Aneignung und Selbstbehauptung: Antworten auf die europäische Expansion 9783486831566, 9783486564327

Die Beiträge in diesem Band untersuchen die Reaktionen der außereuropäischen Völker auf die Herausforderungen, die sich

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German Pages 447 [448] Year 1999

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Aneignung und Selbstbehauptung: Antworten auf die europäische Expansion
 9783486831566, 9783486564327

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Aneignung und Selbstbehauptung

Aneignung und Selbstbehauptung Antworten auf die europäische Expansion Herausgegeben von Dietmar Rothermund

R. Oldenbourg Verlag München 1999

Gedruckt mit Unterstützung der Deutschen Forschungsgemeinschaft

Die Deutsche Bibliothek - CIP Einheitsaufnahme Aneignung und Selbstbehauptung : Antworten auf die europäische Expansion / hrsg. von Dietmar Rothermund. - München : Oldenbourg, 1999 ISBN 3-486-56432-3

© 1999 Oldenbourg Wissenschaftsverlag GmbH, München Rosenheimer Straße 145, D-81671 München Internet: http://www.oldenbourg-verlag.de Das Werk einschließlich aller Abbildungen ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Dies gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Bearbeitung in elektronischen Systemen.

Umschlaggestaltung: Dieter Vollendorf Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigcm Papier (chlorfrei gebleicht). Gesamtherstellung: R. Oldenbourg Graphische Betriebe Druckerei GmbH, München

ISBN 3-486-56432-3

Inhalt Seite Vorwort Einleitung

Erster Teil: Die Entstehung von Presse und Öffentlichkeit Christoph Herzog, Die Entwicklung der türkisch-muslimischen Presse im Osmanischen Reich bis ca. 1875 Anja Pistor-Hatam, Die Presse als Instrument der Selbstbehauptung: Persische Kaufleute und ihr Beitrag zur innermuslimischen Modernisierungsdiskussion gegen Ende des 19. Jahrhunderts Ulrike Freitag, Clubs, Schulen und Presse: Formen und Inhalte des hadramischen Reformdiskurses in Südostasien und im Südjemen (c. 1900-1930) Birgit Schäbler, Von „wilden Barbaren" zur „Blüte der Zivilisation": Zur Transformation eines Konzeptes und zur Neubewertung des frühen arabischen Nationalismus Andrea Janku, Der Leitartikel in der frühen chinesischen Presse. Aspekte kultureller Interaktion auf der Ebene des Genres Natascha Vittinghoff, Protestanten, Presse und Propaganda in China: Strategien der Aneignung und Selbstbehauptung von chinesischen Journalisten im 19. Jahrhundert Zweiter Teil: Perspektiven der Interaktion mit dem Anderen Jamal Malik, Koloniale Dialoge und die Kritik am Orientalismus Isrun Engelhardt, Zur Ent-fremdung des Europäers. Gastfreundschaft und Abbau von Fremdheit in den Beziehungen von Tibetern zu Europäern im 18. Jahrhundert Klaus Koschorke, Emanzipationsbestrebungen indigenchristlicher Eliten in Indien und Westafrika um die Jahrhundertwende Gesine Krüger, „Civilisation is the state of living and of progressiveness" - Zur Bedeutung von Schriftlichkeit in Südafrika um die Jahrhundertwende Konrad Meisig, Fremdenkritik und Selbstkritik, Die Göttin „Mutter Indien" in den Anfängen der modernen Hindi-Prosa... . May Zhang Que, Wang Guangqui, Ein Vermittler zwischen deutscher und chinesischer Kultur

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Dritter Teil: Die Übertragung des europäischen Rechts Harald Sippel, Europäisches Recht im Spannungsfeld von Aneignung und Selbstbehauptung in Deutsch-Ostafrika und Deutsch-Südwestafrika Christina Jones-Pauly, Sittenwidriges afrikanisches Gewohnheitsrecht? Die Repugnancy-Klausel in Malawi und Botsuana . . . Vierter Teil: Die Disziplinierung des Körpers Jürgen Becher, Katrin Bromber, Andreas Eckert, Erziehung und Disziplinierung in Tansania 1880-1940 Matthias Röhrig Assunçao, Capoeira. Zur Geschichte einer afro-brasilianischen Kunstform zwischen Anpassung und Widerstand

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Fünfter Teil: Handelsnetzwerke an der Peripherie des Weltmarkts Rüdiger Klein, Aleppiner Handelshäuser zwischen Basar und Börse: Informationssuche und -Verarbeitung im Zeichen der Inkorporation (ca. 1780-1920) 345 Reinhard Liehr, Unternehmerisches Innovationsverhalten, Netzwerk und Organisationsform eines zentralmexikanischen Handelshauses zwischen regionalen und atlantischen Märkten... 373 Nikolaus Böttcher, Zwischen Handel und Diplomatie: Ein kubanischer Kaufmann und der nordamerikanische Unabhängigkeitskrieg 391 Anhang: Dokumentation der Projekte des Forschungsschwerpunkts 415 Liste der Teilnehmer am Kolloquium

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Summary

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Register

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Vorwort Der vorliegende Sammelband ist aus dem 6. Kolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms „Transformationen der europäischen Expansion vom 15.-20. Jahrhundert. Untersuchungen zur kognitiven Interaktion von europäischen und außereuropäischen Gesellschaften" hervorgegangen. Dieses Kolloquium fand vom 13. bis 15.2.1998 im Internationalen Wissenschaftsforum in Heidelberg statt. Es waren ihm fünf jährliche Kolloquien vorausgegangen, die den Projektteilnehmern ermöglichten, Werkstattberichte vorzulegen und Meinungen auszutauschen. Die Vielfalt der Themen, Disziplinen und regionalen Spezialisierungen machten es anfangs nicht leicht, einen gemeinsamen „Diskurs" zu finden. Doch dies gelang nach und nach immer besser, und das letzte Kolloquium zeigte einen solchen Integrationsstand der Präsentationen und Diskussionen, daß es alle Teilnehmer bedauerten, nun am Ende der Förderungsperiode auseinandergehen zu müssen. Die Beiträge zu diesem Band dokumentieren diesen Diskussionsstand. Am Ende der Förderungszeit wurden keine Werkstattberichte mehr vorgelegt, sondern nur noch Ergebnisse mitgeteilt. Da jedoch fast alle Autoren auch noch eigene Monographien planen, sind auch diese Ergebnisberichte noch vorläufiger Art oder behandeln nur Ausschnitte aus einem größeren Programm. Im Anhang des Bandes sind die Arbeiten der Projektmitarbeiter dokumentiert. Es befinden sich darunter auch Arbeiten von Autoren, die nicht an diesem Band mitgewirkt haben. Einige hatten ihre Projekte schon in früheren Stadien der sechsjährigen Förderungsperiode abgeschlossen, andere konnten der Einladung nicht folgen. Der vorliegende Band sollte nur den auf diesem Kolloquium erreichten Diskussionsstand reflektieren. In diesem Sinne sind den meisten Referaten auch Diskussionprotokolle hinzugefügt worden. In einigen Fällen, so bei der Einleitung und drei weiteren Referaten, wurde auf diese Protokolle verzichtet, weil die Autoren das Diskussionsergebnis bei der Überarbeitung ihrer Beiträge berücksichtigt haben. Die Protokolle wurden nur dann wiedergegeben, wenn sie weiterführende Informationen oder Kritik enthalten, die für den Leser von Interesse sein dürften. Wie aus dem oben genannten, sehr langen Titel des Schwerpunktprogramms ersichtlich ist, war es so angelegt, daß es Möglichkeiten für eine Vielfalt der Fragestellungen eröffnete. Die Entwicklung der europäischen Beurteilung der außereuroäischen Welt im Wandel der Zeit stand ebenso zur Debatte wie die Artikulation außereuropäischer Antworten auf die europäische Herausforderung. Die Betonung der kognitiven Interaktion sollte dabei nicht eine Beschränkung auf die geistesgeschichtliche Dimension gegenseitiger Rezeption bedeuten, sondern die ganze Breite von der „commercial intelligence" bis zum internen Reformdiskurs in den außereuropäischen Ländern umfassen. Es hat sich ergeben, daß nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft wurden, sondern daß sich das Interesse der Projektmitarbeiter haupt-

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Vorwort

sächlich den außereuropäischen Antworten auf die europäische Herausforderung zugewandt hat. Dabei zeichnete sich das Spannungsfeld zwischen Aneignung und Selbstbehauptung ab, das in der Einleitung behandelt worden ist. Ferner ergab sich eine gewisse zeitliche Konzentration auf das späte 19. und frühe 20. Jahrhundert. Damit entstanden mehr Berührungspunkte zwischen den einzelnen Projekten, doch war diese Eingrenzung nicht von vornherein unter diesem Gesichtspunkt angestrebt worden. Das Angebot der Einzelthemen hing von den Antragstellern ab. Das Schwerpunktprogramm hatte eine Laufzeit von sechs Jahren in Abschnitten von jeweils zwei Jahren. Verlängerungsanträge mußten sich jeweils in der Konkurrenz mit Neuanträgen bewähren. Die Auswahl erfolgte in offener Diskussion mit den Gutachtern. Das Antragsvolumen überstieg den Bewilligungsrahmen meist um das Doppelte. Es war eine echte Auswahl möglich. Das Kriterium war in erster Linie die wissenschaftliche Qualität; die Einpassung in das Spektrum der anderen Projekte wurde ebenfalls berücksichtigt, aber sie spielte eine nachgeordnete Rolle. Die Förderung kam dem wissenschaftlichen Nachwuchs an mehreren Universitäten zugute: Bayreuth, Berlin, Bonn, Hamburg, Hannover, Heidelberg, München und Tübingen. Das Programm war ursprünglich von Historikern konzipiert und beantragt worden, es stand aber von vornherein den Sozial- und Regionalwissenschaftlern offen, die bereit waren, sich auf eine historische Perspektive einzulassen. Der Herausgeber hat sich an der Konzeption de Programms beteiligt und es sechs Jahre lang als Koordinator begleitet. Sein besonderer Dank gebührt Dr. Sylvester Rostosky, der als zuständiger Referent der DFG das Zustandekommen dieses Schwerpunkts sehr gefördert hat. Bei der Gestaltung der Kolloquien waren immer auch die jungen Projektmitarbeiter vor Ort sehr hilfreich. Bei dem letzten Kolloquium war dies Frau Dr. Barbara Mittler vom Sinologischen Seminar der Universität Heidelberg. Bei der redaktionellen Arbeit an diesem Sammelband halfen Herr Harald Fischer-Tiné, M.A. und Frau Dr. Kirsten Sames. Ihnen sei herzlich gedankt. Heidelberg, Februar 1999

Dietmar Rothermund

Einleitung In dieser Einleitung sollen sowohl grundlegende Fragen behandelt als auch die Beiträge zu diesem Sammelband vorgestellt werden. In einem ersten Schritt werden die philosophischen und kulturwissenschaftlichen Probleme der "Interaktion mit dem Anderen" erläutert. Im zweiten Schritt geht es um das Spannungsfeld zwischen Aneignung und Selbstbehauptung, eine Thematik, die sich als gemeinsamer Nenner der hier vorzustellenden Forschungsprojekte ergeben hat. Schließlich folgt eine Einführung in die einzelnen Beiträge, in der der Versuch unternommen wird, Verbindungslinien aufzuzeigen. Der Entwurf des ersten und zweiten Teils wurde zu Beginn des Heidelberger Kolloquiums vorgetragen und war daher den Autoren bei der Überarbeitung ihrer Beiträge für die Veröffentlichung bekannt. Doch wurde dieser Entwurf im Licht der Diskussionen während des Kolloquiums und der späteren Lektüre der überarbeiteten Beiträge geändert und ergänzt. Die Interaktion mit dem Anderen

Solipsistische Bewußtseinsphilosophie und essentialistische Kulturwissenschaften haben die Europäer gleich auf doppelte Weise daran gehindert, die Interaktion mit dem Anderen in den Blick zu bekommen. Die vom autonomen Individuum ausgehende Philosophie "setzt" den Anderen nur, um sich der Identität des Individuums zu vergewissern. Der Andere bleibt ein "Pappkamerad". Der Ausbruch aus diesem Solipsismus ist von modernen Philosophen ermöglicht worden, die sich dem "kommunikativen Handeln" zuwandten. Jürgen Habermas hat dieses Thema auf umfassende Weise behandelt, um damit nicht nur eine neue kommunikationstheoretische Grundlage der Philosophie, sondern auch der Sozialwissenschaften zu bieten.1 Diese Bemühung hat auch für die Kulturwissenschaften Bedeutung; nur ersetzt Habermas den Begriff "Kultur" durch den von Husserl übernommenen Begriff der "Lebenswelt",2 während Kultur für ihn nur ein Wissensvorrat ist, der freilich die Hintergrundüberzeugungen bietet, die das Handeln in der Lebenswelt beeinflussen.3 Nach dieser Sprachregelung ist Kultur eine Ressource und nicht der Handlungsrahmen selbst, in dem die kommunikative Vernunft sich entfaltet. "Kulturalismus" dagegen bedeutet eine Gleichsetzung der Ressource mit der Lebenswelt, von der sie doch nur ein Teil ist. Die Kulturwissenschaften haben sich diese Sprachregelung noch nicht zu eigen gemacht, doch haben sie ihrerseits Zuflucht zur Handlungs-

, 3

Jürgen Habermas, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd.l: Handlungsrationalität und gesellschaftliche Rationalisierung, Bd 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt 1982. Ebd.(Bd.l), S. 107. Ebd.(Bd.2), S. 209.

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Dietmar Rothermund

theorie genommen, um dem Essentialismus zu entkommen, dem sie früher gehuldigt hatten. Die Kulturwissenschaften hatten nicht das Problem, das den philosophische Solipsismus bei der Anerkennung des "Anderen" belastete. "Kultur" bezieht sich immer auf eine Gemeinschaft. Hier lag jedoch die Versuchung nahe, dieser Gemeinschaft eine kulturelle Totalität zuzuschreiben, eine umfassende Identität, die ihr Denken und Handeln prägt. Eine Brücke zum kulturell Anderen konnte es nicht geben, wenn man diesen Weg konsequent verfolgte. Alle Kulturen konnten letztlich nur jeweils sich selbst verstehen. Im sprachlichen Bereich gab dies der These von der "Unübersetzbarkeit" Auftrieb. Streng genommen war damit eine Erforschung fremder Kulturen unmöglich, man hätte also eigentlich nur die eigene Kultur anthropologisch erforschen können. Doch gerade dies tat man zunächst nicht, sondern studierte mit Fleiß nur andere Kulturen, je fremder je besser, obwohl man sich damit auf erkenntnistheoretisch ungesichertes Terrain begab, solange man am essentialistischen Kulturbegriff festhielt. Die Sprachregelung, Kultur nur als eine Ressource zu sehen, mag daher hilfreich sein, wenn es darum geht, sich dem Essentialismus zu entziehen. Nur darf nicht unerwähnt bleiben, daß Habermas nun der "Lebenswelt" eine Totalität zuschreibt, von der er die "Kultur" befreit hat.4 Doch in dieser Hinsicht braucht man ihm nicht unbedingt zu folgen.5 Die Zuwendung der Kulturwissenschaften zur Handlungstheorie hat auf diese Wissenschaften befreiend und dynamisierend gewirkt. Sie konnten sich nun mit dem Prozeß der kulturellen Produktion beschäftigen, statt nur das immerwährende "Wesen" der Kultur ins Blickfeld zu nehmen. "Handlungskompetenz" (agency) und "Aushandeln" (negotiating) wurden zu Schlüsselbegriffen der modernen Kulturanthropologie. Diese handlungstheoretisch betrachtete Kultur war einer "Logik der Praxis" zugänglich. Freilich barg dieser Ansatz auch die Gefahr unbegrenzter Beliebigkeit in sich. Wenn alles "verhandlungsfähig" war, wie ergaben sich dann mehr oder weniger dauerhafte Kulturmerkmale, wie vollzog sich "Überlieferung"? Die Debatte um die "Erfindung der Tradition" fand in diesem Diskussionszusammenhang statt. Auch Tradition wurde zur "Verhandlungssache"", die beliebig entschieden werden konnte. Vom Kulturessentialismus war das Pendel sehr heftig in die entgegengesetzte Richtung ausgeschlagen. Hier machte Pierre Bourdieu mit seinem Begriff des "Habitus" ein Vermittlungsangebot.6 Der "Habitus" zeichnet einzelne, aber auch soziale Gruppen aus, er bietet die Erzeugungsgrundlage für die Praxis, er ist ständige Improvisation - aber aufgrund der aus früherer Erfahrung abgeleiteten 4 5

Jürgen Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985, S. 379. Dieter Henrich, Konzepte, Frankfurt 1987, darin:" Zwölf Thesen gegen Jürgen Habermas". Pierre Bourdieu, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt 1993, S. 98 ff.

Einleitung

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Regeln. Als Analogon verweist Bourdieu auf den Tanz, der auch eine Improvisation nach mehr oder weniger strengen Regeln ist.7 Dies erinnert an die denkwürdige Formulierung des amerikanischen Literaturtheoretikers Kenneth Burke: "the dancing of an attitude". Er meinte damit, daß sich eine Haltung durch einen bestimmten Argumentationsstil, eine Darstellungsweise etc. ausdrückt und analysierte solche Ausdruckformen, um die ihnen zugrundeliegende Haltung zu erforschen.8 Der "Habitus" erscheint dynamisch zu sein, aber Bourdieu hat durchaus auch auf das Beharrungsvermögen, die Trägheit des Habitus hingewiesen.9 In dieser Hinsicht ist er den Vertretern der Mentalitätsgeschichte (AnnalesSchule) nahe, die in der Mentalität zunächst das Widerständige sahen. Bordieu verwendet den Begriff "Mentalität" jedoch nicht, vermutlich weil er sich auf eine geistige Haltung bezieht und nicht die Vielfalt der Lebensäußerungen betont, die mit dem Habitus gegeben ist. Doch wird der kritische Leser bemerken, daß die Kategorie "Habitus" sehr dehnbar ist. Max Weber war mit seinem Begriff des "Einverständnishandelns" Bourdieus "Habitus" nicht nur zeitlich, sondern auch in der Prägnanz der Analyse voraus. In seiner Abhandlung "Über einige Kategorien der verstehenden Soziologie" (1913) definiert er "Einverständnis" als ein an den Erwartungen anderer orientiertes Handeln, das diese trotz des Fehlens einer ausdrücklichen Vereinbarung als sinnhaft gültig für ihr Verhalten praktisch behandeln werden.10 Er hebt hervor, daß Einverständis und Verständnis nicht identisch seien. Einverständnis braucht nur eine Fügung in das Gewohnte zu sein. Auch ist geltendes Einverständnis für Weber nicht mit einer "stillschweigenden Vereinbarung" gleichzusetzen." Sein rechtssoziologischer Ansatz schärft ihm den Blick für das, was das Einverständnis von bewußter Absicherung (Vereinbarung, Satzung) trennt. Er betont sogar, daß die durch Einverständnis Vergemeinschafteten unter Umständen persönlich nie etwas voneinander gewußt zu haben brauchen. Weber verwendet übrigens in einem anderen Zusammenhang auch den Begriff "psychischer Habitus", jedoch nicht zur Erklärung des Einverständnishandelns, wohl aber in Beziehung zur "Wissenschaft vom menschlichen Sichverhalten".12 Der Begriff des Habitus führt in die Kulturwissenschaften wieder eine Konstante ein, die ihr bei der Voraussetzung allgemeiner Verhandlungsfähigkeit verloren zu gehen drohte. Bourdieu spricht von einer "Konzertie7

Bourdieu, op.cit, S. 111. Kenneth Burke, A Grammar of Motives, Berkeley 1969. Bourdieu, op. cit, S.85. Max Weber, Soziologie.Weltgeschichtliche Analysen. Politik, J. Winkelmann (Hg.), Stuttgart 1956, S. 130. ¡2 Ebd, S. 131. Ebd., S. 300 (in dem Aufsatz "Der Sinn der Wertfreiheit' in den Sozialwissenschaften"). 9

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rang ohne Dirigenten"13 und von einer "Materialisierung des kollektiven Gedächtnisses" und stellt so den Überlieferungszusammenhang wieder her. Doch wenn man in diesem Sinne die Kontinuität betont, wird es schwer, zu erklären, wie das "Aushandeln" vor sich geht, das doch offensichtlich dazu dient, den Habitus zu verändern. In Max Webers Terminologie stellt sich die Frage so: Wie kann das Einverständnishandeln neue Elemente einbeziehen ohne seine Grundlage zu verlieren? Lebenswelt, Habitus und Einverständnis sind Begriffe, die auf die eine oder andere Weise der Sicherung des Zusammenhangs kommunikativen Handelns dienen. Diese Sicherung verlangt immer auch eine Grenzziehung. Man könnte diese Problematik auch mit der Begrifflichkeit der Systemtheorie angehen. Dann würde man von Selbstorganisation und Erhaltung des Systems und von seiner Abgrenzung gegenüber der Umwelt sprechen. Es bleibt in jedem Fall die Frage nach der Erkenntnismöglichkeit und der Handlungskompetenz jenseits der jeweiligen Grenzen. Für eine solche Grenzüberschreitung müssen wir der "Logik der Praxis" vertrauen oder uns - wie es bei den Bemühungen um eine interkulturelle Philosophie heißt einer "analogischen Hermeneutik"14 zuwenden. In diesem Sinne müssen wir jeweils die Offenheit des Überlieferungszusammenhangs untersuchen und das "Aushandeln" als Ausübung von Optionen verstehen, die weder unbegrenzt noch beliebig sind. Für die Untersuchung der Handlungsmöglichkeiten in einer anderen Kultur bedeutet das, zu erkunden, welche Überzeugungen und Praktiken besonders widerständig oder aber nur schwach vertreten sind und welche Optionen des Wandels akzeptabel erscheinen oder nicht. Der hier vorzustellende Forschungsgegenstand, das Spannungsfeld von Aneignung und Selbstbehauptung in der Konfrontation mit der europäischen Expansion, bietet uns die Möglichkeit, diese "analogische Hermeneutik" auf vielfältige Weise zu erproben. Das Spannungsfeld

von Aneignung

und

Selbstbehauptung

Die Angehörigen außereuropäischer Kulturen erlebten die Begegnung mit dem Phänomen der europäischen Expansion zugleich als Bedrohung und als Akkulturationsangebot. Unter Umständen erzwang die Bedrohung geradezu die Annahme dieses Angebots - nicht nur im Sinne eines vorauseilenden Gehorsams, sondern auch zur Machterhaltung, zur Abwendung von sozialem Abstieg und der Wahrnehmung von Aufstiegschancen - kurzum: zur Selbstbehauptung. 13

Bourdieu, op. cit., S. 110. Ram Adhar Mall, "Interkulturelle Philosophie und die Historiographie", in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997, S.69 ff.

Einleitung

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Aneignung und Selbstbehauptung können als individuelle und als kollektive Handlungen auftreten, sie können in unmittelbarem Zusammenhang miteinander stehen oder in beträchtlichem zeitlichen Abstand voneinander zu beobachten sein. Der unmittelbare Zusammenhang von individueller Aneignung und Selbstbehauptung ergibt sich oft bei der instrumentellen Nutzung fremder Kulturgüter. Die kollektive Aneignung ist meist langwieriger und erfordert Lernprozesse, die mitunter über eine Generation hinausgehen. Man denke nur an die Rechtsrezeption oder die Übernahme neuer Medien und Organisationsformen. Die Verwendung der angeeigneten Denkformen und Fähigkeiten zur Selbstbehauptung erfolgt dann oft erst in der nächsten Generation, die das, was im Aneignungsprozeß geleistet wurde, bereits als selbstverständlich voraussetzt. Das Spektrum der Übernahme europäischer Produkte und Ideen reichte dabei von der Nutzung europäischer Waffen und Strategien bis zur Rekonstruktion einheimischer Traditionen und der Suche nach einer brauchbaren Vergangenheit, um in Analogie zum europäischen Nationalismus die eigene nationale Selbstbestimmung begründen zu können.15 Selbst die Artikulation des Protests griff auf europäische Vorbilder zurück: die Herausbildung einer modernen Prosasprache, die Nutzung der Druckerpresse und des Mediums der Zeitung und der Streitschrift etc. In diesem Rahmen wurde der Reformdiskurs "indigenisiert". Gegenüber der Stärke der europäischen Herausforderung sah man die eigene Schwäche und strebte ihre Überwindung an. Dabei wurden nicht selten die traditionellen Sozialstrukturen als Ursache der Schwäche kritisiert und dann wiederum im Sinne eines modernen Traditionalismus das "Wesentliche" des eigenen Kulturerbes hervorgehoben. Die Verschränkung von Akkulturation und Konfrontation wurde noch komplexer, wenn man europäische Gelehrte als Zeugen für die Größe und den Eigenwert der betreffenden außereuropäischen Kultur aufrief. Die Kategorien, die diese Gelehrte zur Analyse der betreffenden Kulturen benutzten, wurden auf diese Weise maßgebend für die Deutung des eigenen Erbes. Die Selbstbehauptung, von der hier die Rede ist, ist ein vielschichtiges Phänomen. Im unmittelbaren Wortsinn denkt man dabei an eine Verteidigung der eigenen Position. Doch das Wort „behaupten" hat einen Doppelsinn, reflexiv („sich behaupten") weist es auf Handlungen zur Selbstverteidigung hin, sonst aber bezeichnet es die Äußerung von Meinungen („ich behaupte"). Eine Behauptung kann aber auch eine Vermutung sein. Überträgt man dies auf die Selbstbehauptung, so wird sie zur Selbstvermutung. In der Tat manifestiert sich die Selbstbehauptung auf der kognitiven Ebene oft als eine solche Selbstvermutung, als ein Argument im Dialog mit einem Dietmar Rothermund, "Konstruktionen nationaler Solidarität in Asien. Universalismus und Traditionalismus", in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturelle Dialogs, Darmstadt 1997, S. 170ff.

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Dietmar Rothermund

Gegenüber. Man steckt die eigene Position ab, indem man vermeintliche Grenzen skizziert und prüft, wie die andere Seite darauf reagiert. Dabei können sich die Positionen wandeln, doch kann der Dialog auch zur Verhärtung führen und das Beharrungsvermögen steigern. Freilich ist es auch denkbar, daß Erfahrungen die Sicherheit der Selbstbehauptung erschüttern. Es ist wichtig, diese Dynamik zu beachten und das „Selbst", das sich behauptet, nicht als eine feststehende Größe anzusetzen. Die Aspekte von Aneignung und Selbstbehauptung, die hier angesprochen worden sind, stehen oft im Vordergrund kulturwissenschaftlicher Untersuchungen. Die "kognitive Interaktion" beschränkt sich jedoch nicht auf diese Aspekte, sondern schließt die Formen instrumenteller, weitgehend unreflektierter Nutzung fremder Produkte und Ideen ein. Der Kaufmann, der sich der telegraphischen Nachrichtenübermittlung bedient, weiß sehr wohl, wie man diese neuen Kommunikationsmöglichkeiten nutzen kann, ohne darüber nachzudenken, wie sie seine Lebenswelt verändern. Mit anderen Worten: "kognitive Interaktion" ist nicht gleichbedeutend mit kultureller Reflektion und "Aneignung" muß durchaus nicht eine bewußte Identifikation mit dem übernommenen beinhalten. So ist es verständlich, daß Widersprüche, die dem Kulturwissenschaftler auffallen, von den Akteuren gar nicht als solche wahrgenommen wurden. Der radikale Nationalist kleidete sich nach westlicher Mode und benutzte Mikrofon und Druckerpresse, um seine Meinung zur Überfremdung und über den Nutzen traditioneller Werte zu verbreiten. Einen integralen Nativismus, d.h. eine bewußte Abwendung von allen europäischen Einflüssen, gab es nur selten und auch dieser war oft von Ideen europäischer Kulturkritik angeregt. So berief sich Gandhi in seinem radikalen Manifest "Hind Swaraj" (1909), in dem er die Nichtzusammenarbeit mit den britischen Kolonialherren forderte, auf westliche Vertreter der zeitgenössischen Kulturkritik, die die Verfallserscheinungen der europäischen Zivilisation anprangerten.16 Es sei an dieser Stelle vermerkt, daß vieles von dem, was hier in allgemeiner Form ausgesagt wird, in erster Linie auf die Zeit des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts zutrifft, auf die sich die meisten Projekte des Schwerpunktprogrammms beziehen. In früheren Jahrhunderten waren die Kontakte von europäischer und außereuropäischer Welt wesentlich eingeschränkter. Von "Aneignung und Selbstbehauptung" konnte damals noch kaum die Rede sein, sondern allenfalls von gelegentlicher Kenntnisnahme und einem gewissen Befremden. Die europäische Expansion wurde erst nach und nach als Herausforderung erkannt. Die Asymmetrie der Beziehungen zwischen Europa und Außereuropa machte sich erst im 19. Jahrhundert deutlich bemerkbar: Während die außereuropäischen Gesellschaften sich

16

Dietmar Rothermund, Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie, München 1997, S. 77.

Einleitung

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wohl oder übel der europäischen Herausforderung stellen mußten, waren die europäischen Gesellschaften nicht dazu gezwungen, sich im gleichen Maße auf die nichteuropäischen Gesellschaften einzulassen. Der englische Ausdruck "going native" bezeichnet auf herablassende Weise die Bemühungen jener Europäer: die sich aus freiem Entschluß mit den "Eingeborenen" identifizierten, und das meist in missionarischer Absicht. Doch diese Form der Akkulturation war ganz anderer Art als die der Eingeborenen, die sich von der Nachahmung der Europäer sozialen Aufstieg erhofften. "Going native" war ein individueller Akt, die Annahme des europäischen Akkulturationsangebots war dagegen meist kollektiver Art. Sie entsprang den Interessen gewisser sozialer Schichten und wirkte dann ihrerseits schichtenbildend bzw. -verstärkend. Es ist deshalb irreführend, wenn man der Akkulturation eine Totalität zuschreibt, sie also im oben behandelten Sinne "essentialisiert". Die Akkulturation ist eher im Sinne des Gebrauchs einer Ressource zu verstehen, die meist nur partiell genutzt wurde. Dieser partiellen Akkulturation stand auf europäischer Seite eine sehr fragmentarische Wahrnehmung der außereuropäischen Welt gegenüber. Im Gefolge der europäischen Expansion vollzog sich zweifellos eine bedeutende Horizonterweiterung in den Ländern Europas. Allein schon die Kenntnisnahme von der Existenz fremder Kulturen bewirkte einen Wandel der europäischen Geisteswelt. Aber die Europäer sahen sich durch die Existenz dieser Kulturen niemals direkt herausgefordert. Sie konnten mit der Begegnung mit der außereuropäischen Welt sozusagen "zwanglos" umgehen, sei es in der spielerischen Form des Exotismus oder mit dem Ernst der Gelehrsamkeit. Die Gelehrten konnten auf der sicheren Basis ihrer europäischen Lebenswelt die nichteuropäische Welt beschreiben und analysieren. Eine Breitenwirkung hatten diese Berührungen mit der außereuropäischen Welt kaum. Allenfalls die vergleichsweise wenigen Europäer, die auf die eine oder andere Weise für längere Zeit im Einsatz in außereuropäischen Ländern waren, erlebten diese fremde Welt hautnah, doch oft immunisierten sie sich durch eine gewisse Borniertheit gegen die Intensität der Erfahrung. Europäische Kolonialherren, die direkten Umgang mit den Menschen in außereuropäischen Ländern hatten, reagierten auf deren Bemühungen um Akkulturation und Selbstbehauptung oft ambivalent. Einerseits forderten und förderten sie die Assimilierung ihrer fremden Untertanen, andererseits war ihnen der Umgang mit solchen "Assimilierten" oft geradezu unbehaglich. Ein britischer Autor des 19.Jahrhunderts bemerkte hierzu, daß man im Gespräch mit einem solchen "Assimilierten" nie wisse, ob er sich so darstelle wie er sei, oder nur so wie er erwarte, daß man ihn sehen wolle.17 Das führte dann im Gegenzug zur Idealisierung des ehrlichen, unverbildeten

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G.O. Trevelyan, The Competition Wallah, London 1864, S. 426.

