahr 1832 geschlossen worden war.277 Am 12. Juli 1863 brach Leskov von St. Petersburg aus nach Pskov auf.278 Nachdem er mit den dortigen Altgläubigen Kontakt aufgenommen und ihre geheime Schule besucht hatte, fuhr er weiter nach Riga. Dort machte er sich im Archiv des Generalgouverneurs mit der Geschichte des Verhältnisses der livländischen Regierung zu den Rigaer Altgläubigen bekannt und lernte schließlich die Altgläubigen in Riga selbst kennen und erlangte ihr Vertrauen. Sein Bericht »Über die Raskol’niki der Stadt Riga, insbesondere über die Schulen« an Volksbildungsminister Golovnin wurde in 60 Exemplaren gedruckt und an die Minister und Mitglieder des Regierenden Rates ausgegeben.279 Leskov beginnt seinen Bericht mit einem Überblick über die Geschichte der Schulen der Altgläubigen. Diese beginne mit der Schule am Preobraženie-Friedhof in Moskau, die von Il’ja Alekseevič Kovylin eröffnet worden war.280 Kovylin hatte während einer Choleraepidemie im Jahr 1771 ein Krankenhaus in Moskau gegründet. Ekaterina II. hatte die Einrichtung als nützlich anerkannt und in der Folge den Preobraženie-Friedhof legalisiert. Viele Altgläubige zogen in die ehemalige Hauptstadt zurück und um das Krankenhaus herum entstanden 274 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 431 f. 275 Leskov wollte auf seiner Reise unter anderem Tver’, Romanov, Jaroslavl’, Kostroma, Kazan’, Perm’, Tjumen’, Zlatoust, Saratov, Samara, Simbirsk und Moskau besuchen. 276 Leskov, Andrej: Žizn’ Nikolaja Leskova 244. 277 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 397. 278 Leskov, Andrej: Žizn’ Nikolaja Leskova 244–247. 279 Ebd. 247. 280 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 385.
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Kapellen, Geschäfte und Wohnhäuser.281 So war die Fedoseevcy-Gemeinde in der alten Hauptstadt entstanden. Ihr Gründer, Il’ja Kovylin, war bis zu seinem Tod im Jahr 1809 Nastavnik der Preobraženie-Gemeinde.282 Auf der von ihm eingerichteten Schule lernten die Kinder der Altgläubigen Lesen, Schreiben und das Kirchenslavische. Außerdem wurde ihnen der Katechismus beigebracht sowie die wichtigsten Unterschiede zwischen der Lehre der Fedoseevcy und derjenigen der Orthodoxie.283 Die Schulen in anderen Altgläubigengemeinden des Reiches, wie beispielsweise in Jaroslavl’, Tver’, Nižegorod, Novgorod oder Pskov und Riga, waren nach dem Vorbild der Moskauer Schule errichtet, jedoch unter Nikolaj I. geschlossen worden.284 Leskov, der herausfinden sollte, ob in den Schulen der Altgläubigen unter den Schülern Ressentiments gegen die Orthodoxe Kirche geschürt wurden, schreibt, dass dies in der Kovylin’schen Schule durchaus der Fall gewesen sein mag.285 Im Gespräch mit den ehemaligen Schülern der zwei Schulen in Pskov, die bis in die 1840er Jahre existiert hatten, konnte Leskov jedoch nicht feststellen, dass dort Hass gegenüber der Staats kirche geschürt worden wäre: ›Eine Abneigung gegenüber der Kirche und den Nikonianern‹ gibt es unter den Raskol’niki von Pskov in dem Ausmaß, in dem diese Gefühle alle priesterlosen Altgläubigen der pomorischen Richtung hegen; aber diese Abneigung wird den jungen Herzen überhaupt nicht in der Schule anerzogen, sondern im Leben selbst.286
In den Lehrbüchern der Schule finde sich keinerlei antikirchliche Polemik; es handele sich lediglich um nach altem Stil gedruckte Gottesdienstbücher und Psalter. Ressentiments gegen die Kirche bekämen die altgläubigen Kinder vielmehr von ihren Müttern und Großmüttern in der heimischen Erziehung eingeprägt. Sie lernten die Orthodoxe Kirche aufgrund der Verfolgungen der Altgläubigen hassen.287 Auch in der Schule der Altgläubigen in Riga, die im Jahr 1832 geschlossen worden war, scheine keine besondere Abneigung gegenüber der Orthodoxen Kirche gelehrt worden zu sein.288 Würde man den Altgläubigen erlauben, eigene Schulen einzurichten, würden sie darin nichts anderes lehren als Gebete und so viel Mathematik, wie für den Handel nötig wäre, und allenfalls noch die deutsche Sprache, die in den Ostseegouvernements ebenfalls für den Handel benötigt werde. Von allen anderen Wissenschaften hielten die Altgläubigen ohnehin nichts und seien insgesamt der Bildung nicht besonders 281 Blackwell: The Old Believers and the Rise 411 f. 282 Beliajeff: The Rise 37. 283 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 385. 284 Ebd. 386. 285 Ebd. 385. 286 Ebd. 392. 287 Ebd. 288 Ebd. 400.
184 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) zugeneigt. Geografie, Geschichte oder Physik würden sie an ihren Schulen keineswegs unterrichten wollen.289 Leskov sprach sich nicht nur für die Einrichtung von Schulen für die Kinder von Altgläubigen aus, weil diese in Bezug auf ihre Lehrinhalte unbedenklich seien, sondern auch weil die Schließung der Schulen verheerende Folgen für die gesellschaftliche Ordnung habe, wie er am Beispiel Riga demonstrierte. Vor der Schließung der Grebenščikov-Schule hätten die Kinder der Altgläubigen Lesen, Schreiben, Rechnen und ein Handwerk erlernt, wodurch sie anschließend einer ehrlichen Arbeit nachgehen und ihren Lebensunterhalt verdienen konnten.290 Nach der Schließung hätten die Altgläubigen ihre Kinder nicht auf die Schulen der orthodoxen Priester geschickt,291 wie Erzbischof Platon gehofft hatte.292 Kinder armer Eltern gingen dadurch jeder Ausbildung verlustig. Die Folge sei gewesen, dass Mädchen in sehr jungem Alter angefangen hätte, sich zu prostituieren, und die altgläubigen Jungen zu Taschendieben geworden seien.293 Die Zustände in der Moskauer Vorstadt, in der der Großteil der Rigaer Altgläubigen lebte, wurden so schlimm, dass Generalgouverneur Suvorov zu der drastischen Maßnahme griff, alle so genannten »Taschendiebe« (Karmanščiki) festnehmen und dem Bataillon der Kriegskantonisten übergeben zu lassen.294 In Leskovs Darstellung führte die Schließung der Schule unter Nikolaj I. zur Verelendung der Altgläubigen. Generalgouverneur Suvorov habe das dadurch entstandene Problem durch weitere repressive Methoden zu lösen versucht. Nikolaj Leskov, der den repressiven Kurs gegenüber den Altgläubigen nicht befürwortete, schlug nun eigene Maßnahmen vor, um dem Problem Abhilfe zu verschaffen. Leskov hatte in Pskov und Riga die Erfahrung gemacht, dass die Altgläubigen mit wenigen Ausnahmen ungebildet waren. Einerseits waren viele von ihnen illiterat, wodurch ihnen die Voraussetzungen fehlten, in den Städten erfolgreich Handel zu treiben oder ein Handwerk auszuüben. Andererseits waren sie sich der Unterschiede zwischen dem Altgläubigentum und der Orthodoxie sowie unterschiedlichen Richtungen des alten Glaubens nur unzureichend bewusst. So konnten ihm die Altgläubigen in Pskov nicht sagen, ob sie den Pomorcy oder den Fedoseevcy angehörten. Erst der Kaufmann Vasilij Nikolaevič Chmel’nickij konnte Leskov darüber aufklären, dass die Gemeinde in Pskov der Lehre Pavel (Lednev) Prusskijs (1812–1895)295 anhing, das heißt die Gültigkeit der Ehe anerkannte.296 Auch die Altgläubigen in Riga kannten die grundlegenden Über 289 Ebd. 392 f. 290 Ebd. 400. 291 Ebd. 398. 292 EAA F. 291, op. 1, d. 15963, l. 4 f. 293 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 398. 294 Ebd. 410 f. S. auch Kapitel 3.2.1. 295 Zur Lehre und Person Pavel Prusskijs s. Kapitel 5.1.3. 296 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 389 f.
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zeugungen ihres Glaubens und die Hauptstreitpunkte mit der Orthodoxen Kirche nicht.297 Die mangelnde Bildung der Altgläubigen in Riga könne auch nicht von einer nach der Thronbesteigung Aleksandrs II. heimlich eröffneten Schule behoben werden. Nachdem Nikolaj Leskov einige Wochen in Riga verbracht, im Archiv des Generalgouverneurs geforscht und Kontakt zu den Altgläubigen aufgenommen hatte, brachten diese ihm das nötige Vertrauen entgegen und zeigten ihm diese geheime Schule.298 Sie war von den Kaufleuten Grigorij Semёnov Lomonosov und Zachar Lazarevič Beljaev in der Moskauer Vorstadt gegründet worden299 und in einer Dreizimmer-Wohnung untergebracht, in welcher der Lehrer Markian »Maročka« Emel’janov und dessen Ehefrau lebten. In zwei der Zimmer wurden Jungen und Mädchen getrennt voneinander unterrichtet. Im Jahr 1863 besuchten 22 Jungen und elf Mädchen die Schule und lernten dort das Lesen des Kirchenslavischen anhand von Psaltern und Gebetsbüchern nach altem Stil, die die Altgläubigen aus Druckereien in Preußen bezogen, sowie einfachen Chorgesang (cantus planus). Begabten Sängern brachte Maročka außerdem altrussischen einstimmigen Gesang (demstvennoe penie) und das Notenlesen nach Hakennotation (po krjukam) bei.300 Mehr konnte Maročka die Kinder nicht lehren, weil ihm selbst das nötige Wissen301 und die entsprechenden Bücher fehlten.302 Religionsunterricht gab es in keiner Form. Russischunterricht zum Lesen der zivilen Presse wurde als nicht notwendig angesehen.303 Leskov kritisiert den Lehrer in seinem Bericht als pädagogisch ungebildeten Trunkenbold,304 der es nicht vermöge, den Kindern anständig Lesen und Schreiben, Geografie, Bibelgeschichte oder die Unterschiede zwischen dem Altgläubigentum und der Orthodoxie beizubringen.305 Die geheime Schule in Riga führe daher vor Augen, dass es den Altgläubigen nicht selbst überlassen werden könne, sich um die Bildung ihrer Kinder zu kümmern.306 Eine Bitte der Altgläubigen an den liv ländischen Gouverneur von Oettingen um offizielle Erlaubnis dieser Schule war von der Regierung 1863 jedoch abgelehnt worden.307 Unter diesen Umständen sei es vernünftig, die geheime Schule stillschweigend zu dulden, wie Suvorovs Nachfolger, Generalgouverneur fon Liven, es tat. Dieser hatte gegenüber Leskov
297 Ebd. 445. 298 Ebd. 440–442. 299 Ebd. 423 f. 300 Markian Emel’janov war selbst bis zu seiner Eheschließung Mitglied des Kirchenchors gewesen. Daher konnte er den Schülern das Singen beibringen. Ebd. 443. 301 Ebd. 302 Ebd. 444. 303 Ebd. 443. 304 Ebd. 448. 305 Ebd. 445. 306 Ebd. 307 Ebd. 439 f.
186 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) die Meinung vertreten, dass es besser sei, die Altgläubigen lernten überhaupt etwas, als gar nichts.308 Da sich Nikolaj Leskov darüber im Klaren war, dass die Altgläubigen ihre Kinder unter keinen Umständen auf die allgemeinen Schulen zusammen mit orthodoxen Kindern schicken würden309 und dass die geheimen Schulen der Altgläubigen nur mangelhaft geführt werden konnten, forderte er von Volksbildungsminister Golovnin, unter der Regie pädagogisch gelehrter Personen Elementarschulen für die Altgläubigen aufzubauen.310 Was die weiterführenden Schulen und Hochschulen anging, so sollten die gleichen Regeln für Altgläubige gelten wie für Kinder von Lutheranern, Katholiken und anderen nichtorthodoxen Christen – sie sollten vom Religionsunterricht und von theologischen Kursen befreit werden.311 Leskov forderte in Bezug auf die Bildung eine rechtliche Gleichstellung der Altgläubigen mit den Anhängern der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse. Die einzurichtenden Elementarschulen für Altgläubige sollten der lokalen Schuldirektion unterstehen und von den Altgläubigen finanziell getragen werden.312 Die Lehrer sollten von den Altgläubigen selbst gewählt und von der Schuldirektion in ihrem Amt bestätigt werden. Dies hatten die Altgläubigen in Riga wie auch in Dorpat und am Peipussee zur condicio sine qua non gemacht. Damit sie Lehrer aus den eigenen Reihen vorschlagen konnten, sollte den Altgläubigen erlaubt werden, sich als Lehrer zu examinieren. Ohne diese Maßnahme wäre jegliche Bemühung um die Einrichtung der Schulen vergebens.313 Da sich nicht ausreichend Lehrer unter den Altgläubigen für den Einsatz in den aufzubauenden Schulen finden würden, sollten auch orthodoxe und deutsche, das heißt lutherische, Personen Lehrer der Altgläubigen werden können. Die Altgläubigen, mit denen Leskov gesprochen hatte, hätten sich dazu bereit erklärt, deutsche Lehrer zu akzeptieren. Der Grund liege darin, dass die Deutschen in den Ostseegouvernements immer Beschützer der Raskol’niki vor den Unterdrückungen durch die russische Orthodoxie gewesen seien.314 Bezüglich der Unterrichtsfächer schlug Leskov vor, dass sowohl Mädchen als auch Jungen in zwei Schuljahren Lesen, Schreiben, Rechnen, Grammatik, Geografie, Geschichte und technisches Zeichnen lernen sollten. Aus dem Religionsunterricht wollte Leskov den Katechismus und die Kirchengeschichte ausschließen und lediglich die Bibelgeschichte gelehrt wissen. Diese sollte von dem gleichen Lehrer unterrichtet werden wie die übrigen Fächer und nicht von einem Priester.315 308 Ebd. 446. 309 Ebd. 449. 310 Ebd. 445. 311 Ebd. 449 f. 312 Ebd. 451. 313 Ebd. 452. 314 Ebd. 453. 315 Ebd. 455 f.
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Leskov war sich sicher, dass die Altgläubigen diese Schulen innerhalb von zwei bis drei Jahren annehmen und zu Tausenden besuchen würden.316 Dadurch würden die sozialen Missstände unter den Altgläubigen überwunden und das Verhältnis der religiösen Dissidenten zu der Regierung erheblich verbessert werden.317 Am 3. Juli 1863 schrieb Nikolaj Leskov an Volksbildungsminister Golovnin mit dem Vorschlag, in Zusammenarbeit mit den Altgläubigen eine Schule für deren Kinder in Riga zu eröffnen. Später im gleichen Jahr erreichte Golovnin dann der ausführliche, soeben dargelegte Bericht Leskovs »Über die Raskol’niki der Stadt Riga«. Drei Jahre später erhielt der Innenminister vom Generalgouverneur der Ostseegouvernements den Entwurf für die Statuten der GrebenščikovSchule in Riga. Der Innenminister trug den Entwurf vor das Ministerkomitee. Dieses hieß den Entwurf gut und auch der Zar gab seine Zustimmung.318 Die Schule wurde aus unbekannten Gründen jedoch erst im Jahr 1873 eröffnet.319 Die Statuten der Grebenščikov-Schule für die Kinder der Altgläubigen in Riga sahen Folgendes vor: Ziel der Schule sollte die Elementarbildung der Kinder »russischer Herkunft« beiderlei Geschlechts in Riga sein.320 Der Begriff »Altgläubige« wurde vermutlich bewusst vermieden, um dem Altgläubigentum nicht den Anschein der Legalität zu verleihen; von der Bezeichnung Raskol’niki sah man ab, weil diese wiederum den Widerstand der Altgläubigen, ihre Kinder auf diese Schule zu schicken, hervorgerufen hätte. Dass es sich um eine Schule für die Kinder der Altgläubigen handelte, lässt sich an der Namensgebung Grebenščikov-Schule (Grebenščikovskoe učilišče) ablesen, wie auch am Titel des Gesetzes, der lautete »Über die Einrichtung einer Grebenščikov-Schule in der Stadt Riga für die Raskol’niki«.321 Wie Leskov vorgeschlagen hatte, sollte die Schule aus Mitteln der Altgläubigengemeinde selbst finanziert werden. Sie sollte durch einmalige und alljährliche Spenden eingerichtet und unterhalten werden. Die altgläubigen Kaufleute, die bereits die geheime Schule der Altgläubigen eingerichtet hatten, waren gewillt, den Hauptanteil zu spenden: Grigorij Lomonosov gab 5.000 Rubel und Zachar Beljaev 1.000 Rubel. Außerdem wollte Iona Tuzov, der Buchhalter (Ėkonom) des Grebenščikov-Armenhauses,322 der Schule 1.000 Rubel zukommen lassen, weitere Gemeindemitglieder insgesamt 973 Rubel und aus dem Kapital des Armenhauses sollten weitere 5.000 Rubel in die Schule fließen. Die Statuten sahen vor, die Schule in einem Mietshaus in der Moskauer Vorstadt möglichst in der Nähe des Grebenščikov-Armenhauses unterzu 316 Ebd. 458 f. 317 Ebd. 448. 318 SPR 627–631 (4.2.1866). 319 Podmazov: Rižskie starovery 120. 320 SPR 627–631 (4.2.1866). 321 Ebd. Meine Hervorhebung. 322 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 441.
188 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) bringen. Die höchste Aufsicht über die Tätigkeiten der Bildungseinrichtung sollte der Generalgouverneur bekommen. Zunächst war nur ein Schuljahr vorgesehen; das Innenministerium behielt sich vor, zu einem späteren Zeitpunkt ein zweites Schuljahr zuzulassen. In diesem ersten Schuljahr sollten den Kindern der Altgläubigen das Lesen des Kirchenslavischen und Russischen sowie Schreiben und die vier Grundrechenarten beigebracht werden. Jeglicher Religionsunterricht wurde ausgespart. Jungen sollten außerdem in einem Handwerk und Mädchen in Handarbeit unterrichtet werden.323 Der Schule sollte ein Komitee vorstehen, welches aus drei Kaufleuten und zwei Meščane bestehen sollte, die alle drei Jahre von Personen gewählt wurden, die pro Jahr nicht weniger als fünf Rubel spendeten. Stimmrecht im Komitee hatte außerdem der Ehrenkurator – diejenige Person, die den größten Betrag zur Einrichtung der Schule beigetraten hatte. Das Komitee wählte die Lehrer, wobei je zwei Personen vorgeschlagen werden mussten, von denen einer von der livländischen Schuldirektion bestätigt wurde.324 Eröffnet wurde die Schule jedoch erst am 10. September 1873;325 die Statuten des Jahres 1866 wurden dabei unverändert übernommen.326 Die »Statistischen Zeugnisse über den Zustand der Grebenščikov-Schule in der Stadt Riga seit dem Tag ihrer Eröffnung am 17.09.1873« (Statističeskie svedenija o sostojanii Grebenščikovskogo učilišča v g. Rigi so dnja otkrytija 17.09.1873 g.) geben einen Eindruck von der Umsetzung des Statuts aus dem Jahr 1866. Alle Schüler besuchten eine Klasse, die in drei Gruppen aufgeteilt war: junge, mittlere und alte. Mädchen wurden in einem von den Jungen getrennten Zimmer unterrichtet. Gelehrt wurden das Lesen des Russischen und des Kirchenslavischen, die ersten vier Regeln der Arithmetik, technisches Zeichen und Geometrie. Außerdem wurde die Bedeutung der wichtigsten Gebete erläutert und die wichtigsten Ereignisse der Kirchengeschichte gelehrt, sowie der geistliche Gesang.327 Leskov hatte in seinem Bericht an Volksbildungsminister Golovnin dazu geraten, im gesamten Imperium Elementarschulen für Altgläubige einzurichten. Die Schule in Riga blieb jedoch eine von wenigen Ausnahmen. Lediglich in den Dörfern Nikol’sk und Zolotarevk im Gouvernement Cherson wurden 1867 323 Seit Mitte des 19. Jahrhunderts gewann in allen Schulen des Imperiums der praktische Bezug zum Berufsleben immer stärker an Bedeutung. Baltause, Ruta: Das Schulwesen in Riga im 19. Jahrhundert unter besonderer Berücksichtigung der ersten Hälfte des Jahrhunderts, in: Nordost-Archiv XI (2002), 35–62, hier 41. 324 SPR 627–631 (4.2.1866). 325 LVVA F. 7040, op. 1, d. 9, l. 7. 326 [–]: Vysočajše utverždennyj ustav Grebenščikovskago učilišča v Rige. Riga 1873. Diese Statuten wurden mindestens bis 1906 in der gleichen Form gedruckt. Sie galten also auch 1906 noch unverändert. [–]: Vysočajše utverždennyj ustav Grebenščikovskago učilišča v Rige. Riga 1906. 327 Ageeva: Rižskaja Grebenščikovskaja staroobrjadčeskaja obščina 298 f.
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Grundschulen für Kinder von Altgläubigen eröffnet,328 später eine im Dorf Bugrovka, in der Nähe von Nižnyj Novgorod.329 Als die Moskauer Popovcy im März 1871 um die Erlaubnis zur Eröffnung einer Schule baten, lehnte der Zar die Bitte ab.330 Eineinhalb Jahre später diente diese Entscheidung als Begründung für die Ablehnung eines Vorschlags des Orenburger Generalgouverneurs für die Einrichtung von vier ländlichen Schulen für Kinder der Altgläubigen in jenem Gouvernement.331 ✴ ✴ ✴ Die zivilen und die kirchlichen Obrigkeiten verfolgten hinsichtlich der Einrichtung spezieller Schulen für die Altgläubigen unterschiedliche Ziele. Die zivilen Beamten waren dazu bereit, auf die Bitten und Forderungen der Altgläubigen bezüglich des Aufbaus von besonderen Schulen einzugehen. Die wichtigste Frage, die die Altgläubigen in ihren Bittschriften zur condicio sine qua non für den Aufbau von Schulen für ihre Kinder gemacht hatten, war der Ausschluss orthodoxer Priester aus den Schulen gewesen. Die Regierungsbeamten hielten die Teilnahme von orthodoxen Geistlichen nicht für nötig, schon allein deshalb, weil der Unterricht auf außerreligiöse Fächer beschränkt bleiben sollte: Lesen, Schreiben und Rechnen. Verband Vladimir Sollogub mit den Schulen der Altgläubigen die Hoffnung, dass das Schisma der Russisch-Orthodoxen Kirche durch Bildung der Altgläubigen überwunden werden könne, ging es Nikolaj Leskov vor allem um die Beseitigung der negativen Folgen für die gesellschaftliche Ordnung, die durch die Schließung der Schulen unter Nikolaj I. hervorgerufen worden waren. Die Kinder der Altgläubigen sollten eine Elementarbildung erhalten, die ihnen die Teilnahme am sozio-ökonomischen Leben im Russländischen Reich ermöglichte.332 Diese Bildung sollte staatlicher Aufsicht unterstellt werden, damit Kontrolle über die Lehrinhalte an den Schulen gewonnen werden konnte. Leskov sprach sich außerdem dafür aus, dass Altgläubige zur staatlichen Lehrerausbildung zugelassen werden müssten, um deren
328 SPR 639–641 (5.5.1867). 329 Mel’nikov: Kratkaja istorija 444. 330 SPR 663 (16.3.1871). 331 SPR 666 (27.11.1872). 332 Einen ähnlichen Ansatz verfolgten die Beamten in Vilnius gegenüber der jüdischen Bevölkerung. Am 5.1.1864 erschien eine Bestimmung, die die Einrichtung von zwei Volksschulen in Vilnius für jüdische Kinder vorsah. Ziel war die Verbreitung des Russischen in Schrift und Sprache unter der jüdischen Bevölkerung mit dem Zweck, sie in die imperiale Gesellschaft zu integrieren. Dolbilov: Russifying Bureaucracy 120. Diese Schulen gerieten seit 1867 jedoch wieder in die Kritik und ein Segregationskurs gegenüber den Juden brach sich im nordwestlichen Gebiet Bahn, der jede staatliche Intervention in die Angelegenheiten der Juden verbot. Durch Vernachlässigung sollte das Judentum dem inneren Verfall preisgegeben werden. Ebd. 142 f.
190 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) pädagogische und fachliche Eignung sicherzustellen. Auf diese Weise sollten die Schulen zum Instrument der Disziplinierung der Altgläubigen werden. Die Würdenträger der Staatskirche verbanden andere Hoffnungen mit dem Aufbau der Schulen für Altgläubige. Sie sollten der Orthodoxen Kirche Einfluss auf die Altgläubigen gewähren und die altgläubigen Kinder an die Orthodoxie annähern. Daher sprachen sich der Heiligste Synod und der Rigaer Erzbischof Platon dafür aus, dass orthodoxe Priester den Unterricht übernehmen sollten und orthodoxer Religionsunterricht als Pflichtfach in den Lehrplan integriert werden sollte. Letztlich wurde nur in Riga eine besondere Schule der Altgläubigen unter staatlicher Kontrolle aufgebaut. Diese sah lediglich ein Schuljahr und keinerlei Religionsunterricht vor, obwohl sich unter anderem Nikolaj Leskov für Bibelgeschichte als Unterrichtsfach ausgesprochen hatte. Außerdem war in den Statuten nicht geklärt worden, ob Personen lutherischer Konfession den Unterricht altgläubiger Kinder übernehmen durften, wofür sich sowohl Erzbischof Platon als auch Nikolaj Leskov ausgesprochen hatten. Es war auch nicht entschieden worden, ob Altgläubige staatliche Lehrerexamen absolvieren durften. In den Dörfern am Peipussee führte die Diskussion um den Aufbau besonderer Schulen für Altgläubige zu keinerlei Ergebnissen. Stattdessen beschränkte sich die Gouvernementsverwaltung darauf, Schulen zu tolerieren, die die Altgläubigen ohne Erlaubnis der Regierung eröffnet hatten. Staatliche Kontrolle über die Vorgänge an diesen Schulen konnte dadurch nicht hergestellt werden. Die Integration der Altgläubigen in die zivile Verwaltung In seinem Bericht an Generalgouverneur Suvorov vom 24. Juli 1860 hatte Vladimir Sollogub unter anderem die mangelnde Integration der Altgläubigen in die staatliche Verwaltung für das Fortbestehen des Altgläubigentums verantwortlich gemacht.333 Generalgouverneur Suvorov rief ein Jahr später, am 15. Juni 1861, die Kommission zur Regelung des alltäglichen Lebens der russischen Einwohner am livländischen Ufer des Peipussees (Kommissija po ustrojstvu byta russkich poselencev na Lifljandskom beregu Čudskogo ozera; im Folgenden: Kommission von 1861) ins Leben, die Informationen über die Bewohner des Peipussee-Ufers sammeln und Vorschläge für die Ausweitung der staatlichen Kontrolle über diesen Teil der Bevölkerung machen sollte.334 Zum Vorsitzenden der Kommission wurde Vladimir Sollogub ernannt; weitere Mitglieder waren der Dorpater Ordnungsrichter Baron K. F. Ėngel’gard und der Bezirksleiter A. T. Stil’mark.335 Die Kommission schickte dem Generalgouverneur 333 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 4ob. 334 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 3–4. 335 Ebd., l. 51.
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am 3. November 1861 einen Bericht über die Ergebnisse ihrer Arbeit. Die Ausführungen und Empfehlungen der Kommission über den staatlichen Umgang mit den Altgläubigen tragen deutlich die Handschrift ihres Vorsitzenden und wiederholen dessen Forderungen, die er im Jahr zuvor in seinem Bericht an Suvorov gestellt hatte. Sollogub kritisiert in seinem Bericht, dass das in Artikel 60 des XIV. Bandes des Gesetzeskodex formulierte Prinzip der Nichteinmischung des Staates in die inneren, das heißt religiösen, Angelegenheiten des Raskol nicht befolgt werde.336 Der Paragraf besagte, dass die Altgläubigen nicht für ihre religiösen Überzeugungen verfolgt werden durften, sondern nur für die Verleitung von Orthodoxen zum Altgläubigentum.337 Die Schließung von Bethäusern, die Exilierung von Gemeindeleitern oder Konfiszierung von Büchern und Ikonen widerspreche diesem Prinzip, so Sollogub. Man müsse vielmehr von einer Nichteinmischung der Regierung in die äußeren Angelegenheiten der Altgläubigen sprechen.338 Mit äußeren Angelegenheiten bezeichnet Sollogub die zivilen Rechte der Altgläubigen – jene Riten, die im Russländischen Reich Bindeglied zwischen den Religionsgruppen und der staatlichen Verwaltung waren, wie Taufe, Eheschließung oder Beerdigung.339 Diese Riten der Altgläubigen würden vom Staat nicht anerkannt, wodurch die Verwaltung vor erhebliche Probleme gestellt werde. Volkszählungen könnten unter den Altgläubigen nur unzulänglich durchgeführt werden und Fragen über die Legitimität ihrer Kinder, über deren Erb- und Standesrechte sowie über das Erziehungsrecht könnten nicht klar beantwortet werden.340 Aufgrund der Nichteinmischung des Staates in diese äußeren Angelegenheiten hätten die Altgläubigen keine gesetzlich anerkannten Gemeindeleiter, keine Gotteshäuser, keine legitimen Ehefrauen oder Kinder, keine Rechte und auch keine Pflichten. Sie befänden sich in einem rechtsfreien Raum.341 Dies führe dazu, dass die Altgläubigen ungehindert ihre Frauen wechseln, sich betrinken oder einen nomadischen Lebensstil führen könnten,342 welcher von Regierungs- und Staatskirchenbeamten oft abwertend als Landstreicherei (brodjažestvo) bezeichnet wurde.343 Die Altgläubigen beschwerten sich gegenüber Sollogub darüber, dass der Staat ihnen keine Hindernisse gegen
336 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 8. 337 SZ , Bd. 14. St. Petersburg 1857, 13 f. (Art. 60). 338 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 8 f. 339 Crews: Empire and the Confessional State 67. 340 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 8ob. 341 Ebd., l. 13ob. 342 Ebd., l. 4ob. 343 Um dem Problem der »Landstreicherei« Herr zu werden, war 1819 das Amt des Inspektors am Ufer des Peipussees (pribrežnyj nadziratel’) eingerichtet worden. RGIA F. 384, op. 6, d. 1328, l. 4ob.
192 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) einen lasterhaften Lebensstil in den Weg stelle, sobald sie sich jedoch zum Gebet versammeln oder ihre Familienbande durch eine Eheschließung stärken wollten, stelle sich der Staat dagegen.344 Die Kommission von 1861 macht in ihrem Bericht an den Generalgouverneur deutlich, dass die Nichteinmischung des Staates in die äußeren Angelegenheiten der Altgläubigen dazu führe, dass die staatliche Verwaltung keine Kontrolle über diesen Teil der Bevölkerung bekommen könne. Eine der Aufgaben dieser Kommission war die Feststellung der genauen Bevölkerungszahl am Westufer des Peipussees.345 Im Bericht der Kommission heißt es, die genaue Zahl der Bewohner könne nur durch eine Bevölkerungszählung ermittelt werden. Die Listen der Myza-Verwaltungen346 seien für diesen Zweck zu ungenau. Dies liege vor allem daran, dass viele Bewohner des Peipussee-Ufers nicht an ihren Wohnorten als Bauern, sondern in den Städten der Gouvernements Estland, Livland und Pskov als Meščane registriert seien. Außerdem seien die Myza-Verwaltungen – welche die Polizeifunktionen in den Volosti übernahmen – zu weit entfernt von den Dörfern gelegen, als dass sie eine konstante und genaue Kontrolle über die Bevölkerungsbewegungen am Peipussee haben könnten. Dadurch entzögen sich diese Personen der Kontrolle durch die Myza-Verwaltungen und der Volost’-Gerichte. Dieses Problem werde dadurch verschärft, dass es sich beim Großteil der Einwohner um Altgläubige handele, die nicht in Matrikelbüchern verzeichnet waren.347 Schätzungen zufolge sollten etwa 7.000 Menschen am Peipussee leben,348 von denen der Großteil dem alten Glauben angehörte.349 Die Kommission kritisiert, dass die Entfernung der Altgläubigen zu den nächstgelegenen Polizeibehörden, in Verbindung mit dem Fehlen von Matrikelbüchern über diesen Teil der Bevölkerung, den Altgläubigen die Möglichkeit verschaffe, Entlaufene in ihren Gemeinden zu verstecken, Ausweise zu fälschen, Forderungen der Polizei keine Folge zu leisten und weitere Verbrechen zu begehen, die nicht aufgedeckt werden könnten.350 Insofern bringe der Ausschluss der Altgläubigen aus den zivilen Pflichten und Rechten nicht nur
344 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 4ob. 345 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 3ob. 346 Eine Myza ist die Bezeichnung für ein Gut, vergleichbar mit einem kleinen Dorf, welche vor allem in den Ostseegouvernements Verbreitung fand. 347 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 10ob-12. 348 Ebd., l. 13ob. 349 Die Listen der Myza-Verwaltungen verzeichneten 1.835 Orthodoxe, 687 Edinovercy und 3.757 Altgläubige. EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 19. Die Bücher der orthodoxen Gemeinden, die nicht nur die Bewohner der Dörfer unmittelbar am Peipussee verzeichneten, sondern auch diejenigen der mittelbaren Umgebung, gaben 3.639 Orthodoxe (zu denen in den Listen der Staatskirche die Edinovercy hinzugezählt wurden) und 4.344 Altgläubige an. Ebd., l. 19ob. 350 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 14.
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Nach-, sondern auch Vorteile für sie mit sich, insbesondere Straffreiheit für Vergehen, für die Anhänger der Orthodoxie harten Strafen unterlagen.351 Die dargestellten Probleme der Verwaltung, Kontrolle über die Bevölkerung am Peipussee zu erlangen, veranlassten die Kommissionsmitglieder einen kurzen Überblick über die Geschichte dieses Gebiets zu verfassen. Die Bevölkerung des Peipussees sei seit der Zeit der ersten Besiedlung durch Strigol’niki unter Zar Ivan IV. (1530–1584)352 ungehorsam gegenüber den kirchlichen und staatlichen Obrigkeiten gewesen. Als der Begründer der Fedoseevcy Feodosij Vasil’ev 1711 in Novgorod gefangen genommen wurde, sei sein Sohn mit einigen seiner Anhänger an den Peipussee geflohen und habe dort zwei Klöster gegründet. Von dort aus habe sich der Raskol in der ganzen Region ausgebreitet. In den Dörfern der Altgläubigen hätten sich später desertierende Soldaten, entflohene leibeigene Bauern und Verbrecher angesiedelt. Es handele sich also um eine Bevölkerung, die der Integration in das imperiale Ständesystem entgehe und die sich durch die Registrierung in das städtische Meščanstvo seit Beginn des 19. Jahrhunderts vorsätzlich der staatlichen Kontrolle mittels der Myza-Verwaltungen entzogen habe. Dadurch habe sie sich der Rekrutenpflicht, der Pflicht, Ausweise zu tragen, und Beschränkungen ihrer Gottesdienste entziehen können.353 Sollogub und die Kommission unter seinem Vorsitz kritisierten mit aller Deutlichkeit die fehlende Kontrolle der Verwaltung über die Bewohner der Dörfer am Peipussee, insbesondere hinsichtlich der Altgläubigen. Sollogub machte dafür die bisherige repressive Politik gegenüber dieser Bevölkerungsgruppe verantwortlich. So seien den Nastavniki der Altgläubigengemeinde in Riga im Jahr 1822 Matrikelbücher zur Registrierung von Geburten, Eheschließungen und Todesfällen der Gemeindemitglieder gegeben worden, mit dem Ziel, die Altgläubigen in die staatliche Verwaltung zu integrieren. Im Jahr 1838 habe man ihnen diese Bücher jedoch wieder abgenommen. Diese Maßnahme sei von Bischof Irinarch initiiert worden, in der Hoffnung, dass sich die Altgläubigen dem Edinoverie anschließen würden. Die damalige Regierung habe das ursprüngliche Ziel aus dem Blick verloren, die altgläubigen Familien durch Unterstellung unter das zivile Gesetz zu stabilisieren.354 In der Folge habe sich unter den Altgläubigen ein lasterhafter Lebensstil ausgebreitet.355 Sollogub zufolge hatten die repressiven Maßnahmen des Staates nicht zu den gewünschten Ergebnissen geführt. Vielmehr habe die Diskriminierung den Altgläubigen die Möglichkeit verschafft, sich als Verfolgte zu verstehen; sie bringe Märtyrer unter ihnen her-
351 Ebd., l. 4ob. 352 Zar des Russländischen Reiches von 1547 bis 1584. 353 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 16–17ob. 354 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 10 f. 355 Ebd., l. 4ob.
194 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) vor und bestärke sie dadurch in ihrer Überzeugung, dass der alte Glaube der wahrhaftige sei.356 Sollogub empfahl dem Generalgouverneur, den Altgläubigen Rechte zu gewähren, um ihnen Pflichten auferlegen und Kontrolle über sie erlangen zu können.357 Zunächst müssten die Dorfbewohner am Ufer des Peipussees an ihren eigentlichen Wohnorten registriert werden.358 Nur so könne die Regierung effektiv Rekruten für die Armee unter den Einwohnern des Peipussees einziehen.359 Die Kommission von 1861 schlug ebenfalls im Sinne einer Erhöhung der staatlichen Kontrolle vor, dass die Altgläubigen Matrikelbücher bekommen sollten, die von ihnen selbst geführt wurden. Nur so könnten altgläubige Individuen identifiziert360 und die Eheverbindungen unter der Bevölkerung am Peipussee stabilisiert werden.361 Ebenfalls auf einen Vorschlag Sollogubs ging die Empfehlung der Kommission zurück, rechtlich anerkannte, zivile Eheverbindungen der Altgläubigen einzuführen, deren Registrierung den Polizeibehörden obliegen sollte.362 Sollogub hatte diesen Vorschlag 1860 genauer ausgeführt: Die Einrichtung einer zivilen Ehe für die Altgläubigen würde Ordnung in die Familienangelegenheiten der Altgläubigen bringen und der Regierung den Dank altgläubiger Frauen bescheren, die unter dem außerrechtlichen Status der Ehelosigkeit litten. Die Zivilehe für Altgläubige solle allerdings verpflichtend für die Altgläubigen sein. Sollten die Ehepartner ihre Ehe nicht bei den weltlichen Behörden registrieren, unterlagen ihre Kinder der Taufe im orthodoxen Glauben und sollten als illegitime Nachkommen gelten.363 Diese Forderung nach Verbindlichkeit der einzuführenden Zivilehen für Altgläubige zeigt, dass es Sollogub nicht um eine Abkehr vom Diskriminationskurs im Sinne einer Ausweitung des modernen Toleranzgedankens zur Verbesserung der Lebenssituation der Altgläubigen im Russländischen Imperium ging. Vielmehr müssen seine Vorschläge als Disziplinierung der altgläubigen Bevölkerung gedeutet werden, durch welche die staatliche Kontrolle über diese Religionsgemeinschaft gestärkt werden sollte. Daher blieb die Frage, welche Personen unter den Altgläubigen die Matrikelbücher führen sollten, ausgespart. Für die Anerkennung
356 Ebd., l. 13ob. 357 Ebd., l. 26. 358 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 29ob-30. Die Kommission von 1861 wies darauf hin, dass eine Registrierung als Bauern in den Volosti anstatt als Meščane in den Städten für die Bewohner selbst den Vorteil habe, dass sie dann weniger Steuern zahlen müssten. Das dadurch gesparte Geld sollte allerdings laut der weiteren Darstellung dafür genutzt werden, eine spezielle polizeiliche Aufsicht über die Altgläubigen am Peipussee zu finanzieren. Ebd., l. 49. 359 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 10 f. 360 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 35ob-36. 361 Ebd., l. 36ob. 362 Ebd., l. 37ob. 363 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 29–30.
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der altgläubigen Nastavniki sprach sich die Kommission nicht aus. In Bezug auf die Ehe unter den Altgläubigen war ebenfalls nicht die Rede davon, dass die Gemeindeleiter der Altgläubigen das Recht bekommen sollten, Ehen zu trauen, die durch die Eintragung in die neu geschaffenen Matrikelbücher rechtskräftig geworden wären. Stattdessen sollte eine Möglichkeit zur Registrierung von Ehen bei den zivilen Behörden geschaffen werden. Die Umsetzung sämtlicher anvisierter Maßnahmen sollte der Polizei obliegen. Dazu sollte ein besonderes Amt am Peipussee geschaffen werden, dessen Inhaber die Polizeifunktionen gegenüber der altgläubigen Bevölkerung wahrnehmen sollte. Die Volost’-Polizei könne diese Aufgabe nicht übernehmen, da deren Amtsträger hauptsächlich deutsche Lutheraner waren, die weder über die nötigen sprachlichen Fähigkeiten verfügten noch die Lehre der Altgläubigen ausreichend verstünden.364 Sollogub hatte bereits 1860 darauf verwiesen, dass das Amt des Polizeiinspektors am Peipussee (pribrežnyj nadziratel’) im Gesetzeskodex vorgesehen war. Doch sei dieses Amt, dessen Inhaber die Aufsicht über die Altgläubigen unterlag, seit langer Zeit nicht mehr besetzt worden, weil es nicht entlohnt wurde – und so fand sich kein Freiwilliger, der das Amt übernehmen wollte.365 Er schlug vor, zwei Reviervorsteher (učastkovyj pristav) am Peipussee zu etablieren, deren Lohn von den Altgläubigen zu entrichten sei.366 Die Aufsicht über die Altgläubigen durch die orthodoxen Gemeindepriester lehnte Sollogub dagegen vehement ab. Er hatte die Abneigung der Altgläubigen gegenüber den Dienern der Orthodoxen Kirche als einen Grund für das Fortbestehen des Raskol identifiziert.367 Diese Abneigung könne man nur mindern, indem man den Aufgabenbereich der zivilen und kirchlichen Obrigkeiten trenne. Unter keinen Umständen sollten orthodoxe Priester an der Umsetzung von Regierungsmaßnahmen beteiligt sein. Entgegen der bisherigen Praxis sollten sie ihre Beschwerden über die Altgläubigen nicht einmal mehr der Eparchieleitung vorbringen, welche sich dann ihrerseits an die zivilen Obrigkeiten wandte. Aufgabe der Gemeindegeistlichkeit solle es vielmehr sein, durch Liebe und gutes Vorbild auf die Altgläubigen einzuwirken, während die Durch setzung der Gesetze den zivilen Obrigkeiten obliegen sollte.368 Sollogub fasst seine Forderungen, die mit jenen der Kommission unter seinem Vorsitz gleichlautend waren, mit folgenden Worten zusammen: 364 EAA F. 291, op. 1, d. 1473, l. 42ob. 365 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 35 f. Sollogub bezieht sich auf: SZ , Bd. 3. St. Petersburg 1842, (Art. 355). Das Amt war im Jahr 1819 durch Generalgouverneur Filipp Paulučči geschaffen und mit G. Karlan besetzt worden, der das Amt bis 1842 ausfüllte. Anschließend war das Amt nicht mehr besetzt worden. Bericht des Ministeriums für Staatliches Eigentum an den Innenminister vom 14.12.1857. RGIA F. 384, op. 6, d. 1328, l. 4ob. 366 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 48 f. 367 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 2ob-3. 368 Ebd., l. 6ob.
196 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Die Regierung, die voll Trauer äußerte, dass man nach der zweihundertjährigen Erfahrung den Raskol nicht mehr als vorübergehende Erscheinung ansehen dürfe, würde die Geistlichkeit von der Pflicht befreien, offiziell auf die Verirrungen einzuwirken, und würde von ihrer Seite mit dem zivilen Aufbau einer neuen Ordnung beginnen[.]369
Sollogub und die übrigen Kommissionsmitglieder wollten denjenigen Problemen der Verwaltung Abhilfe verschaffen, die sich durch die Nichtanerkennung des Altgläubigentums im »confessional state«370 ergaben, ohne jedoch das Altgläubigentum zu legitimieren. Da die Altgläubigen keine eigenen Matrikelbücher führten, konnten Einzelpersonen nicht zweifelsfrei identifiziert werden und die Ehen der Altgläubigen besaßen keine juristische Gültigkeit. Aufgrund des konfessionellen Charakters der imperialen Verwaltung konnte die Regierung über die Altgläubigen, da diese nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt und ihnen daher keine entsprechenden Rechte und Pflichten auferlegt wurden, keine Kontrolle erlangen. Die Kommission unter Vorsitz Sollogubs wollte eine zivile Verwaltung über die altgläubige Bevölkerung etablieren, die dieses Problem lösen sollte. Damit einher ging der Verzicht auf die Anwendung repressiver Maßnahmen. Die Kommissionsmitglieder waren zu der Überzeugung gelangt, dass ein Diskriminationskurs nicht zum Anschluss des Altgläubigentums an die Orthodoxie führen würde. Sie hegten nicht länger die Hoffnung, dass das Schisma der Orthodoxen Kirche in naher Zukunft überwunden werden könne. Es ging der Kommission nicht darum, den Altgläubigen Toleranz entgegenzubringen, sondern vielmehr die staatliche Kontrolle über sie zu stärken und damit jene Vorteile abzuschaffen, die die Altgläubigen aufgrund ihrer außerrechtlichen Stellung genossen. Die Vorschläge Vladimir Sollogubs und der Kommission zur Regelung des alltäglichen Lebens der russischen Einwohner am livländischen Ufer des Peipussees unter seinem Vorsitz wurden nicht unmittelbar umgesetzt. Möglicherweise waren sie aber Auslöser für die Einrichtung eines besonderen Außerordentlichen Komitees über die Angelegenheiten der Raskol’niki (osobyj Vremennyj Komitet po delam o raskol’nikach) unter Vorsitz Viktor Nikitič Panins im Jahr 1864. Das Komitee, in dem sowohl Regierungsbeamte als auch Würdenträger der Staatskirche – darunter der Erzbischof von Riga, Platon – saßen, hatte das Ziel, auf imperialer Ebene einen neuen Kurs in der Politik gegenüber den Altgläubigen auszuarbeiten.371
369 Ebd., l. 20ob. 370 Crews: Empire and the Confessional State 52. 371 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta po delam o raskol’nikach. Kopija. St. Petersburg 1864, 1 f.
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4.2.3 Das besondere Außerordentliche Komitee über die Angelegenheiten der Raskol’niki Die Einsicht, dass ein neuer staatlicher Umgang mit den Raskol’niki gefunden werden musste, da die Repressionspolitik Nikolajs I. nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt hatte, führte zur Einrichtung des besonderen Außerordentlichen Komitees über die Angelegenheiten der Raskol’niki (osobyj Vremennyj Komitet po delam o raskol’nikach) am 6. Februar 1864. Die Initiative zur Gründung des Komitees ging von Innenminister Pёtr Aleksandrovič Valuev (1815–1890) aus.372 Dieser hatte sich in einem »Untertänigsten Bericht über die Raskol’niki« (Vsepoddanejšaja zapiska o raskol’nikach) an Aleksandr II. vom 4. Oktober 1863373 gegen die Verfolgung der Altgläubigen ausgesprochen.374 Sämtliche Vorschläge, die der Innenminister in diesem Bericht über den staatlichen Umgang mit den Altgläubigen machte, sollten von dem neu gegründeten Komitee diskutiert werden.375 Aufgrund der Meinungsverschiedenheiten zwischen Regierungsbeamten und Vertretern der Staatskirche in der Altgläubigenfrage376 waren beide Parteien im Komitee vertreten und diskutierten die Vorschläge des Innenministers gemeinsam. Den Vorsitz über das Komitee führte der Hauptverwalter der II. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei Viktor Nikitič Panin, Mitglieder waren der Erzbischof von Tver’, Filofej (1808–1882),377 der Erzbischof von Riga, Platon, Protopresbyter Vasilij Borisovič Bažanov (1800–1883), Oberprokuror des Heiligsten Synods Aleksej Petrovič Achmatov (1817–1870),378 dessen Stellvertreter (tovarišč oberprokurora Svjatejšego Sinoda) Sergej Nikolaevič Urusov (1816–1883), der Hauptverwalter der III. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei und Chef der Gendar 372 Maškovceva: Konfessional’naja politika 13. 373 Der Bericht Valuevs an Aleksandr II. vom 4.10.1863 ist m. E. nicht veröffentlicht worden. Er befindet sich im Russländischen Staatlichen Historischen Archiv in St. Petersburg. RGIA 1282, op. 2, d. 2087, l. 3–39. Akademija nauk SSSR (Hg.): Dnevnik Valueva 413. 374 Zakončkovskij, P. A.: P. A. Valuev (Biografičeskij očerk), in: Akademija nauk SSSR (Hg.): Dnevnik P. A. Valueva, ministra vnutrennych del v dvuch tomach. Bd. 1: 1861–1864. Moskau 1961, 17–54, hier 39. 375 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta. Kopija 2. Zwei vom Innenminister aufgeworfene Fragen wurden dagegen dem Oberprokuror des Heiligsten Synod übergeben, um sie im Heiligsten Synod zu erörtern und zu entscheiden. Es handelte sich dabei um die Fragen, auf welche Weise das Edinoverie unter den Altgläubigen verbreitet und wie Sektenangehörige zum Übertritt zur Orthodoxie bewegt werden könnten. Darüber hinaus sollte die Fragen geklärt werden, ob Altgläubigen nicht wieder erlaubt werde solle, in orthodoxen Kirchen zu heiraten, ohne sich zuvor der Orthodoxie anzuschließen, wie eine frühere Bestimmung vorgesehen hatte. Ebd. 376 Vgl. Kapitel 4.2.2. 377 Erzbischof von Tver’ von 1857 bis 1876. 378 Oberprokuror des Heiligsten Synods von 1862 bis 1865.
198 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) merie Vasilij Andreevič Dolgorukov (1804–1868), der Minister für staatliches Eigentum Aleksandr Alekseevič Zelenoj (1818–1880) 379 Innenminister Pёtr Alek sandrovič Valuev,380 Justizminister Dmitrij Nikolaevič Zamjatnin (1805–1881)381 und Staatssekretär des Imperators Dmitrij Martynovič Sol’skij (1833–1910).382 Zwischen 14. März und 13. Mai 1864383 beriet das Komitee auf neun Sitzungen über drei große Themenbereiche: die Ausarbeitung einer neuen Klassifikation der Sekten des Raskol, die Gewährung ziviler Rechte an die Raskol’niki und die Gewährung religiöser Rechte.384 Eine neue Klassifikation der Altgläubigen und Sektenangehörigen war bereits sechs Jahre zuvor vom Zaren gefordert worden. Sie sollte gegenüber der bisherigen Klassifikation, die im Jahr 1842 von Oberprokuror Nikolaj Protasov aufgestellt worden war, auf einer verbesserten Informationsgrundlage über die unterschiedlichen Raskol’niki aufbauen.385 Dazu sah sich das Komitee nicht in der Lage, da sich die Kenntnis über die Schismatiker seit 1842 nicht wesentlich verbessert habe.386 Dennoch diskutierte das Komitee über drei Vorschläge für eine neue Klassifikation.387 Letztlich wurde der Vorschlag des Innenministers angenommen. Dessen Klassifikation sah vor, zwischen schädlicheren und weniger schädlichen Sekten zu unterscheiden.388 Zur ersten Kategorie sollten jene heterodoxen Gruppen gezählt werden, die die Ankunft Jesu Christi auf der Erde nicht anerkannten, die keinerlei Sakramente spendeten, die die Anbetung von Personen zuließen, die sich beschnitten – das heißt die so genannten Skopcy –, und die das Gebet für den Zaren und die Ehe ablehnten. Alle übrigen Sekten seien zu den weniger schädlichen zu zählen.389 Der Klassifikation lag die Frage zugrunde, ob die jeweilige Sekte Lehren verbreite, die die soziale und politische Ordnung destabilisierten.390 Auf der ersten Sitzung des Komitees am 14. März 1864 wurden die Merkmale der Anerkennung von beständigen Eheverbindungen und des Fürbittgebets für den Zaren als einzig zuverlässige Merkmale für eine sinnvolle Klassifikation der Sekten betont. Die Begründung war, dass die Monarchie mit dem Zaren an der Spitze der Grundbaustein der politischen Ordnung und die Familie Grundlage der gesellschaftlichen Ordnung sei. Eine religiöse Gruppe, 379 Minister für staatliches Eigentum von 1862 bis 1872. 380 Innenminister von 1861 bis 1868. 381 Justizminister von 1862 bis 1867. 382 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta. Kopija 11. 383 Ebd. 6. 384 Ebd. 2. 385 Ebd. 386 Ebd. 22. 387 Ebd. 388 Ebd. 389 Ebd. 6. 390 Ebd. 22.
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die diese Grundlagen nicht achte, könne nicht toleriert werden.391 Diejenigen Sekten, die sowohl die Ehe als auch die Zarenfürbitte anerkannten, müssten dagegen als loyale Untertanen angesehen werden, da sie ihre zivilen Pflichten erfüllten.392 Wie in Kapitel 3.1.2. gezeigt wurde, lagen die gleichen Überlegungen auch der Klassifikation vom Oberprokuror des Heiligsten Synods Protasov aus dem Jahr 1842 zugrunde. Die neue Klassifikation bot daher nichts grundsätzlich Neues. Lediglich die Kategorie der schädlichsten Sekten wurde abgeschafft und die darin eingeteilten Sekten in die Kategorie der schädlicheren aufgenommen. Priesterliche Altgläubige bildeten zusammen mit jenen priesterlosen Altgläubigen, die Ehe und Fürbitte für den Zaren anerkannten, die Kategorie der weniger schädlichen Sekten. Ihnen sollten einige zivile Rechte und ein gewisses Maß an religiöser Freiheit gewährt werden. Sie wurden als der Orthodoxen Kirche in Lehre und Glaube besonders nahestehend bezeichnet.393 Das Komitee folgte der Einschätzung des Innenministers, dass in einem Staat, in dem Juden, Muslimen und Heiden ungehindert erlaubt ist, ihre Riten nach den Regeln ihres Gesetzes auszuüben, von einem bedingungslosen Verbot des gemeinsamen Gebets der Raskol’niki, die den gleichen Gott bekennen wie wir, nicht die Rede sein kann.394
Ihnen könnten nicht länger Rechte verwehrt werden, die selbst Nicht-Christen im Russländischen Reich genossen.395 Sie sollten in Zukunft verschlossene Bethäuser wiedereröffnen, verfallene Gotteshäuser renovieren und neue Bethäuser errichten dürfen, um darin ihren Gottesdienst zu feiern.396 Während die Bethäuser der Altgläubigen in Livland seit Anfang der 1860er Jahre mit Zustimmung des Innenministers stillschweigend geduldet wurden, sah das Komitee 1864 vor, die Bethäuser im gesamten Imperium zu legalisieren. Allerdings betonte das Komitee, dass dieses Recht keine Akzeptanz des alten Glaubens im Russländischen Imperium bedeute. Die öffentliche Zurschaustellung des Raskol sollte nach wie vor verboten sein397 und die Gemeindeleiter der priesterlosen Altgläubigen sollten weiterhin nicht als geistliche Personen 391 Ebd. 18. 392 Ebd. 23. 393 Ebd. 10. 394 Jasevič-Borodaevskaja, Varvara: Obzor zakonodatel’stva po staroobrjadčestvu i sektantstvu v ego posledovatel’nom razvitii i Vysočajše utverždennoe, 4-go Ijulja 1894 goda, Položenie Komiteta Ministrov o štunde, v ego primenenii k žizni, in: Dies.: Bor’ba za veru. Istoriko-bytovye očerki i obzor zakonodatel’stva po staroobrjadčestvu i sektantstvu v ego posledovatel’nom razvitii s priloženiem statej zakona i vysočajšich ukazov. St. Petersburg 1912, 1–44, hier 13. 395 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta. Kopija 4. 396 Ebd. 4. 397 Ebd.
200 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) anerkannt werden.398 Die Errichtung neuer Bethäuser könne »keine schlechten Folgen haben, wenn diese Handlungen mit der nötigen Vorsicht durchgeführt werden, indem kein Anlass dazu gegeben wird, zu denken und zu sagen, dass die Verirrung des Raskol von der Regierung gutgeheißen wird«,399 so das Komitee. Die Mitglieder des Komitees verbanden mit dieser Maßnahme die Hoffnung, dass die Altgläubigen ihre ablehnende Haltung gegenüber der Orthodoxen Kirche und dem Staat aufgeben würden: Die »gewährten Erleichterungen [sollen] in [den Raskol’niki] bessere Gefühle gegenüber der Orthodoxen Kirche und der Regierung hervorrufen«.400 In Bezug auf eine Ausweitung der zivilen Rechte der Altgläubigen wurde über die Eröffnung altgläubiger Schulen diskutiert. Das Komitee beschloss, dass Raskol’niki Schulen einrichten durften, wenn sie diese selbst finanzierten und im Lehrplan kein Religionsunterricht vorgesehen war. Die Unterrichtsfächer sollten auf Lesen, Schreiben und die vier Grundrechenarten beschränkt werden. Der Unterricht an diesen Schulen sowie die Wahl und Ernennung von Lehrern sollte jenen Institutionen unterstehen, die die Aufsicht über die Volksschulen hatten.401 Die Frage, ob die Lehrer aus den Reihen der Altgläubigen stammen durften, wurde nicht erörtert. Bereits im Jahr 1866 wurden die Vorschläge des Komitees in den Statuten der Grebenščikov-Schule in Riga umgesetzt, wie in Kapitel 4.2.2. gezeigt wurde. Der in Livland bezüglich der Schulfrage auftretende Dissens zwischen Regierungsbeamten und Erzbischof Platon, der Anfang der 1860er Jahre Rückendeckung vom Heiligsten Synod erhalten hatte, konnte im Komitee beseitigt werden. 1861 hatte sich Platon gegenüber Generalgouverneur Suvorov gegen die Einrichtung besonderer Schulen für die Altgläubigen ausgesprochen und forderte die Einführung des obligatorischen Besuches von orthodoxen Schulen für die Kinder der Altgläubigen. Sämtliche Beschlüsse des Komitees von 1864, die nun die Einrichtung altgläubiger Schulen vorsahen, waren jedoch einstimmig verabschiedet worden.402 Man einigte sich allerdings darauf, dass diese be 398 Ebd. 9. 399 Ebd. 5. 400 Ebd. 401 Ebd. 8. 402 Ebd. 6. Zwar dokumentieren die Sitzungsprotokolle die Auseinandersetzungen zwischen den unterschiedlichen Repräsentanten der Regierung und der Staatskirche nicht, doch scheint es nicht immer leicht gewesen zu sein, gemeinsame Beschlüsse zu finden. Innenminister Pёtr Valuev schreibt in seinem Tagebuch, dass die Ergebnisse des Komitees eines seiner größten Verdienste als Innenminister gewesen seien. Das Komitee zu einem abschließenden Ergebnis zu führen, in dem drei Mitglieder des Heiligsten Synods, dessen Ober prokuror, Fürst Urusov, Graf Panin, Dolgorukov, Zelenyj und der Justizminister saßen, sei eine »Großtat« (podvig) gewesen. Besonders schwierig war es, nach Valuevs Äußerungen zu urteilen, den Rigaer Erzbischof Platon mit auf Kurs zu bringen. Dieser habe in Fragen über die Einrichtung von Schulen für Altgläubige andere Meinungen vertreten als die übrigen
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sonderen Schulen unter keinen Umständen als Sonderbehandlung der Altgläubigen missverstanden werden sollten. Aus diesem Grund durften sie auch nicht »Schulen der Raskol’niki« (učilišča raskol’nič’ie) genannt werden,403 was im Fall der Grebenščikov-Schule in Riga 1866 auch umgesetzt wurde. Diese Beschlüsse des Komitees gleichen den Empfehlungen, die die livländischen Beamten Anfang der 1860er Jahre in Bezug auf die Einrichtung altgläubiger Schulen abgegeben hatten. Von einer Akzeptanz des alten Glaubens im Russländischen Reich zeugen auch die Beschlüsse des Komitees unter Vorsitz Panins nicht. Die Vorstellung, dass das Altgläubigentum nun staatliche Anerkennung genoss, sollte bewusst vermieden werden. Zuletzt diskutierte das Komitee im Jahr 1864 über die Einführung einer zivilen Eheschließung für die Altgläubigen. Auch in diesem Bereich wurden wesentliche Forderungen, die von livländischen Beamten – namentlich Vladimir Sollogub und der Kommission unter seinem Vorsitz – zu Beginn der 1860er Jahre erhoben worden waren, wiederholt. Das Komitee erkannte die Paradoxie der Nikolaj’schen Gesetzgebung über die Ehen der Raskol’niki: Einerseits wurden die Altgläubigen, die die Ehe nicht anerkannten, als gesellschaftsdestabilisierend angesehen – schließlich galt die Familie als Grundbaustein der gesellschaftlichen Ordnung. Andererseits sah die Regierung Ehen, die nicht von den religiösen Eliten der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse geweiht worden waren, nicht als rechtskräftig an. Dies zerstöre, so das Komitee, das familiäre Wohlergehen eines bedeutenden Teils der Untertanen Seiner Imperatorischen Hoheit, und indem das häusliche Alltagsleben aus der Wirkung der allgemeinen Gesetze ausgenommen wird, wird ein weites Feld für Willkür und die durch nichts gezügelte Schwelgerei der Leidenschaften eröffnet, die sich verderblich auf die Sitten der Leute auswirkt.404
Aus diesem Grund sollten die ehelichen Verbindungen unter den Altgläubigen gestärkt werden. Allerdings sollte die Gültigkeit der Sakramente, die von Raskol’niki gespendet wurden, nicht anerkannt werden. Das Komitee unterstützte daher den Vorschlag Innenminister Valuevs, den Polizeibehörden die Aufsicht über die einzuführenden Matrikelbücher zu verleihen, in denen die Ehen, Geburten und Todesfälle unter den Altgläubigen registriert werden sollten.405 Die religiösen Dissidenten sollten dazu verpflichtet werden, entsprechende Eingaben bei der Polizei zu machen.406 Mitglieder des Heiligsten Synods. Akademija nauk SSSR (Hg.): Dnevnik P. A. Valueva, ministra vnutrennych del v dvuch tomach. Bd. 1: 1861–1864. Moskau 1961, 355. 403 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta. Kopija 12–15. 404 Ebd. 3. 405 Ebd. 406 Ebd. 7.