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Dietmar Rothermund

Bauern durch die Kolonialherren, die gar noch meinten, sie müßten diese Leute vor dem möglichen Herrschaftsanspruch der assimilierten Elite schützen. Die Assimilierungsbemühungen europäischer Kolonialherren bezogen sich übrigens nicht nur auf die gebildeten Schichten, sondern auch auf die Gestaltung der Lebensweise der einfachen Untertanen, die zu Pünktlichkeit, Sauberkeit, Disziplin und Arbeitseifer angehalten wurden. Auf diesem Gebiet gab es kaum ambivalente Gefühle der Kolonialherren. Der nach ihren Vorstellungen disziplinierte Untertan galt ihnen als Bestätigung ihres zivilisatorischen Einsatzes. Aneignung und Selbstbehauptung nahmen hier eine besondere Form an. Die Aneignung erfolgte oft zwanghaft, nicht selten durch körperliche Strafen, die Selbstbehauptung zeigte sich in einem gewissen "Eigen-Sinn", der manchmal dadurch seinen Ausdruck fand, daß die Kolonialherren im Volkstheater oder in der Literatur karikiert wurden. Auch übereifrige "Assimilanten" konnten auf diese Weise zum Gegenstand des Spottes werden. Eine besondere Art der Akkulturation war die Bekehrung zum Christentum, die hauptsächlich dort erfolgte, wo die eigene Tradition auf diesem Gebiet keine besonderen Hindernisse bot und die Zugehörigkeit zu einer Kirche deutliche soziale Aufstiegschancen mit sich brachte. Es war eine besondere Ironie des Schicksals, daß sich europäische Missionare manchmal darum bemühten, durch eine Anpassung an das kulturelle Milieu (going native) einen besseren Zugang zu ihrer potentiellen Gemeinde zu finden, während diese gerade in der Europäisierung eine Aufstiegschance sah und einen "ordentlichen" Pfarrer bevorzugte. Eine solche Europäisierung wurde zu einer besonderen Art der Selbstbehauptung. Sie führte später oft zur Entwicklung indigener Kirchen, die der Bevormundung durch europäische Kirchen einen beträchtlichen "Eigen-Sinn" entgegensetzten. Ein weiterer wichtiger Akkulturationsbereich war der der Wirtschaftsbeziehungen. Hier wirkte sich zwar einschränkend aus, daß die europäischen Mächte den Weltmarkt beherrschten und die außereuropäischen Länder entweder als Absatzmärkte oder als Lieferanten von "Kolonialwaren" eine Rolle spielten. Doch die große Schar indigener Zwischenhändler, Makler und Geldleiher etc. profitierten auf ihre Weise von den Aktivitäten in dem ihnen gesetzten Rahmen. Sie wußten die Möglichkeiten, die das europäische Rechtssystem ihnen bot, gut zu nutzen oder gar zu manipulieren. Ebenso gewöhnten sie sich rasch an Eisenbahn, Dampfschiff und Telegraph. Oft genügte ihnen eine partielle Akkulturation. Eine europäische Bildung war für ihre Aktivitäten meist nicht erforderlich. Sie blieben in das indigene Milieu eingebettet und eigneten sich daher umso besser als Mittler zwischen diesem und der Außenwelt. Mit der Selbstbehauptung hatten sie meist überhaupt kein Problem.

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Einleitung

Ein anderer Akkulturationsbereich, der in ganz besonderer Weise im Spannungsfeld von Aneignung und Selbstbehauptung stand, war der der Presse. Die Aneignung europäischer Einflüsse war hier geradezu konstituierend, denn zuvor hatte es in den meisten außereuropäischen Ländern überhaupt keine moderne Presse und auch keine entsprechende Prosaschriftsprache gegeben, in der sich die Zeitereignisse artikulieren ließen. Der Beruf des Journalisten war ein moderner, und die die ihn ausübten, gehörten meist nicht zu den Privilegierten, denen es gelungen war, Beamte oder Rechtsanwälte zu werden. Aus der Gruppe von Journalisten und modernen Literaten kamen meist auch die Wortführer des indigenen Reformdiskurses, die von der Schwäche der eigenen Gesellschaft und der Notwendigkeit ihrer Gesundung sprachen. Oft war dieser Diskurs eine Projektion ihrer eigenen prekären Situation. Die privilegierte Oberschicht oder die Händler waren weniger dazu geneigt, die Probleme der Selbstbehauptung kritisch zu reflektieren. Um auf Bourdieus "Habitus" zurückzugreifen, läßt sich wohl sagen, daß die Intellektuellen in bezug auf diesen Habitus randständig waren und daher auch die Chance hatten, ihn zu verändern, falls man ihnen genügend Beachtung schenkte. Das Spektrum der

Projektbeiträge

Der erste Teil des vorliegenden Bandes ist der "Entstehung von Presse und Öffentlichkeit" gewidmet. In den sechs Beiträgen zu diesem Thema geht es um Fragen, die zuvor angesprochen worden sind. Der Überblick über die Entwicklung der türkisch-muslimischen Presse im Osmanischen Reich (Herzog) zeigt, wie sich das neue Medium in die allgemeinen Modernisierungsbemühungen dieses Staates einfügten. Ein interessanter Aspekt dieses Beitrags ist der Hinweis auf den in Istanbul ansässigen Engländer William Churchill, der bereits 1840 eine halb-offizielle türkische Zeitung "Ceride-i Havadis" herausgab, die später von seinem Sohn Alfred weitergeführt wurde. Die Autoren dieser Zeitung waren meist hohe osmanische Beamte. Ihr trat bald eine andere Zeitung entgegen, die sich bewußt als türkisch-muslimisch zu profilieren versuchte. Während das Osmanische Reich über eine bürokratische Modernisierungselite verfügte, war der iranische Staat zu jener Zeit noch sehr rückständig, und so ist es wohl kein Zufall, daß die im zweiten Beitrag (Pistor-Hatam) vorgestellten frühen persischen Presseerzeugnisse außerhalb des Iran publiziert wurden und zwar einerseits von persischen Händlern in Kairo und zum anderen (angeregt vom persischen Botschafter) in Istanbul. Wiederum in einem ganz anderen Zusammenhang stand die von den Hadramis (aus Hadramaut= Süd-Jemen) gegründete Presse, die nicht in ihrer Heimat, sondern im fernen Südostasien ihren Ursprung nahm, wo Hadrami-Händler in der Diaspora lebten und Reformen im

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Presse- und Bildungswesen anstrebten, mit denen sie den Entwicklungen in ihrem Stammland weit voraus waren. An diesen Beitrag (Freitag) schließt sich der vierte (Schäbler) an. Hier geht es um die arabischen Intellektuellen in der osmanischen Provinzhautpstadt Damaskus und ihre Beurteilung der „wilden" Bevölkerung auf dem Lande. Während zunächst die Tendenz vorherrscht, sich in Aneignung westlicher Vorstellungen von der „Zivilisation" sehr abschätzig über die rebellischen Leute auf dem Lande zu äußern und den (osmanischen) Staat zu ermahnen, energisch gegen sie vorzugehen, werden im Zeichen des erwachenden arabischen Nationalismus gerade diese Leute für die Intellektuellen zum Hort arabischer Tugenden und zu den Vorkämpfern der arabischen Selbstbehauptung. Die letzten beiden Beiträge des ersten Teils sind aus einem größeren Projekt zur frühen chinesischen Presse in Shanghai (siehe Anhang) hervorgegangen und behandeln zwei spezifische Aspekte dieses Projekts. Auch in Shanghai war ähnlich wie William Churchill in Istanbul, ein Engländer, Ernest Major, der Gründer der ersten modernen Zeitung: "Shenbao". Major selbst war ein Meister des chinesischen Leitartikels, aber seine chinesischen Mitarbeiter trugen ebenfalls wesentlich zur Entwicklung dieses Genres bei. Sie griffen dabei zum Teil auf Vorbilder der chinesischen Tradition, zum Teil auf europäische Anregungen zurück. Der Beitrag zu diesem Thema (Janku) zeigt, wie sich auf diese Weise ein neuer Stil der öffentlichen Meinungsäußerung herausbildete, der später von Reformern im Sinne der Selbstbehauptung sehr effektiv genutzt wurde. Der Nährboden für diese neue Presse waren die von europäischen Missionaren gegründeten Zeitschriften. Viele der frühen chinesischen Journalisten waren Missionsschüler, zum Teil sogar getaufte Christen, die sich jedoch bald im Sinne der Selbstbehauptung in einem missionsfeindlichen Umfeld von den Missionaren distanzierten oder zumindest ihren christlichen Hintergrund verschwiegen. Diesem Thema ist der letzte Beitrag (Vittinghoff) zum ersten Teil des Bandes gewidmet. Der zweite Teil des Bandes enthält unter der Überschrift "Interaktion mit dem Anderen" sechs Beiträge, die auf unterschiedliche Weise zeigen, wie europäische und außereuropäische Sichtweisen aufeinandertrafen. Konfrontationen, Mißverständnisse, positive und negative Einschätzungen werden hier dokumentiert. Der erste Beitrag (Malik) bezieht sich auf Südasien in der Zeit von 1757 bis 1857 und trägt die Überschrift „Koloniale Dialoge und die Kritik am Orientalismus". Dieser Beitrag zeigt die Übergänge von der Selbstvermutung zur Selbstbehauptung. Die kognitiven Sondierungen in einer Zeit, in der die koloniale Übermacht noch nicht allgegenwärtig war und in der bei den Europäern die offene Wissbegier des 18. Jahrhunderts erst allmählich in das überhebliche Selbstbewußtsein des 19. Jahrhunderts umschlug, sind auf beiden Seiten sehr interessant.

Einleitung

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Der zweite Beitrag (Engelhardt) illustriert eine mißlungene "Ent-Fremdung" europäischer Missionare durch die tibetische Obrigkeit, die den Kapuzinern, die den Weg nach Tibet fanden, zunächst sehr entgegenkam. Die Gemütlichkeit hörte jedoch auf, als die Missionare Tibeter bekehrten und auf die Überlegenheit des Christentums pochten. Der Stein des Anstoßes war dabei das aufmüpfige Betragen der Konvertiten, das die tibetische Obrigkeit irritierte. Einen ganz anderen Kontext christlicher Mission beschreibt der dritte Beitrag (Koschorke), der den Emanzipationsbestrebungen indigener christlicher Eliten in Nigerien und Indien gewidmet ist. Hier richtete sich der Widerstand der Christen nicht gegen die jeweilige Obrigkeit, sondern gegen die Bevormundung durch die Missionskirchen. In Anknüpfung an das äthiopische Christentum in Afrika und die Thomaskirche in Indien versuchten die indigenen Christen sich gegenüber der Kontrolle durch die Missionskirchen zu behaupten und eigene Wege zu gehen. Es folgt als vierter Beitrag (Krüger) die Darstellung der Aussage eines afrikanischen Pfarrers vor einer von den weißen Kolonialherren eingesetzten Kommission. Besonders interessant ist an dieser Aussage, daß sich der schwarze Pfarrer einerseits als Angehöriger einer zivilisierten Elite zu behaupten versucht, andererseits aber den Anspruch geltend macht, für seine Landsleute allgemein zu sprechen. Der fünfte Beitrag (Meisig) zeigt, welche Ausdruckformen die Selbstbehauptung gegen die Kolonialherrschaft in Indien fand. Der Dichter Bharatendu widmete einer allegorischen Figur, der "Mutter Indien", eine "Oper", in der diese ihre Kinder zu erwecken und zum Widerstand gegen die Fremdherrschaft zu bewegen versucht. Den Umständen entsprechend konnte dies kein Aufruf zur offenen Rebellion sein. Mit den Mitteln von Allegorie und Ironie vermittelte der Autor seine Botschaft ohne in direkten Konflikt mit den Kolonialherren zu geraten. Der Beitrag einer chinesischen Musikologin (Zhang Que), die im Rahmen des Schwerpunktprogramms auch noch andere Themen bearbeitete (siehe Anhang), ist einem chinesischen Musikwissenschaftler gewidmet, der lange Zeit in Deutschland lebte und die deutsche Musik aus seiner Sicht interpretierte. Mit diesem Beitrag findet der zweite Teil des Bandes seinen Abschluß. Der dritte Teil des Bandes betrifft "Die Übertragung des europäischen Rechts". Unter der Kolonialherrschaft wurde das Recht des Heimatlandes der Kolonialherren den Untertanen in den Kolonien aufoktroyiert. In vielen Fällen, so auch in denen im ersten Beitrag (Sippel) behandelten deutschen Kolonien in Afrika, führten die Kolonialherren jedoch ein "duales Rechtssystem" ein und unterschieden streng zwischen dem für Europäer geltenden Recht und dem "Eingeborenenrecht". Für letzteres beriefen sie sich, wenn immer ihnen das opportun erschien, auf afrikanisches "Gewohnheitsrecht", dessen Interpretation sie sich freilich selbst vorbehielten. Die "Aneignung"

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des kolonialen Rechtssystems durch die Afrikaner konnte keine Identifikation mit ihm, sondern höchstens eine instrumentelle Nutzung beinhalten, wenn sie sich zu ihren Gunsten darauf berufen konnten. Das afrikanische Gewohnheitsrecht behielt auch in den unabhängigen afrikanischen Ländern seine Gültigkeit, zugleich aber übernahm man als koloniales Erbe die sogenannte "Repugnancy-Klausel", die besagt, daß das Gewohnheitsrecht nur dann zur Anwendung kommen soll, wenn es nicht sittenwidrig ist. Was jedoch sittenwidrig ist, läßt sich oft nicht leicht entscheiden, wenn alte Vorstellungen von dem was Recht und Sitte ist mit modernem Rechtsempfinden in Konflikt geraten. Anhand konkreter Rechtsfälle aus dem Ehe- und Familienrecht in Malawi und Botsuana wird im zweiten Beitrag (Jones-Pauly) sehr anschaulich dargestellt, wie solche Konflikte entstehen und geregelt werden. Der vierte Teil des Bandes enthält zwei Beiträge unter der gemeinsamen Überschrift "Die Disziplinierung des Körpers". Dies ist ein Aspekt, der bei der Untersuchung kognitiver Interaktionen zumeist gar nicht thematisiert wird, obwohl gerade auf diesem Gebiet nachhaltige Wirkungen zu verzeichnen sind. Dabei kann die "Disziplinierung" hier sowohl als aufoktroyierter Drill als auch als freiwilliges Training, z.B. in einem Kampfsport, verstanden werden. Der erste Beitrag (Becher, Bromber, Eckert) ist der Disziplinierung von Afrikanern unter deutscher Kolonialherrschaft gewidmet. Hier geht es um die zwanghafte Aneignung europäischer Vorstellungen von Disziplin, die den Betroffenen geradezu eingebläut wurden. Im zweiten Beitrag (Röhrig Assunçao) wird ein afro-brasilianischer Kampfsport vorgestellt, der sich vermutlich zuerst unter Widerstandsbewegungen entlaufener Sklaven verbreitete und sich später in stilisierter Form zu einem Nationalsport entwickelt hat. Auch hier wird der Körper diszipliniert, aber nicht durch einen von der Obrigkeit aufgezwungen Drill, sondern durch den freiwilligen Erwerb von Fähigkeiten, die den "Capoeirista", wie die Adepten dieses Kampfsports heißen, in ganz besonderer Weise auszeichnen. Im letzten Teil des Bandes werden "Handelsnetzwerke an der Peripherie des Weltmarkts" dargestellt. Bei dem ersten Beitrag zu diesem Thema (Klein) geht es um syrische Handelsfirmen in Aleppo im 19.Jahrhundert, die eine weltweite Korrespondenz führten, die glücklicherweise in den vom Projektmitarbeiter überhaupt erst erschlossenen Privatarchiven in Aleppo erhalten geblieben ist. Die Gründer beider Firmen kamen ursprünglich aus dem Ausland, der eine aus Böhmen, der andere von der griechischen Insel Chios, doch beide Familien indigenisierten sich durch die Einheirat in aleppinische Familien. Auch der zweite Beitrag (Liehr) beruht auf der Erschließung eines Privatarchivs. Es geht dabei um eine mexikanische Händlerfamilie, die sich zur Zeit einer zweiten "Kolonisierungswelle" durch europäische Händler gegenüber diesen behaupten konnte. Der letzte Beitrag (Böttcher)

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Einleitung

ist einem besonders interessanten "Netzwerker" gewidmet. Es ist dies ein in Spanien geborener Franzose, der in Kuba zum erfolgreichen Kaufmann aufstieg und schließlich von der spanischen Krone als Spion nach Nordamerika entsandt wurde, wo er die Freundschaft George Washingtons erwarb und für seine Wahlheimat Kuba viele nützliche Kontakte anbahnen konnte. Ergebnisse: Antworten auf die europäische

Expansion

Die Antworten auf die europäische Expansion, um die es den Autoren dieses Bandes geht, sind nicht die Widerworte, die sich etwa bei der Artikulation antikolonialer Freiheitskämpfe ergaben, sondern das breite sozio-kulturelle Spektrum des Diskurses der Moderne, der in den außereuropäischen Ländern geführt wurde. Diese Antworten richteten sich gar nicht direkt an die Europäer, sondern wurden oft im Rahmen interner Dialoge gegeben. Solche Dialoge wurden meist nicht in europäischen Sprachen geführt, sondern in außereuropäischen Sprachen, die so mit neuen Begriffen angereichert wurden und moderne Ausdrucksformen entwickelten. Es ist ein besondereres Verdienst mehrerer Projekte des Forschungsschwerpunkts, diese Prozesse erschlossen zu haben. Die Sprachkompetenz der Regionalwissenschaftler legte dabei die Konzentration auf "ihre" jeweiligen Länder nahe, aber durch die Zusammenarbeit in den Kolloquien gelang es, sich übergreifenden Fragestellungen zu nähern. Reformer in den verschiedensten Ländern sahen sich durch die europäische Herausforderung zu ähnlichen Antworten genötigt, die sie aber im jeweiligen Kontext artikulieren mußten. Redakteure von Istanbul bis Shanghai waren gleichermaßen daran interessiert, ihrem neuen Medium ein Publikum zu erschließen und neue Ideen verständlich zu machen. Händler, die in verschiedenen Märkten aktiv waren - vom lokalen bis zum Weltmarkt - mußten stets dazulernen und ihre Informationsnetze erweitern. Sie waren dabei manchmal "weltbürgerlicher" als ihre europäischen Geschäftspartner. Die Sprachenvielfalt der Korrespondenz in den Aleppiner Privatarchiven ist ein eindruckvolles Zeugnis dafür. Der Forschungsgegenstand des Schwerpunktprogramms ist wie ein großes Labyrinth, in das die Mitarbeiter hier und da einen Lichtstrahl werfen konnten. Das, was sie auf diese Weise gesehen haben, reizt dazu an, weiterzumachen und auch noch an vielen anderen Orten in das Labyrinth einzusteigen und Verbindungen zu erkunden. Bei der fortschreitenden "Entgrenzung" der Welt kommt den Prozessen der kognitiven Interaktion immer größere Bedeutung zu. Dabei ist es wichtig zu wissen, wie diese Interaktion sich entwickelt hat, wo das Verständnis gefördert wurde oder aber das Mißverständnis entstanden ist. Das Wissen darum gehört zu den kulturellen Ressourcen die in der zukünftigen "Lebenswelt" zur Verfügung stehen müssen.

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Bibliographie Bourdieu, Pierre, Sozialer Sinn. Kritik der theoretischen Vernunft, Frankfurt 1993 Burke, Kenneth, A Grammar of Motives, Berkeley 1969 Habermas, Jürgen, Der philosophische Diskurs der Moderne, Frankfurt 1985 Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns, Bd. 1: Handlungsrationalität und gesellschafliche Rationalisierung; Bd. 2: Zur Kritik der funktionalistischen Vernunft, Frankfurt 1982 Henrich, Dieter, Konzepte, Frankfurt 1987 Mall, Ram Adhar, „Interkulturelle Philosophie und die Historiographie", in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997 Rothermund, Dietmar, „Konstruktionen nationaler Solidarität in Asien. Universalismus und Traditionalismus", in: M. Brocker/H. Nau (Hg.), Ethnozentrismus. Möglichkeiten und Grenzen des interkulturellen Dialogs, Darmstadt 1997 Rothermund, Dietmar, Mahatma Gandhi. Eine politische Biographie, München 1997 Weber, Max, Soziologie. Weltgeschichtliche Analysen. Politik, J. Winkelmann (Hg.), Stuttgart 1956 Trevelyan, G.O., The Competition Wallah, London 1964

Erster Teil: Die Entstehung von Presse und Öffentlichkeit

Die Entwicklung der türkisch-muslimischen Presse im Osmanischen Reich bis ca. 1875 Christoph

Herzog

Die Entwicklung von Presse im Osmanischen Reich1 ist als Teil von umfassenden Prozessen sozialen Wandels im Rahmen der neuzeitlichen Globalisierung und als Akkulturationsfeld im Rahmen der kognitiven Interaktion europäischer und außereuropäischer Kulturen zu verstehen. Presse spielte eine hervorragende Rolle für die Genese von moderner Öffentlichkeit. Daneben waren jedoch auch etwa die Entfaltung des Erziehungswesens2 und der nicht-staatlichen Assoziationen3 von zentraler Bedeutung. Diese Entwicklungen vollzogen sich auf dem Hintergrund der Entstehung neuer und der Restrukturierung alter sozialer Schichten und wirkten ihrerseits massiv auf diese Prozesse zurück. Die Theoretisierung von Pressegeschichte in diesem angedeuteten Rahmen des neuzeitlichen Modernisierungs- und Globalisierungsprozesses vollzieht sich somit über die Konzeptualisierung von Begriffen wie Kommunikation und Öffentlichkeit und hängt damit wesentlich von Vorentscheidungen grundsätzlicher Natur ab. Hierfür soll im vorliegenden Zusammenhang mit Vorbehalten auf die Skizze von Daniel Lerner für die Kommunikation und auf die klassische Darstellung von Jürgen Habermas für die Öffentlichkeit zurückgegriffen werden. Im Kontext seiner frühen Bemühung um eine generalisierbare Ausarbeitung Der bei Sabine Prätor, "Zum Stand der Forschung über die osmanische Presse", Turkologie heute - Tradition und Perspektive. Materialien der dritten Deutschen Turkologen-Konferenz Leipzig, 4.-7. Oktober 1994, Nurettin Demir/Erika Taube (Hg.), Wiesbaden 1998, S. 225-238 wiedergegebene Forschungsstand bedarf aufgrund der Dynamik des Forschungsgebiets bereits wieder erheblicher Ergänzungen. Die beste Übersicht über den Bestand der osmanischen Presse, soweit in den Istanbuler Bibliotheken erhalten, bietet der Katalog von Duman, Hasan, Istanbul Kütüphaneleri Arap HaiflïSiireli Yaytnlar Toplu Katalogu 1828-1928, Istanbul 1986. Eine Übersicht bieten die verschiedenen Artikel zum Stichwort "Egitim" in: Tanzimat'tan Cumhuriyet'e Tiirkiye Ansiklopedisi, Bd. ii, Istanbul o.J., S. 455-516. Einen kurzer Überblick bietet Hüseyin Hatemi, "Tanzimat ve Meshrutiyet Dönemlerinde Dernekler", Tanzimat'tan Cumhuriyet'e Tiirkiye Ansiklopedisi, i, S. 198-204.

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der Modernisierungstheorie stellt Lerner zwei Idealtypen der gesellschaftlichen Kommunikation gegenüber. Von deren Elementen sollen hier nur diejenigen berücksichtigt werden, die sich auf medientechnische Funktionen beziehen. Demnach läßt sich die traditionale Kommunikation als direkt (face to face) an eine primäre Gruppe gerichtet, die moderne Kommunikation als vermittelt (mediated) an eine heterogene Masse adressiert typisieren.4 Es ist klar, daß demnach traditionale Kommunikation auch in modernen Gesellschaften unverzichtbar bleibt, wohingegen traditionale Gesellschaften jenseits eines bestimmten Komplexitäts- und Organisationsgrades durchaus über ausgearbeitete Kommunikationsstrukturen verfügen können, die dem Kommunikationstyp moderner Art entsprechen. Die Unterscheidung macht für sich genommen aber dennoch Sinn, wenn berücksichtigt wird, daß die erst in der Moderne verfügbaren technischen Möglichkeiten der Massenkommunikation nicht nur eine quantitative Steigerung bedeuten, sondern untrennbar mit der Emergenz neuartiger gesellschaftlicher Erscheinungsformen verbunden sind. Hieran sollen die beiden von Habermas in seiner Studie über den Strukturwandel der Öffentlichkeit entwickelten Idealtypen der repräsentativen und der bürgerlichen Öffentlichkeit angeschlossen werden.5 Dabei stellt sich zunächst die Frage, ob sich diese Konzepte entgegen der Auffassung von Habermas6 aus dem spezifischen Kontext der europäischen Geschichte sinnvoll herauslösen und für den osmanischen Fall aufgreifen lassen. Für den Typus der repräsentativen Öffentlichkeit ist dies meines Erachtens ohne weiteres möglich. Die öffentliche Repräsentation der höfischen Feste des europäischen Barock etwa, mit ihrer gleichzeitigen Einbindung und Ausschließung des gewöhnlichen Volkes in seiner Rolle als Publikum,7 findet ihre Entsprechung in den prunkvollen Beschneidungsfesten der osmanischen Prinzen,8 ohne daß hierfür die Homologie der Genese aus einer kulturell spezifischen Überkreuzung von feudalen Ordnungsvorstellungen mit rö-

Daniel Lerner, The Passing of the Traditional Society. Modernizing the Middle East, Glencoie (111.) 1958, S. 55. Der vorwiegend ideologiekritische Blickwinkel auf den Wandel der bürgerlichen Öffentlichkeit von Habermas' Analyse wird im vorliegenden Zusammenhang zugunsten ihres modernisierungstheoretischen Aspekts zurückgestellt. Jürgen Habermas, Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft, Mit einem Vorwort zur Neuauflage 1990, (2. Aufl.) Frankfurt 1991, S. 51: "Wir begreifen "bürgerliche Öffentlichkeit" als epochaltypische Kategorie; sie läßt sich nicht aus der unverwechselbaren Entwicklungsgeschichte jener im europäischen Hochmittelalter entspringenden "bürgerlichen Gesellschaft" herauslösen und, idealtypisch verallgemeinert, auf formal gleiche Konstellationen beliebiger geschichtlicher Lagen übertragen." g

Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 64f. Vgl. Suraiya Faroqhi, Kultur und Alltag im Osmanischen fang des 20. Jahrhunderts, München 1995, S. 192ff.

Reich. Vom Mittelalter bis zum An-

Die Entwicklung der tiirkisch-osmanischen Presse

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mischen Rechtsnormen Voraussetzung wäre.9 Entsprechend verhält es sich mit der Übertragung des Konzepts der bürgerlichen Öffentlichkeit. So wurde gezeigt, daß sich innerhalb des Rahmens der europäischen Geschichte Strukturformen einer bürgerlichen Öffentlichkeit auch bei klein- und unterbürgerlichen Schichten des ausgehenden 18. Jahrhunderts finden lassen,10 und also nicht notwendig eine bestimmte historische Klassenlage erfordern. Die Übertragung solcher Konzepte setzt natürlich grundsätzlich voraus, daß man bereit ist, gegen die Vorgaben eines kulturrelativen Perspektivismus Kategorien auch über Grenzen einzelner kultureller Kontexte hinaus einzusetzen. In einer neueren Studie hat die türkische Soziologin Fatma Gôçek eine umfassende Interpretation des osmanischen Modernisierungsprozesses vorgelegt. Sie rekurriert darin auf einen Begriff von Bourgeoisie, der neben ökonomischen auch soziale so wie kulturelle Ressourcen berücksichtigt und vertritt die These, daß sich seit dem 18. Jahrhundert durch die Addition von funktionaler und ethnisch-religiöser Differenzierung eine Spaltung in eine kommerzielle Bourgeoisie der osmanischen (nichtmuslimischen) Minoritäten und eine muslimisch-bürokratische Bourgeoisie ergeben habe." Dieses Modell einer ethnisch-funktionalen Fragmentierung der osmanischen Bourgeoisie soll im vorliegenden Zusammenhang als Ausgangshypothese dienen. Allerdings scheinen mir an zwei wichtigen Punkten Vorbehalte am Platz: Zum einen repräsentiert das Modell die idealtypische Perspektive auf die imperiale Zentrale in Istanbul.12 Es beschreibt nicht in gleicher Weise zutreffend die kulturgeographisch, sozial und ökonomisch sehr heterogene osmanische Peripherie der Provinzen, wo das Notabeinwesen bis zum Ende des Reiches eine nicht zu unterschätzende Rolle in der osmanischen Verwaltung spielte, auch wenn die Zentralisierungstendenzen des Staates im 19. Jahrhundert aufs Ganze gesehen dahin zielten, Notabein entweder zu Bürokraten zu machen oder sie durch solche zu ersetzen.13 Zum zweiten empfiehlt es sich entsprechend der von Habermas im Lichte neuerer historischer Forschungen vorgenommenen Reformulierung seines Konzepts

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Vgl. Habermas, Strukturwandel, S. 58ff. Günther Lottes, Politische Aufklärung und plebejisches Publikum. Zur Theorie und Praxis des 110ffenglischen Radikalismus im späten 18. Jahrhundert, München/Wien 1979, insbes. S.

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Fatma Müge Goçek, Rise of the Bourgeoisie, Demise of Empire. Ottoman Westernization and Social Change, New York/Oxford 1996. Idealtypisch im Sinne Max Webers. Natürlich gab es auch Nicht-Muslime in der Bürokratie oder erfolgreiche muslimische Kaufleute. Vgl. Carter V. Findley, Ottoman Civil Officialdom. A Social History, Princeton 1989, S. 91ff u. Donald Quataert, "The Age of Reforms, 18121914", in: Halil Inalcik/Donald Quataert (Hg.), An Economic and Social History of the Ottoman Empire, Cambridge 1994, S. 837ff. Vgl. Albert Hourani, "Ottoman Reform and the Politics of Notables", in W.R. Polk/R.L. Chambers (Hg.), Beginnings of Modernization in the Middle East, Chicago 1968, S. 41-65 u. Quataert, "Age of Reforms", S. 769ff.

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von Bürgertum und Öffentlichkeit in Richtung auf stärker parzellierte und in sich sehr viel heterogenere Strukturen14 auch das Gôçek'sche Modell selbst in seiner zentralstaatlichen Perspektive noch weiter zu differenzieren: Dies betrifft natürlich zum einen die ethnische und soziale Zusammensetzung des muslimischen Segments.15 Noch viel eher muß jedoch bei der Beschreibung der Minoritätenbourgeoisie als Wirtschaftsbürgertum im Singular gefragt werden, ob das Konzept einer Mehrzahl von Minorätenbourgeoisien mit nur teilweise identischen Interessen- und Klassenlagen nicht eine geeignetere Alternative zur Beschreibung des Sachverhalts darstellen würde. Wird diese Hypothese zugrundegelegt, so ergibt sich zunächst die naheliegende Folgerung, die Fragmentierung der osmanischen Bourgeoisie als entsprechende Parzellierung der ihnen zugehörigen Öffentlichkeiten fortzuschreiben. Angesichts der Unterschiede der sozialen Strata der "Teilbourgeoisien" würde dann sowohl für die bürokratisch-muslimische wie für die kommerziell-minoritären Öffentlichkeiten des Osmanischen Reiches im 19. Jahrhundert jeweils gelten, was für die plebejisch-jakobinische Öffentlichkeit in England formuliert wurde: sie bilde "gewissermaßen eine bürgerliche Öffentlichkeit, deren soziale Voraussetzungen aufgehoben sind".16 Das bedeutet einerseits, daß Strukturmerkmale bürgerlicher Öffentlichkeit nicht notwendig an bestimmte soziale Konstellationen oder Klassenlagen gebunden sind, in einem Gesellschaftssystem also mehrere Öffentlichkeiten "bürgerlicher" Prägung existieren können. Andererseits ist die konkrete Ausformung solcher Öffentlichkeiten natürlich historisch variant. Dies erfordert eine entsprechend differenzierte Analyse, insofern nicht automatisch davon ausgegangen werden kann, daß sich die etwa an der muslimisch-türkischen Presse gewonnenen Beobachtungen auf die minoritären Öffentlichkeiten übertragen lassen und umgekehrt. Die aus dem Blickwinkel des türkischen Nationalstaates oft auch implizit vorgenommene retrospektive Gleichsetzung von "osmanisch" mit "muslimisch-türkisch" ist hier einmal mehr zu hinterfragen.17 Osmanisch-muslimische Autoren etwa, die nach Ursachen für die Krise des Reiches suchten, reflektierten diese Fragmentierung der osmanischen Bourgeoisie aus ihrer Perspektive. Der Journalist und politische Essayist Celai Nuri (1881-1938) beispielsweise schrieb 1913, die os-

14 j j Habermas, Strukturwandel, S. 15 u. 21. Für ein detailreiches Beispiel wie die Differenzierung des muslimischen Segments (auch über die muslimische Bourgeoisie hinaus) zu denken ist s. Andreas Tunger-Zanetti, La communication entre Tunis et Istanbul 1860-1913. Province et métropole, Paris/Montreal 1996, S. 2916 17

1 7 4

·

Vgl. Lottes, Aufklärung, S. 1 lOf, zit. bei Habermas, Strukturwandel, S. 16. Es ist bezeichnend, daß hier ausgerechnet Gôçeks o.g. Buch als Beispiel fungieren kann. Ihrer eigenen These zum Trotz setzt sie in der weiteren Analyse etwa der Presse oder der Assoziationen "osmanisch" eben meist doch undifferenziert mit dem muslimisch-türkischen Segment gleich.

Die Entwicklung der tiirkisch-osmanischen Presse

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manischen Türken seien "entweder Bauern oder Paschas" und beklagte das Fehlen einer ökonomisch effizienten Mittelklasse von Muslimen nach europäischem Vorbild.18 Der aus Rußland ins Osmanische Reich eingewanderte Publizist und Verleger Ibrahim Hilmi Tüccarzade [Çïgïraçan] (1876-1963) beklagte in seiner 1912 erschienenen Broschüre, daß sich Handwerk, Industrie und Handel beinahe ausschließlich in der Hand der christlichen Minoritäten befänden, während die osmanischen Muslime weder über Banken noch Handelsgesellschaften verfügten, sondern nur unfähige Beamte hervorbrächten, die sich nicht in der Wirtschaft engagieren wollten.19 Bereits das Vorhandensein dieses Topos auf muslimischer Seite illustriert die Vermutung, daß sich die politischen Diskurse der Teilbourgeoisien in wesentlichen Punkten grundsätzlich voneinander unterschieden haben. Diese Divergenz dürfte nicht erst mit der Desintegration des Reiches und dem überbordenden Nationalismus der letzten Jahrzehnte des 19. und des Beginns des 20. Jahrhunderts eingesetzt haben. Bereits die erste private muslimisch-osmanische Wochenzeitung Tercüman-i Ahval grenzte sich im Vorwort zu ihrer ersten Ausgabe vom 22. Oktober 1860 zur nicht-muslimischen osmanischen Presse wie folgt ab: "[...] nun sind die Zeitungen, welche die nichtmuslimischen Untertanen mit der Erlaubnis der erhabenen osmanischen Staatsgewalt in den Osmanischen Landen immer noch in ihren eigenen Sprachen veröffentlichen, vielleicht freier als es ihr Recht ist. Wenn nun die Rede auf die eigentlich osmanischen Zeitungen (asi'l Osmanli' gazeteler) kommt, so hat wie auch immer bisher noch kein Mitglied des herrschenden Millets (millet-i hakime) es unternommen, sich der Mühe der regelmäßigen Veröffentlichung einer nicht-offiziellen Zeitung zu unterziehen."20

Doch darf die Parzellierung der osmanischen Öffentlichkeiten keinesfalls übertrieben werden. Vielmehr ist davon auszugehen, daß ein breites Feld an interkommunitärer Kommunikation und Öffentlichkeit existierte, das sich im Verlauf des 19. Jahrhunderts noch beträchtlich erweiterte. Hier ist etwa auf die Freimaurerlogen zu verweisen, die nach 1850 auch Muslime anzuziehen begannen.21 Darüber hinaus gab es Cafés, die Muslimen und

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^ 20

Vgl. Christoph Herzog, Geschichte und Ideologie: Mehmed Murad und Celai Nuri über die historischen Ursachen des osmanischen Niedergangs, Berlin 1996, S. 163f. Ibrahim Hilmi Tüccarzade [Çïgïraçan], Zavallï millet. Felaketlerimizin esbabï, Istanbul 1328, S. 25. Transkribierter Text der Mukaddime in Hikmet Dizdaroglu, Shinasi. Hayat'i, Sanati', Eseri, Istanbul 1954, S. 72f. Vgl. Bernard Lewis, The Emergence of Modern Turkey, Oxford u.a. 1961, S. 144. Vgl. Darstellung und Literaturhinweise bei Thierry Zarcone, Mystiques, Philosophes et Francs-Maçons en Islam, Paris 1993, S. 165ff.

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Nichtmuslimen gleichermaßen offenstanden. 22 Auch waren die sprachlichen Barrieren durchlässig. So gab es neben turkophonen Armeniern insbesondere eine große Zahl von sprachlich turkifizierten Griechen ( K a r a m a n l ï ) . Gerade aus diesem Bevölkerungssegment traten eine Anzahl von Verlegern und Druckereibesitzern hervor, die auch den türkisch-osmanischen Markt in arabischer Schrift bedienten wie Filib Efendi, Teodor Kasap oder Papadopoulos Efendi. Häufig bestand eine Arbeitsteilung mit muslimischen Partnern, indem diese den publizistischen und redaktionellen Part übernahmen, während die Nichtmuslime die unternehmerische Seite vertraten und das Kapital bereitstellten.23 Daß Angehörige der nichtmuslimischen Minoritäten auf diese Weise den Markt für türkisch-osmanische Druckprodukte entdeckten, bestätigt in gewisser Weise die These der funktionalen Fragmentierung der Teilbourgeoisien. Es ist hier zu berücksichtigen, daß es mit der Doktrin des Osmanismus, der zufolge alle Untertanen des Sultans als gleichberechtigte Osmanen galten, auch eine politische Ideologie gab, die eine solche Zusammenarbeit zu legitimieren vermochte, auch wenn die Lesarten recht unterschiedlich und manche Osmanen nach wie vor gleicher waren als andere. Mit der zunehmenden Akkulturation an europäisches Kulturgut nicht nur der Minoritäten, sondern - mit gewisser Verzögerung - auch der osmanischen Muslime seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, entstand außerdem eine weitere gemeinsame Teilmenge des kulturellen Diskurses. In diesem Sinne entwickelte sich das Französische zu einer Art lingua franca der Gebildeten aus den osmanischen Teilbourgeoisien. Tatsächlich existierte eine nicht geringe Zahl französischsprachiger Zeitungen im Osmanischen Reich, die sich nicht spezifisch an Muslime oder Nichtmuslime richtete und in denen Muslime und Nichtmuslime ebenfalls häufig zusammenarbeiteten.24 Im folgenden soll versucht werden, anhand des Pressewesens den Übergang von der repräsentativen zur bürgerlichen Öffentlichkeit der muslimisch-bürokratischen Teilbourgeoisie bis ca. 1875 nachzuzeichnen. Hierbei steht die Entwicklung des Verhältnisses zwischen Staat und Presse im Mittelpunkt, das sich bis zur Verfassung von 1876 grob in drei kumulative Phasen einteilen läßt. Zunächst erzeugte der Staat das Kommunikationsmedium

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Dies gilt jedenfalls für die "ki'raathane" genannten Lesesalons, in denen auch Kaffee gereicht wurde. S. Johann Strauss, "Istanbul'da Kitap Yayi'n'i ve Basïmevleri", in: Miiteferrika 1 (1993), S. 9. Vgl. Ahmed Emin [Yalman], The Development of Modern Turkey As Measured by Its Press. (Studies in History, Economics and Public Law edited by the Faculty of Political Science of Columbia University 142), New York 1914, S. 34 u. Osmanli Ansiklopedisi. Tarih/Medeniyet/Kültür, Bd. vi, Istanbul 1993, S. 183. Zur französischsprachigen Presse im Osmanischen Reich und der Türkei s. Gérard Groe/ Ibrahim Çaglar, La Presse Française de Turquie de 1795 à nos Jours. Histoire et Catalogue, Istanbul 1985.

Die Entwicklung

der tiirkisch-osmanischen

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Presse in den Grenzen seines bürokratischen Netzes (ca. 1831-1840). Der zweite Schritt bestand in der teilweisen Auslagerung der auch weiterhin subventionierten Zeitungsproduktion aus dem aktiven bürokratischen Apparat (ca. 1840-1860). Hinzu kam in einem dritten Schritt die Akzeptanz einer genuin privatwirtschaftlichen Presse, die der Staat durch administrative und legislative Defensivmaßnahmen zu kontrollieren suchte (ab ca. 1860). Ab diesem Punkt kann vom Auftreten bürgerlicher Öffentlichkeit gesprochen werden. Ungefähr gleichzeitig weitete sich jedoch die Staatspresse erneut aus, indem ihr Aktionsbereich in die Provinzen getragen wurden. Entsprechend der Vielfalt der lokalen Verhältnisse und den unterschiedlichen persönlichen Fähigkeiten und Ambitionen der zeitungsproduzierenden Beamten stießen die neu eingerichteten Provinzzeitungen dort auf sehr unterschiedliche Resonanz. Der Staatsanzeiger Takvim-i Vekayi In der europäischen Geschichte bildete die Verbreitung des Buchdrucks eine Voraussetzung der Entwicklung des modernen Pressewesens. Im Osmanischen Reich setzte sich die Druckerpresse allein in der jüdischen Gemeinde vor dem 17. Jahrhundert durch. 25 Das griechische Patriarchat in Istanbul nahm 1627 die erste Presse in Betrieb, 26 während die armenische Gemeinde erst ab 1694 über eine kontinuierliche Tradition des Buchdrucks verfügte. 27 1727 nahm die erste muslimische Druckerei des ungarischen Konvertiten Ibrahim Müteferrika ihre Arbeit auf, doch blieb der Druck in arabischen Lettern im Grunde bis ins 19. Jahrhundert ein marginales Phänomen. 28 In Europa hatte der Staat auf ein bereits vorhandenes Medium Presse reagiert und es seit dem 17. Jahrhundert mittels Staatszeitung, Presseverordnung und Zensur zu beherrschen gesucht. Im Nahen Osten existierte vor dem 19. Jahrhundert nichts der Presse Vergleichbares, so daß man wohl davon ausgehen kann, daß Zeitungen im Nahen Osten bis dahin unnötig waren 29 oder, anders gesagt, die vorhandenen Strukturen gesellschaftlicher und staatlicher Kommunikation den Bedarf zu decken vermochten. Der osmanische Staatsapparat nahm das Phänomen Presse zunächst als externe Informationsquelle wahr: So bat der Osmanische Botschafter in Preußen bereits 1764 den preußischen König um eine Liste der besten Zeitungen, um 25

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Istanbul Ansiklopedisi [hinfort: Ist. Ans.],, 8 Bde. Istanbul 1993-95, Bd. vii, Stw. "Yahudi Basi'mevler" (Nairn Giileryiiz), S. 398. Ist. Ans., ν, Stw. "Matbaalar" (Orhan Kologlu), S. 308. Die erste armenische Druckerei bestand nur drei Jahre (1567-69) und druckte nur fünf Büeher. Vgl. Ist Ans., iii, Stw. "Ermeni Basïmevleri" (Vagarshag Seropyan), S. 181-183. Vgl. Encyclopaedia of Islam. New Edition, Stw. "Matba'a", S. 800f. u. The Introduction of the Printing Press in the Middle East, [zugleich] Culture & History 16 (1997). So Ami Ayalon, The Press in the Arab Middle East. A History, New York/Oxford 1995, S. 6.

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sich über die europäischen diplomatischen Beziehungen informieren zu können.30 Mit der Auftreten von Presse im eigenen Haus wurde der osmanische Staat zunächst durch zwei in der französischen Botschaft gedruckte ephemere französischsprachige Zeitschriften - Bulletin des Nouvelles (1795) und Gazette Française de Constantinople (1796) - konfrontiert, die ohne größere Wirksamkeit blieben. Erst 1824 erschien mit dem Le Smyrnéen in Izmir ein dauerhafteres französischsprachiges Blatt, das vom Spectateur Oriental (1825-1827) und Courrier de Smyrne (1828-1831) abgelöst wurde.31 Auch dies waren französische Initiativen, in denen Alexandre Blacque (1792-1836), ein in Izmir ansässiger Rechtsanwalt und Kaufmann, eine maßgebliche Rolle spielte. Namentlich die beiden letzteren Journale verteidigten die durch die europäische Politik im griechischen Unabhängigkeitskrieg gefährdeten Interessen der französischen Levantehändler. Hieraus ergab sich, neben einer stark anti-russischen, insbesondere eine pro-osmanische Position. Blacque befürwortete auch die Reformen Mahmuds II., der seinerseits die journalistische Erfahrung Blacques für das Projekt der ersten staatlichen osmanischen Zeitung zu nutzen verstand.32 Die Metamorphose vom staatlichen Zeitungsleser zum staatlichen Zeitungsproduzenten wurde jedoch nicht zuerst in der Reichszentrale in Istanbul, sondern durch den aus Makedonien stammenden ägyptischen Radikalreformer und de-facto Usurpator Mehmed Ali vollzogen. Das vermutlich erste gedruckte Bulletin erschien bilingual, türkisch und arabisch, unter dem Titel Jûrnâl ül-Khidív seit 1821/22 in Ägypten in einer Auflage von ca. 100 Stück, gedacht für die Khedivische Zentraladministration und den Khediven selbst. Es enthielt offizielle Daten, Nachrichten und Anweisungen und interessanterweise - Geschichten aus Tausend und einer Nacht.33 Dieses Bulletin wurde auch noch gedruckt, nachdem 1828 der berühmte Vekayi-i Misriyye mit einer Auflage von ca. 600 Exemplare zu erscheinen begann.34 Mit diesem Staatsblatt begann eine neue Epoche in der Geschichte der nahöstlichen Kommunikation, die 1831 auch in Istanbul mit dem Takvim-i Vekayi nachvollzogen wurde:35 Der quasi absolutistisch gewordene "islami 30

Orhan Kologlu, "La formation des intellectuels à la culture journalistique dans l'empire ottoman et l'influence de la presse étrangère", in: Nathalie Clayer/Alexandre Popovic u.a. (Hg.), Presse Turque et Presse de Turquie. Actes des colloques d'Istanbul, Istanbul/Paris 1992, S. 31 137. Groc/Çaglar, La Presse Française, S. 6f. Orhan Kologlu, "Blak Bey Précurseur du Tanzimat", in: Anatolia Moderna 1 (1990), S. 47,33 , 114. 3 4 Ayalon, Press, S. 14. Zu beiden vgl. zusätzlich zu der bei Ayalon, Press angegebenen Literatur: Orhan Kologlu, Ilk Gazete, Ilk Polemik. Vekayi-i Misriye'nin Öyküsii ve Takvimi Vekayi ile Tartïshmasï. (Çagdash Gazeteciler Dernegi Yayïnlarï 5), Ankara 1989. Die ausführlichste und beste Darstellung des Takvim-i Vekayi ist Orhan Kologlu, Takvimi Vekayi. Türk Basimnda 150 Yil 1831-1981, Ankara 1981. Einige zusätzliche, auf Archiv-

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sehe" Staat hatte zu Beginn des 19. Jahrhunderts nach zwei Jahrhunderten der Dezentralisation begonnen, seine Macht zu zentralisieren und auf den Herrscher zu fokussieren. Traditionelle Institutionen wie die Janitscharen waren dabei zerschlagen und durch (vermeintlich) effektivere Einrichtungen ersetzt worden, die technisch oder formal gesehen von europäischen Vorbildern inspiriert waren. Man kann also vom Beginn einer Modernisierungsanstrengung unter Mahmud II. (1808-1839) sprechen im Sinne eines Prozesses "bewußter und geplanter Entwicklung zur Erhöhung der Leistungsfähigkeit sozialer Systeme".36 Dieser Modernisierungsprozeß mit seiner Eigendynamik sozialen Wandels erodierte die traditionale implizite Legitimationsbasis der osmanischen Herrschaft und erforderte deren Explizierung. Mahmud II., im Volksmund "Gavur Padishah" (ungläubiger Sultan), genannt, griff hierbei unter anderem auf reflektierte islamische Traditionalität zurück. Die Etablierung der Staatszeitung Takvim-i Vekayi spiegelte die Duplizität des osmanischen Modernisierungsprozesses. Sie war zugleich selbst Instrument und Ausdruck dieses Prozesses als auch ein Sprachrohr zu dessen Legitimation. An dieser Stelle sei daran erinnert, daß sich dieses Phänomen keineswegs auf das Osmanische Reich oder Ägypten unter Mehmed Ali beschränkte. Die Gründung einer modernisierenden und legitimierenden Staatspresse findet sich bereits weit über hundert Jahre früher unter den autoritären Modernisierungsmaßnahmen Peters I. in Rußland.37 Dieser hatte Ende 1702 oder Anfang 1703 die als Petrovskie Vedomosti bekannte erste gedruckte Zeitung Rußlands mit dem vollen Titel "Nachrichten von militärischen und anderen Angelegenheiten, die sich im Moskauer Staat und in den Nachbarstaaten zugetragen haben und des Wissens und Einprägens wert sind" eingerichtet, deren offizielle Statements z.T. aus seiner eigenen Feder stammten.38 Die Einleitung (mukaddime) zur ersten Ausgabe des Takvim-i Vekayi beginnt wie das Vorwort mancher osmanischen Chronik mit Ausführungen zu Nutzen und Notwendigkeit des Studiums der Historie. Zur Illustration dieser Behauptung greift sie auf einen von Safadî (1297-1363) verzeichneten Fall einer Urkundenfälschung von einigen Juden zur Abbasidenzeit dokumente gestützte Information bringt Nesimi Yazïcï, Takvim-i Vekayi 'Belgeier', Ankara 1983 · Vgl. M. Rainer Lepsius, "Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur der 'Moderne und die 'Modernisierung'", in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 11-29, hierS. 21. 37 Vgl. Uber Ortaylï, "Tanzimat Devri Basini' Üzerine Notlar", in: Cahit Talas'a Armagan, Ankara 1990, S.397. Ortaylï hat in verschiedenen Schriften nachdrücklich auf die Notwendigkeit, die osmanischen Reformen im 19. Jahrhundert mit den russischen im 18. in Beziehung jg zu setzen, hingewiesen. Vgl. The Modern Encyclopedia of Russian and Soviet History, Joseph L. Wieczynski (Hg.), Bd. 41, Stw. "Vedomosti" (E.I. Rubinshtein), S. 244f. u. Gary Marker, Publishing, Printing and the Origins of Intellectual Life in Russia, 1700-1800, Princeton/N.J. 1985, S. 27-29.

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zurück, die ein Dokument vorgelegt hätten, wonach sie seitens des Kalifen 'Ali von der Entrichtung der Bodensteuer (kharâdj) befreit worden seien, was durch Sa'd ibn Mu'âdh und den Omayyadenkalifen Mu'âwiya bestätigt worden sei. Angesichts der chronologischen Unmöglichkeit dieser Angaben (Sa'd ibn Mu'âdh starb, bevor 'Ali Kalif wurde) habe das Dokument als gefälscht erwiesen werden können. Hieran beweise sich die Wichtigkeit der Geschichtsschreibung für den Staat. Diese sei ja auch durch bedeutende Historiker wie Ibn Kathîr (gest. 1373), Suyûtî (gest. 1505) und Ibn Khaldûn (gest. 1406) und später durch die osmanischen Hofgeschichtsschreiber wie Naima oder Râshid gepflegt worden. Die Einführung des Staatsanzeigers wird im folgenden damit begründet, daß die Natur des Menschen diesen zu Widerspruch gegen Dinge bewege, deren Grund und Ursprung er nicht kenne, weshalb es Landfriede und Wohlergehen des Volkes erforderlich machten, bezüglich der Maßnahmen der Regierung hier für Aufklärung und Abhilfe zu sorgen. Außerdem sollten Nachrichten über Technologie (fünün-i bedî'a), die schönen Künste (sanâ'yi-i hasana) sowie Preise von Waren sowie Angelegenheiten des Handels mitgeteilt werden.39 Es muß hervorgehoben werden, daß diese Einordnung des osmanischen Staatsanzeigers in die Tradition der arabisch-islamischen Chronisten und dann der osmanischen Hofgeschichtsschreiber (vakanüvis) nicht eo ipso unplausibel ist. Es hindert aber auf der anderen Seite auch nichts, anzunehmen, daß der mögliche Vorwurf der bid'a, der unfrommen Neuerung, im islamischen Diskurs die vorliegende Argumentation dahingehend prägte, daß nicht das Neue, sondern seine Anschließbarkeit an die Tradition expliziert wurde. Allerdings war dieses Strukturmerkmal des islamischen Diskurses (wenn die bid'a als solches akzeptiert werden soll) kein grundsätzliches Hindernis für Innovation - wie eben die Einführung des Takvim-i Vekayi zeigt. Es gibt auch keinen Hinweis darauf, der es erlaubte, von einer bewußten, in Täuschungsabsicht vorgenommenen islamischen "Verkleidung" des europäischen Kulturguts "Staatsanzeiger" auszugehen. Eine solche Annahme wäre meines Erachtens eine Unterschätzung der Flexibilität des kulturellen Systems, in dem sich Mahmud II. und seine Zeitgenossen bewegten.40 Diese Flexibilität wird auch darin deutlich, daß sie ganz offensichtlich mit entschiedenen kulturellen Disparitäten zurechtkommen konnte. In einer Ausgabe des Jahres 1832 etwa informierte der Takvim-i Vekayi seine Leser über die berühmt-berüchtigte Bevölkerungstheorie von Malt-

39

Eine Transkription des Textes gibt Yazïcï, Takvim-i Vekayi, S. 162-164; eine partielle UberSetzung ins Englische bei Ahmed Emin, Development, S. 30. Wenn man nicht eine Neigung zum "double bind" zum Strukturmerkmal der islamischen Kultur erheben will wie dies Fazlur Rahman in seinem Aufsatz "Islamic Modernism. It's Scope, Method and Alternatives", in: IJMES 1 (1970), S. 317-333 andeutungsweise tut.

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hus,41 während in der Nummer vom 6. August 1833 über einen Fall von Gespenstern (çâdû) in einem Stadtviertel von Tïrnova berichtet wurde. Ein Gespensterjäger (çâdûcï) sei zu Hilfe gerufen worden, der schließlich als Quelle des Unheils die Gräber von zwei hingerichteten Janitscharen ausgemacht habe. Als die Gräber geöffnet worden seien, habe man die Leichname mit langgewachsenen Fingernägeln und glühenden Augen gefunden. Nach einem vergeblichen Versuch sei Abhilfe schließlich dadurch geschaffen worden, daß nach Einholen eines Fetwas die Leichname verbrannt worden seien. An der Schilderung dieses Vorfalls war nichts ungewöhnliches. Ein Fetwa zur Verbrennung von Leichnamen schadenstiftender Wiedergänger hatte bereits der berühmte Sheyhülislam Ebusu'ud Efendi im 16. Jahrhundert erlassen, während mehrere Fälle von Gespensterjagd noch in den 1830er und 1840er Jahren durchaus in den Zuständigkeitsbereich der osmanischen Lokalbehörden auf dem Balkan gefallen zu sein scheinen, wie Eintragungen in Kadiamtsregistern erweisen.42 Die Tatsache, daß es sich bei den Wiedergängern um hingerichtete Janitscharen, also überwundene Erzgegner Mahmuds II., handelte, mag durchaus den Ausschlag gegeben haben, die Nachricht in den Staatsanzeiger auftzunehmen. Damit ist aber nicht gesagt, daß diese Nachricht in der Redaktion des Takvim-i Vekayi erfunden wurde oder dort auf Unglauben gestoßen sein muß. Der Takvim-i Vekayi gliederte sich, wie in der Mukaddime zur ersten Ausgabe programmatisch angekündigt, aus einem offiziellen Anzeigenteil, in dem staatliche Verlautbarungen, Erlasse und Erklärungen abgedruckt waren und einem informellen Teil mit variabler Information. Hier fand sich eine Mischung von Übernahmen aus europäischen Zeitungen, Nachrichten, Informationen der oben beschriebenen Art und Polemiken gegen den aufsässigen ägyptischen Wali Mehmed Ali. Die Feierlichkeiten anläßlich der islamischen religiösen Feste waren regelmäßig Anlaß zu ausführlichen Darstellungen, ebenso die zeremoniellen Festgeschenke des osmanischen Sultans anläßlich der Pilgerfahrt (sürre alayï). Ein dritter Teil der Zeitung, (immerhin zwischen sechs und dreißig Prozent) bestand aus unbedrucktem Papier.43 Die Erscheinungsfrequenz des Staatsanzeigers war unregelmäßig, sie schwankte zwischen acht und 46 Exemplaren im Jahr.44 Auch die Distribution in die Provinzen des Osmanischen Reiches machte Schwierigkeiten. Die mangelnde Professionalität im Sinn "moderner" Standards der Zeitungsproduktion lag wohl nicht zuletzt in der personellen Ausstattung der

Uber Ortaylï, Imparatorlugun En Uzun Yiizyïlï, (3. Aufl.) Istanbul 1995, S. 39. Vgl. Michael Ursinus, "Osmanische Lokalbehörden der frühen Tanzimat im Kampf gegen Vampire? Amtsrechnungen (masarif defterleri) aus Makedonien im Lichte der Aufzeichnungen Marko Cepenkovs (1829-1920), in: WZKM 82 (1992), S. 359-374. Für diesen und zwei weitere Fälle von Aberglauben in Takvim-i Vekayi vgl. Kologlu, Takvim-i Vekayi, S. 1 lf. Kologlu, Takvim-i Vekayi, S. 66. Ebd., S. xiii.

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Redaktion des Staatsanzeigers begründet. Es handelte sich dabei ausschließlich um Medreselehrer, 45 also Absolventen der religiösen Hochschule IImiye, d.h. Leute, die für die Tätigkeit als Zeitungsmacher nicht ausgebildet und vermutlich schlecht bezahlt waren. Möglicherweise brachten sie dieser Tätigkeit auch wenig Interesse oder sogar Vorbehalte entgegen, war doch gerade der Bereich der islamischen kulturellen Produktion besonders eng mit der Handschriftenkultur verbunden gewesen, 46 wie auch die Tatsache bezeugt, daß noch der Erlaß von Ahmed III. von 1727 anläßlich der Eröffnung der Müteferrika'schen Druckerei in Istanbul ausdrücklich den Druck von Koran, Koraninterpretationen (tafsîr), Texten über Hadith und islamisches Recht (fik'ih) verboten hatte. 47 Finanziert wurde die Auflage von fünftausend Stück übrigens - nicht anders als ihr ägyptisches Pendant - durch die zwangsweise erfolgte Subskription durch Staatsbeamte, denen der Preis für das Jahresabonnement vom Gehalt abgezogen wurde. Doch war explizit vorgesehen, daß auch private Abonnementen die Zeitung beziehen konnten. 48 Dies konnte jedoch nicht über den im wesentlichen bürokratischen Charakter des Takvim-i Vekayi hinwegtäuschen. Anders als der Staat in Frankreich oder England, der mit seinen Staatsanzeigern auf einen existierenden Kommunikationskanal reagierte, indem er versuchte, ihn zu kontrollieren, war die erste Phase der Entwicklung der osmanischen Presse dadurch gekennzeichnet, daß es der osmanische Staat - nicht anders als der ägyptische - unternahm, diesen Kommunikationskanal überhaupt erst zu erzeugen. Die Öffentlichkeit, die er vertrat, war der Typ der repräsentativen Öffentlichkeit, 49 genauer gesagt, die Repräsentation der paternalistischen Benevolenz von Macht. 50 William Churchills Ceride-i

Havadis

Im Jahr 1836 wurde der in Istanbul ansässige Engländer William Churchill (1797-1846) nach einem Jagdunfall, bei dem er ein Kind angeschossen hatte, von den osmanischen Behörden in Haft genommen. Das vergleichsweise scharfe Vorgehen der osmanischen Verwaltung gegen den europäischen Kaufmann und ehemaligen Dolmetscher der amerikanischen Botschaft führ-

,,

46

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^

Ebd., S. 7 u. 28f. Vgl. Reinhard Schulze, "The Birth of Tradition and Modernity in 18th and 19th Century Islamic Culture - The Case of Printing", in: Culture & History 16 (1997), S. 29-72. Vgl. ebd. S. 41. Yazïcï, Takvim-i Vekayi, S. 48. Allerdings ist über die Zahl möglicher privater Abonnementen nichts bekannt. Vgl. Kologlu, Takvim-i Vekayi, S. 17. Vgl. hierzu Habermas, Strukturwandel, S. 58ff. "[...] shahinshah-i devrân shevketlû kerâmetlû Sultan Mahmûd el-hïsâl-i merâhim-nishan efendimiz hazretlerinin shefkaten ale'l-halk matlûb-i samîmi-i shâhâne ve maksûd-i aslî-i milk-dârâneler olarak [...]" Text der Mukaddime zit. nach Yazïcï, Takvim-i Vekayi, S. 163.