202 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Die Beschlüsse wurden vom Moskauer Metropoliten Filaret geprüft und anschließend von Aleksandr II. am 16. August 1864 bestätigt.407 Es dauerte zwar noch bis 1874 bzw. 1883, bis ein Teil der anvisierten Maßnahmen in gesetzliche Form gebracht wurde und damit Kraft erlangte. Doch legten die Beschlüsse des Komitees von 1864 die Grundlage für die zukünftige Behandlung der Altgläubigen sowohl in der Gesetzgebung als auch in der Verwaltung bis zum Jahr 1905.408
4.2.4 Der Widerstand der Altgläubigen Unter Nikolaj I. hatten die Altgläubigen versucht, jeden Kontakt mit dem Staat zu vermeiden. Sie schrieben nur wenige Bittschriften an die zivilen Obrigkeiten, in denen sie die Behörden um Schutz vor Übergriffen der Orthodoxen Kirche ersuchten. Lediglich in zwei Fällen versammelten sich die Altgläubigen einer Gemeinde, um sich gegen die Schließung ihrer Bethäuser zur Wehr zu setzen. Eine direkte Konfrontation riskierten sie außerdem bei Übergriffen des Staates und der Orthodoxen Kirche auf ihre Kinder, die getauft und an orthodoxe Vormünder gegeben werden sollten.409 Auch nach der Thronbesteigung Aleksandrs II. griffen die Altgläubigen zunächst hauptsächlich auf ausweichende Formen des Widerstands zurück, um ihre eigenen Interessen zu schützen. Doch im Laufe der Zeit veränderte sich allmählich ihre Einstellung gegenüber dem Staat. Anfang der 1860er Jahre verbreiteten sich am Peipussee Gerüchte, dass der Übertritt zum Altgläubigentum nun erlaubt sei. Am 15. April 1861 schrieb der Priester von Černyj, Nikita Ščepetov, dem Erzbischof von Riga und Mitau, dass ein Bewohner des Dorfes Kikita, der schon seit Langem nicht mehr beim Abendmahl gewesen sei, zu ihm gesagt habe: »[H]eute ist es allen, die wollen, erlaubt, erneut zum alten Glauben überzutreten, und deswegen gehe ich nun auf keinen Fall in die Kirche und will nicht länger orthodox sein.«410 Doch woher kam dieses Gerücht? Priester Ščepetov übersandte dem Erzbischof ein längeres Zitat, mit welchem die Altgläubigen Orthodoxe zum Raskol verführen würden: [Die Altgläubigen] eröffneten ihren gemeinschaftlichen Gottesdienst nicht eigenmächtig in Privatwohnungen, sondern dafür gibt es den zarischen Willen, und der Zar wird ihnen bald erlauben, echte Bethäuser zu errichten. Der Zar selbst hat sich davon überzeugt, dass es auf Erden nur einen wahrhaftigen Glauben gab und gibt, das ist der »alte«, den er (der Zar) möglicherweise bald selbst annehmen wird; nun hat er erst einmal allen Untertanen erlaubt zu diesem alten Glauben überzutreten.411 407 Maškovceva: Konfessional’naja politika 13. 408 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 12. 409 S. Kapitel 3.2.3. 410 EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 14ob. 411 Ebd., l. 4 f.
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In der Darstellung Ščepetovs verbreiteten die Altgläubigen dieses Gerücht bewusst, um Personen, die vor Kurzem zur Orthodoxie übergetreten waren, wieder für den alten Glauben zu gewinnen. Und auch der orthodoxe Priester des Dorfes Nos, Michail Malein, legte dies nahe. Denn gerade diese »Wankelmütigen« (kolebajuščiesja) kehrten – angestoßen durch derartige Gerüchte – wieder zum Raskol zurück.412 Den Aussagen orthodoxer Priester über die Altgläubigen ist in der Regel mit großer Vorsicht zu begegnen. Ihr Ziel war schließlich die Beendigung des Schismas durch den Übertritt aller Altgläubigen zur Orthodoxie. Sie versuchten in vielen Fällen die Altgläubigen zu diskreditieren, um die Aufmerksamkeit des Erzbischofs und durch diesen auch der zivilen Obrigkeiten zu gewinnen, deren Aufgabe es wiederum war, die staatliche Ordnung zu schützen. Die Berichte über die Gerüchte unter den Altgläubigen finden sich in diesem Fall allerdings an mehreren Stellen und stammen von unterschiedlichen Priestern, so dass ihnen größere Glaubwürdigkeit zugestanden werden kann.413 Ob die Gerüchte absichtlich von einzelnen Altgläubigen zum Zweck der Rekonversion von Orthodoxen lanciert wurden, lässt sich jedoch nicht zweifelsfrei feststellen. Zumindest können sie aber als Ausdruck der Hoffnungen unter den Altgläubigen interpretiert werden, dass unter dem neuen Zaren die Verfolgungen aufhören und ihnen mehr Rechte verliehen würden. Dies führte zur Rekonversion von Altgläubigen, die sich in der Zeit Nikolajs I. unter staatlichem Druck der Orthodoxie angeschlossen hatten. Zu den Formen des ausweichenden Widerstands gegen restriktive Maßnahmen ist auch der stillschweigende Verstoß der Altgläubigen gegen bestimmte Gesetze zu zählen. Dabei wagten sich die Altgläubigen unter Aleksandr II. weiter vor als noch unter Nikolaj I.: In Černyj und Kikita richteten die Altgläubigen ohne offizielle Erlaubnis Gebetszimmer in Privatwohnungen ein.414 In Riga existierte seit Ende der 1850er Jahre eine geheime Schule der Grebenščikov-Gemeinde.415 Seit etwa 1860 begannen die Altgläubigen am Peipussee, neue Bethäuser zu errichten. Als diese Bauvorhaben gestoppt wurden, schrieben sie Bittschriften an die zivilen Obrigkeiten. Nachdem sie auf ihre Bitten die Antwort erhalten hatten, dass sie die Bauarbeiten zwar fertigstellen, die Gebäude jedoch unter keinen Umständen als Bethäuser nutzen dürften, leisteten sie diesem Verbot keine Folge, sondern feierten weiterhin in den Häusern ihren Gottesdienst.416 Möglich waren solche Formen des ausweichenden Widerstandes auf 412 EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 14ob. 413 Darius Staliūnas beschreibt Gerüchte als wichtiges Instrument des anti-staatlichen Widerstandes. In den 1860er Jahren hätten sich im nord-westlichen Gebiet unter weißrussischen Katholiken Gerüchte verbreitet, dass der Zar die Konversion zur Orthodoxie nicht wünsche. Staliūnas: Making Russians 155 f. 414 EAA F. 291, op. 1, d. 16094, l. 30. 415 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 424. 416 Vgl. die beschriebenen Vorgänge in den Dörfern Černyj und Kikita in Kapitel 4.2.2.
204 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) grund der mangelnden Kontrolle, die die Regierung über die altgläubige Bevölkerung am Peipussee hatte und die von der Kommission unter Vorsitz Sollogubs 1861 so stark kritisiert worden war.417 Der Versuch, ein bereits existierendes Bethaus zu schließen, findet sich in den 1860er Jahren in Livland nur ein Mal. Anfang des Jahres 1869 fuhr der Helfer des Leiters der livländischen Gouvernementspolizeiverwaltung, Kapitän Rėmer, nach Voron’ja, um die Altgläubigen in ihrem illegal existierenden Bethaus beim Gottesdienst zu ertappen.418 Der Polizeibeamte nahm den Altgläubigen den Schlüssel ihres Bethauses ab und beschlagnahmte sämtliche Kultgegenstände.419 Der Gutsbesitzer Aaron Richter, auf dessen Boden sich das Dorf Voron’ja befand, schrieb dem Generalgouverneur in der Folge einen Brief, in dem er um die Rückgabe des Schlüssels an die Altgläubigen bat. Darin beschrieb er das Vorgehen des Polizeibeamten als »brutal«.420 Dieser sei während des Gebets mit bewaffneten Gendarmen »mit dröhnendem Schritte und Säbelklirrend«421 in das Bethaus eingedrungen und habe den Gottesdienst abbrechen lassen. Anschließend habe er die Anwesenden im Bethaus eingesperrt, sie verhört und sich alle religiösen Kultgegenstände aushändigen lassen, die er dann konfiszieren habe lassen. Schließlich habe er den Altgläubigen den Schlüssel zu ihrem Bethaus abnehmen lassen. All dies habe sich »unter weinenden Weibern und Kindern«422 zugetragen. Der Gutsbesitzer betonte, dass die Altgläubigen keinerlei Widerstand geleistet und »mit keiner einzigen Autorität [je] irgend einen Conflict gehabt«423 hätten.424 Er bat den Generalgouverneur, dem Gendarmen Officier Römer […] die übergroße Hitze wohl etwas dämpfen zu lassen, mit der er, ohne irgend eine Veranlassung dazu zu haben, eine Menge von Menschen in ihren religiösen Gefühlen gekränkt, und dadurch in Aufregung und Mißstimmung versetzt hat, wo etwas Tact und Schonung jeden schlechten Eindruck vermieden haben würde!425
417 S. Kapitel 4.2.2. 418 Rėmers Ziel war es, die Altgläubigen beim Gottesdienst zu überraschen. Er brüstete sich in einem Bericht an seinen Vorgesetzten, dass er im Vorherein in Erfahrung gebracht habe, zu welcher Zeit die Altgläubigen ihren Gottesdienst feierten, um mitten in der Nacht von Dorpat aus nach Voron’ja aufzubrechen. Dort sei er um 4:30 Uhr unbemerkt angekommen und habe das Bethaus der Raskol’niki betreten, als diese gerade den Morgengottesdienst feierten. EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 6 f. 419 EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 6–10. 420 Ebd., l. 10. 421 Ebd., l. 9. 422 Ebd., l. 10. 423 Ebd. 424 Ebd., S. 9–10ob. 425 Ebd., S. 10ob.
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Die Altgläubigen reagierten auf die Schließung ihres Bethauses nicht mit dem gleichen Widerstand wie bei der Schließung ihres Bethauses in Kazapel’ durch die orthodoxe Geistlichkeit in der Zeit Nikolajs I., bei der sie den orthodoxen Priester beleidigt und den Kirchenältesten angeblich geschubst hatten.426 Stattdessen verhielten sie sich trotz des rigorosen Vorgehens des Polizeibeamten ruhig und wandten sich an den Gutsbesitzer, damit dieser für die Rückgabe ihrer Schlüssel sorge.427 Die geringe Konfliktbereitschaft der Altgläubigen mag daran gelegen haben, dass sie Rückendeckung von Seiten des Generalgouverneurs erwarteten. Generalgouverneur Šuvalov hatte den Altgläubigen von Černyj einige Jahre zuvor erlaubt, ihr Bethaus zu renovieren und im Zuge dessen auch zu vergrößern. Den Altgläubigen von Voron’ja hatte er gar den Bau eines neuen Bethauses gestattet.428 Die Altgläubigen vertrauten darauf, dass der repressive Kurs des Staa tes vorbei war. Sie gaben zivilen Beamten gegenüber offen zu, dass sie ihre Kinder von altgläubigen Lehrern in Privatwohnungen unterrichten ließen.429 Sie baten um Erlaubnis zur Einrichtung besonderer Schulen,430 in der Erwartung, diese Erlaubnis auch zu erhalten. Die Altgläubigen Rigas fassten sogar Vertrauen zu Nikolaj Leskov, obwohl er vor ihnen nicht verbarg, dass er im Auftrag der Regierung handelte.431 Die Altgläubigen gewährten Leskov Zugang zu ihrer heimlich eröffneten Schule in der Moskauer Vorstadt.432 Die drei Jahre darauf vom Zaren bekräftigten Statuten der Grebenščikov-Schule zeigen, dass die Bestimmungen in Zusammenarbeit mit den Altgläubigen entstanden waren: Es werden die Namen der Altgläubigen genannt, mit deren Finanzen die Schule im Wesentlichen errichtet und unterhalten werden sollte, sowie die Höhe ihrer finanziellen Aufwendungen.433 ✴ ✴ ✴
426 S. Kapitel 3.2.3. 427 EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 10. 428 Den Altgläubigen von Černyj hatte Šuvalov erlaubt, ihr Bethaus zu renovieren und dabei zu vergrößern. S. dazu Kapitel 4.2.2. und EAA F. 296, op. 9, d. 461, l. 1. Den Altgläubigen des Dorfes Voron’ja erlaubte Šuvalov die Errichtung eines neuen Bethauses. Kapitel 4.2.2. und EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 10ob. 429 EAA F. 291, op. 1, d. 16584, l. 20ob. 430 Bittschrift Michail Smolkins im Namen der Altgläubigen von Černyj, Kikita, K rasnye Gory, Kol’ki, Kazapel’, Voron’ja und Meži von 1860. Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 428 f. Bittschrift Michail Smolkins, Semën Krechov und Grigorij Michajlovs vom 25.11.1860. EAA F. 291, op. 1, d. 16051, l. 3–4. Bittschrift der Altgläubigen Rigas aus dem Jahr 1863. Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 439 f. 431 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 441. 432 Ebd. 440–442. 433 SPR 627–631 (4.2.1866). Für eine Zusammenfassung der einzelnen Bestimmungen über die Schule, die sich in den Statuten finden, s. Kapitel 4.2.2.
206 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Die livländischen Altgläubigen gingen Begegnungen mit den zivilen Obrigkeiten in den 1860er Jahren nicht mehr so stark aus dem Weg wie noch unter Nikolaj I. Die Verwaltung hatte seit etwa 1860 von der Durchsetzung repressiver Maßnahmen gegenüber der religiösen Organisation der Altgläubigen abgesehen. Selbst ohne offizielle Erlaubnis errichtete Bethäuser blieben – mit Ausnahme desjenigen in Voron’ja – von Versiegelungen verschont. Außerdem verzichtete die Regierung auf Übergriffe auf die Kinder der Altgläubigen, die unter Nikolaj I. gewaltsam orthodox getauft und orthodoxen Vormündern übergeben worden waren. Gegen diese Übergriffe, die das Verhältnis der Altgläubigen zur Regierung vermutlich am stärksten belasteten,434 hatten sie erheblichen Widerstand geleistet.435 Unter Aleksandr II. entfiel diese Arena der Auseinandersetzung zwischen Altgläubigen und Staat aufgrund des neuen Kurses der Regierung. Die jüngsten Erfahrungen mit dem Staat hatten unter den Altgläubigen die Hoffnung genährt, dass Bittschriften, der Verzicht auf Konfrontation und die Zusammenarbeit mit der Regierung zu einer Verbesserung ihrer Lage führen würden. Zu offenem Protest der Altgläubigen im Sinne einer Bewegung, die auf Veränderungen der herrschenden Ordnung abzielt, kam es nicht – entgegen den Hoffnungen der radikalen Oppositionellen Aleksandr Gercen, Vasilij Kel’siev und Nikolaj Ogarёv.436
4.3 Die livländischen Altgläubigen und die Nationalitätenpolitik Die imperiale Politik St. Petersburgs sollte die politische Loyalität der Untertanen garantieren. Darius Staliūnas zeigt in seiner Monografie »Making Russians«,437 dass die Art und Weise, wie die Regierung dieses Ziel zu erreichen suchte, von der Einschätzung der Beamten abhing, unter welchen Umständen eine ethno-konfessionelle Bevölkerungsgruppe als loyal gelten konnte. Wurden politische Loyalität und Zugehörigkeit zur Orthodoxen Kirche miteinander in Verbindung gebracht – wie beispielsweise von dem Slavophilen Ivan Sergeevič Aksakov (1823–1886) –, lag eine Assimilationspolitik nahe,438 die nach der Definition Benjamin Nathans verstanden wird als »process culminat ing in the disappearance of a given group as a recognizably distinct element 434 Leskov berichtet, dass die Altgläubigen das Vorgehen Suvorovs gegen ihre Kinder »Arbeit des Herodes« (irodova rabota) genannt hätten, in Anlehnung an König Herodes, der alle Kinder im Alter von bis zu zwei Jahren ermorden ließ, nachdem er von der Geburt Jesu Christi erfahren hatte (Mt 2, 1–18). Leskov: Irodova rabota 188. 435 S. Kapitel 3.2.3. 436 S. Kapitel 4.1.2. 437 Staliūnas: Making Russians. 438 Ebd. 179.
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within a larger society«.439 In Bezug auf die katholischen Weißrussen, die ethnisch zu den »Großrussen« gerechnet wurden, bedeutete dies, dass sie zur Konversion zur Orthodoxie bewegt werden sollten.440 Andere Beamte und Intellektuelle, wie beispielsweise Michail Nikiforovič Katkov (1818–1887), verstanden die Beherrschung der russischen Sprache als Pfandbrief für politische Loyalität.441 Sie verfolgten demgemäß eine Sprachpolitik, die auf Akkulturation der jeweiligen Bevölkerungsgruppe abzielte,442 als »a form of adaptation to the surrounding society that alters rather than erases the criteria of difference, especially in the realm of culture and identity«.443 Darüber hinaus kann auch Integration als »counterpart of acculturation (though the two do not necessarily go hand in hand) in the social realm – whether institutional (e.g., schooling), geographic (patterns of residential settlement), or economic (occupational profile)«444 und somit als Instrument der Loyalitätssicherung verstanden werden.445 Diese Ziele der Regierung konnten durch unterschiedliche Strategien erreicht werden. Michail Dolbilov unterscheidet zwischen Diskriminierung und Disziplinierung, zwei Herrschaftslogiken der imperialen Religionspolitik, die im Wechsel auf verschiedene Religionsgruppen angewandt werden und zeitgleich zu Tage treten konnten.446 Man kann auf diese Weise unterschiedliche Strategien der Regierung unterscheiden, die verschiedene Ziele gegenüber einer bestimmten Bevölkerungsgruppe verfolgten, stets jedoch dem Zweck der Loyalitätssicherung ihrer Untertanen dienen sollten.447 Sprach- und Konfessionspolitik versteht Staliūnas als Teile der Nationalitätenpolitik.448 Das Spannungsfeld zwischen Religion, Ethnie und Loyalität reduzierte sich im Fall der Altgläubigen, da die Frage nach ihrer Ethnizität entfiel. 439 Nathans: Beyond the Pale 11. 440 Staliūnas: Making Russians 20, 179. 441 Ebd. 167. 442 Ebd. 20. 443 Nathans: Beyond the Pale 11. 444 Ebd. 445 Staliūnas: Making Russians 1 f. 446 Dolbilov: Russkij kraj 750–753. 447 Karen Barkey versteht, ohne auf die Begrifflichkeiten Benjamin Nathans zurückzugreifen, Toleranz, Assimilation und Intoleranz als unterschiedliche Strategien des imperialen Zentrums zur Loyalitätssicherung der heterodoxen Bevölkerungsgruppen im Imperium. Barkey: Empire of Difference 21. In dieser Arbeit soll stärker differenziert werden zwischen unterschiedlichen Strategien, wie der Disziplinierung oder Diskriminierung, mit denen die Regierung bestimmte Ziele verfolgte, wie die der Assimilation, Akkulturation oder Integration von Bevölkerungsgruppen, welche alle dem Zweck der Loyalitätssicherung dieser Gruppen dienen sollten. 448 Dohrn, Verena: Rezension zu Darius Staliūnas: Making Russians. Meaning and Practice of Russification in Lithuania and Belarus after 1863. Amsterdam 2007, in: H-Sozu-Kult 5.5.2008. URL: http://www.hsozkult.de/hfn/publicationreview/id/rezbuecher-10682 (am 27.11.2014).
208 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Dass es sich bei den Altgläubigen beinahe ausschließlich um ethnische Russen handelte, wurde nicht in Frage gestellt. Sie waren bereits akkulturiert: Sie sprachen Russisch und einige Intellektuelle erblickten in ihnen die Träger der ursprünglichen russischen Kultur und ihrer Traditionen.449 Insbesondere unter Nikolaj I. galten die Altgläubigen aber aufgrund ihrer Zugehörigkeit zum Raskol als illoyale Untertanen, die die Stellung der Staatskirche bedrohten. Bis in die ersten Herrschaftsjahre Aleksandrs II. hinein waren die Altgläubigen daher durch die Vorenthaltung religiöser und ziviler Rechte diskriminiert worden. Sie sollten zur Konversion zur Orthodoxie bewegt werden, wodurch sie als assimiliert und daher politisch loyal gegolten hätten. Leonid Gorizontov zeigt, dass die Altgläubigen in den Gouvernements Kovno, Vil’na und Vitebsk450 in der Zeit nach Nikolaj I. aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur russischen Ethnie von der Regierung privilegiert behandelt wurden. In diesem Teil des Imperiums lebten mehr Altgläubige als orthodoxe Russen. In dieser nicht-russischen, nicht-orthodoxen Umgebung konnten die Altgläubigen als Verbündete der russländischen Regierung wahrgenommen werden. Der Generalgouverneur des nord-westlichen Gebiets Michail Nikolaevič Murav’ev (1796–1866)451 bezeichnete die Altgläubigen bei seiner Ankunft in Vilnius 1863 als Bollwerk der »russischen Zivilisation« inmitten des »Polonismus«.452 Rückendeckung erhielt der Generalgouverneur vom Statthalter des Königreichs Polen (namestnik carstva pol’skogo) Fёdor Fёdorovič Berg (1794–1874).453 Berg sprach sich dafür aus, die Altgläubigen zu schonen, da sie einen wesentlichen Stützpfeiler des russischen Staates in Polen darstellten. Die Parteinahme der Altgläubigen für den Zaren im polnischen Aufstand habe zu dieser Einschätzung der Altgläubigen als loyaler Subjekte wesentlich beigetragen, schreibt Gorizontov.454 Aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur russischen Ethnie galten sie den Beamten als loyaler als die polnische Mehrheitsbevölkerung.455 Seit 1864 449 Diese Vorstellung findet sich bei: Mel’nikov: Pis’ma o raskole 246; Liprandi: Kratkoe obozrenie 81. 450 Gorizontov untersucht die mit der größten Anzahl von Altgläubigen bevölkerten Kreise der Gouvernements Vitebsk, Kovno und Vil’na. Gorizontov: Raskol’ničij klin 141. 451 Generalgouverneur von Vilnius von 1863 bis 1865. 452 Gorizontov: Raskol’ničij klin 152. 453 Friedrich Wilhelm Rembert von Berg. Statthalter des Königreichs Polen 1863 bis 1874. 454 Gorizontov: Raskol’ničij klin 152. 455 Ebd. 153. Gorizontov schreibt, dass die Wahrnehmung der Altgläubigen als vergleichs weise loyale Untertanen auch durch deren Parteinahme für die Regierung während des polnischen Aufstands bestärkt wurde. Plausibler ist es allerdings, den Kurswechsel gegenüber den Altgläubigen in dieser Region mit der Besetzung des Postens des Generalgouverneurs durch M. N. Murav’ev in Verbindung zu bringen. Dieser hatte durch sein Amt großen Einfluss auf den Umgang mit den Altgläubigen. Sein Amtsantritt im Jahr 1863 fiel mit dem polnischen Aufstand in etwa zusammen. Doch nachdem er das Amt des Generalgouverneurs im Jahr 1865 niedergelegt hatte, gab es keine weiteren Versuche, die Altgläubigen für das empirebuilding in jener Region zu nutzen. Ebd. 159.
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seien die Altgläubigen des nordwestlichen Gebiets nicht mehr verfolgt worden, da sie für das empire-building in der von polnischen Katholiken dominierten Region genutzt werden sollten.456 Ähnliche Umstände führten dazu, dass Angehörige anderer nicht-orthodoxer Heterodoxien, die ethnische Russen waren, ebenfalls bevorzugt behandelt wurden. Nicholas Breyfogle schreibt, dass lokale Beamte die Duchoborcy, Molokany und Subbotniki in Transkaukasien als Kolonisten in einem Gebiet schätzten, in welchem es praktisch keine orthodoxen Russen gab.457 Wie die Altgläubigen im Nordwesten wurden auch die Sektenangehörigen im Südkaukasus zu potentiellen Stützten des Russländischen Reiches erklärt. Folglich sprach ihnen die Regierung wichtige Funktionen im empire-building zu458 und sie erhielten religiöse Freiheiten, die ihre Glaubensgenossen in den innerrussischen Gouvernements nicht genossen.459 Ihre Instrumentalisierung als Kolonisten des Russländischen Reiches im Transkaukasus habe »the traditional connection among Orthodox Christianity, Russian ethnicity, and perceived political loyalty« destabilisiert.460 Eine Beschreibung der Altgläubigen Livlands durch die Beamten als Verbündete des russischen Staates findet sich in den Quellen nicht. Selbst Jurij Fёdorovič Samarin (1819–1876), der 1868 den ersten Band seiner »Grenzmarken Russlands«461 veröffentlichte, in denen er die politische und kulturelle Integration der Ostseegouvernements ins Russländische Reich forderte und die Vorherrschaft der deutsch-baltischen Ritterschaften kritisierte,462 erwähnt die Altgläubigen nicht als Teil der russischen Bevölkerung in dieser Region des Imperiums. Stattdessen nutzte der Publizist und spätere Diplomat unter Otto von Bismarck, Julius Albert Wilhelm von Eckardt (1836–1908),463 die Geschichte der Altgläubigen in Riga, um die deutsche Vorherrschaft in den Ostseegouvernements zu verteidigen.464 Im Jahr 1870 erschien Eckardts Buch »Bürgerthum 456 Ein Ausdruck dieser Nutzbarmachung der Altgläubigen für die Gouvernementsverwaltung war die gesetzliche Ausnahmeregelung des Jahres 1863, welche vorsah, dass Altgläubige in Orten der westlichen Gouvernements, in denen keine Orthodoxen lebten, sämtliche öffentliche Ämter in den Volost’- und Landgemeinden übernehmen durften. PSZ II, Bd. 38, Nr. 40334, 264 f. (29.11.1863). 457 Wie die Altgläubigen waren diese Sekten russischen Ursprungs. Das Gleiche gilt für Skopcy und Chlysty. Breyfogle: Heretics and Colonizers 8. 458 Ebd. 131. 459 Ebd. 316. 460 Ebd. 4. 461 Samarin, Jurij: Okrainy Rossii. Berlin 1868. 462 Hirschhausen: Die Grenzen der Gemeinsamkeit 138 f. 463 Grolle, Joist: Eckardt, Julius Albert Wilhelm von, in: Brietzke, Dirk/Kopitzsch, Franklin (Hg.): Hamburgische Biografie. Personenlexikon. Bd. 2. Hamburg 2003, 111. 464 Julius Eckardt engagierte sich persönlich in der Auseinandersetzung zwischen Jurij Samarin und Carl Schirren. 1869, als Schirren die »Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin« (Schirren, Carl: Livländische Antwort an Herrn Juri Samarin. Leipzig 1869) her-
210 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) und Büreaukratie«,465 in dem er in vier Aufsätzen die Machtstellung des deutschen Adels in den Ostseegouvernements verteidigte.466 In seinem vierten Aufsatz gibt Eckardt unter dem Titel »Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga«467 große Teile des Berichts Nikolaj Leskovs »Über die Raskol’niki der Stadt Riga, insbesondere über ihre Schulen«468 wieder.469 Eckardt stellt Leskovs Kritik am staatlichen Umgang mit den Altgläubigen dar und verweist an mehreren Stellen darauf, dass die deutschen Behörden und Beamten sehr viel besser mit den Altgläubigen umgingen als die russischen und insbesondere die Würdenträger der Orthodoxen Kirche.470 Zum Schluss verbindet er seine Darstellung der Geschichte der Altgläubigen in Riga mit einer politischen Agenda: [F]ür uns ist es eine so ausgemachte Sache, daß die griechische Kirche ihre Secten nicht besiegen wird, so lange sie sich nicht auf das Princip der Gewissensfreiheit stellt, wie daß die russische Nation nicht frei werden kann, so lange sie anderen Nationalitäten Existenzrecht und freies Wort abspricht.471 ausgab, veröffentlichte Eckardt eine ins Deutsche übersetzte und kommentierte Ausgabe der »Okrainy Rossii«. Eckardt, Julius (Hg.): Juri Samarins Anklage gegen die Ostseeprovinzen Rußlands. Übersetzung aus dem Russischen. Eingeleitet und commentiert von Julius Eckardt. Leipzig 1869. Der Verleger hatte Eckardt gebeten, »die Hauptirrthümer und greifbarsten Unwahrheiten desselben [der Okrainy Rossii, d. Vf.] in einer Vorrede oder einem Commentar zurechtzustellen«. Eckardt: Juri Samarins Anklage V. Dieser Aufforderung kam Eckardt nach. 465 Eckhardt: Bürgerthum und Büreaukratie. Für eine Darstellung der Auseinanderset zung zwischen Jurij Samarin und Carl Schirren siehe Neander, Irene: Carl Schirren als Historiker, in: Rauch, Georg von (Hg.): Geschichte der deutschbaltischen Geschichtsschreibung. Köln, Wien 1986, 175–202, hier 182–185. Pistohlkors, Gerd von: Die Ostseeprovinzen unter russischer Herrschaft (1719/95–1914), in: Ders. (Hg): Baltische Länder. Berlin 1994, 397–414, hier 397–400. 466 Eckardt schreibt, das Buch habe die Aufgabe, »einige der wichtigsten Abschnitte aus der Kriegsgeschichte des baltischen, zumal Rigaschen Bürgerthums [gegen Versuche, seine Vorherrschaft der russischen Bürokratie unterzuordnen, d. Vf.] an der Hand zuverlässiger, bisher weiteren Kreisen nicht bekannt gewordener Quellen zu schildern«. Eckhardt, Julius: Vorwort, in: Ders.: Bürgerthum und Büreaukratie. Vier Kapitel aus der neusten livländischen Geschichte. Leipzig 1870, VII–XVI, hier XI. 467 Eckhardt, Julius: Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga, in: Ders.: Bürgerthum und Büreaukratie. Vier Kapitel aus der neusten livländischen Geschichte. Leipzig 1870, 225–250. 468 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi. 469 Nikolaj Leskov kannte Eckardt nicht persönlich und war selbst darüber verwundert, wie sein Bericht über die Schulen der Altgläubigen, den er 1863 an Volksbildungsminister Golovnin geschickt hatte, zu Eckardts Kenntnis gelangen konnte. Leskov: Irodova rabota 189. 470 Die Auszüge aus Leskovs Bericht an Volksbildungsminister Golovnin, die Eckardt darbietet, böten »so schlagende Belege dafür, daß es immer nur Regierung und griechische Kirche waren, welche das Gros der russischen Bevölkerung Riga’s drückten und auf die tiefste Stufe menschlicher Existenz herabzerrten, daß die deutschen und lutherischen Behörden von den Sectirern selbst immer wieder als die Vertreter der Humanität und der Toleranz betrachtet worden sind«. Eckardt: Zur Geschichte der russischen Altgläubigen in Riga 227 f. 471 Ebd. 250.
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Julius Eckardt bezog sich in seinen Ausführungen auf die Geschichte der Verfolgungen der Altgläubigen unter Nikolaj I. und versuchte, die Vorherrschaft der deutschen Ritterschaften in der livländischen Verwaltung zu rechtfertigen.472 Von den russischen Beamten wurden die Altgläubigen auch nach der Zeit Nikolajs I. nicht als Verbündete der Regierung in den Ostseegouvernements wahrgenommen, die gegen die Dominanz der lutherischen Deutschen in diesem Teil des Russländischen Reichs instrumentalisiert werden könnten. Sie waren weder die zahlenmäßig dominanten Vertreter der russischen Ethnie in Livland, noch wurden die lutherischen Deutschen in den 1860er Jahren als der St. Petersburger Regierung gegenüber illoyal wahrgenommen.473 St. Petersburg war keineswegs auf die Unterstützung der Altgläubigen zum empire-building in Livland angewiesen. In einer Zeit, in der die politische Loyalität der russländischen Bevölkerungsgruppen zunehmend an ihrer ethnischen Zugehörigkeit festgemacht wurde, blieb bezüglich der Altgläubigen, die zweifelsohne der russischen Ethnie angehörten, der konfessionelle Faktor in der staatlichen Politik ausschlaggebend. Die vorgestellte Verbindung zwischen Zugehörigkeit zum Raskol und politischer Illoyalität, die die Diskriminierungspolitik Nikolajs I. mit dem Ziel der Assimilation der Altgläubigen so stark geprägt hatte, wurde von den livländischen Beamten seit 1860 jedoch in Frage gestellt. Die Kommission des Jahres 1861 unter Vorsitz Vladimir Sollogubs beschrieb die Altgläubigen am Peipussee zwar als illoyale Bewohner des Reiches: Sie nähmen entlaufene Personen unter sich auf, unterwanderten das Ausweisregime, seien den Obrigkeiten gegenüber ungehorsam474 und der orthodoxen Geistlichkeit gegenüber feindselig.475 Aller 472 Nikolaj Leskov schloss sich der Meinung Eckardts an, dass die deutschen Beamten die Altgläubigen beschützten – ganz unabhängig von ihrem Widerstand gegen eine Gleich berechtigung der russischen Bevölkerung in den Ostseegouvernements, wie Leskov obendrein bemerkt. Leskov: Irodova rabota 199. 473 Der Streit um die Autonomien der deutschen Lutheraner in den Ostseegouverne ments, der durch Jurij Samarins »Anklage an die Ostseeprovinzen« (Eckardt (Hg.): Juri Samarins Anklage) ausgelöst worden war und seit Carl Schirrens »Livländischer Antwort« (Schirren: Livländische Antwort.) entbrannte, erhielt erst seit 1870 Brisanz. Pistohlkors (Hg.): Baltische Länder 397 f. Eine Nationalisierung der Auseinandersetzung zwischen dem St. Petersburger Zentralisierungsanspruch und der Autonomie der Ostseegouvernements ereignete sich erst in den 1880er Jahren, im Zuge der so genannten Russifizierungspolitik. Pistohlkors, Gert von: Ständische, ethnische und nationale Argumentationen von deutschen Balten über Esten und Letten in 19. Jahrhundert, in: Nordost-Archiv VII/1 (1998), 235–253, hier 248 f. 474 EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 16–17ob. Die gleiche Aussage findet sich auch im Bericht Sollogubs an den Generalgouverneur vom 24. Juli 1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 14. 475 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 4. Andere Beamte widersprachen dieser Einschätzung. Der Gutsbesitzer der Myza Kavast, Aaron Richter, bezeichnete die Altgläubigen in einem Schreiben an den Generalgouverneur im Jahr 1869 als »die ruhigsten, friedlichsten [Einwohner] am Peipus-Strande«. EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 10. Generalgouverneur Al’bedinskij berichtete dem Innenminister im selben Jahr, dass die Altgläubigen am Peipussee allen Anordnungen der lokalen Verwaltung Folge leisteten, die keine religiösen Belange betrafen. EAA F. 291, op. 1, d. 12381, l. 23.
212 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) dings deutet Sollogub an, dass der Grund für die Illoyalität der Altgläubigen in den Verfolgungen liege, denn »jedwede Gewalt erregt Widerstand«.476 Nikolaj Leskov vertrat diese Meinung mit aller Deutlichkeit. Die Feindschaft gegen die Orthodoxe Kirche werde den Kindern der Altgläubigen nicht in den Schulen beigebracht, sondern durch Erzählungen über die Verfolgungen ihrer Vorfahren, die sich seit Mitte des 17. Jahrhunderts ereignet hatten.477 Die Entrechtung der Altgläubigen durch die Regierung und das Verhalten der orthodoxen Geistlichkeit ihnen gegenüber seien die Gründe dafür, dass sie Kirche und Staat verachteten, und hätten ihren »religiösen Fanatismus« geschürt.478 Nicht mehr der religiöse Dissens der Altgläubigen wurde von den livländischen Beamten für ihre politische Illoyalität verantwortlich gemacht, sondern der Diskriminierungskurs von Staat und Orthodoxer Kirche. Darüber hinaus setzte sich die Einsicht durch, dass die Diskriminierung der Altgläubigen nicht ihr Ziel hatte erreichen können. Sie hatte nicht zur Assimilation der Altgläubigen durch Konversion zur Orthodoxie geführt. Zwar änderte sich bis 1874 nur wenig an den gesetzlichen Bestimmungen über die Altgläubigen im Russländischen Reich, doch wurde in Livland auf die Umsetzung repressiver Bestimmungen verzichtet. Zu diesem Kurswandel mag die Erfahrung beigetragen haben, dass sich die benachbarten Altgläubigen in den westlichen Gouvernements nicht am polnischen Aufstand 1863 beteiligt hatten.479 Doch hatte sich die Einsicht, dass die Verfolgungen der Altgläubigen Grund für deren Misstrauen gegenüber Staat und Orthodoxer Kirche seien, in Regierungskreisen schon zuvor durchgesetzt. Die Regierung Aleksandrs II. schlug seit Ende der 1850er Jahren einen neuen Kurs gegenüber den Altgläubigen ein. Die Duldung illegal errichteter Bethäuser in mehreren Dörfern am Peipussee bedeutete eine klare Abkehr vom bisherigen Diskriminierungskurs, der auf die Vernichtung der religiösen Organisation der Altgläubigen abgezielt hatte. Die Pläne, spezielle Schulen für die Kinder der Altgläubigen einzurichten, und deren konkrete Umsetzung in Riga waren mit dem Ziel verbunden, die Loyalität der religiösen Dissidenten sicherzustellen. Nikolaj Leskov schrieb, dass die Einrichtung einer solchen Schule die Dankbarkeit der Altgläubigen gegenüber der Regierung zur Folge haben würde.480 Betrachtet man die Eröffnung der Schule in Riga in Zusammenhang mit weiteren Maßnahmen jener Zeit, die gegenüber den Raskol’niki anvisiert wurden, so wird ein weiteres Ziel der Regierungspolitik deutlich. Die Altgläubigen sollten in das sozio-ökonomische Leben der russländischen Gesellschaft und in die staatliche Verwaltung integriert werden. Die Schule für ihre Kinder sollte der Vor 476 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 31ob. 477 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 392 f. 478 Ebd. 422. 479 Gorizontov: Raskol’ničij klin 152. 480 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 454.
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bereitung auf ein Berufsleben und den eigenständigen Broterwerb dienen, um die Segregation der Altgläubigen von der Rigenser Gesellschaft zu beenden. Bereits 1863 war ihnen außerdem die Möglichkeit gegeben worden, aus dem Meščanstvo in die Kaufmannsgilden einzutreten, was sowohl wirtschaftlich als auch gesellschaftlich einen Aufstieg bedeutete. Wie genau die Altgläubigen in die administrativen Strukturen des Reiches eingegliedert werden könnten, diskutierte die Kommission unter Vorsitz Sollogubs. Sie schlug 1861 vor, Matrikelbücher für die Altgläubigen einzuführen und deren Eheverbindungen als Zivilehen anzuerkennen, wenn sie bei der Polizei registriert wurden. Dies würde die Identifizierung von Einzelpersonen unter den Raskol’niki ermöglichen, ihre familiären Verbindungen stärken und die Besteuerung und Aushebung von Rekruten erleichtern. Auch diese Maßnahmen dienten dem Ziel der Loyalitätssicherung der altgläubigen Bevölkerung gegenüber der Regierung. Sollogub erhoffte sich von der Einführung der Zivilehe, dass »diese Maßnahme die wichtige Folge hätte, dass sie die gesamte weibliche Bevölkerung des Raskol auf die Seite der Regierung ziehen würde«,481 weil diese durch die fehlende rechtliche Anerkennung der ehelichen Verbindungen unter Altgläubigen sämtlichen Rechtsschutzes entbehre. Sicherlich zielte auch die Duldung der ohne Erlaubnis errichteten Bethäuser darauf ab, Widerstände der religiösen Dissidenten gegen die Regierung zu schwächen. Der neue Kurs sollte nicht länger auf Diskriminierung zur Assimilation der Altgläubigen setzen, sondern auf deren Disziplinierung mit dem Ziel der Integration. Doch waren dieser Integration enge Grenzen gesetzt. Der alte Glaube sollte nicht in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufgenommen werden. War das Ziel des »confessional state«, die unterschiedlichen nicht-orthodoxen Bevölkerungsgruppen für den Staat nutzbar zu machen, wofür ihnen im Gegenzug das Recht auf freie Religionsausübung gewährt wurde,482 sollten die Altgläubigen unter Aleksandr II. nur eingeschränkt Teil dieses Systems werden. Während anerkannten Glaubensbekenntnissen finanzielle Unterstützung für die Unterweisung von Kindern in ihrer jeweiligen Glaubenslehre gewährt wurde,483 war in der Grebenščikov-Schule in Riga kein Religionsunterricht vorgesehen. Vor allem aber wurden die Gemeindeleiter der Altgläubigen nicht als geistliche Personen anerkannt. Eben diese religiösen Eliten erfüllten im Verwaltungssystem des »multiconfessional establishment«484 die staatlichen Pflichten der anerkannten Glaubensgemeinschaften: 481 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 29. 482 Eben diesen Kompromiss war die Regierung im Fall der Katholiken, evangelischen Konfessionen, Muslimen, Juden, Animisten, Armenier und Buddhisten eingegangen. Werth: The Emergence 590 f. 483 Eine Auflistung der Rechte, die den anerkannten Glaubensbekenntnisse gewährt wurden, findet sich bei Dolbilov: Russifying Bureaucracy 114. 484 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 48.
214 Umgang mit den Altgläubigen unter Aleksandr II. (1855–1881) Sie predigten die Unterordnung unter das russländische Gesetz, sie vermittelten einen als sittlich empfundenen Lebensstil485 und wandten die Regeln ihres religiösen Rechts auch bei weltlichen Vergehen innerhalb ihrer Gemeinden an.486 Die Frage, wer diese Funktionen unter den Altgläubigen übernehmen sollte, blieb ungeklärt. Eine der wichtigsten Aufgaben, die die religiösen Eliten für die staatliche Verwaltung übernahmen, war die Führung der Matrikelbücher. Dies oblag im Falle der Raskol’niki den Polizeibehörden. Die Herrschaftsinstrumente des »multiconfessional establishment« wurden nur bedingt auf die religiösen Dissidenten ausgeweitet. Einer konsequenten Glaubenstoleranz (veroterpimost’) gegenüber den Altgläubigen, die die Kooptierung ihrer religiösen Eliten und dadurch eine umfassende Disziplinierung ermöglicht hätte, stand die Vorherrschaft des orthodoxen Bekenntnisses im Russländischen Reich entgegen. Es sollte eine Möglichkeit gefunden werden, welche die Schismatiker staatlicher Kontrolle unterstellte, ohne ihnen im Gegenzug religiöse Rechte zu gewähren. Die Russisch-Orthodoxe Kirche unterstützte den neuen Kurs gegenüber den Altgläubigen nicht. Dies zeigt sich deutlich in der Diskussion über die Einrichtung spezieller Schulen. Erzbischof Platon hielt in dieser Frage am repressiven Kurs fest. Altgläubige Kinder sollten auf orthodoxe Schulen geschickt werden, um sie dem Einfluss der orthodoxen Geistlichkeit auszusetzen, unter welchem sie früher oder später konvertieren würden. Der Heiligste Synod schloss sich Platons Position an. In der zivilen Verwaltung dagegen sorgte der Weggang Generalgouverneur Suvorovs für einen Kurswechsel. Dieser fiel mit einem Umdenken Aleksandrs II. in der Politik gegenüber den Altgläubigen zusammen. Die Eparchieleitung in Riga und die livländische Regierung zogen nun in der Politik gegenüber den Raskol’niki nicht mehr an einem Strang, sondern verfolgten unterschiedliche Ziele. Vladimir Sollogub und die Kommission von 1861 zogen daraus den Schluss, dass die Würdenträger der Staatskirche sich in Angelegenheiten der Schismatiker überhaupt nicht mehr einmischen sollten. Letztlich setzten sich die weltlichen Beamten in sämtlichen Bereichen der Altgläubigenpolitik über die Forderungen der orthodoxen Kirchenführung hinweg. Die illegal errichteten Bethäuser wurden geduldet und die Kinder der Altgläubigen wurden nicht auf die orthodoxen Gemeindeschulen geschickt, sondern es wurde eine besondere Schule in Riga eingerichtet. Erst im besonderen Außerordentlichen Komitee unter Vorsitz Panins konnte Platon vom neuen Kurs gegenüber den Altgläubigen überzeugt werden. Das Komitee verabschiedete einstimmig Maßnahmen, die die religiösen und zivilen Rechte aller weniger schädlichen Raskol’niki im Imperium ausweiten sollten. Die Vorschläge stammten von Innenminister Pёtr Valuev, glichen in vielen Berei 485 Crews: Empire and the Confessional State 59–61. 486 Ebd.
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chen denjenigen der livländischen Kommission unter Vorsitz Vladimir Sollogubs und gingen in Bezug auf die Bethäuser und die Schulen der Altgläubigen über diese hinaus. Das Komitee hielt jedoch daran fest, dass die vorgeschlagenen Maßnahmen keine staatliche Anerkennung der weniger schädlichen Raskol’niki bedeuteten. Es übte den Spagat zwischen der Disziplinierung der altgläubigen Bevölkerung bei gleichzeitiger Nichtanerkennung des alten Glaubens als autonomes Glaubensbekenntnis. Bis zur Übersetzung der Komitee-Beschlüsse in Gesetzesform dauerte es noch bis 1874 bzw. 1883. Was diese Gesetze im Einzelnen vorsahen, wie sie in der Gesellschaft diskutiert wurden und welche Probleme sich der Umsetzung des gefundenen Kompromisses zwischen den Herrschaftsinteressen der Regierung und der Vorherrschaft der Orthodoxen Kirche in den Weg stellten, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
5. Die Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Wir werden hoffen, dass unsere Gesetzgebung nicht beim ersten Schritt zur Erleichterung der Lage unserer Sektanten stehen bleibt und nicht nur zur vollen Glaubenstoleranz übergeht, sondern sich das Prinzip der Gewissensfreiheit aneignet, welches eines der Grundmerkmale einer wirklichen Zivilisation ist.1 Autor der Inneren Rundschau in der Zeitschrift »Russische Idee« vom Oktober 1883
Im Jahr 1864 hatte das besondere Außerordentliche Komitee über die Ange legenheiten der Raskol’niki unter Vorsitz Viktor Nikitič Panins einige Vorschläge des Innenministers Pёtr Aleksandrovič Valuev über eine Verbesserung der Lage der Altgläubigen diskutiert. Das Komitee hatte beschlossen, den religiösen Dissidenten einige zivile und religiöse Rechte zu gewähren. Die Bestimmungen, die am 16. August 1864 von Aleksandr II. bestätigt wurden, sollten in zwei Etappen umgesetzt werden.2 Vier Jahre später ärgerte sich der Innenminister in seinem Tagebuch darüber, dass die Realisierung der Beschlüsse durch Kanzleiverfahren ausgebremst worden sei. Das Justizdepartement und die II. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei hätten die Umsetzung abwechselnd verhindert und die II. Abteilung habe schließlich grundsätzliche Zweifel an den vorgeschlagenen Maßnahmen kundgetan.3 So dauerte es zehn Jahre, bis die ersten Beschlüsse des Komitees verwirklicht wurden. Am 19. April 1874 wurden Matrikelbücher für die Registrierung von Ehen, Geburten und Todesfällen unter Altgläubigen eingerichtet, die von den lokalen Polizeibehörden geführt wurden. Weitere neun Jahre vergingen, bis den Raskol’niki am 3. Mai 1883 einige zivile Rechte und die Möglichkeit zur Renovierung ihrer Bethäuser ge geben wurden.
1 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 69–90, hier 74. 2 SPR 609–617 (16.8.1864). Für eine genaue Darstellung der Bestimmungen und Umstände des Komitees von 1864, s. Kapitel 4.2.3. 3 Akademija nauk SSSR (Hg.): Dnevnik P. A. Valueva 355.
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5.1 Die Legalisierung altgläubiger Ehen Die Russisch-Orthodoxe Kirche hatte seit dem späten 18. Jahrhundert den Sakramentscharakter der Ehe betont. Daraus folgte, dass Eheschließungen und -scheidungen im Russländischen Reich Angelegenheiten der religiösen Institutionen der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse waren. Die Orthodoxe Kirche ließ Ehescheidungen und -annullierungen nur sehr selten zu.4 Der Staat mischte sich Kraft der Gesetze über Ehen in Band X (Zivile Gesetze) des Gesetzeskodex5 nur geringfügig in die Regeln für Eheschließungen unter sämtlichen Glaubensbekenntnissen ein: Polygamie war – außer unter Muslimen – verboten, interkonfessionelle Eheschließungen unterlagen bestimmten Einschränkungen,6 die Eltern der Eheleute mussten der Verbindung zustimmen und es gab ein festgelegtes Mindestalter für den Eintritt in die Ehe.7 Das kanonische Recht der Orthodoxen Kirche erkannte die ehelichen Verbindungen von Sektenangehörigen nicht an, weil sie aus orthodoxer Sicht nicht Kraft eines Sakraments geschlossen wurden. Die Lehre über die Ehe derjenigen Altgläubigen, die keine Priester hatten, die das Ehesakrament hätten spenden können, wurde von der Staatskirche delegitimiert.8 Der Heiligste Synod hatte die Ehen der Altgläubigen bereits im Jahr 1722 für ungültig erklärt.9 Die Regierung dagegen erkannte sie lange Zeit als rechtsgültig an. Erst Ende der 1830er Jahre kriminalisierte St. Petersburg die Ehen zwischen Altgläubigen, mit dem Argument, dass sie instabil und damit eine Gefahr für die gesellschaftliche Ordnung seien. Der Einteilung der Raskol’niki in mehr oder weniger schädliche 4 Freeze: Bringing Order to the Russian Family 719–733. Barbara Alpern Engel weist allerdings darauf hin, dass die 1826 gegründete III. Abteilung der Kaiserlichen Kanzlei – seit 1884 Bittschriftenkommission, die 1895 in Imperiale Kanzlei für die Annahme von Bittschriften umbenannt wurde – Bittschriften orthodoxer Gemeindemitglieder, die Eheangelegenheiten betrafen, annahm und über diese außergerichtlich entschied. Dadurch bot die Kanzlei eine Möglichkeit, den Widerwillen orthodox-geistlicher Gerichte, Ehen zu scheiden oder zu annullieren, zu umgehen. Engel, Barbara Alpern: Breaking the Ties That Bound. The politics of marital strife in late Imperial Russia. Ithaca, London 2011, 19–28, 261 f. Für Untersuchungen des familiären Alltagslebens und seines Wandels im Russland des 19. Jahrhunderts, s. für die Familien Adliger: Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja; für Orthodoxe: Engel: Breaking the Ties; für Juden: Freeze: Jewish Marriage; für Altgläubige: Paert: Old Believers, religious dissent and gender. 5 Usov, Michail Stepanovič: Graždanskie zakony, zaključajuščiesja v desjatom tome Svoda zakonov Rossijskoj imperii izdanija 1842 goda i devjatnadcati prodolženijach. St. Petersburg 1856. 6 Freeze: Jewish Marriage 78. 7 Wagner: Marriage, Property, and Law 67. 8 Freeze: Bringing Order 720. 9 Paert: Regulating Old Believer Marriage 561. Filjarevič: Peremena veroispovedanija 114–118.
218 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 durch den Oberprokuror des Heiligsten Synods Nikolaj Protasov im Jahr 1842 lag die Frage zu Grunde, ob deren Lehre die Ehe zuließ oder das Zölibat für alle Mitglieder forderte. Die Nichtanerkennung altgläubiger Ehen entwickelte sich in der Folge zu einem Instrument der Entrechtung, da die Altgläubigen und ihre Kinder wesentliche zivile Rechte verloren. Ziel dieses Ausschlusses aus den Familienrechten war es, die religiösen Dissidenten zum Übertritt zur Orthodoxie zu bewegen, wodurch sie sämtliche Nachteile abwerfen konnten.10 Erst nach dem Tod Nikolajs I. äußerten Beamte Kritik an der Repression der Altgläubigen im zivilen Bereich. Vladimir Sollogub forderte in den Jahren 186011 und 186112 die Einführung der Zivilehe für die Raskolniki. Denn der repressive Kurs Nikolajs I. hatte dazu geführt, dass die Verwaltung keine Kontrolle über die Altgläubigen ausüben konnte. Dies lag an der spezifischen Art der Bevölkerungsverwaltung durch ihre religiösen Eliten, die im Fall der Altgläubigen nicht vom Staat kooptiert worden waren. Sollogubs Vorschläge wurden aller Wahrscheinlichkeit nach von Innenminister Valuev aufgenommen13 und 1864 dem besonderen Außerordentlichen Komitee über die Angelegenheiten der Raskol’niki (osobyj Vremennyj Komitet po delam o raskol’nikach) unter Vorsitz Viktor Panins vorgelegt. Mit dem Ziel, die ehelichen Verbindungen der Altgläubigen zu stärken und die altgläubige Bevölkerung in die Verwaltung des Imperiums zu integrieren, wiederholte das Komitee den Vorschlag Sollogubs, Matrikelbücher zur Registrierung von Ehen einzurichten, die von den Polizeibehörden geführt werden sollten.14 Wie in Kapitel 4.3. bereits beschrieben, ging es weder Sollogub noch den Mitgliedern des Komitees von 1864 darum, das Altgläubigentum in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufzunehmen, sondern vielmehr darum, staatliche Kontrolle über die altgläubige Bevölkerung zu erlangen.15 Zu einer Umsetzung des 10 S. Kapitel 3.1.2. 11 Bericht Vladimir Sollogubs an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov über die Lage der Raskol’niki in Dorpat vom 24.7.1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88. Für eine Darstellung und Diskussion der Vorschläge Sollogubs, s. Kapitel 4.2.2. 12 Bericht der Kommission zur Regelung des alltäglichen Lebens der russischen Einwohner am livländischen Ufer des Peipussees an Suvorov vom 3.11.1861. EAA F. 291, op. 1, d. 16116, l. 10–51. Für eine Darstellung und Diskussion der Vorschläge der Kommission unter Vorsitz Vladimir Sollogubs, s. Kapitel 4.2.2. 13 Valuevs Vorschläge zur Legalisierung der Ehen der Raskol’niki decken sich auffällig stark mit denen Sollogubs. Es ist gut möglich, dass Valuev sich für die Ehen der priesterlosen Altgläubigen interessierte und Sollogubs Vorschläge zu diesem Thema kannte. Denn Valuev hatte bereits zuvor Interesse an Ehefragen im Fall interkonfessioneller Eheschließungen zwischen Orthodoxen und Lutheranern in den Ostseegouvernements gezeigt. Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 134. 14 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta 3. S. Kapitel 4.2.3. 15 S. Kapitel 4.3.
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Beschlusses kam es zunächst jedoch nicht. Im Jahr 1868 schlug Innenminister Aleksandr Timašev16 daher vor, erneut eine Kommission einzusetzen, die die Einführung der Ehe für die Raskol’niki beschließen sollte. Zar Aleksandr II. stimmte diesem Vorschlag am 8. November 1868 zu.17 Vorsitzender der Kommission wurde der stellvertretende Innenminister Aleksej Borisovič LobanovRostovskij (1824–1896).18 Unter den weiteren Mitgliedern fanden sich ausschließlich Repräsentanten der zivilen Regierung; die Orthodoxe Kirche war in der Kommission nicht vertreten.19 Auf 13 Sitzungen20 wurden die Beschlüsse des Komitees von 1864 diskutiert und dessen Entscheidungen wiederholt. Schlussendlich arbeitete die Kommission einen Entwurf für den endgültigen Gesetzestext aus.21 Bis zur Herausgabe des Gesetzes vergingen jedoch weitere fünf Jahre. 1874 wurde erneut eine Kommission unter Vorsitz Lobanov- Rostovskijs eingesetzt22 und am 19. April desselben Jahres erschien das Gesetz »Über die Matrikelaufzeichnungen von Ehen, Geburten und Todesfällen der Raskol’niki«.23
5.1.1 Das Gesetz vom 19. April 1874 Das Gesetz »Über die Matrikelaufzeichnungen von Ehen, Geburten und Todes fällen der Raskol’niki« vom 19. April 187424 schrieb vor, dass Personen, die den Wunsch hatten, ihre Ehe registrieren zu lassen, die örtliche Polizei- oder Volost’-Verwaltung mündlich oder schriftlich davon unterrichten mussten. Sie sollten den Wohnsitz, den Namen, Stand und Familiennamen beider Eheleute angeben.25 Die Polizeiverwaltung brachte anschließend für sieben Tage einen Anschlag an den Türen ihrer Behörde an, in welchem die Eheregistrierung 16 Innenminister von 1868 bis 1878. 17 SPR 646 (8.11.1868). 18 Innenminister von 1895 bis 1896. 19 Die Mitglieder der Kommission waren die Staatsräte Tjurin, Lazarevskij, Olfer’ev und Perec, der Staatsrat Stepanov, die Hofräte Krenicyn und Ševič sowie der Kollegssekretär Trubeckoj. RGIA F. 1473, op. 1, d. 90, l. 1. 20 Ebd., l. 1–54. 21 Journal der 13. Sitzung der Kommission am 30.5.1869. Ebd., l. 54–56. 22 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 25. 23 SPR 672–682 (19.4.1874). Veröffentlichung des Gesetzes vom 19.4.1874 im Pravitel’stvennyj Vestnik vom 19.10.1874. EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 1. Kommentierte Ausgabe des Gesetzes vom 19.4.1874: Kalašnikov, S. V.: Sbornik zakonov. I. O porjadke vedenija metričeskich knig o brakach, roždenii i smerti raskol’nikov i vydače iz onych vypisej. II. O sudoproizvodstve po bračnym delam raskol’nikov. Char’kov 1898. 24 Das Gesetz über die Matrikelbücher für die Altgläubigen stand Pate für dasjenige über die Matrikelbücher der Baptisten aus dem Jahr 1879. Werth: Schism Once Removed 98. 25 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1.
220 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 angekündigt wurde.26 In dieser Zeit hatten Personen die Möglichkeit, Einwände gegen die Eheschließung vorzubringen.27 Wenn keine Einwände erho ben wurden, mussten die Eheleute zusammen mit je zwei Zeugen bei der Polizeiverwaltung erscheinen, die bestätigten, dass der Ehe keinerlei Hindernisse im Wege standen.28 Zusätzlich waren von den Eheleuten Zeugnisse gefordert, die bestätigten, dass sie das Einverständnis ihrer Eltern, Vormünder oder Fürsorgeberechtigten hatten, ohne deren Erlaubnis eine Eheschließung nicht möglich war.29 Wenn alle diese Anforderungen erfüllt waren, wurde die Ehe in den Matrikelbüchern eingetragen und die Ehe galt ab diesem Zeitpunkt als rechtskräftig.30 Zur Registrierung ihrer Ehen waren die Mitglieder aller nicht als besonders schädlich erachteten Sekten und als Stundisten (štundisty) bezeichnete Sektenangehörige berechtigt.31 Auf diese Weise bediente sich das Gesetz vom 19. April 1874 der Klassifikation der Raskol’niki aus dem Jahr 1842, in der zwischen besonders schädlichen, schädlichen und weniger schädlichen Sekten unterschieden wurde; die Vorschläge des Komitees von 1864, diese Klassifikation zu überarbeiten und nur mehr zwischen schädlicheren und weniger schädlichen Sekten zu unterscheiden wurden nicht aufgenommen.32 Weitere Hinderungsgründe für die Registrierung von Ehen in den Matrikelbüchern der Polizei entsprachen denjenigen für Eheschließungen Orthodoxer, die im X. Band des Gesetzeskodex festgelegt waren. So betrug das Mindestalter für Männer 18 Jahre, dasjenige für Frauen 16 Jahre;33 das Höchstalter für den Eintritt in eine Ehe lag bei 70 Jahren; man durfte eine Ehe nicht registrieren lassen, wenn einer der Eheleute geisteskrank (besumnye i sumašedšie) war; Ehen durften nicht gegen den Willen eines der Ehepartner geschlossen werden; man durfte keine Ehe in die 26 Ebd. 27 Ebd. 28 Ebd. 29 Ebd. Kalašnikov: Sbornik zakonov 11. 30 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1. 31 Die Stundisten wurden von St. Petersburg jedoch zum russischen Raskol gezählt, obwohl es sich um eine Abspaltung vom Luthertum handelte, weil sich viele Russen der Sekte angeschlossen hatten (Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 20 f.). Eine Vorschrift des livländischen Gouverneurs an die Kreisleiter und Polizeimeister vom 8.10.1899 legte fest, dass auch die Ehen von Anhängern der Stundisten in die Matrikelbücher eingetragen werden sollten. Hintergrund der Vorschrift war, dass einige Polizeiverwaltungen Anhängern der Stundisten ihren Wunsch auf Registrierung ihrer Ehen verweigert hatten, da sie auf Grundlage einer Bestimmung vom 4.7.1894 zu den schädlichsten Sekten (naibolee vrednye sekty) des Raskol gezählt wurden. Grund für diese Entscheidung war, dass die Stundisten wiederholt Ansprüche auf Nachsicht mit ihrer Glaubenslehre auf Grundlage eines Gesetzes vom 27.3.1879 über die religiösen Angelegenheiten der Baptisten geltend machen wollten. LVVA F. 51, op. 1, d. 12137, l. 46. 32 S. Kapitel 4.2.3. 33 Kalašnikov: Sbornik zakonov 9.
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Matrikelbücher eintragen lassen, wenn man bereits verheiratet und nicht rechtskräftig geschieden war; es war untersagt ein viertes Mal zu heiraten und Verwandte oder Verschwägerte durften nicht miteinander in die Ehe treten,34 was auch für die geistliche Verwandtschaft galt.35 Registrierungswillige Ehepartner mussten eine Unterschrift leisten, dass sie von Geburt an dem Raskol angehörten und nicht bereits eine Ehe eingegangen waren, die in der Orthodoxen Kirche oder von einem Geistlichen anderer staatlich anerkannter Glaubensbekenntnisse getraut worden war.36 Um sich nicht ausschließlich auf die Aussage der Antragsteller verlassen zu müssen, wurde der orthodoxen Gemeindegeistlichkeit aufgetragen zu überprüfen, ob die zu registrierenden Eheleute nicht doch Mitglieder der Orthodoxen Kirche waren.37 Diese Maßnahmen sollten verhindern, dass Orthodoxe eine Ehe in den Matrikelbüchern für Raskol’niki registrieren ließen, obwohl sie bereits in einer von der Orthodoxen Kirche getrauten Ehe standen. Ebenso sollte ausgeschlossen werden, dass verheiratete Raskol’niki nur aus dem Grund zur Orthodoxie übertraten, um ohne vorherige Scheidung eine neue Ehe eingehen zu können. Daher behielten einmal in den Matrikelbüchern der Polizei registrierte Ehen auch nach der Konversion eines oder beider Ehepartner zur Orthodoxie Gesetzeskraft.38 Die Eintragung von interkonfessionellen Ehen zwischen Raskol’niki und Orthodoxen war nicht erlaubt. Stattdessen musste sich der heterodoxe Ehepartner vor der Eheschließung der Orthodoxie anschließen und die Ehe wurde in die Matrikelbücher der orthodoxen Kirchengemeinde eingetragen.39 Neben den Eheschließungen zwischen Raskol’niki konnten auch Todesfälle und Geburten in die polizeilichen Matrikelbücher eingetragen werden. Die Registrierung von Kindern war nur dann möglich, wenn diese aus einer bereits registrierten Ehe stammten.40 Die Abstammung des Kindes von seinen Eltern musste von zwei Zeugen bestätigt werden.41 Die Registrierung unterlag einer einjährigen Frist ab Geburt.42 Nach Ablauf der Frist konnte die Legitimität eines Kindes nur noch von einem Gericht festgestellt werden.43 Nach ihrer Eintragung in die Matrikelbücher galten die Kinder als legitim.44 Den Raskol’niki war damit die Möglichkeit eröffnet worden, den zivilrechtlichen Status ihrer Kinder erheblich zu verbessern. 34 Ebd. 6. 35 Ebd. 9. 36 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1. 37 Kalašnikov: Sbornik zakonov 10. 38 Ebd. 22. 39 SZ , Bd. 10. St. Petersburg 1887, 3 f. (Art. 33). 40 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1. 41 Ebd. 42 Ebd. 43 Kalašnikov: Sbornik zakonov 17. 44 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1.