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te zu einem diplomatischen Zwischenfall, in dessen Verlauf ein hoher Beamter, Akif Efendi, seinen Hut nehmen mußte.51 Churchill wurde schließlich freigelassen und mit einigen wertvollen Handelsprivilegien entschädigt. Auch seinem Wunsch nach der Lizenz zur Veröffentlichung einer eigenen Zeitung in osmanisch-türkischer Sprache wurde stattgegeben.52 Auf der Basis dieser Konzession veröffentlichte er seit 1840 die halboffizielle Zeitung Ceride-i Havadis. In den ersten Jahren scheint die Zeitung lediglich etwa 150 Abnehmer gefunden zu haben, so daß sie nur dank einer monatlichen Subvention von 2500 Piaster existieren konnte.53 Der Kontakt der Zeitung zu den osmanischen Behörden scheint auch über finanzielle Belange hinaus recht eng gewesen zu sein, so daß, als während einer Choleraepidemie die Drucker der Ceride-i Havadis ausfielen, jene der staatlichen Druckerei Matbaa-i Amire unentgeltlich einsprangen.54 Die Autoren der Ceride-i Havadis waren durchweg Bürokraten; die prominentesten von ihnen waren der spätere Großwesir Kûçûk Said Pascha und der nachmalige Bildungsminister Münif Pascha.55 Als William Churchill 1846 starb, übernahm sein Sohn Alfred Churchill (1825-1870) die Zeitung. Während des Krimkriegs befand sich Churchill jr. als Kriegsberichterstatter für einige englische Zeitungen vor Ort und ließ seine Frontberichte auch in Ceride-i Havadis erscheinen, was eine erhebliche Steigerung des Kaufinteresses bewirkte.56 Im Gegensatz zu seinem Vater, dessen Kenntnisse des Türkischen nicht für eine literarische Betätigung ausreichten, verfaßte Churchill jr. offenbar zahlreiche Artikel seiner Zeitung selbst. Ceride-i Havadis gliederte sich in drei Teile: Inlandsnachrichten (havadisat-i dahiliye), Auslandsnachrichten (havadisat-i ecnebiye) und Kleinanzeigen (ilânat) zumeist kommerziellen Inhalts.57 In Ceride-i Havadis erschienen zum ersten Mal auch Todesanzeigen, die sich später allgemein verbreiteten.58 Zwar richtete sich die Hauptaktivität der staatlichen wie der halbamtlichen Presse auf die in türkisch-osmanischer Sprache erreichbaren Leser-

52

Vgl. hierzu Akif-Pacha, ministre des affaires étrangères de Turquie: Un Diplomate ottoman en 1836 (affaire Churchill). Traduction annotée de ' l'Eclairissement" (Tebsireh) d'Akif-Pacha, par Arthur Alric, [Paris] 1892. Vgl. Orhan Kologlu, Miyop Çôrçil Olayï. Ceride-i Havadis'in Öyküsii, Ankara 1986. Churchill scheint gute Kontakte zu bestimmten Kreisen in der osmanischen Verwaltung besessen zu haben.

54

Vgl. M. Nuri Inugur, Basin ve Yayïn Tarihi, Istanbul 1982, S. 181 ff. u. Selim Nüzhet, Türk Gazeteciligi, Istanbul 1931, S. 35ff. Mustafa Nihat [Özön], "Yiiz Senelik Gazeteciligimiz", [von Selim Sïrri Kuru annotierter und eingeleiteter Nachdruck in], in: Müteferrika 3 (1994), S 17. Vgl. Nüzhet, Türk Gazeteciligi, S. 38 u. Ist. Ans., ii, Stw. Ceride-i Havadis (Orhan Kologlu),

56

S 410 · · Inugur, Basin Tarihi, S. 183. Vgl. Nihat, "Yiiz senelik", S. 41f. Nüzhet, Türk Gazeteciligi, S. 38.

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gruppen, daneben wurden jedoch ernsthafte Versuche unternommen, auch die nicht-muslimischen Minoritäten in den neuen Kommunikationskanal zu integrieren. Die armenische und die griechische Ausgabe des Takvim-i Vekayi waren denn auch die ersten Zeitungen dieser beiden Religionsgemeinschaften im Osmanischen Reich. Der Erfolg war offenbar jedoch nur mäßig: 1840 wurde die griechische Ausgabe von Takvim-i Vekayi eingestellt, weil das griechisch-orthodoxe Patriarchat in Istanbul, das offenbar als Verteiler des Blattes fungierte, die osmanisch-türkische Ausgabe bevorzugte. 59 Die armenische Ausgabe scheint sogar nur ein Jahr überdauert zu haben. 60 Eine wichtigere Rolle spielte wohl die französische Ausgabe des Staatsanzeigers, die unter dem Titel Moniteur Ottoman bis 1843 erschien und bis zu seinem Tod unter der Obhut von Alexandre Blacque stand. 1843 Schloß sich hieran mit dem Journal de Constantinople nach dem Muster von Ceride-i Havadis eine halbamtliche Zeitung mit einem französischen Eigentümer an, die mit jährlich 30.000 Piaster gefördert wurde.61 Diese Art der Pressepolitik wurde mehr oder weniger auf alle damals im Osmanischen Reich erscheinenden Periodika ausgedehnt.62 So hatte auch der in Anschluß an die griechische Version des Staatsanzeigers, Otomanikos Monitor, seit 1840 erscheinende Telegraphos Tou Bosphorou wohl einen ähnlich halbamtlichen Charakter wie Ceride-i Havadis. Zudem gehörte sein Herausgeber, Konstantinos Adisidis zu dem relativ schmalen Segment von nicht-muslimischen osmanischen Bürokraten.63 Die Eigentümer der Ceride Havadis unternahmen 1843 mit staatlicher Unterstützung den Versuch, eine armenische Zeitung herauszugeben, der jedoch nach wenigen Monaten erst einmal wieder eingestellt werden mußte. Es hätten sich nicht mehr als zwanzig bis dreißig Leser des Blattes gefunden, was den Armeniern nicht zur Ehre gereiche, teilten die Herausgeber in einer der letzten Ausgaben mit.64 Drei Jahre später war mit Hayasdan ein erster Versuch von armenischer Seite, eine armenische Zeitung in Istanbul einzuführen, offenbar erfolgreich. 65 Hayasdan enthielt die Gemeinde betreffende Nachrichten, historische Betrachtungen, Kleinanzeigen sowie einen Anhang, welcher der Diskussion theologischer Fragen geHierfiir spielte wohl die Politisierung der Sprachenfrage in der griechischen Gemeinde eine ausschlaggebende Rolle. Ist. Ans., vi, Stw. "Rumca Basin" (Orhan Kologlu), S. 353. So Vagashag Seropyan in Ist. Ans, ii, Stw. "Ermenice Basïn", S. 188. Vgl. aber Pars Tuglaci', "Ermeni Basïnïn Dünü ve Bugünü", in: Tarih ve Toplum 22.132 (1994), S. 358f., wonach die Zeitung unter anderem Namen fortbestand. Vgl. Gérard Groe, "Le Journal de Constantinople ou l'ambiguité du cosmopolitisme, 18431853", in: Clayer/Popovic u.a. (Hg.), Presse Turque, S. 15-27. Vgl. Annuaire des deux mondes (1850), S. 813f. u. M.A. Ubicini, Letters on Turkey, [Reprint] New York 1973, Bd. i, p. 251 sowie die Einschätzungen von Groc, "Le Journal de ^^ Constantinople", S. 16 u. Orhan Kologlu in 1st. Ans., ii, Stw. "Fransizca Basïn", S. 336. Ist. Ans., vi, "Rumca Basïn", S. 353. ™ Nihat, "YUz Senelik", S. 19. Vgl. Ist. Ans., "Ermenice Basïn", S. 188 u. Annuaire des deux mondes, S. 814.

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widmet war.66 Aus dem gleichen Jahr datiert ein Versuch der osmanischen Behörden über die stattliche Summe von 23.155 Piaster Einfluß auf eine in Frankfurt erscheinende deutsche Zeitung zu nehmen,67 eine Maßnahme, die später ein wichtiges Element der auswärtigen Pressepolitik von Abdülhamid II. (reg. 1878-1909) bilden sollte. Die neue Strategie des osmanischen Staates im Umgang mit der Presse bedeutete allerdings keinen Verzicht auf die Publikation staatliche Periodika. Der Takvim-i Vekayi erschien weiterhin, und mit der Veröffentlichung des ersten Reichs-Almanachs von 1847 auf Befehl des Tanzimat-Reformers Reshid Pascha wurde eine Tradition von Staatspublikationen geschaffen, die bis ans Ende des Osmanischen Reichs 1922 währte.68 Mit der Publikation des Vakayi-i Tibbiye und seinem französischen Pendant Gazette médicale de Constantinople von seiten der Imperialen Akademie für Medizin (Mekteb-i Tibbiye-i Shâhâne) im Jahr 1849 experimentierten osmanische staatliche Stellen außerdem erstmalig mit dem Genre der Fachzeitschrift. 69 Ausdifferenzierung

und Marktorientierung der osmanischen Presse

Die osmanische Presse als privatwirtschaftliches Phänomen und als Massenmedium gewann erst ab den 1860er Jahren an Dynamik. Hierbei ist allerdings zu berücksichtigen, daß bereits ab der zweiten Hälfte der 1840er Jahre in Istanbul eine Minoritätenpresse zu entstehen begann, welche die islamsprachige Presse zunächst weit in den Schatten stellte. Zwischen 1831 und 1860 existierten nur vier türkisch-osmanische Presseorgane gegenüber mehr als zwanzig Periodika in italienischer,70 französischer, armenischer, griechischer, bulgarischer und judäo-spanischer Sprache. Der Unterschied in der Gesamtauflage zwischen der Minoritätenpresse und der osmanisch-türkischen Presse in diesem Zeitraum, der sogar einen Faktor der Größenordnung von zehn zu eins zugunsten der ersteren erreicht haben dürfte,71 nivellierte sich jedoch im Lauf der Zeit. Für 1872 verzeichnete der osmanische Reichsalmanach insgesamt 39 in Istanbul erscheinende Periodika mit einer Erscheinungsfrequenz, die von täglich, dreimal wöchentlich, halbwöchentlich, vierzehntägig bis monatlich reichte, in den Sprachen Türkisch (9), Französisch (7), Armenisch (11), Griechisch (7), Bulgarisch (4) und Hebräisch (1). Im Jahr 1876 wird von 47 hauptstädtischen Presseorganen berichtet, dar-

67

70

Vgl. Ist. Ans., "Ermenice Basin", S. 188 u. Annuaire des deux mondes, S. 814. Ortaylï, "Tanzimat Devri Basini", S. 404. Vgl. Islam Ansiklopedisi, xxviii (Ankara 1980), Stw. "Sal-Nâme", S. 85f. u. Hasan Duman, Osmanli Yïllïklarï (Salnameler ve Nevsaller), Istanbul 1982. Vgl. Groc/Çaglar, La Presse, S. 106, Nr. 204 u. Nüzhet, Türk Gazeticiligi, S. 90. Für diese vgl. Groc/Çaglar, La Presse, S. 15, Annuaire des deux mondes, S. 814 u. Ubicini, Letters, Bd. i, S. 251. Ist. Ans., ii, Stw. "Basin" (Orhan Kologlu), S. 69.

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unter dreizehn in osmanisch-tiirkischer Sprache.72 Auch die Auflagenzahlen stiegen: So wird für die seit 1876 erscheinende Zeitschrift Ibret eine Auflagenhöhe von etwa 12.000 angenommen 73 Für Basirei wurde gar von einer Auflage von 30.000 berichtet, was jedoch eine für die Zeit vor 1876 zu hoch angesetzte Zahl sein dürfte, 74 die vermutlich auf etwa ein Drittel reduziert werden müßte. 75 Dabei überstieg die Rezeption von Zeitungen jedenfalls die Auflagenhöhe quantitativ um ein mehrfaches, da Zeitungen häufig vorgelesen oder in öffentlichen Etablissements wie Cafés mehrfach gelesen wurden.76 Die Entwicklung der osmanischen Presse zu einem weitgehend unabhängig von staatlicher Subvention funktionierenden Markt vollzog sich schrittweise. Als erste private osmanisch-türkische Zeitung wird im allgemeinen der von Agah Efendi und Shinasi gemeinsam herausgegebene Tercüman-i Ahval (1860) genannt. Die neue Zeitung verfolgte insbesondere gegenüber der etablierten Ceride-i Havadis eine aggressive und ideologisch geprägte Profilierungsstrategie, die Alfred Churchill veranlaßte, seine Zeitung ab Herbst 1860 als Tageszeitung unter dem Titel Ruzname-i Ceride-i Havadis zu publizieren. So erschien in der 10. Ausgabe von Tercüman-i Ahval vom 24. November 1860 folgende programmatische tabellarische Charakterisierung der existierenden drei türkisch-osmanischen Zeitungen:77

Name

Eigenschaft

Besitzer (sahibi)

Takvim-i Vekayi

amtlich (resmi)

die Erhabene Regierung (hükumet-i seniye)

Ceride-i Havadis

halbamtlich

Engländer (Ingiliz)

Tercüman-i Ahval

nicht amtlich (gayr-i resmi)

die Muslime (ehl-i Islam

72 ^ Vgl. Ahmed Emin, Development, S. 40f. Johann Strauß, "Zum Istanbuler Buchwesen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts", in: ^ Osmanli Arashtïrmalarï 12 (1992), S. 326. ^ Ahmed Emin, Development, S. 46. Ilhan Yerliykaya, Basirei Gazetesi ve Pancermenizm - Panislamizm - Panslavizm Osmanlïcïlïk Fikirleri, Van 1994, S. 27. 76 Vgl. Ayaion, Press, S. 156 u. Ahmed Emin, Development, S. 47. Dies gilt übrigens ganz analog etwa für die englische Presse des 18. Jahrhunderts: John Feather, A History of British Publishing, London/New York 1996, S. 94. ΊΊ Wiedergegeben bei Server Iskit, Türkiyede Matbuat Idareleri ve Politikalarï, [Ankara] 1943, S. 12.

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In dieser Tabelle zeichnet sich mit der demagogischen Identifikation der Besitzer von Terciiman-i Ahval mit den Muslimen bereits der ideologische Kern der 1865 gegründeten Bewegung der sogenannten Jungosmanen ab, welche die Presse zum ersten Mal zum zentralen Forum ihrer oppositionellen politischen Programmatik eines islamisch-konstitutionellen Verfassungsstaates machte.78 Ein indirektes Indiz dafür, daß den staatlichen Behörden die Kontrolle über die Publikationstätigkeit entglitt und sich kritische oder gar oppositionelle Veröffentlichungen auszubreiten begannen, bildet die Einrichtung einer regulären staatlichen Zensurbehörde und entsprechender Gesetzgebung. Bereits in den Jahren 1857 und 1858 war die Eröffnung von Druckereien konzessionspflichtig gemacht und die Publikation von Büchern einer Vorabzensur unterworfen, bzw. das Strafmaß bei Nichtbeachtung definiert worden.79 1864 wurde ein Pressegesetz erlassen, das im wesentlichen eine Adaption des von Napoleon III. erlassenen französischen Pressegesetzes von 1852 darstellte und mit Ergänzungen und Modifikationen bis 1909 in Kraft blieb.80 1867 wurde ein Erlaß verkündet, der den staatlichen Behörden die Suspendierung von Zeitungen und Zeitschriften praktisch nach ihrem Ermessen gestattete.81 Als Indiz für die zunehmende Ausdifferenzierung und Marktorientierung der osmanischen Presse könnte auch der Beginn der Publikation von humoristischen und satirischen Zeitschriften dienen. Die erste humoristische Zeitschrift in armenischer Sprache erschien unter dem Titel Megu (Biene) im Jahr 1856.82 Erst im Jahr 1870 folgten solche in osmanisch-türkischer Sprache: Terakki Mizah, Terakki Kiiçiik Mizah, Asir Eglence sowie die bedeutendste, Diyojen}7, Letzterer war zunächst als türkischer Anhang zu dem von Teodor Kasap in französischer und griechischer Sprache erscheinenden Diogene veröffentlicht worden, ehe er nach einigen Monaten als eigenständiges Blatt herauskam. 84 Ein deutliches Anzeichen der Kommerzialisierung 78

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g2

^

Vgl. Sherif Mardin, The Genesis of Young Ottoman Thought. A Study in the Modernization of Turkish Political Ideas, Princeton 1962 u. Mümtaz'er Türköne, Siyasî Ideoloji Olarak Islâcïlïgïn Dogushu, Istanbul 1991. Speziell zur jungosmanischen Exilpresse s. Inugur, Basin, S. 214-228. Vgl. Server Iskit, Tiirkiyede Matbuat Idareleri ve Politikalarì, [Ankara] 1943, S. 8-11 u. ders., Türkiyede Matbuat Rejimleri, Teil 2: Tahlil ve Tarihçe, Istanbul 1939, S. lOff. Iskit, Rejimleri, S. 19; Wortlaut s. ebd., Teil 1 : Arshiv Kïsmï, S. 691-695. Ebd., S. 26; Wortlaut s. ebd., Teil 1, S. 696. Ebd., iii, Stw. "Ermenice Basin", 188f. Türk Diyanet Vakfi Islam Ansiklopedisi, Bd. ix, Stw. "Diyojen", S. 479. Für die satirische Presse vgl. auch Turgut Çeviker, Gelishim Sürecinde Türk Karikatürii. Cilt 1 : Tanzimat ve Istibdat Dönemi, Istanbul 1986. Ich danke Herrn Dr. Johann Strauß (Strasbourg) für diesen Hinweis. Reshad Ekrem Koçu, Istanbul Ansiklopedisi, Bd. 9, Istanbul 1968, Stw. "Diyojen Gazetesi", S. 4630.

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des Pressemarktes liegt in der Einführung der Stempelsteuer von 2 Para (pro auf jedes Zeitungsexemplar aufzuklebender Marke) im Jahr 1873, die bis 1898 bestehen blieb.85 Anfang 1876 konnte sich die Tageszeitung Sabah des Verlegers Papadopoulos Efendi dank eines Kampfpreises von zehn gegenüber den damals von der Konkurrenz zumeist geforderten zwanzig bis vierzig Para am Markt etablieren.86 Für ein Kilo Brot wurde demgegenüber um 1880 in Istanbul etwa fünfzig Para, für ein Kilo Schaffleisch ca. fünfeinhalb Piaster und für dieselbe Menge Karotten weniger als 20 Para bezahlt.87 Der Monatslohn eines Arbeiters in den 1870er Jahren lag vermutlich bei ca. 250 Piaster.88 Die Verbindung zwischen Presse und Staat blieb auch noch über das Jahr 1860 hinaus erhalten. Die erste und bedeutendste arabische Zeitung Istanbuls etwa, al-Diawâ'ib. die von Fâris al-Shidvâq seit 31. Mai 1861 für lange Jahrzehnte herausgegeben wurde, wurde subventioniert. Noch 1869 scheint es offenbar durchaus nicht unüblich gewesen zu sein, daß eine neu konzessionierte Zeitung aus der Staatskasse ein "Startgeld" erhielt.89 Hinzu kam die personelle Verquickung: Praktisch alle bedeutenden Pioniere des frühen privaten muslimisch-türkischen Pressewesens im Osmanischen Reich kamen aus der Bürokratie, was im übrigen gerade auch für die Jungosmanen gilt.90 Es wurde sogar die These vertreten, daß Terciiman-i Ahval über die die Beförderung ihres Herausgebers Agah Efendi auf lukrative Posten in der Verwaltung gleichsam indirekt subventioniert worden sei.91 Einen wichtigen Markstein für die Entwicklung der türkisch-osmanischen Öffentlichkeit und ein gutes Beispiel für ihre bürokratischen Wurzeln bildet die Gründung der Osmanischen Wissenschaftlichen Gesellschaft (Cemiyet-i Ilmiye Osmaniye) und ihres Organs Mecmua-i Fiinun im Jahr 1861. Ihre beiden Initiatoren, Halil Bey und Münif Efendi (später Pascha) waren hohe Staatsbeamte, die beide über Europaerfahrung verfügten. Die wissenschaftliche Gesellschaft war selbst zwar nichtstaatlich, aber mit offizieller Erlaubnis des Sultans gegründet worden. Von ihren 33 ständigen Mitgliedern waren 85

Server Iskit, Tiirkiyede Matbuat Rejimleri, Teil 2: Tahlil ve Tarihçe, S. 57. In England wurde die Stempelsteuer auch "tax on knowledge" genannt. Sie wurde dort 1712 beschlossen und gg bestand bis 1855. Habermas, Strukturwandel, S. 124. Vgl. Ist. Ans., vi, Stw. "Sabah", S. 380 u. Yerliykaya, Basirei Gazetesi, S. 27f. g7 Necdet Sakaoglu, "Vekilharç Masarifat Pusulalari (1880-1886)", in: Toplumsal Tarih 4.19 ( 1995), S. 47ff. Vierzig Para machten ein Piaster. gg Findley, Officialdom, S. 319. Für eine ausführliche Diskussion zu osmanischen Beamteneinkommen und Lebensstandards s. ebd. S. 293ff. So erhielt der Gründer von Basiret, Ali Efendi, die einmalige Summe von 300 Lira. Vgl. Basirei Gazetesi Sahib-i Imtiyazi Ali, Istanbul'da yarïm asïrlïk vekayi-i mühimme, Istanbul 1325, S. 4 u. Yerlikaya, Basiret Gazetesi, S. 30. 90 Vgl. Mardin, Genesis, S. lOff. Ilhan Yerlikaya, "Tercümän-i Ahvâl Gazetesi ve Hükümet Destekli Habercilik A n l a y i W , in: Toplumsal Tarih, 4.21 (Eylül 1995), S. 59.

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der türkisch-osmanischen

Presse

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16 Beamte des 1833 gegründeten Übersetzungsbüros (Terciime Odasi), 11 andere Beamte, drei Lehrer des Ingenieursinstituts (Miihendishane), zwei Offiziere und ein Lehrer der Kriegsakademie (Mekteb-i harbiye). Ein Drittel dieser ständigen Mitglieder waren Nichtmuslime. 92 Die zahlenmäßige Dominanz der Mitglieder des Übersetzungsbüros ist signifikant. Diese 1833 gegründete Abteilung der osmanischen Zentraladministration bildete zusammen mit den Sekretariaten der osmanischen Botschaften in Europa jahrzehntelang die Kaderschmiede der politisch-administrativen Modernisierungselite des Reiches. 93 Auch die Präsenz von Lehrpersonen der staatlichen Akademien und von Offizieren sind Indikatoren des ursprünglich aus militärischen Erwägungen resultierenden mit der Zeit aber ständig breiter werdenden Transfers von europäischem know how. Bemerkenswert erscheint der vergleichsweise hohe Prozentsatz von Nichtmuslimen. Er dürfte weniger Ausdruck ihrer tatsächlichen Repräsentationsstärke in der osmanischen Verwaltung 94 als vielmehr ihres vergleichsweise hohen Grades der Akkulturation an europäisches Kulturgut sein.95 Die Zeitschrift der Gesellschaft, Mecmua-i Fiinun (Zeitschrift der Wissenschaften), zielte ähnlich wie die französischen Enzyklopädisten auf wissenschaftliche Popularisierung. 96 In ihrer 13. Ausgabe bot sie einen Artikel über "Das Wesen und die Einteilung der Wissenschaften" (mahiyet ve aksâm-i ulûm), welcher alle Zweige des menschlichen Wissens in sieben Kategorien anzuordnen beanspruchte. In der fünften Gruppe fanden sich unter dem Stichwort Religionen und philosophische Wissenschaften (edyân ve ulûm-i felsefiye) neben der Wissenschaft von den Religionen (ilm-i edyân) und der Philosophie (ilm-i felsefe) noch die Wissenschaft von den Mythen (ilm-i hurafât) und Wissenschaften des Obskuren (ulûm-i garibe). 97 In derselben Ausgabe informierte Münif seine Leser über den griechischen Philosophen Thaies. Dieser Artikel war Teil einer Serie über "Die griechischen Weisen". Die Wiederentdeckung der antiken Philosophie durch die osmanische Wissenschaft fand durch einen Akkulturationsprozeß an die westliche Wissenschaftstradition statt, nicht durch die direkte Rezeption der arabischen Philosophen. 98 Der enge Konnex der bürokratischen Modernisierungselite mit der muslimisch-osmanischen Presse verlor sich tendenziell mit der Ausweitung der Literalität und der staatlich organisierten Schulbildung. Ahmed Cevdet (1862-1935) etwa, Begründer der bedeutenden Tageszeitung Ikdam, die als 92

96

Ist. Ans., i i , Stw. "Cemiyet-i Ilmiye-i Osmaniye" (Ekmeleddin Ihsanoglu), S. 404f. Lewis, Emergence, S. 116. Vgl. aber die von Findley, Officialdom, S. 96 für das Außenministerium gegebenen Zahlen. Vgl. Carter V. Findley, Buraucratic Reform in the Ottoman Empire. The Sublime Porte, ¡ 789-1922, Princeton 1980, S. 206f. Mardin, Genesis, S. 238. Mecmua-i Fünun 13 (1280), S. 6. Vgl. Mardin, Genesis, S. 234.

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erste Zeitung im Osmanischen Reich die 1846 von Robert Hoe entwickelte Rotationsdruckmaschine verwendete," war der Sohn eines Tabakhändlers. 100 Doch läßt allein schon die Tatsache der enormen personellen Ausweitung der osmanischen Bürokratie im 19. Jahrhundert vermuten, daß sowohl auf der Seite der Zeitungsproduzenten als auch auf jener der Leser das bürokratische Segment weiterhin eine wichtige, vielleicht sogar die wichtigste Rolle spielte. So arbeitete auch Ahmed Cevdet zu Zeiten als untergeordneter Staatsdiener in der Redaktion des Takvim-i Vekayi und in der Banque ottomane.101 Daneben begann sich aber langsam eine professionelle Schicht von Berufsjournalisten auszudifferenzieren, die von Ahmed Emin [Yalman] (1888-1973) wie folgt beschrieben wurden: "The journalists as a class were distinguished more by their wild night-life than by anything else. They considered themselves justified in drinking to excess, as they had to fulfil a delicate task, and were every moment exposed to the danger of exile or prison. They were also poorly paid. Still the calling was very attractive to adventurous natures and many were glad to volunteer their services, without expecting any pay in „102 return.

Die hier angedeutete Begeisterung für das neue Medium ist ein Faktor, dessen Bedeutung für die Entwicklung der osmanisch-türkischen Presse sicherlich nicht unterschätzt werden darf. 103 In der ersten Hälfte der 1870er Jahre setzte sich die Presse endgültig als Medium gesellschaftlicher, nicht-staatlicher Kommunikation durch. Die zunehmende Dichte von Information schaffte imaginierte oder virtuelle Räume, die von der Zeitungslektüre ausgehend erfahrungsfrei existierten, aber konkrete Auswirkungen auf die politische Einstellung des zur öffentlichen Meinung hypostasierten Lesepublikums hatte: "Vor zwanzig Jahren wußte hierzulande noch niemand, daß es in Kaschgar Muslime gibt", schrieb der Publizist und Bürokrat Nami'k Kemal 1873 in der Zeitschrift Ibret, "und jetzt bemüht sich die öffentliche Meinung (efkâr-i umumiye) um den Zusammenschluß mit ihnen". 104 Insbesondere der Anschluß Istanbuls an das europäische Telegraphennetz im Gefolge des Krimkrieges (1853-56) und dessen zivile und kommerzielle Nutzbarkeit ermöglichten es, Nachrichten als Konsumartikel beinahe mit der Ereignisabfolge zu synchronisieren. 1870 eröffneten die internationalen Nachrichtenagenturen Reuter und Havas in

99 jpg Inugur, Basin, S. 285. Ibrahim Alaettin Gövsa, Türk MeshhurlariAnsiklopedisi, 102

^

E b d

·

Ahmed Emin, Development, S. 47f. Vgl. z.B. Yerlikaya, Basirei Gazetesi, S. 159, Fn. 523. Türköne, Islâmcïlïgïn Dogushu, S. 59.

o.O. o.J., S. 19.