222 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Ab dem Zeitpunkt der Registrierung von Geburten und Ehen unterlagen jegliche Angelegenheiten bezüglich der Familienrechte den zivilen Gerichten.45 Für Verletzungen des Eherechts durch die Raskol’niki galten dieselben Strafen wie für orthodoxe Eheverbindungen, die im Strafgesetzbuch festgelegt worden waren. Die einzigen Ausnahmen waren, dass Altgläubige nicht der Klosterhaft und der kirchlichen Ermahnung übergeben werden durften.46 Ebenso konnten zivile Gerichte registrierte Ehen scheiden,47 wenn einer der Gründe vorlag, die für orthodoxe Ehescheidungen galten und die im X. Band des Gesetzeskodex festgelegt worden waren. Wie die Hinderungsgründe für eine Eheregistrierung, so waren auch die Scheidungsgründe für diese Ehen aus dem kanonischen Recht der Russisch-Orthodoxen Kirche übernommen: Eine Ehe konnte bei bewiesenem Ehebruch eines Partners oder dessen Unfähigkeit zum Eheleben geschieden werden, bei dem Verlust aller Standesrechte eines Ehepartners, im Falle des Verschwindens eines der Eheleute und bei der Verbannung eines Ehepartners nach Sibirien.48 Die Führung der Matrikelbücher oblag den Polizei- und Volost’-Verwaltungen. Seit 1890 waren in den Ostseegouvernements in den Kreisen die Assistenten der Kreisvorsteher und in den Städten die Polizeihauptmänner bzw. Polizeiinspektoren zur Führung der Bücher verpflichtet. Die Aufbewahrung der Matrikelbücher unterlag den Kreisvorstehern bzw. Polizeimeistern.49 Am Ende jedes Jahres mussten die Polizeiverwaltungen die Matrikelbücher an die Gouvernementsverwaltung schicken.50 Diese schickte alljährlich ein Exemplar der Listen über die geborenen und verstorbenen Altgläubigen an die Eparchieleitung.51 Die Matrikelbücher selbst verblieben bei der zuständigen Gouvernementsverwaltung, die Zeugnisse aus den Büchern an Privatpersonen und Behörden ausstellte.52
45 Ebd. 46 Ebd. 47 Ebd. 48 Kalašnikov: Sbornik zakonov 14. Für orthodoxe Ehen galten die gleichen Scheidungsgründe, auch wenn diese – mit Ausnahme des Exils eines Ehepartners nach Sibirien und des dauerhaften Fortbleibens eines Ehepartners – von den geistlichen Gerichten in vielen Fällen nicht als triftige Gründe für eine Scheidung angesehen wurden: Freeze: Bringing Order 733–744. 49 Kalašnikov: Sbornik zakonov 9 f. 50 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1. 51 SPR 685–693 (18.9.1874). 52 Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1.
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5.1.2 Der Zusammenhang des Gesetzes mit den Großen Reformen Die im Jahr 1864 beschlossene und zehn Jahre später umgesetzte Einführung von Matrikelbüchern für Altgläubige zur Registrierung ihrer Ehen, Geburten und Todesfällen steht im Zusammenhang mit den so genannten Großen Reformen. Nach der Niederlage im Krimkrieg (1853–1856) wurde in Regierungskreisen über eine Reform der Staatsführung diskutiert.53 Eine Standardisierung der Rechte und Pflichten der Einwohner des Imperiums sollte den autokratischen Herrschaftsapparat modernisieren.54 In der Herrschaftszeit Aleksandrs II. hatten Eliten die Oberhand, die aus der Regierung heraus die Initiative für eine Reform des Staates ergriffen. Unter den Großen Reformen Aleksandrs II. werden die Befreiung der Bauern aus der Leibeigenschaft, die Einführung der Städteordnung von 187055 und die Einrichtung von Zemstva im Jahr 1864, die das Wahlprinzip in der Regierung verankerten,56 verstanden.57 Für das Verständnis des Gesetzes vom 19. April 1874 sind vor allem die Reformen des Militärs und der Justiz erheblich, die ebenfalls Teil der Großen Reformen waren. Die Einführung der Matrikelbücher für Raskol’niki im Kontext der Militärreform Die Legalisierung der Ehen der Altgläubigen erfolgte nicht zuletzt auf Druck der Militärreform vom 1. Januar 1874, die die Registrierung aller Geburten und Ehen der gesamten Bevölkerung des Imperiums erforderte.58 Nach der Niederlage im Krimkrieg59 wurde im Russländischen Reich die allgemeine Wehr 53 Waldron, Peter: Recent Literature on the Political-Administrative System in Tsarist Russia after 1850, in: Heyen, Erk Volkmar (Hg.): Verwaltungsreformen im Ostseeraum. Baden-Baden 2004, 313–328, hier 327. 54 Ohren, Dana M.: All the Tsar’s Men: Minorities and Military Conscription in Imperial Russia, 1874–1905. Indiana 2006, vii. 55 In den Ostseegouvernements wurde das Städtestatut im Jahr 1877 eingeführt. Damit wurde der Magistrat entmachtet und an seine Stelle traten gewählte Stadträte. Dies erweiterte den Kreis von Mitspracheberechtigten im Allgemeinen und im Besonderen über die Deutschen hinaus auf Letten, Esten und Russen. Woodworth, Bradley D.: Administrative Reform and Social Policy in the Baltic Cities of the Russian Empire: Riga and Reval, 1870–1914, in: Heyen, Erk Volkmar (Hg.): Verwaltungsreformen im Ostseeraum. Baden-Baden 2004, 111–150, hier 111. 56 Da das Zemstvo-System nicht die regionale Autonomie gegenüber der St. Petersburger Zentralmacht stärken sollte, wurde es in den baltischen Gouvernements nicht eingeführt. Schweitzer, Robert: Neuere Literatur zur Verwaltungsgeschichte der nordwestlichen Grenzräume des Russischen Reiches 1710–1917, in: Heyen, Erk Volkmar (Hg.): Verwaltungsreformen im Ostseeraum, Baden-Baden 2004, 329–346, hier 339 f. 57 Waldron: Recent Literature 313. 58 Paert: Regulating Old Believer Marriage 574. 59 Ohren: All the Tsar’s Men 192.
224 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 pflicht nach preußischem Vorbild eingeführt.60 Die Durchführung der Wehrpflicht erforderte eine größere Kontrolle der Regierung über die Bevölkerung des Imperiums.61 Vor der Reform wurde nur ein Teil der männlichen Bevölkerung in die russländische Armee berufen. Soldaten dienten zwischen zwölf Jahren und lebenslang dem Militär. Die städtischen und ländlichen Gemeinden waren verpflichtet, bei der Einberufung von Rekruten eine bestimmte Quote zu erfüllen. Diese lag je nach Bedarf der Armee bei zwei bis acht Männern je 500 Seelen. Welche Männer zur Musterung zu den Rekrutenbehörden (rekrutskoe prisutstvie) geschickt wurden, bestimmten lokale Beamte, wie Gutsbesitzer, Dorfälteste oder dafür zuständige städtische Beamte.62 Nicht alle Einwohner des Imperiums unterlagen jedoch der Pflicht, Rekruten zu stellen. Diese hing vom Stand, vom Wohnort und von der ethno-konfessionellen Zugehörigkeit des Einzelnen ab.63 Adlige und in den Kaufmannsgilden eingeschriebene Personen waren vom Militärdienst befreit, die Einwohner Sibiriens mussten keine Rekruten stellen und Mitte des 18. Jahrhunderts mussten Altgläubige doppelt so viele Rekruten stellen wie ihre orthodoxen Nachbarn.64 Ob ein Untertan zum Militärdienst verpflichtet werden konnte hing auf diese Weise von seiner Stellung in der russländischen Gesellschaft ab. Dadurch war für die Bereitstellung von Rekruten nicht jedes Individuum persönlich verantwortlich; stattdessen mussten die Gemeinden dieser Pflicht in kollektiver Verantwortung nachkommen.65 Diese Situation änderte sich durch die Einführung der allgemeinen Wehrpflicht. Seit dem 1. Januar 1874 wurde die gesamte männliche Bevölkerung des Imperiums dazu verpflichtet, an der Rekruteneinziehung teilzunehmen. Die 60 Frankreich führte die allgemeine Wehrpflicht als erstes europäisches Land mit dem levée en masse im Jahr 1793 ein. Im Jahr 1813 folgte Preußen. Mit der allgemeinen Wehrpflicht war das Ziel verbunden, aus Untertanen Bürger zu machen. Die Einwohner der Staaten sollten durch den Militärdienst stärker in Kontakt mit dem Zentralstaat kommen. In Verbindung mit der Gewährleistung bürgerlicher Rechte sollte sich das Individuum als Teil der Nation begreifen. Zwar verband der russländische Kriegsminister Miljutin die gleichen Ziele mit der Militärreform des Jahres 1874, doch gelang der Übergang vom Untertan zum Bürger im Russländischen Reich nicht. Dana M. Ohren vertritt die These, dass dies an der größeren gesellschaftlichen und kulturellen Diversität der russländischen Bevölkerung gelegen habe. Diese habe die Bürokraten dazu gezwungen, auch nach der Reform von 1874 weiterhin in Kategorien des Standes und der Religionszugehörigkeit zu denken, wodurch der Anspruch einer allgemeinen Wehrpflicht nicht erfüllt wurde, insofern als dass nicht alle Einwohner des Reiches unter den gleichen Bedingungen Wehrdienst zu leisten hatten. Insbesondere für die nicht-dominanten Bevölkerungsgruppen gab es zahlreiche Ausnahmeregelungen. Ohren: All the Tsar’s Men 4–7, 192 f. 61 Ebd. 172. 62 Ebd. 32–41. 63 Ebd. 81. 64 Ebd. 44. 65 Ebd. 80 f.
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Dienstzeit wurde auf sechs Jahre mit anschließend neun Jahren in Reserve verkürzt. Auf Ebene der Kreise (uezd) wurden Musterungsbezirke gebildet und auf Gouvernements- und Kreisebene Musterungsbüros eingerichtet. Die Musterungsbüros legten fest, welche Einwohner an der Auslosung von Rekruten teilnehmen mussten. Zu diesem Zweck wurden Einberufungslisten zusammengestellt, die auf den Registrierungen der Bevölkerung in Matrikelbüchern und Revisionslisten beruhten.66 Diese Listen wurden anschließend an das Kriegsministerium geschickt, welches die jährliche Rekrutenquote festlegte. Zwischen dem 1. November und dem 15. Dezember jedes Jahres zogen die wehrfähigen Personen in den Musterungsbüros Nummern. In aufsteigender Reihenfolge wurden diejenigen mit den niedrigsten Nummern eingezogen bis die jährliche Quote erreicht war. Um die Wirtschaft der Familien durch den Einzug männlicher Arbeitskräfte zur Armee nicht zu bedrohen, wurden die Familienverhältnisse bei der Rekrutenaushebung berücksichtigt, damit diese finanziell stabil blieben und weiterhin Steuern zahlen konnten.67 Ausnahmen wurden in drei Kategorien gemacht: 1) Männer, die die einzigen körperlich gesunden Männer in einer Familie waren und andere Familienmitglieder unterstützen mussten. 2) Söhne, die die einzigen Arbeitskräfte neben ihrem Vater waren und die jüngere Geschwister zu versorgen hatten. 3) Personen, die einen älteren Bruder hatten, der zurzeit Wehrdienst leistete oder der im Militärdienst gestorben war. Bei der Auslosung der Rekruten wurden zuerst Männer berücksichtigt, die keiner der oben genannten Kategorien angehörten, anschließend Männer der dritten Kategorie und schließlich Personen, die der zweiten Kategorie angehörten. Männer der ersten Kategorie wurden nur in sehr seltenen Fällen eingezogen.68 Dieser Modus der Rekrutenaushebung erforderte eine bessere demografische Informationslage der Regierung über die Bevölkerung des Reiches als das bisherige System, welches die Land- und Stadtgemeinden kollektiv zur Abgabe einer bestimmten Rekrutenquote verpflichtet hatte.69 Die mangelhafte staatliche Kontrolle über nicht-orthodoxe Bevölkerungsgruppen des Imperiums stellte sich bei der Umsetzung der allgemeinen Wehrpflicht als Problem heraus.70 Dies galt insbesondere für jene Bevölkerungsgruppen, die keinem der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse angehörten, da diese keine Matrikelbücher führen durften und die Regierung auf diese Art der demografischen Dokumentation nicht zurückgreifen konnte. Zwar wird weder vom Komitee unter Vorsitz Panins noch im Gesetzestext vom 19. April 1874 ein Zusammenhang mit der Militärreform erwähnt. Doch wies Innenminister Valuev bereits 66 Ebd. 137–141. 67 Ebd. 143–146. 68 Ebd. 144 f. 69 Ebd. 172. 70 Ebd. 133.
226 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 1864 darauf hin, dass diejenigen Dokumente, die über die Demografie der Altgläubigen Auskunft gaben – und die seit Einführung der allgemeinen Wehrpflicht zur Aushebung von Rekruten neben Matrikelbüchern dienen sollten – unzulänglich seien. Dabei handelte es sich erstens um die Revisionslisten der 10. Zählung der steuerpflichtigen Bevölkerung aus dem Jahr 1857 und zweitens um von der Polizei geführte Listen über Geburten und Todesfälle unter den Altgläubigen. Innenminister Valuev erklärte auf der V. Sitzung des Komitees unter Vorsitz Panins, dass die Revisionslisten nur die Lebensdaten bis zum Zeitpunkt der Revision verzeichneten, so dass die Regierung bis zum Zeitpunkt der nächsten Revision nicht über die demografische Entwicklung der Bevölkerung informiert war. Bezüglich der von der Polizei geführten Listen über Geburten und Todesfälle der Raskol’niki sagte Valuev, dass diese »angesichts der Art und Weise ihrer Führung«71 keine ausreichend vollständigen und verlässlichen Angaben enthielten.72 Eben deswegen müsse die Führung der Listen bei der Polizei verbessert werden, was der Innenminister durch die Einrichtung besonderer Matrikelbücher für die Raskol’niki zu erreichen suchte.73 Die Verbesserung der Informationslage über die Altgläubigen wurde bereits zehn Jahre vor der Einführung der allgemeinen Wehrpflicht diskutiert. Doch mag es kein Zufall sein, dass der 1864 vorgeschlagene Gesetzesentwurf zur Einführung von Matrikelbüchern für die Altgläubigen wenige Monate nach der Militärreform in Gesetzesform gebracht wurde. Auch Irina Paert bringt das Gesetz von 1874 mit der Militärreform in Verbindung, wenn sie schreibt, die Ehen der Altgläubigen seien nur unter dem Druck der militärischen Reformen lega lisiert worden.74 Diese Verbindung war jedoch nur eine indirekte, weil sich dieser Zusammenhang in den zeitgenössischen Diskussionen um das Gesetz vom 19. April 1874 nicht finden lässt und weil das erste Gesetzesprojekt, welches die Einführung der Matrikelbücher für die Altgläubigen bei der Polizei vorsah, bereits aus dem Jahr 1864 stammte. Die Einführung von Matrikelbüchern für die Raskol’niki war nicht als repressive Maßnahme gedacht, um von den Sektenangehörigen eine besonders große Anzahl Rekruten fordern zu können. Vielmehr ging es der Regierung um die möglichst gleichmäßige Umsetzung der allgemeinen Wehrpflicht auf alle Bewohner des Russländischen Reiches – unabhängig von ihrem Stand, ihrem Wohnort oder ihrer ethno-konfessionellen Zugehörigkeit. Dies lässt sich an folgender Sonderregelung für die Einziehung von Altgläubigen in die Armee ablesen: Im Jahr 1877 kam die Frage auf, ob und wie die familiäre Situation auch 71 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta 39. 72 Ebd. 73 Ebd. 39 f. 74 Paert: Regulating Old Believer Marriage 574.
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im Fall altgläubiger Kinder berücksichtigt werden solle – ob die Nachkommen von Altgläubigen also ebenfalls vom Wehrdienst ausgenommen werden konnten, wenn sie in eine der drei oben genannten Kategorien fielen. Denn Kinder der Altgläubigen, die vor 1858 geboren worden waren, waren in den Listen der 10. Steuerrevision unter dem Namen ihrer Väter registriert.75 Kinder, die nach der letzten Revision geboren worden waren, konnten nachträglich in die neuen Matrikelbücher eingetragen werden, wenn ihre Eltern ihre Ehe in den Büchern bereits hatten registrieren lassen.76 Diese Registrierung ihrer Kinder stand von der Orthodoxie abgefallenen Altgläubigen jedoch nicht offen, da deren Ehen nicht registriert werden durften.77 Die Lage dieser Kinder war schlechter als diejenige Illegitimer: Während illegitime Kinder seit dem 4. Oktober 1874 genauso wie legitime aufgrund besonderer familiärer Gründe aus der Musterung ausgenommen werden konnten, galt dies nicht für die illegitim Geborenen derjenigen Altgläubigen, die von der Orthodoxie abgefallen waren, da ihre Kinder entweder überhaupt nicht registriert waren oder aber unter dem Namen ihrer Väter in den Revisionslisten auftauchten. Innenminister Timašev wandte jedoch ein, dass sie aufgrund dieser Registrierungslage gar nicht als illegitime gelten konnten, da jene immer unter dem Namen der Mutter eingetragen waren. Timašev schlug daher vor, dass Kinder von Altgläubigen, die von der Orthodoxie abgefallen waren, in Bezug auf die Rekrutenaushebung als adoptierte Kinder gelten sollten. Dadurch konnte das Problem umgangen werden, nicht alle Kinder der Altgläubigen unabhängig vom Familienstand der Eltern als legitim anerkennen zu müssen, und gleichzeitig die familiäre Situation der Altgläubigen bei der Rekrutenaushebung mit berücksichtigen zu können,78 welche Ausnahmen aus der Wehrpflicht zuließen. Die Legalisierung altgläubiger Ehen im Kontext der Justizreform Auch die Justizreform hatte Auswirkungen auf die Umsetzung des Gesetzes vom 19. April 1874. Denn familiäre Angelegenheiten der Altgläubigen, deren Ehen und Kinder in den Matrikelbüchern der Polizei registriert waren, unter lagen den zivilen Gerichten. Im Jahr 1864 wurde im Zuge der Großen Reformen das Justizsystem des Russländischen Reiches reformiert. Zwar wurde das reformierte System erst im Jahr 1889 in den baltischen Gouvernements einge 75 Ohren: All the Tsar’s Men 173. 76 SPR 672–682 (19.4.1874). 77 Art. 15 des Gesetzes vom 19.4.1874 besagte, dass nur Kinder in die Matrikelbücher der Polizei eingetragen werden durften, die von Eltern abstammten, deren Ehe in diesen Büchern registriert waren. Laut Art. 9 desselben Gesetzes durften jedoch nur Ehen von Personen registriert werden, die von Geburt an dem Raskol angehörten, nicht aber von Apostaten von der Orthodoxie. Pravitel’stvennyj Vestnik (19.10.1874), 1. 78 Ohren: All the Tsar’s Men 173 f.
228 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 führt,79 für die Diskussion der Bedeutung des Gesetzes vom 19. April 1874 spielt dieser Umstand an dieser Stelle jedoch keine Rolle, da das Gesetz im gesamten Russländischen Reich Geltung hatte. Laura Engelstein schreibt, dass im Russländischen Reich zwei Staatsführungsprinzipien miteinander konkurrierten: der bevormundende Polizeistaat, in dem die Regierung durch administrative Gebote im Geist des gutmütigen Paternalismus Autorität ausübte; und der Rechtsstaat, in dem Gesetze der politischen Macht Grenzen setzten.80 Polizeistaatliche Prinzipien kannte das Russländische Reich in Form von so genannten administrativen Maßnahmen, die von der Polizei zur Verhinderung von Verbrechen ergriffen wurden und die von den Entscheidungen der Gerichte unabhängig waren. Die Polizei unterstand auch nicht dem Innen-, sondern dem Justizministerium. Ort der Rechtsstaatlichkeit waren die Gerichte, die auf Grundlage formaler Statuten operierten, die in den Zivil- und Strafrechtskodices festgelegt waren. Nach Engelstein war die Gleichzeitigkeit beider Staatsführungsprinzipien kein Mangel des Russländischen Reiches: »Indeed, the confusion between police (so-called administrative) measures and judicial procedure was a feature of the autocracy’s policy of deliberate misrule.«81 Die Justizreform stärkte rechtsstaatliche Prinzipien im Russländischen Reich. Vor der Reform, bis in die 1830er Jahre hinein, waren Richter ehrenamtlich gewählte Personen aus dem Adel, die keine fachliche juristische Ausbildung genossen hatten.82 Diese Richter waren nicht unabhängig von der Regierung, sondern konnten von hohen Staatsbeamten oder dem Zaren jederzeit entlassen werden. Ihre Aufgabe war es, Gesetze im wörtlichen Sinne, ohne Interpretation des Rechts, anzuwenden.83 Vor der Reform sollte das Justizsystem den Willen des Zaren umsetzen und keinesfalls ein Gegengewicht zur autokratischen Herrschaft darstellen. Die legale Ordnung hatte auf paternalistischer Autorität beruht, in welcher der Souverän wichtiger war als das Gesetz84 und daher das
79 Schweitzer: Neuere Literatur 341. 80 Engelstein: The keys to happiness 19. Merkmale der Rechtsstaatlichkeit sind: Gewaltentrennung, Unabhängigkeit der Richter, Vorrang des Gesetzes vor administrativen Willkürakten und Zugänglichkeit der Gerichte für die Bevölkerung. Baberowski: Autokratie und Justiz 5. 81 Engelstein: The keys to happiness 20. 82 Wagner: Marriage, Property, and Law 13–15. 83 Ebd. 38. 84 Die Grundgesetze des Russländischen Reiches definierten die Regierungsform folgendermaßen: Gemäß Artikel 1 war der Imperator ein autokratischer und uneingeschränkter Monarch. Artikel 47 besagte, dass das Russländische Reich auf Grundlage des positiven Rechts, durch Regeln und Statuten regiert werde, die von der autokratischen Macht ausgingen. Dies bedeutet, dass der Monarch Gesetze beachtete, die von seinen Vorgängern oder ihm selbst geschaffen worden waren und dass er sie nur im Rahmen gesetzlich festgelegter Mög-
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Ergebnis von Gerichtsprozessen im Vordergrund stand, anstelle der Befolgung der Gesetze.85 Erst seit 1835 wurde eine systematische juristische Ausbildung im Russländischen Reich eingeführt,86 die eine neue Schicht juristisch geschulter Beamter hervorbrachte, die bis zur zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in allen Verwaltungsbehörden vertreten waren.87 Diese neuen professionellen Juristen konnten durch die Veröffentlichung der Vollständigen Sammlung der Gesetze des Russländischen Imperiums (Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii) im Jahr 1830 und des Gesetzeskodex (Svod Zakonov) zwei Jahre darauf auf eine allgemeine Quelle gesetzlicher Regeln und eine Ressource für das Studium imperialen Rechts zurückgreifen.88 Die Entstehung dieser Gruppe von Rechtsexperten innerhalb der zarischen Bürokratie war ein klarer Bruch mit den institutionellen Traditionen des russländischen Staats. Dieser hatte auf der Vorherrschaft der Exekutive beharrt und die Judikative stets missachtet, da sie den Handlungsspielraum der Regierung einschränken konnte.89 Richard Wortman schreibt, dass die Entstehung dieser professionalisierten Juristengruppe den Entwurf und die Umsetzung der Justizreform überhaupt erst ermöglichte.90 Die Justizreform des Jahres 1864 setzte der Abhängigkeit der Richter von hohen Staatsbeamten und dem Zaren ein Ende. Die Richter wurden zwar weiterhin vom Justizminister oder dem Zaren selbst eingesetzt, doch bekamen sie ihr Amt auf Lebenszeit und konnten nur in seltenen Fällen wieder abgesetzt werden.91 Die Regierung konnte nicht mehr durch die Androhung der Entlassung des Richters Einfluss auf den Verlauf eines Gerichtsverfahrens nehmen. lichkeiten ändern durfte. Dies impliziert eine Selbstbeschränkung der uneingeschränkten Autorität. Im Zweifelsfall hatte Artikel 1 jedoch Vorrang vor Artikel 47. Szeftel: The Form of the Government 105–107. 85 Wagner: Marriage, Property, and Law 5. 86 Bis dahin hatte es im Russländischen Reich nur zwei juristische Fakultäten gegeben (seit 1802 in Dorpat und seit 1817 in Warschau), an denen jedoch in erster Linie lokales, römisches und westeuropäisches Recht gelehrt wurde, es aber keine Ausbildung in imperialem Recht gab. Wagner: Marriage, Property, and Law 13–15. Zwischen 1835 und 1841 wurden juristische Fakultäten in St. Petersburg, Moskau, Char’kov, Kazan’ und Kiev eingerichtet, die Rechtslehre in Dorpat wurde reorganisiert. In späteren Jahren folgten Odessa, Warschau und Tomsk. Im Jahr 1835 wurde außerdem die Imperiale Schule für Rechtswissenschaft gegründet, die Söhne der adligen Elite auf spezialisierten Rechtsdienst in der staatlichen Bürokratie vorbereiten sollte. Wagner: Marriage, Property, and Law 22–29. 87 Wagner: Marriage, Property, and Law 16. 88 Ebd. 32 f. 89 Wortman, Richard: The Development of a Russian Legal Consciousness. Chicago, London 1976, 3. 90 Ebd. 91 Gründe für die Absetzung von Richtern waren beträchtliche Dienstvergehen, Verurteilungen für begangene Verbrechen oder Überschuldung. Wagner: Marriage, Property, and Law 41.
230 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Dies wurde durch die Einführung des Schwurgerichtsverfahrens, das heißt unabhängiger Schöffen, noch verstärkt.92 Auf diese Weise konnte sich die Regierung in zivilen Streitfällen zwischen Individuen nicht mehr einmischen. Marc Szeftel schreibt über die Unabhängigkeit der Richter: »This sovereignty of the courts became the most serious limitation of absolutism in old-regime Russia.«93 Durch das neue Recht der Richter, Gesetze zu interpretieren, wurde die Rechtsstaatlichkeit weiter gestärkt, da die Gerichte nun die Gültigkeit von Gesetzen überprüfen und einer Bestimmung Geltung gegenüber einer anderen verschaffen konnten, indem sie bestimmte Prinzipien der rechtlichen Interpretation anlegten.94 Auf diese Weise stellten die unabhängigen Gerichte einen rechtsstaatlichen Gegenpart zu den administrativen, polizeistaatlichen Maßnahmen im Russländischen Reich dar.95 Richard Wortman urteilt über die Justizreform: »The Reform of 1864 c reated a modern judicial system and introduced the necessary preconditions to a rule of law in Russia.«96 Das autokratische Herrschaftsprinzip, welches den Vorzug der Exekutive gegeben hatte, wurde durch das neue Rechtssystem im Kern in Frage gestellt.97 Denn »[t]he reform created a modern court system in the midst of tsarist despotism, introducing independent public courts, an oral adversary procedure, and the jury system. It made possible a defense of the accused, establishing limits to the tyranny of the police.«98 Zwar hatte die Justizreform enge Grenzen – insbesondere die Bauern waren von den Reformen ausgenommen, da sie einer eigenen Gerichtsbarkeit unterstanden99 und die Justizreform weitgehend ein urbanes Phänomen blieb –100 dennoch bedeutete sie eine Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien im Imperium. Dass das Gesetz vom 19. April 1874 die Familienangelegenheiten der Altgläubigen diesen reformierten zivilen Gerichten unterstellte, bedeutete einen Umschwung im Umgang des Staates mit den Raskol’niki. Waren den Altgläubigen unter Nikolaj I. ihre als illegitim geltenden Kinder von der Polizei weggenommen und unter Zwang orthodox getauft worden, standen den Kindern altgläu 92 Waldron: Recent literature 314. 93 Szeftel: The Form of the Government 114. 94 Ebd. 115. 95 Ebd. 119. 96 Wortman: The Development 269. 97 Wagner: Marriage, Property, and Law 39. 98 Wortman: The Development 2. Laura Engelstein schließt sich dieser Meinung an, wenn sie schreibt: »The institution of an independent judiciary, the introduction of trial by jury, the systematization of criminal procedure, the creation of justices of the peace – all these innovations constituted elements of a rule-of-law state in which the regularization of process, the autonomy of institutions, and the uniformity of rules protected the nation against the brunt of arbitraty power.« Engelstein: The keys to happiness 17. 99 Engelstein: The keys to happiness 25. 100 Hartley: Provincial and local government 456.
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biger Eltern, die ihre Ehe hatten registrieren lassen, nun Rechte zu, die sie vom Zugriff der so genannten administrativen Maßnahmen befreiten. Dieser Übergang von administrativen Maßnahmen zur Verurteilung der Altgläubigen vor Gericht war im Jahr 1860 bereits von Sollogub gefordert worden, der schrieb: »[P]olizeiliche Maßnahmen gegen den Raskol sind durch gerichtliche Urteile abzuschaffen«.101 Diese Forderung wurde jedoch erst mit der Gesetzgebung des Jahres 1874 umgesetzt.
5.1.3 Die Diskussionen über den Sakramentscharakter der altgläubigen Ehe Im Vorfeld der Legalisierung altgläubiger Eheverbindungen fand eine Diskussion in der weltlichen und kirchlichen Presse über den Charakter dieser Ehen statt. Die am heftigsten umstrittene Frage war, ob die Ehen der Altgläubigen mit einer Zivilehe nach französischem Vorbild zu vergleichen waren oder ob es sich um eine religiös-kirchlich sanktionierte Verbindung zweier Menschen handelte. Die Ursache für das Aufkommen dieser Frage lag in der Geschichte des Altgläubigentums selbst. Die Diskussion über das Ehesakrament unter den Altgläubigen Wie bereits beschrieben, spalteten sich die Altgläubigen sehr bald nach ihrer Ablehnung der Reformen Nikons in priesterliche (Popovcy) und priesterlose Altgläubige (Bespopovcy) auf. Die priesterlichen Altgläubigen spendeten alle sieben Sakramente, wie in den Zeiten vor Nikons Reformen, zu denen auch die Ehe gehörte.102 Die priesterlosen Altgläubigen dagegen, die in den ersten Jahrzehnten nach dem Schisma ihre Geistlichkeit verloren hatten, ließen zunächst nur die Taufe und die Beichte in ihren Gemeinden, nach dem Vorbild der frühchristlichen Kirche, von religiösen Laien spenden mit der Begründung, dass dies in Notzeiten möglich sei.103 Zeiten der Not waren aus ihrer Sicht, zu der starke eschatologische Vorstellungen gehörten, angebrochen. Doch entwickelte sich unter den Bespopovcy eine rege Debatte über die Frage, ob und von wem das Sakrament der Ehe gespendet werden könne, da es keine Geistlichkeit mehr gab. Die priesterlosen Altgläubigen hatten auf einem Konzil in Novgorod im Jahr 1694 die Möglichkeit, das Ehesakrament zu spenden, abgelehnt und jeglichen 101 Bericht Vladimir Sollogubs an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements Aleksandr Arkad’evič Suvorov über die Lage der Raskol’niki in Dorpat vom 24.7.1860. RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 2–37, hier: l. 36. 102 Stasjulevič, Michail Matveevič: Besprechung von Ivan Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Bd. 1, in: Vestnik Evropy 4/8 (1869), 905–913, hier 905. 103 Ebd.
232 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Sex verboten.104 Die tonangebende Gemeinde der priesterlosen Altgläubigen im 18. Jahrhundert, die Gemeinde am Vyg, hatte an der Lehre vom allgemeingültigen Zölibat lange Zeit festgehalten.105 In der Gemeinde durften neue Ehen nicht geschlossen werden und die Ehen bereits verheirateter Mitglieder (so genannter Staroženy) wurden geschieden.106 Der ehemalige Vygovec Feodosij Vasil’ev stellte diese Lehre jedoch in Frage. Er hatte mehrere Gemeinden in der Nähe von Nevel’ und am Westufer des Peipussees gegründet.107 In diesen Gemeinden hatte Fedosij den Staroženy gestattet, weiterhin als Ehemann und -frau zusammenzuleben. Dies zog die Kritik des Leiters der Gemeinde am Vyg, Andrej Denisov, auf sich.108 Mitte des 18. Jahrhunderts drehte sich diese Situation um. Auf dem Polnischen Konzil des Jahres 1752 verurteilten die Anhänger Feodosij Vasil’evs, die Fedoseevcy, sowohl die Ehen der Staroženy als auch diejenigen der Novoženy, das heißt derjenigen Altgläubigen, die erst nach den Reformen Nikons in die Ehe eingetreten waren.109 Die Anhänger der Gemeinde am Vyg, die Pomorcy – benannt nach dem Pomor’e-Gebiet, in dem sich die Gemeinde befand – gingen dagegen dazu über, die Ehe zumindest zu tolerieren.110 Bisher fehlte jedoch eine Auseinandersetzung darüber, wie die Ehe, die die Altgläubigen genauso wie die Orthodoxe Kirche als Sakrament verstanden,111 gespendet werden könne.
104 Pera: The Old Believers and German Pietism 185. Dieser Ablehnung der Ehe leisteten drei Umstände weiter Vorschub: Die eschatologischen Überzeugungen der Altgläubigen, die ein Familienleben zum Zwecke der Prokreation unnötig machten; die Verfolgung der Altgläubigen durch die Zarentochter Sofija, wodurch viele Familien zu Bruch gingen; und die Tatsache, dass viele Lehrer des Altgläubigentums nach der Verwüstung des Soloveckij Klosters Mönche waren, die großen Einfluss auf die Altgläubigen hatten und Gemeinden nach dem Vorbild des zerstörten Klosters aufbauten und einen mönchischen Lebensstil predigten. Ivanovskij, N. I.: Brakoborcy i bračniki v staroobrjadčeskom raskole. Po povodu sočinenija: »Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Istoričeskij očerk raskol’ničeskago učenija o brake, ėkstraordinarnago professora S. Peterburgskoj duchovnoj akademii I. Nil’skago. St. Petersburg 1869. Vypusk I i II, in: Pravoslavnyj sobesednik 1, 2, 3 (1870), 321–350, 32–45, 136–173, hier 329. 105 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 146. 106 Crummey: The Old Believers and the World of Antichrist 117. 107 Klibanov: Narodnaja social’naja utopija 179. 108 Pera: Old Believers and German Pietism 186. 109 Ebd. Die Begriffe Novožen und Starožen machten mit der Zeit einen Bedeutungswandel durch. In den ersten Jahrzehnten nach den Reformen Patriarch Nikons wurden als Staroženy Personen bezeichnet, die vor den Reformen geheiratet hatten. Anfang des 19. Jahrhunderts wurde der Begriff auf Personen angewandt, die vor ihrer Konversion zum alten Glauben geheiratet hatten. Analog dazu machte der Begriff Novožen einen Bedeutungswandel durch. 110 Crummey: The Old Believers 122. 111 Ivanovskij: Brakoborcy 40.
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Ivan Alekseev stellte im Jahr 1762 mit seinem Werk »Über das Sakrament der Ehe« (O tajne braka)112 die Lehre vom allgemeingültigen Zölibat der Fedoseevcy in Frage, denen er selbst angehörte.113 Alekseev hatte bereits in sehr jungen Jahren die Gemeinden der Priesterlosen im Pomor’e, in Moskau und in Polen bereist. Dort hatte er die Erfahrung gemacht, dass die Lehre vom Zölibat sexuelle Kontakte zwischen den Gemeindemitgliedern nicht verhinderte, Frauen und Männer aber nicht dauerhaft zusammen lebten und ihre Kinder als Waisenkinder aufwuchsen. Die Forderung des Zölibats führe, so Alekseev, also zu Unzucht in den Gemeinden der Bespopovcy. Er strebte danach, eine neue Lehre von der priesterlosen Ehe auszuarbeiten,114 die den Bruch mit dem Gebot der Ehelosigkeit theoretisch legitimierte.115 In seinem Werk »Über das Sakrament der Ehe«116 vertritt Alekseev die Meinung, dass sich das Mysterium der Ehe durch die gegenseitige Liebe der Ehepartner vollziehe.117 Die Ehe ist bei Alekseev nicht im Sinne eines kirchlichen Sakraments zu verstehen,118 sondern als ein »Mysterium der Liebe«.119 Das kirchliche Ritual ist dadurch nicht mehr für die Gültigkeit einer Ehe von Bedeutung. Alekseev beruft sich zur Rechtfertigung dieser Vorstellung auf die frühchristliche Kirche. Diese habe Konvertiten aus dem Judentum und Heidentum zwar getauft und die Myronsalbung an ihnen vollzogen, sie aber nicht erneut getraut, wenn sie vor ihrem Übertritt bereits verheiratet gewesen waren. Demnach sei, nach dem Urteil der christlichen Kirche, die kirchliche Trauung für eine gültige Ehe nicht notwendig.120 Stattdessen müssten drei Bedingungen erfüllt werden: 1) das gegenseitige Einverständnis der Eheleute, 2) die Zustimmung ihrer Eltern zu dieser Ehe und 3) das Einverständnis der Gemeinde der Gläubigen.121 Da letzteres am besten in der kirchlichen Trauung, angeleitet durch einen Priester, ausgedrückt werden könne, spricht sich Alekseev dafür aus, dass die Altgläubigen ihre Ehen in einer orthodoxen Kirche trauen ließen.122 Die Trauungszeremonie des Priesters wird als bedeutungsloses Ritual verstanden, bei dem nicht der Segen Gottes gespendet werde, weshalb die Altgläubigen ihre Ehen in der häretischen, das heißt Orthodoxen, Kirche trauen lassen konnten.123 112 N. I. Ivanovskij schreibt, dass Alekseev die Ehe zwar nicht Sakrament (tainstvo) nannte, sondern Mysterium (tajna), doch dass dies der großen Katechese entnommen sei und beide Ausdrücke in Bezug auf die Ehe der Altgläubigen bedeutungsgleich seien. Ebd. 113 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 149. 114 Stasjulevič: Besprechung von Nil’skij 907. 115 Ivanovskij: Brakoborcy 330. 116 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 149. 117 Ebd. 151. 118 Stasjulevič: Besprechung von Nil’skij 907. 119 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 156. 120 Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Bd. 1, 127 f. 121 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 151. 122 Stasjulevič: Besprechung von Nil’skij 908. 123 Ebd.
234 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Die Fedoseevcy widersprachen Alekseevs Meinung und hielten an der Ehelosigkeit fest. Anhänger der Pomorcy dagegen entwickelten seine Lehre weiter. Nachdem Ekaterina II. die zuvor ins Ausland geflohenen Altgläubigen wieder ins Russländische Reich eingeladen hatte, entwickelten sich in Moskau große Gemeinden der priesterlichen Altgläubigen am Rogož’-Friedhof, der Fedoseevcy am Preobraženie-Friedhof und der Pomorcy rund um die Pokrov-Kapelle.124 1765 wurde Vasilij Emel’janov Nastavnik in der Moskauer Pokrov-Gemeinde. Zusammen mit seinem Nachfolger Gavriil Skačkov entwickelte er Ivan Alekseevs Lehre von der Ehe als Mysterium weiter. Das Trauungsritual bezeichnete Emel’janov als bloße »feierliche Verzierung« (blagolepnoe ukrašenie),125 und Skačkov lehrte, das Ehesakrament vollziehe sich durch die gegenseitige Zustimmung der Ehepartner. Diese gegenseitige Zustimmung wurde in den Augen der Pomorcy dadurch wichtiger als die des Priesters, der in der orthodoxen Lehre das Sakrament spendete.126 Emel’janov und Skačkov widersprachen Alekseevs Forderung einer Trauung in orthodoxen Kirchen und ersetzten sie durch eine Trauung in der Moskauer Pokrov-Kapelle.127 Der Assistent eines Getreidehändlers, Pavel Onufrevič Ljubopytnyj (1772–1848),128 arbeitete zu diesem Zweck im Jahr 1803 ein Ehestatut (bračnyj ustav) für die Pomorcy aus. Darin fanden die drei Bedingungen Alekseevs für eine gültige Ehe – die Zustimmung der Ehepartner, der Eltern und der Gemeinde – Berücksichtigung. Der Nastavnik überprüfte, ob sich der Ehe Hindernisse in den Weg stellten und trug die Eheschließung anschließend in die Gemeindelisten ein.129 Irina Paert urteilt über dieses Ehestatut: »The invented ritual was a peculiar mixture of folk custom and elements of urban culture, inserted into a religious context«. 130 Die Pomorcy begannen auf diese Weise das Eheritual nur mehr als Ver zierung anzusehen, welches nicht mehr essentiell für das Sakrament war. Dadurch hatten sie eine neue Einstellung gegenüber der Bedeutung von Ritualen entwickelt, die sich von jener des 17. Jahrhunderts wesentlich unterschied, die möglicherweise zum Bruch mit den nikonianischen Reformen geführt hatte.131 Sie hatten ebenso eine neue Auffassung von der Rolle des Priesters entwickelt, der nur mehr Kontrollfunktionen übernahm und lediglich Zeuge der Eheschließung war.132 124 Ebd. 910. 125 Zitiert nach ebd. 126 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 155. 127 Ivanovskij: Brakoborcy 332. 128 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 48. 129 Ebd. 163 -165. 130 Ebd. 165. 131 Ebd. 155. Zum Zeichenverständnis der Altgläubigen im 17. Jahrhundert, s. Uspenskij: Raskol i kul’turnyj konflikt, sowie Kapitel 2.1. 132 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 156.
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Im Jahr 1798 übernahm die Gemeinde am Vyg den Eheschließungsritus der Moskauer Pomorcy.133 Ihrem Beispiel folgten bis Anfang des 19. Jahrhunderts viele größere, hauptsächlich städtische Altgläubigengemeinden, die zumindest eine nachsichtige Haltung gegenüber ihren verheirateten Mitgliedern entw ickelten.134 Die Fedoseevcy hielten dagegen an ihrer Ablehnung der Ehe fest.135 Von dem Gründer der Fedoseevcy-Gemeinde in Moskau, Il’ja Alekseevič Kovylin, soll der Ausspruch stammen, dass es besser sei, Unzucht zu treiben und später zu beichten, als in die Ehe zu treten. Denn nur wer sündigt, könne beichten und nur wer beichtet, komme in den Himmel. Tritt man in die Ehe, sei man dagegen Häretiker und im Himmel fänden sich viele Sünder, jedoch keine Häretiker.136 Doch die Forderung eines Keuschheitsgelübdes aller Mitglieder stieß auf Durchsetzungsprobleme. Im Jahr 1771 hatten sich viele Moskauer Orthodoxe der Gemeinde am Preobraženie-Friedhof angeschlossen. Sie fürchteten, dass die zu jener Zeit ausgebrochene Pestepidemie eine Strafe Gottes für ihren vermeintlich falschen Glauben sei. Viele dieser neuen Gemeinde mitglieder waren bereits verheiratet und die Zölibatsforderung stieß auf ihren Widerstand.137 Die Lehre Kovylins führte darüber hinaus zu einer Auseinandersetzung der beiden priesterlosen Gemeinden in Moskau. In Folge dieses Streits verließen einige Mitglieder die Gemeinde der Fedoseevcy und ließen sich von Emel’janov trauen.138 Die Gemeinde der Fedoseevcy reagierte darauf mit einer liberaleren Einstellung gegenüber verheirateten Gemeindemitgliedern. Gleichzeitig erfreute sich aber der Gemeindeleiter am Preobraženie-Friedhof, Sergej Semёnovič Gnusin, großer Popularität, der die Ehe streng verurteilte. In Folge eines Streits zwischen Gnusin und seinem Gegenspieler, dem Kaufmann L. I. Osipov, wurde durch eine Bittschrift Letzteren die Regierung in den Konflikt verwickelt. Gnusin wurde im Januar 1822 mit der Begründung festgenommen, er habe gesellschaftsgefährdende Lehren verbreitet.139 Der Streit über die Anerkennung der Ehe innerhalb der Moskauer Bespopvščina konnte dadurch nicht endgültig beigelegt werden. In den letzten Jahren der Herrschaft Nikolajs I. wurden die Leiter der Gemeinde am Preobraženie-Friedhof F. Gučkov, S. Koz’min, G. Gavrilov und K. Egorov verhaftet und verbannt. Das Männerkloster der Gemeinde wurde in ein Edinoverie-Kloster umgewandelt, zu dessen Leiter Pavel Prusskij wurde, ein ehemaliger Fedoseevec, der zur Orthodoxie übergetreten war.140 133 Ebd. 152 f. 134 Potašenko: Rižskaja fedoseevskaja obščina. 135 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 152–154. 136 Ivanovskij: Brakoborcy 342–344. Zitiert nach: Stasjulevič: Besprechung von Nil’skij 910. 137 Paert: Penance and the Priestless Old Believers 278 f. 138 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 154. 139 Pera: The Secret Committee on the Old Believers 224–227. 140 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 226.
236 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 In den Ostseegouvernements schloss sich der Großteil der priesterlosen Gemeinden im Laufe des 19. Jahrhunderts der eheanerkennenden Lehre der Pomorcy an.141 Dies trifft allerdings nicht auf alle Gemeinden zu. Unter den Altgläubigen am Peipussee, die ursprünglich der Lehre der Fedoseevcy anhingen, war die Frage umstritten: In den Dörfern Kol’kie, Krasnye Gory und Černyj trauten die Gemeindeleiter Ende der 1820er Jahre Ehen ihrer Gemeindemitglieder. Allerdings fanden diese Trauungen nicht in den Bethäusern statt und waren stets mit einer Bußstrafe von sechs Wochen Fasten und sieben Verbeugungen bis auf den Boden täglich verbunden.142 Der Nastavnik des Dorfes Kikita traute keinerlei Ehen, weshalb die ehewilligen Gemeindemitglieder nach Krasnye Gory gingen und sich dort trauen ließen.143 Der Segen des Gemeindeleiters für eine Eheschließung scheint bei den Altgläubigen im Kreis Dorpat somit eine wichtige Rolle gespielt zu haben. Sie lehnten die Ehe in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht mehr konsequent ab. Nikolaj Leskov schreibt, dass die Akzeptanz von Ehen unter den Altgläubigen in der nahe gelegenen Stadt Pskov durch Pavel Prusskij verbreitet worden sei.144 Dieser gehörte vor seinem Übertritt zum Edinoverie den Fedoseevcy an, hatte jedoch eine Lehre entwickelt, welche an jene Ivan Alekseevs erinnert. Er hatte im Jahr 1862 einen »Sammelband über die Ehen« (Sbornik o brakach) herausgegeben;145 darin kritisiert er, dass die Verbindungen zwischen Mann und Frau bei den Fedoseevcy aufgrund der Lehre vom Zölibat nicht stabil seien und für Frauen und Kinder schlimme Folgen haben konnten. Prusskij befürwortet daher die Ehe, die er als Sakrament versteht, welches durch das Einverständnis von Braut und Bräutigam zu der Verbindung gespendet werde.146 Möglicherweise hat sich die Lehre Pavel Prusskijs von Pskov aus unter den Altgläubigen am Westufer des Peipussees verbreitet. Bis Riga gelangte die Lehre Pavel Prusskijs nicht.147 Wann die Ehe unter den Rigaer Altgläubigen anerkannt wurde ist ungewiss. Aleksej Žilko und Eduard Mekšs schreiben in ihrem Aufsatz »Das Altgläubigentum in Lettland. Gestern und heute«,148 dass die Grebenščikov-Gemeinde bis in die 1880er Jahre an den Regeln der Fedoseevščina festgehalten und jede Form der Ehe ihrer Gemeinde mitglieder abgelehnt habe.149 Der Großteil der heutigen Wissenschaftler so 141 Potašenko: Rižskaja fedoseevskaja obščina. 142 EAA F. 291, op. 8, d. 222, l. 44ob-46. 143 Ebd., l. 49 f. 144 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 390. 145 Leskov: S ljud’mi drevlego blagočestija 544, 556. 146 Ebd. 558. 147 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 390. 148 Mekšs, Eduard/Žilko, Aleksij: Staroobrjadčestvo v Latvii. Včera i segodnja, in: Revue des études slaves LXIX (1997), 73–88. 149 Ebd. 79.
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wie Altgläubigenkenner der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sind sich jedoch einig, dass die Ehe unter den Rigaer Altgläubigen spätestens in den 1830er Jahren anerkannt worden sei.150 Diese Auffassung wird durch einen Bericht des russischen Schriftstellers Vladimir Aleksandrovič Sollogub gestützt. Dieser schrieb im Jahr 1860, dass den Rigaer Altgläubigen 1838 die staatlichen Bücher entzogen wurden, in die sie ihre Ehen eingetragen hatten, woraufhin sie mehrere Male bei der Regierung um Rückgabe der Bücher und die Anerkennung ihrer Ehen baten.151 Des Weiteren beschrieb Nikolaj Leskov im Jahr 1863 eine Eheschließung unter den Rigaer Altgläubigen.152 Dennoch behielten die Altgläubigen in Riga eine prinzipiell ablehnende Haltung gegenüber der Ehe bei. Dies äußerte sich dadurch, dass Gemeindemitglieder, die heirateten, nicht länger dem Kirchenchor und dem altgläubigen Klerus angehören durften.153 So war der Lehrer der geheimen Schule der Altgläubigen in Riga, Markian Emel’janov, bis zu seiner Eheschließung Sänger im Kirchenchor der Grebenščikov-Gemeinde gewesen. Nach seiner Eheschließung sei er aus dem Chor ausgeschlossen worden.154 Es kann also davon ausgegangen werden, dass die Rigaer Altgläubigen die Ehe spätestens in den 1830er Jahren anerkannten und in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts im Bethaus der GrebenščikovGemeinde Ehen trauten.155 Gründe für die Anerkennung der Ehe in einer wachsenden Zahl von Altgläubigengemeinden mögen neben den neu entstandenen Lehren Alekseevs, Prusskijs oder Emel’janovs praktische Erwägungen gewesen sein. Denn äußere Umstände legten eine Anerkennung der Ehe nahe. Einerseits konnte die Tolerierung bestehender Ehen unter Konvertiten, denen sich die Ausbreitung des Altgläubigentums im 19. Jahrhundert vorrangig verdankte, für deren Verbleiben im alten Glauben wichtig erscheinen,156 wie das Beispiel der Moskauer Fedoseevcy deutlich macht. Andererseits benachteiligte die St. Petersburger Regierung diejeni 150 Podmazov: Rannjaja fedoseevščina v Pribaltike 119. Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Bd. 2, 136. Hauptmann: Rußlands Altgläubige 222. 151 RGIA F. 1473, op. 1, d. 88, l. 10ob. 152 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 390 f. 153 Auch bei den priesterlosen Altgläubigen bildete sich mit der Zeit ein klerikaler Stand heraus, bei dem es sich abgesehen vom Gemeindeleiter (nastavnik) – als nicht ordiniertem religiösen Experten der Priesterlosen – um diejenigen Personen handelte, die Funktionen während des Gottesdienstes übernahmen. Dazu waren zu zählen: Rubrizisten (ustavščiki), Chorleiter (golovščiki), Chorleitergehilfen (podgolovščiki), Vorsänger (kanonarchi), Sänger (pevčie), Vorleser (čtecy) oder Psalmenleser (psalmoščiki). Hauptmann: Das Gemeindeleiteramt bei den priesterlosen Altgläubigen 490 f. 154 Leskov: O raskol’nikach g. Rigi 443. 155 Welchem Trauungsritus sie dabei folgten ist nicht bekannt. 1885 schrieb Nikolaj Leskov, dass die Altgläubigen in Riga nicht dem Trauungsritus, welchen er in seinem Artikel »Blagoslovennyj brak« beschrieben hatte, folgten. Leskov: O rižskich prelestnicach 231. 156 Paert: Regulating Old Believer Marriage 559.
238 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 gen Altgläubigen stärker, die die Ehe nicht anerkannten. Möglicherweise fürchteten die Nastavniki in Riga, dass sie Gemeindemitglieder vollständig an die Orthodoxie oder das Edinoverie verlieren könnten, die bereits aus Angst vor staatlichen Repressionen in einer orthodoxen oder Edinoverie-Kirche geheiratet hatten. Daher waren die Gemeindeleiter in Riga vermutlich gewillt, die Ehe unter den Gemeindemitgliedern anzuerkennen.157 Die Diskussion über den Charakter der Eheverbindungen der Altgläubigen Die im Vorangegangenen beschriebenen Werke der Altgläubigen über die Ehe und ihre Trauungsriten waren den Zeitgenossen, die nicht dem alten Glauben angehörten, nur wenig bekannt. Seit 1860 wurde in Büchern und Zeitschriften über den Charakter der priesterlos geschlossenen Ehen diskutiert. Die grundsätzliche Frage war zunächst, ob die Ehen der priesterlosen Altgläubigen unsittlichem Verhalten vorbeugten und Stabilität der Familien garantierten oder nicht. Im Fall der eheablehnenden Fedoseevcy fiel die Antwort relativ eindeutig aus. Afanasij Ščapov hatte in »Der russische Raskol des Altgläubigentums« die Ehelosigkeit der Fedoseevcy als Rechtfertigung für unsittliches Verhalten beschrieben.158 Dieser Interpretation widersprach der Professor der Geistlichen Akademie in St. Petersburg Ivan Fёdorovič Nil’skij im Jahr 1869. Die Ehelosigkeit der Fedoseevcy sei keine Rechtfertigung für den häufigen Wechsel der Sexualpartner; vielmehr seien viele Altgläubige nicht in der Lage, das Keuschheitsgebot einzuhalten, was seit dem 18. Jahrhundert zu Unzucht (razvrat) unter ihnen führe.159 Berichten von eheanerkennenden Pomorcy zufolge hatte insbesondere die Lehre Il’ja Kovylins und Sergej Gnusins Anfang des 19. Jahrhunderts zu unsittlichem Verhalten der Altgläubigen am Moskauer PreobraženieFriedhof geführt, bis hin zum Kindsmord.160 Ob diesen Berichten, die sich in polemischen Abhandlungen der eheverteidigenden Pomorcy finden, Glauben geschenkt werden darf, ist zweifelhaft. Doch auch der Professor an der Geistlichen Akademie von Kazan’, Nikolaj Ivanovič Ivanovskij (1840–1942), befand die »Entstehung von Unzucht infolge der Ehelosigkeit unter den Priesterlosen [für] unwiderlegbar […] nachgewiesen«.161 Unabhängig davon, ob die Lehre von der Ehelosigkeit als Rechtfertigung für einen ausschweifenden Lebensstil angesehen wurde oder aber die Unzucht als Folge der Verletzung des Zölibatsgebots erschien, brachten die Professoren Ivan Nil’skij und Nikolaj Ivanovskij, die sich an den Geistlichen Akademien mit dem Altgläubigentum befassten, die Lehre 157 Potašenko: Rižskaja fedoseevskaja obščina. 158 Ščapov: Russkij raskol staroobrjadstva 177, 183 f., 275 f. 159 Ivanovskij: Brakoborcy 340. 160 Ebd. 346 f. 161 Ebd. 340.
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der Fedoseevcy mit unsittlichen Verhältnissen zwischen Männern und Frauen in Verbindung. Etwas komplizierter war die Angelegenheit im Falle der Pomorcy, die die Ehe anerkannten. In Bezug auf ihre Eheverbindungen wurde diskutiert, ob sie die Bedeutung eines Sakraments trugen oder ob es sich um Zivilehen handelte. Die Orthodoxe Kirche hatte seit Ende des 18. Jahrhunderts den Sakramentscharakter der Ehe betont, wodurch sich die Vorstellung verbreitet hatte, dass nur das Ehesakrament einer Verbindung zwischen Mann und Frau Stabilität verleihen könne. Die Zivilehe, das heißt eine außerhalb der Kirche geschlossene Ehe, die dem Sakrament entbehrte, galt folglich als instabil. Befördert wurde diese Auffassung durch die Erfahrung, die in Frankreich mit der Einführung der Zivilehe im Zuge der Französischen Revolution gemacht worden war. Das französische Scheidungsgesetz des Jahres 1792 hatte die Ehe von einem Sakrament zu einem Vertrag gemacht, der sehr leicht wieder aufgelöst werden konnte; in der Folge gab es eine Welle von Ehescheidungen in Frankreich, bis das Scheidungsgesetz 1803 wieder abgeschafft wurde. Der Zusammenbruch vieler Familien schürte die Angst der Konservativen im Russländischen Reich vor dem Zusammenbruch der gesellschaftlichen Ordnung, als deren Grundbaustein die Familie angesehen wurde.162 Daher verteidigten Staatsbeamte wie Aleksandr N ikolaevič Golicyn (1773–1844)163 die sakramentale Ehe vor der zivilen als beste Verteidigung gegen den sittlichen Niedergang.164 Diese Vorstellungen sowohl über die kirchliche, sakramentale Ehe als auch über die zivile prägten die Diskussion über die Ehen der Pomorcy grundlegend. Vorläufer zu der Diskussion über die Ehe der Pomorcy stammten aus den frühen 1860er Jahren. In seinem Aufsatz »Wie außerkirchliche Ehen (manchmal) geschlossen werden«,165 der 1860 in der Zeitschrift »Archiv historischer und praktischer Zeugnisse, die sich auf Russland beziehen« (Archiv istoričeskich i praktičeskich svedenij, otnosjaščichsja do Rossii) erschien, vergleicht der juristisch geschulte Publizist Pavel Andreevič Mullov (1832–1893) außerkirchlich geschlossene Ehen (svodnye braki) mit Zivilehen nach französischem Vorbild. Der Unterschied zwischen ersteren, die vorwiegend von Raskol’niki, in einigen Fällen aber auch von Orthodoxen geschlossen werden, und letzteren sei, dass Zivilehen in Frankreich erlaubt, außerkirchlich geschlossene Ehen im Russ ländischen Reich jedoch verboten seien.166
162 Freeze: Jewish Marriage 74. 163 Volksbildungsminister von 1816 bis 1824. 164 Ebd. 76. 165 Mullov, Pavel Andreevič: Kak zaključajutsja (inogda) svodnye braki. (Praktičeskaja zametka.), in: Archiv istoričeskich i praktičeskich svedenij, otnosjaščichsja do Rossii 1 (1860–1861), 21–32. 166 Ebd. 21.
240 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Dieser Gleichsetzung der svodnye braki mit der französischen Zivilehe widersprach der anonyme Autor des Artikels »Außerkirchliche Ehen in Russland«,167 der 1861 in den »Vaterländischen Beiträgen« (Otečestvennyja zapiski) erschien. Der Autor schreibt, dass sich Zivilehen durch ihren Vertragscharakter auszeichneten, wodurch sie Ehebruch nicht verhinderten, wenn beide Vertragsseiten damit einverstanden seien.168 Dies treffe auf die außerhalb der Kirche geschlossenen Ehen in Russland nicht zu, da bei ihrer Schließung der Segen Gottes erbeten werde, wenn auch nicht gemäß den kanonischen Regeln der Orthodoxen Kirche. Ihnen lägen darüber hinaus die moralischen Vorstellungen der priesterlosen Altgläubigen zugrunde, weshalb sie vor unsittlichem Verhalten schützten.169 Die Ausführungen der beiden vorgestellten Autoren lassen erkennen, dass von der Meinung, ob es sich bei den Ehen der priesterlosen Altgläubigen um Eheverbindungen, die auf religiös befestigten Grundlagen beruhten, handelte oder um Zivilehen, die sich durch ihren vertragsähnlichen Charakter auszeichneten, abhing, ob ihnen Stabilität beigemessen wurde oder nicht. Doch waren sowohl Mullov als auch der anonyme Autor des Aufsatzes »Außerkirchliche Ehen in Russland« schlecht über die Ehetrauungsrituale und -praktiken der priesterlosen Altgläubigen informiert und schrieben über außerhalb der Kirche geschlossene Ehen im Allgemeinen. Das erste Buch, welches speziell die Eheschließungen unter den Pomorcy und die Ablehnung der Ehe durch die Fedoseevcy unter die Lupe nahm, erschien 1869. »Das Familienleben des russischen Raskol. Historischer Abriss der Lehre der Altgläubigen über die Ehe«170 von dem Professor an der Geistlichen Akademie in St. Petersburg, Ivan Fёdorovič Nil’skij, erregte großes Aufsehen in der Gesellschaft. Gemäß dem Professor am Geistlichen Seminar von Kazan’ Nikolaj Ivanovič Ivanovskij galt die zweibändige Monografie als das wichtigste Werk über die Altgläubigen seit Afanasij Ščapovs Büchern.171 Ivan Nil’skij versucht anhand des Werkes »Über das Sakrament der Ehe« von Ivan Alekseev nachzuweisen, dass die Pomorcy selbst die Ehe als zivile Angelegenheit betrachteten. So beschreibe Ivan Alekseev den Trauungsritus der Kirche als bedeutungslos für den Sakramentscharakter der Ehe; stattdessen sei die Trauung lediglich Ausdruck des Einverständnisses der Gemeinde mit der Eheschließung, »das heißt, [der Ritus] gibt nur formal Festigkeit und Würde, sozusagen zivil, weil er auf vergleichbare Weise den in die Ehe Eintretenden die Verantwortung für die Unstetigkeit ihrer Verbindung vor der gesamten Gesell 167 [–]: Svodnye braki v Rossii. Kak zaključajutsja svodnye braki? Praktičeskaja zametka P. Mullova. Archiv istoričeskich i praktičeskich svedenij, otnosjaščichsja do Rossii, in: Otečestvennyja zapiski 135 (1861), 37–47. 168 Ebd. 44. 169 Ebd. 46 f. 170 Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. 171 Ivanovskij: Brakoborcy 321.