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der tiirkisch-osmanischen

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Istanbul ein gemeinsames Büro.105 Bis dahin waren die osmanischen Zeitungen im wesentlichen auf ausländische Presseerzeugnisse, auf offizielle Auskünfte aus dem Sarai und der Hohen Pforte sowie auf Informationen aus ihrem Netzwerk von Zuträgern inner- und außerhalb der Verwaltung als Nachrichtenquellen beschränkt gewesen.106 Der große Eindruck, den die Niederlage Napoleons III. im Deutsch-Französischen Krieg von 1870/71 auf die osmanische Öffentlichkeit (von der wir von nun an sprechen können) gemacht zu haben scheint, erklärt sich sicherlich zum Teil aus der Suggestivkraft der annähernd Tag-zu-Tag erfolgenden Berichterstattung auf die Zeitungsleser. So druckte die viermal wöchentlich erscheinende Basirei während des Krieges unter Überschriften wie "Gestern abend eingegangene wichtige Telegramme" in praktisch jeder Ausgabe Nachrichten über den aktuellen Stand der Kampfhandlungen. Gelegentlich waren die Telegramme sogar mit Stunden- und Minutenangaben versehen, die als Chiffren der Aktualität die Dramatik der Meldungen nochmals steigerten.107 Nachrichtenübernahmen aus europäischen Zeitungen waren datiert und meist nicht älter als drei bis vier Tage. Im Vergleich dazu hatten die Adaptionen aus der europäischen Presse in Takvim-i Vekayi im Jahr 1835 zwischen zwei Wochen und viereinhalb Monaten Verspätung, da die Zeitungen entweder über Wien auf dem Landweg oder aber auf dem Seeweg nach Istanbul transportiert werden mußten.108 Der erweiterte Aktionsradius der staatlichen Presse Die Kommerzialisierung des Pressewesens und die Entstehung einer politischen Öffentlichkeit bedeutete jedoch nicht, daß sich der Staat auf die defensive Position der Presseregulation zurückzog. So erschien etwa 1875 mit dem Vakit eine neue halbamtliche Zeitung, die von dem armenischstämmigen Filib Efendi herausgegeben wurde.' 09 Darüber hinaus lebte auch die Tradition der osmanischen Staatspresse im Takvim-i Vekayi und den staatlichen Almanachen fort. Der Staatsanzeiger erschien bis 1879 und wurde 1891 mit einer Auflage von fünftausend erneut herausgegeben. Die Praxis des Zwangsabonnements wurde erstmals 1862 in einem verwaltungsinternen Denkschreiben als verdeckte Steuer kritisiert, blieb aber bis 1868 erhalten." 0

Inugur, Basin, S. 272. Vgl. Yerlikaya, "Terciimân-i Ahvâl", S. 61. So informierte in Basirei Nr. 158 vom 5. September 1870 ein mit "Berlin 3. September, 8:30" datiertes Telegramm über die Kapitulation der bei Sedan eingeschlossenen französiQg sehen Armee am 2. September. JQÇ Kologlu, Takvim-i Vekayi, S. 74. Hierzu Ilhan Yerlikaya, II. Abdiilhamit Döneminde Basin. Yari Resmi Vakit Gazetesi (18751884), Kïrïkkale 1996. Yazïcï, Takvim-i Vekayi, S. 49f. ^

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Mit der gesetzlichen Neuordnung der Provinzverwaltung 1864 und 1867 weitete sich der Aktionsradius der Staatspresse sogar noch einmal aus, indem für jede Provinz die Einrichtung einer Druckerei und einer staatlichen Provinzzeitung festgeschrieben wurde." 1 Mit Ausnahme von Ägypten, sowie den Provinzen von Beirut und Izmir, die eigenständige Publikationszentren bildeten," 2 konzentrierte sich die Presse des Osmanischen Reiches in der Hauptstadt Istanbul." 3 In zahlreichen Provinzen blieben die offiziellen Provinzzeitungen, die ab Mitte der 1860er tatsächlich in fast allen Provinzentren eingerichtet wurden, über Jahrzehnte hinweg, oft bis zur "Presseschwemme" im Gefolge der jungtürkischen Revolution von 1908, die jeweils einzige Zeitung am Ort, etwa in Erzurum" 4 oder in Trabzon." 5 Von 25 Provinzzeitungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts (vor 1908) waren 20 die erste Zeitung des Vilayets gewesen, 17 agierten zu diesem Zeitpunkt konkurrenzlos. Die meisten dieser Vilayetszeitungen waren zwischen 1866 und 1875 gegründet worden (15), der Rest, bis auf eine Ausnahme, vor 1885.116 Einen interessanten Fall bildet hierbei Kreta. Dort war die 1868 von den osmanischen Behörden etablierte Provinzzeitung Girid das zweite offizielle Blatt der Insel, nachdem schon 1831 - also im selben Jahr, in dem der Takvim-i Vekayi in Istanbul erstmals erschien - die damals ägyptischen Verwaltung von Kreta ein bilinguales Staatsblatt in türkischer und griechischer Sprache mit dem sich an den Vekyai-i Misriyye anlehnenden Titel Vekayi-i Giridiye eingerichtet hatte, das bis ca. 1840 existierte. Vorbild Verantwortlich für die Herausgabe war Ali Efendi Cam, ein Diwansekretär Mehmed Alis." 7 Eine weitere Besonderheit bildet möglicherweise die Insel Samos,

Eine Diskussion der Einrichtung amtlicher Provinzzeitungen findet sich bei Michael Ursinus, "San'â". Eine amtliche osmanische Provinzzeitung im Jemen", in: ders., Quellen zur Geschichte des Osmanischen Reiches und ihre Interpretation, Istanbul 1994, S. 166ff, sowie bei Uygur Kocabashoglu/Ali Birinci, "Osmanli Vilâyet Gazete ve Matbaalarî Üzerine Gözlemler", in: Kebikeç 2 (1995), S. 105ff. Für Libanon u. Ägypten s. Ayaion, Press, S. 28ff. In Izmir erschienen bereits 1850 neben zwei französischen, j e eine armenische und eine hebräische Zeitung. Annuaire des deux mondes (1850), S. 814. Nach, allerdings wohl ungenauen, Angaben aus dem Jahr 1914 erschienen alleine in Istanbul etwa genausoviele Periodika wie in allen osmanischen Provinzen (Ägypten ausgenommen) zusammen. Vgl. C. Voigt, "Die türkische Presse", in: Die Welt des Islams 2.1 (1914), 114 j^

S

·21"23·

Muammer Yashar, Anadolu'da Ilk Türk Gazetesi Envar-i Sharkiyye, Ankara 1971, S. 41. Cumhur Odabashi'oglu, Trabzon Dogu Karadeniz Gazete ve Mecmualarï 1869-1928, Trabzon 1987, S. 9ff. Hier erschien allerdings 1885 eine griechischsprachige Zeitung, Astir Tou Pontou. Vgl. ebd. Kocabashoglu/Birinci, "Vilâyet Gazete", S. 111. Darüberhinaus hatten acht Provinzzeitungen um 1900 ihr Erscheinen bereits wieder eingestellt, elf weitere entstanden erst nach 1908. Ebd., S. 112. Vgl. Orhan Kologlu, "La presse turque en Crete", in: Clayer/Popovic u.a. (Hg.), Presse Turque, S. 259f u. Johann Strauß, "Probleme der Öffentlichkeitswirkung der muslimischen Presse Kretas", in: Christoph Herzog/Raoul Motika u.a. (Hg.), Presse und Öffentlichkeit im

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für die ein imperialer Erlaß bereits im Jahr 1852 die Herausgabe einer lokalen Zeitung vorsah." 8 Die osmanischen Provinzzeitungen der Tanzimatzeit führten einerseits die Tradition des Takvim-i Vekayi fort. So wurde etwa verschiedentlich die Praxis des Zwangsabonnement für Staatsbeamte übernommen." 9 Wie schon beim Takvim-i Vekayi wurde bei der Konzipierung der offiziellen Provinzzeitungen Wert darauf gelegt, auch die ehemaligen reaya und jetzigen osmanischen Untertanen des Sultans unabhängig von ihrer Zugehörigkeit zum muslimischen millet anzusprechen. Während die Realisierung der für den Takvim-i Vekayi vorgesehenen armenisch-, griechisch-, und arabischsprachigen Ausgaben jedoch nur ephemeren Charakter trugen, lösten die Vilayetszeitungen das Problem von vornherein durch bilinguale Ausgaben in Türkisch und der als dominierend angesehenen Regionalsprache der Provinz, sofern die beiden nicht identisch waren.' 20 Einzige Ausnahme scheint die offizielle Lokalzeitung des Libanongebirges gebildet zu haben, die in Arabisch und Französisch erschien.121 Wie der frühe Takvim-i Vekayi vertraten die Provinzzeitungen ein Programm der Modernisierung und der Legitimation der osmanischen Herrschaft. Andererseits aber spiegelten sie definitiv die mittlerweile eingetretene Entwicklung des osmanischen Pressewesens wider. In der zweiten Hälfte der 1860er Jahre, als die ersten Provinzzeitungen etabliert wurden, war - anders als 1831 bei der Gründung des Takvim-i Vekayi - Presse im Nahen Osten kein Novum mehr, dessen Platz im kulturellen System erst definiert werden mußte, sondern ein in den großen Zentren wie Istanbul, Kairo, Beirut und Izmir bereits etabliertes Medium gesellschaftlicher Kommunikation. Aber auch in den entferntesten Provinzzentren darf die langjährige Monopolstellung der meisten Vilayetszeitungen vor Ort nicht darüber hinwegtäuschen, daß dort auch andere Presseerzeugnisse verfügbar waren. Seit dem Aufbau des osmanischen Postwesens ab 1840 sowie durch konkurrierende europäische Postdienste auf osmanischem Boden konnten neben privaten Postsachen auch Zeitungen und Zeitschriften verschickt werden. Auf den Titelblättern der meisten osmanischen Periodika seit der zweiten Hälfte der 1860er Jahre findet sich neben den Abonnementspreisen auch eine Kostenangabe für den Versand in die Provinzen, die den Abonnenten zusätzlich berechnet wurde.122 Allerdings dürfte sich die Entwicklung eines Marktes für Presseerzeugnisse in den Provinzen insgeJ Nahen Osten, Heidelberg 1995, S. 155f. j jg Ortaylï, "Tanzimat Devri Basini", S. 399. A alon 120 y · ^ r e s s · S- 24 u. Ursinus, "San'â"', S. 168. Kocabashoglu/Birinci, "Vilâyet Gazetesi", S. 11 If. 122 ^yalon, Press, S. 24. Für die Mecmua-i Maarif besipielsweise betrug demzufolge für das Jahr 1867 die Postgebühr 50 Kurush (Jahresabonnement 150 Kurush), die Zeitung Sabah für das Jahr 1876 einen halben Mecidiye (Jahresabonnement 3 Mecidiye).

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samt verzögert und in deutlich kleinerem Maßstab als in den Zentren entwickelt haben. Als in 1876 in Bagdad die ersten Ausgaben der arabischen Wissenschaftszeitschrift al-Muqtataf eintrafen, wurden sie nur von wenigen der jüngeren Generation gelesen, stießen aber auf dedizierte Ablehnung konservativer Kreise, die sich allerdings offenbar weniger gegen al-Muqtataf als Zeitschrift, sondern gegen die in ihr vertretenen Standpunkte richtete.123 Generelle, religiös begründete Ablehnung jeglicher Presse war aber sicherlich nicht inexistent, 124 konnte sich jedoch auf Dauer gegen den Wandel der Kommunikationsstrukturen, der zunehmend auch den religiösen Diskurs erfaßte, nicht behaupten. 125 Die offiziellen Provinzzeitungen hatten als potentielle Leser nicht nur die eigenen Provinzbeamten und die lesekundige lokale Bevölkerung, sondern auch offizielle Stellen und eine private Leserschaft in Istanbul zu berücksichtigen: Die Vilayetsblätter waren nicht nur in den Lesezirkeln der Hauptstadt verfügbar, sondern die jeweils aktuellste Ausgabe war an das Innenministerium in Istanbul zu schicken. 126 Inwieweit dieser Umstand tatsächlich auf den Prozeß der Textproduktion durchgeschlagen hat, ist schwer zu sagen. Es ist aber durchaus wahrscheinlich, daß die offiziellen Provinzzeitungen - ebenso wie die Provinzalmanache - von zahlreichen Gouverneuren vor allem als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit und Selbstdarstellung gepflegt wurden. 127 Letztendlich scheinen sich die offiziellen Vilayetszeitungen überwiegend zu reinen Amtsblättern entwickelt zu haben, die ausschließlich offizielle Verlautbarungen, Gesetzes- und Verordnungstexte druckten und entsprechend auf nur geringe Resonanz stießen. 128 Daneben gab es aber auch außerordentlich erfolgreiche Provinzzeitungen. So erreichte Tuna, die erste Provinzzeitung der Tanzimatära, in kurzer Zeit eine Steigerung ihrer Auflage von wenigen hundert auf 1500 und mußte manche besonders populären Ausgaben nachdrucken. 129 Auch Envar-i Sharkiye (Erzurum, 1867) und Hiidavendigar (Bursa, 1869) soll es gelungen sein, sich in ihrem Niveau den hauptstädtischen Zeitungen anzugleichen und einen nicht geringen Einfluß auf das Geistesleben ihrer jeweiligen Provinzen zu nehmen. 130 In Redaktionen von Provinzzeitungen, die über den bloßen Abdruck

123 124

Albert Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age 1798-1939, 247

·

[Neuflage] Oxford 1983, S.

Vgl. Ismail Kara, Islâmcïlarïn Siyasi Görüshleri, Istanbul 1994, S. 83f. ^ Ebd., S. 83-84. „ Ursinus, "San'â", S. 168f. 127 Vgl. ebd., S. 170 u. Roderic Davison, Reform in the Ottoman Empire, 1956-1876, Princeton 1963, S. 167. A a on Press 129 y ' ' ' S· 26 u. Kocabashoglu/Birinci, "Vilâyet Gazetesi", S. 108ff. Ebd, S. 169. Tuna war die Provinzzeitung des Donau-Vilayates, das 1864 durch Zusammenlegung der drei Provinzen Silistrien, Vidin und Nisch gebildet wurde. Kocabashoglu/Birinci, "Vilâyet Gazete", S. 106f.

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offizieller Texte hinausgingen, wurde eine solche Einflußnahme häufig auch angestrebt und mit einem zuweilen paternalistische Formen annehmenden pädagogischen Anspruch verbunden. So schrieb die besagte Provinzzeitung Hiidavendigar in ihrer Ausgabe vom 24. Februar 1869: "[...] alle Einwohner dieser Provinz müssen dankbar sein, daß diese Zeitung ins Leben gerufen wurde. Denn ohne Zeitung können die Leute ihre tatsächlichen Bedürfnisse nicht verstehen und diese können ihnen auch nicht mitgeteilt werden. [...] Außerdem erhalten Leute ohne Zeitung keine Nachricht von dem Fortschritt, der in Wissenschaft, Technik und Wirtschaft erzielt wurde und von dem Nutzen der sich hieraus ergibt." 131

Der pädagogische Anspruch war in der Regel auch bei privatwirtschaftlicher Presse anzutreffen, wurde aber vielleicht häufiger weniger plump als in oben zitiertem Beispiel vorgetragen. So kleidete die Zeitung Basirei ihre Eigenwerbung in eine umfangreiche Meditation über das die Grundbedeutung "Einsicht" tragende Wort132 ihres Titels und präsentierte ihren Lesern diese Doppeldeutigkeit vielleicht mit einem Augenzwinkern: [...] Basiret ist ein Edelstein. Basiret ist das Licht. Basiret ist die rettende Gottesgabe des Herrn der Menschen. [...] Der Mensch wird durch Basiret zum Menschen. Jemand ohne Basiret taugt nichts." 1 3 3

Sehr viel nüchterner, aber in die gleiche Richtung zielend formuliert ein Statement in der Einleitung der 1870 gegründeten Zeitung Hakaik iil-Vakâ'i, in dem als Quintessenz geäußert wurde, "daß die Zeitungen der wichtigste Grund für den Fortschritt der Gesellschaft sind".134 Dieses Avantgarde- und Sendungsbewußtsein der Zeitungsmacher ließ sich ohne weiteres in einen kommerziellen Rahmen einpassen. Damit eine Zeitung ihre Funktion erfüllen könne, gebe es folgende Bedingungen schrieb die 1876 eingeführte Tageszeitung Sabah in ihrer Erstausgabe: "Sie muß erstens in einer Sprache, die von allen verstanden werden kann und in einer Kürze, die keine Langeweile aufkommen läßt, geschrieben sein. Und sie muß zweitens so billig sein, daß sie jeder leicht kaufen kann."' 3 5

'¡!! Zit. nach ebd., S. 106. 132 Julius Theodor Zenker, Türkisch-Arabisch-Persisches Handwörterbuch, Leipzig 1866, Bd. 1, S. 200 gibt die Bedeutung von "basiret" wieder mit "das geistige Sehen, Einsicht, Schartsinn, Verständniss, scharfes Eindringen in eine Sache, Aufmerksamkeit, Sorgfalt, Vorsicht, Umsicht, Wachsamkeit, klarer und deutlicher Beweis. Theol. myst. der verklärte Blick der die höhere Anschauung, welche das innere Wesen der Sache erkennen läßt." ^ Basiret 934 (23 Mai 1873), S. 1, zit. bei Yerlikaya, Basiret Gazetesi, S. 165-167. Hakaik iil-Vaka'i 1 (3. September 1870), S. 1. Ihre Herausgeber waren Rüshdi u. Filib Efendi. Vgl. Nüzhet, Türk Gazeteciligi, S. 54. Sabah 1 (9. März 1876), S. 1.

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Die Pflege einer einfachen und allgemeinverständlichen Sprache, wie sie von den meisten Zeitungen betrieben wurde,136 war nicht nur eine kommerzielle Notwendigkeit für die privatwirtschaftliche Presse, sondern ein intellektueller Trend der Zeit.137 Bereits Mahmud II. hatte dekretiert, daß der Takvim-i Vekayi in einer einfachen, für alle verständlichen Sprache geschrieben sein solle.138 Die tendenzielle "Demokratisierung" von Wissen über die Simplifizierung des sprachlichen Ausdrucks in der Presse ging somit Hand in Hand mit der Suche nach einer ideologischen Neufundierung der osmanischen Herrschaft. Wenn behauptet werden konnte, daß sich der Großteil der türkischen Literatur der Periode zwischen 1860 und 1876 mit der Diskussion politischer Ideologie beschäftigte,139 so ist hierbei festzuhalten, daß die osmanische Presse auch das Experimentierfeld par excellence für neue Literaturgattungen, wie Roman oder Theater nach westlichem Vorbild oder für die Suche nach neuen Inhalten der Lyrik lieferte.140 Sie bildete auch den wichtigsten Kanal für die Übernahme von Lehnwörtern, insbesondere aus dem Französischen.14' Für den so entstehenden Modernisierungsdiskurs, dessen Schlüsselbegriff das Wort "Fortschritt" (terakki) bildete, lieferte somit die Presse das zentrale Kommunikationsmedium.142 Diskussion Die Diskussion begann mit der Frage nach der Auseinandersetzung mit ausländischen Zeitungen und nach der kritisch räsonierenden bürgerlichen Öffentlichkeit und ihrer Darstellung in der Presse (Vittinghoff). Zur Auseinandersetzung mit den ausländischen Zeitungen wies der Referent nur darauf hin, daß nicht alle in französischer Sprache erscheinenden Zeitungen auch ausländische Zeitungen gewesen seien. Zur Frage nach der bürgerlichen Öffentlichkeit meinte er, die soziale Struktur der Träger- und Leserschaft der Zeitungen sei schwer zu ergründen. Freilich habe jede neue Zeitung in ihrem ersten Leitartikel zu den Zielen der Veröffentlichung Stellung genommen. Anschließend wurde auf den Unterschied von Staatszeitungen und privaten Zeitungen hingewiesen. Bei den privaten Zeitungen, etwa de-

Für Einschränkungen vgl. Lewis, Emergence, ders., Vakit Gazetesi, S. 22.

S. 143f; Yerlikaya, Basirei Gazetesi,

S. 18;

Vgl. Ahmed Hamdi Tanpïnar, XIX. Asir Türk EdebiyatV Tarihi, 2. Aufl. Istanbul 1956, S. 250f 138 Ahmed - Emin, Development, S. 30f. 39 Kenan Akyüz, "La Littérature moderne de Turquie", in: Philologiae Turcicae Fundamenta, ,„„ ii, Wiesbaden 1964, S. 471. 140 Tanpïnar, Türk Edebiyatï, S. 251. Vgl. Orhan Kologlu, "Ilk Gazetelerimiz Aracïlïgïyla (1828-1867) Dilimize Giren Batí Kavram ve Sözcükleri", XI. Türk Tarih Kongresi, Ankara 1994, S. 1645-1664. Orhan Kologlu, "La formation des intellectuels", S. 130ff.

Die Entwicklung der tUrkisch-osmanischen Presse

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nen der Armenier, sei es oft darum gegangen, ein neues Forum der Öffentlichkeit zu errichten. Außerdem stelle sich die Frage, ob die Veröffentlichung von Zeitungen wirklich etwas Neues brachte oder nur bereits bekannte Mittel der Kenntnisvermittlung ergänzte (Freitag). Hierzu wurde später in der Diskussion noch bemerkt, daß man bereits an den Namen der Zeitungen ablesen könne, daß zunächst an Traditionen wie die der "Nachrichtenschreiber" angeknüpft worden sei, erst später seien bewußt aufklärerische Namen wie "Stern" oder "Weisheit" gewählt worden (Pistor-Hatam). Eine spezielle Frage betraf die Berichterstattung über die russische Kolonisierung Turkestans. Wurde dies von der osmanischen Presse zur Kenntnis genommen? (Sagaster). Der Referent bejahte dies und wies auf die Entdeckung der islamischen Brudervölker durch die osmanische Presse hin. Auf eine Frage nach den frühen Leitartikeln, welche die Rechtfertigung der Existenz der Zeitungen zum Gegenstand hatten (Wagner), antwortete der Referent, daß diese Selbstrechtfertigung nur in der frühen Zeit zu verzeichnen sei, später dagegen nicht mehr. Ein Redakteur habe seine Zeitung sogar in gereimter Sprache angekündigt. Ein mehr oder weniger dezenter Erziehungsanspruch stehe zunächst im Vordergrund. Die erste irakische Zeitung habe sich sogar ausdrücklich an die Lehrer gewendet. Später seien die Zeitungen eher als Diskussionsforen angepriesen worden und der penetrante Erziehungsanspruch sei zurückgegangen. Eine bekannte, alte Form der Veröffentlichung, nämlich die der an den Herrscher gerichteten Petition, wurde ebenfalls in den neuen Presseprodukten nachvollzogen. (Pistor-Hatam). An diese Bemerkung Schloß sich die Frage an, welche Ausdrucksformen sich aufgrund solcher Traditionen in der Presse bemerkbar machten. In China sei der alte Staatsprüfungsaufsatz Vorbild der frühen Leitartikel gewesen, im osmanischen Reich habe offenbar die Petition eine ähnliche Rolle gespielt. Wie spiegelt sich das in der sprachlichen Form wider? Bei Übersetzungen in zweisprachigen Zeitungen, wie der ersten irakische Zeitung, ergibt sich dann die zusätzliche Frage, wer die Übersetzungen erstellt habe, Iraker oder türkische Beamte? (Rothermund) Der Referent berichtete, daß die arabischen Texte in der Tat oft in der Türkei angefertigt worden seien, einige stammten von einem persischen Schiiten, andere aber auch von einem arabischen Dichter. Das Stilvorbild sei allgemein das einer vereinfachenden Sprache gewesen, so wie sie auch Mahmud II. in seinen Erlassen verwendet habe. Die Reformen dieses Herrschers hätten defensiven Charakter gehabt. Die Islamisten verteufelten die technischen Errungenschaften der Ungläubigen zunächst, und damit auch die Zeitungen, gaben dann aber bald auch selbst Zeitungen heraus.

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Christoph

Herzog

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Die Entwicklung

der tilrkisch-osmanischen

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Die Presse als Instrument der Selbstbehauptung: Persische Kaufleute und ihr Beitrag zur innermuslimischen Modernisierungsdiskussion gegen Ende des 19. Jahrhunderts Anja

Pistor-Hatam

1. Iran und die persischen Kaufleute im Prozeß der Modernisierung "Modernisierung" bezeichnet eine in Westeuropa begonnene Transformation, in deren Dynamik jedoch die ganze Welt mit einbezogen wurde. 1 Das heißt, sie beschreibt die im Verlaufe des modernen technischen Zeitalters vollzogenen weltweiten Veränderungen ökonomischer, administrativer, militärischer, politischer und sozialer Strukturen.2 Folglich wird "Modernisierung"als ein systematischer und historischer Prozeß3 verstanden, "der im Zusammenhang mit der europäischen Expansion steht".4 Der Inhalt des Modernisierungsprozesses einer Gesellschaft ist dabei abhängig von der historischen Konstellation, in der ihre verschiedenen kulturellen, sozialen, politischen und wirtschaftlichen Wertvorstellungen begründet sind.5 Im Kontext der innermuslimischen Diskussion dient der Terminus "Modernisierung" daher als Sammelbegriff für die in der Debatte angesprochenen Themen und bezeichnet all diejenigen Bereiche, in denen sich große Teile der städtischen Eliten der islamischen Welt im ausgehenden 19. Jahrhundert für ihre Gesellschaften einen Wandel wünschten: politische und administrative Strukturen, Wirtschaft und Handel, Infrastruktur und Bildungswesen. Die Schlüsselbegriffe der persischsprachigen Modernisierungsdiskussion waren taraqqî ("Fortschritt") und tamaddon ("Zivilisation"). Aufgrund seiner geopolitischen Lage hatten sich Irans Kontakte zur europäischen Staatenwelt lange Zeit auf ein Minimum beschränkt, und das Land wurde nur sehr langsam in die neue Weltwirtschaftsordnung integriert.6 Zwar blieben Iran auf diese Weise die im Osmanischen Reich einsetzende Hyperin-

W. Zapf, Die soziologische Theorie der Modernisierung, zit. n. Wehler, Hans-Ulrich: Modernisierungstheorie und Geschichte, in: ders., Die Gegenwart der Geschichte, München 1995, S. 1359, hier S. 13. Hans Ulrich Wehler, Deutsche Gesellschaftsgeschichte, 4 Bde., München 1987-1996, Bd. I, S. 3

555 ' Wehler, Modernisierungstheorie, S. 13. Samuel N. Eisenstadt, Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt a. M. 1979, S. 134. M. Rainer Lepsius, Soziologische Theoreme über die Sozialstruktur von "Moderne" und die "Modernisierung", in: Reinhart Koselleck (Hg.), Studien zum Beginn der modernen Welt, Stuttgart 1977, S. 10-29, hier S. 23. Marshall G. S., Hodgson, The Venture of Islam, 3 Bde., Chicago 1974, Bd. III, S. 306f.

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flation und der militärische Druck von außen erspart, doch verpaßte das Land gleichzeitig den Anschluß an die Entwicklungen des modernen technischen Zeitalters und der kapitalistischen Weltordnung sowie die Chance, frühzeitig seinen eigenen Platz darin zu finden. Bis in die Anfangsjahre des 19. Jahrhunderts führte die isolierte Lage Irans zum Fehlen äußerer Stimuli und der nur eingeschränkten Wahrnehmung neuer politischer und wirtschaftlicher Möglichkeiten. 7 Im Laufe ihres verspäteten Integrationsprozesses veränderte sich die iranische Wirtschaft dennoch von einer präkapitalistischen hin zu einer Marktwirtschaft. Der Großteil der seit der Mitte des 19. Jahrhunderts durchgeführten Reformen zur Anpassung Irans an die Spielregeln und Bedürfnisse des technischen Zeitalters führte zu einer zunehmenden Zentralisierung sowie zu einer Stärkung des Staates gegenüber der Gesellschaft. 8 Im Zuge der Konzentrierung der Staatsmacht in Teheran, der zunehmend besseren Kontrolle der Provinzen mit Hilfe der Télégraphié, aufgrund des allmählichen Ausbaus der Infrastruktur und der Ausbeutung einheimischer Ressourcen durch ausländische Konzessionäre sowie durch erste Schritte hin zu einem staatlichen Bildungssytem wurde die iranische Gesellschaftsstruktur entscheidend geprägt. Besonders die Kaufleute und Händler im ganzen Land wurden sich ihres Status als einer sozialen Gruppe bewußt, die gemeinsame ausländische Konkurrenten hatte, und es entstand eine kleine Mittelschicht bestehend aus Staatsbeamten, Offizieren, Kaufleuten und Gewerbetreibenden, aus denen sich die moderne Intelligenz größtenteils rekrutierte.9 Die Bedeutung der Kaufleute für die wirtschaftliche und politische Entwicklung Irans kann in der Geschichte des Nahen Ostens im 19. Jahrhundert als einmalig bezeichnet werden.10 Obwohl ihr Anteil an der iranischen Bevölkerung eher gering war11, erfüllten Kaufleute wichtige gesellschaftliche Funktionen. So gehörten nicht nur der Binnen- und Außenhandel, sondern ebenso Bankgeschäfte, die Einziehung von cash crops, die Beteiligung am Ausbau der Infrastruktur, Gründungen von Industriebetrieben und die Ausbeutung von Minen sowie die Bereitstellung von Bargeld für Angehörige des Hofes zu ihren Aufgaben. Darüber hinaus engagierten sich Kaufleute in Iran in der öffentlichen Wohlfahrt, wo sie sich durch wohltätige Werke und den Bau von Einrichtungen für die Allgemeinheit wie Moscheen, Schulen, Karawanserais,

7 John Foran, Fragile Resistance. Social Transformation in Iran from 1500 to the Revolution, Boulder (Col.)/Oxford 1993, S. 101. Abrahamian, Ervand, The Causes of the Constitutional Revolution in Iran, in International Journal of Middle East Studies (IJMES) 10 (1979), S. 381-414, hier S. 392. I Ebd., S. 393. Gad Gilbar, The Opening Up of Qajar Iran: Some Economic and Social Aspects, in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies (BSOAS) 49 (1986), S. 76-89, hier S. 84. " Charles Issawi, The Economic History of Iran, 1800-1914, Chicago/London 1971, S. 267.

Die Presse als Instrument der

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Selbstbehauptung 12

Brücken und Bewässerungskanälen erhebliches Ansehen verschafften. Aufgrund ihrer häufigen Reisen ins Ausland, des Kontakts zu ihren dortigen Agenten und ihres oftmals längeren Verweilens in anderen Ländern, machten sich viele persische Händler mit den Gegebenheiten und Gepflogenheiten ihrer Umgebung und ihrer Handelspartner vertraut. Aus der Notwendigkeit heraus, auf dem internationalen Markt bestehen zu können, gehörten die im Außenhandel tätigen Großkaufleute zu den ersten Iranern, die sich an die Bedingungen der neuen Weltwirtschaftsordnung anpaßten. Zugleich dienten sie als Vermittler zwischen den Außenwelten, die sie bereisten, und ihrer Heimat. Im Gegensatz zum Osmanischen Reich dominierten in Iran die einheimischen muslimischen Kaufleute auch im 19. Jahrhundert noch den Außenhandel ihres Landes. Allerdings mußten sie sich im Verlaufe der allmählichen Einbindung Irans in den Weltmarkt und aufgrund des Zustroms ausländischer Industrieprodukte spätestens seit den 1870er Jahren neu orientieren. Irans halbkolonialer Status und seine wachsende ökonomische Abhängigkeit von den europäischen Mächten führten zur Unterordnung der einheimischen Wirtschaft unter die Interessen der auf dem Weltmarkt dominierenden Staaten und unterminierten die wirtschaftliche Position der persischen Kaufleute. Zwar behielten diese ihre Vormachtstellung im Binnenhandel, doch gerieten sie im Außenhandel immer stärker in Bedrängnis.13 Gleichzeitig eröffneten sich den persischen Händlern allerdings neue Möglichkeiten ökonomischer Aktivitäten, die besonders die führenden Großkaufleute schnell erkannten. Sie investierten in den internationalen Handel und in Bankgeschäfte sowie in die Infrastruktur und die ersten Versuche zur Industrialisierung ihres Landes.14 Die traditionellen Aufgaben, die Kaufleute in Iran wahrnahmen, wurden auch von ihren Kollegen in der Diaspora erfüllt. Unter den im Ausland ansässigen Iranern waren ebenso wie in Iran die Gruppen der Großkaufleute, Kleinhändler und Gewerbetreibenden vertreten. Sie ließen sich in den Handelszentren des Osmanischen Reiches, in Kairo und Alexandria, in Tiflis und Astrachan, in Bombay und Kalkutta sowie vereinzelt auch in europäischen Metropolen nieder. Dort bildeten sie persische Gemeinden, hielten Verbindung zu den diplomatischen Vertretern ihres Landes, organisierten religiöse Feierlichkeiten und sorgten für die Einrichtung von Schulen und religiösen Stätten, kümmerten sich um Waisenkinder und bewirteten durchreisende Landsleute und Pilger. Von besonders großer Bedeutung hinsichtlich ihrer Anzahl und

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ihrer Vermittlerrolle waren die iranischen trading diasporas im Osmanischen Reich. In Anatolien reichen die Wurzeln der vorwiegend aus Azerbaidschan stammenden persischen Kaufleute und Händler bis in das 15. Jahrhundert zurück.15 Allein in Istanbul, das während der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts als internationaler Verbindungsmarkt zwischen Iran und Europa fungierte, lebten um die Wende zum 20. Jahrhundert etwa 16.000 iranische Staatsangehörige.16 Abgesehen von den hauptsächlich im Transithandel tätigen Kaufleuten befanden sich Verteter der unterschiedlichsten Berufe vom Buchoder Tabakhändler bis zum Flickschuster und Beutelmacher unter ihnen. Nach Kairo kam eine größere Zahl von Iranern erst in den 80er Jahren des 19. Jahrhunderts. Ihre Gemeinde umfaßte im Jahre 1892 ca. 1.301 Mitglieder.17 Wohlhabendere Großhändler reisten vorwiegend über Britisch Indien nach Ägypten ein, da sie nach einem Aufenthalt von fünf Jahren in Indien die britische Staatsbürgerschaft erwerben konnten. Ein britischer Paß bedeutete nach der britischen Okkupation von 1882 eine erhebliche Erleichterung bei der Eröffnung einer Handelsniederlassung in Ägypten.18 2. Die persische Presse im Osmanischen Reich: Funktion und Selbstverständnis Persische Kaufleute, die sich an der Debatte zur Modernisierung der islamischen Welt im allgemeinen und ihres Landes im besonderen beteiligten, gehören zu der Gruppe der von Hodgson als concerned individuals bezeichneten Personen. Diese schalten sich verantwortlich in Ereignisse ein und tragen aktiv zu gesellschaftlichen Entwicklungen bei. Wesentlich für die Bedeutung dieser Personengruppe ist die Tatsache, daß geistesgeschichtliche Zeugnisse nicht nur von Intellektuellen hervorgebracht werden, sondern daß besorgte und betroffene Individuen viel von der "flexibility of imagination and richness of spirit" beisteuern, die "such positive development as does come at points of challenge or of crisis [...]"19 erst ermöglicht. Doch anhand welcher Quellengattung ist es möglich, etwas über die Nöte und die Forderungen eines für die moderne iranische Geschichte so wichtigen Bevölkerungsteils zu erfahren und seinen Beitrag zur Modernisierungsdebatte herauszuarbeiten? Um Genaueres

1

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über die Bedingungen zu erfahren, unter denen im Außenhandel tätige iranische Kaufleuten tätig waren, bieten sich natürlich die zumeist in privatem Besitz befindlichen Archive großer Handelsfirmen an. Sucht man jedoch nach einer - noch dazu öffentlich geführten - Debatte persischer concerned individuals·, dann sind Zeitungen, die in allen Teilen der islamischen Welt, von Indien bis nach Tunesien, eine wichtige Rolle für die intellektuelle Auseinandersetzung mit den Entwicklungen des 19. Jahrhunderts spielten, die geeignetsten Quellen. Besonders für den Zeitraum zwischen der Proklamation der osmanischen Verfassung von 1876 und dem Beginn der iranischen Verfassungsrevolution im Jahre 1906 sind Periodika ein wichtiger Indikator für die Krisenstimmung unter den städtischen Eliten Irans, des Osmanischen Reiches und Ägyptens. Während des 19. Jahrhunderts kamen in Iran fast ausschließlich offizielle Zeitungen heraus. Das erste regelmäßig erscheinende Regierungsorgan wurde 1851 herausgegeben, in den folgenden Jahren publizierten verschiedene Ministerien sowie zwei Provinzgouverneure ihre eigenen Blätter. Zeitgenössische Beurteilungen dieser Periodika fielen im allgemeinen vernichtend aus, da sie außer der Publikation telegrafischer Nachrichten aus aller Welt in erster Linie der Hofberichterstattung dienten. Die Etablierung einer "freien Presse" war im Iran dieser Zeit nicht möglich, weshalb iranische Herausgeber die Publikation privater Zeitungen ins Ausland verlegten. Unter diesen Periodika nehmen die in Istanbul und Kairo publizierten politischen Tages- oder Wochenzeitungen einen besonderen Rang ein. Herausgegeben von Kaufleuten und unter Mitarbeit von Mitgliedern dieser Zunft ebenso wie von Intellektuellen erschienen im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts vier persische Periodika im Osmanischen Reich. Akhtar ("Stern"), die als erste dieser Zeitungen herauskam, wurde von 1876 bis 1896 in Istanbul publiziert. Obwohl der damalige persische Botschafter an der Hohen Pforte erheblichen Anteil an ihrer Gründung hatte und obwohl sie sowohl von der persischen als auch von der osmanischen Regierung finanzielle Zuwendungen erhielt, konnte sich die Zeitung über einen langen Zeitraum hinweg eine relative Unabhängigkeit bewahren. Für ihre Leser in Iran und in der Diaspora war sie lange Zeit das einzige Medium, das ihnen einen umfassenden Einblick in politische Entwicklungen, wissenschaftliche Entdeckungen und in Ereignisse von mehr oder weniger großer Bedeutung sowohl in ihrer nächsten Umgebung als auch in weit entfernten Ländern der Erde bot. Erst die durch das Verbot ihrer Einfuhr nach Iran von Februar bis September 1891 erzwungene zeitweilige Einstellung Akhtars bewirkte, daß sich die Redaktion nach der Wiederaufnahme der Publikation mit kritischen Äußerungen weitgehend zurückhielt. Dies soll jedoch nicht bedeuten, daß Akhtar nicht im selben Maße wie andere im Osmanischen Reich erschienene Zeitungen auch zuvor schon unter der Zensur zu leiden gehabt hätte. Obwohl sie als von Aus-

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ländern publiziertes Blatt größere Freiräume genoß als die von osmanischen Untertanen herausgegebenen Periodika, wurde Akhtar dennoch wiederholt suspendiert, weil sie sich zu Themen geäußert hatte, die während der Regierungszeit Sultán Abdülhamíds II. (reg. 1876-1909) mit einem Tabu belegt waren. Zwischen 1892 und 1910 wurden in Kairo die Periodika /fermai ("Weisheit"), Sorayyâ ("Plejaden") und Parwaresh ("Erziehung/Kultur") publiziert, die ihrem Vorbild Akhtar nacheiferten, ohne jedoch deren Popularität und Verbreitungsgrad zu erlangen. Dennoch sind auch diese Zeitungen bedeutende Quellen nicht nur für die Entwicklung der persischen Schriftsprache, sondern ebenso für die Beiträge persischer Kaufleute zur Modernisierungsdebatte. Die Kairiner Blätter erschienen erst zwanzig Jahre nach dem Einmarsch der Briten in Ägypten, so daß ihre Herausgeber von der dort herrschenden relativen Pressefreiheit profitieren konnten. Da sie ihre Organe jedoch auch nach Iran verkaufen wollten, waren sie gezwungen, auf dortige Empfindlichkeiten Rücksicht nehmen. In den jeweils ersten Ausgaben ihrer Journale äußerten sich die Herausgeber zu Sinn und Zweck der Presse im allgemeinen und der Relevanz ihrer Zeitungen im besonderen. Zeitungen sollten ihren Lesern ein aufrichtiger Freund, ehrlicher Gesprächspartner und sachlicher Bote sein.20 Sie seien zum "Dienst am Volk" gegründet worden, erschienen zum Nutzen der Würdenträger wie der Allgemeinheit und sähen ihre vorrangige Aufgabe im Einsatz für den Fortschritt von Land und Volk. Die Ziele ihrer Zeitung, so die Redaktion von Akhtar, lägen in der Wahrung der Rechte des Volkes, der Herstellung der Grundlagen von Fortschritt und Zivilisation und der Einsicht in die Geschehnisse auf der Welt.21 Im Leitartikel der ersten Ausgabe von Hekmat schreibt ihr Herausgeber, in jedem Zeitalter habe es verschiedene Mittel und Wege zu Fortschritt und Zivilisation in der Welt gegeben. Neben Bildung und Wissenschaft sei die Presse das bedeutendste Instrument seiner Zeit, denn sie sei der Grund für die Kultivierung der Welt und die materielle Ursache für den Fortschritt ihrer Bewohner. In der zivilisierten Welt verfüge die Presse über eine gemeinsame Sprache und verteidige die Rechte der Völker. Wie ein scharfes Mikroskop mache sie alle Vorzüge und Mängel sichtbar und habe mit Stolz, Kraft, Beharrlichkeit, Kühnheit und Eigensinn alle Widerstände überwunden. Die Presse sei das "Bindeglied der Einheit zwischen den Menschen in Orient und Okzident", sie diene als Dolmetscher ihrer Gedanken und vermittle den intellektuellen und emotionalen Austausch zwischen ihnen. 22 Die Presse wird somit aus dem engeren Rahmen des persischsprachigen Orients herausgenommen und in den größeren Zusammenhang weltweiter

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Akhtar vom 13. Januar 1876, S. 1. Akhtar νom 12. Dezember 1877, S. 489. Hekmat vom 19. September 1892, S. 1.

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Kommunikation gestellt. Zwar, so fährt der Autor des genannten Leitartikels fort, gehöre die Presse nicht zu den neuen Erfindungen Europas, sondern habe ihren Ursprung im China des 9. Jahrhunderts n. Chr. gehabt, doch hätten die Menschen auf diesem Kontinent ihren Nutzen als erste erkannt. Die Orientalen hätten desungeachtet nicht nur das Recht, ein eigenes Pressewesen aufzubauen, sondern sie verfügten zudem über die dafür notwendigen Fähigkeiten.23 Durch diese etwas zwanghaft anmutende Entkleidung ihrer europäischen Herkunft und ihrer Rückführung auf asiatische Ursprünge wird der Versuch unternommen, die Presse zu einem Universalgut zu machen, welches auf dem Umweg über Europa wieder nach Asien zurückgekehrt sei, um auf diese Weise ihre Aneignung durch die dortigen Herausgeber und Leser zu legitimieren. Auch Zeitungsleser hatten ihre eigenen Vorstellungen von der Funktion des von ihnen genutzten Mediums. Die Herausgeber und Mitarbeiter von Periodika hatten demnach die Pflicht, über die Arbeit der Regierung sowie über Ereignisse im Land zu berichten. Ihre Berichterstattung müsse wahrheitsgemäß sein, damit die Staatsbeamten von Mißständen erführen und eventuelle Ungerechtigkeiten beseitigen könnten. Außerdem sollten Zeitungen die Untertanen über die Anordnungen des Herrschers hinsichtlich der von ihm veranlaßten Reformen für Fortschritt und Gerechtigkeit informieren. 24 Der Fortschritt und das Bewußtsein eines Volkes seien eng mit seiner Bildung sowie mit der Lektüre von Zeitungen verbunden, heißt es an anderer Stelle.25 Und ein Leser geht sogar noch weiter und behauptet, die Presse bringe eine neue Gattung Mensch hervor, die etwas von den Neuerungen auf der Welt hören und sehen wolle.26 Die Presse, faßt schließlich ein Leserbrief an die Zeitung Parwaresh zusammen, sei das Mittel, Fortschritt und Zivilisation nach Iran zu bringen: "Wir, das Volk von Iran, kannten die Bedeutung von Zivilisation (tamaddon) und Fortschritt (taraqqî) nicht und wußten nichts vom Fortschreiten des Handwerks und dem Nutzen der Wissenschaften und [anderen] neuen Dingen. Wir hielten uns für das erste Volk auf Erden und lebten nach Art [unserer] Vorfahren. [...] Wederdachten wir an neue Entdeckungen, noch hatten wir das Gefühl, uns [deswegen] grämen zu müssen. Bis die Zeitungen in unser Land kamen und ihre Lektüre in den Köpfen für Verwirrung sorgte. Auf diese Weise wurden wir über einige Vorkommnisse informiert und verstanden unsere Bedürfnisse in der zivilisierten Welt. [...] Wir alle freuten uns, daß die Zeitungsherausgeber frei über den Nutzen und die Ursachen des Fortschritts in unserem Lande sprachen, uneigen-

Hekmat vom 19. September 1892, S. 1. ZI Akhtar vom 29. Oktober 1879, S. 345. Akhtar vom 12. November 1879, S. 360-61. Akhtar vom 17. Juni 1879, S. 191.

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nützig den Vorteil von Wissen und Bildung anerkannten und auf diese Art und W e i s e unsere Moral verbesserten." 27

Es läßt sich festhalten, daß die Mitarbeiter und Leser der untersuchten Zeitungen in ihrer Einschätzung hinsichtlich der Aufgaben der Presse weitgehend übereinstimmten. Die Gleichsetzung der Presse mit Fortschritt, ja sogar mit dem Entstehen einer neuen menschlichen Gattung, entspricht durchaus dem Enthusiasmus, mit dem "aufgeklärte" Zeitgenossen dieses neue Medium unterstützten, dessen Möglichkeiten sie für nahezu unbegrenzt hielten. 3. Zeitungen als Diskussionsforen: Investitionen in Handel und Infrastruktur als notwendige Voraussetzungen für den Fortschritt Sowohl in Istanbul als auch in Kairo stellten Klein- und Großhändler einen erheblichen Teil der dortigen persischen Diaspora, in deren Mitte die genannten Zeitungen gegründet wurden. Insofern ist der große Einfluß kaufmännischer Interessen auf diese Periodika nicht verwunderlich. Abgesehen von der Aufmerksamkeit, die der Frage von Bildung und Wissenschaft für den Fortschritt in Iran und der islamischen Welt insgesamt und ihren Eintritt in den Reigen der "zivilisierten Länder" gewidmet wurden, spielten besonders Probleme des Handels und der Infrastruktur eine bedeutende Rolle in den Redaktionsartikeln und Leserbriefen. In einer Serie von Artikeln aus den Jahren 1898 und 1899 stellte die Zeitung Sorayyâ die Geschichte des Handels von biblischen Zeiten bis in die Gegenwart des ausgehenden 19. Jahrhunderts dar. Glück und Wohlstand aller Völker und Staaten, so die einleitenden Worte der Artikelserie, seien abhängig vom Handel.28 Zwar diene er vorrangig der Verbreitung von Waren, doch bilde der Handel zugleich die Grundlage für Bildung und Fortschritt eines jeden Volkes und sei die Basis für Zivilisation, Handwerk, Wissenschaft und Philosophie. Menschliche Zivilisation sei zuerst an den Ufern von Flüssen und Meeren entstanden, die als Handelswege genutzt wurden.29 Längst hätten die Europäer das Potential des Handels erkannt und ihn zu ihren Soldaten und Kanonen gemacht, um damit andere Länder zu erobern. Wie erfolgreich die Engländer den Handel als Waffe eingesetzt hätten, ließe sich am besten in Indien, dem größten Land Asiens zeigen, welches sie ohne Blutvergießen hätten einnehmen können.30 Auf die Schattenseiten eines Handels, der dem einen Land nutze, während er in einem anderen Unmündigkeit bewirke, wird in der erwähnten Artikelse^

Parwares vom 14. Gomadi II 1318hq/8. Oktober 1900, S. 10. Sorayyâ vom 3. Dezember 1898, S. 1-2. Sorayyâ vom 18. Februar 1899, S. 13-14. Sorayyâ vom 21. Januar 1899, S. 11-13.

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rie ebenfalls hingewiesen. So warnt ihr Autor, die Abhängigkeit Irans von europäischen Produkten berge ein hohes Risiko, denn der Bedarf nach importierten Industrieprodukten habe bereits zum Niedergang des einheimischen Handwerks geführt. Es sei daher dringend geboten, daß die Iraner wieder auf ihre traditionellen Erzeugnisse zurückgriffen, sich ihres eigenen Handelsvermögens besännen und ihrerseits Fertigprodukte nach Europa exportierten.31 Das iranische sei als ein Handelsvolk zu bezeichnen, schreibt der Verfasser eines in Akhtar erschienenen Beitrags, denn seine Mitglieder gingen überall auf der Welt ihren Geschäften nach. Allerdings hätten die persischen Kaufleute noch nicht begriffen, daß der Import überflüssiger Luxusgüter der einheimischen Wirtschaft schade und dadurch letztlich auch bei ihnen zu Verlusten führen würde. Wenn sie etwas von ökonomischen Prozessen verstünden, würden sie den Nutzen und die Interessen des Volkes sowie die rechtmäßigen Bedürfnisse der Menschen stärker berücksichtigen.32 Eine Möglichkeit zur Beseitigung der Nachteile, die das persische Handwerk gegenüber ausländischen Industrieprodukten habe, sei die Gründung von Handelsgesellschaften.33 Diese könnten z. B. für die Erschließung heimischer Minen sorgen, mit der Errichtung von Leinenwebereien den Grundstock für die Herstellung wertvollen Tuches legen oder Zuckerraffinerien bauen, um die Binnennachfrage zu befriedigen. 34 Solche Gesellschaften hätten den Vorteil, daß ihr Handel beständig und nicht von einzelnen Personen abhängig sei. Auch würde eventuell erlittener geschäftlicher Schaden nicht gleich zur Auflösung einer Handelsgesellschaft führen. 35 Da der Handel zu den wichtigsten Elementen beim Fortschritt eines Landes gehöre, heißt es an anderer Stelle, müsse der Staat diesen unterstützen und zu seinem Schutz entsprechende Gesetze erlassen.36 Allerdings dürften die Menschen in Iran nicht erwarten, daß sich vorrangig der Herrscher und seine Regierung um alles kümmerten. Schließlich seien sowohl die Kaufleute als auch andere vermögende gesellschaftliche Gruppen wie z. B. die Großgrundbesitzer dazu aufgerufen, ihr Geld zum Nutzen ihres Landes und seiner Bewohner einzusetzen. Sobald sich das Volk um den Fortschritt bemühe, werde sich auch die Regierung ihren diesbezüglichen Aufgaben stellen.37 Wiederholt werden die persischen Kaufleute in den zitierten Periodika dazu aufgefordert, sich durch die Gründung von Handelsgesellschaften nach europäischem Vorbild den Herausforderungen der Weltwirtschaft zu stellen. Außerdem sollten

Sorayyâ vom 21. Januar 1899, S. 11-13. V. Akhtar vom 26. Juli 1893, S. 30. " Akhtar vom 25. Mai 1892, S. 266. iL Akhtar vom 14. Juni 1892, S. 288. Sorayyâ vom 10. Juni 1899, S . U . ^ Akhtar vom 2. September 1890, S. 21-22. Akhtar vom 23. Februar 1881, S. 83.

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sich die Angehörigen dieser Berufsgruppe besonders für das Wohl ihres Landes und seiner Bevölkerung einsetzen, denn die Regierung sei zwar für die Verteidigung nach außen und die Sicherheit und Wohlfahrt im Innern zuständig, der Handel aber liege in der Hand der Kaufleute. 38 Die Eigeninitiative von Großkaufleuten, Großgrundbesitzern und anderen gut situierten Personen sei die Voraussetzung dafür, daß auch der Staat die administrativen Bedingungen zur Entwicklung des Landes schaffe. Erst dann sei der Weg frei, der langfristig zur Unabhängigkeit Irans von ausländischen Wirtschaftsinteressen führen würde. Diese Forderungen, die sowohl an das Selbstverständnis der persischen Kaufleute als Wohltäter und wichtige Geldgeber für soziale Aufgaben als auch an ihre beruflichen Interessen appellierten, verhallten nicht ungehört. Tatsächlich brachten sie - vorgetragen von Personen, die in der Mehrzahl selbst dem kaufmännischen Milieu entstammten - zum Ausdruck, wie intensiv sich die Angehörigen dieser Berufsgruppe mit den an sie gestellten neuen Anforderungen und den Herausforderungen, denen sie auf dem Weltmarkt begegneten, beschäftigten. Zwei Beispiele sollen im folgenden illustrieren, in welchem Maße sich einheimische Großkaufleute und Händler in Iran engagierten und welches die Gründe für das letztendliche Scheitern ihrer Projekte waren. Die "Islamische Handelsgesellschaft"(sherkat-e

eslâmiyyeh)

Am 8. März 1899 wurde in Isfahan die erste iranisch-islamische Handelsgesellschaft gegründet. In ihrer Satzung, abgedruckt in der Kairiner Zeitung Sorayyâ,39 sind die Ziele der Gesellschaft sowie ihre Bestimmungen festgelegt. Unter anderem heißt es in der Einleitung der Satzung, Fortschritt und Wohlergehen von Staat und Volk basierten außer auf Einheit und Brüderlichkeit vor allem auf dem Streben nach Gewinn und der Beseitigung von Mangel. Handelsgesellschaften müßten gegründet und der handwerkliche Fortschritt unterstützt sowie Erfindungen gefördert und Fabriken gebaut werden, um Arbeitsplätze zu schaffen und den Gewerbetreibenden Anregungen zu bieten. Zudem sei es unbedingt notwendig, die iranische Abhängigkeit vom Ausland zu beenden. 40 Laut Satzung hatte die sherkat-e eslâmiyyeh die Aufgabe, Stoffe aus Isfahan und anderen Teilen des Landes zu an- und verkaufen, einheimische Waren zu vertreiben, das Handwerk zu fördern und Lohnspinnereien einzurichten. Außerdem verpflichteten sich die Teilhaber der Gesellschaft, ihre Textilprodukte zu erstehen, um auf diese Weise der islamischen Welt

«

Hekmat vom 7. November 1892, S. 49. * Sorayyâ vom 10. Juni 1899, S. 12-13. Ebd.

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einen Dienst zu erweisen.41 Die sherkat-e eslâmiyyeh war die einzige iranische Handelsgesellschaft, die sich ausschließlich der Produktion und dem Vertrieb einheimischer Waren widmete und nicht mit importierten Gütern handelte.42 Anstatt sich darauf zu beschränken, der "Islamischen Handelsgesellschaft" und ihren Teilhabern ein Forum zur Eigenwerbung zu bieten, erläuterte der Herausgeber von Sorayyâ, worin seiner Ansicht nach die Aufgaben der Gesellschaft bestanden. Damit die einheimische Baumwolle nicht länger nach Europa ausgeführt werde und man in Iran von den dort gefertigten Reimporten unabhängig werde, sollten in Isfahan und Teheran Lohnspinnereien und Β aumwollWebereien entstehen, die die benötigten Garne und Textilien selbst produzieren könnten. Den in verschiedenen europäischen Ländern, Ägypten, Indien, dem Osmanischen Reich und anderswo ansässigen persischen Kaufleuten müsse es obliegen, die Waren der sherkat-e eslâmiyyeh in ihren Vertrieb mit aufzunehmen. Aktien dürften auch in Zukunft nicht ins Ausland verkauft und Fremde nicht an den Geschäften der Gesellschaft beteiligt werden.43 Die Aktien der Handelsgesellschaft verkauften sich in den ersten Monaten ihres Bestehens sehr gut 4 4 und es gelang ihren Gründern, auch in anderen Städten des Landes Filialen einzurichten. Mit dem Hinweis, das Ziel der Etablierung der sherkat-e eslâmiyyeh sei die Unabhängigkeit vom Bedarf nach europäischen Textilien, wies der Direktor ihrer Teheraner Filiale darauf hin, sie würde die Herstellung der gesamten Sommer- und Winterkleidung für Iran übernehmen. Da die einheimischen Stoffe sich, wie er behauptete, durch ihre Haltbarkeit und Festigkeit auszeichneten, zögen die Muslime diese den ausländischen Textilien selbstverständlich vor.45 In einem weiteren Beitrag der "Islamischen Handelsgesellschaft", den Sorayyâ publizierte, wird sogar ein Verbot des Imports von Kleidern und Stoffen aus dem Ausland verlangt. Die Vorräte an importierten Textilien seien in etwa sechs Monaten ausverkauft und die Gesellschaft werde spätestens nach sechs weiteren Monaten den Bedarf an neuen Kleidern zum Neuen Jahr (nourûz) vollständig decken können. Deshalb, so wird versichert, hätten die Konsumenten keinen Mangel zu leiden.46 Wie den zitierten Ausführungen zu entnehmen ist, kam der Zeitung Sorayyâ große Bedeutung bei der Verbreitung von Informationen über die sherkat-e eslâmiyyeh zu. Deren Vertreter betrachteten das Blatt offensichtlich als ge-

43

Sorayyâ vom 10. Juni 1899, S. 14. Floor, Willem, „Traditional Crafts and Modern Industry in Qajar Iran", in: Zeitschrift der Deutsehen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 141 (1991), S. 317-52, hier S. 341. Sorayyâ vom 16. September 1899, S. 2. Ebd., S. 9. Sorayyâ vom 6. Oktober 1899, S. 15-16. Sorayyâ vom 14. Oktober 1899, S. 2.

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eignetes Medium, um für ihre Sache zu werben und zum Kauf ihrer Aktien und Produkte aufzurufen. Selbst die schriftlichen Erklärungen führender iranischer Geistlicher aus Nadjaf, einem Zentrum schiitischer Gelehrsamkeit im Irak, die die besondere Bedeutung der Herstellung "islamischer Textilien" und der Unabhängigkeit von ausländischen Produkten hervorhoben, waren in der Zeitung nachzulesen. 47 Dennoch hatte die "Islamische Handelsgesellschaft" nur kurz Bestand und ging schließlich u. a. wegen der Veruntreuung von Geldern durch ihre Verwalter bankrott. Obwohl viele schiitische Rechtsgelehrte den Kauf "islamischer Textilien" auch dadurch förderten, daß sie selbst sich ihre Mäntel und Turbane aus im Auftrag der sherkat-e eslâmiyyeh hergestellten Stoffen anfertigen ließen, bevorzugte die Mehrheit der Käuferinnen und Käufer weiterhin importierte Textilien, die preisgünstiger und von höherer Qualität waren, als die auf Handwebstühlen gefertigten einheimischen Stoffe. 48 Die persische Regierung konnte aufgrund ihrer außenpolitischen Schwäche, ihrer Unkenntnis der Spielregeln des modernen technischen Zeitalters und der Anforderungen, die an eine moderne Ökonomie und Industrie gestellt wurden, Handwerk und Industrie in Iran nicht wirkungsvoll vor ausländischer Konkurrenz schützen. Außerdem hatte sie, beginnend mit dem im Jahre 1828 mit Rußland geschlossenen Vertrag von Turkmantchai, mit verschiedenen europäischen Ländern Handelsabkommen vereinbart, die die Zölle auf 5% ad valorem für alle Im- und Exporte ausländischer Händler festlegten. 49 Damit war die Grundlage für die Ungleichbehandlung persischer mit ausländischen Kaufleuten gelegt, da erstere wegen der von ihnen zusätzlich zu den für sie oftmals wesentlich höher liegenden Ein- und Ausfuhrzöllen auch noch verschiedene Binnenzölle zu entrichten hatten. 50 Den persischen Großhändlern, die die "Islamische Handelsgesellschaft" ins Leben riefen, den sie unterstützenden Geistlichen und dem Herausgeber sowie den Mitarbeitern von Sorayyâ muß zudem ein erhebliches Maß an Naivität und Ignoranz unterstellt werden. Anstatt vor der Gründung ihrer Gesellschaft eine Analyse des einheimischen Marktes vorzunehmen und somit den tatsächlichen Bedarf nach vor Ort produzierten Textilien festzustellen, argumentierten sie in erster Linie ideologisch. Das Argument, die von der sherkat-e eslâmiyyeh gefertigte "islamische Kleidung" sei qualitativ hochwertiger als die Importe aus dem Ausland wurde

^

Sorayyâ vom 10. Februar 1900, S. 2 und S. 19. Cf. Floor, Traditional Crafts, S. 342.

49 ^ Ebd., S. 347f. Willem Floor, „The Customs in Qajar Iran", in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 126 (1976), S. 281-311, hier S. 281-90 und Charles Issawi, European Economic Penetration, 1872-1921, in: Peter Avery/Gavin Hambly/Charles Melville (Hg.), The Cambridge History of Iran, Bd. VII: From Nader Shah to the Islamic Republic, Cambridge 1991, S. 590-607, hier S. 600.

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durch das Kaufverhalten der Bevölkerung widerlegt. Zudem spricht die Tatsache, daß die "Islamische Handelsgesellschaft" auch deswegen in den Bankrott getrieben wurde, weil sich einige ihrer Verwalter selbst bereicherten, nicht für ihre Integrität und dem hohen moralischen Anspruch ihrer Gründer Hohn. Das Eisenbahnprojekt in Mâzandarân Ebenso wie viele der von der immer schneller forwärts schreitenden Industrialisierung und Technisierung beeinflußten europäischen Intellektuellen des 19. Jahrhunderts glaubten auch Angehörige der städtischen Eliten in Iran, das Vorhandensein von Maschinen sei ein Zeichen für den zivilisatorischen Stand eines Volkes.51 Eine herausragende Stellung in diesem Glauben an die Überlegenheit technischen Fortschritts nahm die Eisenbahn ein.52 Mit Hilfe dieses Wundermittels, so meinten einige der seit den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts aktiven persischen Staatsmänner und Kaufleute, könnte ihr Land in kürzester Zeit zu wirtschaftlicher Blüte gelangen. Ein hoher Beamter und Diplomat war sogar davon überzeugt, daß der Bau von Eisenbahnlinien und der Einsatz der Bahn Ordnung und Zivilisation nach Iran bringen und aus dem Land ein Paradies machen würden.53 Zwar unternahm die Regierung in Teheran mehrmals den Versuch, Konzessionen für den Bau von Eisenbahnlinien an ausländische Konsortien zu vergeben, doch scheiterten diese Bemühungen vor allem an den gegensätzlichen geopoliti sehen Interessen der Hegemonialmächte Rußland und Großbritannien.54 In den erwähnten persischen Zeitungen wurde die Frage des Eisenbahnbaus ebenfalls diskutiert. Obwohl auch auf ihren Seiten Bedenken hinsichtlich der Vergabe von Konzessionen geäußert wurden, überwog doch die Überzeugung, Eisenbahnen seien für die Kultivierung des Landes, den Fortschritt des Handels und für die Beziehungen zwischen zivilisierten Staaten von grundlegender Bedeutung.55 In verschiedenen Artikeln der Zeitung Akhtar wurde der Nutzen der Eisenbahn für die unterschiedlichen Bevölkerungsgruppen hervorgehoben: landwirtschaftliches Gerät und Erzeugnisse könnten damit preiswert überallhin transportiert, Rohstoffe und Werkzeuge schneller geliefert und der Warenumsatz gesteigert werden; Dorfbewohner hätten die Möglichkeit, jederzeit in die Stadt zu reisen und sich mit den dortigen Sitten und Gebräuchen vertraut zu machen, während

' ' Michael Adas, Machines as the Measure of Men. Science, Technology, and Ideologies of Western Dominance, Ithaca/N.Y./London 1989, S. 194-97. 52 ^ Adas, Machines, S. 223. Shaul Bakhash, Iran - Monarchy, Bureaucracy and Reform under the Qajars, 1858-1896, 5 4 London 1978, S. 116. John S. Galbraith, „British Policy on Railways in Persia, 1870-1900", in: Middle Eastern Studies (MES) 25 (1989), S. 480-505, hier S. 497. Akhtar vom 8. Juni 1887, S. 291.