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schaft auferlegt.«172 Zwar erkennt Nil’skij an, dass die Gemeindeleiter der Pomorcy bei einer Trauung ihren Segen spenden, »der Kanon, die Apostel und das Evangelium gelesen und Gebete gesungen werden«, doch gäben die priesterlosen Altgläubigen »der Ehe offensichtlich nicht die Bedeutung eines Sakraments, sondern verstehen sie einfach wie eine zivile Verbindung.«173 Trotz seiner Kenntnis der Werke der Altgläubigen über die Ehe, interpretiert Nil’skij die darin niedergelegten Ansichten über die Ehe als Befürwortung einer zivilen Eheschließung. Dieser Vergleich wurde von vielen Zeitgenossen Nil’skijs übernommen. So schreibt der russische Historiker und Redakteur der Zeitschrift »Bote Europas« (Vestnik Evropy) in einer Besprechung von Nil’skijs Buch, dieses »erregt solches Interesse, weil in ihm die Lehre der Raskol’niki über die Zivilehe […] dargelegt ist, wie sie von ihnen […] ausgearbeitet und im Alltag verwirklicht wurde.«174 An der Gleichsetzung der pomorischen Ehen mit der Zivilehe regte sich aber auch Kritik. Diese kam unter anderem von dem Professor am Geistlichen Seminar von Kazan’, Nikolaj Ivanovič Ivanovskij. In seinem Aufsatz »Ehebekämpfer und Eheliche im altgläubigen Raskol«175 räumt Ivanovskij ein, »[d]ass aus Sicht der Orthodoxen Kirche die priesterlosen, nicht von einem Priester gesegneten Ehen keinen kirchlichen, sakramentalen Charakter haben können«.176 Dass die Pomorcy selbst den Sakramentscharakter ihrer Ehe in Frage stellten und »auf ihre ehelichen Verbindungen wie auf einen rein zivilen Akt blickten – daran erlauben wir uns zu zweifeln.«177 Denn im Unterschied zu einer zivilen Eheschließung, die keine Trauung erfordere, halte Alekseev die Trauungszeremonie für eine gültige Ehe für notwendig. Zwar hätten Emel’janov und Skačkov, zwei Wortführer der Pomorcy in Moskau, Alekseev widersprochen, gleichzeitig aber ein neues Eheritual geschaffen, welches sie in der Moskauer PokrovKapelle vollzogen. Dieses bestehe aus bestimmten Gebeten und Gesängen und werde als notwendig für die Ehe angesehen. Sie hätten damit keine Zivilehe eingeführt, sondern den Sakramentscharakter der Ehe weiterhin anerkannt. Dieses Sakrament könne – wie bereits Taufe und Beichte – in Notzeiten auch von Laien gespendet werden.178 Ivanovskij ist also überzeugt, »dass den EhelichenPriesterlosen der Blick auf die Ehe wie auf einen rein zivilen Akt fremd war.«179 Vielmehr sei die Ehe der Pomorcy ein religiös-kirchlicher Akt und während der Trauung ginge auf die Eheleute – in der Vorstellung der Pomorcy – der hei-
172 Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole. Bd. 1, 129. Meine Hervorhebung. 173 Ebd. 259. 174 Stasjulevič: Besprechung von Nil’skij 905. Meine Hervorhebung. 175 Ivanovskij: Brakoborcy. 176 Ebd. 33. Meine Hervorhebung. 177 Ebd. 178 Ebd. 34–36. 179 Ebd. 37.
242 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 lige Geist hinab.180 Folge dieser Eheauffassung sei, dass die ehelichen Priesterlosen die Unauflösbarkeit ihrer Eheverbindungen forderten und von den Eheleuten das Gelübde abverlangten, ewig zusammenzuleben.181 Nach Ivanovskij verbürgten die Ehen der Pomorcy sehr wohl jene Stabilität, die im Sinne der gesellschaftlichen Stabilität gefordert wurde, da es sich eben nicht um Zivilehen handelte, die aufgrund der französischen Erfahrung als instabil galten. Zustimmung erhielt Ivanovskij von Nikolaj Leskov, dem ebenfalls daran gelegen war zu erfahren, wie die Ehe unter Pomorcy geschlossen wurde. Er nennt die Beantwortung dieser Frage im Untertitel seines Aufsatzes »Die gesegnete Ehe«182 das »charakteristische Versäumnis in der historischen Literatur über den Raskol«.183 Um nachzuweisen, dass die Pomorcy die Ehe als Sakrament verstünden, zieht Leskov die Lehre Pavel Prusskijs heran, die der ehemalige Fedoseevec in seinem Werk »Über die Ehe« darlegte. Laut Prusskij würden die Ehen der Priesterlosen durch den Segen der Eltern geschlossen und in Folge eines kurzen Gebets zum Wohlergehen der Eheleute. Der Mangel, der darin von orthodoxen Publizisten gesehen werde, so Leskov, sei das Fehlen eines Vollziehers dieser Kasualien (ispolnitel’ treb), eines Priesters also, der das Sakrament spendet. Denn alle diejenigen, die ihren Segen geben und Gebete sprechen, seien lediglich Teilnehmende oder Zeugen, aber keine ausführenden Personen. Die Argumentation Pavel Prusskijs, dass der Ausführende Gott selbst sei, stelle die wenigsten Kritiker zufrieden.184 Um die Diskussion über das Wesen der pomorischen Ehe endgültig zu entscheiden185 stellt Leskov ein Büchlein vor, welches er von einem Antiquar bekommen hatte,186 und den Titel »Über die Eheschließung« (O brakosočetanii) trägt. Leskov vermutet, der Autor des Buches sei ein altgläubiger geistlicher Vater aus Rybinsk namens Nikolaj Stepanov gewesen. Laut Leskov sollen die darin beschriebenen Trauungsriten in den 1840er Jahren aufgekommen sein.187 Leskov gibt den Wortlaut des Büchleins in seinem Aufsatz wider. Der darin beschriebene Trauungsritus umfasste Gebete, Bitten um den Segen Gottes, die Einverständniserklärung von Braut und Bräutigam in die Ehe, die Feststellung des Verwandtschaftsgrades zwischen den Eheleuten und ein gegenseitiges Treueversprechen.188 Aus der Beschreibung dieses Ritus werde klar, so Leskov, 180 Ebd. 38 f. 181 Ebd. 39. 182 Leskov, Nikolaj Semёnovič: Blagoslovennyj brak. Charakternyj propusk v istoričeskoj literature raskola, in: Istoričeskij Vestnik 6 (1885), 499–515. 183 Ebd. 184 Ebd. 503. 185 Ebd. 502. 186 Ebd. 515. 187 Ebd. 505. 188 Ebd. 506–508.
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dass es sich bei der pomorischen Ehe nicht allein um ein Gebet für die Segnung der Ehe handelt, sondern dass die Ehe geheiligt wird durch die Herbeirufung von Gottes Segen und durch die Segensspendung der Eltern. Darüber hinaus könne man einen Vollzieher erkennen, den Gesetzesleser (zakonočitatel’) – das heißt den Gemeindeleiter (nastavnik) –, welcher in den Gemeinden die Bedeutung einer geistlichen Person genieße. Zwar stünde außer Frage, dass diese Gesetzesleser oder Gemeindeleiter nicht die Gabe des Heiligen Geistes besäßen, weil sie nicht von einem Bischof geweiht wurden; insofern könne man sie nicht mit den Priestern der Orthodoxen Kirche gleichsetzen. Sie ähnelten jedoch den lutherischen Pastoren, da diese ebenfalls nicht die Gabe des Heiligen Geistes besäßen, aber dennoch Ehen trauten.189 Leskov schreibt: [In] Bezug auf die Gabe des Segens sind die Nastavniki und Pastoren gleich, weil diese wie jene lediglich Laien sind. Sie sind, wie wir alle, normale Sterbliche, die nicht jene Sakramente spenden können, die in der Orthodoxen Kirche durch die Vermittlung ›der geweihten Hände‹ vollzogen werden.190
Das Gleiche gelte für das gesamte Trauungsritual; darin sei nicht weniger Rituelles zu erkennen als in einer Eheschließung der Lutheraner.191 Wie Ivanovskij betont Leskov, dass es unter den Pomorcy ein Trauungsritual gab und dass sie die Ehe als Sakrament verstanden. Die Schlussfolgerung beider Autoren ist, dass die Ehen der Altgläubigen Unzucht vorbeugten und vor Scheidungen schützten. Leskov legt durch den Vergleich mit den Ehen der Lutheraner darüber hinaus nahe, die Ehen der Pomorcy rechtlich anzuerkennen. Denn die auf ähnliche Weise getrauten Ehen der Lutheraner würden im Russländischen Reich sowohl im kirchlichen wie im weltlichen Sinne als gültige Ehen anerkannt.192 Der Vergleich der Eheschließung unter den Pomorcy mit den Trauungsritualen der so genannten ausländischen Bekenntnisse diente weiteren Autoren zur Rechtfertigung ihrer Forderung nach der rechtlichen Anerkennung der pomorischen Ehen. Bereits der anonyme Autor des Aufsatzes »Außerkirchliche Ehen in Russland« aus dem Jahr 1861 bemühte den Vergleich mit jüdischen Eheschließungen. Diese würden, wie die außerkirchlichen Ehen auch, ohne Geistlichkeit geschlossen und entbehrten folglich der Bedeutung eines Sakraments, welches es im Judentum ohnehin nicht gebe.193 Und dennoch beugten die jüdischen Ehen, im Unterschied zu den französischen Zivilehen, unsittlichem Verhalten vor und garantierten die Stabilität der ehelichen Verbindungen zwischen 189 Ebd. 510. 190 Leskov: O rižskich prelestnicach 231. 191 Insbesondere bei der reformatorischen Kirche bestehe die Eheschließung lediglich aus dem Verlesen des »Fater [sic!] unser« und einer kurzen Predigt des Pastors über die Bedeutung der Ehe. Leskov: Blagoslovennyj brak 509. 192 Ebd. 510. 193 [–]: Svodnye braki 45 f.
244 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Mann und Frau.194 Der unbekannte Autor kommt durch seinen Vergleich zu einem ähnlichen Schluss wie Leskov: Obwohl den außerkirchlichen Ehen in Russland moralische Überzeugungen zu Grunde liegen, die Sittlichkeit und Stabilität garantieren, während dies bei einer Zivilehe fehle, werde »die außerkirchliche Ehe als Frucht der Ignoranz und Wildheit des Benehmens angesehen, die Zivilehe dagegen als letztes Wort der europäischen Zivilisation.«195 Selbst der Redakteur der Zeitschrift »Bote Europas« (Vestnik Evropy) Michail Matveevič Stasjulevič (1826–1911), der an Nil’skijs Interpretation der pomo rischen Ehen als Zivilehen festhält, schreibt, dass selbst die Ehen der Katholiken, Protestanten und Juden Gültigkeit vor dem russländischen Gesetz hätten und nur die Raskol’niki in vielen Belangen außerhalb des Rechtes stünden.196 Stasjulevič kommt durch diesen Vergleich zur Forderung nach Anerkennung der priesterlosen Ehen vor dem Gesetz und nach einer Verrechtlichung des Verhältnisses zwischen Staat und Altgläubigen. Von der Einschätzung, ob die Ehen der priesterlosen Altgläubigen mit denjenigen der staatlich anerkannten Religionsgemeinden vergleichbar seien oder aber mit Zivilehen nach französischer Art, hing ab, ob diese Verbindungen als stabile und sittliche galten oder nicht. Die Schlussfolgerung, dass es sich weder bei den Ehen der Pomorcy noch bei denjenigen der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse um sakramentale Ehen aus Sicht der Orthodoxen Kirche handelte, gleichzeitig aber auch nicht um reine Zivilehen, legte die Forderung nach einer rechtlichen Anerkennung der priesterlosen Eheverbindungen nahe. Eben diese Argumentation diente Innenminister Valuev vor dem Komitee von 1864 zur Rechtfertigung seiner Vorschläge, den Raskol’niki einige religiöse Rechte zu verleihen. Das Komitee hatte anerkannt, dass es nicht möglich sei, den Altgläubigen bestimmte Rechte nicht zu gewähren, die selbst Anhänger nichtchristlicher Religionen genossen.197 Valuevs Forderung, die Ehen der Altgläubigen in den Matrikelbüchern der Polizei registrieren zu lassen und damit zu legalisieren, verteidigte er mit den Worten, »dass die Ehen zwischen Raskol’niki in Wirklichkeit existieren«,198 womit er gegenüber seinem Publikum, unter dem sich Repräsentanten der Orthodoxen Kirche befanden, zum Ausdruck brachte, dass ihnen eine gewisse Stabilität zugebilligt werden konnte.
194 Ebd. 44. 195 Ebd. 47. 196 Stasjulevič: Besprechung von Nil’skij 912 f. 197 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta. Kopija 4. 198 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta 30.
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Die Diskussion über die Legalisierung der priesterlos getrauten Ehen Die Diskussion über den zivilen Charakter der pomorischen Ehen wurde nach der Verabschiedung des Gesetzes vom 19. April 1874 wieder aufgenommen. Nachdem den Altgläubigen die Möglichkeit gegeben worden war, ihre Ehen bei der Polizei registrieren und ihnen dadurch juristische Gültigkeit verleihen zu lassen, stellte sich die Frage, ob diese Bestimmung der Einführung der Zivilehe im Russländischen Reich gleichkam. Nikolaj Ivanovskij bejahte diese Frage bereits ein Jahr nach Legalisierung der Ehen der Altgläubigen. In seinem Aufsatz »Anlässlich der Anerkennung der Ehen der Raskol’niki«,199 schreibt er, dass am 19. April 1874 im Russländischen Reich für die Altgläubigen die Zivilehe eingeführt worden sei. Der Grund dafür sei gewesen, dass die Ehen der nichtorthodoxen und nicht-christlichen Untertanen im Imperium ebenfalls aner kannt würden und eben diese Glaubenstoleranz (veroterpimost’) nun auch den Raskol’niki zuteil werde.200 In diesem Vergleich des Umgangs mit den Altgläubigen einerseits und den so genannten ausländischen Bekenntnissen andererseits vernachlässigte Ivanovskij allerdings den Umstand, dass die Ehen ersterer in den Matrikelbüchern der Polizei eingetragen wurden und die der letzteren von ihren religiösen Experten registriert wurden. Doch spielte dieser Umstand in der Diskussion über das Gesetz eine bedeutende Rolle, insbesondere weil er mit der Nichtanerkennung der Trauungsriten der Altgläubigen zusammenhing. Der Professor für Kirchenrecht Nikolaj Semёnovič Suvorov (1848–1909) schreibt in seinem Buch von 1896 »Die Zivilehe«, welches 1887 unter dem Titel »Über die Zivilehe« zum ersten Mal erschien,201 es könne keinen Zweifel darüber geben, dass durch das Gesetz vom 19. April 1874 eine Zivilehe für die Raskol’niki geschaffen worden sei.202 Denn »eine Ehe, die ihre Gesetzeskraft in Folge der Erfüllung der bekannten Formalitäten, die vom zivilen Gesetz vorgeschrieben sind, bekommt, kann unabhängig von irgendwelchen religiösen Riten, nur eine Zivilehe sein und nichts anderes.«203 Der Grund für die Einführung der Zivilehe – und an dieser Stelle denkt Suvorov über Ivanovskijs Darstellung hinaus – sei der Umstand, dass die Raskol’niki und ihre religiösen Experten staatlicherseits nicht anerkannt seien und daher die Eintragung von Ehen in die Matrikelbücher nicht zuverlässig übernehmen konnten. Die Einführung der Zivilehe für die Raskol’niki sei daher eine Notlösung.204 Doch hatte diese Lösung Kompromisscharakter. Denn die Form der Eheschließung der Raskol’niki gemäß dem Gesetz von 1874 entbehre wesentlicher Elemente der Zivilehe nach westeuropäischem Vorbild. 199 Ivanovskij: Po povodu priznanija. 200 Ebd. 77–79. 201 Suvorov, N.: Graždanskij brak. St. Petersburg 21896. 202 Ebd. 117 f. 203 Ebd. 204 Ebd. 124–126.
246 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Eine einfache Registrierung bei den zivilen Behörden bedeute noch keine Eheschließung, auch nicht die einer zivilen. Es sei stets eine Form von Zeremonie mit der Eheschließung verbunden, die aus der Erklärung des gegenseitigen Einverständnisses bestehe und aus der Bekanntmachung der Rechte und Pflichten der Eheleute gemäß den Gesetzen. Dies sehe das Gesetz vom 19. April 1874 nicht vor. Stattdessen werde davon ausgegangen, dass die Altgläubigen ihre Riten in einer Zeremonie zur Eheschließung bereits vor der Registrierung ihrer Ehen vollzogen haben. Doch wird dieser Zeremonie vom Gesetz keine juristische Bedeutung beigemessen; die Riten seien für die Gültigkeit der Ehe vollkommen gegenstandslos.205 Und tatsächlich legte Art. 9 des Gesetzes vom 19. April 1874 fest, dass die Polizeibeamten bei der Registrierung der Ehe in den Matrikel büchern nicht überprüfen sollten, ob der Eintragung eine rituelle Trauung gemäß den Riten der Raskol’niki vorausgegangen ist oder nicht.206 Die Folge dieser juristischen Bedeutungslosigkeit der Trauungsrituale der Altgläubigen sei laut Suvorov, dass diese ihre Rituale nicht mehr als bedeutend ansähen und leichtfertig mit ihren Ehen umgingen. Kurz gesagt, die Ehen der Raskol’niki entbehrten in der Folge der staatlich gewünschten Stabilität was von negativen Folgen begleitet werde, insbesondere für Frauen und Kinder.207 Suvorov sprach dadurch bereits 1887 den Widerspruch an, dass nur nach den Riten der jeweiligen Glaubensgemeinschaft und unter Teilnahme eines religiösen Experten geschlossene Ehen in Russland als stabil angesehen wurden, dass gleichzeitig die Existenz dieser Riten unter priesterlosen Altgläubigen um stritten war und für die Gültigkeit ihrer Ehen, Kraft des Gesetzes von 1874, keine juristische Bedeutung hatten. Dieser Widerspruch erlangte jedoch erst 20 Jahre nach der Verabschiedung des Gesetzes praktische Bedeutung. Am 11. Oktober 1894 wurde im Kassationsdepartement die Anklage des Moskauer Meščanin Vasilij Alekseev Parfёnov wegen Bigamie verhandelt. Parfёnov war 1883 mit der Altgläubigen K. Sukonščikova nach altgläubigem Ritus in die Ehe getreten und hatte diese in den Matrikelbüchern der Polizei registrieren lassen. Nach einigen Jahren verließ Parfёnov seine Frau samt ihrer drei gemeinsamen Kinder. Er trat zur Orthodoxie über und heiratete die Orthodoxe E. Kutilina. Dabei hatte er die Moskauer Meščane-Verwaltung um Erlaubnis gebeten, als Junggeselle in die Ehe treten zu dürfen und diese Erlaubnis auch bekommen. Einem Beamten war aufgefallen, dass diese Erlaubnis unrechtmäßig gegeben worden war, da Parfёnov bereits mit Sukonščikova rechtskräftig verheiratet gewesen war.208 Oberprokuror des Kassationsdepartements des Regierenden Senats, Anatolij Fёdorovič 205 Ebd. 126 f. 206 Kalašnikov: Sbornik zakonov 11 f. 207 Suvorov: Graždanskij brak 128. 208 Zaozerskij, N.: Čto takoe raskol’ničij brak, in: Bogoslovskij Vestnik 2, 3 (1895), 261–278, 404–421, hier 262–264.
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Koni (1844–1927),209 hielt als Gerichtsredner eine Rede über den Charakter der Ehen der Raskol’niki, die den Ausgang des Prozesses wesentlich beeinflusste. In seiner Rede vor Gericht schloss Koni aus dem Umstand, dass die Trauung der Ehe nach Riten der Altgläubigen für die juristische Gültigkeit keine Bedeutung hätte, nicht aber, dass es sich bei der Ehe der Raskol’niki gemäß dem Gesetz vom 19. April 1874 um eine zivile Ehe handele. Denn die Registrierung der Ehen in den Matrikelbüchern der Polizei sei keine Eheschließung, sondern lediglich die Legalisierung einer bereits bestehenden Ehe. Die Registrierung setzte eine Eheschließung nach den Riten der Altgläubigen folglich voraus. Es sei nicht wünschenswert, so Koni, dass die Raskol’niki ihre Riten für unbedeutend halten und ihre Ehen lediglich bei der Polizei registrierten und sie damit als bloßen Vertrag ansähen.210 In diesem Sinne hieß es in der Entscheidung des Regierenden Senats vom 11. Oktober 1894, dass nur jenen Verbindungen zwischen Mann und Frau Legalität verliehen werden solle, die durch das Gebet und das Erbeten des Segens Gottes auf moralischen Grundlagen ruhten.211 Mit anderen Worten wurde der Widerspruch, dass das Gesetz von 1874 eine zivile Registrierung einer Ehe ermöglichte, die vorher nicht unbedingt nach religiösen Riten getraut worden sein musste, obwohl nur eine solche Trauung als Garant für familiäre Stabilität galt, nicht aufgelöst, sondern verstärkt. Der Senat entschied, dass die Ehe Parfёnovs mit Sukonščikova, die in den polizeilichen Matrikelbüchern registriert war, als gültige anzusehen sei; Parfёnov bekam nicht das Recht, in eine zweite Ehe zu treten, auch wenn er zur Orthodoxie konvertiert und eine Orthodoxe geheiratet hatte. Parfёnov wurde außerdem auf Grundlage von Art. 1554 des Strafrechtskodex zur Verantwortung gezogen.212 Dieser Artikel sah als Bestrafung für Vielehe neben dem Verlust aller persönlicher und Standesrechte sowie dem Exil nach Sibirien auch eine kirchliche Bußstrafe vor.213 Der Meinung Konis, dass das Gesetz vom 19. April 1874 eine bereits nach den Riten der Raskol’niki geschlossene Ehe voraussetze, widersprachen Kirchenrechtsexperten jener Zeit. Sowohl Suvorov als auch der Professor an der Moskauer Geistlichen Akademie, Nikolaj Aleksandrovič Zaozerksij (1851–1919), wiesen darauf hin, dass bei der Registrierung der Ehen bei den Polizeibehörden jene Formalitäten überprüft würden, die vor und während einer Eheschließung vorgenommen werden: Etwaige Hinderungsgründe für die Eheschließung zwischen Altgläubigen würden nach dem Antrag auf deren Registrierung bei der Polizeibehörde überprüft und für die Eintragung der Ehe sei das Erscheinen 209 Oberprokuror des Kassationsdepartements von 1892 bis 1896. 210 Suvorov: Graždanskij brak 134. 211 Kalašnikov: Sbornik zakonov 8 f. 212 Ebd. 9. 213 SZ , Bd. 15. St. Petersburg 1885, 319 f. (Art. 1554).
248 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 beider Eheleute vonnöten.214 Da eine der Registrierung vorangehende Trauungszeremonie nach den Riten der Raskol’niki von den Polizeibeamten nicht überprüft werden müsse, eine solche Zeremonie also stillschweigend angenommen würde und gleichzeitig nicht obligatorisch sei, könne man nur schließen, dass das Gesetz vom 19. April 1874 keine kirchliche, sondern eine zivile Form der Eheschließung für die Raskol’niki einführe.215 Suvorov schreibt: »Das Gesetz errichtet direkt eine Zivilehe; es fordert weder direkt noch indirekt die religiöse Weihe der Ehe; es lässt die Zivilehe nicht nur zu, sondern führt sie als obligatorisch für alle Raskol’niki ein.«216 Obligatorisch war die Zivilehe laut Suvorov deshalb, weil es keine rechtskräftige kirchliche Form der Ehe für die Raskol’niki im Russländischen Reich gab, die eine Alternative zur zivilen Eheschließung gewesen wäre. Zwar kommen wir erst später zur Implementierung des Gesetzes vom 19. April 1874 in Livland, doch ist an dieser Stelle bereits von Interesse, dass das Rigaer Landvogteigericht bereits 1883 in einem Gerichtsfall im Sinne Suvorovs urteilte. Am 1. September jenes Jahres klagte die Altgläubige Aleksandra Larionova Morosova gegen den altgläubigen Kaufmann der zweiten Gilde Prokofij Emel’janov Izvočnikov auf Eintragung ihrer Ehe in die Matrikelbücher der Polizei. Sie waren, nachdem Izvočnikov sie »nicht etwa zu seiner Concubine, sondern ganz ausdrücklich zur Ehefrau sich erbeten habe«,217 am 18. Mai 1877 im Bethaus der Grebenščikov-Gemeinde in Riga in Anwesenheit von Zeugen getraut worden. Aus der Ehe stammten zwei Kinder, Klavdija und Ol’ga. Der Angeklagte war jedoch nicht bereit gewesen, diese Ehe in die Matrikelbücher eintragen zu lassen.218 Uneinig waren sich der Anwalt der Klägerin Herr Korth und der Verteidiger Rudolf Schmidt nun darin, ob es sich bei dem Gesetz vom 19. April 1874 um die Eintragung einer bereits bestehenden Ehe handele, oder um eine Eheschließung selbst.219 Das Landvogteigericht kam zu der Entscheidung, dass die Trauung der streitenden Personen im Bethaus der Altgläubigen keine zivile Wirksamkeit habe und dass die Klage daher nicht auf die Legalisierung einer bereits 1877 geschlossenen Ehe abzielte, sondern eine Eheschließung verfolge. Nun könne der Angeklagte weder aufgrund dieser im Bethaus der Altgläubigen vollzogenen Trauung noch aufgrund seines Eheversprechens zur Eheschließung durch Eintragung der Ehe in die Matrikelbücher gezwungen werden.220 Denn nicht das Verlöbnis und nicht das Eheversprechen, sondern
214 Suvorov: Graždanskij brak 138. Zaozerskij: Čto takoe raskol’ničij brak 274. 215 Suvorov: Graždanskij brak 135 f. Zaozerskij: Čto takoe raskol’ničij brak 268. 216 Suvorov: Graždanskij brak 137. Hervorhebungen im Original. 217 LVVA F. 749, op. 4, d. 408, l. 2. 218 Ebd., l. 2 f. 219 Ebd., l. 5–9. 220 Ebd., l. 12–13.
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allein das persönliche Erscheinen beider Eheleute vor der Polizeiverwaltung mache die Ehe eintragungsfähig und damit im zivilen Sinne wirksam. Die Klage müsse daher zurückgewiesen werden.221 An diesem Urteil konnte auch eine Bittschrift Aleksandra Larionova Morosovas an den Zaren222 nichts mehr ändern. Das Landvogteigericht wiederholte seine Entscheidung, »daß eine staatlich anerkannte Ehe unter Sectirern erst durch Eintragung in die Matrikbücher zu stande kommt, u. daß diese Eintragung ohne persönliche [und freiwillige, d. Vf.] Mitwirkung beider Ehegatten nicht vollzogen werden kann.«223 Der Umstand, dass die Trauungsriten der Altgläubigen im Gesetz von 1874 juristisch bedeutungslos waren, führte dazu, dass Unklarheit darüber herrschte, ob es sich bei der Registrierung von Ehen in den Matrikelbüchern lediglich um die Registrierung einer zuvor geschlossenen Ehe handelte oder aber um eine Eheschließung. Während der Rigaer Magistrat 1877 noch im Sinne einer Eheschließung geurteilt hatte, entschied der Regierende Senat die Angelegenheit 1894 gegenteilig. Dies änderte jedoch nichts an der prinzipiellen juristischen Bedeutungslosigkeit der altgläubigen Trauungsriten. Kirchenrechtsexperte Suvorov hatte diesen Umstand kritisiert, da dies zu einem Bedeutungsverlust der Trauung und damit der Stabilität der Eheverbindungen unter den Altgläubigen selbst führe.224 Ivanovskij lobte die gesetzliche Nichtbeachtung der Trauungsrituale der Raskol’niki dagegen als Ausdruck der Glaubenstoleranz. Denn die Bestimmung ermögliche auch jenen Sektenangehörigen die Registrierung von Eheverbindungen, die die Ehe ablehnten und »auf sie nur wie auf ein toleriertes Übel blicken«,225 womit Ivanovskij die Fedoseevcy meinte.226 Für die Orthodoxe Kirche bedeutete die Bedeutungslosigkeit der altgläubigen Trauungsriten im Gesetz von 1874, dass sie an der Betonung des Sakramentscharakters der in orthodoxen Kirchen getrauten Ehen festhalten konnte. Der Kirchenrechtsexperte Nikolaj Aleksandrovič Zaozerskij (1851–1919) betont, dass die in den Matrikelbüchern registrierten Ehen nur im zivilen Sinn gültig seien. Aus kirchlicher Sicht seien sie aufgrund des Fehlens eines Priesters, der das Ehesakrament spendete, ungültig.227 Die Kirche könne diese Ehen also nur als »unzüchtige Lebensgemeinschaften« (bludnoe sožitie) ansehen.228 221 Ebd., l. 13ob. 222 Ebd., l. 18–19. 223 Ebd., l. 23ob. 224 Suvorov: Graždanskij brak 127 f. 225 Ivanovskij: Po povodu priznanija 77. 226 Zaozerskij benutzt denselben Ausdruck – toleriertes Übel (terpimoe zlo) – um die Sicht der Fedoseevcy auf die Ehe zu charakterisieren. Zaozerskij: Čto takoe raskol’ničij brak 266. 227 Die Ehen der Priesterlosen seien »bezsvjaščenno-slovnyj«. Zaozerskij: Čto takoe raskol’ničij brak 266. 228 Ebd. 267.
250 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Man müsse, so Zaozerskij, zwischen kirchlichen Verbindungen zwischen Mann und Frau und den »eheähnlichen Lebensgemeinschaften« (podobobračnye sožitija) der Raskol’niki unterscheiden, die in den Matrikelbüchern eingetragen sind.229 Zaozerskij verteidigt dadurch den prinzipiell sakramentalen Charakter der Ehen im Russländischen Reich und weigert sich die registrierten Lebensgemeinschaften der Raskol’niki überhaupt als Ehen zu bezeichnen. Doch hatte die Orthodoxe Kirche auch Gefahren kritisiert, die von der Legalisierung der Lebensverbindungen der Altgläubigen für Mitglieder der Orthodoxie ausgehen konnten. Ivanovskij schreibt, dass kirchlicherseits das Argument vorgebracht worden sei, dass die Legalisierung dieser Ehen den Raskol stärken könne, da die Raskol’niki zuvor mit der Orthodoxen Kirche in Verbindung treten mussten, wenn sie gültige Ehen schließen wollten. Durch die rechtliche Anerkennung ihrer eigenen Eheverbindungen werde dieses Prinzip ins Gegenteil verkehrt und viele orthodoxe Untertanen könnten zum Raskol abfallen, um keine Zahlungen an den Priester für die Zeremonie leisten zu müssen.230 Ivanovskij versuchte das Gesetz von 1874 gegen diese Kritik zu verteidigen. Er schreibt, dass diejenigen Altgläubigen, die sich der Orthodoxie angeschlossen hatten, um legitime Ehen führen zu können, nur nominell konvertiert seien, woraus der Orthodoxen Kirche mehr Probleme als Vorteile erwüchsen.231 Darüber hinaus habe die Anerkennung der Ehen der Raskol’niki wichtige Folgen für die Stabilität ihrer ehelichen Verbindungen, für die Legitimität ihrer Kinder und das Erbrecht;232 daher sei die Anerkennung der Ehe aus gesellschaftlich-staatlicher Perspektive eine Sache der Gerechtigkeit233 und das Gesetz vom 19. April 1874 eine vollkommen wünschenswerte Erscheinung.234 ✴ ✴ ✴ Das Gesetz vom 19. April 1874 gab weder über die Gültigkeit altgläubiger Trauungsriten noch über deren Existenz Auskunft. Grund dafür war, dass man den Gemeindeleitern der Altgläubigen keine offizielle Sanktion verleihen und die Sakramente, die sie spendeten, nicht anerkennen wollte. Darüber hinaus war nicht klar, ob unter den priesterlosen Altgläubigen überhaupt Trauungsrituale existierten und ob diese selbst die Ehe als Sakrament verstanden. Aufgrund der juristischen Bedeutungslosigkeit der altgläubigen Trauungsriten und des Umstands, dass die Ehen bei den Polizeibehörden registriert wurden, lag es nahe, das Gesetz vom 19. April 1874 als Einführung der Zivilehe im Russländischen 229 Ebd. 277. 230 Ivanovskij: Po povodu priznanija 70. 231 Ebd. 75 f. 232 Ebd. 66. 233 Ebd. 69. 234 Ebd. 83.
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Reich zu interpretieren. Gegner dieser Auslegung des Gesetzes argumentierten, dass das Gesetz keine zivile Eheschließung, sondern lediglich die zivile Registrierung einer bereits geschlossenen Ehe ermögliche. In diesem Fall stellte sich jedoch das Problem, dass eine vorangegangene Eheschließung nach den Riten der Altgläubigen stillschweigend angenommen werden musste. Der Versuch, die Ehen der Altgläubigen zu legalisieren, gleichzeitig aber deren Trauungsriten nicht als Sakrament anerkennen zu wollen, entpuppte sich vor dem Hintergrund der Sakramentalisierung der Ehe im Russländischen Reich als widersprüchlich. Diese Widersprüchlichkeit fand im Gesetz von 1874 Ausdruck und konnte weder in den Diskussionen gelehrter Rechtsexperten noch in den Urteilen des Kassationsdepartements aufgelöst werden.
5.1.4 Die Ziele des Gesetzes vom 19. April 1874 Die vorangegangene Diskussion hat gezeigt, dass das Gesetz vom 19. April 1874 die Ehen der Altgläubigen legalisieren und gleichzeitig ihre Trauungsriten, die von den Gemeindeleitern vollzogen wurden, nicht staatlich anerkennen sollte. Doch wieso war der Regierung an der Legalisierung altgläubiger Eheverbindungen gelegen? Die seit 1864 zu diesem Thema angestellten Überlegungen der Regierungsbeamten lassen drei Gründe für die Verabschiedung des Gesetzes von 1874 erkennen: 1) die Ausweitung der staatlichen Kontrolle über die Familienverhältnisse der Altgläubigen, 2) die Verbesserung der Informationslage der Regierung über die altgläubige Bevölkerung und 3) den Ausschluss der Orthodoxen Kirche aus den Angelegenheiten des Raskol. Im Folgenden werden diese Stoßrichtungen des Gesetzes vom 19. April 1874 erläutert und aufgezeigt, mit welchen Widersprüchen das Gesetz im Kontext des staatlichen Umgangs mit der multikonfessionellen Bevölkerung des Imperiums zu kämpfen hatte. Die Verabschiedung des Gesetzes vom 19. April 1874 war der Versuch des Staates, größere Kontrolle über die Familienangelegenheiten der Altgläubigen zu erlangen. Die Eheverbindungen der Altgläubigen galten als instabil, da sie allzu leicht wieder geschieden werden konnten. Dies hatte unter Nikolaj I. paradoxerweise dazu geführt, dass die Ehen priesterloser Altgläubigen für vor dem russländischen Gesetz ungültig erklärt worden waren. Nun sollten die Familien der Altgläubigen durch die Stärkung der staatlichen Kontrolle über ihre Eheverbindungen stabilisiert werden. Innenminister Pёtr Valuev hatte vor dem Komitee von 1864 die Nichtanerkennung der Ehen der Raskol’niki als nutzlos bezeichnet. Dadurch werde das Familienleben eines großen Teils der russischen Untertanen zerstört und die fehlende juristische Regelung der Ehen schaffe Möglichkeiten für Willkür und unsittliches Verhalten unter den Altgläubigen. Daher befand das Komitee es für notwendig, »die Raskol’niki zu normaleren Bedingungen des Familienlebens zu führen, die mit den Grundlagen des staat-
252 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 lichen Aufbaus in Einklang stehen.«235 Diese Zielsetzung des Gesetzes, welches von dem Komitee 1864 entworfen worden war, wurde in einer Zirkularvorschrift des livländischen Gouverneurs an die Kreisleiter und Polizeimeister vom 8. Oktober 1899 wortwörtlich wiederholt.236 Das Gleiche galt für die Legalisierung der Kinder von Altgläubigen, deren Ehen registriert worden waren. Die automatische Stigmatisierung ihrer Kinder als illegitim wurde durch die Eintragung ihrer Geburt in die Bücher aufgehoben. Nikolaj Ivanovskij interpretierte diese Neuerung ebenfalls als Maßnahme zur Stabilisierung der Eheverbindungen zwischen Altgläubigen. Denn die Bestimmung, dass außerehelich gezeugte Kinder den Status illegitimer hatten, war nicht speziell zur Repression der Altgläubigen geschaffen worden. Sie galt für die Kinder sämtlicher Einwohner des Reiches und sollte außerehelichen Geschlechtsverbindungen vorbeugen. Ivanovskij schreibt, dass sich das Ziel dieses Gesetzes im Fall der Altgläubigen ins Gegenteil verkehrt habe, da den Altgläubigen aufgrund der prinzipiellen Ungültigkeit ihrer Ehen nicht die Möglichkeit gegeben sei, eheliche – und damit legitime – Kinder zu zeugen. Dies habe die Lage der Altgläubigen im Russländischen Reich weiter verschlechtert und der Instabilität ihrer Familien Vorschub geleistet.237 Diesem Umstand sollte 1874 Abhilfe geschaffen werden. Ein weiteres Ziel des Gesetzes vom 19. April 1874 war die Verbesserung der demografischen Informationen der Regierung über die Raskol’niki. In Kapitel 3.2.2. wurde gezeigt, dass das Fehlen von Matrikelbüchern die livländische Lokalverwaltung vor große Probleme bei der Identifizierung altgläubiger Individuen stellte. Dies hatte in der Zeit unter Nikolaj I. dazu geführt, dass die Bestrafung der Altgläubigen für so genannte »Verbrechen gegen den Glauben« (prestuplenija protiv very) im Einzelfall kaum durchzusetzen war. Bereits im Jahr 1860 hatte Vladimir Sollogub kritisiert, dass den Altgläubigen eine Reihe von Vorteilen aus ihrer außerrechtlichen Stellung erwuchsen. Diese Kritik wiederholte Valuev vor dem Komitee Panins im Jahr 1864. Ziel der neu eingeführten Matrikelbücher für die Altgläubigen war laut Valuev, dass sie Missbräuchen vorbeugen und die religiösen Dissidenten denselben Regeln unterwerfen sollten, denen auch alle anderen Bewohner Russlands unterlagen.238 Die Altgläubigen sollten auf diese Weise stärker in die zivile Verwaltung integriert werden; sie sollten jene Rechte und vor allem Pflichten bekommen, die die übrigen Untertanen auch hatten. Zu diesen Pflichten gehörte die Abgabe von Rekruten: Im Zusammenhang mit der am 1. Januar 1874 eingeführten Reform der Rekrutenaushebung für die russländische Armee, stellte die Unwissenheit der Regierung 235 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta. Kopija 3. 236 LVVA F. 51. op. 1, d. 12137, l. 46. 237 Ivanovskij: Po povodu priznanija 68 f. 238 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta 41.
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über ihre altgläubigen Untertanen die Ausweitung des neuen Modus der Rekrutenaushebung auf die altgläubige Bevölkerung in Frage.239 Diesem Problem sollte mit dem Gesetz von 1874 durch die Verbesserung der Statistiken über die altgläubige Bevölkerung Abhilfe geschaffen werden. Zwar erklärte das 1874 verabschiedete Gesetz die Registrierung von Ehen, Geburten und Todesfällen nicht für obligatorisch. Im Gesetzesentwurf des Komitees unter Vorsitz Panins aus dem Jahr 1864 war noch vorgesehen gewesen, dass Personen, die Geburten ihrer Kinder oder Todesfälle unter ihren Verwandten nicht bei der Polizei melden, eine Strafe bezahlen mussten, deren Höhe von ihrem Stand und damit ihrem finanziellen Wohlstand abhing.240 Im Gesetz vom 19. April 1874 war davon nicht mehr die Rede. Stattdessen stand es den Altgläubigen frei, ihre Ehen und Kinder registrieren zu lassen. Doch war der Regierung nach Verabschiedung des Gesetzes sehr daran gelegen, dass sich möglichst viele Altgläubige registrieren ließen, wie in Kapitel 5.1.5. gezeigt wird. Die Vermutung liegt nahe, dass die Regierung davon ausging, die Altgläubigen würden von diesem Angebot Gebrauch machen, da sie dadurch ihre zivilrechtliche Lage und insbesondere diejenige ihrer Kinder erheblich verbessern konnten. Das dritte Ziel, welches die Regierung seit den 1860er Jahren gegenüber den Altgläubigen verfolgte und welches unter anderem im Gesetz von 1874 Niederschlag fand, war der Ausschluss der Orthodoxen Kirche aus den Verwaltungsangelegenheiten des Raskol. Unter Nikolaj I. waren sowohl zivile Beamte wie auch Würdenträger der Orthodoxen Kirche an den Angelegenheiten der Altgläubigen beteiligt gewesen.241 Seit Ende der 1850er Jahren wurde die Zugehörigkeit zum alten Glauben nicht mehr ohne Weiteres von den führenden Beamten mit politischer Illoyalität in Verbindung gebracht;242 stattdessen hatte sich bei Vladimir Sollogub, Nikolaj Leskov, Pёtr Valuev und anderen die Überzeugung durchgesetzt, dass der Widerstand der Altgläubigen gegenüber der Regierung und insbesondere der orthodoxen Geistlichkeit eine Konsequenz ihrer Verfolgung durch die Obrigkeiten war. Dabei war ein Großteil der repressiven Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen von orthodoxen Geistlichen initiiert worden, wodurch die Abneigung der religiösen Dissidenten gegenüber der Orthodoxen Kirche geschürt wurde. Diese Erfahrung hatte in den 1860er Jahren zu einem Ende der Verfolgungen der livländischen Altgläubigen und dem Verzicht auf die Anwendung so genannter administrativer, das heißt polizeistaatlicher, Maßnahmen geführt, ohne dass dieser neue Kurs in der Gesetzgebung Niederschlag gefunden hatte. Nach der Verabschiedung des Gesetzes von 1874 239 S. Kapitel 5.1.2. 240 Kaufleute sollten mit einer Strafe in Höhe von 50 Rubeln, Meščane zehn Rubeln und Landbewohner zwei Rubeln belegt werden. [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta 52. 241 S. Kapitel 3.2.2. 242 S. Kapitel 4.3.
254 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 wurde die Vorstellung, dass Verfolgungen den Widerstand der Raskol’niki gegenüber den Obrigkeiten steigern würden, zur Verteidigung des Gesetzes gegen Kritiker genutzt, die vor allem aus dem Umkreis der Orthodoxen Kirche kamen. Der Raskol-Experte Nikolaj Ivanovksij nahm das neue Gesetz mit dem Hinweis darauf in Schutz, dass jede repressive Maßnahme von den Altgläubigen zu ihrem Vorteil genützt würde und die orthodoxe Mission unter ihnen behindere.243 Die Anerkennung ihrer Eheverbindungen mittels Registrierung in den polizeilichen Matrikelbüchern sei daher nicht nur im Sinne der Regierung – wie Leskov und Sollogub in den 1860er Jahren argumentiert hatten –,244 sondern auch im Sinne der Orthodoxen Kirche.245 Die Hoffnung, die mit der Legalisierung der Ehen verbunden war, war, dass die Altgläubigen dieses Recht als Versöhnungsangebot der Regierung verstehen und ihren Widerstand gegenüber dem Staat und der Orthodoxen Kirche senken würden. Um die orthodoxe Geistlichkeit aus Fragen der Eheschließung und -scheidung unter den Altgläubigen auszuschließen, wurden diese Angelegenheiten den zivilen Gerichten unterstellt. Zwar hing dies auch damit zusammen, dass die Altgläubigen über keine anerkannten geistlichen Gerichte verfügten, die im Falle der Orthodoxen Kirche und aller staatlich anerkannter Glaubensbekenntnisse für Ehefragen zuständig waren, doch hätten die Eheschließungen und -scheidungen auch den geistlichen Gerichten der Staatskirche unterstellt werden können. Die Altgläubigen wurden jedoch bewusst aus der Jurisdiktion der Kirche entfernt. Für Verstöße gegen das Eherecht sollten sie nach den im Gesetzeskodex festgelegten Bestimmungen bestraft werden; aus darin festgelegten Bestrafungen durch die Orthodoxe Kirche, wie der Klosterhaft oder der Bußstrafe, wurden sie jedoch explizit ausgenommen.246 Die Unterstellung altgläubiger Eheangelegenheiten unter die zivilen Gerichte bedeutete außerdem den Übergang von einem polizeistaatlichen Umgang mit den Altgläubigen zu einem rechtsstaatlichen. Denn das Gesetz von 1874 gewährte den Altgläubigen zum ersten Mal seit der Zeit Nikolajs I. vor Gericht einklagbare Rechte. Insbesondere in Zusammenhang mit der Justizreform, die durch Schaffung von Geschworenengerichten und der etablierten relativen Unabhängigkeit der Richter von hohen Beamten und dem Zaren selbst das Prinzip der Rechtsstaatlichkeit stärkte, entzog die Unterstellung der Eheangelegenheiten unter die zivilen Gerichte die Altgläubigen der Willkür der Regierung. 243 Ivanovskij: Po povodu priznanija 70–74. 244 S. Kapitel 4.2.2. 245 Ivanovskij argumentiert, dass repressive Maßnahmen in Familienangelegenheiten der Altgläubigen lediglich nominelle Konvertiten hervorgebracht hätten, die der Kirche keinen Nutzen brächten und die eine erfolgreiche Mission unter den Altgläubigen behinderten. Daher könne das Gesetz von 1874 entgegen anderslautenden Befürchtungen auch für die Orthodoxe Kirche positive Folgen haben. Ivanovskij: Po povodu priznanija 70–76. 246 Kalašnikov: Sbornik zakonov 31.
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Um die genannten Ziele erreichen zu können, musste die Regierung Kommunikationskanäle zwischen dem Regierungszentrum und den Gemeinden der Altgläubigen – zumindest zu den Individuen – schaffen und ihnen Rechte gewähren, die im Gegenzug deren Pflichten gegenüber dem Staat begründeten. Nur dann konnte die Regierung regulierend in die Angelegenheiten ihrer altgläubigen Untertanen eingreifen. Gleichzeitig sollten die Raskol’niki nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt werden. Im Fall des Gesetzes von 1874 verhinderte dieser Umstand die Anerkennung der Nastavniki der priesterlosen Altgläubigen als geistliche Personen. Im Fall der so genannten ausländischen Bekenntnisse kooptierte die Regierung deren religiöse Experten zum Zwecke der Matrikelbuchführung und als Vermittler, die die staatliche Politik auf die Gemeinden übertragen und religiöses wie auch ziviles Recht innerhalb der Gemeinden durchsetzten. Dieses »multiconfessional establishment«247 erlaubte der Regierung auch die Umstände für Eheschließungen und -scheidungen zu standardisieren sowie die religiösen Ehevorschriften der jeweiligen Glaubensgemeinschaft gleichmäßig in den einzelnen Gemeinden anwenden zu lassen. Eine Ausnahme war das Judentum. Dort stieß ein solcher Versuch auf das Problem, dass es keine institutionelle Hierarchie und keinen institutiona lisierten Klerus gab.248 Es gab im Unterschied zum Katholizismus oder dem Luthertum keine professionalisierte Gruppe mit institutionellen, Bildungs- und Erbansprüchen auf ein Monopol der Interpretation des jüdischen Gesetzes und des Vollzugs von Kasualien.249 Im Judentum konnten Ehen ohne Teilnahme eines Rabbiners geschlossen werden; es gab keine Trauungszeremonie, sondern lediglich zwei Zeugen für die Eheschließung. Die Ehe wurde nicht registriert, weshalb die Regierung keine Informationen über den Familienstand jüdischer Untertanen hatte.250 Die Regierung reagierte auf diesen Umstand mit der Schaffung des Amtes eines Kronrabbiners, der von der Gemeinde auf drei Jahre gewählt und vom zuständigen Gouverneur bestätigt wurde.251 Seit 1826 hatten die Kronrabbiner die Pflicht, die Matrikelbücher zu führen, und seit 1835 durften sie und ihre Assistenten, als einzige Mitglieder der jüdischen Gemeinden, Ehen trauen und scheiden.252 Trotz aller Probleme, die die Institution des Kronrabbiners in der Praxis bereitete,253 war ein offizieller jüdischer Klerus geschaffen worden, der die oben genannten staatlich benötigten Verwaltungsaufgaben übernahm.254 247 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 48. 248 Freeze: Jewish Marriage 78. 249 Ebd. 81. 250 Ebd. 78–82. 251 Ebd. 96. 252 Ebd. 95–97. 253 Ebd. 106–128. 254 Ebd. 128, 283.
256 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Einen derartigen Versuch gab es im Fall der Altgläubigen nicht. Stattdessen sollte das Altgläubigentum und seine geistlichen Personen keine staatliche Anerkennung erhalten. Daher wurde bereits vom Komitee unter Vorsitz Panins im Jahr 1864 vorgeschlagen, die Matrikelbücher über die Altgläubigen von den Polizeibehörden führen zu lassen.255 Dass das Altgläubigentum nicht in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufgenommen werden sollte, führte im Gesetz vom 19. April 1874 dazu, dass die Trauungsriten der Altgläubigen keine juristische Bedeutung hatten. Kirchenrechtsexperten schlossen daraus, dass durch das Gesetz von 1874 keine Registrierung bestehender Ehen eingeführt worden sei, sondern eine zivile Form der Eheschließung, die aufgrund der Sakramentalisierung der Ehe als instabil galt und bis zum Ende des Imperiums für keine andere Bevölkerungsgruppe des Reiches eingeführt wurde. Das Gesetz von 1874 offenbart auf diese Weise die Widersprüchlichkeit des Versuches, die Altgläubigen innerhalb des »multiconfessional establishment« zu disziplinieren, sie also nach dem Vorbild des staatlichen Umgangs mit den so genannten ausländischen Bekenntnissen in die Verwaltung zu integrieren, das Altgläubigentum gleichzeitig aber nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anzuerkennen. Der Kirchenrechtsexperte Nikolaj Zaozerskij wies auf diese Widersprüchlichkeit hin, wenn er schreibt, dass man entweder den Trauungsriten der Raskol’niki die Kraft zuerkennen müsse, eine gültige Ehe zu schließen – wodurch die Ehe dann aber ab dem Zeitpunkt dieser Trauung gelten müsste und nicht erst ab dem Zeitpunkt ihrer Registrierung – und damit den Raskol auf eine Stufe mit den staatlich anerkannten Glaubensbekenntnissen hebe. Oder man erkenne die Registrierung der Ehen als Vorgang an, der diese Ehe überhaupt erst begründet,256 wodurch eine Form der zivilen Ehe mit Vertragscharakter für die Raskol’niki eingeführt worden wäre.257 Nur in diesem letzten Fall könne man den krassen Widersprüchen in der geltenden Gesetzgebung entgehen, urteilt Zaozerskij.258 Dies führte dazu, dass die Altgläubigen auch nach 1874 aufgrund ihres Zugangs zu einer zivilen Form der Eheschließung und der Weigerung des Staates, die Legitimität ihrer religiösen Riten anzuerkennen, von den Anhängern der offiziell anerkannten Glaubensbekenntnisse geschieden blieben.259
255 [–]: Obščij žurnal vysočajše utverždennago, v 6-ej den’ fevralja 1864 g., osobago Vremennago Komiteta 60. 256 Zaozerskij: Čto takoe raskol’ničij brak 278. 257 Suvorov: Graždanskij brak 134. 258 Zaozerskij: Čto takoe raskol’ničij brak 278. 259 Engelstein: The keys to happiness 29.
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5.1.5 Die Implementierung des Gesetzes vom 19. April 1874 in Livland Ob die Regierung die Ziele erreichen konnte, die sie mit dem Gesetz von 1874 verfolgte, hing davon ab, ob die Altgläubigen ihre Ehen und Kinder auch tatsächlich registrieren ließen. Im Folgenden wird untersucht, ob dies in Livland der Fall war und welche Hindernisse sich der Regierung einerseits, und den registrierungswilligen Altgläubigen andererseits in den Weg stellten. Die Gründe für den Misserfolg des Gesetzes vom 19. April 1874 Die Regierung sorgte sich nach Verabschiedung des Gesetzes vom 19. April 1874 darum, dass weniger Altgläubige bereit waren, ihre Lebensdaten bei den Polizeibehörden zu registrieren als erhofft. Die polizeilichen Matrikelbücher für das Jahr 1875 sollten in vielen Gouvernements auch für das Jahr 1876 benutzt werden und erst Anfang des Jahres 1877 zur Revision eingeschickt werden, weil von den Altgläubigen nur sehr wenige Registrierungen vorgenommen worden waren.260 Einer der Gründe für die geringe Anzahl an Registrierungen waren Vorbehalte der Altgläubigen, sich selbst als Raskol’niki zu bezeichnen. Artikel 9 des Gesetzes vom 19. April 1874 forderte von ihnen, dass sie vor Eintragung einer Ehe in die Bücher eine Erklärung unterschreiben mussten, dass sie von Geburt an dem Raskol angehörten.261 Tatsächlich vermieden die Altgläubigen in ihren Bittschriften an die Obrigkeiten den Begriff Raskol oder Raskol’niki.262 Aus diesem Grund sollten die Altgläubigen laut Innenminister Timašev nicht länger eine Erklärung abgeben müssen, dass sie dem Raskol angehörten, sondern darüber, »dass sie nicht in den orthodoxen Matrikelbüchern registriert sind oder denjenigen eines anderen staatlich anerkannten Bekenntnisses, weder von Geburt, noch durch Taufe, noch bezüglich der Ehe oder durch Bekehrung oder Anschlusses an diese, noch durch andere Ereignisse, die ihre Zugehörigkeit zur Orthodoxie oder einem anderen staatlich anerkannten Bekenntnis bedeuteten.«263 Die Matrikelbücher wurden 1877 ebenfalls mit dieser sperrigen Bezeichnung versehen, die den Begriff Raskol vermied, und gleichzeitig nicht von Altgläubigentum 260 Zirkularvorschrift des Innenministeriums an die Gouverneure vom 12.12.1875. EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 54. 261 Zirkularvorschrift des Innenministeriums an die Gouverneure vom 8.1.1877. EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 64 f. 262 Beispielsweise bat der Altgläubige Fedosij Vasil’ev Zubanov die Livländische Gouvernementsverwaltung in einer Bittschrift vom 7.10.1885, ihm ein Exzerpt aus dem »altgläubigen Matrikelbuch« (iz staroobrjadčeskoj metričeskoj knigi) für seinen Sohn zuzuschicken. Er vermied die Bezeichnung Raskol. EAA F. 297, op. 1, d. 29, l. 41. 263 EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 64 f. Hervorhebung im Original.
258 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 sprach oder eine Auflistung all jener Sekten beinhaltete, die unter der Bezeichnung Raskol subsumiert wurden.264 Dies wäre einer staatlichen Anerkennung des Altgläubigentums und jener Sekten zu nahe gekommen. Für die geringe Zahl der Registrierungen macht Varvara Ivanovna JasevičBorodaevskaja (1861–1920) die gesetzlich vorgesehene Einschränkung verantwortlich, dass nur diejenigen Altgläubigen ihre Ehen registrieren durften, die von Geburt an dem Raskol angehörten. Aufgrund dieser Bestimmung habe das Gesetz vom 19. April 1874 nur von wenigen Altgläubigen genutzt werden können.265 In ihrer Monografie »Kampf für den Glauben«266 schreibt Jasevič- Borodaevskaja, dass das Gesetz vom 19. April 1874 einen Großteil der religiösen Dissidenten aus dem Kreis der Registrierungsberechtigten ausschließe, da diejenigen Altgläubigen, die in einer orthodoxen Kirche getauft worden waren, und ihre Kinder – selbst wenn diese von altgläubigen Gemeindeleitern getauft worden waren – als Mitglieder der Orthodoxen Kirche angesehen wurden. Folglich hätten sie nicht das Recht gehabt, ihre Ehen und Geburten in die Matrikelbücher einzutragen und diese dadurch zu legitimieren.267 Diese Einschränkung galt dem Schutz der Orthodoxie vor Übertritten von Kirchenmitgliedern zum Raskol. Denn die Konvertiten konnten aufgrund der gesetzlich festgelegten Einschränkung nach wie vor keine gültigen Ehen schließen und unterlagen weiterhin aller rechtlicher Einschränkungen, die die außereheliche Stellung mit sich brachte.268 Dadurch verbesserte das Gesetz von 1874 nicht die rechtliche Lage der Ehen von Konvertiten. Irina Paert schließt sich Jasevič-Borodaevskajas Meinung an. Sie schreibt, dass die Altgläubigen bei der Polizei einen Nachweis ihrer Kirchengemeinde beibringen mussten, dass sie nicht der Orthodoxen Kirche angehörten, was all jenen nicht möglich war, die sich selbst und ihre Kinder hatten orthodox taufen lassen und dadurch in den orthodoxen Gemeindebüchern registriert waren.269 Dagegen lässt sich einwenden, dass diese Altgläubigen auch in der Orthodoxen Kirche hätten heiraten und dadurch juristisch gültige Ehen und Kinder haben können. Allerdings hätten sie sich dann in die Hände der orthodoxen Priester und der orthodoxen Kirchengerichte begeben, die für die Trauung und Scheidung ihrer Ehen zuständig waren. Zu diesem Schritt waren viele der Konvertiten offenbar nicht bereit,270 weil sie nur nominell und unter äußerem Druck zum orthodoxen Glauben übergetreten waren. 264 S. beispielsweise das Matrikelbuch der Dorpater Polizeiverwaltung für die Jahre 1878 bis 1888. EAA F. 1880, op. 1, d. 158. 265 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 26. 266 Jasevič-Borodaevskaja: Bor’ba za veru. 267 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 26 f. 268 Ivanovskij: Po povodu priznanija 77. 269 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 227 f. 270 Irina Paert schreibt, dass sich die Altgläubigen selbst über die entsprechenden Bestimmungen des Gesetzes vom 19.4.1874 beschwerten. Ebd. 227.
Die Legalisierung altgläubiger Ehen 259
Im Gouvernement Livland legten die Altgläubigen des Kreises Dorpat besonders große Zurückhaltung bei der Eintragung ihrer Lebensdaten in die polizei lichen Matrikelbücher an den Tag. Noch im Jahr 1903 schrieb die Verwaltung der Volost’ Votiver (estn. Vōtikvere), dass die dort ansässigen Altgläubigen in der ersten Hälfte des Jahres keine einzige Eintragung in den Matrikelbüchern hatten vornehmen lassen. Dabei lebten zu jener Zeit 182 Altgläubige auf dem Gebiet Votivers.271 Der Grund für die fehlenden Registrierungen sei die Entfernung des Wohnorts der Altgläubigen von der Volost’-Verwaltung, die etwa 20 Werst betrug. Es sei schwierig für die Altgläubigen, diese Reise zusammen mit je zwei Zeugen für eine Eintragung ihrer Ehe und ihrer Kinder zu unternehmen.272 Da der Großteil dieser Altgläubigen im Dorf Tichotka lebte, welches von der Verwaltung der Volost’ Kazapel’ nur etwa einen Werst entfernt lag, schlug der Kreisleiter von Jur’ev273 vor, die Führung der Matrikelbücher über die Raskol’niki der Volost’ Votiver an die Verwaltung von Kazapel’ zu übergeben.274 Noch schwerer wog, dass sich die Volost’-Verwaltungen nach der Reform der Polizeibehörden am 9. Juni 1888275 weigerten, die Matrikelbücher zu führen, und die Altgläubigen stattdessen zu den zuständigen Polizeibehörden schickten. Doch diese befanden sich zwischen 67 und 80 Werst von den Wohnorten der Altgläubigen am Peipussee entfernt, so dass zwischen 1890 und 1902 nur 18 Geburten registriert wurden. Die Altgläubigen selbst sagten aus, dass sie eine so weite Reise aufgrund ihrer Armut nicht unternehmen könnten.276 Dieses praktische Problem stand einer erfolgreichen Umsetzung des Gesetzes von 1874 in den ländlichen Gebieten Livlands im Wege. Große Entfernungen zu den Polizeibehörden stellten in den Städten kein Problem dar. Staatlichen Statistiken zufolge lebten in Dorpat nur rund 400 Altgläubige,277 dementsprechend wenige Registrierungen wurden dort vorgenommen.278 271 EAA F. 297, op. 1, d. 4530, l. 7 f. 272 Ebd., l. 7ob. 273 Stadt und Kreis Dorpat waren im Jahr 1893 in Jur’ev umbenannt worden. 274 EAA F. 297, op. 1, d. 4530, l. 12–13. 275 Gesetz Nr. 5308 vom 9.6.1888 »Über die Reform der Polizei in den baltischen Gouvernements« besagte in Artikel 9, dass die Führung der Matrikelbücher der Raskol’niki in den Kreisen den Assistenten der Kreisleiter und in den Städten den Polizei- und Reviervorstehern übergeben wird. In Orten, wo es solche nicht gibt, sollen die Polizeiaufseher die Matrikel bücher führen. Die Revision und Aufbewahrung der Bücher oblag den Kreisleitern und Polizeimeistern. PSZ III, Bd. 8, Nr. 5308, 343–347 (9.6.1888). Dies sollte jedoch nicht bedeuten, dass nicht weiter bei den Volost’-Verwaltungen Anträge auf die Registrierung von Geburten, Ehen und Todesfällen gestellt werden durften. EAA F. 297, op. 1, d. 4530, l. 16. 276 Schreiben des Kreisleiters von Jur’ev an die Livländische Gouvernementsverwaltung vom 28.8.1903. EAA F. 297, op. 1, d. 4530, l. 15–16. 277 Schreiben des Generalgouverneurs an den Innenminister von Dezember 1874. EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 39–42, hier l. 40. 278 Ein Matrikelbuch der Dorpater Polizeiverwaltung verrät uns, dass in den Jahren 1878 bis 1888 lediglich 14 Ehen registriert worden sind. EAA F. 1880, op. 1, d. 158, l. 1–8.