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die Städter sich im Sommer bequem aufs Land begeben könnten. Schließlich unterstütze die Eisenbahn die Regierung bei der Verwaltung und dem Schutz des Landes sowie bei der Wahrung von Sicherheit und Ordnung. 56 Sogar Rechtsgutachten schiitischer Gelehrter wurden eingeholt, um jegliche Bedenken zu zerstreuen, die sich gegen diese aus Europa stammende Neuerung richteten. 57 Einer der bekanntesten und mächtigsten Großkaufleute im Iran des ausgehenden 19. Jahrhunderts, Hâdjdj Mohammad Hasan Amin oz-Zarb, ergriff schließlich die Initiative, um den Bau einer Eisenbahnlinie von Mahmudâbâd am Kaspischen Meer zu den von ihm in Konzession ausgebeuteten Eisenerzminen in Amol voranzutreiben. Amin oz-Zarb reiste mehrmals nach Europa, um dort das notwendige Material für die von ihm finanzierte Strecke von 24 km zu beschaffen, darunter eine Lokomotive, und Fachleute für die Arbeit in Iran zu gewinnen. 58 Es gelang ihm tatsächlich, die Arbeiten voranzutreiben, bis die Linie schließlich im Frühjahr 1890 fertiggestellt wurde. Allerdings mußte sie nach vielen Schwierigkeiten den Betrieb bereits Ende 1894 wieder einstellen. Höfische Intrigen, Interessenskonflikte mit der örtlichen Bevölkerung, die sogar vor tätlichen Angriffen auf die belgischen Angestellten nicht zurückschreckte, unsachgemäßer Umgang mit Baumaterial sowie Beschädigung und der Diebstahl von Teilen der Gleisanlage gehörten zu den Widrigkeiten, mit denen Amin oz-Zarb zu kämpfen hatte. 59 Im Februar 1890 veröffentlichte Akhtar die auszugsweise Übersetzung eines Artikels aus der Times vom 27. Januar desselben Jahres. Darin wird scharfe Kritik an der Unzulänglichkeit des o.g. Eisenbahnprojekts geübt, und an einer Stelle heißt es, wegen der allgemeinen Inkompetenz der Iraner sei es verwunderlich, daß die Eisenbahnlinie überhaupt je hätte fertiggestellt werden können. 60 Vergleicht man allerdings den zielsprachlichen mit dem ausgangssprachlichen Text, so stellt man fest, daß die Kritik an den Zuständen in Iran in der persischen Übertragung wesentlich drastischer formuliert wird als im englischen Original. Offensichtlich diente der ausgangssprachliche Text der Redaktion von Akhtar als willkommener Anlaß, eigene Kritik an den Verhältnissen in Iran zu formulieren und diese dem Korrespondenten einer britischen Zeitung unterzuschieben. Entsprechend heftig reagierten einige Leser auf diesen Beitrag, dessen ausgangssprachlicher Version es allerdings ebenfalls

^ " 59

Akhtar vom 2. Dezember 1879, S. 383f. Akhtar vom 10. März 1880, S. 105. Akhtar vom 14. September 1887, S. 403 und vom 27. Februar 1889, S. 196-97 sowie Eir Bd. I, "Amîn(-e Dâr)-Al-Zarb" (A. Enayat), S. 951-53, hier S. 952. Willliam J. Oison, „The Mazanderan Development Project and Haji Mohammad Hasan: A Study in Persian Entrepreneurship, 1884-1898", in: Elie Kedourie/Sylvia G. Haim (Hg ), Modern Egypt - Studies in Politics and Society, London 1980, S. 38-155, hier S. 44-46. Akhtar vom 10. Februar 1890, S. 199-200.

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nicht an überheblichen und rassistischen Bemerkungen mangelt.61 Die "klugen und vernünftigen Europäer", schreibt ein Leser, wollten überall auf der Welt an der Spitze von bedeutenden Projekten stehen und andere Menschen dabei zu ihren Tagelöhnern machen. Sie mißgönnten anderen Völkern den Ruhm, den diese sich mit ihren eigenen großen Unternehmungen erwerben wollten.62 Die Schwierigkeiten, auf die Hâdjdj Mohammad Hasan Amin oz-Zarb mit seinem relativ bescheidenen Eisenbahnprojekt stieß und die Tatsache, daß er das Unternehmen Ende 1894 resigniert aufgab, nachdem die Bahn in den fünf Monaten zuvor anstatt einmal täglich ingesamt nur zweimal fahren konnte,63 zeigen, daß selbst einheimischer unternehmerischer Initiative der Erfolg versagt blieb. Sogar ein so erfolgreicher, engagierter, wohlhabender und über gute Beziehungen zum Hof verfügender Großkaufmann wie Amin oz-Zarb, der sich für den Handel und den Ausbau der Infrastruktur seines Landes einsetzte, stellte verbittert fest, jedesmal, wenn jemand etwas für sein Land tun wolle, würden die staatlichen Funktionäre unruhig und fürchteten Unbequemlichkeiten für sich selbst. Ihre Reaktionen führten dazu, daß schließlich niemand mehr zu persönlichem Engagement bereit sei.64 Ebenso wie viele seiner Landsleute hatte Amin oz-Zarb geglaubt, guter Wille allein würde ausreichen, um alle Widerstände zu überwinden und selbst das notwendige organisatorische und technische Wissen für derartige Projekte aufwiegen. Die Art und Weise seines Scheiterns macht verständlich, warum sich andere Großkaufleute trotz vielfacher Appelle an ihre gesellschaftlichen Verpflichtungen mit derartig risikoreichen Investitionen zurückhielten. Obwohl die Versuche persischer Kaufleute, sich am Ausbau der Infrastruktur zu beteiligen und nach europäischem Vorbild Handelsgesellschaften zu gründen, am Ende scheiterten, bleibt doch die Tatsache bestehen, daß sie einen ζ. T. erheblichen Einsatz leisteten. Sie taten dies, weil sie sich den Gegebenheiten der Weltwirtschaft anpassen mußten, um nicht nur im Außenhandel, sondern auch zu Hause mit ausländischen Händlern und Produkten konkurrieren zu können. Wie eng dabei die Anbindung an ihre traditionelle Rolle und ihre Verbundenheit mit islamisch geprägten Vorstellungen war, zeigt sich an der religiös-ideologischen Begründung für die Einrichtung einer Handelsgesellschaft sowie daran, daß Rechtsgutachten von schiitischen Geistlichen eingeholt wurden, die bestätigen sollten, daß sich der Bau von Eisenbahnen mit dem islamischen Glauben vereinbaren ließe.

H' Cf. The Times vom 27. Januar 1890, S. 8. " Akhtar vom 17. Februar 1890, S. 206. Olson, Development Project, S. 46-47. Zit. η. ebd., Anm. 7, S. 54.

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4. Fazit Ihrem Anspruch, "ehrlicher Gesprächspartner" und "sachlicher Bote" zu sein und sich für den Fortschritt ihres Landes einzusetzen, wurde die im Osmanischen Reich gegen Ende des 19. Jahrhunderts erschienene persische Presse in hohem Maße gerecht. Ein erheblicher Teil des Nachdenkens über die Anforderungen der Moderne und die darauf zu gebenden Antworten wurden auf diesem Forum geführt. Dadurch, daß die genannten Periodika im Nachbarland erschienen, war der Einfluß der iranischen Regierung auf diese Organe eher gering und erlaubte eine relativ offene Diskussion. Die Wirkung dieser öffentlichen Debatte ist nicht zu unterschätzen, war der Verbreitungsgrad der Zeitungen und die mündliche Weitergabe ihrer Inhalte doch sehr hoch. Angesichts der Aktualität der darin diskutierten Themen und des Engagements einer großen Zahl persischer concerned individuals scheint die oben erwähnte Einschätzung des Herausgebers von Hekmat, die Presse sei das bedeutendste Instrument seiner Zeit, kaum übertrieben zu sein. Wenn sie "Fortschritt" und "Zivilisation" vielleicht auch nicht auf direktem Wege nach Iran brachten, so dienten Periodika doch zumindest dazu, persischsprachige Leser und ihr Umfeld über die Vorgänge und einschneidenden Veränderungen in der Welt zu informieren und boten ihnen die Möglichkeit, über deren Auswirkungen auf ihre Lebensumstände öffentlich nachzudenken und miteinander zu streiten. In welch hohem Maße vor allem persische Kaufleute dieses Medium bestimmten, wird an den oben gezeigten Beispielen von der "Islamischen Handelsgesellschaft" und dem Eisenbahnprojekt des Amin oz-Zarb deutlich. Herausgeber, Mitarbeiter und Leser aus dem kaufmännischen Milieu räumten Handel und Infrastruktur einen bedeutenden Rang für die Entstehung von Zivilisation und für den Fortschritt ein. Gleichzeitig waren sie sich sowohl aus eigener Erfahrung als auch durch die Beobachtung der Vorgänge in anderen Ländern Asiens, Afrikas und Lateinamerikas - wie ζ. B. Indien - bewußt, daß nur gleichberechtigte Wirtschaftsbeziehungen für ihr Land von Nutzen sein konnten, dessen Degradierung zum reinen Rohstofflieferanten unbedingt verhindert werden mußte. Die Instrumentierung der Presse durch die Kaufleute, die sie auch zu einem Sprachrohr ihrer eigenen ständischen Interessen und der Sorge um die Entwicklung Irans und der islamischen Welt überhaupt machten, war ein entscheidender Schritt ihrer Selbstbehauptung ebenso wie zur Artikulation ihres Selbstbewußtseins angesichts der Herausforderungen des modernen technischen Zeitalters. Ein wesentliches Ergebnis der Analyse dieser persisch geführten innermuslimischen Modernisierungsdiskussion ist die Tatsache, daß die sich daran beteiligenden Zeitungsmitarbeiter und ihre Leser die Initiative nicht allein dem Staat überlassen wollten und konnten, sondern daß sie sich selbst und ihresgleichen genauso in die Verantwortung nahmen. In dieser Hinsicht unter-

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scheiden sich diese Diskutanten tatsächlich erheblich von den prominenten reformorientierten Staatsmännern ihrer Zeit, die die konstatierte "Rückständigkeit" Irans in erster Linie durch Reformen "von oben" beheben wollten. Zusätzlich zu ihren traditionellen Funktionen als Wohltäter, Stifter und Spender für Bildungs- und Wohlfahrtseinrichtungen wurden die persischen Kaufleute in Bereichen aktiv, die gemeinhin der Moderne zugerechnet werden: So engagierten sie sich u. a. als Herausgeber, Mitarbeiter, Vertreter, Gewährsmänner und Leserbriefschreiber im Zeitungswesen. Außerdem forderten sie nicht nur Eigeninitiative in Handel und Infrastruktur, sondern nahmen die Angelegenheiten - wie anhand der hier angeführten Beispiele gezeigt werden konnte gelegentlich in die eigenen Hände, anstatt geduldig (und meist vergeblich) darauf zu warten, bis der Staat die von ihm erwarteten Aufgaben erfüllte. Aus der Schwäche der Zentralmacht in Iran einerseits und der herausragenden Position und Funktion der dort und im Ausland tätigen muslimischen Kaufleute andererseits ergab sich die Besonderheit dieses gleichsam "von unten" geführten persischsprachigen Diskurses, zu dem auch die aktive Umsetzung einiger der darin geäußerten Forderungen gehörte. Bibliographie Adas, Michael, Machines as the Measure of Men. Science, Technology and Ideologies of Western Dominance, Ithaca/New York/London 1989 Ashraf, Ahmad/H. Hekmat, „Merchants and Artisans and the Development Process of Nineteenth Century Iran, in: A.L. Udivitch, (Hg.), The Islamic Middle East 700-1900 (Studies in the Economic and Social History), Princeton 1981, S. 725-50 Abrahamian, Ervand, „The Causes of the Constitutional Revolution in Iran", in: International Journal of Middle East Studies (IJMES) 10 (1979), S. 381-414 Bakhash, Shaul, Iran - Monarchy, Bureaucracy and Reform under the Qajars, 1858-1896, London 1978 Encyclopedia Iranica, mehrbdg., London/New York 1987ff. Eisenstadt, Samuel N., Tradition, Wandel und Modernität, Frankfurt a.M. 1979 Floor, Willem, Traditional Crafts and Modern Industry in Qajar Iran, in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 141 (1991), S. 317-352 Floor, Willem, „The Custums in Qajar Iran", in: Zeitschrift der Deutschen Morgenländischen Gesellschaft (ZDMG) 126 (1976), S. 281-311 Foran, John, Fragile Resistance. Social Transformation in Iran from 1500 to the Revolution, Boulder/Oxford 1993 Gad, Gilbar, „The Opening Up of Qajar Iran: Some Economic and Social Aspects", in: Bulletin of the School of Oriental and African Studies (BSOAS) 49 (1986), S. 76-89 Galbraith, John S., „British Policy on Railways in Persia, 1870-1900", in: Middle Eastern Studies (MES) 25 (1989), S. 480-505 Hodgson, Marshall G.S., Rethinking World History. Essays on Europe, Islam and World History, Edmund Burke (Hg.), Cambridge Ma., 1993 Hodgson, Marshall G.S., The Venture of Islam, 3 Bde., Chicago 1974 Issawi, Charles, The Economic History of Iran, 1800-1914, Chicago/London 1971 Issawi, Charles, „European Economic Penetration, 1872-1921", in: Peter Avery/Gavin Hambly/ Charles Melville (Hg.), The Cambridge History of Iran, Cambridge 1991, S. 590-607

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Clubs, Schulen und Presse: Formen und Inhalte des hadramischen Reformdiskurses in Südostasien und im Südjemen (c. 1900-1930)1 Ulrike Freitag Einleitung Die Geschichte des Hadramaut im südlichen Jemen muß im Kontext der Geschichte des Indischen Ozeans gesehen werden, in dessen Randgebieten sich Hadramis - darin vergleichbar einer großen Gruppe anderer Diasporas, die ebenfalls Teil der von den Monsunwinden abhängigen Handelsnetzwerke waren - über die Jahrhunderte angesiedelt hatten. Dort gingen sie einer Vielzahl von Beschäftigungen nach. Während sich viele dieser Emigranten als Hafenarbeiter, Händler, Söldner und Gelehrte im Laufe der Jahrhunderte vollkommen in die Gastgesellschaften integrierten, bewahrten andere ihre (Teil-)Identität als Araber und standen in Kontakt mit ihrer Heimat und hadramischen Gruppen in anderen Teilen der Diaspora. 2 Im Zusammenhang mit den Reformprozessen des 19. und 20. Jahrhunderts bedeutete diese Einbindung in die weitere Welt des Indischen Ozeans, daß Hadramis nicht nur in Kontakt mit europäischer Kolonialherrschaft in Indien, Südostasien, Ostafrika und endlich im Hadramaut selbst kamen, sondern auch die Entwicklungen in ihren Gastgesellschaften und innerhalb anderer Diasporen verfolgten und deren Erfahrungen nutzen konnten. Ferner waren ihre 'ulama (Korangelehrten) in das pan-islamische Gelehrtennetzwerk eingebunden. Die häufigen Reisen waren gerade in einer ansonsten eher geschlossenen und konservativen Gesellschaft ein wichtiger Weg, neue Ideen kennenzulernen, zu diskutieren und gegebenenfalls in der Diasporasituation zu erproben. 3 Die folgende Diskussion, in der es um die Frage nach den

Die Forschung für dieses Projekt im Jemen und in Südostasien wurde von der Deutschen Forschungsgemeinschaft finanziert. Den Teilnehmern des DFG Kolloquiums über die Transformation der europäischen Expansion und insbesondere Prof. Rothermund danke ich für ihre Kommentare zum ersten Entwurf dieses Beitrags. Ferner danke ich Gerhard Dannemann, Christoph Herzog und Guido Steinberg für ihre Korrekturvorschläge. Einen Überblick über die jüngere Geschichte der hadramischen Diaspora geben die Beiträge in U. Freitag/W.G. Clarence-Smith, Hadhrami Traders, Scholars, and Statesmen in the Indian Ocean, 1750s-1960s, Leiden 1997. Zur Rolle von Reisen für die Transmission von Innovationen vgl. R. E. Park, "Human Migration and the Marginal Man", The American Journal of Sociology 33.6 (1928), S. 881-893, J. ClancySmith, Between Cairo and the Algerian Kabylia: the Rahmaniyya tariqa, 1715-1800, in: D. Eickelman/J. Piscatori, Social Theory in the Study of Muslim Societies, Muslim Travellers, Pilgrimage, Migration, and the Religious Imagination, Berkeley/Los Angeles 1990, S. 200-216 und P. Gran, Islamic Roots of Capitalism, Egypt, 1760-1840, Austin/London 1979, S. 102,109.

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Übertragungswegen von Reformideen sowie um deren Formen geht, beschränkt sich auf die Interaktion zwischen Südarabien und Südostasien, wo sich eine große und wohlhabende hadramische Händlergemeinschaft etabliert hatte, die überwiegend aus dem Inneren des Wadi Hadramaut stammte. Ohne die Einflüsse Indiens gerade auf die hadramische Küste sowie auf die Staatsbildungsprozesse im 19. Jahrhundert herunterspielen zu wollen,4 hat es den Anschein, daß für die im folgenden behandelten Themen die südostasiatischen Kontakte wichtiger waren. Zwei Beispiele sollen im folgenden genügen, um das soziale und kulturelle Milieu zu illustrieren, in dem die Reformbewegung des späten 19. und frühen 20. Jahrhunderts entstand. Untersucht man die Geschichte einzelner Schulen, Zeitschriften, Vereinigungen oder auch anderer Reforminitiativen, so stößt man immer wieder auf Lebensläufe, die den beiden folgenden in wichtigen Aspekten ähneln. 'Abdallah b. 'Alawi b. 'Abdallah al-'Attas in Batavia, dem heutigen Jakarta, war der Sohn eines wohlhabenden Händlers, der einer der bekanntesten hadramischen Sayyidfamilien entstammte. 5 Sein Vater verkaufte australische Pferde nach China und vertrat die Interessen der arabischen Einwanderer gegenüber den niederländischen Kolonialbehörden mit Nachdruck. 'Abdallah übernahm das Geschäft seines Vaters und unternahm dafür Reisen nach China und Singapur, wo er, ebenso wie in Batavia, Ehen einging.6 Obwohl 'Abdallah al-'Attas selbst nur eine rudimentäre (Koranschulen-) Bildung genossen hatte, verfolgte er weitreichende politische und kulturelle Interessen. Während einer Reise nach Kairo traf er die bekannten Protagonisten des islamischen Modernismus, Jamal al-Din al-Afghani und Muhammad 'Abdallah. al-'Attas unterhielt, was man einen Salon nennen könnte, wo häufig musikalische und tänzerische Vorstellungen gegeben wurden. Er nahm ferner regen Anteil an den - wegen des islamischen Bilderverbotes nicht unproblematischen - bildenden Künsten. Seine Söhne studierten in der Türkei, Belgien, Ägypten und Jidda, während eine australische Hauslehrerin den Töchtern Singen und Klavierspiel beibrachte. Über diese eher privaten Interessen hinaus nahm al-Attas auch regen Anteil an der Entwicklung gesellschaftlicher Institutionen. In Batavia gründete er eine kleine (Koran) Schule (al-madrasa al-'attasiyya), für die er einen tunesischen Lehrer engagierte und die 1915 bereits einen bemerkenswert hohen Mädchen-

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Dazu F. Hartwig, Hadramaut und das indische Fürstentum von Hyderabad. Hadramitische Sultanatsgründungen und Migration im 19. Jahrhundert, unveröffentl. Diss. Phil., Bamberg 1997. Sayyids erheben den Anspruch, vom Propheten Muhammad abzustammen, und leiteten daraus im Hadramaut gewisse soziale Privilegien und religiöse Führungsansprüche ab. Genaue Lebensdaten liegen mir leider nicht vor. Die biographischen Angaben stammen überwiegend aus Gesprächen mit seinen Nachfahren in Jakarta, geführt im Frühjahr 1997. Seine reformerischen Aktivitäten sind teilweise dokumentiert in Ά . al-Mashhur, Shams al-zahira, Bd. 1, Jidda 1984, S. 267f.

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anteil aufwies. 7 Ab 1920 editierte derselbe Tunesier, der zwischenzeitlich an eine neue Schule gewechselt war und als Begründer der ersten Pfadfinderorganisation Indonesiens gilt, eine von al-'Attas finanzierte Zeitung. 8 Als sich die reformerisch orientierte hadramische Gemeinschaft in Indonesien 1914 zerstritt, fiel al-'Attas dadurch auf, daß er die bildungspolitischen Anstrengungen beider Seiten förderte. Zu seinen weiteren Aktivitäten gehörte die Unterstützung der islamischen Handelsorganisation Sarekat Islam (1912) und der Muhammadiyya, einer islamischen Organisation modernistischen Zuschnitts, die ebenfalls Schulen gründete. Sein Lebensstil sowie die Kombination privater und gesellschaftlicher Investitionen weisen 'Abdallah al-'Attas als einen Vertreter des "practical enlightenment" 9 aus, der in ähnlicher Weise wie europäische Kaufleute und Unternehmer eine Verpflichtung zum Einsatz für das Gemeinwohl verspürte.10 Es erscheint gar nicht so abwegig, die folgende Aussage über Johann Friedrich Cotta (1746-1832), den Herausgeber der Cotta' sehen Allgemeinen Zeitung, auch im Hinblick auf al-'Attas zu lesen: „Der Verleger stand mit allen bedeutenden Zeitgenossen in Verbindung, den Olympiern des Geistes e b e n s o w i e den politischen Machthabern. Er selbst war jedoch kein konzeptioneller Denker. Ganz der vita activa zugehörig, brachte er fast nichts von seinen Bestrebungen und Antrieben zu Papier [...]. 'Das war ein Mann, der hatte die Hand über die ganze Welt' [...].""

Während 'Abdallah al-'Attas eher als Mäzen der "hadramischen Renaissance" denn als ihr Vordenker gelten kann, verkörpert Muhammad Bin 'Aqil b. Yahya ( 1863-1931 ) den Typus des reisenden Gelehrten und Intellektuellen. Durchaus typisch für diese Gruppe war es, daß Bin 'Aqil neben seinen geistigen Interessen auch ein Handelsunternehmen betrieb. Seine kommerziellen und intellektuellen Kontakte reichten von China und Japan nach Indien, in die arabisch-osmanische Welt und nach Europa, wo er 1900 die Weltausstellung in Paris besuchte und mit Orientalisten diskutierte.12 Als Reformer tat er sich

20 der 90 Schüler waren Mädchen, unüblich in einer Gesellschaft, die oft schon vor der Pubertät auf Geschlechtertrennung bestand. al-Bashir 22 (15.4.1915), S. 11. N. Mobini-Kesheh, „The Arab Periodicals of the Netherlands East Indies, 1914-1942", in: Bijdragen tot de Taal-, Land- en Volkenkunde 152 (1996), S. 236-256, hier S. 249. C f. Deliar Noer, ^ The Modernist Movement in Indonesia 1900-1942, Singapur 1973, S. 59. David Hancock, Citizens of the World, Cambridge etc. 1995, S. 396. Rolf Straubel, Kaufleute und Manufakturunternehmer, Stuttgart 1995, S. 431. Für eine systematischere Behandlung der konzeptionellen Aspekte vgl. mein "Hadhrami Merchants in Singapore Attempt at a Collective Biography" in: H. de Jonge/N. Kaptein, Arabs in South-East Asia, Leiden ! I (in Vorbereitung). Günter Müchler, „ Wie ein treuer Spiegel". Die Geschichte der Cotta sehen Allgemeinen Zeitung, Darmstadt 1998, S. 5. Zu Muhammad Bin 'Aqil b. Yahya vgl. Muriel Brunswig, Zwischen Hadramaut und Südostasien. Muhammad ibn 'Aqil (gest. 1931 ) - Leben, Werk und Wirkung, unveröffentlichte Magisterarbeit,

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vor allem in Singapur hervor, wo er einer der Mitbegründer der von Singapurer Kaufleuten finanzierten arabischen Reformzeitungen al-Imam und al-Islah war. Ferner begründete er eine islamische Vereinigung sowie eine Schule in Singapur. Bin 'Aqil war auch ein passionierter und kontroverser Politiker und Intrigant und wurde als potentieller Unruhestifter von den Briten aus Mukalla im Hadramaut ausgewiesen, auch wenn er zuvor während des Ersten Weltkrieges als ihr Informant über die arabische Gemeinschaft in Singapur tätig war.13 Muhammad Bin 'Aqils Biographie ist auch insofern interessant, als sie Aspekte des älteren Typus des reisenden und Handel treibenden Gelehrten, der über eine klassische islamische Ausbildung verfügte, mit denen des neueren Intellektuellen verbindet. Letzterer zeichnete sich formal oft dadurch aus, daß er eine aus traditioneller Sicht unvollständige bzw. nicht ausschließlich religiöse Bildung durchlaufen hatte oder aber - und dies gilt gerade für die Übergangszeit häufig - daß er aufgrund seiner Überzeugungen oder auch seines Berufswegs von den Gelehrten nicht als ihresgleichen anerkannt wurde.14 Sie stellten zumindest längerfristig "die tradierte Selbstverständlichkeit der Gelehrten in Frage",15 nicht zuletzt, indem sie sich schwerpunktartig anderen Wissensbereichen und insbesondere Fragen der sozialen Ordnung zuwandten. Es ist insofern auch nicht überraschend, daß Intellektuelle wie Bin'Aqil oft Laufbahnen als Journalisten, Lehrer oder Regierungsberater einschlugen, häufig in finanzieller Abhängigkeit von Mäzenen wie al-'Attas, die früher möglicherweise eher als Sponsoren traditioneller Gelehrsamkeit etwa durch die Einrichtung von Koranschulen - aufgetreten wären. Beispiele für diesen neueren Typus des Intellektuellen sind Muhammad Bin Hashim, Journalist, Lehrer, Historiker und Angestellter im Staatsdienst in Hadramaut, Java und Sumatra oder auch 'Ali Ahmad Ba Kathir, der später in Ägypten als Schriftsteller Karriere machte.16 Die Arbeiten wurden von Abu Bakr b. Shaykh al-Kaf gefördert, dessen Bedeutung im Hinblick auf die Reformen im Hadramaut derjenigen von al-'Attas in Südostasien vergleichbar ist.

Freiburg 1998 und M. A. Shahab, Abu al-Murtada Bin Shihab, Qom 1314 h.s. (1997), S. 77-89 u. passim. Shahab, Abu al-Murtada, S. 79 u. M. R. Othman, Arab political activities and colonial reactions in Malaya before World War 11, paper presented at the Workshop "The Arabs in South-East Asia (1870-C.1990)", Leiden, 8-12. December 1997, S. 11. Zu den Hintergründen U. Freitag, „Hadhramis in International Politics c. 1750-1967", in: Freitag/Clarence-Smith, Hadhrami Traders, Scholars and Statesmen in the Indian Ocean, 1750s-1960s, Leiden 1997, S. 112-130, hierS. 122-124. ]

Hierzu R. Schulze, Islamischer Internationalismus im 20. Jahrhundert, Leiden 1990, S. 27-46. Ebd., S. 34. al-Mashhur, Shams, Bd. 2, S. 593-597 zu Bin Hashim, zu Ba Kathir s. U. Freitag, „Dying of Enforced Spinsterhood: Hadramawt through the Eyes of Ali Ahmad Ba Kathir (1910-69)", in: Die Welt des Islams 37.1 (1997), S. 2-27 mit weiteren Literaturangaben.

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Die folgende Diskussion bestimmter organisatorischer Formen der modernen Öffentlichkeit beschränkt sich auf Prozesse, die im wesentlichen von "Nicht-Gelehrten" 17 beziehungsweise Intellektuellen getragen wurden. Dies bedeutet allerdings nicht, daß sich die Aneignung der Moderne zwangsläufig auf den diskutierten Zeitraum beschränkt. Vielmehr gibt es Hinweise darauf, daß schon im späten 18. und frühen 19. Jahrhundert insbesondere unter den mystisch orientierten Gelehrten möglicherweise neuartige Formen des politischen und sozialen Engagements zu beobachten sind, die allerdings bisher nicht ausreichend untersucht wurden und deren intellektueller Zusammenhang mit den hier skizzierten Prozessen deshalb nicht schlüssig nachgewiesen werden kann. 18 Mit "Moderne" werden hier - ähnlich wie im europäischen Kontext - die Betonung von aufklärerischen Vorstellungen wie Subjektivität, Anthropozentrismus, Originalität und Emanzipation verstanden.' 9 Diese waren eng mit der Vorstellung einer universellen Zivilisation verbunden, die als Zielvorstellung durch beständige Selbstverbesserung erreicht werden konnte. Bücher wie Samuel Smiles "Self-Help" ( 1859), das an beispielhaften Biographien den Wert harter Arbeit zur Erreichung der erstrebten "Verbesserung" darlegte und das von Ägypten bis Japan außerordentlich einflußreich war, spielten eine entscheidende Rolle bei der Popularisierung solcher Vorstellungen. 20 Im Arabischen wurden solche Vorstellungen mit dem aus der Mystik stammenden Terminus "tahdhib" umschrieben, der usprünglich die spirituelle Disziplin des Sufiadepten beschrieb. Dieser Begriff wurde von den Reformern erweitert zu "tahdhib al-akhlaq" (etwa Verbesserung des Charakters). 21 Mit der noch weiterreichenden "Verbesserung des hadramischen Volkes" (tahdhib al-sha'b alhadrami) propagierte 'Ali Ahmad Β a Kathir in seiner Reformzeitschrift "alTahdhib" von 1930 eindeutig jene Tugenden, die er nicht nur als Basis einer neuen religiösen Moral sah, sondern auch als Grundstein für eine wirtschaftlich und politisch erfolgreiche Nation. Ein entscheidender Eckstein des "tahdhib" war der gezielte Einsatz rationalen Denkens zur Lösung aktueller Probleme wie auch zum "richtigen" Verständnis der Religion. Im frühen 20. Jahrhundert fand die Reformbewegung vor allem in drei Organisationsformen ihren Niederschlag, die Ausdruck einer neuen Form der 17 l9

Schulze, Islamischer Internationalismus, S. 27. Hartwig, S. 71-78, 263-266. Zum Begriff der Moderne vgl. J. Habermas, Der philosophische Diskurs der Moderne, (2. Aufl.) Frankfurt 1989, S. 10-27 u. D. Frisby," Georg Simmeis Theorie der Moderne", in: H.-J. Dahme/ O. Rammstedt, Georg Simmel und die Moderne, Frankfurt 1984, S. 9-79. Vgl. T. Mitchell, Colonising Egypt, Kairo 1989, S. 108-110, D. Chakrabarty, „The DifferenceDeferral of a Colonial Modernity: Public Debates on Domesticity in British Bengal", in: D. Arnold/D. Hardiman, Subaltern Studies VIII, Delhi u.a.1994, S. 50-88, hier S. 55, und The Autobiography ofJurji Zaidan, Thomas Philipp (Hg. und Übers.), Washington 1990. H. Bin Shihab, Nihlat al-watan, Singapur 1323 (1904-5), S. 14, al-Tahdhib, rep. Kairo 1961, S. 3.