260 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Anders gestaltete sich die Situation im Zentrum des Altgläubigentums in Livland. In Riga, mit geschätzt 10.000 altgläubigen Einwohnern,279 gab es so viele Registrierungen, dass die Rigaer Polizeiverwaltung 1879 zusätzliche Bücher beantragen musste, um Ehen und Geburtsfälle unter den dortigen Altgläubigen registrieren zu können.280 Die Matrikelbücher mussten alljährlich an die livländische Gouvernementsverwaltung geschickt werden. Im Jahr 1880 trafen dort jedoch nur Bücher aus der Stadt Riga ein.281 Alle anderen Kreise und Städte hatten beinahe keine Registrierungen von Geburten, Ehen oder Todesfällen zu melden. 1879 wurde in der Stadt Dorpat eine einzige Ehe in die Bücher eingetragen.282 Insgesamt wurden im Gouvernement Livland 1879 125 Ehen, 187 Geburten und sieben Todesfälle registriert,283 von denen praktisch alle aus Riga stammten. Was waren die Gründe dafür, dass die Altgläubigen in Riga in stärkerem Maße bereit waren, ihre Lebensdaten registrieren zu lassen, als die Altgläubigen in den Dörfern am Peipussee? Eine Bittschrift einiger Altgläubigen aus Riga von 1895 gibt darüber Aufschluss. Die Altgläubigen der Moskauer Vorstadt schrieben dem livländischen Gouverneur, dass der Polizeihauptmann des IV. Bezirks der Moskauer Vorstadt ihnen Ehezeugnisse nicht persönlich aushändigen, sondern stets an ihr Bethaus schicken würde. Dort müssten sie ein bis drei Rubel zahlen, um die Zeugnisse zu erhalten. Sie baten den Gouverneur dieser »Erpressung durch ihr Bethaus«284 ein Ende zu setzen. Sie würden nicht namentlich unterschreiben, weil sie sonst Verfolgungen durch den Polizeihauptmann Ščerbakov befürchteten, der ein »vollkommen böser Mensch«285 sei.286 Der genannte Ščerbakov stellte sich dieser Anschuldigung und führte aus, dass bereits vor seiner Zeit als Polizeihauptmann ein besonderes System der Lebensdatenregistrierung entwickelt worden sei: Das Grebenščikov-Armenhaus nehme alle Anträge auf Eintragung von Geburten, Ehen und Todesfällen der Altgläubigen an und schicke diese an den Polizeihauptmann. Denn »die Raskol’niki selbst 279 Schreiben des Generalgouverneurs an den Innenminister von Dezember 1874. EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 39–42, hier l. 40. 280 Schreiben der Rigaer Polizeiverwaltung an die Livländische Gouvernementsverwaltung aus dem Jahr 1879. EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 182–190. 281 EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 230–231ob. 282 Ebd., l. 260–261. 283 Ebd., l. 263. Ähnliches gilt für das Jahr 1880, in dem in Livland 56 Ehen, 39 Geburten und elf Todesfälle registriert wurden (EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 294.), davon nur sechs Ehen und zwei Todesfälle in Dorpat (EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 285.) und das Jahr 1881, in dem in Livland 58 Ehen, 94 Geburten und 28 Todesfälle registriert wurden (EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 312.), davon drei Todesfälle in Dorpat (EAA F. 297, op. 10, d. 1231, l. 311.) sowie das Jahr 1884, in dem in Livland 39 Ehen, 121 Geburten und sieben Todesfälle registriert wurden (F. 297, op. 1, d. 29, l. 29.), davon eine Ehe und zwei Todesfälle in Dorpat (F. 297, op. 1, d. 29, l. 6–7.). 284 LVVA F. 51, op. 1, d. 11732, l. 7. 285 Ebd., l. 7 f. 286 Ebd.
Die Legalisierung altgläubiger Ehen 261
machen diese Eingaben bei der Polizei ungern«.287 Dadurch müsse die Polizeiverwaltung des IV. Bezirks der Moskauer Vorstadt allerdings die Anträge auf Registrierungen in den Matrikelbüchern aller Rigaer Altgläubigen bearbeiten, unabhängig davon, in welchem Stadtteil diese lebten.288 Um diese Arbeit bewältigen zu können, sei ein Schreiber eingestellt worden. Um diesen bezahlen zu können, schicke das Grebenščikov-Armenhaus monatlich bis zu 20 Rubel an die Polizeiverwaltung. Dieses Geld stamme von Altgläubigen, die ihre Ehezeugnisse bei der Verwaltung des Armenhauses abholten und dort, abhängig von ihrem Wohlstand, kostenlos, für 30 Kopeken, 50 Kopeken, einem oder drei Rubeln ausgehändigt bekämen.289 Auf diese Weise war in Riga ein System geschaffen worden, welches die problematische Beziehung zwischen den Altgläubigen und den Repräsentanten des Staates umging. Indem die Verwaltung des Grebenščikov-Armenhauses mit den Polizeibehörden verkehrte, konnten die Gemeindemitglieder diesen Kontakt vermeiden und hatten weniger Hemmungen, ihre Lebensdaten zu registrieren. Darüber hinaus mussten sie keine langen, kostspieligen Wege zurücklegen, um ihre Eingaben bei der Polizeibehörde machen zu können, wie es im Kreis Dorpat der Fall war. Es liegt nahe, nach ökonomischen Motiven für den Unterschied der Anzahl an Registrierungen in der Stadt Riga und dem ländlichen Kreis Dorpat zu fragen. Hauptmotivation zur Registrierung von Ehen der Einwohner Rigas scheint die Legitimierung der eigenen Kinder gewesen zu sein. Am 9. November 1903 berichtete der Polizeihauptmann des IV. Bezirkes der Moskauer Vorstadt dem Polizeimeister von Riga, dass zwischen 1899 und 1903 durchschnittlich 70 Ehen pro Jahr registriert worden seien, diese Zahl aber sicher verdoppelt werden könne, weil die meisten Altgläubigen in illegitimen, nicht registrierten Ehen lebten. Was die Registrierung von Kindern anging, seien sämtliche Kinder, die aus registrierten Ehen stammten, ebenfalls in die Bücher eingetragen worden.290 Die Registrierung der Ehe und der daraus entsprungenen Kinder sollte insbesondere für Kaufleute und Händler, die in den Gilden registriert waren, von Vorteil gewesen sein. Denn die Nachkommen galten nach ihrer Registrierung nicht länger als illegitim und gehörten daher nicht automatisch den steuerpflichtigen Ständen, sondern dem Stand ihres Vaters an, was zumindest bis zur Steuerreform 1887 ein erheblicher Vorteil war.291 Außerdem genossen sie 287 Ebd., l. 8ob. 288 Ebd., l. 8–9. Anfang des 20. Jahrhunderts lebten Rigaer Altgläubige im 1. und 3. Petersburger Bezirk Rigas, im 2. und 4. Bezirk der Moskauer Vorstadt und im 1. und 2. Mitauer Bezirk. Entwurf eines Berichts des livländischen Gouverneurs an den Innenminister vom 7.9.1904. LVVA F. 51, op. 1, d. 26100, l. 33. 289 LVVA F. 51, op. 1, d. 11732, l. 8–9. 290 LVVA F. 51, op. 1, d. 26100, l. 11. 291 Veremenko: Dvorjanskaja sem’ja 541.
262 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 das Recht, die Erbfolge anzutreten,292 was für die Weitergabe des Unternehmens an die Nachkommen und des erwirtschafteten Wohlstands notwendig war.293 Für die Zukunft der Kinder von Kaufleuten war eine Registrierung ebenfalls notwendig, weil die Bewohner des Russländischen Reiches ohne Matrikelbucheintragung keine Freizügigkeit im Imperium genossen – welche für den Handel unabdingbar war –, sich nicht in den Gilden registrieren konnten und keine höheren Schulen besuchen durften.294 Ob die Annahme stimmt, dass in erster Linie in den Kaufmannsgilden eingeschriebene Altgläubige ihre Ehen registrierten, ist aufgrund des Fehlens der Matrikelbücher leider nicht zu überprüfen. Zweifel an der These lässt allerdings ein Matrikelbuch für die Raskol’niki der Stadt Dorpat für die Jahre 1879 bis 1888 aufkommen. Darin sind insgesamt 14 Ehen registriert, zwölf davon zwischen Meščane, eine zwischen Bauern und eine zwischen einem Soldaten und einer Meščanka.295 Offenbar erhofften sich auch die Angehörigen der unteren städtischen Schicht und die Landbevölkerung Vorteile von einer Registrierung ihrer Ehen und Kinder. Dass der Großteil der in Riga registrierten Ehen von altgläubigen Kaufleuten stammen könnte, ist außerdem deswegen unwahrscheinlich, da sich insbesondere Kaufleute unter den Repressionen der Regierung Nikolajs I. dazu veranlasst sahen, zur Orthodoxie oder dem Edinoverie überzutreten. Diesen nominell zur Staatskirche gehörigen Altgläubigen stand eine Registrierung ihrer Ehen und Kinder in den Matrikelbüchern der Polizei nicht offen. ✴ ✴ ✴ Den polizeilichen Matrikelbüchern war weniger Erfolg beschieden, als sich die Regierung erhofft hatte. Zu stark waren die Vorbehalte der Altgläubigen gegenüber dem Kontakt mit staatlichen Obrigkeiten. Dass sie sich im ersten Jahr nach Verabschiedung des Gesetzes selbst als Raskol’niki bezeichnen mussten, um ihre Ehen und Kinder registrieren zu können, könnte zu der Ablehnung der Matrikelbücher durch die Altgläubigen beigetragen haben. Im Kreis Dorpat war die institutionelle Struktur der Polizeibehörden zu schwach. Die größtenteils in ärmlichen Verhältnissen lebenden Altgläubigen in den Dörfern am Peipussee konnten weite Reisen zur nächstgelegenen Polizeibehörde nicht unternehmen. Nur in der Hauptstadt der Ostseegouvernements stellten sich diese Probleme nicht. Die Gemeindemitglieder konnten ihre Eingaben zur Registrierung von Ehen und Kindern bei der Verwaltung des Armenhauses machen. Sie mussten dazu weder weite Wege zurücklegen noch direkt mit den Polizeibehörden in Kontakt treten. 292 Ebd. 526 f. 293 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 226 f. 294 Avrutin: Jews and the Imperial State 54. 295 EAA F. 1880, op. 1, d. 158.
Die Legalisierung altgläubiger Ehen 263
Die Aneignung des Gesetzes vom 19. April 1874 durch die Altgläubigen Altgläubige, die ihre Ehen bei der Polizei hatten registrieren lassen, trugen in einigen Fällen ihre Ehestreitigkeiten vor Gericht. Im Folgenden werden Gerichtsakten daraufhin untersucht, ob die Altgläubigen von ihren neuen Familienrechten Gebrauch machten, in welchen Fällen sie vor Gericht zogen und wie die Gerichte in diesen Fällen urteilten. Die untersuchten Fälle stammen aus dem Rigaer Magistrat, dem die Eheangelegenheiten der Altgläubigen in Livland bis zur Einführung der Justizreform in den Ostseegouvernements im Jahr 1889 unterlagen, und dem Rigaer Bezirksgericht, welches seit 1889 zuständig war. Am 10. Juni 1899 erreichte das Rigaer Bezirksgericht die Klage der Anna Evgenievna Mikulina, geb. Kolpakova, auf Scheidung ihrer Ehe. Am 14. Juli 1892 war ihre Ehe mit Ivan Fadeev Mikulin in den Polizeimatrikelbüchern eingetragen worden. Doch schon bald nach der Eheschließung zerbrach die Beziehung und die Eheleute lebten seit 1893 getrennt voneinander. Die Klägerin, die als Kontoristin bei der Riga-Orlov Eisenbahn arbeitete und ihren Lebensunterhalt durch diese Arbeit selbst bestritt, klagte ihren Ehemann des Ehebruchs an. Sie wollte ihre Ehe aufgrund der begangenen Untreue scheiden lassen.296 Tatsächlich bestätigte der Volost’-Älteste von Kaugershof (im 2. Bezirk des Kreises Volmar gelegen), Peter Stirn, dass Ivan Fadeev Mikulin in seiner Wohnung zusammen mit der Prostituierten Maja Sarv gewohnt und sie zusammen in einem Bett geschlafen hätten. Dies könne von dem Hauswirt Jan Lodzin und dem Landarbeiter Pёtr Nejvald bestätigt werden.297 Der Angeklagte Ivan Mikulin reichte eine Gegenklage ein, in der er seine Ehefrau ebenfalls des wiederholten Ehebruchs beschuldigte. Zuletzt habe sie zusammen mit Iosif Iosonnovič Ul’rich eine Liebesbeziehung geführt, weshalb die Ehe aufgrund ihrer Schuld geschieden werden müsse.298 Diese Anschuldigung konnte von den vorgeladenen Zeugen jedoch nicht bestätigt werden. Das Rigaer Bezirksgericht urteilte am 2. April 1902 daher, dass die Ehe zwischen Anna Mikulina und Ivan Mikulin bald nach ihrer Registrierung durch die Schuld des Angeklagten zerbrochen sei. Die Ehe sollte aus diesem Grund geschieden und die Prozesskosten von dem Angeklagten getragen werden.299 Ein ähnlicher Fall wurde 1906 vor dem Rigaer Bezirksgericht verhandelt. Die Einwohnerin Rigas, Aleksandra Paramonova, geb. Vasil’eva, klagte auf Schei 296 EAA F. 416, op. 1, d. 350, l. 1–2. 297 Ebd., l. 6. 298 Ebd., l. 18 f. Außerdem fand im Urteil des Bezirksgerichts der Umstand Erwähnung, dass Anna Mikulina ihren Lebensunterhalt durch ihre eigene Arbeit verdiente. Ebd., l. 74–75. Dies war auch für die Entscheidungen der Kanzlei für die Annahme von Bittschriften, ob eine Ehe getrennt werden sollte, von großer Bedeutung. Engel: Breaking the Ties 153. Insgesamt scheinen die zivilen Gerichte ihren Urteilen ähnliche Wertvorstellungen zugrunde gelegt zu haben, wie die Beamten der genannten Kanzlei. 299 EAA F. 416, op. 1, d. 350, l. 74–75.
264 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 dung ihrer Ehe mit Mark’jan Nikitin Paramonov, die am 13. November 1894 in St. Petersburg geschlossen worden war. Aleksandra Paramonova schilderte ihre Situation folgendermaßen: [Bereits im März 1895] lernte mein Mann eine gewisse Fekla Serova kennen, überließ mich der vollkommenen Willkür des Schicksals in einer fremden Stadt ohne Aufenthaltsgenehmigung und ohne jegliche Mittel zum Leben, begann mit ihr zusammen zu leben und hat mit seiner Konkubine [sožitel’nica] bereits vier Kinder.300
Die Klägerin selbst hatte von ihrem Ehemann eine Tochter namens Vera, deren Legitimität sie im Jahr 1903 vor Gericht hatte anerkennen lassen, damit diese die nötigen Dokumente für den Schulbesuch bekommen konnte. Ihr Mann habe sie in den letzten elf Jahren benachteiligt, wo er nur konnte. Er habe ihr keine Erlaubnis erteilt, Dokumente für Inlandsreisen zu bekommen, und unterstütze sie und seine Tochter auch nicht finanziell. Nun seien ihre Eltern gestorben und hätten ein Erbe von beinahe 2.000 Rubeln hinterlassen. Ihr Mann sei daraufhin von St. Petersburg nach Riga gezogen, um dieses Erbe für sich zu beanspruchen. Die Klägerin Aleksandra Paramonova bat das Bezirksgericht nun, ihre Ehe scheiden zu lassen.301 Nur durch die Scheidung ihrer Ehe könne sie eine Aufenthaltsbescheinigung bekommen, hätte die Möglichkeit, Geld für sich und die Tochter zu verdienen und würde von der Willkür ihres Mannes befreit, so dass sie diesen nicht bestechen müsse, um die Erlaubnis für den Erhalt eines Ausweises zu bekommen.302 Sie brachte drei Zeugen vor, die aussagten, dass Mark’jan Paramonov die Klägerin nur geheiratet habe, weil er auf eine gute Mitgift gehofft hatte. Nachdem diese ausgeblieben war, habe er A leksandra Paramonova verlassen und lebe seitdem mit Fekla Serova zusammen.303 Der Angeklagte verteidigte sich mit der Gegenanschuldigung, dass auch seine Frau Ehebruch begangen habe.304 Daher sei sie für das Zerbrechen der Ehe verantwortlich zu machen und schuldig zu sprechen.305 Das Bezirksgericht entschied in einem Urteil vom 31. August 1907, dass der Klägerin Recht gegeben werde, da ihr Ehemann den begangenen Ehebruch nicht leugne. Daher seien auch die Zeugen des Angeklagten nicht angehört worden, da diese lediglich aussagen sollten, dass Aleksandra Paramonova selbst an der Zerrüttung der Ehe schuld gewesen sei. Dies spiele jedoch keine Rolle, weil die Ehe aufgrund des unwiderlegten Ehebruchs Mark’jan Paramonovs geschieden werde.306
300 LVVA F. 115, op. 15, d. 1678, l. 1 f. 301 Ebd. 302 Ebd., l. 40ob. 303 Ebd., l. 25–26. 304 Ebd., l. 27 f. 305 Ebd., l. 32ob. 306 Ebd., l. 47 f.
Die Legalisierung altgläubiger Ehen 265
Altgläubige, die ihre Ehen in den Matrikelbüchern der Polizei registriert hatten, konnten ihre Ehen vor den zivilen Gerichten scheiden lassen. Dies war eine Folge der Unterstellung der Eheschließung und -scheidung der Altgläubigen unter die zivilen Gerichte. Den Anhängern der Orthodoxen Kirche und der staatlich anerkannten Religionen stand diese Möglichkeit nicht offen. Ehescheidungen und -annullierungen unterlagen den religiösen Institutionen des jeweiligen Bekenntnisses.307 Im Fall der orthodoxen Einwohner des Russländischen Reiches bedeutete dies, dass sie ihre Ehen nur sehr schwer durch Scheidung oder Annullierung auflösen konnten. Denn durch die Betonung des Sakramentscharakters der Ehe und die Vorstellung, dass nur stabile Familien gesellschaftliche Stabilität garantierten, war die Orthodoxe Kirche Ehescheidungen und -annullierungen gegenüber zurückhaltend. Gregory Freeze zeigt, dass im gesamten Russländischen Reich in den Jahren von 1836 bis 1860 jährlich nur durchschnittlich 32,8 Eheannullierungen308 und 85 Ehescheidungen vorgenommen wurden.309 Ehetrennungen wurden jedoch häufiger zugelassen. Diese unterschieden sich von Ehescheidungen und -annullierungen dadurch, dass sie den Ehepartnern lediglich erlaubten, nicht zusammen leben zu müssen310 und den Ehefrauen ein separater Ausweis ausgestellt wurde,311 wodurch sie ein eigenständiges Leben in Unabhängigkeit von ihrem Ehemann führen konnten. Denn verheiratete Frauen benötigten die Erlaubnis ihres Mannes, um einen Inlandsausweis zu erhalten, Bildungsinstitute zu besuchen, Immobilien zu mieten oder einer Arbeit nachzugehen.312 Die Trennung von Ehen durch die zivilen Gerichte war durch Artikel 103 des Familienrechts verboten.313 Ausnahmen vom Ehetrennungsverbot machten die Beamten der Imperialen Kanzlei für die Annahme von Bittschriften an den Zaren (Kanceljarija po prinjatiju prošenij, na Vysočajšee imja prinosimych).314 Daher war es einfacher, eine Ehe durch die Kanzlei trennen als von einem Kirchengericht scheiden zu lassen.315 Mitglieder der Orthodoxen Kirche wandten sich häufig an die Kanzlei für die Annahme von Bittschriften, welche die Ehen allerdings nur trennen konnte.316 307 Wagner: Marriage, Property, and Law 67. 308 Die Gründe für Eheannullierungen waren Bigamie und Fälle einer vierten Ehe. Freeze: Bringing Order 724 f. 309 Ehen wurden in der Regel aus zwei Gründen geschieden: bei Exilierung eines Ehepartners nach Sibirien und bei Fahnenflucht. In sehr seltenen Fällen außerdem bei sexuellem Unvermögen, was als vollständige Unfähigkeit zum Geschlechtsverkehr interpretiert wurde. Freeze: Bringing Order 733–742. 310 Wagner: Marriage, Property, and Law 212–217. 311 Engel: Breaking the Ties 217. 312 Ebd. 16. 313 Ebd. 314 Engelstein: The keys to happiness 33–35. 315 Engel: Breaking the Ties 214. 316 Ebd. 19–21.
266 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Damit war der Nachteil verbunden, dass der Familienstatus der getrennten Ehepartner unklar blieb und sie nicht in eine neue Ehe eintreten durften.317 Die Altgläubigen konnten sich dagegen seit 1874 zur Auflösung ihrer Ehe an die zivilen Gerichte wenden und nach einer Ehescheidung durch diese Gerichte in eine neue Ehe treten. Da die Trauungsrituale der Altgläubigen bei der Registrierung ihrer Ehen juristisch bedeutungslos waren, spielte auch der sakramentale Charakter der Ehe in den Entscheidungen des Rigaer Bezirksgerichts keinerlei Rolle. Dies hat möglicherweise dazu geführt, dass die zivilen Gerichte bereitwilliger Ehen der Altgläubigen schieden als die Kirchengerichte die Ehen Orthodoxer. In den Archiven ließen sich allerdings keine weiteren Ehescheidungsklagen von Altgläubigen vor den zivilen Gerichten Livlands finden, die diese These bestätigen. Allerdings ist auch Irina Paert der Meinung, dass die zivilen Gerichte Ehen leichtfertiger schieden als die orthodoxen Kirchengerichte: Die zivilen Gerichte seien aufgrund des Unterschieds zwischen dem sakramentalen Charakter der orthodoxen Ehe und dem zivilen der Ehe der Altgläubigen verwirrt gewesen und seien daher mit letzteren relativ flexibel umgegangen.318 Im Bestand des Rigaer Bezirksgerichts finden sich des Weiteren Prozesse über die Anerkennung von Kindern, die von ihren Eltern nicht innerhalb der Frist eines Jahres in den Matrikelbüchern registriert wurden,319 und über die Zahlung von Alimenten an Frauen, die von ihren Ehemännern verlassen worden waren.320 Einige Altgläubige nahmen auf diese Weise das Angebot der Regierung an, ihre rechtliche Lage zu verbessern und ihre Rechte, die durch das Gesetz vom 19. April 1874 etabliert wurden, vor Gericht einzuklagen. Vor dem Jahr 1874 hatten sie nicht die Möglichkeit gehabt, Rechte einzuklagen, da ihre Ehen nicht anerkannt worden waren. Ein Fall aus der Zeit Nikolajs I. verdeutlicht den Unterschied, den das Gesetz von 1874 für verheiratete altgläubige Frauen bedeuten konnte: Der Professor an der Geistlichen Akademie in St. Petersburg Ivan Nil’skij stellt in seinem bereits erwähnten Werk »Das Familienleben im russischen Raskol«321 einen Fall aus Dorpat vor. Der dortige Meščanin Kozlov lebte mit einer Altgläubigen zusammen und hatte mit ihr mehrere Kinder. Kozlov schloss sich der Orthodoxie an, seine Lebensgefährtin jedoch verblieb im Raskol und wollte ihren Mann nicht in einer orthodoxen Kirche heiraten. Kozlov heiratete daraufhin eine andere Altgläubige, die bereit war, zur Orthodoxie überzutreten und sich von einem orthodoxen Priester trauen zu lassen. Die vorherige Lebensgefährtin Kozlovs wandte sich daraufhin an das zivile 317 Ebd. 217. 318 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 227. 319 S. beispielsweise den Fall des Agur’jan Panfilov Solov’ev und seiner Ehefrau Anna Nikiforova aus dem Jahr 1897: LVVA F. 115, op. 15, d. 1236. 320 S. beispielsweise EAA F. 918, op. 1, d. 14866. 321 Nil’skij: Semejnaja žizn’ v russkom raskole.
Die Legalisierung altgläubiger Ehen 267
Gericht, welches Kozlov dazu verurteilte, ihr lebenslang 20 Rubel jährlich als Entschädigung zu zahlen. Kozlov war damit nicht einverstanden, wandte sich an den Generalgouverneur der Ostseegouvernements, dieser leitete die Angelegenheit an das Rigaer Beratende Komitee weiter, von dort aus erreichte sie das Innenministerium und schließlich den Heiligsten Synod. Schlussendlich wurde Kozlov von jedweden Zahlungen an seine ehemalige Lebensgefährtin befreit, da ihre Verbindung nicht als rechtlich gültige Ehe anerkannt war.322 Das Gesetz von 1874 stellte für altgläubige Ehefrauen, die in einer registrierten Ehe lebten, Rechtssicherheit her, die sie zuvor nicht hatten. Gleichzeitig stellten sich altgläubigen Frauen, deren Ehen seit 1874 registriert worden waren, neue Probleme, wenn ihre Ehe in die Brüche ging. Denn Frauen benötigten die Erlaubnis ihres Ehemannes, um Bildung oder einen Inlandsausweis zu bekommen und wenn sie eine Arbeitsanstellung annehmen wollten.323 Sie begaben sich durch die Registrierung ihrer Ehe in größere Abhängigkeit von ihrem Mann. In der Folge versuchten sie, ihre Ehen wieder trennen zu lassen, wenn sie von ihren Männern verlassen oder schlecht behandelt wurden. Insbesondere in Erbschaftsangelegenheiten nutzten einige Altgläubige den Umstand, dass nur in den Matrikelbüchern registrierte Ehen rechtskräftig waren, zu ihrem persönlichen Vorteil gegenüber anderen Altgläubigen. 1899 wurde vor dem Rigaer Bezirksgericht der Fall über den Nachlass des altgläubigen Meščanin Evstafij Kuz’min Lossev verhandelt. Dieser hatte nach seinem Tod fünf Kinder, ein Haus in der Stadt Verro und bewegliches Eigentum in Höhe von 147 Rubeln hinterlassen. Dieses Erbe sollte den noch minderjährigen Kindern und seiner Ehefrau Marija Fedorova Losseva als engsten Verwandten übergeben werden.324 Neben diesen Personen erklärte sich außerdem der Bruder des Verstorbenen, Potapij Kuz’min Lossev, für erbberechtigt. Potapij Lossev erklärte, dass als Beweis für die Legitimität der Kinder des Verstorbenen Matrikeleintragungen vorgelegt worden waren, die nicht von der Polizei stammten, sondern von der Altgläubigengemeinde in Dorpat, unterschrieben vom Nastavnik der Gemeinde. Doch seien diese Matrikelauszüge nicht rechtsgültig und könnten nicht für den Beweis von Verwandtschaftsbeziehungen herangezogen werden. Weder die fünf Kinder noch die Lebensgefährtin des Verstorbenen seien also erbberechtigt, sondern ausschließlich er, der als Bruder des Verstorbenen dessen nächster Verwandter war.325 Ein vergleichbarer Versuch der Diffamierung einer Ehe zwischen Altgläubigen als ungültig findet sich im 1884 vor dem Rigaer Magistrat verhandelten Fall der Ustin’ja Morozova gegen die Ehefrau ihres Bruders Efrosin’ja Makarova 322 Nil’skij: Semejnaja žizn’. Bd. 2, 156. 323 Engel: Breaking the Ties 16. 324 EAA F. 416, op. 6, d. 688, l. 3 f. 325 Ebd., l. 65 f.
268 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Pimanova. Nachdem ihr Bruder verstorben war, bezichtigte Ustin’ja Efrosin’ja der Testamentsfälschung326 und bezeichnete sie als »Concubine«327 des Verstorbenen und nicht als dessen Ehefrau.328 Dadurch habe Efrosin’ja weder aufgrund eines gültigen Testaments noch aufgrund ihres Status als Ehefrau des Verstorbenen Anrecht auf das Erbe. Im Laufe des Prozesses konnte jedoch nachgewiesen werden, dass Efrosin’ja Pimanova mit dem Verstorbenen in einer rechtsgültigen Ehe gestanden hatte, die in die Matrikelbücher der Polizei eingetragen war.329 Altgläubige versuchten auf diese Weise, das Gesetz von 1874 zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen und ihre Glaubensgenossen zu übervorteilen. Zuletzt gab es Versuche, das Gesetz von 1874 zu nutzen, um eine zweite rechtskräftige Ehe einzugehen, ohne dass die erste Ehe geschieden worden war. So ließ der Einwohner Rigas, Agur’jan Grigor’ev Ivanov, im Jahr 1884 seine Ehe mit Matrёna Fёdorova in den Matrikelbüchern der Rigaer Polizeiverwaltung registrieren, unter der Angabe Witwer zu sein. Der Steuerverwaltung von Riga war nun aufgefallen, dass Agur’jan Ivanov nicht verwitwet, sondern 1863 mit Anna Petrova, geb. Golbinckij, in der orthodoxen Peter-Pauls-Kirche getraut worden war. Diese war noch am Leben. Die Steuerverwaltung bat die Polizeibehörden daher, die Ehe zwischen Ivanov und Fёdorova aus den Matrikelbüchern zu streichen. Die livländische Gouvernementsregierung entschied, dass die Registrierung in den Matrikelbüchern nicht ohne Weiteres gestrichen werden könne, da eine Ehe der Raskol’niki durch ihre Registrierung rechtskräftig sei und durch ein Gericht geschieden werden müsse. Dies habe der Rigaer Magistrat jedoch nicht getan.330 Der Fall zeigt, dass die Eheangelegenheiten der Altgläubigen in Livland nicht länger auf dem Verwaltungsweg gelöst werden konnten, sondern unter allen Umständen den zivilen Gerichten unterlagen. Darüber hinaus kann der Fall Agur’jan Ivanovs als Missbrauchsversuch der Bestimmungen vom 19. April 1874 angesehen werden, in eine zweite Ehe zu treten, ohne eine bereits bestehende und in der orthodoxen Kirche geschlossene Ehe zuvor scheiden zu lassen. Denn möglicherweise versuchte Agur’jan Ivanov, sich diese Regelung zunutze zu machen, um eine neue Ehe in die Matrikelbücher der Polizei eintragen zu lassen, in der Hoffnung, dass seine erste, in einer orthodoxen Kirche geschlossene Ehe dabei nicht ans Licht käme.331 Laut Irina 326 LVVA F. 749, op. 4, d. 994, l. 1 f. 327 Ebd., l. 3. 328 Ebd., l. 3ob. 329 Ebd., l. 4ob. 330 EAA F. 297, op. 8, d. 864, l. 50–52. 331 Ungeklärt bleibt die Frage, ob Agur’jan Ivanov bei seiner ersten Eheschließung orthodox war und erst danach zum Altgläubigentum übergetreten war oder von Geburt an altgläubig gewesen ist und für seine Eheschließung 1863 zur Orthodoxie konvertierte, ohne sich selbst in der Folge als Orthodoxer zu verstehen, oder ob er orthodox war und 1884 nur vorgab Altgläubiger zu sein, um seine zweite Ehe in den Matrikelbüchern der Polizei registrieren lassen zu können.
Die Legalisierung altgläubiger Ehen 269
Paert, war es auch für bisher nicht verheiratete Orthodoxe attraktiv, ihre erste Ehe in den Matrikelbücher für Raskol’niki registrieren zu lassen, da die zivilen Gerichte eher dazu bereit waren diese Ehen auch wieder zu scheiden als die orthodoxen Kirchengerichte.332 ✴ ✴ ✴ Aufgrund der Quellenlage ist keine Aussage darüber möglich, wie häufig sich Altgläubige, deren Ehen in den Matrikelbüchern der Polizei registriert waren, mit ihren Familienangelegenheiten an die zivilen Gerichte wandten. Die untersuchten Klagen auf Scheidung ihrer Ehen sowie die Einschätzungen anderer Historiker legen jedoch nahe, dass die zivilen Gerichte bereitwilliger Ehen der Altgläubigen schieden als die Kirchengerichte die Ehen der Orthodoxen. Dies hing mit der Betonung des Sakramentscharakters der Ehe durch die Orthodoxe Kirche zusammen. Die orthodoxen Kirchengerichte waren sehr zurückhaltend, ein bereits gespendetes Sakrament zu annullieren oder eine Ehe zu scheiden. Die Ehen der Altgläubigen, die in den Matrikelbüchern der Polizei registriert waren, galten jedoch nicht als Sakramente – die Trauungsriten der Altgläubigen hatten durch das Gesetz vom 19. April 1874 keinerlei juristische Bedeutung bekommen. Aus diesem Grund konnte ihre Scheidung den zivilen Gerichten unterliegen. Und diese scheinen Ehen recht bereitwillig geschieden zu haben, wenn die entsprechenden Scheidungsgründe vorlagen, die im Gesetzeskodex festgelegt worden waren. Insbesondere für verheiratete altgläubige Frauen stellte das Gesetz von 1874 eine gewisse Rechtssicherheit her, die sie vorher nicht genossen hatten. Sie konnten ihre Ehemänner, wenn sie von ihnen verlassen worden waren, auf die Zahlung von Alimenten vor den zivilen Gerichten verklagen. Andere Altgläubige nutzten die Bestimmungen des Gesetzes zur Diffamierung der Ehen ihrer verwandten Glaubensgenossen, um deren damit verbundenen Rechte in Frage zu stellen. Sie kannten die gesetzlichen Bestimmungen und versuchten, diese zu ihrem persönlichen Vorteil zu nutzen. Das Gleiche gilt für Personen, die bereits in einer orthodoxen Kirche geheiratet hatten und in eine neue Ehe eintreten wollten, ohne ihre erste Ehe scheiden lassen zu wollen oder zu können. Mit solchen Versuchen scheinen sie aber nur selten Erfolg gehabt zu haben, weil die Regierung derartige Missbräuche bereits im Vorherein befürchtet hatte und versuchte, diese zu unterbinden.333
332 Paert: Old Believers, religious dissent and gender 227. 333 Wie in Kapitel 5.1.1. beschrieben, legte das Gesetz fest, dass die orthodoxe Gemeindegeistlichkeit vor der Registrierung einer Ehe zwischen Altgläubigen in den Matrikelbüchern der Polizei überprüfen musste, ob die Eheleute nicht Mitglieder der Orthodoxen Kirche waren und womöglich bereits in dieser Kirche getraut worden waren.
270 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883
5.2 Die Legalisierung der Bethäuser der Altgläubigen Unter Nikolaj I. waren die Bethäuser der Altgläubigen in Livland, mit Ausnahme desjenigen in der Moskauer Vorstadt Rigas, versiegelt, zerstört oder dem Edinoverie übergeben worden.334 Unter Nikolajs Nachfolger Aleksandr II. blieb das Verbot, neue Bethäuser zu errichten und bereits bestehende zu renovieren, bestehen.335 Dessen ungeachtet richteten die Altgläubigen in den Dörfern am Westufer des Peipussees Gebetsräume in ihren Privathäusern ein oder errichteten neue Bethäuser.336 Zwar forderte der Rigaer Erzbischof Platon von der livländischen Gouvernementsregierung, diesem Treiben, welches gegen bestehende Gesetze verstoße, ein Ende zu setzen, doch duldete der Generalgouverneur die Einrichtung neuer Bethäuser stillschweigend und Innenminister Timašev hielt es für unpassend, das entsprechende Verbot in Livland umzusetzen. Den zivilen Beamten war klar geworden, dass repressive Maßnahmen dem Altgläubigentum kein Ende bereiten konnten.337 Das bereits vorgestellte besondere Außerordentliche Komitee über die Angelegenheiten der Raskol’niki unter Vorsitz Panins diskutierte im Jahr 1864 über die Frage der altgläubigen Gotteshäuser. Es hatte vorgeschlagen, verschlossene Bethäuser der Altgläubigen zu entsiegeln, deren Renovierung zu erlauben und den Bau neuer Bethäuser zu gestatten. Die Begründung war, dass der alte Glauben dem der Orthodoxen Kirche näher sei, als das Judentum oder der Islam, deren Anhänger jene Privilegien genossen, die den Altgläubigen bisher verwehrt waren. Daher sollten die Bethäuser der Altgläubigen nicht nur geduldet, sondern durch ein Gesetz legalisiert werden. Allerdings war nicht vorgesehen, dass das Altgläubigentum staatlich als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt würde: Die öffentliche Zurschaustellung des Raskol sollte weiterhin unterbunden werden.338 Im Jahr 1883 wurden einige Vorschläge des Komitees über die Ausweitung ziviler Rechte und die Legalisierung der Bethäuser der Altgläubigen in Gesetzesform gebracht. 1875 wiederholte eine Kommission unter Vorsitz des stellvertretenden Innenministers, Aleksej Lobanov-Rostovskij, diese Empfehlungen des Komitees. Doch erst acht Jahre später wurden diese Vorschläge erneut in einer Versammlung des Regierenden Rats und der Departements der Gesetze, der zivilen und der geistlichen Angelegenheiten des Innenministeriums geprüft und für gut befunden.339 334 S. Kapitel 3.2.1. 335 S. Kapitel 4.2.1. 336 Bis Ende der 1860er Jahre existierten Versammlungsorte der Altgläubigen zum gemeinsamen Gottesdienst in Černyj, Kikita, Voron’ja, Krasnye Gory, Kazapel’ und Meži. S. Kapitel 4.2.2. 337 S. Kapitel 4.2.2. 338 S. Kapitel 4.2.3. 339 PSZ III, Bd. 3, Nr. 1545, 219–221 (3.5.1883).
Die Legalisierung der Bethäuser der Altgläubigen 271
Am 3. Mai 1883 wurde das Gesetz »Über die Gewährung einiger ziviler Rechte an die Raskol’niki und bezüglich des Vollzugs ihrer religiösen Bräuche« erlassen.
5.2.1 Das Gesetz vom 3. Mai 1883 Am 3. Mai 1883 wurden den Altgläubigen und Anhängern anderer Sekten durch das Gesetz »Über die Gewährung einiger ziviler Rechte an die Raskol’niki und bezüglich des Vollzugs ihrer religiösen Bräuche« einige zivile und religiöse Rechte gewährt.340 Zu den gewährten zivilen Rechten gehörte der Erhalt von Inlandsausweisen, die Erlaubnis, Handel zu treiben und öffentliche Ämter zu bekleiden. Sollte jedoch in einer Volost’, in der Schismatiker und Orthodoxe lebten, ein Raskol’nik zum Staršin gewählt werden, musste sein Assistent ein Orthodoxer sein.341 Neu war an letzterer Bestimmung lediglich, dass Altgläubige und Sektenangehörige nun auch das Amt des Volost’-Staršin übernehmen durften. Bereits seit 1863 standen ihnen sämtliche andere, durch Wahl ermittelte Ämter offen.342 Außerdem wurde den religiösen Dissidenten 1883 erlaubt, in Ikonenmalereien beschäftigt zu werden.343 Darüber hinaus wurden den Altgläubigen im Jahr 1883 religiöse Rechte gewährt. Ihnen wurde erlaubt, sich in eigens zu diesem Zweck errichteten Gebäuden zum gemeinsamen Gebet, zur Feier des Gottesdienstes und dem Vollzug geistlicher Amtshandlungen (Kasualien) zu versammeln.344 Nun wurde den Raskol’niki erlaubt, ihre Kapellen und Bethäuser auszubessern und zu renovieren, wobei sie die äußere Gestalt der Gebäude nicht verändern durften. Diese Erlaubnis war allerdings in jedem Einzelfall an die Entscheidung des zuständigen Gouverneurs bzw. Oblast’-Leiters gebunden.345 Außerdem durften zuvor versiegelte Bethäuser wieder entsiegelt werden, wenn der Innenminister dies erlaubte, wobei er zuvor mit dem Oberprokuror des Heiligsten Synods in Beratung gehen musste.346 In Orten, in denen eine bedeutende Anzahl Raskol’niki lebte, die über kein Bethaus verfügten, durften Wohnhäuser zu Bethäusern umgebaut werden. Dabei musste allerdings darauf geachtet werden, dass diese 340 Wie im Gesetz vom 19.4.1874 ist auch im Gesetz vom 3.5.1883 nicht genau festgelegt, welchen Raskol’niki die Rechte gewährt wurden. Doch waren die Skopcy aus dem Recht, Inlandsausweise zu erhalten, explizit ausgenommen. Und Varvara Jasevič-Borodaevskaja wies 1905 darauf hin, dass auch alle Sekten, deren Anhänger für ihre Zugehörigkeit zu der jeweiligen Sekte verfolgt wurden, nicht in den Genuss der Bestimmungen vom 3.5.1883 kamen. Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 31. 341 PSZ III, Bd. 3, Nr. 1545, 219–221 (3.5.1883). 342 PSZ II, Bd. 38, Nr. 40334, 264 f. (29.11.1863). 343 PSZ III, Bd. 3, Nr. 1545, 219–221 (3.5.1883). 344 Ebd. 345 Ebd. 346 Ebd.
272 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Gebäude nach dem Umbau nicht orthodoxen Kirchen ähnelten, weshalb sie keine sichtbaren Glocken haben und über den Türen keine Kreuze oder Ikonen angebracht werden durften. Für den Umbau eines Privathauses in ein Bethaus benötigten die Altgläubigen ebenfalls die Erlaubnis des Innenministers.347 Zu den religiösen Rechten, die den Raskol’niki am 3. Mai 1883 gewährt wurden, zählen außerdem die Erlaubnis, bei Beerdigungen Ikonen beim Geleit des Verstorbenen zum Friedhof zu tragen, auf dem Friedhof Gebete zu sprechen und kirchliche Lieder zu singen.348 Die bereits geltenden Bestimmungen, dass die Nastavniki der Altgläubigen für den Vollzug geistlicher Amtshandlungen nicht verfolgt werden durften, sondern nur für die Verbreitung ihrer religiösen Lehre, wurden wiederholt.349 Die öffentliche Zurschaustellung des Raskol war nach wie vor untersagt. Doch wurde genauer und enger definiert, was darunter zu verstehen war, als in der bis dahin geltenden Instruktion als Leitfaden für ausübende Tätigkeiten und Beratungen bezüglich Angelegenheiten, die den Raskol betreffen (Nastavlenie dlja rukovodstva pri ispolnitel’nych dejstvijach i soveščanijach po delam, do raskola otnosjaščimsja) aus dem Jahr 1858.350 Die Nutzung von Glocken, die Eröffnung verschlossener Bethäuser und die Feier von Taufen und Hochzeiten galten nun nicht mehr als Zurschaustellung des Raskol.351 Weiterhin untersagt waren jedoch Kreuzgänge und öffentliche Prozessionen in kirchlichen Gewändern, das öffentliche Tragen von Ikonen außer bei Beerdigungen, das Tragen von kirchlichen oder mönchischen Gewändern außerhalb von Privathäusern, Kapellen oder Bethäusern und Gesang von Kirchenliedern nach Art der Raskol’niki auf öffentlichen Plätzen und in den Straßen.352 Bedeutete das Gesetz eine maßgebliche Ausweitung der Rechte der Altgläubigen? Ihre zivilrechtliche Lage wurde durch die Erlaubnis, Handel zu treiben und Inlandsausweise zu erhalten, bedeutend verbessert. Die Bewertung der neu verliehenen religiösen Rechte ist weniger eindeutig. Es wurde den Altgläubigen gestattet, ihre Verstorbenen zu beerdigen, Kinder zu taufen und Hochzeiten zu feiern. Sie durften sich zu Gebeten und Gottesdiensten versammeln. Doch waren sie dafür auch zuvor theoretisch nicht verfolgt worden, weil dies eine Einmischung in die inneren Angelegenheiten des Raskol bedeutet hätte, die gesetzlich untersagt war.353 Neu war die rechtlich fixierte Möglichkeit, Bethäuser zu erneuern oder zu entsiegeln und Privathäuser in Bethäuser umzuwandeln. Doch waren diese Rechte an die Entscheidung der Gouvernements- bzw. 347 Ebd. 348 Ebd. 349 Ebd. 350 S. Kapitel 4.2.1. 351 SPR 556–559 (15.10.1858). 352 PSZ III, Bd. 3, Nr. 1545, 219–221 (3.5.1883). 353 Pera: The Secret Committee 229.
Die Legalisierung der Bethäuser der Altgläubigen 273
Oblast’-Leitung gebunden. Für Entsiegelungen zuvor verschlossener Bethäuser musste gar die Meinung des Oberprokurors des Heiligsten Synods eingeholt werden. Dadurch hatte die Orthodoxe Kirche weiterhin ein Mitspracherecht in den religiösen Angelegenheiten des alten Glaubens. Nach wie vor wurden die Gemeindeleiter der Altgläubigen nicht als geistliche Personen anerkannt und eine öffentliche Zurschaustellung des Raskol blieb untersagt. Der alte Glaube sollte für die orthodoxe Bevölkerung unsichtbar bleiben, aus Angst davor, Mitglieder der Staatskirche könnten sich dem Altgläubigentum anschließen. Die Ausweitung religiöser Rechte der Altgläubigen hatte 1883 enge Grenzen. Die stark beschränkte Reichweite der Gesetzgebung zog die Kritik der Zeitgenossen auf sich, wie im folgenden Unterkapitel gezeigt wird.
5.2.2 Die Diskussion über die gewährten zivilen und religiösen Rechte Im Jahr 1881 veröffentlichte der Professor an der Moskauer Geistlichen Akademie für die Entlarvung des russischen Raskol (obličenie russkogo raskola) Nikolaj Ivanovič Subbotin (1827–1905) die Broschüre »Über das Wesen und die Bedeutung des Raskol«.354 Konkreter Anlass zur Veröffentlichung dieses Werks war die Bitte der priesterlichen Altgläubigen in Moskau, ihre Kapellen und Altäre auf dem Rogož’-Friedhof entsiegeln zu dürfen, um dort ihren Gottesdienst feiern zu können.355 Subbotin stellt das Anliegen der Moskauer Altgläubigen in den Kontext der Gewährung vollständiger Religionsfreiheit: Wenn die Kapellen entsiegelt würden, würde den altgläubigen Priestern die Möglichkeit gegeben, dort Gottesdienste zu feiern, was einer Anerkennung der altgläubigen Priester als geistliche Personen mit dem Recht der Gottesdienstleitung gleichkäme.356 Aus kirchlicher Perspektive sei dies aufgrund der dogmatischen und kanonischen Grundlagen unannehmbar, weil es die Aufgabe der Kirche sei, die Orthodoxie zu bewahren und die Einheit des Glaubens im russischen Volk zu schützen.357 Doch auch aus Sicht der zivilen Regierung sei die Gewährung der Religionsfreiheit an die Raskol’niki nicht wünschenswert. Zwar werde den Anhängern anderer christlicher Konfessionen und sogar nicht-christlicher Religionen (inovercy) von der Regierung Religionsfreiheit gewährt, doch unterschieden sich diese grundlegend von den Raskol’niki. Letztere seien ursprünglich Mitglieder der Orthodoxen Kirche gewesen, die von ihr abgefallen waren. Als Abtrünnige von der Staatskirche müssten sie gesetzlich bestraft werden, da selbst 354 Subbotin: O suščnosti i značenii raskola. 355 Ebd. 3. 356 Ebd. 4. 357 Ebd. 5.
274 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 das Abfallen von der Orthodoxie zu den staatlich anerkannten Religionen unter Strafe stehe.358 Subbotin hielt 1881 weiterhin an dem Versuch von Kirche und Regierung aus der Zeit Nikolajs I. fest, die Altgläubigen zur Orthodoxen Kirche zurückzuführen. Religionsfreiheit dürfe ihnen auch deshalb nicht gewährt werden, weil der Raskol die »Verneinung der Orthodoxie« sei.359 Die Raskol’niki sähen die kirchlichen und zivilen Obrigkeiten aufgrund ihrer religiösen Überzeugungen als antichristlich an und versuchten, der Orthodoxen Kirche mit allen Mitteln zu schaden.360 Dieser Versuch werde durch die Gewährung der Religionsfreiheit an die Altgläubigen legalisiert.361 Da die Grundgesetze des Russländischen Reiches die Orthodoxe Kirche als vorherrschend im Imperium anerkannten und die Regierung der höchste Schutzherr der Orthodoxie sei, könne die Regierung dies nicht erlauben.362 Zwar sollten die Altgläubigen laut Subbotin nicht durch harsche Mittel verfolgt werden, sondern müssten als Übel, als Krankheit, die geheilt werden musste, verstanden werden. Ein Recht auf Existenz dürfe ihnen deswegen nicht gewährt werden und auch nicht die Erlaubnis, der Orthodoxen Kirche zu schaden.363 Da Subbotins Werk im Auftrag des Heiligsten Synods veröffentlicht wurde,364 können seine Anschauungen über die Gewährung der Religionsfreiheit an die Raskol’niki als repräsentativ für die Orthodoxe Kirche gelten. Diese sah die Altgläubigen als Bedrohung an und wollte verhindern, dass die Regierung die Existenz des Altgläubigentums anerkennt oder ihm gar religiöse Freiheit gewährt; zu diesem Zweck berief sie sich auf ihre vorherrschende Stellung im Russländischen Reich. Subbotins Meinung blieb nicht unwidersprochen. 1882 erschien in den »Vaterländischen Beiträgen« (Otečestvennyja zapiski) der Aufsatz »Zur Frage über die Glaubenstoleranz«365 von Jakov Vasil’evič Abramov (1858–1906). Darin wendet sich der Autor gegen Subbotins Meinungen aus »Über das Wesen und die Bedeutung des Raskol«. Laut Abramov erwecke Subbotins Broschüre den Eindruck, dass sich die Lage der Raskol’niki in absehbarer Zeit nicht ändern werde, sondern sie weiter unter Repressionen leiden werden. Dass Subbotins Werk im Auftrag des Oberprokurors des Heiligsten Synods erschienen war, sei ein deutliches Zeichen dafür, dass die Zeiten der vollständigen Glaubenstoleranz im Russländischen Reich noch nicht angebrochen seien.366 In den 358 Ebd. 9 f. 359 Ebd. 11. 360 Ebd. 19. 361 Ebd. 43. 362 Ebd. 43. 363 Ebd. 46 f. 364 Ebd. 2. 365 Abramov, Jakov Vasil’evič: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel I–III, in: Otečestvennyja zapiski 1 (1882), 1–42. Ders.: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel IV–VII, in: Otečestvennyja zapiski 2 (1882), 141–175. 366 Abramov: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel I–III, 2.
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folgenden Kapiteln des Artikels stellt Abramov die Altgläubigen und andere Sektenangehörigen als sittliche und friedliebende Menschen dar, die die gesellschaftliche Ordnung nicht gefährdeten. Sie seien im Gegenteil der beste Teil der russländischen Gesellschaft.367 Ihre Repression sei also nicht gerechtfertigt und nur der Schutz der Orthodoxen Kirche vor der Konversion ihrer Mitglieder zum Raskol, verhindere die Gewährung voller Religionstoleranz. Dabei habe die Geschichte gezeigt, dass die Einschränkung ihrer religiösen Rechte nicht zu einer Schwächung des Raskol geführt habe.368 Auf diese Weise sprach sich Abramov für eine Ausweitung der Rechte der Altgläubigen aus. Abseits der Diskussion zwischen Subbotin und Abramov entstand noch vor Verabschiedung des Gesetzes am 3. Mai 1883 eine Debatte über die Gewährung religiöser Rechte an die Raskol’niki, nachdem Gerüchte über derartige Pläne der Regierung laut geworden waren.369 1882 erschien ein Aufsatz von Aleksandr Konstantinovič Šeller (1838–1900) unter dessen Pseudonym A. Michajlov mit dem Titel »Bezüglich der Frage über die Glaubenstoleranz gegenüber dem Raskol«370 im »Boten Europas« (Vestnik Evropy). Wie Abramov weist Šeller darauf hin, dass die bisherigen Repressionen nicht zu einer Schwächung des Raskol geführt hatten.371 Vielmehr werde das Altgläubigentum erst durch seine Bedrückung zu einer Bedrohung der Orthodoxen Kirche, da sie die Altgläubigen mit dem Nimbus eines verfolgten Bekenntnisses umgebe.372 Eine Annäherung der Raskol’niki an die Orthodoxe Kirche sei nur durch die Gewährung religiöser Freiheiten möglich.373 Doch stehe die Staatskirche allen bisherigen Versuchen im Wege, die Lage der Altgläubigen im Imperium zu verbessern. Um die Religionsfreiheit auszuweiten, müsse den Altgläubigen das Recht gewährt werden, ihre Bethäuser zu entsiegeln und zu renovieren. Während die Regierung dies seit 1864 befürworte, stelle sich allein die Staatskirche dagegen, weil sie fürchte, weitere Mitglieder an den Raskol zu verlieren.374 So seien alle Maß 367 Kapitel II beleuchtet den wirtschaftlichen Wohlstand der Gemeinden von Sektenangehörigen im Vergleich zu der Armut orthodoxer Gemeinden. Abramov: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel I–III, 3–17. Kapitel III lobt die Solidarität und gegenseitige Hilfe der Sektenangehörigen untereinander. Ebd. 18–41. In Kapitel IV beschreibt er den sittlichen Zustand der Raskol’niki und lobt ihren Fleiß, ihre Enthaltsamkeit, Sparsamkeit, Abstinenz und Ehrlichkeit. Abramov: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel IV–VII, 141–152. Kapitel V beschreibt die theologische Gelehrsamkeit der meisten Sektenangehörigen. Ebd. 153–166. Und in Kapitel VI wird auf die Problematik eingegangen, dass unbekannt ist, wie viele Raskol’niki es im Imperium gibt. Ebd. 154–167. 368 Abramov: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel IV–VII, 168–169. 369 Abramov: K voprosu o veroterpimosti. Kapitel I–III, 1. 370 Michajlov, A.: Po voprosu o veroterpimosti k raskolu, in: Vestnik Evropy 17/3 (1882), 70–92. 371 Ebd. 75. 372 Ebd. 80. 373 Ebd. 85. 374 Ebd. 79 f.
276 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 nahmen gegenüber den Altgläubigen, die nicht auf Repression setzten, in der Geschichte von der zivilen Regierung und nicht von der Orthodoxen Kirche ausgegangen.375 Glaubenstoleranz könne im Russländischen Reich daher nur Einzug halten, wenn die Orthodoxe Kirche aus den Angelegenheiten der religiösen Dissidenten herausgehalten werde.376 Einer Ausweitung der Glaubensfreiheit auf die Raskol’niki stehe außerdem die Unkenntnis der Regierung über deren jeweilige Lehre im Wege. Auf diese Weise wisse die Regierung nicht, welchen Sekten und Denominationen des Altgläubigentums größere Freiheiten gewährt werden können.377 Šellers Lösungsvorschlag sah vor, dass die einzelnen Gemeinden der Raskol’niki selbst bei den Behörden vorstellig werden und ihre Glaubenslehre darlegen sollten, um vollständige Religionsfreiheit zu erhalten. Auf diese Weise würden sie alle entsprechenden Rechte erhalten, während die Regierung besser über sie unterrichtet wäre und größere Kontrolle über die einzelnen Gemeinden erhalten würde.378 Mit anderen Worten forderte Šeller nicht nur, dass den Altgläubigen erlaubt werde, Bethäuser entsiegeln und renovieren zu dürfen, sondern eine Integration der Schismatiker in den Staat, die der Einbindung der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse ähnelte. Er sprach sich für eine Ausweitung des »confessional state« auf die Altgläubigen und Anhänger anderer Sekten aus. Die Orthodoxe Kirche sprach sich am Vorabend der Verabschiedung des neuen Gesetzes gegen die Ausweitung der religiösen Rechte der Altgläubigen aus. Das Altgläubigentum wurde von der Kirche weiterhin als Schisma und daher Bedrohung der Orthodoxie und ihrer Mitglieder wahrgenommen. Sie berief sich auf die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Reich und appellierte an den Schutz derselben durch die Regierung. Die Publizisten und Intellektuellen der Zeit drehten die Argumentation der Kirche um. Sie nahmen die religiösen Dissidenten per se nicht als Bedrohung wahr. Stattdessen argumentierten sie, dass die Altgläubigen erst durch die Erfahrungen der Unterdrückung, die von der Orthodoxen Kirche befürwortet und zum Teil getragen wurden, in Opposition zur Kirche und zur Regierung gerieten. Sie wiesen darüber hinaus auf die Erfahrung hin, dass die Diskriminierung der Raskol’niki nicht zu einem Ende des Altgläubigentums geführt hatte. Diese Argumentation diente ihnen zur Rechtfertigung der Forderung nach Gewährung religiöser Freiheiten an die Altgläubigen, die das einzige Mittel sei, um die Altgläubigen an die Orthodoxe Kirche anzunähern.
375 Ebd. 87. 376 Ebd. 377 Ebd. 90. Dieser Umstand war bereits 1862 von Mel’nikov-Pečerskij kritisiert worden. Mel’nikov: Pis’ma o raskole 210. 378 Michajlov: Po voprosu o veroterpimosti 91 f.
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Während sich die Diskussionen vor Verabschiedung des Gesetzes vom 3. Mai 1883 der Frage nach einer Ausweitung der Religionsfreiheit auf die Raskol’niki im Allgemeinen drehten, entstanden seit 1883 Kommentare über die konkreten Bestimmungen des neuen Gesetzes. Von kirchlicher Seite wurde wenig über das Gesetz von 1883 geschrieben. In Pёtr Semёnovič Smirnovs (geb. 1861)379 »Geschichte des russischen Raskol Altgläubigentums«380 aus dem Jahr 1894, welches im Auftrag des Heiligsten Synods gedruckt wurde, findet sich im fünften und letzten Kapitel ein Kommentar zum Gesetz von 1883. Smirnov schreibt: Die Schismatiker würden beinahe gleichgestellt in ihren zivilen Rechten mit allen Bürgern […] durch das Gesetz vom 3. Mai [1883] und in religiösen Verhältnissen genießen sie ebenfalls vollständige Toleranz und Freiheit, mit Ausnahme lediglich jener Handlungen, die Verführung unter Orthodoxen hervorrufen können und dem Gedanken Vorschub leisten, dass der Raskol durch das Gesetz mit der Kirche auf die gleiche Stufe gestellt wird.381
Wenn man Smirnovs Interpretation folgt, sind Subbotins Befürchtungen im Jahr 1883 wahr geworden. Den Altgläubigen sei vollständige Religionsfreiheit verliehen worden, mit der Einschränkung, dass sie nicht der Orthodoxen Kirche schaden durften. Einer ähnlichen Interpretation folgte der Ethnograf und Publizist Aleksandr Stepanovič Prugavin in seinem Artikel »Die russischen Sektenangehörigen vor dem Gesetz vom 3. Mai 1883«,382 welcher 1883 in der Zeitschrift »Russische Idee« (Russkaja Mysl’) erschien. In seinem Aufsatz vergleicht er die Rechte, die den Raskol’niki durch das Gesetz vom 3. Mai gewährt wurden, mit ihrer Lage in der Zeit davor seit Nikolaj I. Durch diesen kontrastierenden Vergleich kommt er zu dem Schluss: Im Allgemeinen unterscheiden sich die neuen Regeln bezüglich des Vollzugs kirchlicher Riten der Sektenangehörigen durch eine viel größere Milde und vor allem größere Bestimmtheit im Vergleich mit den Regeln, die darüber in der bekannten ›Instruktion als Leitfaden bezüglich Angelegenheiten, die den Raskol betreffen‹ dargelegt sind.383
Er ging davon aus, dass Millionen religiöser Dissidenten, die seit zwei Jahrhunderten danach strebten, frei ihren Gottesdienst feiern, frei beten und frei ihre geistlichen Amtshandlungen vollziehen zu dürfen, das Gesetz vom 3. Mai 379 Genaues Todesdatum nicht bekannt. Nach 1917. 380 Smirnov: Istorija russkago raskola. 381 Ebd. 226 f. 382 Prugavin, Aleksandr Stepanovič: Russkie sektanty do zakona 3-go maja 1883 goda. Teil 1, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 213–252. Ders.: Russkie sektanty do zakona 3-go maja 1883 goda. Teil 2, in: Russkaja Mysl’ 11 (1883), 266–297. 383 Prugavin: Russkie sektanty do zakona 3-go maja 1883 goda. Teil 1, 217.
278 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 1883 mit Freude wahrnehmen würden,384 weil ihnen diese Rechte nun gewährt würden. Doch gab es Stimmen, die die Bestimmungen des neuen Gesetzes stark kritisierten. Noch im Jahr 1883 erschienen in der »Inneren Rundschau« (Vnutrennee obozrenie) der Zeitschriften »Bote Europas« (Vestnik Evropy) und »Russische Idee« (Russkaja Mysl’) Stellungnahmen zu dem Gesetz vom 3. Mai 1883, deren Autoren anonym blieben. Darin wurde in Frage gestellt, ob es sich bei den Bestimmungen des Gesetzes überhaupt um ein Recht handele. Denn die Bindung des Rechts auf Renovierung oder Entsiegelung von Bethäusern an die Entscheidung der Obrigkeiten mache die Bestimmung zu einer administrativen Maßnahme. Die Verwaltung könne ihre Erlaubnis zur Renovierung einbehalten, wenn sie wollte.385 Insofern ändere sich durch das Gesetz vom 3. Mai für die Altgläubigen wenig, da sie bisher ebenfalls über Bethäuser verfügten, über denen ein Damoklesschwert hinge, da sie jederzeit geschlossen werden konnten.386 Durch das Gesetz vom 3. Mai hinge das Recht auf freie Religionsausübung nach wie vor von der Willkür der Autoritäten ab.387 Das Misstrauen, welches die Altgläubigen gegenüber den Gesetzen und den Obrigkeiten in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hätten, könne durch das neue Gesetz daher nicht abgebaut werden.388 Noch schwerer wiege, dass die Orthodoxe Kirche in Form des Heiligsten Synods bei der Öffnung zuvor versiegelter Bethäuser Mitspracherecht habe. Denn die Staatskirche würde sich stets gegen die Interessen der Altgläubigen aussprechen, wodurch die Kluft zwischen den Altgläubigen und der Orthodoxen Kirche weiter vertieft werde.389 Darüber hinaus seien viele denkbare Szenarien in dem neuen Gesetz nicht eindeutig geregelt. Es stelle sich die Frage, ob Bethäuser auch dann nicht umgebaut, das heißt vergrößert, werden dürfen, wenn die altgläubige Bevölkerung des Ortes maßgeblich anwächst? Oder ob in Orten, in denen nur wenige Raskol’niki leben, die kein Bethaus vor 1883 gebaut hatten, auch niemals Bethäuser errichtet werden dürften? Und darf es in jedem Ort nur ein Bethaus der Altgläubigen geben, selbst wenn es sich um eine Stadt handelt, in der vielleicht 10.000 Altgläubige leben? Der Autor kommt zu der Schlussfolgerung, dass die »strenge Befolgung der neuen Regeln auf diese Weise zu einer Einschränkung der faktisch existierenden Freiheit des Gottes 384 Ebd. 219. 385 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 4 (1883), 803–825, hier 805 f. [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 69–90, hier 73. 386 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 4 (1883), 806. 387 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 73. 388 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 4 (1883), 806. [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 73. 389 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 4 (1883), 806. [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 73. [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 7 (1883), 350–367, hier 355.
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dienstes der Raskol’niki führen«390 könne. Zustimmung fanden hingegen die zivilen Rechte, die den Altgläubigen durch das Gesetz vom 3. Mai 1883 verliehen wurden – insbesondere die Erlaubnis zur freien Handelsaktivität und der Übernahme öffentlicher Ämter.391 Dennoch stelle das Gesetz lediglich den Übergang von der vollständigen Intoleranz der Regierung gegenüber dem Raskol zu einer eingeschränkten Toleranz dar, deren Grenzen nicht klar festgelegt seien. Es bliebe zu wünschen übrig, dass die Gesetzgebung nicht bei diesem ersten Schritt auf dem Weg zur Glaubenstoleranz stehen bliebe,392 sondern die Schismatiker mit anderen nicht-orthodoxen Bekenntnissen rechtlich gleichstelle.393 ✴ ✴ ✴ Die Ergebnisse der Arbeit am Gesetz vom 3. Mai 1883 stellten weder die Repräsentanten der Orthodoxen Kirche noch die Befürworter eines toleranteren Umgangs mit den Altgläubigen und Sektenangehörigen wirklich zufrieden. Der Heiligste Synod hatte sich gegen die Gewährung eines Rechts auf Existenz oder gar der Religionsfreiheit an die Raskol’niki ausgesprochen. Folgt man der Interpretation Pёtr Smirnovs oder Aleksandr Prugavins, die seit 1883 die vollständige Religionsfreiheit für Raskol’niki verwirklicht sahen, scheinen die schlimmsten Befürchtungen der Orthodoxen Kirche wahr geworden zu sein. Viele russische Publizisten waren jedoch der Meinung, dass das Gesetz vom 3. Mai 1883 keineswegs die Gewährung vollständiger Religionsfreiheit für die Altgläubigen bedeutete, da die gewährten Rechte durch zahlreiche Bestimmungen eingeschränkt wurden. Insbesondere die Bindung des Rechtes auf freie Religionsausübung in den Bethäusern der Altgläubigen an die Entscheidung der Obrigkeiten verhindere die Abkehr von einem administrativen Umgang der Regierung mit den Altgläubigen und eine Hinwendung zur Glaubenstoleranz. Der Einfluss der Orthodoxen Kirche auf den staatlichen Umgang mit den Altgläubigen wurde für die Einschränkungen der Religionsfreiheit verantwortlich gemacht. Daher sprachen sich einige Publizisten dafür aus, die Staatskirche aus diesen Angelegenheiten auszuschließen.
390 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 7 (1883), 355. [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 73. 391 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 7 (1883), 356. 392 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 74. 393 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 7 (1883), 359.
280 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883
5.2.3 Die Ziele des Gesetzes vom 3. Mai 1883 Der Einschätzung der Zeitgenossen zum Trotz, dass das Gesetz von 1883 über die zivilen und religiösen Rechte der Raskol’niki große Bedeutung für den staatlichen Umgang mit ihnen hatte, fand es in der Forschung nur wenig Beachtung. Anton Stadnikov schreibt über die Entwicklung der Gesetzgebung gegenüber den Altgläubigen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lediglich, dass »sich eine allmähliche Veränderung der inneren staatlichen Politik im Verhältnis zum Altgläubigentum ereignete, bis zum Ende des Jahrhunderts die gesamte Konfessionspolitik des Staates jedoch einen inquisitorischen Charakter trug.«394 Viktorija Maškovceva urteilt über die Verabschiedung des Gesetzes, dass sie einen Schritt auf dem Weg der rechtlichen Gleichstellung des Altgläubigentums mit anderen Konfessionen markiert habe, allerdings unter den bekannten Einschränkungen litt.395 Und auch Ol’ga Eršova gibt sich mit der Bemerkung zufrieden, dass das Gesetz die Gewährung derjenigen zivilen Rechte an die Altgläubigen verkündete, die alle anderen Untertanen des Russländischen Reiches bereits genossen. Doch in der Praxis habe dies keine konkreten Folgen gezeitigt.396 An dieser Stelle wird eine Interpretation der Ziele des Gesetzes vom 3. Mai 1883 nachgeholt und seine Bestimmungen in den Kontext des seit 1860 stattgehabten Wandels der Politik gegenüber den Altgläubigen gestellt. Aufschluss über die Ziele, die die Regierung mit den Bestimmungen vom 3. Mai 1883 verfolgte, gibt eine Zirkularvorschrift des Innenministers Dmitrij Andreevič Tolstoj an die Gouverneure vom 21. Juli 1883.397 In dem Zirkular wurde wiederholt, dass aus dem Gesetz keine Schwächung der Orthodoxen Kirche folgen solle und die religiösen Lehren der Raskol’niki dadurch nicht anerkannt würden.398 Dem Schutz der Staatskirche diente das Verbot des Umbaus altgläubiger Bethäuser zu kirchenähnlichen Gebäuden. Die Einhaltung dieses Verbots sollte durch die Bindung des Rechtes auf Renovierung und Entsiegelung an die Entscheidung der Gouverneure bzw. des Innenministers zusammen mit dem Oberprokuror des Heiligsten Synods sichergestellt werden. Denn die Gouverneure sollten gemäß der genannten Zirkularvorschrift ihre Entscheidung, ob
394 Stadnikov: Moskovskoe staroobrjadčestvo 50. 395 Maškovceva: Konfessional’naja politika 16. 396 Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 175. 397 Zirkular an alle Gouverneure vom Innenministerium, Department für allgemeine Angelegenheiten, III. Abteilung vom 21.7.1883. III. Otdel. D-ta Obščich Del Ministerstva Vnutrennich Del: Zakon 3-go Maja 1883 goda o pravach raskol’nikov. St. Petersburg 1886, 29–35. 398 Ebd. 30.
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ein Bethaus renoviert werden dürfe, daran festmachen, ob die Gebäude orthodoxen Kirchen ähnelten und dadurch Verführungen für Orthodoxe darstellten.399 Auch nach der Verabschiedung des Gesetzes sollte der Raskol weiterhin für die orthodoxe Bevölkerung unsichtbar bleiben und dadurch Konversionen zum Altgläubigentum verhindern. Doch wieso wurde den Altgläubigen und Angehörigen zahlreicher Sekten überhaupt die Möglichkeit gegeben, ihre Bethäuser auf legalem Wege zu renovieren oder zu entsiegeln? Angesichts der bisherigen Praxis, die für das Gouvernement Livland in Kapitel 4 vorgestellt wurde, stellte das Gesetz de facto keine Veränderung der Lage dar. Die Altgläubigen in Riga und am Peipussee verfügten über Bethäuser, die von der Regierung stillschweigend toleriert wurden. Doch hatte sich auch in Regierungskreisen die Überzeugung durchgesetzt, dass eine Diskriminierung der Altgläubigen negative Folgen für deren Verhältnis zur Regierung nach sich ziehe. Eine Konferenz des Jahres 1879 unter dem Vorsitz Pёtr Valuevs identifizierte die Altgläubigen als stark konservative Kraft, die tief in Russland und seinen Traditionen verwurzelt sei, deren ständige Verfolgung sie aber zu einer Brutstätte der Opposition gegen das Regime gemacht habe. Diesem Umstand könne nur durch größere Toleranz gegenüber den Altgläubigen Abhilfe geschaffen werden, schlussfolgerten die Konferenzteilnehmer.400 In der oben genannten Zirkularvorschrift schreibt der Innenminister außerdem, dass die Altgläubigen durch die neuen Rechte, die sie in Bezug auf ihre Bethäuser bekamen, stärker dazu verpflichtet werden sollten, die gesetzlichen Bestimmungen einzuhalten und keine Versuche zu unternehmen, ihre Lehre unter den Mitgliedern der Orthodoxen Kirche zu verbreiten.401 Mit anderen Worten diente das Gesetz vom 3. Mai 1883 dazu, die Altgläubigen mit der Regierung zu versöhnen und gleichzeitig die Kontrolle der Regierung über die Bethäuser auszudehnen, um sicherzustellen, dass diese keine Gefahr für die Orthodoxe Kirche darstellten; doch dies war nur möglich, indem den Altgläubigen die Möglichkeit verliehen wurde, ihre Bethäuser bei Renovierungen oder Entsiegelungen bzw. beim Umbau von Privathäusern in Bethäuser bei der lokalen Regierung anzumelden und dadurch zu legalisieren. Das Gesetz vom 3. Mai 1883 kann daher als weiterer Schritt auf dem Weg der Integration des Altgläubigentums in den Staat gesehen werden, der nur erfolgreich sein konnte, wenn die Regierung den religiösen Dissidenten bestimmte Rechte gewährte, wodurch diese zur Einhaltung der Gesetze verpflichtet wurden.
399 Ebd. 33. 400 Zajončkovskij, P. A.: Krizis samoderžavija na rubeže 1870–1880-x godov. Moskau 1964, 102 f. 401 Zirkular an alle Gouverneure vom Innenministerium vom 21.7.1883. III. Otdel. D-ta Obščich Del Ministerstva Vnutrennich Del: Zakon 3-go Maja 1883, 35.
282 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 Das Gesetz vom 3. Mai 1883 markiert damit eine weitere Etappe in der langen Abwendung vom Nikolaj’schen Kurs der Repression der Altgläubigen. Die noch unter Aleksandr II. herausgegebene »Instruktion als Leitfaden für ausübende Tätigkeiten und Beratungen bezüglich Angelegenheiten, die den Raskol betreffen« hatte an der »Ausrottung des Raskol«402 durch die Schließung altgläubiger Bethäuser festgehalten.403 Nun wurden diese Bethäuser legalisiert, nachdem der repressive Kurs Nikolajs I. seine Ziele nicht hatte erreichen können. Für die Altgläubigen bot das Gesetz vom 3. Mai 1883 – abgesehen von den zivilen Rechten, die ihnen darin verliehen wurden – den Vorteil veröffentlichter Gesetze, die den staatlichen Umgang mit ihren Bethäusern und den Vollzug kirchlicher Amtshandlungen relativ klar regelten. Wenn sie um Entsiegelung oder Renovierung ihrer Bethäuser bei der Regierung baten und einen positiven Entscheid bekamen, konnten sie ihre Bethäuser legalisieren, das heißt sich auf ein Gesetz berufen, welches nicht länger geheim gehalten wurde.404 Ob die Altgläubigen Livlands diese Möglichkeit nutzten und ob die Regierung ihren Bitten nachkam, ist Gegenstand des folgenden Kapitels.
5.2.4 Die Implementierung des Gesetzes vom 3. Mai 1883 im Gouvernement Livland Von den Zeitgenossen wurde häufig kritisiert, dass das Gesetz vom 3. Mai 1883 in der Praxis nicht umgesetzt worden sei. Varvara Jasevič-Borodaevskaja schrieb 1905, dass die Altgläubigen praktisch nie die Erlaubnis zur Errichtung und Renovierung neuer Bethäuser bekommen hätten.405 Dieser Meinung schloss sich Sergej Petrovič Mel’gunov im Jahr 1907 an. Das Gesetz vom 3. Mai 1883 sei von den Beamten in den Gouvernements nicht implementiert worden.406 In der Diözese Nižnyj Novgorod hätten die Altgläubigen in den 1890er Jahren in 172 Bittschriften um Erlaubnis zum Bau von Bethäusern gebeten. Dies sei ihnen jedoch nur in zwölf Fällen gestattet worden.407 Die heutige historische Forschung übernimmt die Vorstellung, dass das Gesetz vom 3. Mai 1883 in Bezug auf die Bethäuser der Altgläubigen in der Praxis keine Bedeutung gehabt habe. Peter Waldron schreibt: 402 SPR 556–559 (15.10.1858). 403 Ebd. 404 Prugavin: Russkie sektanty. Teil 2, 266. 405 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 32. 406 Mel’gunov, Sergej Petrovič: Staroobrjadcy i svoboda sovesti. (Istoričeskij očerk). Moskau 1907, 54. 407 Mel’gunov, Sergej Petrovič: Staroobrjadčeskie i sektantskie obščiny. Moskau 2007, 5. Zitiert nach: Waldron, Peter: Religious Reform After 1905: Old Believers and the Orthodox Church, in: Oxford Slavonic Papers XX (1987), 110–139, hier 114.
Die Legalisierung der Bethäuser der Altgläubigen 283
The 1883 regulation still fell far short of giving Old Believers the opportunity to practise their religion on a par with Orthodoxy, especially since it was often ignored by provincial officials who were responsible for dealing with sects at the local level.408
Doch sehen wir uns die Lage im Gouvernement Livland an: Die ersten Altgläubigen in Livland, die nach der Verabschiedung des neuen Gesetzes um Erlaubnis zur Renovierung ihres Bethauses baten, waren die Einwohner des Dorfes Krasnye Gory im Jahr 1884.409 Da sie das Fundament des Bethauses nur unbedeutend anheben und das Dach reparieren wollten, gab ihnen der Innenminister auf Grundlage des neuen Gesetzes umstandslos die nötige Erlaubnis.410 Ähnlich unkompliziert verlief die Renovierung des Bethauses in Bol’šie Kol’ki. Die Altgläubigen des Dorfes baten den Gouverneur am 18. Juni 1891, ihr im Jahr 1870 errichtetes Bethaus erneuern und mit einer neuen Holzverkleidung versehen zu dürfen.411 Der Dorpater Kreisleiter berichtete dem livländischen Gouverneur im Januar 1892, dass das Bethaus in Bol’šie Kol’ki 1870 mit Erlaubnis des damaligen Ordnungsrichters Ėngel’gard errichtet worden sei, dass in dem Dorf etwa 300 Schismatiker und 25 Orthodoxe lebten und das Bethaus daher unabdingbar für die Bevölkerung sei. Allerdings seien die »Raskol’niki im Allgemeinen ein sehr grobes und verwegenes Volk«, die sich gegenüber der orthodoxen Geistlichkeit schlecht verhielten.412 Ungeachtet dieser Einschätzung erlaubte der livländische Gouverneur am 31. März 1892 die Reparatur des Gebäudes unter der Bedingung, dass dessen äußere Fassade dabei nicht verändert werde.413 Etwas schwieriger gestaltete sich der Umbau des seit 1865 existierenden Bethauses in Voron’ja. Nachdem die Altgläubigen des Dorfes im März 1901 die Kreispolizeiverwaltung von Jur’ev um Erlaubnis zum Umbau gebeten hatten,414 berichtete der jüngere Assistent des Jur’ever Kreisleiters, dass das einstöckige Bethaus verfault sei, weil das Fundament unter Wasser stehe, und die Gefahr bestehe, dass das Gebäude einstürze.415 Tatsächlich sahen die Altgläubigen von Voron’ja vor, das Bethaus nicht fundamental zu renovieren, sondern ein neues zu errichten. Dies ging aus den Plänen für den Neubau hervor, welche sie an die Verwaltung geschickt hatten. Aus diesem Grund wurde das Innenministerium eingeschaltet, welches befand, dass sich der geplante Neubau stark von 408 Waldron: Religious Reform after 1905, 114. 409 Bittschrift der Altgläubigen von Krasnye Gory an den livländischen Gouverneur vom 2.10.1884. EAA F. 296, op. 5, d. 5107, l. 1. 410 Schreiben des livländischen Gouverneurs an das Dorpater Ordnungsgericht vom 5.1.1885. Ebd., l. 8. 411 Bittschrift des Kurators des altgläubigen Bethauses Gur’jan Fёdorov Baranin an den livländischen Gouverneur vom 18.6.1891. EAA F. 297, op. 1, d 1335, l. 4 f. 412 Ebd., l. 26 f. 413 Ebd., l. 30–31ob. 414 EAA F. 297, op. 1, d. 4067, l. 2 f. 415 Ebd., l. 4 f.
284 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 gewöhnlichen Landhäusern abhebe, weshalb die Altgläubigen ihr Bauvorhaben abändern sollten.416 Insbesondere die Fenster sollten verkleinert werden. Dass die Altgläubigengemeinde innere Umbauten vorgesehen hatte – die Einrichtung von Chören und einer gewölbten Decke, um eine größere Anzahl ihrer Gemeindemitglieder im Bethaus beherbergen zu können – spielte für die Entscheidung des Innenministeriums keine Rolle.417 Der neue Bauplan erhielt die Zustimmung des Departements für allgemeine Angelegenheiten418 und die Polizei begutachtete den abgeschlossenen Bau Ende Dezember 1903, wobei sie feststellte, dass das Bethaus gemäß den Plänen errichtet worden sei.419 Um eine Vergrößerung ihres Bethauses baten die Altgläubigen von Kazapel’ im März 1891.420 Der livländische Gouverneur erkundigte sich daraufhin beim Dorpater Kreisleiter, wann und mit wessen Erlaubnis das Bethaus errichtet worden war; wann es gemäß dem Gesetz vom 3. Mai 1883 entsiegelt worden war; ob der Bau eines Bethauses schlechte Folgen für die orthodoxe Bevölkerung haben könnte; und wie viele Raskol’niki und wie viele Orthodoxe in Kazapel’ lebten.421 Der jüngere Assistent des zuständigen Kreisleiters ließ die Dorpater Kreispolizeiverwaltung wissen, dass es über den Bau des Bethauses keinerlei Aufzeichnungen gebe. Laut den Aussagen der Bewohner des Dorfes sei das Gebäude 1862 von Prokofij Ivanov Skorodumov als Wohnhaus errichtet und nach dessen Tod ohne besondere Erlaubnis in ein Bethaus umgewandelt worden. Dieses sei niemals versiegelt worden.422 Der livländische Gouverneur teilte dies dem Departement für allgemeine Angelegenheiten mit und fügte hinzu, dass das Bethaus versiegelt werden müsse, da es ohne staatliche Erlaubnis eingerichtet worden sei. Da das Bethaus aber schon seit geraumer Zeit existiere und in dem Dorf eine bedeutende Anzahl von Raskol’niki lebe – in Kazapel’ wohnten zu jener Zeit 39 Orthodoxe und 515 Altgläubige –,423 die sich noch dazu zum Unterhalt des Bethauses durch das Gesetz berechtigt sähen, empfahl der Gouverneur, ihnen zu erlauben, das Bethaus weiterhin zu benutzen. Den geplanten Umbau, der die Einrichtung von Chören im Inneren des Bethauses vorsah, sah der Gouver 416 Schreiben des Departements für allgemeine Angelegenheiten des Innenministeriums an den livländischen Gouverneur vom 31.12.1902. Ebd., l. 14 f. 417 Bericht des Kreisleiters von Jur’ev an die livländische Gouvernementsverwaltung vom 12.6.1902. Ebd., l. 21 f. 418 Schreiben des Departements für allgemeine Angelegenheiten an den livländischen Gouverneur vom 27.7.1902. Ebd., l. 26. 419 Schreiben des Kreisleiters von Jur’ev an die livländische Gouvernementsregierung vom 7.1.1904. Ebd., l. 31. 420 Schreiben des Departements für allgemeine Angelegenheiten an den livländischen Gouverneur vom 31.3.1891. EAA F. 297, op. 1, d. 1335, l. 1 f. 421 Ebd., l. 3 f. 422 Ebd., l. 11. 423 Schreiben des jüngeren Assistenten des Kreisleiters von Jur’ev an die Dorpater Kreispolizeiverwaltung vom 22.5.1891. Ebd., l. 11.
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neur jedoch nicht als notwendig an.424 Das Departement für allgemeine Angelegenheiten kam aus diesen Gründen zu dem Schluss, den geplanten Umbau nicht zu gestatten.425 Die Altgläubigen von Kazapel’ gaben sich mit der Absage nicht zufrieden und baten zwei Jahre später um Erlaubnis, das Bethaus lediglich renovieren zu dürfen. In ihrer Bittschrift an den livländischen Gouverneur vom Mai 1893 versuchten sie sich in besonders gutem Licht darzustellen. Sie schrieben: [I]m Dorf Kasepel’ [sic!] befinden sich etwa 500 Seelen der Altgläubigen der pomorischen Richtung. Bezüglich unseres Glaubens stehen wir nicht weit [entfernt] von der Orthodoxie, wir erkennen die Ehe an und haben mit der orthodoxen Geistlichkeit keine Schwierigkeiten oder Meinungsverschiedenheiten.426
Sie gehörten der gleichen Gruppe (tolka) des alten Glaubens an wie diejenigen Pomorcy, die in Riga über ein Bethaus und ein Krankenhaus verfügten und in Pskov zwei von der Regierung genehmigte Bethäuser besäßen. Nun sei ihr Bethaus in Kazapel’, welches seit mehr als 30 Jahren existiere, stark verfallen. Da ihnen ein Umbau nicht erlaubt worden sei, baten sie den Gouverneur um Erlaubnis, es renovieren zu dürfen, ohne dabei die Fassade zu verändern oder das Gebäude zu vergrößern.427 Die Altgläubigen hatten von ihrem Wunsch, das Bethaus zu vergrößern, abgelassen und nur mehr um Erlaubnis zu dessen Renovierung gebeten. Auf Grundlage des Gesetzes vom 3. Mai 1883 wurde den Altgläubigen von Kazapel’ die nötige Erlaubnis erteilt.428 Im November 1893 berichtete der Jur’ever Kreisleiter der livländischen Gouvernementsregierung, dass das Bethaus in Kazapel’ ausgebessert worden sei, ohne dass Veränderungen an seiner Fassade vorgenommen worden seien.429 ✴ ✴ ✴ Die Altgläubigen reagierten auf den Kurswechsel der Regierung seit Beginn der 1860er Jahre. Nachdem unter Nikolaj I. sämtliche Bethäuser der Altgläubigen am Peipussee geschlossen worden waren, hatten die Altgläubigen seit Anfang der 1860er Jahre Gebetsräume in ihren Privathäusern eingerichtet. Außerdem hatten sie begonnen, neue Bethäuser zu errichten, die allerdings auf Weisung des Dorpater Ordnungsgerichts nur als Wohnhäuser genutzt werden durften. Obwohl der Gouvernementsregierung bekannt war, dass die Altgläubigen sich 424 Ebd., l. 12–13ob. 425 Schreiben des Departements für allgemeine Angelegenheiten an den livländischen Gouverneur vom 23.10.1891. Ebd., l. 24 f. 426 EAA F. 297, op. 1, d. 1994, l. 1. 427 Ebd., l. 1 f. 428 Ebd., l. 2 f. 429 Ebd., l. 6.
286 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 nicht an diese Anordnung hielten, ließ sie die Bethäuser nicht schließen. Ende der 1860er Jahre hatte Innenminister Timašev schließlich befohlen, die repressiven Gesetze über die Bethäuser der Altgläubigen in Livland nicht in Anwendung zu bringen.430 Nach Verabschiedung des Gesetzes vom 3. Mai 1883 baten die Altgläubigen um Erlaubnis, jene seit etwa 1865 errichteten Bethäuser renovieren zu dürfen. Sie waren mit dem neuen Gesetz bekannt und nutzten es, um ihren Gotteshäusern Legalität zu verleihen, so dass diese nicht weiter der Willkür einzelner Beamter ausgeliefert sein würden. Wie eingangs dargestellt, vertraten Zeitgenossen die Meinung, dass die Bestimmungen über die Bethäuser der Altgläubigen von 1883 in der Praxis nicht umgesetzt worden seien. Ihre Meinung findet heute noch Niederschlag in der historischen Forschung über die Altgläubigen.431 Im Gouvernement Livland zeichnet sich jedoch ein anderes Bild. Die Erlaubnis zur Renovierung, oder im Fall des Bethauses in Voron’ja des inneren Umbaus, wurde in allen Fällen erteilt, unter der Bedingung, dass die äußere Gestalt der Bethäuser nicht verändert werde und diese wie zuvor Landhäusern und nicht orthodoxen Kirchengebäuden ähneln würden. Dass die meisten Bethäuser mehrere Jahrzehnte zuvor ohne Erlaubnis der Regierung errichtet worden waren, spielte dabei keine Rolle, obwohl der livländische Gouverneur im Falle des Bethauses von Kazapel’ darauf hinwies, dass es aus diesem Grund eigentlich versiegelt werden müsste. Möglicherweise war die Implementierung des Gesetzes vom 3. Mai 1883 in Livland eine Ausnahme. Allerdings muss auf ein Missverständnis hingewiesen werden, welchem die zeitgenössischen Beobachter unterlagen. Sowohl Varvara JasevičBorodaevskaja als auch Sergej Petrovič Mel’gunov glaubten, dass das Gesetz vom 3. Mai 1883 den Altgläubigen die Möglichkeit gegeben habe, neue Bethäuser zu errichten. Varvara Jasevič-Borodaevskaja schreibt, dass den Altgläubigen 1883 erlaubt worden sei, ihre Kapellen und Bethäuser auszubessern und neue zu errichten.432 Sergej Mel’gunov kritisierte, dass die Altgläubigen der Diözese Nižnyj Novgorod nur in zwölf Fällen die Erlaubnis zur Errichtung neuer Bethäuser bekommen hätten.433 Doch war der Neubau von Bethäusern und Kapellen der Raskol’niki im Gesetz überhaupt nicht vorgesehen, sondern lediglich deren Erneuerung und die Einrichtung von Bethäusern in Privathäusern. Umso erstaunlicher ist es, dass den Altgläubigen in einigen Fällen der Bau von Gotteshäusern erlaubt wurde. Dieser Umstand hätte an der Kritik der Zeitgenos 430 S. Kapitel 4.2.2. 431 Neben der oben zitierten Arbeit von Peter Waldron, sei auf die Einschätzung Ol’ga Eršovas hingewiesen, die im Jahr 1999 ebenfalls schreibt, dass das Gesetz nicht implementiert wurde und sich an der Lage der Altgläubigen im Imperium nichts änderte. Eršova: Staroobrjadčestvo i vlast’ 175. 432 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 31. 433 Mel’gunov: Staroobrjadčeskie i sektantskie obščiny 5. Zitiert nach: Waldron: Religious Reform after 1905, 114.
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sen, die sich für einen toleranteren Umgang mit den Altgläubigen aussprachen, sicherlich wenig geändert; sie hätten vielmehr kritisieren können, dass den Altgläubigen 1883 nicht einmal erlaubt worden ist, neue Bethäuser zu errichten. Für die Bewertung der praktischen Bedeutung des Gesetzes ist dieses Detail jedoch von größerer Bedeutung. Die Möglichkeit, den untersuchten Fall des Gouvernements Livland mit der Implementierung des Gesetzes in anderen Gouvernements zu vergleichen, wurde durch das Missverständnis der Bestimmungen leider zunichte gemacht, weil sämtliche Werke aus dem 19. und 20. Jahrhundert, die zu diesem Thema gefunden werden konnten, einer falschen Vorstellung über die gesetzlichen Bestimmungen anhängen. Tatsächlich war das Ziel des Gesetzes nicht in erster Linie die Verbesserung der Lage der Altgläubigen im Russländischen Reich, sondern die Stärkung der staatlichen Kontrolle über die religiöse Organisation der religiösen Dissidenten. Dass dieses Ziel in einigen Fällen erreicht werden konnte, führt die Angelegenheit des altgläubigen Bethauses in Tichotka vor Augen. Im Jahr 1891 schrieb der Altgläubige des Dorfes Černyj, Petr Ivanov Suvorov, eine Bittschrift an den livländischen Gouverneur. Darin beklagte er sich, dass die Altgläubigen in Tichotka im Jahr 1884 ohne Erlaubnis ein Bethaus errichtet hätten, dessen innere und äußere Gestalt keinerlei Ähnlichkeit mit einem Wohnhaus habe. Er selbst habe dem Bauherren Michail Safronov 50 Rubel für den Bau gespendet. Das Gebäude werde nun aber nicht als Bethaus genutzt, sondern Safronov wohne darin, obwohl es im Inneren noch immer einem Bethaus gleiche. »Aufgrund dieses Verstoßes gegen das Gesetz und die Regierung habe ich es für bedingungslos notwendig befunden Eurer höchsten Exzellenz ehrerbietigst von der eigenwilligen Errichtung des Bethauses in Tichotka […] durch die Gemeinde der Raskol’niki zu berichten.«434 Die Bittschrift offenbart, dass es dem Altgläubigen Suvorov nicht um die unrechtmäßige Errichtung des Bethauses ging, sondern darum, dass er sich von Safronov um 50 Rubel betrogen fühlte. Damit die Verwaltung der Sache nachging, bediente sich Suvorov der rechtlichen Lage und schwärzte Safronov bei den Obrigkeiten an. Die der Beschwerde Suvorovs folgende Untersuchung offenbarte, dass der damalige Ordnungsrichter Sivers dem mittlerweile verstorbenen Michail Safronov und dessen Bruder Jakov im Jahr 1884 mündlich die Erlaubnis zum Bau des Bethauses gegeben hatte. Nachdem der Bau abgeschlossen war, wurde den Brüdern Safronov allerdings bekannt gegeben, dass sie darin keine Gottesdienste feiern durften. Sie wollten das Gebäude daraufhin in ein Wohnhaus umwandeln, was jedoch an fehlenden finanziellen Mitteln scheiterte.435 Ob das Bethaus in der Folge geschlossen wurde 434 EAA F. 297, op. 1, d. 1425, l. 5ob-6. 435 Protokoll der Befragung Petr Nikolaev Mjasnikovs, Pёtr Ivanov Suvorovs und Jakov Safronovs durch den jüngeren Assistenten des Dorpater Kreisleiters vom Juni 1891. Ebd., l. 9 f.
288 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 und Ivan Suvorov seine 50 Rubel zurückerhielt, ist in dem Dokumentenbestand nicht überliefert. Die Angelegenheit zeigt jedoch, dass Altgläubige versuchen konnten, das Gesetz von 1883 für persönliche Zwecke zu nutzen. Auf diese Weise wurde die Regierung direkt in die Angelegenheiten der Altgläubigengemeinden involviert und konnte ihre Kontrolle über die Zustände und Vorgänge innerhalb der Gemeinden verbessern. Aufgrund von Bittschriften wie jener Ivan Suvorovs und aufgrund der freiwilligen Bitte der Altgläubigen um Erlaubnis zur Renovierung ihrer Bethäuser erreichte die Regierung in Livland ihr Ziel der Verbesserung ihrer Informationslage über die Altgläubigen. Und sie konnte durch Polizeibeamte kontrollieren lassen, ob die Altgläubigen sich bei Renovierungs- und Umbauarbeiten an die zuvor eingeschickten Pläne hielten, wodurch vermeintlicher Schaden, der von kirchenähnlichen Bethäusern für die Orthodoxe Kirche ausging, abgewendet werden konnte. Insbesondere in jenen Fällen, in denen die Altgläubigen Auskunft über ihre religiöse Lehre gaben, wie im Fall der Bittschrift der Gemeinde von Kazapel’ aus dem Jahr 1893, erhielt die Regierung jene Informationen, die sie dem Umgang mit den verschiedenen Raskol’niki zu Grunde legte. Allerdings waren derartige, an die Regierung gerichtete, Selbstauskünfte mit Vorsicht zu genießen. Den Altgläubigen scheint allzu bekannt gewesen zu sein, welche Bedenken die Regierung und die Orthodoxe Kirche ihnen gegenüber hatte, so dass sie eben jene Bedenken in ihren Bittschriften auszuräumen versuchten. Ob dies den tatsächlichen Gegebenheiten entsprach, ist nicht mit Sicherheit zu sagen. Die Stellung der Bethäuser in Livland verbesserte sich nach 1883 maßgeblich, da sie nicht länger unter dem Damoklesschwert der Illegalität standen und die Gemeinden sich auf ihr Recht zum Unterhalt dieser Bethäuser berufen konnten. Die Lage in Riga war eine andere als in den Dörfern am Peipussee. Das Bethaus der Grebenščikov-Gemeinde in der Moskauer Vorstadt war auch unter Nikolaj I. nie versiegelt oder zerstört worden. Der Regierung war seit Langem bekannt, dass die Rigaer Altgläubigen dieses Bethaus besaßen und darin ihre Gottesdienste feierten. Der 1883 in Riga geborene Altgläubige Ivan Ul’janovič Vakon’ja, der als Kind die Gemeindeschule besucht hatte und später Teilnehmer an den Allrussischen Versammlungen der pomorischen Altgläubigen war,436 schreibt in seinen Erinnerung, dass die Gemeinde in der Zeit nach Nikolaj I. – ein genaues Datum nennt Vakon’ja leider nicht – einen hölzernen Glockenturm errichtet habe, an dem ein Stahlrad einer Eisenbahn hing, auf welchem der Glöckner zum Gottesdienst läutete.437 Im Jahr 1886 führten die Altgläubigen, angeleitet von dem Nudelfabrikanten K. G. Makarov, der von 1870 bis 1905 Vorsitzender des Rates der Grebenščikov-Gemeinde war, einen Umbau des Bethausintérieurs durch. In den Jahren 1885 bis 1888 wurde das Bethaus 436 Vakon’ ja: Vospominanija ob obščine 260. 437 Ebd. 270.
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vergrößert und auf vier Etagen erweitert.438 1895 bauten die Altgläubigen außerdem ein dreistöckiges Gebäude zur Unterbringung ihrer Schule und eines Asyls für Kinder der Altgläubigen.439 Die Grebenščikov-Gemeinde in Riga hatte ihr Bethaus in der Zeit Nikolajs I. erhalten können. Sie nutzten die Ausweitung ihrer Rechte durch das Gesetz von 1883 für eine Erweiterung ihres Bethauses und den Ausbau ihrer schulischen und wohltätigen Institutionen.
5.3 Von der Diskriminierung zur Disziplinierung der Altgläubigen Der Wandel des staatlichen Umgangs mit den Altgläubigen kann als ein Übergang von Diskriminierung zu Disziplinierung beschrieben werden. In Livland war dieser Wandel bereits in den 1860er Jahren spürbar; der neue Kurs wurde jedoch erst 1874 und 1883 in gesetzliche Form gebracht und auf die Raskol’niki des gesamten Reiches angewandt. Die Altgläubigen sollten schrittweise in das »multiconfessional establishment« integriert werden, welches in der Zeit von Ekaterina II. bis Nikolaj I. in Bezug auf Juden, Muslime, Katholiken, die evangelischen Bekenntnisse, Buddhisten und Animisten systematisiert worden war. Auslöser für diesen Wandel war die Einsicht, dass die Repressionen unter Nikolaj I. das Altgläubigentum nicht zum Verschwinden hatten bringen können, sondern vielmehr der staatlichen Kontrolle über die altgläubige Bevölkerung im Weg standen. Außerdem wurde die Zugehörigkeit zum Altgläubigentum nicht länger mit politischer Illoyalität gleichgesetzt. Vielmehr hatte sich die Überzeugung durchgesetzt, dass die Verfolgungen der Altgläubigen durch die Regierung und die Orthodoxe Kirche dazu führten, dass die Altgläubigen den Obrigkeiten gegenüber feindlich gesinnt waren. Daher sprachen sich Intellektuelle und Regierungsvertreter für die Ausweitung der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) auf die Raskol’niki aus und begründeten diese Forderung damit, dass selbst Angehörige nicht-christlicher Religionen größere religiöse Freiheiten genossen, obwohl die religiöse Lehre des Altgläubigentums als derjenigen der Orthodoxen Kirche viel näher stehend empfunden wurde. Hinter der Forderung nach Ausweitung der Glaubenstoleranz auf die Raskol’niki verbarg sich erstens die Idee eines toleranten Umganges mit nicht-orthodoxen Bevölkerungsgruppen im Russländischen Reich, die seit Anfang des 19. Jahrhunderts von russischen Gelehrten und Beamten als besonderes Charakteristikum Russlands angesehen wurde.440 Wie Paul Werth betont, war »the idea of ›religious toleration‹ […] a critical factor in shaping official attitudes about the appropriate limits of both 438 Ebd. 280. 439 Ebd. 264. 440 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 105.
290 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 religious freedom for non-Orthodox subjects and state intervention in their spiritual affairs.«441 Wie in Kapitel 4 gezeigt wurde, erlangte die Idee der Glaubenstoleranz nach der Herrschaft Nikolajs I. auch in Bezug auf die Altgläubigen wieder an Bedeutung. Zweitens diente die Ausweitung der Glaubenstoleranz auf die religiösen Dissidenten ihrer Integration ins »multiconfessional establishment«,442 um sie für die Zwecke des Staates nutzbar machen zu können.443 Die Gesetze von 1874 und 1883 sollten die Kontrolle der Regierung über die altgläubige Bevölkerung stärken, indem das Verhältnis der Altgläubigen zum Staat durch eine systematische Gesetzgebung verrechtlicht wurde. Insbesondere das zeitliche Zusammenfallen der Militärreform mit der Einführung von Matrikelbüchern für die Altgläubigen im Jahr 1874 legt nahe, dass der staatliche Zugriff auf die altgläubige Bevölkerung verbessert werden sollte. Denn die Umsetzung der allgemeinen Wehrpflicht erforderte eine verbesserte Informationsgrundlage über die Lebensdaten der Einwohner des Reiches. Dies galt insbesondere bezüglich der Angehörigen staatlich nicht anerkannter Religionen, über deren demographische Situation es nur spärliche Kenntnisse gab, da sie bis dato nicht das Recht hatten, Matrikelbücher zu führen. Neben einer Stärkung der staatlichen Kontrolle über die Altgläubigen erhoffte man sich von der Ausweitung der Glaubenstoleranz eine Annäherung der Altgläubigen an die Regierung und die Staatskirche. Im Austausch für religiöse und zivile Freiheiten sollte die Regierung politische Loyalität erhalten und die Altgläubigen früher oder später wieder mit der Orthodoxen Kirche vereint werden können. Dazu war es nötig, den Nikolaj’schen Repressionskurs einzustellen und stattdessen die Existenz des Altgläubigentums anzuerkennen. Die Staatskirche sollte so weit wie möglich aus den Angelegenheiten der Altgläubigen ausgeschlossen werden. Die Mitwirkung der Gemeindegeistlichkeit bei der Umsetzung administrativer Maßnahmen, die gegen die Altgläubigen gerichtet waren, hatte deren Verhältnis zur Orthodoxen Kirche nachhaltig geschädigt. Aus diesem Grund unterlagen die Familienangelegenheiten der Altgläubigen nach der Eintragung ihrer Ehen und Kinder in die polizeilich geführten Matrikelbücher den zivilen Gerichten und nicht den orthodox-kirchlichen. Ebenso lag die Entscheidung darüber, ob Bethäuser renoviert oder umgebaut werden durften, beim zuständigen Gouverneur bzw. beim Innenminister. Nur im Fall von Entsiegelungen geschlossener Bethäuser wurde dem Oberprokuror des Heiligsten Synods ein Mitspracherecht eingeräumt. Eine vollständige staatliche Anerkennung des Altgläubigentums wurde durch die besondere Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Reich verhindert. Repräsentanten der Staatskirche sahen die Altgläubigen nach wie vor als 441 Ebd. 442 Ebd. 48. 443 Ebd. 258 f.
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Schismatiker an, die sich von der Orthodoxie abgespalten hatten. Sie erhoben Einspruch gegen die Gewährung religiöser und ziviler Rechte an die Raskol’niki, indem sie sich auf die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Reich und die Pflicht des Zaren, die Staatskirche zu schützen, beriefen. So weigerten sich Experten des Kirchenrechts, wie Nikolaj Zaozerskij, und Professoren an den Geistlichen Akademien, wie Ivan Nil’skij, die Trauungsriten der Altgläubigen anzuerkennen, und sprachen sich, so wie Nikolaj Subbotin, vor 1883 gegen die Gewährung des Rechtes auf freie Religionsausübung in speziell zu diesem Zweck vorgesehenen Gotteshäusern aus. Der Widerstand der Orthodoxen Kirche verhinderte eine vollständige Integration in das »multiconfessional establishment« und damit die uneingeschränkte Ausweitung jener Herrschaftsmechanismen auf die Altgläubigen, die im Umgang mit den so genannten ausländischen Bekenntnissen bereits etabliert worden waren. Dies betrifft insbesondere die Kooptierung der religiösen Eliten. Die Gemeindeleiter der Bespopovcy wurden nicht als geistliche Personen anerkannt. Dadurch fehlte der Transmissionsriemen für die Übertragung imperialer Herrschaft vom Zentrum auf die Gemeinden. Während die religiösen Eliten der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse zur Disziplinierung ihrer Gemeindemitglieder verpflichtet waren, musste diese Funktion im Falle der Altgläubigen auch nach 1874 bzw. 1883 die Polizei übernehmen. Daher wurden die Matrikelbücher der Altgläubigen von den Polizei- und Volost’-Verwaltungen geführt. Nach wie vor fehlte der Regierung außerdem ein Ansprechpartner in den Gemeinden der Altgläubigen, der die Mitglieder der jeweiligen Gemeinde im Sinne des Staates disziplinieren konnte. Weitere Maßnahmen, die zum Schutz der Orthodoxen Kirche vor der befürchteten Anziehungskraft des Raskol auf orthodoxe Gemeindemitglieder getroffen wurden, waren die Auflage, dass die Bethäuser der Raskol’niki orthodoxen Kirchen nicht ähneln durften, und das fortgesetzte Verbot von Klöstern und Einsiedeleien, die auch nach 1883 nicht entsiegelt werden durften.444 Dass sich in den Gesetzen von 1874 und 1883 Maßnahmen wiederfinden, die einen Übertritt von Orthodoxen zum Raskol verhindern sollten, zeigt, dass ein Anwachsen des Raskol eine der größten Sorgen der Staatskirche war. Denn der Übertritt von der Orthodoxie zu einer anderen Religion oder christlichen Konfession war im Russländischen Reich ohnehin verboten. Gegenüber dem Raskol schien es jedoch geboten, zusätzliche Maßnahmen zu ergreifen, die derartige Konversionen verhindern sollten. Die Kompromisse, welche die Regierung in den Gesetzen in Bezug auf die Rechte der Altgläubigen zum Schutz der Orthodoxen Kirche machte, verhinderten in einigen Fällen, dass die Ziele, die mit diesen Bestimmungen verfolgt wurden, in vollem Umfang erreicht werden konnten. Dies gilt insbesondere für 444 Smirnov: Istorija russkago raskola 227.
292 Disziplinierung der Altgläubigen durch die Gesetze von 1874 und 1883 die im Gesetz vom 19. April 1874 festgelegte Einschränkung, dass nur diejenigen Altgläubigen zur Registrierung berechtigt waren, die von Geburt an dem Altgläubigentum angehörten. Sie sollte verhindern, dass Mitglieder der Orthodoxie vor ihrer Eheschließung zum alten Glauben übertraten. Dadurch hätten sie Zahlungen an die orthodoxen Priester für die Spendung des Ehesakraments umgehen können. Außerdem befürchtete die Russisch-Orthodoxe Kirche möglicherweise, dass bekannt geworden war, dass eine zivile Ehe leichter wieder geschieden werden konnte als eine Ehe, die in der orthodoxen Kirche geschlossen worden war. Daher sollten Konvertiten zum alten Glauben ihre Ehen nicht registrieren lassen dürfen. Nebeneffekt dieser Bestimmung war, dass viele Altgläubige von dem Recht ausgeschlossen wurden, ihre nach altem Ritus geschlossenen Ehen zu registrieren. Denn viele Altgläubigen waren in Zeiten der Repressionen nur nominell zur Orthodoxen Kirche übergetreten. Das heißt, dass sie weiterhin an ihrer Überzeugung vom alten Glauben festhielten, die Bethäuser der Altgläubigen besuchten und sich nach den alten Riten trauen lassen wollten. Der Erfolg der 1874 und 1883 beschlossenen Maßnahmen hing in erster Linie davon ab, ob die Altgläubigen bereit waren, von ihren neuen Rechten Gebrauch zu machen. Der Registrierung von Ehen und Kindern der Altgläubigen stellten sich praktische Hindernisse in den Weg, wie die entlegene Lage der zuständigen Behörden und unklare Kompetenzverteilungen zwischen den Polizei- und Volost’-Verwaltungen nach der Reform der Polizeibehörden im Jahr 1888. Das größte Hindernis für Registrierungen stellten Vorbehalte der Altgläubigen gegenüber dem Kontakt mit staatlichen Behörden und ihrer Erfassung in den Matrikelbüchern der Polizei dar. Diese beiden Probleme stellten sich in Riga zu sehr viel geringerem Ausmaß als in den Dörfern am Peipussee, zumal in der Hauptstadt der Ostseegouvernements eine Regelung gefunden wurde, durch die die Gemeindemitglieder den direkten Kontakt mit den Polizeibeamten umgehen konnten. Mit größerem Erfolg konnten in Livland die Ziele des Gesetzes vom 3. Mai 1883 erreicht werden. Die Altgläubigen nahmen das Angebot der Regierung an: Sie baten um die Erlaubnis zur Renovierung und zum Umbau ihrer Bethäuser, um diesen dadurch staatliche Sanktion zu verleihen. Entgegen den Befürchtungen der Zeitgenossen,445 führte die Bindung des Rechtes zur Renovierung der Bethäuser an die Erlaubnis der Obrigkeiten in Livland nicht dazu, dass die Bestimmungen in der Praxis nicht umgesetzt wurden. Stattdessen ermöglichten sie der Regierung die Kontrolle darüber, dass die Altgläubigen ihre Bethäuser nicht in Gebäude umwandelten, die orthodoxen Gotteshäusern ähnelten und dadurch eine »Verführung« für ihre orthodoxen Nachbarn darstellen konnten. Solange diese Bedingung beim Umbau und bei der Erneuerung 445 S. beispielsweise Mel’gunov: Staroobrjadčeskija i sektantskija obščiny 5. Zitiert nach Waldron: Religious Toleration 115.
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von verfallenen Bethäusern eingehalten wurde, wurde eine entsprechende Erlaubnis in allen untersuchten Fällen erteilt. Ein Bereich der Politik gegenüber den Altgläubigen, der seit 1860 diskutiert worden war, tauchte in der Gesetzgebung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts nicht auf: Die Frage, ob und unter welchen Bedingungen den Altgläubigen die Erlaubnis zur Eröffnung von Grundschulen gegeben werden sollte, blieb unbeantwortet. Es kann davon ausgegangen werden, dass die Altgläubigen am Peipussee ihre Kinder weiterhin in ihren Privathäusern von ihren Nastavniki unterrichten ließen. In Riga existierte seit 1873 die Schule am Grebenščikov-Armenhaus. Um 1898 soll außerdem die so genannte »FabrikGrundschule« (Fabričnoe Načal’noe Učilišče) im Vorortbezirk Rigas eingerichtet worden sein, auf der im Jahr 1903 sechs Jungen und acht Mädchen, die dem Raskol angehörten, unterrichtet wurden.446 Den Altgläubigen wurden in den Jahren 1874 und 1883 zum ersten Mal seit Nikolaj I. in größerem Umfang Rechte verliehen; auf die Anwendung repres siver, administrativer Maßnahmen bezüglich der Familien und der religiösen Organisation der Altgläubigen wurde verzichtet. Mehr noch, die Unterstellung der Familienangelegenheiten der Altgläubigen unter die zivilen Gerichte markierte die Stärkung rechtsstaatlicher Prinzipien gegenüber polizeistaatlichen im Umgang mit den Altgläubigen. Diese machten von ihren neuen Rechten Gebrauch, um beispielsweise auf Alimentationszahlungen zu klagen, Kinder vor Gericht legalisieren zu lassen, die nicht innerhalb der festgelegten Frist in den Matrikelbüchern eingetragen worden waren, oder ihre Ehen gerichtlich scheiden zu lassen. Bis die Regierung das Altgläubigentum in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufnahm, sollte es jedoch noch bis 1906 dauern. Wie im folgenden Kapitel gezeigt wird, stand diese Entwicklung im Zusammenhang mit dem Toleranzmanifest des Jahres 1905 und der lauter werdenden Forderung nach der Achtung der Gewissensfreiheit im Russländischen Reich.
446 Schreiben des Polizeihauptmannes des Rigaer Vorortbezirks an den Rigaer Polizeimeister vom 10.11.1903. LVVA F. 51, op. 1, d. 26100, l. 15.
6. Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Unsere geistlichen Personen dürfen keine Bearbeiter weltlicher Pflichten sein, damit sie nicht zu Staatsbeamten im Priesterrock werden, wie dies mit den geistlichen Personen der herrschenden Kirche geschah und damit sie nicht, ähnlich jenen, ihre innere sittliche Auto rität verlieren.1 Erklärung der Altgläubigen-Pomorcy der Gemeinden in Moskau, Zaevka und Nižegorod im Jahr 1908
Im Jahr 1901 wurde Lev Nikolaevič Tolstoj (1828–1910) exkommuniziert. In der Öffentlichkeit galt sein Ausschluss aus der Staatskirche als Zeichen dafür, dass es im Russländischen Reich keine Gewissensfreiheit gebe.2 Nun begann eine längerfristige Auseinandersetzung mit diesem Thema, die durch eine Rede des Adelsmarschalls des Gouvernements Orlov, Michail Aleksandrovič Stachovič (1861–1923), auf einer Missionarskonferenz 1901 in der Stadt Orёl angestoßen wurde. Stachovič war eng mit Tolstoj bekannt. Am Ende der Missionarstagung wandte er sich unerwartet und heftig gegen religiöse Verfolgungen und sprach sich für die Achtung der Gewissensfreiheit aus, worunter er sowohl das Recht verstand, die Orthodoxe Kirche zu verlassen, als auch seinen Glauben frei zu bekennen und andere davon zu überzeugen.3 Diese Rede führte auf der Konferenz zu einer heftigen Debatte, da Stachovičs Meinung nicht unwidersprochen blieb.4 Nach der Veröffentlichung der Konferenzprotokolle wurde diese Diskussion in der russischen Presse fortgesetzt.5 In der Zeitschrift »Missionsrundschau« (Missionerskoe obozrenie) wurden mehrere kritische Essays zur Gewissensfrei-
1 [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora christian-pomorcev 27 f. 2 Dorskaja, A. A.: Svoboda sovesti v Rossii: Sud’ba zakonoproektov načala XX veka. St. Petersburg 2001, 32 f. 3 Rožkov: Cerkovnye voprosy 29. 4 Dorskaja: Svoboda sovesti v Rossii 34. Dorskaja unterscheidet drei Meinungen, die sich bezüglich der Gewissensfreiheit in Russland auf der Missionarskonferenz herauskristallisierten: 1) die Bedrückung nicht-orthodoxer Bekenntnisse sei rechtens und notwendig (V. Skvorcov, V. Ternavcev u. a.); 2) Bedrückungen seien theoretisch zu verurteilen, in der Praxis jedoch notwendig (Archimandrit Antonin, Direktor der Geistlichen Akademie von St. Petersburg Sergij); 3) jegliche Repression im Bereich des Glaubens sei abzulehnen (D. Merežkovskij, V. Uspenskij, E. Egorov u. a.). 5 Ebd. 35.
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heit im Russländischen Reich veröffentlicht6 und auch das Flaggschiff des russischen Liberalismus, der »Bote Europas« (Vestnik Evropy), widmete sich diesem Thema.7 Einer der Gegenspieler Stachovičs, das Mitglied des Heiligsten Synods Valentin Aleksandrovič Ternavcev (1866–1940), gründete zusammen mit einigen Priestern und der Unterstützung des St. Petersburger Metropoliten Antonij (Vadkovskij; 1846–1912)8 sowie des Oberprokurors des Heiligsten Synods Konstantin Pobedonoscev9 die St. Petersburger Religiös-Philosophische Gesellschaft.10 Ziel der Gesellschaft war es, die Intelligencija mit Repräsentanten der Orthodoxen Kirche in gemeinsamen Gesprächen zusammen zu bringen. Auf drei Sitzungen wurde über die Gewissensfreiheit diskutiert.11 Die Reaktionen auf Stachovičs, im Jahr 1901 gehaltene, Rede legen nahe, dass die Frage nach der Religionsfreiheit im Russländischen Reich im frühen 20. Jahrhundert reif für eine Antwort war.12
6.1 Die Gewissensfreiheit und das Toleranzmanifest vom 17. April 1905 Bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts diskutierten russische Intellektuelle, Regierungsbeamte und Repräsentanten der Orthodoxen Kirche über die Umsetzung und Ausweitung der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) im Russländischen Reich. Dies bedeutete, dass in einem Staat, in dem die Orthodoxe Kirche eine vorherrschende Stellung innehatte, Konzessionen an nicht-orthodoxe Religionsgruppen gemacht und sie in den Dienst des Staates gestellt wurden. Diese Politik hatte nicht einzelnen Individuen Rechte gewährt, sondern bestimmten konfessionellen Gruppen Privilegien zugesprochen, welche die autokratische Macht des Zaren nicht einschränken sollten.13 Die um 1900 entfachte Diskussion kreiste dagegen um die Achtung der Gewissensfreiheit (svoboda sovesti) im Russländischen Reich. Gewissensfreiheit bezeichnet im Unterschied zu Glaubenstoleranz ein unveräußerliches individuelles Recht auf religiöse Selbstbestimmung. Dieses kann vom Staat nicht gewährt oder einbehalten, sondern nur geachtet oder eben nicht geachtet werden.14 Die Bedeutung von Toleranz als positives Recht wurde von John Locke und Sebastian Castellio erdacht und theoretisch gerechtfertigt und 6 Werth: The Emergence of »Freedom of Conscience« 605. 7 Poole: Religious Toleration 626. 8 Metropolit von St. Petersburg von 1898 bis 1912. 9 Oberprokuror des Heiligsten Synods von 1880 bis 1905. 10 Rožkov: Cerkovnye voprosy 32. 11 Werth: The Emergence 605. 12 Ebd. 13 Ebd. 590–593. 14 Poole: Religious Toleration 613.
296 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 anschließend von Voltaire und anderen Philosophen verbreitet.15 Paul Werth zeigt, dass es diese Vorstellung von der Gewissensfreiheit zwar spätestens seit Pёtr I. im Russländischen Reich gegeben hat, sie vor Mitte des 19. Jahrhunderts aber nur selten und nur unsystematisch geäußert wurde.16 Die russische Intelligencija war seit Beginn des 19. Jahrhunderts mit den philosophischen Werken über die Gewissensfreiheit bekannt.17 Das erste russische Werk zu diesem Thema, welches Bekanntheit erlangte, stammte von Boris Nikolaevič Čičerin (1828–1904), der die Gewissensfreiheit 1857 zum ersten und heiligsten Bürgerrecht erklärte.18 In den Kontext imperialer Herrschaft wurde die Gewissensfreiheit jedoch erst von Innenminister Pёtr Aleksandrovič Valuev gestellt. Auslöser dafür waren Fragen des staatlichen Umgangs mit Lutheranern, Baptisten und Irvingianern in den baltischen Gouvernements zu Beginn der 1860er Jahre, die ihre Forderungen nach größerer Selbstbestimmung mit dem Begriff der Gewissensfreiheit untermauerten. Valuev übernahm den Begriff, um sich gegenüber dem Zaren für eine Ausweitung der Religionstoleranz der Lutheraner in den Ostseegouvernements auszusprechen.19 Auch wenn Valuev seine Ziele nicht durchsetzen konnte, schreibt Paul Werth, war er »certainly significant for injecting the idea of freedom of conscience into the bureaucratic discourse of his day.«20 Auch unter den Mitgliedern der revolutionären Organisation »Land und Freiheit« (Zemlja i Volja)21 fanden sich Verfechter der Gewissensfreiheit. In ihren Flugblättern, die sie Anfang der 1860er Jahre an die Intelligencija richteten, sprachen sie sich für die Achtung der Gewissensfreiheit im Russländischen Reich aus. Gegenüber den Bauern, die sie zu einem Aufstand gegen die Regierung bewegen wollten, zogen sie sich jedoch auf die Forderung nach der Konfessionsfreiheit (svoboda veroispovedanija) zurück, weil sie die ungebildeten Schichten nicht durch die sehr viel weiter reichende Forderung nach Gewissensfreiheit abschrecken wollten.22 Explizit in Bezug auf die Altgläubigen forderte Nikolaj Semёnovič Leskov die Achtung der Gewissensfreiheit. In seinem Aufsatz »Zwei Meinungen bezüglich der Frage über die Ehen« aus dem Jahr 1863 schreibt er, dass »die Regierung furchtlos den ›Leuten der alten Frömmigkeit‹ vollständige Gleichberechtigung mit allen Bürgern des Zarenreiches geben kann und die Gewissensfreiheit«.23 15 Kaplan: Divided by Faith 8. 16 Werth: The Emergence 591 f. 17 Ebd. 607. Bei dem russischen Begriff svoboda sovesti handelt es sich um eine wörtliche Übersetzung des deutschen Begriffes Gewissensfreiheit oder des französischen la liberté de conscience, Konzepte, die in Frankreich und einigen deutschen Ländern bereits im späten 18. Jahrhundert offiziellen Status erlangt hatten. Ebd. 598. 18 Poole: Religious Toleration 627. 19 Werth: The Emergence 594–598. 20 Ebd. 598. 21 S. Kapitel 4.1.2. 22 Frede: Freedom of Conscience 574–578. 23 Leskov: Dva mnenija po voprosu o brakach 594.
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Vielleicht war es Valuevs Einfluss und dessen Diskussion über den staatlichen Umgang mit der lutherischen Bevölkerung in den baltischen Gouvernements, die Leskov dazu brachten, den Begriff der Gewissensfreiheit auch in Bezug auf die Altgläubigen zu benutzen. Doch gerade weil Leskov den Begriff auf eine bestimmte religiöse Gruppe des Imperiums bezog und sich nicht für die Achtung der Gewissensfreiheit im Russländischen Reich im Allgemeinen aussprach, mag er Gewissensfreiheit gleichbedeutend mit Glaubenstoleranz oder Konfessionsfreiheit verstanden haben. Nach der Verabschiedung des Gesetzes vom 3. Mai 1883 kritisierten einige Stimmen die darin festgehaltenen Bestimmungen über die religiösen Rechte der Raskol’niki als nicht weitreichend genug und sprachen sich für die Achtung der Gewissensfreiheit aller Bürger des Reiches aus.24 So heißt es in der Oktoberausgabe der Zeitschrift »Russische Idee« (Russkaja Mysl’) über die neuen Bestimmungen vom 3. Mai 1883: Wir werden hoffen, dass unsere Gesetzgebung nicht beim ersten Schritt zur Erleichterung der Lage unserer Sektanten stehen bleibt und nicht nur zur vollen Glaubenstoleranz übergeht, sondern sich das Prinzip der Gewissensfreiheit aneignet, welches eines der Grundmerkmale einer wirklichen Zivilisation ist.25
An der Religionspolitik des Russländischen Reiches änderte die Entstehung des Diskurses über die Gewissensfreiheit bis 1905 nichts – weder in Bezug auf die staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse noch bezüglich der Altgläubigen. Nach dem polnischen Aufstand 1863 und dem Attentatsversuch von Dmitrij Vladimirovič Karakozov (1840–1866) auf Aleksandr II. waren die liberalen Zeiten im Russländischen Reich vorerst vorüber. Seit Ernennung Konstantin Pobedonoscevs zum Oberprokuror des Heiligsten Synods war von einer Achtung der Gewissensfreiheit in Regierungskreisen keine Rede mehr.26 Doch blieb das Konzept der Gewissensfreiheit in den Diskussionen von Gelehrten, religiösen Philosophen und in der Presse präsent.27
24 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 69–90, hier 73 f. [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Vestnik Evropy 7 (1883), 350–367, hier 359. Michajlov: Po voprosu o vero terpimosti 75 f. 25 [–]: Vnutrennee obozrenie, in: Russkaja Mysl’ 10 (1883), 69–90, hier 74. 26 Poole: Religious Toleration 624. 27 Werth: The Emergence 602 f. Die Gewissensfreiheit spielte für Čičerin in seinem Meisterwerk »Philosophie des Rechts« (Filosofija prava) von 1900 eine entscheidende Rolle, in welchem er schreibt, dass die moralische Bedeutung der Aufklärung nirgendwo so klar Ausdruck finde, wie in der Anerkennung der Gewissensfreiheit. Er beschreibt sie als das heiligste und unverletzliche Recht des Menschen. Und auch die Realisierung des göttlichen Potentials des Menschen in Vladimir Solov’evs »Bogočelovečestvo« hängt von der Gewissensfreiheit ab, da es sich beim Gottmenschentum um eine freie Selbst-Realisierung handele. Poole: Religious Toleration 628 f.
298 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde die Frage nach einer Ausweitung religiöser Freiheiten im Russländischen Reich immer dringlicher. Neben der Diskussion über das Ideal der Gewissensfreiheit unter den Gelehrten und in der Presse drängten weitere Umstände in Richtung größerer Religionsfreiheit im Russländischen Reich: Die Laien entwickelten zunehmendes Interesse an religiösen Fragen und viele Personen, die aufgrund außerreligiöser Überlegungen, anstelle innerer Überzeugung zur Orthodoxie konvertiert waren, wollten zu ihrer ursprünglichen Religion zurückkehren.28 Diese drei Umstände lassen sich darauf zurückführen, dass das Individuum immer stärker zum religiösen Akteur wurde, welches sich nicht länger mit seiner ererbten Religions zugehörigkeit zufrieden geben wollte. Stattdessen wurde Religion zunehmend als Angelegenheit des persönlichen Gewissens jedes Untertanen verstanden. Doch auch wenn diese Umstände die Vorbedingungen für eine Ausweitung der religiösen Freiheiten schufen, war die Regierung zu einem solchen Schritt erst bereit, als sie von der politischen Krise zu Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Kurswechsel gezwungen wurde.29 Am 26. Februar 1903 erschien das erste von vier Manifesten und Erlassen, in denen die Regierung schrittweise Lockerungen im Bereich der religions politischen Ordnung einzuführen versprach. In diesem ersten Manifest hielt Zar Nikolaj II. die Beamten auf allen Ebenen der Verwaltung an, die geltenden Gebote der Glaubenstoleranz im Russländischen Reich genau zu befolgen, das heißt, den anerkannten Glaubensgemeinschaften die freie Ausübung ihres Glaubens und ihrer Gottesdienste zu erlauben. Dabei sollte jedoch weiterhin die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche berücksichtigt werden.30 Einen wirklichen Reformwillen zeigte die Regierung erst nach den ersten Niederlagen Russlands im Krieg gegen Japan. Diese brachten die Krise zum Vorschein, in welcher sich das Russländische Imperium befand.31 Eine neue Welle terroristischer Gewalt ergriff das Imperium und kostete den beiden Innenministern Dmitrij Sergeevič Sipjagin (1853–1902)32 und Vjačeslav Konstantinovič fon Pleve (1846–1904)33 das Leben. Insbesondere letzterer hatte die Willkürherrschaft des Regimes verkörpert und die mangelnde Anteilnahme der Bevölkerung an seiner Ermordung führte dem Zaren die fehlende Unterstützung der Gesellschaft für seine Regierung vor Augen. In der Folge ernannte Nikolaj II. den reformfreundlichen Pёtr Dmitrij Svjatopolk-Mirskij (1857–1914)34 im Jahr 28 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 179. 29 Ebd. 180. 30 Manifest »Über Vorhaben zur Vervollkommnung der Staatsordnung«. PSZ III, Bd. 23, Nr. 22581, 113 f. (26.2.1903). 31 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 37. 32 Innenminister von 1900 bis 1902. 33 Innenminister von 1902 bis 1904. 34 Innenminister von 1904 bis 1905.
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1904 zum Innenminister.35 Dieser formulierte zusammen mit dem Vorsitzenden des Ministerkomitees Sergej Jul’evič Vitte (1849–1915)36 einen Bericht über die Umsetzung des Erlasses vom 26. Februar 1903.37 Auf diesem Bericht aufbauend erschien am 12. Dezember 1904 ein weiteres Manifest, dessen sechster Punkt vorsah, die Toleranz in Glaubensangelegenheiten auch den Raskol’niki angedeihen zu lassen. Gesetzlich nicht vorgesehene, administrative Maßnahmen sollten beseitigt und die bestehende Gesetzgebung über die Altgläubigen und Sektenangehörigen einer Prüfung unterzogen werden.38 Diese Überprüfung wurde vom Ministerkomitee unter Vorsitz Sergej Vittes übernommen.39 Das Ministerkomitee bildete Kommissionen, die sich mit den einzelnen Punkten des Dezembererlasses beschäftigen sollten. Punkt sechs des Manifests war Angelegenheit der Religionskommission.40 Der Reformprozess in dieser Kommission wurde durch den Umstand erleichtert, dass Oberprokuror des Heiligsten Synods Konstantin Pobedonoscev an den Beratungen bald nicht mehr teilnahm. Pobedonoscev war ein Gegner des Manifests vom 12. Dezember 1904 und wollte seine Ausrufung in den Kirchen durch die Priester verhindern.41 In der Religionskommission überwarf er sich jedoch mit dem Metropoliten von St. Petersburg Antonij, einem Verfechter des Gewaltverzichts in Glaubens fragen. Pobednoscev ließ sich daraufhin von seinem Stellvertreter Vladimir Karlovič Sabler (1845–1929) vertreten.42 Die Frage der Gewissensfreiheit war seit dem Amtsantritt Pobedonoscevs 1880 aus der Religionspolitik des Imperiums ausgeschlossen worden.43 Nun war die Ära des autoritären Staatskirchentums endgültig zu Ende und Pobedonoscev büßte den Rest seines Einflusses auf die Regierung ein,44 der seit der Thronbesteigung Nikolajs II. bereits geschmälert worden war.45 Die Religionskommission erklärte, dass den Altgläubigen und Sektenangehörigen »Religionsfreiheit« verliehen werden solle und dass Überzeugungen, die 35 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 201 f. 36 Vorsitzender des Ministerkomitees von 1903 bis 1906; Vorsitzender des Ministerrates von 1905 bis 1906. 37 Rožkov: Cerkovnye voprosy 36. 38 Manifest »Über Vorhaben zur Vervollkommnung der Staatsordnung«. PSZ III, Bd. 24, Nr. 25495, 1196–1198 (12.12.1904). 39 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 203. Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 42. 40 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 44. 41 Rožkov: Cerkovnye voprosy 34. 42 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 204. 43 Poole: Religious Tolerations 624. 44 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 47 f. 45 Nikolaj II. (1894–1917) hatte Pobedonoscev weiter auf Abstand von den Machtzentren gehalten als sein Vorgänger. Waldron: Religious Reform 111 f. Gerhard Simon schreibt, dass Pobedonoscev entgegen der zeitgenössischen Wahrnehmung seit etwa 1896 keinen wesentlichen Einfluss mehr auf staatspolitische Entscheidungen hatte. Simon: Konstantin Petrovič Pobedonoscev 46.
300 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 im Gewissen jeder Person verwurzelt sind, nicht der staatlichen Kontrolle unterliegen durften.46 Sie schlug vor, den Raskol’niki das Recht zu geben, Gemeinden zu gründen.47 Außerdem sollte der Austritt aus der Orthodoxen K irche ermöglicht werden.48 Die Beratungen der Kommission führten zur Verabschiedung des Toleranzmanifests vom 17. April 190549 und bereiteten einen Erlass über die Gemeinden der Altgläubigen und Sektenangehörigen vor, der am 17. Oktober 1906 erschien.50 Am 17. April 1905 wurde das so genannte Toleranzmanifest mit dem Titel »Über die Bekräftigung der Grundlagen der Glaubenstoleranz« verabschiedet. Darin erklärte der Zar seine Absicht, jedem »Untertanen die Freiheit des Glaubens und die Freiheit des Gebets gemäß seines Gewissens zu gewähren«.51 Das Manifest bewegte sich im Spannungsfeld zwischen der älteren Politik der Glaubenstoleranz und der viel weiter reichenden Gewährung der Gewissensfreiheit,52 ohne eine klare Entscheidung zugunsten letzterer zu fällen. In den 17 Bestimmungen, die sich im Toleranzmanifest finden, ist festgelegt, dass die Konversion vom orthodoxen Glauben zu einem anderen christlichen Bekenntnis von nun an erlaubt sei. Angehörige nicht-christlicher Religionen, die nur formal zur Orthodoxie übergetreten waren, durften erneut zu ihrer ursprünglichen Religion wechseln.53 Von der Erlaubnis, von einem christlichen Bekenntnis zu einer nicht-christlichen Religion überzutreten, war nicht die Rede. Der Großteil der Bestimmungen bezog sich auf die religiösen Dissidenten. Eine neue Klassifikation wurde eingeführt, die zwischen »Altgläubigen«, »Sektenangehörigen« und »Anhängern ›fanatischer‹ Lehren« unterschied. Es war vorgesehen, die Altgläubigen in offiziellen Dokumenten und Gesetzen nicht länger als Raskol’niki, sondern als Altgläubige zu bezeichnen; die Bestimmungen über den Bau und die Renovierung von Bethäusern der Altgläubigen und Sektenangehörigen an diejenigen über die Kirchen der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse anzupassen; zuvor versiegelte Bethäuser der Altgläubigen zu entsiegeln; und die Gemeindeleiter und -vorsteher als geistliche Personen anzu 46 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 205. 47 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 52 f. 48 Ebd. 48. 49 Ebd. 68. 50 Ebd. 51. 51 Manifest »Über die Bekräftigung der Grundlagen der Glaubenstoleranz«. PSZ III, Bd. 25, Nr. 26125, 257 f. (17.4.1905). 52 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 205. 53 Die Regierung hatte bei dieser Bestimmung 1) Letten in Livland und ihre Nachkommen im Blick, die in den 1840er Jahren zur Orthodoxie übergetreten waren; 2) ehemalige Unierte, die zuvor dem Katholizismus angehörten; 3) getaufte, zuvor muslimische Tataren in den Gouvernements an der Volga und 4) Altgläubige und Sektenangehörige, die in Zeiten der Repressionen nominell zur Orthodoxen Kirche übergetreten waren. Rožkov: Cerkovnye voprosy 41.
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erkennen und ihnen alle entsprechenden Rechte zu gewähren. Außerdem sollte Punkt sechs des Dezembererlasses von 1904 umgesetzt werden. Das heißt, dass die Überprüfung der Bestimmungen über die Altgläubigen noch ausstand.54 Das Manifest rief unterschiedliche Reaktionen hervor. Die meisten Religionsgemeinschaften des Imperiums begrüßten es, doch blieb es hinter ihren Erwartungen zurück.55 Die Regierung verband mit der Verabschiedung des Manifests die Hoffnung, die Revolution in den Randgebieten des Imperiums beruhigen zu können, in denen die Aufstände hauptsächlich aus ethnischen und religiösen Motiven geführt wurden. Die existierende Staatsordnung sollte jedoch nicht in Frage gestellt werden.56 Weder fand Sergej Vittes Forderung, das Monopol der Staatskirche auf religiöse Propaganda abzuschaffen, Eingang in das Manifest57 noch wurde die Achtung der Gewissensfreiheit proklamiert.58 Das Manifest stieß auf die Kritik eines der einflussreichsten Kritiker der alten religiösen Ordnung des Russländischen Reiches.59 Der Rechtsexperte Michail Andreevič Rejsner (1868–1928), der sich für die Achtung der Gewissensfreiheit im Russländischen Reich ausgesprochen hatte, schreibt: »Das Monopol auf religiöse Propaganda der Staatskirche ist das letzte und größte Hindernis, über dem unsere Glaubenstoleranz zerbrechen muss.«60 Bis zu einer Gleichberechtigung der nicht-orthodoxen Glaubensbekenntnisse mit der Orthodoxen Kirche sei es noch ein langer Weg.61 Darüber hinaus zeigt sich Michail Rejsner nicht damit zufrieden, dass die Konversion von einem christlichen Bekenntnis zu einer nicht-christlichen Religion verboten blieb und nach wie vor unter Strafe stand. Dieser Erlass bietet bei Weitem nicht jedem die Möglichkeit zu glauben, woran er glauben will, oder gar an überhaupt nichts zu glauben. Das Gesetz vom 17. April ist im Grunde nur eine Norm, die die Privilegien der nicht-orthodoxen und eines Teils der nicht-christlichen Bekenntnisse erweitert.62
Das Toleranzmanifest garantierte also keine Gewissensfreiheit, sondern erweiterte die Prinzipien der Glaubenstoleranz. Abgesehen von der Legalisierung der Apostasie von der Orthodoxie, die als fundamentale Wende in der Religionspolitik des Imperiums verstanden werden kann,63 wurde die Religionsgesetz 54 Manifest »Über die Bekräftigung der Grundlagen der Glaubenstoleranz«. PSZ III, Bd. 25, Nr. 26125, 257 f. (17.4.1905). 55 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 69. 56 Ebd. 68 f. 57 Ebd. 75. 58 Simon: Konstantin Petrovič Pobedonoscev 251. 59 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 263 60 Rejsner, Michail Andreevič: Svoboda sovesti i zakon 17 aprelja 1905 g., in: Ders.: Gosudarstvo i verujuščaja ličnost’. Sbornik statej. St. Petersburg 1905, 390–423, hier 422. 61 Ebd. 421. 62 Ebd. 416. 63 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 263.
302 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 gebung durch das Toleranzmanifest nicht abseits bereits bekannter Muster neu durchdacht, wie Vitte es sich gewünscht hatte.64 Stattdessen handelte es sich bei den Bestimmungen um eine liberalisierte Variante der Religionspolitik in der Tradition des aufgeklärten Absolutismus.65 Nutznießer dieser Politik waren im Wesentlichen die Altgläubigen und Sektenangehörigen, die mit den anerkannten Glaubensbekenntnissen rechtlich gleichgestellt wurden.66 Doch handelte es sich bei dem Toleranzmanifest lediglich um eine Absichtserklärung. Bis zu einer Konkretisierung der Bestimmungen vergingen weitere Monate. Die Achtung der Gewissensfreiheit im Russländischen Reich wurde durch ein Manifest vom 17. Oktober 1905 versprochen. Zugleich wurde der Bevölkerung die Freiheit des Wortes, der Versammlung und der Vereinigung gewährt. Darüber hinaus wurden durch die Erlaubnis zur Wahl einer Staatsduma konstitutionelle Elemente in die Regierung eingeführt.67 Die Gewissensfreiheit wurde im Russländischen Reich gesetzlich jedoch nie verankert68 und die legislative Kompetenz der Duma bereits zu Beginn des Jahres 1906 auf zweifache Weise wieder eingeschränkt. Erstens wurde im Februar 1906 der Staatsrat zu einer zweiten legislativen Kammer umgeformt, die die gleichen Rechte wie die Duma hatte. Von nun an mussten neue Gesetze nicht nur von der Duma, sondern auch von dem konservativeren Staatsrat und dem Souverän gutgeheißen werden, welcher die Duma jederzeit auflösen konnte.69 In der Folge entwickelte sich die Religionspolitik im Mit- und Gegeneinander von Regierung, Duma und Staatsrat.70 Zweitens sahen die revidierten Staatsgrundgesetze vom 23. April 1906 eine Ausnahme von der Bestätigung neuer Gesetze durch das Parlament vor: Artikel 87 besagte, dass Gesetze in Zeiten, in denen die Duma nicht tagte, auch administrativ, das heißt von den Ministerien, erlassen werden konnten.71 Eben diesen Artikel machte sich die Regierung bei der Veröffentlichung eines Erlasses über die Gemeinden der Altgläubigen vom 17. Oktober 1906 zunutze.72 64 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 69. 65 Ebd. 66 Waldron: Religious Reform 117. 67 Manifest »Über die Vervollkommnung der staatlichen Ordnung«. PSZ III, Bd. 25, Nr. 26803, 754 f. (17.10.1905). 68 Werth: Schism Once Removed 96. 69 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 217 f. 70 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 72. 71 Ebd. 72 Waldron: Religious Reform 122 f. Ralph Tuchtenhagen weist darauf hin, dass schnell auf den Weg gebrachte Gesetze, die die aufgebrachte Bevölkerung befrieden sollten, unter Beteiligung von Duma und Staatsrat nicht umzusetzen waren. Zwischen den beiden legislativen Kammern kam es stets zu langwierigen Debatten, die eine schnelle Beschlussfassung ver hinderten. Aus diesem Grund wurde der Erlass vom 17.10.1906 mit Zustimmung des Senats und des Zaren an der Duma vorbei verabschiedet. Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 73, 124.
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6.2 Die Legalisierung des Altgläubigentums durch den Erlass vom 17. Oktober 1906 Ein Versuch, die im Jahr 1905 proklamierte Achtung der Gewissensfreiheit zu realisieren, begann mit der Ernennung Pёtr Arkad’evič Stolypins (1862–1911)73 zum Innenminister im April 1906 und zum Vorsitzenden des Ministerkomitees im Juli desselben Jahres. Dieser war davon überzeugt, dass die Gründe für die Unzufriedenheit des Volkes mit den sozialen und politischen Zuständen im Imperium, die sich im Jahr 1905 bemerkbar gemacht hatte, beseitigt werden müssten. Er trat für die Achtung der Gewissensfreiheit ein und wollte den Staat so weit wie möglich aus persönlichen Glaubensangelegenheiten heraushalten.74 Neue Bestimmungen speziell über die Altgläubigen waren jedoch schon vor der Ernennung Stolypins auf den Weg gebracht worden.75 Zum einen hatte die Religionskommission, auf deren Arbeit das Toleranzmanifest zurückging, bereits über einen neuen Umgang mit den Raskol’niki diskutiert; zum anderen war im November 1905 eine Sonderkonferenz (osoboe soveščanie) unter Vorsitz A leksej Pavlovič Ignat’evs (1842–1906) einberufen worden, welche Beschlüsse über die Aufhebung, Ergänzung und Änderung bestehender Gesetze über die R askol’niki prüfen sollte.76 Im Unterschied zu Stolypin setzte die Sonderkonferenz jedoch nicht bei dem Ideal der Gewissensfreiheit an, sondern sah ihre Aufgabe lediglich darin, ungerechtfertigt erscheinende Einschränkungen im religiösen Leben abzuschaffen.77 Die Altgläubigen sollten nach Vorstellung der Sonderkonferenz Gemeinden gründen dürfen, wenn sie den Gouverneur darum baten, neue Kirchen errichten dürfen und geistliche Personen wählen, denen die gleichen Rechte wie orthodoxen Priestern gegeben werden sollten.78 Auch die Religionskommission hatte sich nicht für die Verleihung weiter reichender Rechte an Altgläubige und Sektenangehörige ausgesprochen. Ihre Aufgabe war es gewesen, die Gesetzgebung über die Raskol’niki gemäß Punkt sechs des Dezembererlasses von 1904 zu prüfen und Änderungsvorschläge zu machen.79 Ziel der Kommission war es, das Missverhältnis zwischen der 73 Innenminister von 1906 bis 1911. 74 Waldron: Religious Reform 119. 75 Ebd. 120. 76 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 46. 77 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 219. 78 Waldron: Religious Reform 120. 79 Varvara Jasevič-Borodaevskaja, Mitglied der Religiös-Philosophischen Gesellschaft in St. Petersburg, hatte Sergej Vitte im Jahr 1905 einen Überblick über die bisherige Gesetzgebung über den Raskol geschickt, der der Religionskommission als Grundlage für ihre Arbeit diente. Vitte ließ den Bericht drucken und an die Mitglieder des Ministerkomitees und der Religionskommission verteilen. Jasevič-Borodaevskaja, Varvara: K čitateljam, in: Dies.: Bor’ba za veru. Istoriko-bytovye očerki i obzor zakonodatel’stva po staroobrjadčestvu
304 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 von den Staatsgrundgesetzen zugesicherten Religionstoleranz, den bestehenden Verordnungen und der Rechtspraxis zu beseitigen. Administrative Verordnungen sollten zu Statuten erweitert, veraltete Statuten abgeschafft und Widersprüche in den Gesetzen beseitigt werden. Die künftigen Gesetze und die Rechtspraxis in Bezug auf die religiösen Dissidenten sollten dem Prinzip der Glaubenstoleranz nicht widersprechen, so die Zielstellung der Kommission.80 Sie diskutierte auf ihren Beratungen fünf unterschiedliche Bereiche der Gesetzgebung über die Raskol’niki: 1) Die rechtliche Klassifizierung der Schismatiker; 2) eine angepasste Rechtsterminologie; 3) religiöse Meinungsfreiheit, worunter das Recht auf Änderung seiner religiösen Überzeugung und auf öffentliche Äußerung derselben zu verstehen war;81 4) die Selbstverwaltung der Gemeinden von Altgläubigen und Sektenangehörigen; 5) die Beziehung zwischen diesen Gemeinden und dem Staat.82 Die anvisierten Bestimmungen wurden auf einer vom Innenminister einberufenen Regierungskonferenz am 29. September 1906 diskutiert, zu welcher 33 Vertreter der priesterlichen und priesterlosen Altgläubigen eingeladen waren.83 Den Altgläubigen wurde dadurch eine Möglichkeit gegeben, ihre Vorstellungen und Forderungen mit einzubringen. Am 17. Oktober 1906 wurde der Erlass »Über die Ordnung der Bildung und der Tätigkeiten von Gemeinden der Altgläubigen und Sektenangehörigen und über die Rechte und Pflichten der in den Bestand der Gemeinden eingehenden Anhänger altgläubiger Richtungen und von der Orthodoxie losgelösten Sektenangehöriger« auf Grundlage von Artikel 87 der Staatsgrundgesetze mit Zustimmung des Senats und des Zaren an der Duma vorbei verabschiedet.84 Die darin enthaltenen Bestimmungen wurden implementiert, als ob es sich bei dem Erlass um ein Gesetz handeln würde.85 Der Erlass erlaubte den Altgläubigen den Vollzug ihrer Riten sowie die Gründung von Gemeinden. Diese Gemeinden sollten dem Ziel dienen, die religiösen, moralischen, aufklärerischen und karitativen Bedürfnisse ihrer Mitglieder zu befriedigen. Außerdem sollte den Altgläubigen mit Erlaubnis des Gouverneurs oder Oblast’-Leiters gestattet werden, i sektantstvu v ego posledovatel’nom razvitii s priloženiem statej zakona i vysočajšich ukazov. St. Petersburg 1912, I–XV, hier XIII. Jasevič-Borodaevskaja sprach sich in diesem Bericht für ein Ende der Verfolgungen der Altgläubigen und Sektenangehörigen aus. Sie schreibt, dass die Regierung die Altgläubigen aufgrund der Vorherrschaft der Orthodoxie im Russländischen Reich nicht anerkennen konnte. Bis heute habe die Regierung nicht versucht, den Raskol’niki das Recht auf Existenz zuzuerkennen, sondern habe stets nur versucht, den Raskol zu unterdrücken. Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 5. 80 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 45. 81 Ebd. 56. 82 Ebd. 52 f. 83 Rožkov: Cerkovnye voprosy 44. Mel’nikov, Fёdor Evfim’evič: Kratkaja istorija drevlepravoslavnoj (staroobrjadčeskoj) cerkvi. Barnaul 1999, 403. 84 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 124. 85 Mel’nikov: Kratkaja istorija 403.
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Bethäuser, Kirchen, Einsiedeleien und Klöster zu eröffnen. Diesen Obrigkeiten oblag auch die Möglichkeit zur Schließung dieser Gemeinden, wenn deren Tätigkeiten gegen die Gesetze verstießen. Anträge auf Eröffnung einer Gemeinde mussten angeben, welcher Denomination die altgläubigen Antragsteller angehörten, an welchem Ort sich das Bethaus der Gemeinde befand, sowie Unterschriften und persönliche Angaben von 50 Mitgliedern der zu registrierenden Gemeinde beinhalten. Eine registrierte Gemeinde wurde als juristische Person anerkannt und verfügte über entsprechende Rechte. Darüber hinaus durften die Gemeinden geistliche Personen – Gemeindeleiter (nastavnik) und -vorsteher (nastojatel’) – wählen, Kirchen und Bethäuser errichten, gottgefällige, das heißt karitative, Einrichtungen, Schulen und Druckereien unterhalten. Sie durften außerdem Eigentum besitzen, vor Gericht klagen und sich verteidigen. Die Verwaltung der Gemeinde oblag der allgemeinen Versammlung ihrer Mitglieder oder einem Rat, der von der Versammlung gewählt wurde. Zu den Rechten der Versammlung zählte außerdem die Wahl geistlicher Personen, die Wahl der Gemeinderatsmitglieder und weitere Angelegenheiten der Gemeindeverwaltung. Die gewählten Geistlichen mussten lesen und schreiben können, das 26. Lebensjahr erreicht haben und durften bis zu einem bestimmten Strafmaß nicht vorbestraft sein. Die Gouverneure mussten die Wahl eines Kandidaten zur geistlichen Person bestätigen. Durch ihre Registrierung genossen sie sämtliche Rechte geistlicher Personen im Russländischen Reich. Außerdem oblag ihnen die Führung der Matrikelbücher der Gemeinde.86 Der Erlass sah eine vollständige Legalisierung des Altgläubigentums vor, welches dadurch in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufgenommen wurde. Das Altgläubigentum erhielt weder vollständige Konfessionsfreiheit87 noch die gleichen Rechte wie die Orthodoxe Kirche. Ins 86 Erlass »Über die Ordnung der Bildung und Tätigkeiten der Gemeinden der Altgläubigen und Sektenangehörigen und über Rechte und Pflichten der in den Bestand der Gemeinden eingehenden Anhänger altgläubiger Richtungen und von der Orthodoxie abgehender Sektenangehöriger«. PSZ III, Bd. 26, Nr. 28424, 904–915 (17.10.1906). 87 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 146. Die Begriffe Gewissensfreiheit (svoboda sovesti) und Konfessionsfreiheit (svoboda ispovedanija) wurden bis 1905 meist gleichbedeutend verwendet. Dorskaja: Svoboda sovesti 37. Michail Rejsner versuchte in seinem Aufsatz »Das Recht der Konfessionsfreiheit«, die im Umlauf befindlichen Begriffe klarer voneinander zu trennen und unterschied Glaubensfreiheit (svoboda very), Gewissensfreiheit, Religionsfreiheit (religioznaja svoboda) bzw. Freiheit des Kultes (svoboda kul’ta) und Konfessionsfreiheit voneinander. Wichtig ist an dieser Stelle Rejsners Meinung, dass die Grundlagen der Gewissensfreiheit das Recht der Konfessionsfreiheit erforderten. Rejsner, Michail Andreevič: Pravo svobodnago ispovedanija, in: Ders.: Gosudarstvo i verujuščaja ličnost’. Sbornik statej. St. Petersburg 1905, 1–16, hier 9. Um letztere zu verwirklichen, müssten sieben Rechte im Russländischen Reich eingeführt werden: 1) Das Recht einer Person, nicht gezwungen zu werden, einen bestimmten Glauben zu bekennen, jeden Glauben bekennen zu dürfen und dafür nicht bestraft oder anderweitig benachteiligt zu werden. 2) Das Recht einer Person, vom Staat nicht gezwungen werden zu können, an gottesdienstlichen oder religiösen
306 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 besondere blieb das Recht auf religiöse Propaganda Monopol der Staatskirche.88 Im Dezember 1907 erschien eine Stellungnahme des Heiligsten Synods zu jenen Gesetzesprojekten, die die Gewissensfreiheit im Russländischen Reich verwirklichen sollten. Darin hieß es, dass religiöse Propaganda ein Monopol der Staatskirche bleiben müsse und Gesetzesprojekte über die Religionsgemeinschaften im Imperium nicht Regierung, Duma und Staatsrat unterliegen sollten, sondern dem Synod.89 Die Orthodoxe Kirche fürchtete nach 1905 um ihre vorherrschende Stellung im Imperium und versuchte im Sinne einer Aufrechterhaltung der alten Ordnung Einfluss auf die religionspolitischen Reformen zu nehmen. Da Michail Rejsner ein Gegner der bestehenden religionspolitischen Ordnung und Verfechter der Gewissensfreiheit war, äußerte er sich bereits vor Verabschiedung des Erlasses entsprechend kritisch gegenüber den anvisierten Reformen. Zu den in Russland geduldeten Nationen und Völkern wurden jetzt auch die reli giösen Gemeinden der Raskol’niki und Sektenangehörigen zugezählt und mit analogen Rechten versehen. Dies ist kein Akt der Glaubenstoleranz oder die Gewährung von Glaubensfreiheit [svoboda very], sondern nur die Übersetzung der raskol-sektantischen Gemeinden aus einer Kategorie in eine andere, mit ihrer Unterstellung […] unter die wachsame Kontrolle der Verwaltung.90
Und genau so, wie die Verwaltung weite Kontrollrechte über die Geistlichkeit der nicht-orthodoxen Glaubensbekenntnisse habe, habe sie diese Kontrollrechte nun auch auf die Gemeinden der Raskol’niki und Sektenangehörigen ausgeweitet. Die Statuten der gottgefälligen Einrichtungen, der Bau von Bethäusern, die Errichtung von Einsiedeleien und Klöstern, die Wahlen von Gemeindeleitern und -vorstehern – all diese Akte unterliegen der Bestätigung von Seiten der Verwaltungsobrigkeiten und nur in einigen Fällen ist deren Ermessen an Vorschriften des Gesetzes gebunden.91 Riten teilzunehmen, die gegen ihre religiösen Überzeugungen widersprechen. 3) Das Recht einer Person, ihren Glauben zu wechseln oder keiner Glaubensgemeinschaft anzugehören. 4) Das Recht auf persönliche und öffentliche Ausübung des religiösen Kultes, das heißt auch das Recht auf die Gründung von Religionsgemeinden zur öffentlichen Feier von Gottesdiensten. 5) Das Recht einer jeden Person auf sämtliche zivile und politische Bürgerrechte ungeachtet des religiösen Bekenntnisses. 6) Das Recht einer Person, zivile Handlungen vollziehen zu können, ohne dafür an religiösen Riten teilnehmen zu müssen. Dies schließt die Möglichkeit der zivilen Eheschließung, Beerdigung und den Besuch von konfessionslosen Schulen und anderes ein. 7) Das Recht einer Person auf Schutz ihrer Persönlichkeit, ihrer Würde und Freiheit durch den Staat gegen jeden Angriff von Seiten religiöser Gemeinden oder geistlicher Obrigkeiten. Rejsner: Pravo svobodnago ispovedanija 14–16. 88 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 128. 89 Mel’nikov: Kratkaja istorija 522. 90 Rejsner: Svoboda sovesti 420. 91 Ebd.
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Damit sprach Rejsner die am stärksten kritisierte Einschränkung der im Erlass vom 17. Oktober 1906 verliehenen Rechte an, wie in Kapitel 6.3. gezeigt wird. Außerdem verwies er auf ein Problem der Regierung, welches diese schon in den 1860er Jahren erkannt und durch die Gesetze von 1874 und 1883 schrittweise zu beheben versucht hatte: die mangelnde Kontrolle über die altgläubige Bevölkerung. Der eigentliche Auslöser für die Bereitschaft der Regierung zu so weit reichenden Zugeständnissen gegenüber den Altgläubigen war jedoch der gesellschaftliche Druck der Jahre 1905/07. Die Regierung schätzte die Altgläubigen als russische Untertanen, die bei der Besiedelung Sibiriens halfen, die bedeutenden Anteil an der Industrialisierung des Imperiums hatten, denen eine hohe Arbeitsmoral nachgesagt wurde, die in der Vorstellung vieler Zeitgenossen das eigentliche und bessere Russland verkörperten und deren Zahl in Millionen zu zählen war.92 Dieser Teil der Bevölkerung sollte in Krisenzeiten als stabilisierender Faktor des Regimes gewonnen werden. So vollzog sich die Legalisierung des Altgläubigentums in einem diskursiven Klima, welches unter dem Begriff der Gewissensfreiheit das Individuum als religiösen Akteur anstelle des Kollektivs immer stärker betonte,93 wodurch eine Fortsetzung der Entrechtung der Altgläubigen immer schwerer zu rechtfertigen war.94 Hauptanliegen der Regierung war jedoch, sich durch einen Rechtsausgleich mit den so genannten ausländischen Bekenntnissen der Loyalität der Altgläubigen zu versichern. Dabei zeigte die Regierung, dass ihr die unmittelbare Loyalitätssicherung der Altgläubigen95 bei Beibehaltung großer Teile der alten Ordnung wichtiger blieb, als die Achtung der Gewissensfreiheit, die die überkommene Ordnung fundamental in Frage stellte. Zur Verordnung vom 17. Oktober 1906 schreibt Tuchtenhagen: Insgesamt wird man die Verordnung von 1906 […] als einen Ausbau staatlich verordneter Toleranz beurteilen müssen, wobei weder volle Religionsfreiheit [Tuchtenhagen benutzt Religionsfreiheit gleichbedeutend mit Gewissensfreiheit, d. Vf.] noch eine Angleichung der Altgläubigenstatuten an die Privilegien der Orthodoxen Kirche intendiert waren, und auch nicht unbeabsichtigt erreicht wurden.96
Insofern erscheint der Erlass vom 17. Oktober 1906 als Höhepunkt der Ausdehnung des Toleranzgedankens auf die Altgläubigen, einer Idee, die auf die auf 92 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 147. 93 Werth: The Emergence 609 f. 94 Die Kritik an der fortgesetzten Entrechtung der Altgläubigen auch nach der Veröffentlichung des Toleranzmanifestes kritisierte im Jahr 1907 der Altgläubige Sergej Petrovič Mel’gunov mit dem Hinweis darauf, dass es eines grundlegenden Umbaus der existierenden Ordnung bedürfe, um die Gewissensfreiheit im Russländischen Imperium einzuführen. Denn der Staat dürfe sich nicht länger in Glaubensangelegenheiten einmischen, da der Glaube eine persönliche Angelegenheit sei. Mel’gunov: Staroobrjadcy i svoboda sovesti 65 f. 95 Waldron: Religious Reform 122. 96 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 146.
308 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 geklärte Politik Pёtrs I. und Ekaterinas II. zurückging und nach deren Aussetzung unter Nikolaj I. in den 1860er Jahren in Regierungskreisen wieder diskutiert wurde. Insofern handelte es sich um den »letzte[n] Akt aufgeklärt-absolutis tischer Religionspolitik russischer Prägung«,97 wie Tuchtenhagen schreibt. Zur Ausweitung der Glaubenstoleranz auf die Altgläubigen trug darüber hinaus bei, dass sie aufgrund ihrer Zugehörigkeit zur russischen Ethnie um die Jahrhundertwende als loyale Untertanen wahrgenommen wurden. Das be sondere Außerordentliche Komitees über die Angelegenheiten der Raskol’niki (osobyj Vremennyj Komitet po delam o raskol’nikach) unter Vorsitz Viktor Nikitič Panins hatte im Jahr 1864 eine Ausweitung der Rechte der Altgläubigen noch damit gerechtfertigt, dass in einem Staat, in dem Juden, Muslimen und Heiden ungehindert erlaubt ist, ihre Riten nach den Regeln ihres Gesetzes auszuüben, […] über ein unbedingtes Verbot des gemeinschaftlichen Gebets der Raskol’niki, die den gleichen Gott bekennen wie wir, nicht die Rede sein98
könne. Das Komitee betonte die Nähe der religiösen Lehre der Altgläubigen zu jener der Orthodoxen Kirche im Unterschied zu denjenigen von Juden, Mus limen und Heiden. Im Laufe der folgenden Jahrzehnte erlangte jedoch die Zugehörigkeit der Altgläubigen zum russischen Volk immer größere Bedeutung für die Forderung nach der Ausweitung ihrer Rechte. Bereits in den 1880er Jahren bezeichnete der Schriftsteller Aleksandr Konstantinovič Šeller die Raskol’niki als »Stammsöhne [korennye syny] des orthodoxen Russlands, deren Großteil sich nur durch ihre Zugehörigkeit zum Altgläubigentum auszeichnet, wobei sie nur auf andere Weise ihre Finger für das Gebet zusammenlegen, aber nicht das Wesen des orthodoxen Glaubens ändern.«99 Šeller betont die Zugehörigkeit der religiösen Dissidenten zum russischen Volk, die ihm wichtiger scheint, als die Unterschiede ihrer Lehre zur derjenigen der Orthodoxen Kirche. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts hatte sich die Vorstellung über den russischen Charakter des Glaubens und der Bräuche der Altgläubigen unter vielen Gelehrten durchgesetzt. Michail Rejsner schreibt über die Verfolgung des Altgläubigentums: [Z]wei Bekenntnisse schreiben sich den Charakter der wahrhaft nationalen Religion des russischen Volkes zu; das eine – durch starke staatliche Unterstützung und theologische Richtigkeit, das andere – durch starken völkischen Konservatismus und Unwissenheit, aber gemeinsam durch ihren historisch bewiesenen russischen Volkscharakter.100 97 Ebd. 33. 98 Zitiert nach: Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 13. Meine Hervorhebung. 99 Michajlov: Po voprosu o veroterpimosti 80. 100 Rejsner, Michail Andreevič: Moral’, pravo i religija do dejstvujuščemu zakonu, in: Vestnik prava 4–5 (1900), 45 f. Zitiert nach: Rožkov: Cerkovnye voprosy 25.
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Und auch Varvara Jasevič-Borodaevskaja war 1905 davon überzeugt, dass unter Raskol »jene religiöse Bewegung, die seit der Zeit Nikons um ihre Existenz kämpft und festhält an den Traditionen der alt-orthodoxen Rus’ und sich Altgläubigentum nennt«, zu verstehen sei.101 Von den Sektenangehörigen unterschieden sich die Altgläubigen dadurch, dass letztere »vorrücken auf den ersten Platz der nationalen Frage, die ungebrochen mit der Religionsfrage verbunden ist. Die Sektenangehörigen sind, im Gegenteil, der nationalen Frage gegenüber indifferent.«102 Die Entrechtung der Altgläubigen sei daher vollkommen ungerechtfertigt. Die Verwaltung habe sich »mit aller Kraft darum bemüht, entgegen dem historischen nationalen Gang, dem Altgläubigentum […] die Bedeutung irgendeines falschen krankhaften Symptoms zu verleihen«.103 Die Altgläubigen wurden auf diese Weise immer stärker als die Bewahrer des wahrhaften, das heißt alten Russentums stilisiert und wahrgenommen.104 Tuchtenhagen schreibt: Doch wurde nun, ganz im Sinne des großrussischen Nationalismus, die Altgläubigenfrage zu einem neuen Faktor im religionspolitischen Kalkül. Die Ausdehnung des petrinischen Toleranzgedankens auf die als urrussisch-volkstümlich angesehen [sic!] Altgläubigen paßte ins Konzept eines Staatsnationalismus, der nach den Vorstellungen der Regierung die durch die Industrialisierung entstandenen gesellschaftlichen Spannungen vermindern sollte.105
Mit anderen Worten, wurden die Altgläubigen in einer Zeit, in der eine zunehmende Nationalisierung des konfessionellen Diskurses erkennbar ist,106 in erster Linie als ethnische Russen wahrgenommen. Diese Einschätzung trug maßgeblich zu der Vorstellung bei, dass es sich bei den Altgläubigen um loyale Untertanen des Zaren handele, die in den schwierigen Zeiten für das Regime als stabilisierender Faktor genutzt werden sollten.107 Dieser Umstand führt vor Augen, dass die Gebote des Nationalismus nicht nur in der Bevölkerung, sondern auch in Regierungskreisen immer stärker die Handlungen und Anschauungen der Akteure formten,108 was den Altgläubigen Anfang des 20. Jahrhunderts zum Vorteil gereichte.109 101 Jasevič-Borodaevskaja: Obzor zakonodatel’stva 3. 102 Ebd. 4. 103 Ebd. 11. 104 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 31 f. 105 Ebd. 33. 106 Schulze Wessel: Religion, Politics and the Limits 354. 107 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 118 f. 108 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 7. 109 Dies trifft auch auf die Altgläubigen zu, die sich in einer Dankesadresse an Zar Nikolaj II. für das Toleranzmanifest als »wahrhaft russische Untertanen« bezeichneten. [–]: Trudy o S’’ezde staroobrjadcev vsego Severo-Zapadnago, Privisljanskago i Pribaltijskago kraev i drugich gorodov Rossijskoj Imperii, sostojavšemsja v gor. Vil’ne 25–27 Janvarja 1906 goda.
310 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Die Anerkennung des Altgläubigentums durch die Regierung ist insofern bemerkenswert, als dass zum ersten Mal ein innerorthodoxes Schisma legalisiert wurde. Paul Werth hat in seinem Aufsatz »Schism Once Removed« gezeigt, dass die Regierung vor 1905 in einigen Fällen bereit gewesen war, Schismen innerhalb der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse anzuerkennen. Ausschlaggebend für eine entsprechende Entscheidung waren drei Kriterien: 1) Die Einschätzung, dass es sich bei der jeweiligen religiösen Gruppe um loyale Untertanen handelte, deren Lehre mit der existierenden Ordnung kompatibel war; 2) das Einverständnis derjenigen Kirche, von der sich die neue Sekte abgespalten hatte, diese anzuerkennen110 und 3) die Einsicht, dass diese Sekten die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche nicht infrage stellten, die ein wesentliches Merkmal der religiösen Ordnung des Russländischen Imperiums war.111 Die letzten beiden Kriterien hatten die Anerkennung des Altgläubigentums bis 1905 verhindert, welches von der Orthodoxen Kirche als Verneinung der eigenen Lehre und als Bedrohung im Kampf um Kirchenmitglieder wahrgenommen wurde. Die Regierung, die die Bedrohung von Sekten anhand sozialer und politischer Aspekte evaluierte und nicht anhand ihrer religiösen Gefährdung für die Orthodoxe Kirche,112 setzte sich im Jahr 1906 über die Bedenken der Staatskirche hinweg. Die Architekten der Erlasse von 1903 bis 1906 sahen die Lehre der Altgläubigen nicht länger als gesellschaftsgefährdend an. Sie hofften, sich durch die Gewährung von Rechten der politischen Loyalität der Altgläubigen versichern zu können. Außerdem war die Verleihung von Rechten die Voraussetzung für die Auferlegung von Pflichten, welche eine staatliche Kontrolle über die altgläubige Bevölkerung ermöglichte. Paul Werth schreibt über die Zeit vor 1905:
Vilnius 1906, 65. Doch nicht nur nach Außen, sondern auch nach Innen stellten sie sich als Russen dar. Der priesterliche Altgläubige Fёdor Evfim’evič Mel’nikov schreibt über den Erlass vom 17.10.1906: »Zum ersten Mal seit 250 Jahren wurden die ergebensten Söhne Russlands, die in sich selbst die reizende Art der heiligen altorthodoxen und wahrhaft frommen Rus’ tragen, schließlich als gesetzliche Bürger ihres großen Vaterlandes anerkannt, welches sie errichtet hatten.« Mel’nikov: Kratkaja istorija 404. In der ersten Ausgabe der 1912 in Riga herausgegebenen Zeitschrift der Altgläubigen »Staraja Rus’« wurde die Frage beantwortet, wonach das Altgläubigentum streben solle: »Es muss in sich die rein-russischen, slavischen Wurzeln entwickeln, welche in ihm angelegt sind«. [–]: O našich celjach, in: Staraja Rus’. Probnyj nomer 1912, 1–3, hier 2. 110 Dies war beispielsweise bei den Baptisten der Fall. Die lutherischen Autoritäten drängten die Regierung, die Baptisten anzuerkennen, weil sie verstanden hatten, dass mit dieser staatlichen Anerkennung staatliche Kontrolle und Regulierung einherging. Solange die Angelegenheiten der Baptisten nicht staatlich reguliert waren, konnten sie mehr oder weniger tun und lassen was sie wollten. Werth: Schism Once Removed 88 f. 111 Ebd. 99 f. 112 Ebd. 99.
Ausblick auf die Zeit nach 1906 311
But precisely because ›schism‹ in the foreign confessions remained once removed from the principal object of the empire’s confessional order – the Orthodox Church and its ›predominant‹ status – a discourse of belief, conviction, and conscience could arise and obtain a certain currency among state officials.113
Wir haben gesehen, dass sich dieser Diskurs um 1905 auch auf den staatlichen Umgang mit dem größten Schisma der Orthodoxen Kirche übertrug. Im Jahr 1906 wurden die Raskol’niki von der Regierung als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt.
6.3 Ausblick auf die Zeit nach 1906: Beginn eines »goldenen Zeitalters« in der Geschichte des Altgläubigentums? Was bedeutete die Legalisierung des Altgläubigentums durch das Gesetz vom 17. Oktober 1906 für die religiösen Dissidenten? Seit 1907 entstand eine Diskussion darüber, ob nun ein »goldenes Zeitalter«114 in der Geschichte des Altgläubigentums angebrochen sei oder ob der Erlass über die Altgläubigengemeinden »toter Buchstabe«115 bliebe. Prominentester Kritiker der Gesetzgebung über die Altgläubigen war der Historiker und Politiker Sergej Petrovič Mel’gunov (1879–1956). Er stand der Art und Weise, wie die Regierung nach 1905 begann, das Ideal der Gewissensfreiheit umzusetzen, im Allgemeinen kritisch gegenüber. Das Departement für ausländische Bekenntnisse des Innenministeriums hatte sieben Gesetzesentwürfe ausgearbeitet und diese der dritten Duma vorgelegt. Diese Gesetzesentwürfe befassten sich mit Konversionen, dem Verhältnis des Staates zu den einzelnen Bekenntnissen, der Garantie der freien Religionsausübung, dem Bau von Gotteshäusern, dem juristischen Status von Religionsgemeinden, interkonfessionellen Ehen und der Abschaffung von diskriminierenden Maßnahmen aufgrund religiöser Zugehörigkeit. Das Departement ging in seinen Entwürfen allerdings nicht so weit, aus der Gewissensfreiheit eine Indifferenz des Staates gegenüber Religion abzuleiten, die Gleichberechtigung aller Glaubensbekenntnisse im Russländischen Imperium zu fordern oder die Trennung des Staates von den verschiedenen religiösen Institutionen im Reich zu vollziehen. Stattdessen sollte das »multiconfessional establishment« beibehalten werden und damit auch die vorherrschende Stellung der Orthodoxen
113 Ebd. 100. 114 Mel’nikov: Kratkaja istorija 407. 115 Mel’gunov: Staroobrjadcy i svoboda sovesti 57.
312 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Kirche im Russländischen Reich.116 An diesen Gesetzesentwürfen des Innenministeriums kritisierte Mel’gunov zahlreiche innere Brüche, die er auf die Widersprüchlichkeit zwischen dem Ideal der Gewissensfreiheit und dem fortgesetzten Versuch des Innenministeriums, die Religionsgemeinschaften für eigene Zwecke zu instrumentalisieren, zurückführte.117 Mel’gunov schrieb: »Für jene, die auch nur eine grundlegende Gewissensfreiheit in unserem Land sichern wollen, sind die Gesetzesentwürfe des Ministeriums vollkommen in‑ akzeptabel.«118 Mel’gunov befürchtete, dass die am 17. Oktober 1906 versprochenen Rechte nicht verwirklicht würden.119 Mit dem Erlass könne auf dieselbe Weise verfahren werden, wie mit dem Gesetz vom 3. Mai 1883. Dieses habe den Bau von Bethäusern erlaubt und sei in der Praxis nicht implementiert worden.120 Kon kreten Anlass zur Sorge Mel’gunovs gab ein Zirkular des Innenministers an die Gouverneure aus dem Mai 1905. Dieses schrieb vor, dass die Gesetze, welche die Rechte der Altgläubigen und Sektenangehörigen einschränkten, nicht weiter angewandt werden sollten, außer wenn der Gouverneur die fortgesetzte Anwendung jener Maßnahmen für notwendig befinde. Es lag also im Ermessen der Gouverneure, ob die Altgläubigen weiterhin unterdrückt wurden oder Konfessionsfreiheit genossen.121 Eine weitere Vorschrift des Innenministers sah vor, dass Orthodoxe, die zu einer anderen Religion übertreten wollten, dazu die Erlaubnis des zuständigen Gouverneurs benötigten. Mel’gunov wandte gegen diese Verordnung ein: »Die Freiheit des Glaubens mit der Erlaubnis des Gouverneurs ist natürlich keine Freiheit des Glaubens.«122 Und nicht nur das Manifest vom 17. April 1905 sah Mel’gunov durch diese Zirkulare eingeschränkt, sondern er kritisierte auch den Erlass vom 17. Oktober 1906 über die Gemeinden der Altgläubigen und Sektenangehörigen für die darin festgehaltenen Einschränkungen der gewährten Rechte.123 Der Erlass legte fest, dass für die Gründung einer Gemeinde, wie für die Eröffnung von Kirchen und Bethäusern die Erlaubnis des zuständigen Gouverneurs nötig war. Diesem oblag auch die Bestätigung gewählter geistlicher Personen in ihrem Amt und deren Registrierung, durch welche sie die mit dem Stand geistlicher Personen verbundenen 116 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 222 f. 117 Ebd. 224. 118 Mel’gunov, Sergej Petrovič: Svobodnaja cerkov’ v svobodnom gosudarstve (vmesto vvedenija), in: Ders.: Cerkov’ i gosudarstvo v Rossii v perechodnoe vremja (K voprosu o svobode sovesti). Sbornik statej. Bd. 2. Moskau 1909, 7–22, hier 22. 119 »Werden die Altgläubigen die vorgelegten Rechte wirklich nutzen, oder bleiben diese Rechte nur auf dem Papier, wie dies früher zum wiederholten Male war?« Mel’gunov: Staroobrjadcy i svoboda sovesti 7. 120 Ebd. 54. S. Kapitel 5.2.4. 121 Mel’gunov: Staroobrjadcy i svoboda sovesti 52. 122 Ebd. 53. 123 Ebd. 55 f.
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Rechte bekamen.124 Die Verwaltung habe durch diese Bestimmungen einen zu großen Einfluss auf die Gemeinden der Altgläubigen, kritisierte Mel’gunov.125 Er schrieb: Es ist natürlich schwierig unter diesen Bedingungen daran zu denken, dass mit der Verabschiedung des neuen Gesetzes für die Altgläubigen ein goldenes Zeitalter anbricht. Die neuen Gesetze können sich als toter Buchstabe erweisen und in der Rea lität bleibt alles bei der alten Rechtlosigkeit.126
Doch hatte Mel’gunov ein politisches Interesse daran, seine Leser – die Alt gläubigen – gegenüber der Regierung kritisch zu stimmen. Er war ein Verfechter der Gewissensfreiheit, welche er als »Recht jedes Menschen, nach seiner eigenen Überzeugung an Gott zu glauben«127 verstand. Um dieses Prinzip in Russland einzuführen, bedürfe es einer grundlegenden Reform der existierenden Ordnung.128 Diese hänge seit Einführung der Duma von den Abgeordneten dieser Institution ab. Und damit auch von den Altgläubigen, die an der Wahl der Abgeordneten teilnahmen.129 Um ihre eigenen Bedürfnisse befriedigt zu sehen, müssten die Altgläubigen gründlich überlegen, wem sie ihre Stimme in den Wahlen zur dritten Duma geben.130 Für Mel’gunov war klar: Nur die »Partei der Freiheit des Volkes« (Partija narodnoj svobody) vertrete die Interessen der Altgläubigen.131 Mel’gunov hing lange Zeit ebenfalls dieser Partei an. Daher verwundert es nicht, dass er ein ausgesprochen negatives Bild von der Implementierung des Gesetzes vom 17. Oktober 1906 zeichnete, um sich der Stimmen der Altgläubigen für diese Partei zu versichern. Tatsächlich engagierten sich die Altgläubigen im Rahmen der Volksvertretung in der Duma für ihre eigenen Interessen. Doch entgegen den Warnungen Mel’gunovs, richteten sie ihre Hoffnungen auf die Partei der Oktobristen.132 Der erste Kontakt der Altgläubigen mit den Oktobristen kam über deren 124 Erlass »Über die Ordnung der Bildung und Tätigkeiten der Gemeinden der Altgläubigen und Sektenangehörigen und über Rechte und Pflichten der in den Bestand der Gemeinden eingehenden Anhänger altgläubiger Richtungen und von der Orthodoxie abgehender Sektenangehöriger«. PSZ III, Bd. 26, Nr. 28424, 904–915 (17.10.1906). 125 Mel’gunov: Staroobrjadcy i svoboda sovesti 56. 126 Ebd. 57. 127 Ebd. 70 f. 128 Ebd. 66. 129 Ebd. 67 f. 130 Ebd. 69. 131 Ebd. 79. 132 Mel’gunov hatte davor gewarnt, dass die Oktobristen zu eng mit der Regierung in Verbindung stünden und ihre Forderungen nach den Freiheiten aus dem Erlass vom 17.10.1906 reine Lippenbekenntnisse seien. In Wahrheit seien sie ihre Gegner. »Aus diesem Grund kann die Union des 17. Oktober, als Regierungspartei, die Gewissensfreiheit der Altgläubigen nicht unterstützen.«, schreibt Mel’gunov. Ebd. 78.
314 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Leiter Aleksandr Ivanovič Gučkov (1862–1936) zustande.133 Gučkov stammte aus einer bekannten Moskauer Altgläubigenfamilie, gehörte jedoch der Orthodoxen Kirche an.134 Nachdem die dritte Duma im November 1907 einberufen worden war, gründete sie eine Kommission, die den Entwurf Innenminister Stolypins über die Rechte der Altgläubigen, die im Erlass vom 17. Oktober 1906 dargelegt waren, diskutieren sollte.135 Im Januar 1908 trafen sich Repräsentanten der priesterlichen und der priesterlosen Altgläubigen mit Gučkov und Vasilij Andreevič Karaulov (1854–1910), dem Vorsitzenden der Kommission.136 Die Kommission arbeitete einen Gesetzesentwurf aus, der vorsah, dass die Altgläubigen das Recht auf religiöse Propaganda bekommen sollten, und der sich gegen die Vorstellung einer vorherrschenden Kirche im Russländischen Reich wandte.137 Die Duma hieß den Entwurf gut, doch der Staatsrat sperrte sich dagegen,138 da die Forderung nach dem Propagandarecht die Privilegien der Orthodoxen Kirche untergrub und über den Rahmen der bloßen Toleranz weit hinausging. Der Staatsrat übergab den Gesetzesentwurf erneut der Duma, es wurde ein Schlichtungsausschuss eingesetzt, der aber ebenfalls zu keiner Lösung gelangte. Im Jahr 1914 übergab der Ausschuss den Entwurf zurück an die Duma, doch bis zum Ende des Zarenreichs konnte kein Kompromiss gefunden werden. Indem der Staatsrat die Verabschiedung des Gesetzesentwurfs blockierte, konnte das Regime seine Vorstellung von Toleranz durchsetzen und die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Reich wahren.139 Dennoch hatten die Altgläubigen – auch wenn sie keine Gleichberechtigung mit der Staatskirche oder gar Konfessionsfreiheit, die über die Politik der Glaubenstoleranz hinausging, bekommen hatten – durch den Erlass vom 17. Oktober 1906 ein großes Maß an Autonomie hinzugewonnen. Der Altgläubige Fёdor Efim’evič Mel’nikov (1874–1960), der den Priesterlichen der Hierarchie von Belaja Krinica angehörte, schrieb in einem Manuskript, welches erst im Jahr 1999 veröffentlicht wurde: »In der Geschichte der altgläubigen Kirche gab es ein ›goldenes‹ Zeitalter. Es war ausgesprochen kurz – ungefähr zehn bis zwölf Jahre lang (1905–1917)«.140 Er hob im Unterschied zu Mel’gunov, welcher die Existenz eines solchen »goldenen« Zeitalters verneint hatte, die positiven Aspekte 133 Waldron: Religious Reform 124. 134 Clay, J. Eugene: Orthodox Missionaries and »Orthodox Heretics« in Russia, 1887– 1917, in: Geraci, Robert P./Khodarkovsky, Michael (Hg.): Of Religion and Empire. Missions, Conversions, and Tolerance in Tsarist Russia. Ithaca, London 2001, 38–69, hier 62. 135 Waldron: Religious Reform 123 f. 136 Ebd. 125. 137 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 129. 138 Waldron: Religious Reform 126. 139 Tuchtenhagen: Religion als minderer Status 130. 140 Mel’nikov: Kratkaja istorija 407.
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der Ausweitung der Glaubenstoleranz auf die Altgläubigen hervor, ohne die ausbleibende Umsetzung des Ideals der Gewissensfreiheit zu kritisieren. Er schrieb, dass sowohl die priesterlichen als auch die priesterlosen Altgläubigen nach 1905/06 Kirchen errichteten,141 Schulen gründeten142 und Konzile und Konferenzen organisierten, auf denen sie ihre inneren Angelegenheiten besprachen.143 Darüber hinaus versuchten sie, ihre Interessen gegenüber der Regierung zu vertreten. Die priesterlichen Altgläubigen, über die Mel’nikov schrieb, scheinen dies nachdrücklicher versucht zu haben als die priesterlosen. Bereits im Jahr 1900 hatten sie Kontakte zu Regierungsmitgliedern aufgenommen. Der priesterliche Altgläubige Dmitrij Vasil’evič Sirotkin (1864–1953) hatte sich auf Jalta mit Geheimrat Sergej Vitte getroffen.144 Hintergrund war ein Vorstoß des Heiligsten Synods unter Oberprokuror Pobedonoscev gewesen, das Gesetz vom 3. Mai 1883 rückgängig zu machen, welches den Altgläubigen einige zivile Rechte gewährte und die Renovierung ihrer Bethäuser gestattete.145 Die Altgläubigen wollten das Vorhaben Pobedonoscevs um jeden Preis verhindern. Sie überreichten Vitte eine Petition mit beinahe 50.000 Unterschriften, die dieser an den Zaren weiterleiten sollte. Der Oberprokuror des Heiligsten Synods konnte seinen Plan nicht durchsetzen.146 Ebenfalls noch vor der Verabschiedung des Toleranzmanifests organisierten die Priesterlichen Ende des Jahres 1904 eine Tagung, auf der sie ein Schreiben an Vitte – der mittlerweile Vorsitzender des Ministerkomitees war – verfassten, in welchem sie ihre Forderungen an die zukünftige Gesetzgebung darlegten.147 Diese Forderungen sahen letztendlich eine Gleichberechtigung mit den staatlich anerkannten Glaubensbekenntnissen vor. Tatsächlich fanden die Altgläubigen bei der Regierung Gehör: Zwischen 1900 und 1917 organisierten die Popovcy 18 alljährlich tagende, allrussische Konferenzen der Altgläubigen und einige außerordentliche.148 Im März 1906 wurden Delegaten der sechsten alljährlichen Konferenz zur Teilnahme an der Sonderkonferenz unter Vorsitz Aleksej Ignat’evs eingeladen, um ihre Vorstellungen über notwendige Gesetzesänderungen darzulegen.149 Doch auch die priesterlosen Altgläubigen blieben nicht untätig. Bereits im Januar 1906 versammelten sich die Pomorcy des nord-westlichen Gebiets, Polens und der Ostseegouvernements in Vilnius, darunter drei Repräsentanten der 141 Die priesterlichen Altgläubigen errichteten zwischen 1905 und 1917 mehr als 1.000 Kirchen. Ebd. 426. 142 Nach 1905 wuchs die Zahl der Schulen der Altgläubigen so schnell, »wie Feldblumen zu Beginn des Frühjahrs«. Ebd. 446. 143 Ebd. 417–425. 144 Waldron: Religious Reform 122. 145 S. Kapitel 5.2.1. 146 Rožkov: Cerkovnye voprosy 26. 147 Ebd. 38 f. 148 Mel’nikov: Kratkaja istorija 417 f. 149 Waldron: Religious Reform 122.
316 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Gemeinden Livlands.150 Ziel des Kongresses war es, eine Dankesadresse an den Zaren für das Toleranzmanifest vom 17. April 1905 und den Erlass vom 17. Oktober 1905 zu formulieren.151 In dieser Adresse sprachen die priesterlosen Altgläubigen dem Zaren ihre Loyalität aus: Millionen Deiner wahrhaft russischen Untertanen geben ihr Leben bereitwillig der heiligen Sache – der Unterstützung der Ordnung und der absoluten zarischen Macht. Wie eine Familie ohne Vater, können auch wir nicht ohne Dich leben, unseren Zaren. Wir hören nicht auf jene Leute, die uns durch ihre brennenden Reden und Rufe zur Zerstörung der existierenden Ordnung aufrufen, sondern geben uns mit dem zufrieden, was wir haben und glauben ruhig, mit reinem Gewissen an unsere gute Zukunft auf den Wegen Eurer unaufhörlichen Fürsorge.152
Um diese gute Zukunft sicher zu stellen, wurde auf dem Kongress eine Kommission gewählt, die einige Bitten der Altgläubigen an den Innenminister übermitteln sollte. Sie hofften auf die Erlaubnis, in jeder Gemeinde Grundschulen gründen zu dürfen, dass sie in persönlichen Dokumenten nicht mehr als Raskol’niki bezeichnet würden und dass ihre Gemeindeleiter mit geistlichen Personen gleichberechtigt würden.153 Die Regierung war in jenen Jahren an den Vorschlägen der Altgläubigen interessiert. Sie hatte einen Gesandten des Generalgouverneurs von Vilnius auf den Kongress geschickt, der auf der ersten Sitzung eine Grußadresse seines Vorgesetzten verlas. Darin wurden die Altgläubigen dazu aufgefordert, an der Umsetzung des Toleranzmanifestes mitzuwirken, indem sie der Regierung in St. Petersburg Vorschläge unterbreiteten, welche Gesetze geändert bzw. erlassen werden müssten.154 Darüber hinaus widmete sich die Konferenz den inneren, religiösen Angelegenheiten der Altgläubigen. Es wurde darüber diskutiert, wie Gemeindeleiter und Bethäuser in Zukunft genannt werden sollten und wie Gottesdienste zu feiern und andere kirchliche Amtshandlungen, wie Beerdigungen oder Ehetrauungen, zu vollziehen seien.155 Derartige Fragen diskutierten die Pomorcy auch auf imperiumsweiter Ebene. Vom 1. bis 5. Mai 1909 tagte in Moskau das Erste Allrussische Konzil der Christen-Pomorcy, die die Ehe anerkennen (Pervyj Vserossijskij Sobor christianpomorcev, priemljuščich brak, im Folgenden: Erstes Allrussisches Konzil). Daran nahmen Repräsentanten der priesterlosen Altgläubigen aus 47 Gouvernements 150 Aus Jur’ev kam Pёtr Frolovič Belobrov, aus dem Dorf Vorol’d Karp Tichonovič Krasovskij und ein weiterer Altgläubiger aus Livland. Der Großteil der Teilnehmer kam aus Vilnius und Umgebung. [–]: Trudy o S’’ezde 1–16. 151 Ebd. 19 f. 152 Ebd. 65. 153 Ebd. 21 f. 154 Begrüßungsrede des Generalgouverneurs von Vilnius, vorgetragen von S. P. Veleckij. Ebd. 61 f. 155 Ebd. 24–28.
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teil, sieben kamen aus Livland.156 Ziel des Konzils war es, größere Einheit unter den Altgläubigengemeinden herzustellen. Es ging um eine Konsolidierung des pomorischen Altgläubigentums nach Innen.157 Dies schien geboten, da die religiösen Dissidenten vor 1905 nicht die Möglichkeit bzw. das Recht gehabt hatten, Versammlungen abzuhalten. Dadurch hatten sie elementare Fragen des Gemeindelebens nicht mit ihren Glaubensbrüdern diskutieren können und so unterschieden sich die Bräuche und Riten in den einzelnen Altgläubigengemeinden zum Teil stark voneinander.158 Einige dieser Fragen sollten auf dem Ersten Allrussischen Konzil entschieden werden. Es wurde darüber diskutiert, welche Personen Gemeindeleiter werden durften, ob diese für den Vollzug von Kasualien Zahlungen entgegennehmen durften, ob der Ausschluss aus dem Gottesdienst eine adäquate Bestrafung für Sünder war, welche Personen Taufpaten sein durften, wie Ehen getraut werden mussten,159 wie der Verwandtschaftsgrad zwischen Braut und Bräutigam festzustellen war, ob interkonfessionelle Ehen geschlossen werden durften, unter welchen Umständen Ehen wieder geschieden werden konnten oder wie Verstorbene zu beerdigen waren.160 Ein großer Teil der Sitzungen des Konzils war darüber hinaus unterschiedlichen Formen der »Verweltlichung« (zamirščenie)161 gewidmet, die zur Sünde erklärt wurde.162 Unter »Verweltlichung« waren Angewohnheiten und Bräuche zu verstehen, die einige Altgläubige durch zunehmenden Konakt mit Anders gläubigen übernommen hatten,163 wie beispielsweise das Rasieren des Bartes, der Genuss von Tabak, Kaffee, Vodka und Kartoffeln164 sowie die Benutzung von Geschirr, welches zuvor von Andersgläubigen benutzt worden war.165
156 Mekšs/Žilko: Staroobrjadčestvo v Latvii 81. 157 [–]: Trudy o S’’ezde III. 158 [–]: Trudy I Vserossijskago S’’ezda christian-pomorcev, priemljuščich brak. O. O. 1910, 20. 159 In Bezug auf die Ehetrauung wurde darüber diskutiert, welche Statuten Geltung haben sollten. Während in einigen Gemeinden der Kanon »Vsemilostivomu Spasu« gesungen werde, hatten andere das Ehestatut Ljubopytnyjs und Skačkovs übernommen. Im nordwestlichen Gebiet gab es ein weiteres, drittes Statut. Da die Anwesenden sich nicht auf einen gemeinsamen Trauungsritus einigen konnten, wurde alles beim Alten belassen. [–]: Stenografičeskij otčet Pervago Vserossijskago Sobora Pomorcev, priemljuščich brak. Moskau 1909, 7 f. 160 [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora christian-pomorcev 1–17. 161 Die Priesterlosen nannten dieses Phänomen Zamirščenie, die Priesterlichen sprachen von Obmirščenie. 162 [–]: Stenografičeskij otčet 10. 163 [–]: Trudy I Vserossijskago S’’ezda 18 f. 164 Ebd. 11. 165 [–]: Stenografičeskij otčet 9. Das Verbot, Geschirr zu verwenden, welches zu vor von Andersgläubigen benutzt worden war, wurde Čašničestvo genannt. Paert: Penance and the Priestless Old Believers 284.
318 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Neben dieser Konsolidierung nach Innen, strebten die Pomorcy Gespräche mit den eheablehnenden Fedoseevcy sowie mit den priesterlichen Altgläubigen an – obwohl sie letztere als Häretiker ansahen, denen sie das Recht absprachen, sich Altgläubige zu nennen. Die Pomorcy wollten gar eine gegen die Popovcy gerichtete Zeitschrift mit dem Titel »Schwert und Schild« (Meč i Ščit) heraus gegeben. Das Schild schütze vor den Feinden-Priesterlichen (vragy-popovcy) und das Schwert zerschlage das gegen die Altgläubigen erlassene Unrecht, charakterisierte der Vorsitzende des Konzils Lev Feoktistovič Pičugin (1859–1912) die Bedeutung des Titels.166 Der Verurteilung des priesterlichen Altgläubigentums zum Trotz richtete eine Versammlung, die das Erste Allrussische Konzil vorbereitete, ein Schreiben an den Rat der priesterlichen Gemeinde in der Belaja Krinica mit der Bitte, eigene Vertreter auf das geplante Konzil zu schicken, damit »kanonische Fragen, die unsere Kirchen voneinander trennen«,167 besprochen werden können.168 An die Gemeinde der Fedoseevcy in Moskau wurde ein vergleichbares Schreiben geschickt, welches jedoch unbeantwortet blieb.169 Daher sandte das Erste Allrussische Konzil eine Delegation an die Fedoseevcy und lud sie zu gemeinsamen Gesprächen ein. Diese hätten das Angebot gerne angenommen, doch befanden sie es für nötig, sich erst mit anderen Gemeinden ihrer Glaubensgenossen darüber zu verständigen, so ihre Antwort an die Gesandtschaft.170 Erst im Rahmen des Zweiten Allrussischen Konzils der christlichen pomorischen Kirchengemeinde (Vtoroj Vserossijskij Sobor christianskago pomorskago cerkovnago obščestva, im Folgenden: Zweites Allrussisches Konzil), welches in Moskau vom 8. bis zum 17. September 1912 stattfand, traf eine Delegation der Fedoseevcy ein und diskutierte mit den Pomorcy über die Gründe der Spaltung innerhalb des priesterlosen Altgläubigentums.171 Zu einer Einigung konnten die Pomorcy weder mit den Fedoseevcy noch mit den priesterlichen Altgläubigen gelangen.172 Neben der Diskussion innerer Angelegenheiten nahmen die Repräsentanten der Altgläubigengemeinden auf dem Konzil Stellung zu ihren neuen Rechten. Sie formulierten eine Dankesadresse an Nikolaj II., in welcher sie sich für den Erlass vom 17. April 1905 bedankten und ihre Loyalität gegenüber dem 166 [–]: Stenografičeskij otčet 12. 167 [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora christian-pomorcev 46. 168 Ebd. 169 Ebd. 218. 170 Ebd. 45. 171 Protokoll der Diskussion zwischen F. F. Rumjancev und F. D. Permjakov am 14.9.1912. [–]: Dejanija Vtorogo Vserossijskago Sobora christianskago pomorskago cerkovnago ob ščestva v carstvujuščem grade Moskve v leto ot sotvorenija mira 1912 sentjabrja v dni s 8 po 17. O. O. 1912, 219–245. Derjenigen am 16.9.1912 zwischen F. F. Rumjancev und R. I. Kistanov. Ebd. 249–278. 172 Mel’nikov: Kratkaja istorija 513 f.
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Zaren bekundeten.173 Bei aller Dankbarkeit gegenüber dem Zaren, gab es unter den priesterlosen Altgläubigen jedoch auch Kritik am Erlass vom 17. Oktober 1906 über ihre Gemeinden. Am 13. Januar 1908 hatten sich Vertreter der Pomorcy in Moskau getroffen und über Änderungen und Erweiterungen der im Jahr 1906 verliehenen Rechte diskutiert. Die Ergebnisse ihrer Arbeit schickten sie einer Kommission zu, die mit der Vorbereitung des Ersten Allrussischen Konzils befasst war. In ihrem Bericht kritisierten die pomorischen Altgläubigen die Einmischung der Obrigkeiten in die Angelegenheiten ihrer Gemeinden. Sie wollten verhindern, dass der Bau von Kirchen und die Eröffnung von Gemeinden von der Entscheidung des jeweiligen Gouverneurs abhängig gemacht wurden, wie im Erlass vom 17. Oktober 1906 vorgesehen war. Das Gleiche galt für die Bestätigung geistlicher Personen durch den Gouverneur. Dabei beriefen sich die Altgläubigen auf die Freiheit des Gewissens, in welches sich die Obrigkeiten nicht einmischen dürften: Die Gemeinden wählen, wie dies von alters her bei den Altgläubigen gehalten wird, ihre geistlichen Personen und [sollen] sie auch in Zukunft wählen, angeleitet durch die kanonischen Regeln und die Stimme ihres Gewissens und nicht durch Vorschriften oder Einschränkungen der staatlichen Obrigkeiten.174
Die Pomorcy wollten darüber hinaus verhindern, dass ihre Gemeindeleiter zu Agenten des Staates wurden, indem sie die für die Verwaltung so wichtige Pflicht der Matrikelbuchführung übernahmen. Die Einmischung der Gemeindeleiter in weltliche Angelegenheiten entspreche nicht ihrer Berufung als geistliche Personen: »Unsere geistlichen Personen dürfen keine Vollzieher weltlicher Pflichten sein, damit sie nicht zu Staatsbeamten im Priesterrock werden, wie dies mit den geistlichen Personen der herrschenden Kirche geschah und damit sie nicht, ähnlich jenen, ihre innere sittliche Autorität verlieren.«175 Die priesterlosen Altgläubigen erkannten den Nutzen, den der Staat im System der Glaubenstoleranz aus der Kooptierung ihrer religiösen Eliten zog, und versuchten, dies zu verhindern. Dabei wandten sie sich jedoch nicht gegen die Pflicht der Matrikelbuchführung an sich, sondern schlugen vor, dass diese von gewählten Gemeinderäten geführt werden sollten.176 Wie bereits auf der Konferenz in Vilnius im Jahr 1906 war auch auf dem Ersten Allrussischen Konzil im Jahr 1909 ein Staatsbediensteter anwesend. Der Beamte für besondere Aufträge des Innenministeriums N. I. Pavlov hielt zu 173 [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora christian-pomorcev 3. 174 Erklärender Bericht zum Änderungsprojekt der Regeln vom 17.10.1906 über die Gemeinden der Altgläubigen, ausgearbeitet auf der Beratung der priesterlosen Altgläubigen der pomorisch-ehelichen Richtung am 13.1.1908. [–]: Dejanija Pervago Vserossijskago Sobora christian-pomorcev 28. Meine Hervorhebung. 175 Ebd. 27 f. 176 Ebd. 28.
320 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 Beginn des Konzils eine Rede, in der er seine Aufgabe erläuterte. Er wolle Material über den Aufbau der Altgläubigengemeinden sammeln, damit das Innen ministerium ein Musterstatut für diese Gemeinden ausarbeiten könne. Auf misstrauische Nachfragen einiger Altgläubiger hin, stellte er klar, dass diese Arbeit nicht dem Anschluss der Altgläubigengemeinden an die Orthodoxe Kirche dienen, sondern, im Gegenteil, die Autonomie dieser Gemeinden sicherstellen solle.177 Die Teilnahme von Regierungsvertretern an den Versammlungen der Altgläubigen macht deutlich, dass der Regierung an einer Realisierung des Erlasses vom 17. Oktober 1906 ernsthaft gelegen war. Gleichzeitig lässt sich jedoch nicht ausschließen, dass die Beamten die Tätigkeiten der Altgläubigen kontrollieren und Informationen über ihre Ansichten sammeln sollten. Die Altgläubigen waren bereit, mit der Regierung in Kontakt zu treten, in der Hoffnung, ihre Lage im Russländischen Reich verbessern zu können. Ihr tiefsitzendes Misstrauen gegenüber Regierung und Staatskirche legten sie jedoch nicht sogleich ab, sondern fürchteten, dass neue Verfolgungen auf sie zukommen könnten. Die nächste Versammlung der pomorischen Altgläubigen fand zwei Jahre später in Dinaburg (Gouvernement Pskov) statt. Bereits auf dem Ersten All russischen Konzil hatten die Pomorcy den Wunsch geäußert, an jeder Altgläubigengemeinde eine Schule zu gründen und ein Programm sowie entsprechende Lehrbücher auszuarbeiten.178 Die Details dieses für ausgesprochen wichtig befundenen Themas sollten auf einem besonderen Kongress entschieden werden. Vom 3. bis 5. Mai 1911 versammelten sich Vertreter der Pomorcy auf dem I. Allrussischen Kongress über die Volksbildung der Altgläubigen in Dinaburg (I Vserossijskij s’’ezd po narodnomu obrazovaniju staroobrjadcev v Dvinske, im Folgenden: I. Allrussischer Kongress über die Volksbildung). Die Altgläubigen aus Riga spielten auf dieser Versammlung eine wichtige Rolle, da sie beinahe die einzigen Altgläubigen im Imperium waren, die Erfahrungen mit einer offiziell anerkannten Schule hatten. Denn bis 1905 hatte es neben der Schule der Grebenščikov-Gemeinde nur wenige andere legal existierende Schule gegeben: Im Gouvernement Cherson waren 1867 zwei Grundschulen für die Kinder der Altgläubigen eröffnet worden179 und 1889 eine weitere im Dorf Bugrovka, in der Nähe von Nižnyj Novgorod.180 Als auf dem Ersten Allrussischen Konzil eine Schulkommission gewählt wurde, die den Kongress in Dinaburg vorbereiten sollte, wurden zwei Altgläubige aus Riga zu Mitgliedern ernannt: Der Lehrer an der Grebenščikov-Schule Anisim Ivanov Volovič und der ehemalige Schüler
177 [–]: Trudy I Vserossijskago S’’ezda 8 f. 178 [–]: Stenografičeskij otčet 12. 179 SPR 639–641 (5.5.1867). 180 Mel’nikov: Kratkaja istorija 444.
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dieser Schule, Ivan Ul’janovič Vakon’ja.181 Volovič nahm an dem Kongress in Dinaburg mit eigenen Beiträgen teil. Er hielt einen Vortrag über »Das Altgläubigentum und die Aufklärung«,182 in welchem er kritisierte, dass die Altgläubigen zwar stets nach der Einrichtung eigener Schulen strebten, eine entsprechende Erlaubnis jedoch nie bekamen. Volovič forderte seine Glaubensgenossen dazu auf, Grund- und Mittelschulen für die Ausbildung einzurichten und eine Zeitschrift der priesterlosen Altgläubigen herauszugeben.183 Dafür sprach sich der Kongress letztendlich auch aus. Es war geplant, Schulen für Altgläubige zu errichten, an denen religiöse Fächer sowie Lesen und Schreiben gelehrt werden sollten, und mittlere und höhere Bildungseinrichtungen, die die altgläubige Jugend auf das Erwerbsleben vorbereiten sollten. Für den Religionsunterricht sollten Lehrbücher herausgegeben werden. Um die Betreuung der Gemeindemitglieder durch ihre Nastavniki zu verbessern, sollten diese in speziellen Kursen auf ihre Tätigkeiten in der Gemeinde vorbereitet werden.184 Flankiert wurden die geplanten Bildungsmaßnahmen mit der Herausgabe einer Zeitschrift der pomorischen Altgläubigen unter dem Titel »Schild des Glaubens« (Ščit very), die bereits auf dem Ersten Allrussischen Konzil beschlossen worden war. »Schild des Glaubens« erschien in den Jahren 1912 bis 1916 allmonatlich in Saratov.185 Die auf den Allrussischen Konzilen und dem I. Allrussischen Kongress über die Volksbildung beschlossenen Maßnahmen trugen Früchte in Livland. Allein im Jahr 1906 eröffneten die livländischen Altgläubigen sechs Schulen.186 Im Jahr 1912 erschienen in Riga 17 Ausgaben der Zeitschrift »Die alte Rus’« (Staraja Rus’), sowie eine Probeausgabe, in denen Artikel über religiöse Fragen, Fragen der Bildung und über die Geschichte des Altgläubigentums veröffentlicht wurden. Außerdem hatte sich die Zeitschrift die Aufgabe gesetzt, die Leserschaft über aktuelle Ereignisse zu informieren, mit dem Ziel, in den konstitutionellen Zeiten, die 1905 angebrochen waren, aus Untertanen Bürger zu machen.187 Die Zeitschrift verfolgte also nicht nur einen religiösen, sondern auch einen politischen Bildungsauftrag. Zu den durch den Erlass vom 17. Oktober 1906 neu gewonnenen Autonomien zählte auch, dass die Altgläubigen karitative Gesellschaften gründen durften. Bisher gab es in Riga lediglich die »Grebenščikov-Gesellschaft für die Er 181 Podmazov: Rižskie starovery 121. 182 Volovič, Anisim Ivanov: Staroobrjadčestvo i prosveščenie, in: [–]: I Vserossijskij s’’ezd po narodnomu obrazovaniju staroobrjadcev v Dvinske. O. O. 1911, 82–89. 183 Ebd. 89. 184 [–]: I Vserossijskij s’’ezd po narodnomu obrazovaniju staroobrjadcev v Dvinske. O. O. 1911, 1–3. 185 [–]: Trudy I Vserossijskago S’’ezda 55. Von 2000 bis 2005 erschien eine gleichnamige Zeitschrift, die von der Altgläubigengemeinde in Dünaburg herausgegeben wurde. 186 Mel’nikov: Kratkaja istorija 447. 187 Redaktion der Zeitschrift: [–]: O našich celjach 1–3.
322 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 ziehung armer Kinder« (Grebenščikovskoe Obščestvo dlja vospitanija bednych detej), welche im Jahr 1898 gegründet worden war und ähnlich der Schule der Rigaer Gemeinde eine Ausnahme im Imperium darstellte. Diese Gesellschaft nahm verarmte Kinder der Altgläubigen in ihrem Waisenhaus auf und übernahm die Kosten für den Unterricht an der Grebenščikov-Schule.188 Nach 1905 erweiterte die Gesellschaft ihre Tätigkeiten, indem sie ihr Waisenhaus umbaute, den Schlafsaal für Mädchen vergrößerte und Waschmaschinen für das Bettzeug kaufte.189 Im Jahr 1908 gründeten die Rigaer Altgläubigen die »Gesellschaft für gegenseitige Hilfe, Wohlfahrt und Aufklärung der Altgläubigen in Riga« (Vzaimno-vspomogatel’noe, Blagotvoritel’noe i Prosvetitel’noe obščestvo starrob rjadcev v gor. Rige), deren Ziel die Vereinigung der Altgläubigen aller Denominationen und die Verbesserung ihrer materiellen und sittlichen Lage war.190 Auch die religiöse Organisation der livländischen Altgläubigen erfuhr nach 1905/06 einen Aufschwung. Die Altgläubigen in Kazapel’ registrierten ihre Gemeinde am 12. Juni 1908 bei der Regierung unter dem Namen »Altgläubige Gemeinde der altpomorischen Richtung von Kazapel’ des Kreises Jur’ev des Gouvernements Livland« (Kazepeskaja staroobrjadčeskaja obščina staropomorskogo tolka Jur’evskogo uezda Lifljandskoj gubernii).191 Im Jahr 1916 wurden Schulen der Altgläubigen in den Dörfern Kazapel’192 und Rajuši eröffnet.193 In letzterem gab es außerdem seit einigen Jahren eine Schule für Ikonenmalerei, an welcher der in Livland bekannte Ikonenmaler G. E. Frolov lehrte.194 In Černyj wurde Ende des Jahres 1913 bereits eine zweite Gemeinde der Altgläubigen unter dem Namen »Zweite Gemeinde der Altgläubigen der pomorisch-ehelichen Richtung von Černyj« (Vtoraja Černovskaja staroobrjadčeskaja obščina pomorskogo bračnogo soglasija) gegründet.195 Die Gemeinde in Riga wurde im Jahr 1911 offiziell registriert. Am 12. Januar 1911 bestätigte das Innenministerium ihre neuen Statuten.196 Bereits einen Monat nach Veröffentlichung des Toleranzmanifests von 1905 begann die Gemeindeleitung mit der Planung eines Glockenturms, welcher nach Plänen des Architekten A. P. Šmeling in den 188 Grebenščikovskoe Obščestvo dlja vospitanija bednych detej (Hg.): Otčet o dejatel’nosti Grebenščikovskago Obščestva dlja vospitanija bednych detej za 1902 god. Riga 1903, 3. 189 Grebenščikovskoe Obščestvo dlja vospitanija bednych detej (Hg.): Otčet o dejatel’nosti Grebenščikovskago Obščestva dlja vospitanija bednych detej za 1913 god. Riga 1914, 2. 190 Vzaimno-vspomogatel’noe, Blagotvoritel’noe i Prosvetitel’noe obščestvo Staroobrjadcev v g. Rige (Hg.): Staroobrjadčeskij adres-kalendar na 1911–1912 g. Riga 1911, 96. 191 Šor: Staroobrjadčeskaja molennaja i škola 160. 192 Die Statuten dieser Schule sind abgedruckt in: Ebd. 163. 193 Ebd. 161. 194 Ebd. 162. 195 Schreiben der livländischen Gouvernementsverwaltung an den Kreisleiter von Jur’ev vom 5.11.1913. EAA F. 330, op. 1, d. 2213, l. 10. 196 [–]: Ustav Obščestva »Grebenščikovskaja staroobrjadčeskaja bogadel’nja v gor. Rige«. Riga o. J., 1.
Ausblick auf die Zeit nach 1906 323
Jahren 1905 bis 1908 am Haupteingang des Bethauses in der Moskauer Vorstadt errichtet wurde.197 Das Bethaus der Altgläubigen in Riga war nun auf den ersten Blick als Kirche erkennbar. ✴ ✴ ✴ Die Altgläubigen nutzten viele der in den Jahren 1905 und 1906 gewährten Autonomien für die Konsolidierung des Altgläubigentums, für die Diskussion von Fragen, die sich im alltäglichen Leben der Gemeinden stellten, und zum Aufbau ihrer karitativen, religiösen und schulischen Organisation. Ob man die Zeit nach 1905/06 als »goldenes Zeitalter« in der Geschichte des Altgläubigentums im Russländischen Imperium bezeichnet, oder die Erlasse dieser Jahre als »toten Buchstaben« interpretiert, hängt vom Erwartungshorizont ab. Tatsächlich wurde die am 17. Oktober 1905 proklamierte Gewissensfreiheit nicht umgesetzt und das Altgläubigentum erhielt auch nicht die gleichen Rechte wie die Orthodoxe Kirche. Sowohl die Achtung der Gewissensfreiheit als auch die Beseitigung der vorherrschenden Stellung der Orthodoxie im Imperium standen im Widerspruch zur existierenden, autokratischen Ordnung.198 Doch eben diese sollte seit etwa 1907, als die Aufstände gegen das Regime abflauten, wieder gestärkt werden. Sehr wohl wurde das Altgläubigentum in allen seinen Ausprägungen in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufgenommen. Die Regierung war auf ihrem Weg, den sie seit den 1860er Jahren in Abwendung vom Kurs Nikolajs I. betreten hatte, mit Erreichen des Erlasses vom 17. Oktober 1906 an ihr Ziel gelangt. Dieser Weg hatte sie von der Nichtanwendung bestehender repressiver Gesetze in den 1860er Jahren über die Ausweitung der zivilen und religiösen Rechte der Altgläubigen in den Jahren 1874 und 1883 bis zur Anerkennung des Altgläubigentums als autonomes Glaubensbekenntnis geführt – bis zur Ausweitung der aufgeklärt-absolutistischen, pragmatischen Politik der Glaubenstoleranz auf das Schisma der Orthodoxen Kirche. Dieser Weg war geprägt von einem Balanceakt zwischen dem pragmatischen Interesse der Regierung, Kontrolle über und Zugriff auf die Ressourcen der altgläubigen Bevölkerung zu erlangen, und den Interessen der Staatsk irche, 197 [–]: Otčet po postrojke kolokol’ni pri Molitvennom Dome Grebenščikovskoj staroobrjadčeskoj Obščiny. S 1905–1908 g. g. Riga o. J., 1. 198 Die Gewissensfreiheit ist insofern nicht mit dem Prinzip der autokratischen Staatsgewalt vereinbar, da es sich im Unterschied zur Tolerierung nicht um wiederrufbare Privilegien, sondern um ein unveräußerliches individuelles Recht handelt. Darüber hinaus ging die Politik der Glaubenstoleranz von einem statischen religiösen Terrain aus, weshalb das Individuum lediglich das Privileg hatte, denjenigen Glauben zu bekennen, dem es von Geburt an angehörte. Der Wechsel der religiösen Zugehörigkeit von Individuen war in dem System der Glaubenstoleranz ebensowenig vorgesehen wie die Konfessionslosigkeit. Werth: Schism Once Removed 85. Aus diesem Grund versuchte die Regierung lange Zeit, die Gewissensfreiheit nicht achten zu müssen. Poole: Religious Toleration 613.
324 Die staatliche Anerkennung des Altgläubigentums 1903–1906 die eine Anerkennung des Altgläubigentums unbedingt verhindern wollte. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts stieg der gesellschaftliche Druck auf das Regime. Die existierende religionspolitische Ordnung wurde in Frage gestellt. Unter dem Begriff der Gewissensfreiheit wurde die Ausweitung der Rechte nichtorthodoxer Bekenntnisse im Imperium gefordert. In dieser Situation zeigte sich die Regierung zu Zugeständnissen bereit, die insbesondere den Altgläubigen zu Gute kamen. Um sich der Loyalität dieser einige Millionen Menschen zählenden Bevölkerung zu versichern, legalisierte die Regierung das Altgläubigentum gegen den Widerstand der Orthodoxen Kirche. Der Erlass vom 17. Oktober 1906 markiert den Höhepunkt der Toleranzpolitik gegenüber den Altgläubigen. Bis zum Ende des Imperiums wurden keine weiteren Gesetze über die Altgläubigen erlassen.
7. Schluss Unter Nikolaj I. sah die Regierung die Altgläubigen aufgrund der sozialen und politischen Implikationen ihrer religiösen Lehre als illoyale Untertanen an. Den religiösen Dissidenten wurde vorgeworfen, die Regierung und die Orthodoxe Kirche als Handlanger des Antichristen anzusehen sowie gesellschaftsgefährdende Lehren über die Ehelosigkeit zu verbreiten. Ziel Nikolajs I. war es, die Altgläubigen zur Konversion zur Orthodoxen Kirche zu bewegen und sie dadurch zu assimilieren. Um dieses Ziel zu erreichen, griff der Zar auf eine Diskriminierungspolitik zurück. Der Autokrat des Russländischen Reiches erließ Gesetze, die die Altgläubigen im religiösen, Familien- und Wirtschaftsleben entrechteten und die Verbreitung ihrer religiösen Lehre unter Strafe stellten. Die Umsetzung dieser Bestimmungen oblag einem stark bürokratisierten und zentralisierten Staatsapparat, der sich in der Praxis als ineffizient erwies. An der Umsetzung der Diskriminierungspolitik war eine Vielzahl von Regierungsbeamten, Repräsentanten der Orthodoxen Kirche, Komitees und Kommissionen auf lokaler und zentraler Ebene des Imperiums beteiligt. Die zivile Verwaltung und die Staatskirche arbeiteten in Angelegenheiten des alten Glaubens eng zusammen. Doch litt diese Zusammenarbeit unter Interessenskonflikten. Die orthodoxe Geistlichkeit drängte auf die Verfolgung der Altgläubigen, um eine Ausbreitung des Raskol zu verhindern und die Orthodoxe Kirche sowie ihre Angehörigen vor dem Schisma zu schützen. Die zivilen Beamten im Kreis Dorpat tendierten dazu, die Bekämpfung des alten Glaubens gegen die Aufrechterhaltung von Ruhe und Ordnung abzuwägen. Sie befürchteten, dass unter den Altgläubigen Aufruhr entstehen könne und sprachen sich deshalb gegen die Umsetzung repressiver Maßnahmen gegenüber den Altgläubigen aus. Die endgültigen Entscheidungen in allen Angelegenheiten, die die religiösen Dissidenten betrafen, lagen bei dem Leiter der Ostseegouvernements und dem Bischof der Rigaer Eparchie. Generalgouverneur Aleksandr Arkad’evič Suvorov setzte sich in enger Absprache mit Erzbischof Platon über die Bedenken der zivilen Beamten hinweg. Häufig rückversicherten sie sich bei den zuständigen Behörden in St. Petersburg – dem Departement für allgemeine Angelegenheiten des Innenministeriums und dem Heiligsten Synod. Dadurch wurden der Innenminister und die höchste Institution der Staatskirche an der Verfolgung der livländischen Altgläubigen beteiligt. Aufgrund der Vielzahl involvierter Beamter und den streng hierarchisierten Behördenwegen vergingen vom Beginn einer Untersuchung über die Vergehen der Altgläubigen bis zu deren Abschluss oft mehrere Jahre.
326 Schluss Das größte Problem, welches sich der Regierung unter Nikolaj I. bei der Umsetzung der Diskriminierungspolitik stellte, waren die schwachen Zugriffsmöglichkeiten der Verwaltung auf die altgläubige Bevölkerung. Das Altgläubigentum wurde aufgrund der vorherrschenden Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Reich nicht als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt. Den Gemeindeleitern der priesterlosen Altgläubigen verlieh der Staat nicht die Bedeutung geistlicher Personen. Die religiösen Eliten der anerkannten Glaubensbekenntnisse dienten im »confessional state«1 jedoch als Vermittlerinnen zwischen der imperialen Verwaltung und den Religionsgemeinden. Sie übernahmen Verwaltungsaufgaben, die für die Herrschaft der Regierung unabdingbar waren. Sie führten die Gemeindebücher, die das nötige Wissen für die Aushebung von Rekruten und die Einziehung von Steuern bereitstellten. Die geistlichen Personen sorgten darüber hinaus für die Disziplinierung ihrer Gemeindemitglieder. Sie predigten die Unterordnung unter das russländische Gesetz, vermittelten einen als sittlich empfundenen Lebensstil und setzten Recht gemäß ihren religiösen Statuten durch. Im Austausch für die Übernahme dieser Aufgaben für den Staat wurden den Religionsgemeinden Privilegien gewährt, wie die Erlaubnis zum Bau von Gotteshäusern und der freien Religionsausübung. Das Altgläubigentum wurde in dieses »multiconfessional establishment«2 nicht integriert. Dadurch entbehrte die Regierung offiziell reglementierter, permanenter Kommunikationskanäle zu den Gemeinden der Altgläubigen sowie grundlegender Informationen über die altgläubige Bevölkerung, die für die Durchsetzung von Herrschaft und die Disziplinierung der religiösen Dissidenten vonnöten waren. Dieser Mangel machte sich insbesondere bei der Verfolgung einzelner Altgläubiger für die Verbreitung ihrer religiösen Lehre bemerkbar. Die stark eingeschränkte Kontrolle der Regierung über die altgläubige Bevölkerung eröffnete den religiösen Dissidenten Möglichkeiten, sich dem staatlichen Zugriff zu entziehen, Anweisungen der Polizeibehörden keine Folge zu leisten und Konformität vorzutäuschen. Sie versteckten sich vor Polizeibeamten, gingen Gesprächen mit orthodoxen Geistlichen aus dem Weg oder konvertierten zur Orthodoxie ohne je die orthodoxen Gottesdienste zu besuchen oder zur Beichte zu erscheinen. Die geringe Präsenz von Polizeibeamten und orthodoxen Priestern am Westufer des Peipussees machte ausweichende Formen des Widerstands höchst effektiv. Mit größerem Erfolg konnte die religiöse Organisation der Altgläubigen einschließlich ihrer karitativen Einrichtungen zerstört werden. Mit Ausnahme des Bethauses der Rigaer Altgläubigen in der Moskauer Vorstadt wurden seit Mitte der 1830er Jahre sämtliche Gotteshäuser der religiösen Dissidenten in 1 Crews: Empire and the Confessional State 52. 2 Werth: The Tsar’s Foreign Faiths 48.
Schluss 327
Livland versiegelt, zerstört oder dem Edinoverie übergeben. Die Schule und das Waisenhaus der Altgläubigen in Riga wurde geschlossen, ihr Armenhaus staatlicher Kontrolle unterstellt und die Gemeindeleiter der Dörfer am Peipussee verbannt. Nach dem Tod Nikolajs I. begann mit Lockerung der Pressezensur unter der Herrschaft seines Sohnes, Aleksandrs II., eine Diskussion über die Lage der Altgläubigen im Russländischen Reich, die von Regierungsbeamten, Kirchenvertretern, und säkularen Gelehrten geführt wurde. Im Laufe dieser Diskussion wurde die tradierte Vorstellung von der engen Verbindung zwischen der Zugehörigkeit zum Altgläubigentum und politischer Illoyalität in Frage gestellt. Auch die livländischen Beamten machten nicht mehr den religiösen Dissens der Altgläubigen für ihre politische Illoyalität verantwortlich, sondern den repressiven Umgang des Staates und der Orthodoxen Kirche mit ihnen. Darüber hinaus war man in Regierungskreisen zu der Einsicht gelangt, dass die Diskriminierung der Altgläubigen nicht zu ihrer Assimilation mit der russischorthodoxen Bevölkerung geführt hatte. Dennoch hielt Aleksandr II. zunächst an der entrechtenden Gesetzgebung Nikolajs I. und an der starken Zentralisierung der Angelegenheiten, die den Raskol betrafen, fest. Die Orthodoxe Kirche behielt ihr Mitspracherecht in der Altgläubigenfrage. Doch wird bereits seit Beginn der 1860er Jahre der Wille zur Reformierung dieses Systems erkennbar. Im Jahr 1864 wurde das besondere Außerordentliche Komitee über die Angelegenheiten des Raskol (osobyj Vremennyj Komitet po delam o raskol’nikach) gegründet. Unter Vorsitz Sergej Panins und unter Teilnahme hoher ziviler Beamter sowie Vertreter der Staatskirche diskutierte das Komitee Vorschläge des Innenministers Pёtr Valuev über eine Reform der Gesetzgebung über das Altgläubigentum. Valuevs Vorschläge glichen denjenigen, die Vladimir Sollogub bereits in den Jahren 1860 und 1861 in Bezug auf den staatlichen Umgang mit den Altgläubigen im Kreis Dorpat gemacht hatte. Beide Beamte schlugen vor, Matrikelbücher zur Registrierung der Lebensdaten der Raskol’niki einzuführen. Außerdem sollten die Altgläubigen händlerische und unternehmerische Tätigkeiten entfalten, Freizügigkeit im Imperium genießen und öffentliche Ämter übernehmen dürfen. Das Komitee unter Vorsitz Panins empfahl darüber hinaus, die Bethäuser der Altgläubigen zu legalisieren, ihnen die freie Religionsausübung zu gestatten sowie Grundschulen einzurichten, in denen Lesen und Schreiben gelehrt würde. Die Pläne des Komitees sahen vor, die Politik der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) auf das Altgläubigentum auszudehnen. Dadurch sollten die Altgläubigen in die Verwaltung integriert werden, um sie für staatliche Zwecke nutzbar zu machen, ohne jedoch die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche im Imperium in Frage zu stellen. Allerdings sollte die Integration der religiösen Dissidenten in das »multiconfessional establishment« nicht bedeuten, dass das Altgläubigentum staatlich als autonomes Glaubensbekenntnis anerkannt würde.
328 Schluss Die Vorschläge des Komitees wurden erst in den Jahren 1874 und 1883 in Gesetzen realisiert. Bereits zuvor machte sich, trotz unveränderter Rechtslage, im Gouvernement Livland ein Kurswechsel der Regierung gegenüber den Altgläubigen bemerkbar. So genannte administrative Maßnahmen, die unter Nikolaj I. zur Zerstörung der religiösen Organisation der Altgläubigen geführt hatten, wurden nicht länger umgesetzt. Bethäuser, die die religiösen Dissidenten seit Beginn der 1860er Jahre ohne staatliche Erlaubnis in Privathäusern eingerichtet hatten, wurden von der Gouvernementsregierung mit der Sanktion des Innenministers geduldet. In Riga wurde ein Vorschlag des Komitees von 1864 umgesetzt und mit staatlicher Erlaubnis eine Schule für die Kinder der Altgläubigen eingerichtet. Diese blieb bis zur Legalisierung des Altgläubigentums im Jahr 1906 jedoch die einzige ihrer Art. Unter diesen toleranteren Bedingungen veränderte sich auch die Einstellung der Altgläubigen gegenüber der zivilen Verwaltung. Die religiösen Dissidenten hatten bereits mit der Thronbesteigung Aleksandrs II. die Hoffnung verbunden, dass nun bessere Zeiten für sie anbrechen würden. Fühlten sie sich ungerecht behandelt, wandten sie sich nun mit Bittschriften an die zivilen Obrigkeiten, deren Unterstützung sie sich sicher wähnten. Gegenüber der orthodoxen Geistlichkeit blieben sie jedoch misstrauisch und machten die Staatskirche für die Verfolgungen des alten Glaubens verantwortlich. Die Vorschläge des Außerordentlichen Komitees aus dem Jahr 1864 wurden in zwei Etappen umgesetzt. Am 19. April 1874 erschien ein Gesetz, welches Matrikelbücher für die Registrierung von Ehen, Geburten und Todesfällen der Altgläubigen einführte. Dadurch sollte ein zentrales staatliches Herrschafts instrument auf die Altgläubigen ausgedehnt werden. Am 3. Mai 1883 wurde ein Gesetz verabschiedet, welches den Altgläubigen einige zivile Rechte gewährte und ihre Bethäuser legalisierte. Diese Bestimmung sollte die Loyalität der Altgläubigen gegenüber dem Staat sicherstellen und sie mit der Orthodoxen Kirche versöhnen. Außerdem diente die Legalisierung ihrer Bethäuser der Stärkung der staatlichen Kontrolle über die religiöse Organisation der Altgläubigen. Vertreter der Orthodoxen Kirche erhoben in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts Einspruch gegen die Ausweitung der religiösen und zivilen Rechte der Raskol’niki. Sie verwiesen auf die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Reich und auf die Pflicht des Zaren, den orthodoxen Glauben zu schützen. Aufgrund der unterschiedlichen Interessen von Regierung und Staatskirche, trug die vorgesehene Integration des Altgläubigentums in das »multiconfessional establishment« Kompromisscharakter. Sie folgte dem Beispiel der bereits vollzogenen Integration staatlich anerkannter Glaubensbekenntnisse, wies jedoch Unterschiede auf, die den Interessen der Staatskirche geschuldet waren. Die am 19. April 1874 eingeführten Matrikelbücher über die altgläubige Bevölkerung wurden nicht von ihren Gemeindeleitern geführt, sondern von den Polizeibehörden, da die religiöse Elite der Altgläubigen nicht
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staatlich anerkannt wurde. Das Gesetz vom 3. Mai 1883 hatte den Altgläubigen die freie Religionsausübung im Russländischen Reich gewährt, nicht jedoch den Neubau von Gotteshäusern. Darüber hinaus sollte der alte Glaube möglichst unsichtbar bleiben: Die öffentliche Zurschaustellung der religiösen Riten, die Verbreitung der altgläubigen Lehre und Bethäuser, die orthodoxen Kirchengebäuden ähnelten, blieben verboten. Außerdem fand der Vorschlag des Außerordentlichen Komitees, Schulen für die Kinder der Altgläubigen einzurichten, keinen Niederschlag in den Gesetzen. Die Bestimmungen von 1874 und 1883 waren die Folge eines Abwägens zwischen den Interessen der Regierung, die Altgläubigen für staatliche Zwecke nutzbar zu machen, sie zu disziplinieren sowie ihre Loyalität zu gewinnen, und dem Interesse der Staatskirche, das Altgläubigentum als Schisma zu bekämpfen. Die besondere Stellung der Orthodoxen Kirche im Russländischen Imperium setzte dem Übergang von der Diskriminierung zur Disziplinierung der Altgläubigen Grenzen. Dem Gesetz von 1874 war aufgrund des Umstandes, dass die Matrikelbücher über die Altgläubigen nicht von den Gemeindeleitern, sondern von der Polizei geführt wurden, nur eingeschränkter Erfolg beschieden. Denn die Altgläubigen scheuten den direkten Kontakt mit zivilen Obrigkeiten und ließen ihre Lebensdaten nur selten registrieren. In Riga konnte dieses Problem umgangen werden. Die Vorsteher des Armenhauses der Grebenščikov-Gemeinde nahmen Anträge der Gemeindemitglieder auf Eintragung von Ehen und Kindern entgegen und leiteten diese an den Polizeihauptmann weiter. Der direkte Kontakt einzelner Altgläubiger mit den Polizeibehörden wurde auf diese Weise umgangen. Aufgrund dessen zeigten die Altgläubigen Rigas, im Vergleich mit ihren Glaubensgenossen im Kreis Dorpat, größere Bereitschaft, ihre Ehen und Kinder registrieren zu lassen. Das im Jahr 1883 gewährte Recht, Bethäuser zu renovieren und zu legalisieren, nahmen die Altgläubigen in Livland ohne Ausnahme wahr. Sie baten um die entsprechende Erlaubnis des Gouverneurs und erhielten diese in allen Fällen unter der Bedingung, dass die Bethäuser nicht umgebaut wurden oder orthodoxen Gotteshäusern ähnelten. Die Regierung erhielt dadurch Kenntnis von der Existenz altgläubiger Bethäuser in Livland und konnte von den Polizeibeamten überprüfen lassen, ob diese vorschriftsmäßig erneuert worden waren. Sie konnte ihre Kontrolle über die religiöse Organisation der Altgläubigen auf diese Weise erfolgreich stärken. In den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nahmen Gelehrte und Publizisten die Altgläubigen zunehmend als Träger der altrussischen Traditionen und Kultur wahr. Die Unterschiede ihrer religiösen Lehre zu jener der orthodoxen Staatskirche stuften sie als unbedeutend ein und kritisierten die fortgesetzte Entrechtung der Altgläubigen als ungerechtfertigt. Auch die tonangebenden Regierungsbeamten in St. Petersburg nahmen die Altgläubigen in Zeiten der Nationalisierung des religionspolitischen Diskurses zunehmend als Angehörige der russischen Ethnie wahr. Sie verstanden die religiöse Lehre der
330 Schluss Altgläubigen nicht länger als gesellschaftsgefährdend und staatsfeindlich. Diese Umstände veranlassten die Regierung in den Krisenzeiten, in denen sie sich spätestens seit 1905 befand, die Altgläubigen als stabilisierenden Faktor der herrschenden Ordnung gewinnen zu wollen. Durch die Gewährung von Rechten sollte die politische Loyalität der Altgläubigen gegenüber dem Regime sichergestellt werden. In einem Erlass vom 17. Oktober 1906 wurde das Altgläubigentum gegen den Widerstand der Staatskirche in die Riege der staatlich anerkannten Glaubensbekenntnisse aufgenommen und damit in das »multiconfessional establishment« integriert. Die Altgläubigen durften Gemeinden gründen, Kirchen errichten und ihre Gemeindeleiter wurden als geistliche Personen anerkannt. Sie erhielten dadurch die gleichen Rechte und Pflichten wie die anderen staatlich anerkannten Religionsgemeinschaften. Die Altgläubigen bedankten sich beim Zaren für die gewährten Rechte und bekundeten ihre Ergebenheit gegenüber dem Herrscher des Russländischen Reiches. Sie nutzten die neu gewonnene Autonomie und bemühten sich um den Ausbau ihrer religiösen Organisation. Die priesterlosen Altgläubigen organisierten seit 1906 Kongresse und Konzile, auf denen Repräsentanten ihrer Gemeinden aus allen Teilen des Imperiums ihre inneren Angelegenheiten besprachen. In den vergangenen 250 Jahren ihrer Existenz hatten sie nur selten die Gelegenheit gehabt, sich über Fragen des alltäglichen religiösen Lebens auszutauschen. Dies sollte nun nachgeholt und der alte Glaube nach Innen konsolidiert werden. Diesem Zweck diente auch die Herausgabe zahlreicher altgläubiger Zeitschriften. Darüber hinaus bauten die Altgläubigen im gesamten Reich Kirchen und gründeten Schulen. Die Altgläubigen in Riga errichteten im Jahr 1906 den noch heute existierenden Glockenturm am Haupteingang ihres Bethauses in der Moskauer Vorstadt. Das Gotteshaus der Altgläubigen in der Hauptstadt der Ostseegouvernements war nun auf den ersten Blick als Kirche zu erkennen. Allerdings kritisierten einige Altgläubige die Einmischung des Staates in ihre religiösen Angelegenheiten, die im Erlass vom 17. Oktober 1906 festgelegt worden war. Sie wollten weder, dass die Gouverneure ein Mitspracherecht bei der Gründung neuer Gemeinden oder der Wahl von Gemeindeleitern hatten noch, dass ihre Nastavniki staatliche Verwaltungsaufgaben wahrnehmen sollten. Sie stellten eben jene Disziplinierungsfunktionen in Frage, die die Politik der Glaubenstoleranz (veroterpimost’) für den Staat bereitstellte. Das religionspolitische Konzept der Glaubenstoleranz war zu Beginn des 20. Jahrhunderts nicht mehr zeitgemäß. Die Idee ging auf die aufgeklärt-absolutistische Zeit Pёtrs I. und Ekaterinas II. zurück. Mittlerweile hatte sich jedoch eine rege Debatte über die Achtung der Gewissensfreiheit (svoboda sovesti) im Russländischen Reich entwickelt, die im Unterschied zur Glaubenstoleranz das Recht eines jeden Individuums auf freie Wahl der konfessionellen Zugehörigkeit forderte. Die Ausweitung der Glaubenstoleranz auf das Altgläubigentum
Schluss 331
vollzog sich daher in einem diskursiven Klima, in dem sehr viel weiterreichende religiöse Freiheiten gefordert wurden, welche der herrschenden religionspolitischen Ordnung des Imperiums zuwider liefen. Doch hatte das Regime kein Interesse an der Gewährung von Rechten, die das autokratische Prinzip und die vorherrschende Stellung der Orthodoxen Kirche in Frage stellten. Hinsichtlich der Altgläubigen ging es ihr lediglich um deren unmittelbare Loyalitätssicherung in Zeiten, in denen die existierende Ordnung von der Revolution bedroht war. Hatte die Orthodoxe Kirche in den Jahrzehnten zuvor eine vollständige Anerkennung des Altgläubigentums verhindern können, sah sich die Regierung nun dazu gezwungen, die Interessen der Staatskirche zu übergehen. Die Integration des Altgläubigentums in das »multiconfessional establishment« im Jahr 1906 markierte den Höhepunkt des Kurswandels gegenüber den Altgläubigen, der um 1860 angestoßen worden war, und den letzten Akt der aufgeklärtabsolutistischen Toleranzpolitik des Russländischen Reiches.
Dank Diese Arbeit wurde im Jahr 2015 an der Fakultät für Geschichts- und Kunstwissenschaften der Ludwig-Maximilians-Universität als Dissertation angenommen. Sie entstand mit Hilfe der finanziellen Unterstützung des DFG -geförderten Internationalen Graduiertenkollegs »Religiöse Kulturen im Europa des 19. und 20. Jahrhunderts«. Ich habe dieses Buch selbst geschrieben, doch ohne die Unterstützung einer Vielzahl von Personen wäre mir dieses Unterfangen nicht möglich gewesen. Allen voran danke ich Anastasia Meermann für ihre seelische Unterstützung und ihre immerwährende Geduld. Dieses Buch profitiert maßgeblich von ihren kritischen Nachfragen und ihrer Sorge um die Verständlichkeit meines Schreibstils. Ermöglicht wurde diese Arbeit von meinem Doktorvater Martin Schulze Wessel. Er begeisterte mich bereits während meines Studiums für die russische Religionsgeschichte, ermutigte mich dazu, mein Dissertationsvorhaben zu beginnen, und befürwortete meine Aufnahme im IGK . Er stand mir mit Rat zur Seite und machte mich nicht zuletzt mit all jenen Historikern bekannt, deren Forschungen meine Arbeit am maßgeblichsten inspirierten. Von ganzem Herzen danke ich auch meinem Zweitgutachter Martin Aust. Sein Interesse an meinem Thema, seine Gelassenheit in schwierigen Situationen und seine positive Grundhaltung gegenüber der wissenschaftlichen Arbeit sind der Dissertation zugute gekommen und mir zum Vorbild geworden. Für wissenschaftlichen Austausch, Rat in vielen Arbeits- und Lebenslagen sowie gegenseitige Selbsthilfe danke ich meinen KollegInnen aus dem IGK, insbesondere Heiner Grunert, Laura Hölzlwimmer, Klaus Buchenau, Franziska Davies, Simon Hadler, Kateryna Kudin, David Schick und Carmen Reichert. Danke für die schöne Zeit! Mein Dank gilt auch sämtlichen anderen Personen, die mit dem IGK verbunden sind und bei zahlreichen gemeinsamen Veranstaltungen wichtige Nachfragen gestellt und Anstöße zu meiner Arbeit gegeben haben. Dazu zählen insbesondere die Herausgeber der Reihe, in der dieses Buch aufgenommen wurde, Friedrich Wilhelm Graf, Miloš Havelka und Martin Schulze Wessel, denen ich ganz besonders dankbar bin. Eine der besten Erfahrungen, die ich als Doktorand machen durfte, war der Kontakt zu anderen HistorikerInnen, die ähnliche Forschungsinteressen verfolgen. Ich bin mit meinem Projekt stets auf große Teilnahme und eine Hilfsbereitschaft gestoßen, die ich nicht erwartet hatte und nicht für selbstverständ-
Dank 333
lich halte. Für diese unverzichtbare Hilfe und Inspiration danke ich Paul Werth, Irina Paert, Michail Dolbilov und Kristīne Ante. Besondere Erwähnung verdient Nadežda Pazuchina, die mich mit der Altgläubigengemeinde in Riga bekannt machte, mich bei der Suche nach Quellenmaterial stets unterstützte und von der ich auf ausgedehnten Stadtspaziergängen sehr viel über die lettische Geschichte, Kunst und Kultur lernen durfte. Nicht zuletzt gilt mein Dank den MitarbeiterInnen der Historischen Archive in Lettland, Estland und St. Petersburg. Insbesondere im Archiv in Tartu war mir die Arbeit aufgrund idealer Recherchebedingungen und des unermüdlichen Einsatzes der Archivarinnen stets eine große Freude. Bedingungslosen Rückhalt und grundsätzlichen Optimismus gegenüber dem Leben, welcher auch bei einem Dissertationsvorhaben ausgesprochen hilfreich ist, verdanke ich meinen Eltern und meinem Bruder. München, im Mai 2015
Heiko Schmidt
Glossar Russische und estnische bzw. lettische Bezeichnungen livländischer Ortschaften Aja (estn. Ahja) Allackivi (estn. Alatskivi) Bauska (lett. Bauska) Bol’šie Kol’ki (estn. Suur Kolkja) Černyj (estn. Mustvee) Flemmingsgof (estn. Laius-Tähkvere) Illukst (lett. Ilūkste) Jakobštadt (lett. Jēkabpils) Jaunelgava (lett. Jaunjelgava) Kaster (estn. Kastre) Kavast (estn. Kavastu) Kazapel’/Kazepjaė/Kazape (estn. Kasepää) Kikita (estn. Kükita) Kokora (estn. Kokora) Krasnye Gory/Krasnogor (estn. Kallaste) Lagepera (estn. Lahepera) Liginiški (lett. Liginišķi) Loguza/Lochuzu (estn. Lohusuu) Malye Kol’ki (estn. Väike Kolkja) Meži (estn. Piiri) Mitava (lett. Jelgava) Nos (estn. Nina) Pirisaar (estn. Piirissaar) Rajuši (estn. Raja) Rjapina (estn. Räpina) Rotčina (estn. Rootsiküla) Šlok (lett. Sloka) Tichotka (estn. Tiheda) Verro (estn. Võru) Vol’mar (lett. Valmiera) Voron’ja (estn. Varnja) Votiver (estn. Vōtikvere)
Siglen der Archive EAA – Eesti Ajalooarhiiv, Estnisches Historisches Archiv (Tartu) LVVA – Latvijas Valsts Vēstures Arhīvs, Lettisches Staatliches Historisches Archiv (Riga) RGIA – Rossijskij Gosudarstvennyj Istoričeskij Archiv, Russländisches Staatliches Histori-
sches Archiv (St. Petersburg)
Glossar 335
Siglen der Gesetzessammlungen PSZ I – Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie pervoe. Bd. 1–50. St. Peters-
burg 1830.
PSZ II – Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie vtoroe. Bd. 1–55. St. Peters-
burg 1830–1884.
PSZ III – Polnoe sobranie zakonov Rossijskoj imperii. Sobranie tret’e. Bd. 1–33. St. Peters-
burg 1881–1913.
SPR – Sobranie postanovlenij po časti raskola. St. Petersburg 1875. SZ – Svod Zakonov Rossijskoj Imperii. Poveleniem Gosudarja Imperatora Nikolaja Pavolviča
sostavlennyj. 15 Bde. St. Petersburg 1832, überarbeitet 1842 und 1857, 16 Bände. St. Petersburg 1876 und 1892.
Bibliografie Ungedruckte Quellen Bestände des Estnischen Historischen Archivs, Tartu (EAA)
F. 291 – Kanzlei des Generalgouverneurs der Ostseegouvernements F. 296 – Kanzlei des livländischen Gouverneurs F. 297 – Kanzlei der livländischen Gouvernementsregierung F. 330 – Polizeiverwaltung des Kreises Dorpat F. 384 – Kurator des Bildungsbezirks Riga F. 416 – Livländisches Bezirksgericht F. 914 – Dorpater Landgericht F. 918 – Dorpater Kreisgericht F. 949 – Dorpater Ordnungsgericht F. 1655 – Rigaer Geistliches Konsistorium F. 1880 – Dorpater Polizeiverwaltung
Bestände des Lettischen Staatlichen Historischen Archivs, Riga (LVVA) F. 1 – Kanzlei des Generalgouverneurs der Ostseegouvernements F. 3 – Kanzlei des livländischen Gouverneurs F. 51 – Polizeiverwaltung der Stadt Riga F. 111 – Ordnungsgericht der Stadt Riga F. 115 – Livländisches Bezirksgericht F. 749 – Magistrat der Stadt Riga F. 4754 – Rigaer Geistliches Konsistorium F. 7040 – Grebenščikov-Gemeinde der Altgläubigen in Riga F. 7462 – Kanzlei des Bischofs von Riga und Mitau
Bestände des Russländischen Staatlichen Historischen Archivs, St. Petersburg (RGIA) F. 384 – Zweites Departement des Ministeriums für staatliches Eigentum F. 796 – Kanzlei des Heiligsten Synods F. 797 – Kanzlei des Oberprokurors des Heiligsten Synods F. 908 – Pёtr Aleksandrovič Valuev F. 1284 – Departement für allgemeine Angelegenheiten des Innenministeriums F. 1473 – Geheimes Komitee über die Angelegenheiten des Raskol
Gedruckte Quellen 337
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Personenregister Abramov, Jakov Vasil’evič 274 f. Achmatov, Aleksej Petrovič 197 Aksakov, Ivan Sergeevič 206 f. Aksakov, Konstantin Sergeevič 158 Al’bedinskij, Pёtr Pavlovič 172, 176 f., 211 Aleksandr I. 25, 37, 68–70, 72, 74 f., 89, 94, 138 Aleksandr II. 7, 12, 30, 38, 73, 95 f., 128, 142 f., 163–166, 178, 185, 197, 202 f., 206, 208, 212–214, 216, 219, 223, 270, 282, 297, 327 f. Alekseev, Ivan 43, 54, 233 f., 236 f., 240 f. Aleksej Michajlovič 19, 47, 67, 143, 145 f. Antonij (Vadkovskij) 295, 299 Avvakum 46 f. Balug’janskij, Michail Andreevič 71 Bažanov, Vasilij Borisovič 197 Berg, Fёdor Fёdorovič 208 Bulgakov, Michail Petrovič 144 Castellio, Sebastian 30, 295 Čičerin, Boris Nikolaevič 296 f. Denisov, Andrej 43, 50, 53 f., 232 Denisov, Semёn 50, 57 Dolgorukov, Vasilij Andreevič 197, 200 Eckardt, Julius Albert Wilhelm von 209–211 Ekaterina II. 24, 37, 51, 59, 68, 70, 85, 88, 182, 234, 289, 308, 330 Elizaveta Petrovna 24 Filaret (Drozdov) 79, 81, 202 Filaret (Gumilevskij) 99, 102, 139 Filofej (Uspenskij) 197 Gercen, Aleksandr Ivanovič 143, 153 f., 156, 159–162, 168, 206 Glinka, Fёdor Nikolaevič 69 Gnusin, Sergej Semёnovič 55, 68 f., 235, 238 Golicyn, Aleksandr Nikolaevič 239 Golovin, Evgenij Aleksandrovič 99, 101 f., 126, 139
Golovnin, Aleksandr Vasil’evič 167–169, 179, 182, 186 f., 210 Gončarov, Osip Semёnovič 159–161 Gučkov, Aleksandr Ivanovič 314 Haxthausen, Freiherr August Franz Ludwig Maria von 145 Ignat’ev, Aleksej Pavlovič 303, 315 Irinarch (Popov) 81, 98 f., 109, 122, 193 Ivan IV. 48, 193 Ivanovskij, Nikolaj Ivanovič 233, 238, 240–243, 245, 249–252, 254 Jasevič-Borodaevskaja, Varvara Ivanovna 258, 271, 282, 286, 303 f., 309 Karakozov, Dmitrij Vladimirovič 297 Karaulov, Vasilij Andreevič 314 Katkov, Michail Nikiforovič 207 Kel’siev, Vasilij Ivanovič 143, 147, 154–157, 159–162, 168 f., 206 Kočubej, Viktor Pavlovič 68 Koni, Anatolij Fёdorovič 246 f. Kovylin, Il’ja Alekseevič 51, 54, 63, 182 f., 235, 238 Leskov, Nikolaj Semёnovič 8, 41, 75, 103– 105, 127, 167–169, 171 f., 181–190, 205 f., 210–212, 236 f., 242–244, 253 f., 296 f. Liprandi, Ivan Petrovič 147–150, 152–155, 170 f. Liven, Vil’gel’m Karlovič fon 173, 185 f. Ljubopytnyj, Pavel Onufrevič 234, 317 Lobanov-Rostovskij, Aleksej Borisovič 219, 270 Locke, John 30 f., 295 Mel’gunov, Sergej Petrovič 282, 286, 307, 311–314 Mel’nikov, Fёdor Efim’evič 310, 314 f. Mel’nikov-Pečerskij, Pavel Ivanovič 40 f., 64, 76, 86, 90, 142, 147, 149–155, 163, 167–169 Miloradovič, Michail Andreevič 69
Personenregister 353 Mullov, Pavel Andreevič 239 f. Murav’ev, Michail Nikolaevič 17, 208 Nečaev, Stepan Dmitrievič 21 Nikolaj I. 7 f., 11 f., 14 f., 20 f., 30, 38, 42, 45, 58, 63, 67 f., 70–78, 80, 82, 90, 93–97, 104 f., 118, 122, 132 f., 137–140, 144 f., 147, 150, 164, 166, 169, 172, 175, 179, 183 f., 189, 197, 202 f., 205 f., 208, 211, 218, 230, 235, 251–254, 262, 266, 270, 274, 277, 282, 285, 288–290, 293, 308, 323, 325–328 Nikolaj II. 33, 129, 298 f., 318 Nikon 18 f., 45–49, 53–55, 57, 62 f., 67, 145 f., 148–150, 231 f., 309 Nil’skij, Ivan Fёdorovič 144, 238, 240 f., 244, 266 f., 291 Ogarёv, Nikolaj Platonovič 143, 156–162, 168 f., 206 Osipov, Lavrentij Ivanovič 68 f. Paine, Thomas 31 Palen, Matvej Ivanovič fon 60, 97, 100 f., 139 Panin, Viktor Nikitič 163, 196 f., 201, 214, 216, 218, 225 f., 252 f., 256, 270, 308, 327 Paulučči, Fillip Osipovič 59, 63, 97, 102 f., 121, 139 Pavel I. 68 Perovskij, Lev Alekseevič 104 Pёtr I. 19 f., 24, 32, 44, 49–51, 57 f., 67, 79, 143, 146, 148, 150, 152, 155, 296, 308, 330 Pёtr III. 51 Pičugin, Lev Feoktistovič 318 Platon (Gorodeckij) 8, 51, 97, 99, 104–106, 111–113, 115, 117 f., 122 f., 130, 133–135, 139 f., 172–175, 180 f., 184, 190, 196 f., 200, 214, 270, 325 Pleve, Vjačeslav Konstantinovič fon 298 Pobedonoscev, Konstantin Petrovič 162, 295, 297, 299, 315 Protasov, Nikolaj Aleksandrovič 21, 82, 198 f., 218 Prugavin, Aleksandr Stepanovič 64, 277, 279 Prusskij, Pavel 184, 235–237, 242 Rejsner, Michail Andreevič 301, 305–308 Sabler, Vladimir Karlovič 299 Samanskij, Fёdor Nikiforovič 59
Samarin, Jurij Fёdorovič 209–211 Ščapov, Afanasij Prokop’evič 143–149, 151–155, 159, 168–170, 238, 240 Šeller, Aleksandr Konstantinovič 275 f., 308 Serno-Solov’ёvič, Nikolaj Aleksandrovič 156 Sipjagin, Dmitrij Sergeevič 298 Sirotkin, Dmitrij Vasil’evič 315 Smirnov, Pёtr Semёnovič 277, 279 Sof’ja Alekseevna 47, 50 Sollogub, Vladimir Aleksandrovič 8, 41, 98, 109, 121 f., 136, 167, 169–172, 178–180, 189–191, 193–196, 201, 204, 211–215, 218, 231, 237, 252–254, 327 Sol’skij, Dmitrij Martynovič 198 Speranskij, Michail Michajlovič 71 Stachovič, Michail Aleksandrovič 294 f. Stasjulevič, Michail Matveevič 244 Stolypin, Pёtr Arkad’evič 303, 314 Subbotin, Nikolaj Ivanovič 273–275, 277, 291 Suvorov, Aleksandr Arkad’evič 95 f., 101, 104–106, 111 f., 115–117, 119, 122, 126 f., 130, 133, 136, 139, 167, 169, 171–173, 179 f., 184 f., 190 f., 200, 214, 325 Suvorov, Nikolaj Semёnovič 245–249 Svjatopolk-Mirskij, Pёtr Dmitrievič 298 Ternavcev, Valentin Aleksandrovič 295 Timašev, Aleksandr Egorovič 177 f., 219, 227, 257, 270, 286 Tolstoj, Dmitrij Andreevič 21, 280 Tolstoj, Lev Nikolaevič 294 Urusov, Sergej Nikolaevič 197 Uvarov, Sergej Semёnovič 20 Valuev, Pёtr Aleksandrovič 197 f., 200 f., 214, 216, 218, 225 f., 244, 251–253, 281, 296 f., 327 Vasil’ev, Feodosij 54, 193, 232 Vasil’ev, Fotij 57 Vitte, Sergej Jul’evič 299, 301–303, 315 Voltaire 30 f., 296 Zamjatnin, Dmitrij Nikolaevič 198 Zaozerksij, Nikolaj Aleksandrovič 249 f., 256, 291 Zelenoj, Aleksandr Alekseevič 198 Zolotov, Vasilij I. 58
Sachregister Akkulturation 35, 207 f. Assimilation 30, 35 f., 206–208, 211–213, 325, 327 Baptisten 219 f., 296, 310 Bauern 56 f., 61, 83, 85, 99, 100, 107, 110, 115, 124 f., 136, 138, 145, 153, 156 f., 159, 161 f., 170, 177, 192–194, 223, 230, 262, 296 Bittschriften 108, 126, 130, 132, 137, 179 f., 189, 202 f., 205 f., 217, 235, 249, 257, 260, 263, 265, 282 f., 285, 287 f., 328 Edinoverie 52, 64, 84–87, 97 f., 100 f., 112, 118, 122 f., 131, 133, 172 f., 193, 197, 235 f., 238, 262, 270, 327 Ehen, interkonfessionelle 80 f., 111, 133, 217 f., 221, 311, 317 Einrichtungen der Altgläubigen, karitative 7, 59 f., 63, 77 f., 96 f., 101–103, 136, 139, 182, 187, 260–262, 285, 289, 293, 304 f., 321–323, 326 f., 329 Eschatologie 49, 51 f., 57 f., 63, 152, 231 f. Grebenščikov-Gemeinde 7, 16, 43, 59 f., 62 f., 80, 85, 96 f., 101–103, 127, 131, 135– 137, 172, 182–188, 193, 236–238, 248, 260–262, 288 f., 322 f., 329 Gutsbesitzer 110, 177, 204 f., 211, 224 Integration 9, 28, 34 f., 57, 167, 172, 190–196, 207, 209, 213, 276, 281, 290 f., 327 f., 331 Irvingianer 296 Juden 22, 24–27, 29 f., 35 f., 114, 118, 158, 189, 199, 213, 217, 233, 243 f., 255, 270, 289, 308 Katholiken 22, 24 f., 28–30, 34–36, 81, 138, 186, 207, 209, 213, 244, 289 Kaufleute 51, 60 f., 75, 83, 85–87, 98, 103, 120, 126, 131, 165, 184 f., 187 f., 213, 224, 235, 248, 261 f. Kinder, illegitime 82–87, 112, 117, 129, 133 f., 194, 227, 230 f., 252, 261
Loyalität 23, 28–30, 33–36, 50, 76, 94, 138, 165, 199, 206–213, 253, 289 f., 307–310, 316, 318, 324 f., 327–331 Lutheraner 9, 25, 78, 81, 91, 109–111, 122, 136, 138–140, 181, 186, 195, 210 f., 213, 243, 255, 289, 296, 310 Meščane 51, 57, 60 f., 83, 85, 87 f., 117, 124, 157, 188, 192–194, 213, 246, 262, 266 f. Muslime 22, 24–26, 29, 114, 158, 199, 213, 217, 270, 289, 300, 308 Nationalitätenpolitik 8 f., 15, 17, 20, 33–37, 39, 138, 165, 206–215, 308 f., 329 Sakramente der priesterlosen Altgläubigen –– Beichte 53, 231, 235, 241 –– Ehe 39, 53–56, 61, 69, 72, 78–81, 184 f., 217 f., 231–251, 256, 266, 285 –– Taufe 47, 53, 78, 111, 115, 117, 164, 191, 231, 241, 258, 272, 317 Schulen der Altgläubigen –– in Riga 7, 43, 59, 78, 96–98, 101–104, 110, 167, 179–188, 190, 200 f., 203, 205, 212–214, 237, 288 f., 293, 320–322, 327 f. –– im Kreis Dorpat 102, 175, 177, 179–182, 190, 203, 293, 322 Sekten 33, 37, 64, 69, 81, 147 f., 151 f., 198 f., 209, 220, 258, 271, 275 f., 279, 281, 299 f., 302–306, 309 f. –– Chlysty 37, 69, 148, 209 –– Duchoborcy 33, 37, 69, 148, 151, 209 –– Ikonoborcy 69, 148 –– Molokany 33, 37, 69, 151, 182, 209 –– Skopcy 37, 69, 148, 198, 209, 271 –– Štundisty/Stundisten 36 f., 220 –– Subbotniki/Iudejstvujuščie 33, 37, 209 Steuerrevision 80, 82 f., 117–119, 123, 135 f., 225–227 Verhältnis zwischen orthodoxen Priestern und Altgläubigen 49, 52, 91 f., 99 f., 104, 106–108, 115, 120, 127–132, 134 f., 137, 141, 170 f., 174, 179–181, 189, 195, 202 f., 258