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Öffentlichkeit waren, nämlich in Vereinigungen, Schulen und in der Presse. Damit soll nicht ausgeschlossen werden, daß es unter Hadramis - wie es auch schon für andere Regionen gezeigt worden ist22 - nicht schon vorher Ansätze gab, neue Dimensionen von Öffentlichkeit im Rahmen der Aktivitäten der Sufibruderschaft der Tariqa Alawiyya zu schaffen. Die erwähnten drei neuen Formen der Öffentlichkeit im 20. Jahrhundert sind in mehrerlei Hinsicht europäischen Modellen vergleichbar, die den hadramischen Reformern durch das Leben in kolonial beherrschten Ländern und durch ihre Reisen ebenso vertraut waren wie die Adaptationen und Variationen dieser Institutionen durch Osmanen, Bengalen und Chinesen. 23 Neue Kommunikationsformen außerhalb des religiösen und politischen Establishments sowie der überkommenen sozialen Hierarchien boten dem autonomen Individuum die Gelegenheit, mit seinesgleichen in einem neuen sozialen und kulturellen Raum zu kommunizieren. Allerdings darf man sich den Bruch mit alten Hierarchien und Wertvorstellungen nicht so radikal vorstellen, wie es eine solche schematisierte Darstellung vermuten läßt: Die neue Öffentlichkeit entstand sehr allmählich, sie wies sehr unterschiedliche Tendenzen auf und viele der daran Beteiligten würden sich gegen eine solche Polarisierung verwahrt haben.24 Parallelen mit Entwicklungen in Europa bestanden auch im Hinblick auf die "eigentümliche Interaktionsstruktur zwischen dem herrschenden Bürgertum und den kritisierenden Intellektuellen", welche "eine strukturelle Chance für kulturelle Innovation und d.h. zunächst immer für abweichendes Verhalten" eröffnete. 25 Allerdings erscheint es sinnvoll, trotz derartiger struktureller Ähnlichkeiten auch die spezifischen Inhalte dieser hadramischen Moderne zu betrachten. Nur so läßt sich die Reduktion eines äußerst vielgestaltigen Phänomens vermeiden, vor der u.a. Chakrabarty gewarnt hat.26

22 N. Levtzion, „Eighteenth Century Sufi Brotherhoods," in: P. Riddell/T. Street, Islam: Essays on Scripture, Thought and Society, Leiden u.a. 1997, S. 147-160, hier S. 154-160. F. Müge-Göcek, Rise of the Bourgeoisie, Oxford u.a. 1996, S. 125-140, Chakrabarty, S. 69, N. Mobini-Kesheh, The Hadrami Awakening: Community and Identity in the Netherlands East „„ Indies, 1900-1942, unveröffentl. Diss. Phil., Monash 1996, S. 42. 24 Hierzu finde ich die Beobachtungen von R. Loimeier/S. Reichmuth, „Zur Dynamik religiöspolitischer Netzwerke in muslimischen Gesellschaften", in: Die Welt des Islams 36.2 (1996), S. 145-185, v.a. S. 159-168 hilfreich, die sich gegen die Polarisierung verschiedener kultureller Sphären wenden. M. R. Lepsius, „Zur Soziologie des Bürgertums und der Bürgerlichkeit", in: J. Kocka (Hg.), Bürger und Bürgerlichkeit im 19. Jahrhundert, Göttingen 1987, S. 79-100, Zitat S. 98. 26 Chakrabarty, The Difference-Deferral, S. 88, R. Schulze, Geschichte der islamischen Welt im 20. Jahrhundert, München 1994, S. 17, spricht in diesem Zusammenhang von der "Vielsprachigkeit" der Moderne.

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Vereinigungen

Schon im ausgehenden 19. Jahrhundert hatten sich Hadramis in der südostasiatischen Diaspora bemüht, das Bildungswesen im Hadramaut zu verbessern. Beispielsweise hatten sie in eine neuartige religiöse Schule, das ribat (religiöses Internat) in Tarim investiert. Anfang des 20. Jahrhunderts beschloß eine Gruppe von erfolgreichen Unternehmern und Händlern, darunter Angehörige der Familien Bin Shihab, al-Mashhur, al-Manqush und Balwa'il, auch in Südostasien auf dem Gebiet der Bildung aktiv zu werden. Ihre "Wohlfahrtsgesellschaft" (Jam'iyyatal-Khair), welche Statuten, Mitgliederversammlung, gewählten Vorstand und alle sonstigen Merkmale eines holländischen Vereins aufwies, wurde 1905 von der holländischen Kolonialregierung formal registriert. Es gibt vielfältige Hinweise darauf, daß die Gründung von Jam'iyyat alKhair durch die Aktivitäten der 1900 gegründeten Batavia Chinese Association (Tiong Hoa H we Koan - Batavia) angeregt worden war.27 Die konfuzianische Erneuerungsbewegung hatte Singapur und Malaya 1899 erreicht und die chinesische Vereinigung in Batavia verfolgte - ebenso wie kurz darauf Jam'iyyat alKhair - das Ziel, einen neuen Typus von Schulen zu gründen. Diese führten neue Fächer wie beispielsweise Englisch, Mathematik und Geographie ein. Ferner legten sie viel Wert auf das Erlernen des Chinesischen mit dem Ziel, den Schülern das individuelle Verständnis klassischer konfuzianischer Texte zu ermöglichen. Letzteres ist ein wichtiger Teilaspekt, wenn es um Individuationsprozesse - durchaus auch im religiösen Bereich - geht, und zeigt durchaus gewisse Parallelen mit der Entwicklung der individualistisch-subjektiven Frömmigkeit des europäischen Pietismus.28 Der Singapurer Arab Club hingegen, der etwas gleichzeitig enstand, scheint in direkter Anlehnung an britische Vorbilder als eine vorrangig soziale Einrichtung ohne weitergehende Zielsetzungen gegründet worden zu sein.29 Er bot den Singapurer hadramischen "gentlemen" einen Treffpunkt, wo sie die Geschicke ihrer Heimat und der Diaspora, die neuesten Wirtschaftsnachrichten ebenso wie islamische Themen erörtern konnten. Auch wenn dieser Club nicht 27

Mobini-Kesheh, The Hadrami Awakening, S. 43. Zur Geschichte der Vereinigung s.a. al2g Mashhur, Shams, S. 166f. Zur Frage des Pietismus s Α. Hofheinz, Illumination and Enlightenment Revisited, Lecture given in partial fulfilment of the requirements for the degree of doctor philosophiae, Univ. of Bergen, 19.9.1996, S. 11-14 und R. S. O'Fahey, „Pietism, Fundamentalism and Mysticism, an alternative view of the 18th and 19th century islamic world", in: Geir Atle Ersland/Edgar Hovland/Stale Dyrvik (Hg.), Festskrift til Historisk instituas 40-ars jubileum ¡997. Historisk institutt 2 9 Universitetet i Bergen Skrifter 2, Bergen 1997, S. 151-166. W. Roff, „Murder as an aid to social history: the Arabs in Singapore in the early twentieth century", in: de Jonge/Kaptein, Arabs in South-East Asia und A. Wright (Hg.), Twentieth Century Impressions of British Malaya: Its History, People, Commerce, Industries and Resources. London u.a. 1908, S. 217.

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ebenso eindeutig wie derjenige in Batavia als Katalysator für weitere Entwicklungen wirkte, so ist doch erwähnenswert, daß in ihm auch Gelehrte wie Bin 'Aqil verkehrten und zumindest nachvollziehbare personelle Verbindungen mit der Presse- und Schulbewegung bestanden. Auch im Hadramaut selbst entstanden neue Formen der Assoziation, die teilweise an lokale Traditionen - insbesondere an Stadtviertelorganisationen und Familienvereinigungen 30 - anknüpfen konnten, aber wohl auch von den Erfahrungen in Südostasien beeinflußt wurden. Ungefähr 1907 kamen eine Reihe vermutlich jüngerer Sayyids in Seyun zusammen und gründeten eine Vereinigung. Ihr Ziel war, "die Ansichten der Elite bekannt zu machen und sie abzuwägen", um Zivilisation ('umran) zu erreichen und die weltlichen Gegebenheiten zu reformieren (islah amr al-'alam), sowie um Sicherheit, Frieden und Gerechtigkeit zu etablieren.31 Als Motivation gab der daran beteiligte Gelehrte 'Abd al-Rahman b. 'Ubaidillah al-Saqqaf an, daß die Mitglieder über das bisherige Ausbleiben von Reformen enttäuscht waren und sich deshalb nun selbst aktiv dem "tahdhib al-akhlaq" (Verbesserung des Charakters - hier eindeutig auch im politischen Sinne) ihrer Landsleute verschrieben. Umfangreiche, aus dem Koran abgeleitete Erklärungen dienten dazu, das Unternehmen theologisch abzusichern. Auch wenn wir wenig über den Ausgang dieser Aktion wissen, gibt es Hinweise, daß etwa gleichzeitig eine ganze Reihe vergleichbarer Gruppierungen in anderen Orten des Hadramaut ins Leben gerufen wurden.32 Die kleinen Gruppen reformfreudiger Hadramis standen in engem Kontakt. al-Saqqaf, Mitglied der Seyuner Gruppe, reiste beispielsweise 1911/12 nach Südostasien. In Palembang hielt er vor Gleichgesinnten eine Rede, in der er die Rückständigkeit des Vaterlandes (ta'akhkhur al-watan) beklagte, forderte, daß sich alle Stimmen im Aufruf zum Fortschritt vereinigen sollten (al-taqaddum bi-kull lisan) und schlug vor, eine "Partei des Erwachens und der Korrektur" 33 zu gründen. Diese sollte das Vaterland stärken, nicht zuletzt durch verstärkte Bildungsarbeit und die Durchsetzung der (richtig verstandenen) shari'a.34 Obwohl zu diesem verhältnismäßig frühen Zeitpunkt die Reformbewegung noch nicht über Fragen des Heiligenkults und durch Geburt vermittelten Privilegien

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W. Dostal, Handwerker und Handwerkstechniken in Tarim (Südarabien, Hadramaut), Göttingen 1972, S. 16, 'Ali Husain al-'Attas, Taj al-a'ras, vol. 1, Kudus 1979, S. 228 u. A. Bujra, The Politics of Stratification, Oxford 1971, S. 19. Im folgenden nach 'Abd al-Rahman b. 'Ubaidillah al-Saqqaf, Bada'i al-Tabut, Bd. 3 (Manuskript), Zitate S. 133 u. ders., Diwan, Jidda (1375?), S. 220. A. al-Sabban, 'Adat wa-taqalid bi-l-Ahqaf, Bd. 2 (Manuskript), S. 262. Wörtl.: Hizb al-nuhud wa-l-i'tidal, wobei letzteres mit "in Ordnung bringen", "gerade richten" Ubersetzt werden könnte. al-Saqqaf, BadaΊ, Bd. 3, S. 135 u. Diwan, S. 290f.

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zerstritten war,35 scheint der Vorschlag zur Gründung einer Vereinigung, deren Ziele der "Bruderschaft und Freundschaft" kaum offenkundig subversiv erscheinen, auf heftige Kritik gestoßen zu sein. Für diese Opposition, die durchaus typisch ist für die frühe Reformbewegung, gibt es eine Vielzahl von Gründen. Der wichtigste scheint zu sein, daß gerade aufgrund ihres neuartigen Charakters diese Vereinigungen von den etablierten sozialen Kräften als eine Herausforderung wahrgenommen wurden, die es zu bekämpfen galt. Dies zeigt sich auch bei den kritischen Reaktionen auf die Umsetzung der Reformideen, beispielsweise im Schulwesen. Schulen Die erste neuartige Schule des Hadramaut war, wie bereits erwähnt, das ribat von Tarim, das 1887 mit Spenden aus Singapur und Indonesien gegründet wurde.36 Es revolutionierte den Stil des Unterrichts durch die Festlegung eines verbindlichen Curriculum und die Einrichtung von Klassen, ebenso wie die Modifikation des Fächerkanons, der erstmalig auf die Ausbildung künftiger islamischer Richter und Prediger ausgelegt war. Allerdings stellte das ribat nicht die ausschließlich religiöse Ausrichtung des Bildungswesens in Frage, im Gegensatz zu einer früheren Initiative, die naturwissenschaftlichen Unterricht im Hadramaut hatte einführen wollen.37 Auch die folgenden Innovationen im Schulwesen nahmen ihren Ursprung in Südostasien. Die bereits erwähnte Jam'iyyat al-Khair in Batavia gründete die erste Schule, die sich von den bisher existierenden arabischen Koranschulen in Indonesien deutlich unterschied. Nötig wurde dies, weil der koloniale Staat zwar Schulen für europäische, indonesische und chinesische Kinder unterhielt, Hadramis jedoch regelmäßig aufgrund ihrer Herkunft ausschloß. Umgekehrt waren auch nur wenige Hadramis bereit, um die Aufnahme in europäische Schulen zu kämpfen, da sie unislamische, und möglicherweise missionarische Einflüsse befürchteten. 38 35

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^ 3g

Dies ist der Ursprung des sogenannten Alawi-Irshadi Konflikts, dazu A. Knysh, „The Cult of Saints and Religious Reformism in Hadhramaut", in: Freitag/Clarence-Smith, Hadhrami Traders, S. 199-216 und J. Kostiner, „The Impact of the Hadhrami Emigrants in the East Indies on Islamic Modernism and Social Change in the Hadhramawt during the Twentieth Century", in: R. Israeli/A. Johns (Hg.), Islam in Asia, Bd. 2: Southeast and East Asia, Jerusalem 1984, S. 206237 mit weiterer Literatur. Dazu 'Abdallah b. Hasan Balfaqih, Tadhkirat al-bahith al-mukhtat fi shu'un al-ribat, Tarim, o.D. (1378 h./1958) und Ulrike Freitag, Hadhramaut: a Religious Centre for the Western Indian Ocean in the late 19th/early 20th century (in Vorbereitung). L.W.C, van den Berg, Le Hadhramaout et les Colonies Arabes dans l'archipel indien, Batavia 1886, S. 96. Hierzu im Detail Mobini-Kesheh, The Hadrami Awakening, S. 103f. Zur holländischen Politik gegenüber den Arabern, s.a. S. Mandai, Finding their Place: A History of Arabs in Java Under

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Die neuen Schulen unterschieden sich von den Koranschulen am deutlichsten in ihrer Form, mit der bereits ansatzweise im ribat experimentiert worden war: sie unterteilten die Schüler in Klassen, setzten sie an Tische und benutzten illustrierte Schulbücher. Neu waren in der Schule der Jam'iyyat al-Khair und ihren Nachfolgern jedoch auch eine Reihe der Fächer: Zusätzlich zu dem nach wie vor umfangreichen Religions- und Arabischunterricht lernten die Kinder nun auch Arithmetik, Geographie, islamische Geschichte und Englisch. Zudem wurde meistens auf Malay unterrichtet, was den Kindern, deren Mütter in aller Regel Indonesierinnen waren, leichter fiel als Arabisch.39 Als 1911 eine Reihe von modernistisch beeinflußten Lehrern aus Nordafrika, die im Hijaz studiert hatten, aber mit dem Reformdiskurs aus Kairo vertraut waren,40 eingestellt wurden, änderten sie auch den Religionsunterricht: Anstelle des vorherigen Auswendiglernens legten sie Wert darauf, daß ihre Schüler die Inhalte verstanden und auch etablierte Lehrbücher kritisch lasen. Auch wenn dies nur eine logische Weiterentwicklung früherer Alphabetisierungsbemühungen zu sein schien, so empfanden es doch viele Religionsgelehrte als eine Herausforderung ihrer Autorität, und damit als Bedrohung.41 In den Schulen der Jam'iyyat al-Islah wa-l-Irshad, der Vereinigung für Reform und Rechtleitung, die sich von der Jam'iyyat al-Khair abspaltete, wurde noch einen Schritt weiter gegangen. Die dortigen Lehrer legten Wert darauf, daß ihre Schüler Selbstvertrauen entwickelten, und sie wollten einen jungen Muslim (und später auch junge Muslimas) heranbilden "free and independent in thought and vision, relying upon God, then upon himself, hoping for reward and fearing punishment". 42 In einer Gesellschaft, in der die Kinder traditioneller sayyid-Familien bis in den 1940er nur Sandalen tragen durften, wie sie der Prophet Muhammad angeblich getragen hatte, und nur religiöse

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Dutch Rule, 1800-1924, unveröffentl. Diss. Phil., Columbia 1994 und H. de Jonge, „Dutch Colonial Policy Pertaining to Hadhrami Immigrants", in: Freitag/Clarence-Smith, Hadhrami Traders, S. 94-111. Mobini-Kesheh, The Hadrami Awakening, S. 44. Eine gründliche Studie des Gelehrtenwesens im Hijaz im 19. und frühen 20. Jahrhundert steht leider noch aus, da sich die Literatur vor allem auf Kairo als Zentrum des Modernismus konzentriert hat. Die einzige Ausnahme, allerdings überwiegend deskriptiv, ist C. Snouck Hurgronje, Mekka in the Latter Part of the 19th Century, Leyden/London 1931, S. 153-212. Während Mecca einerseits als ein Zentrum des Konservatismus geschildert wird, so scheint es als internationaler Treffpunkt der Muslime doch auch im 19. Jahrhundert ein Hort intellektueller Auseinandersetzung gewesen zu sein. J. Voll, Islam, Continuity and Change in the Modern World, Boulder u.a. 1982, S. 125-128. Für eine Analyse der Ausbildung des einflußreichsten modernistischen Lehrers und Begründers der Jam' iyyat al-Islah wa-l-Irshad, Ahmad Surkitti, vgl. R S. O'Fahey/M. I. Abu Salim, „A Sudanese in Indonesia: A Note on Ahmad Muhammad

, Surkitti", in: Indonesia Circle 59-60, 1992-93, S. 68-72. 41 D. Noer, The Modernist Movement, S. 60. 42 Mobini-Kesheh, The Hadrami Awakening, S. 113. Sie zitiert hier aus einer Schrift der Vereinigung.

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Texte und Poesie lesen durften, während der Besitz von Zeitungen durch die Eltern geahndet wurde, spielten die Schüler der Irshad-Schulen Theater. Sie trugen westliche Uniformen, wurden von Ärzten mit westlicher Ausbildung versorgt und von ihren Lehrern zur Vaterlandsliebe angehalten, die als gottgefällig dargestellt wurde. 43 Eine Pfadfinderbewegung organisierte Exkursionen mit Sport- und Campingveranstaltungen, die das Gruppengefühl stärkte, während karitative Aktivitäten helfen sollten, das soziale Gewissen der Schüler zu entwickeln. 44 Die Parallele, mit gewissen Entwicklungen innerhalb der westlichen Handelsbourgeoisie sowie im Ägypten des frühen 19. Jahrhunderts sind kaum zu übersehen. 45 Die hadramischen Unternehmer und Händler scheinen deutlich das Gefühl gehabt zu haben, ihren Kindern eine Art von Wissen vermitteln zu müssen, das es ihnen erlaubte, in einer sich rasch wandelnden kolonialen Gesellschaft zu "funktionieren". Dies umfaßte nicht nur neue kulturelle Inhalte, sondern auch Fächer, die für den wirtschaftlichen Erfolg notwendig schienen. Konsequenterweise ähneln viele der Themen, die an ihren Schulen eingeführt wurden, denen, welche europäische Handelsschulen im 18. und 19. Jahrhundert anboten. 46 Auch die Orientierung am Gemeinwohl, die im vorliegenden Fall auf eine spezifische Interpretation des Islam zurückgriff, entspricht dem typischen bürgerlichen Verhalten vergleichbarer europäischer Gruppierungen, die sich ihrerseits oft christlich-pietistisch legitimierten. 47 In anderen Worten, die hadramischen Schulen versuchten, ebenso wie die europäischen, Innovation und Tradition in einer neuen Form miteinander zu verbinden, allerdings mit dem nicht unerheblichen Nebeneffekt, daß Religionsunterricht nurmehr nur eines unter mehreren Fächern war und Religion damit in neuer Weise zu einem unter mehreren Wissensbereichen wurde.48 Wie wurde diese neue Schulform im Hadramaut rezipiert, wo die gesellschaftlichen Umstände weniger deutlich eine Veränderung des Bestehenden notwendig machten? Es scheint, daß einer der ersten Versuche, säkulare Fächer einzuführen, in Tarim 1917 auf massiven Widerstand stieß. 'Abd al-Rah-

43 Mobini-Kesheh sagt nichts dazu, ob sich die Vaterlandsliebe auf Indonesien oder auf Hadramaut bezieht. Angesichts des insgesamt eher integrationsbetonten Ansatzes von al-Irshad vermute ich, daß ersteres der Fall ist. „ Ebd., S. 126. 45 , , Gran, Islamic Roots, S. 124. 46 4 7 Straubel, Kaufleute, S. 444-446. D. Rüschemeyer," Bourgeoisie, Staat und Bildungsbürgertum", in: Kocka, Bürger, S. 101-120, 4 g hierS. 109. Vgl. für vergleichbare Entwicklungen im Osmanischen Reich B. Fortna, Education for the Empire: Ottoman State Secondary Schools During the Reign of Sultan Abdiilhamid II (18761909), unpubl. Diss. Phil., Chicago 1997, S. 2-6 und Adeeb Khalid, "Printing, Publishing, and Reform in Central Asia", in International Journal of Middle East Studies 26,2 (1996), S. 187200, hierS. 193.

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man al-Kaf, der Begründer der Schule der "Vereinigung des Rechts" und ein führendes Mitglied der Tarimer Gesellschaft sowie Angehöriger der reichsten Singapurer Kaufmannsfamilie, machte die folgende Erfahrung: "He was very strongly opposed for his efforts to introduce reforms in the teaching of boys, and ultimately prevailed on his family to give his methods a trial. These having proved successful, he invited the opposing Sayyeds and Ulemas to the first annual examination of the students and asked them to examine them. The result was that the opposition fell through, and the leading opposer S. Ali Ashor thereafter himself founded a school on the same lines at Shehr.'""

Es scheint, daß nach diesem Erfolg der Fächerkanon allmählich erweitert wurde und daß die Schule zunehmend auch ältere Kinder unterrichtete. Auf diese Weise entwickelte sie sich zur ersten Konkurrentin des ribat. 1927 wurde der bereits erwähnte Muhammad Bin Hashim, der aus Tarim stammte, aus Indonesien zurückgeholt und zum Direktor ernannt. Er führte Gesundheitserziehung, Geschichte, Geographie und einige naturwissenschaftliche Fächer ein.50 Ein in Surabaya (Ostjava) erschienener Zeitungsartikel von 1932 zeigt allerdings indirekt, welchen Schwierigkeiten Bin Hashim begegnete. Entnervt fragt der Kommentator, ob sich ein in Indonesien ausgewiesener radikaler Reformer wirklich damit zufrieden geben müsse, Pfadfindergruppen und Fußballvereine zu gründen? Auch angesichts der Opposition würde man doch erwarten, daß er in der Lage sei, wichtigere Veränderungen durchzusetzen. 51 Auch einige der Schüler scheinen Bin Hashims Reformen für unzureichend gehalten haben. Sie gründeten 1929 eine Geheimgesellschaft (die Vereinigung für Bruderschaft und Zusammenarbeit), die ab 1931 offen operierte und ihrerseits eine Schule gründete, in der überwiegend nichtreligiöse Fächer unterrichtet wurden. Die Vereinigung entsandte Schüler mit Stipendien nach Syrien, in den Irak und nach Ägypten (und bildete auf diese Weise eine arabischnationalistisch orientierte Generation aus, die in den fünfziger und sechziger Jahren die Vereinigung als Teil einer reaktionären Bewegung betrachteten).52 Die Mitglieder der Vereinigung und Schüler ihrer Schule bemühten sich aber auch um innere Mission unter den Beduinen. Ferner begannen sie, lokale Entwicklungsprojekte zu fördern und sich in die Politik im Inneren des Wadi einzumischen. 53

4Q * India Office, R/20/A/1415, Personalities (by Nasir-ud-Din Ahmad, 12.3.1920). K. Sulaiman, al-Tarbiya wa-l-ta'lim fi Ί-shatr al-janubi li-l-Yaman, Bd. 1, 1930-1970, Sanaa 1994, S. 64f. Hadramaut 356, 6.10.1932. " Auskunft K. Sulaiman, Tarim, 11.12.1996. S. Ά . BaWazir, al-Fikr wa-l-thaqafa fi Ί-tarikh al-hadrami, Kairo 1961/1381, S. 197.

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An der Küste des Hadramaut gab es ähnliche Entwicklungen. Ihnen allen war gemeinsam, daß sie nicht ausschließlich als Ausdruck eines utilitarischen Bedürfnisses nach der Verbesserung individueller Zukunftsaussichten gewertet werden können. Vielmehr waren ihre Gründer tief davon überzeugt, daß Forschritt und Modernisierung wichtige Ziele waren. Auch wenn dies untrennbar mit dem ökonomischen Wandel verbunden war, so gingen die Unterstützer der Schulen doch davon aus, daß es möglich war, diesen unter Beibehaltung der kulturellen Identität zu vollziehen, also eine islamische Moderne zu schaffen. 54 Die Schulen beschleunigten die Herausbildung einer Gruppe neuartig gebildeter islamischer Intellektueller, die mehr und mehr den Gelehrten ihre Rolle als geistige und politische Führung der Gesellschaft streitig machten. 55 Eine Schlüsselfunktion bei der Verbreitung ihrer Vorstellungen nahm die Presse ein. Presse in Südostasien und im Hadramaut Eine Mondreise mit dem Flugzeug - dies war der Hauptartikel in einer hadramischen Schülerzeitung in Pekalongan, Nordjava, 1922. Anhand des Beispiels erörterte der Autor in didaktischer Form Themen wie Anziehungskraft und moderne Transportmittel. Eine historische Photoreportage über den hinduistischen Tempel von Borobodur, Witze über das engstirnige Festhalten an den Auslegungen einer einzigen islamischen Rechtsschule, ein Bericht über die Notwendigkeit, Straßen sauberzuhalten sowie Rechen- und Denkaufgaben ergänzten das Themenspektrum. 56 Auch wenn dies ein extremes Beispiel ist die meisten Publikationen wurden von religiösen und politischen Themen sowie von Poesie dominiert - so ist es in zweierlei Hinsicht interessant: Schülerzeitungen wurden zu einem wichtigen Bestandteil der hadramischen Presse in der Diaspora wie auch im Hadramaut, und selbst in einem so fortschrittsfreudigen Organ wie der oben vorgestellten Schülerzeitung fand sich die typische Kombination aus Interesse an Technik und (modernistischer) Islaminterpretation. 57 Im weiteren islamischen und arabischen Kontext war die Entstehung der hadramischen Presse eine verhältnismäßig späte Entwicklung. Obwohl Hadra54 ^ Für Parallelen s. Mitchell, Colonising Egypt, S. 63-94 und Fortna, Education for Empire, S. 9 If. Zu diesem entscheidenden Prozeß im weiteren Rahmen s. R. Schulze, Islamischer Internationalismus, S. 31-41. ^ al-Madrasa 1;6 (1340/1922). Im Gegensatz zu C. D. Smith, „Imagined Identities, Imagined Nationalisms: Print Culture and Egyptian Nationalism in Light of Recent Scholarship", in: IJMES 29 (1997), S. 607-622, S. 617f., der eine m.E. zu enge Sicht von Säkularisierung vertritt, würde ich mich D. Commins, Islamic Reform. Politics and Social Change in Late Ottoman Syria, New York u.a. 1990, S. 1719 anschließen und den innovativen Charakter auch einer offensichtlich islamisch orientierten Presse verteidigen.

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mis in Südostasien osmanische und ägyptischen Zeitungen lasen und obwohl einige dieser Zeitungen auch den Hadramaut erreicht zu haben scheinen, wurden sie bis in die zwanziger und dreißiger Jahre mit großem Mißtrauen als zumindest dubiose "Neuerungen" (bid'a) betrachtet. Deshalb waren die Reformer lange Zeit die einzigen, die sich des neuen Mediums bedienten.58 Einmal mehr spielte Singapur eine Vorreiterrolle beim Abbau solcher Resentiments, wenn auch zunächst nicht in arabischer, sondern in malayischer Sprache. Schon seit den 1870ern hatte es eine Vielzahl von Zeitungen gegeben, an denen Hadramis malayischen Ursprungs mitgearbeitet hatten.59 Besondere Prominenz erlangte die Zeitung al-Imam (1906-8), deren hadramische und malayische Mitarbeiter, darunter der bereits erwähnte Muhammad Bin 'Aqil, Ideen des islamischen Modernismus um Jamal ai-Din al-Afghani und Muhammad 'Abduh aufgriffen. Interessanterweise fühlten sie sich genötigt, den Nutzen von Presse ausführlich islamisch zu begründen, ähnlich wie al-Afghani selbst dies einige Jahre zuvor auf Persisch getan hatte. Dabei deutet schon der Name der Zeitung - "der Vorbeter" oder "Anführer" - auf den hohen moralischen Anspruch hin, mit dem ein neues öffentliches Forum geschaffen werden sollte, eine "True voice which will lead our brethren according to our limited capacity which will be strengthened by the contributions of those brethren who have common feeling with us; and these contributions will be in the form of articles, ideas and respective researches".60 Erst in den 1930er Jahren entstand eine arabischsprachige Presse in Singapur.61 Die erste arabischsprachige Zeitung Südostasiens wurde in Palembang, Sumatra, von dem bereits mehrfach erwähnten Muhammad Bin Hashim 19 ΜΙ 5 editiert.62 al-Bashir, "der Bote" oder "Überbringer guter Nachrichten" und "eine Zeitung, die der arabischen Gemeinschaft, der arabischen Sprache und 58

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Van den Berg, Le Hadramaout, S. 174, Anm. 1, M. al-Shatiri, Tarikh al-sihafa, in al-Hikma 10 (1971), S. 55-61, hier S. 57 u. Auskunft, 'Ali 'Abdallah al-Saqqaf, Gresik, 11.6.1997. Ich würde hier A. Khalid, "Printing, Publishing, and Reform in Central Asia", S. 197, zustimmen, der nicht Druckwesen und Presse an sich für Veränderungen verantwortlich macht, sondern darin nur ein "powerful instrument" in sozialen Auseinandersetzungen sieht. Es gibt Gegenbeispiele, etwa die erste arabische Druckerei in Mekka, die zeigen, daß neue Medien wie die Druckerpresse gerade zur Verbreitung dezidiert konservativer Schriften benutzt wurden, um sie sozial akzeptabel zu machen. C. Snouck Hurgronje, Mekka in the Latter Part of the 19th Century, Leyden/London 1931, S. 164f. Dazu W. Roff, The Origins of Malay Nationalism, 2. Aufl., Kuala Lumpur etc. 1996, S. 43-55. Zit. nach A. B. Hamzah, al-Imam, Kuala Lumpur 1991, S. 28. Zu al-Afghani vgl. die Übersetzung seines persischen Artikels in H. Pakdaman, Djamal-ed-Din Assad Abadi dit Afghani, Paris 1969, S. 261-267. Für einen (unvollständigen) Überblick S.W. Roff, Bibliography of Malay and Arabic Periodicals, London 1972, S. 59-61. Für die Presse in Niederländisch Ostindien s. Mobini-Kesheh, The Arabic Periodicals, A. El Zine, Le Yémen et ses moyens d'information. Etude historique, politique, juridique, sociale et critique, Algiers 1978, S. 182-189, Z. M. Zwemer, „East Indies", in: The Moslem World 13, 1923, S. 39-49 und al-Sabban, al-'Adat (Bd. 2), S. 267.

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der (islamischen) Gemeinschaft" diente, beglückte seine Leser mit politischen Nachrichten, etwa einem - mit einem Photo illustrierten - langen Artikel über die Hintergründe des Ausbruchs des Ersten Weltkriegs.63 Sein Hauptthema jedoch war "islah wa-irshad", Reform und Rechtleitung. Ein anonymer "Diener seines Vaterlandes" (vermutlich der Chefredakteur selbst) klagte seine Landsleute an, eine Situation im Hadramaut zu schaffen, die schlimmer sei als das, was Imperialismus in einem Land anrichten könne.64 Interessanterweise verteidigte der gleiche Bin Hashim gut zwanzig Jahre später den Abschluß von Beraterverträgen zwischen den hadramischen Sultanen und den Briten einmal mehr mit Verweis auf die Unsicherheit und das Chaos, das die Hadramis selbst nicht mehr hätten bekämpfen können.65 Obwohl die Reformer, wie bereits erwähnt, untereinander zerstritten waren, zeigen ihre Publikationen doch ein gemeinsames Thema: das Bedürfnis, die Lage im Hadramaut wie auch in der Diaspora zu verändern. Die Notwendigkeit von Reform war das Hauptthema auf den Titelseiten. Das Innere enthielt meist vermischte Nachrichten aus verschiedenen hadramischen Gemeinschaften und aus der Welt, Polemiken über den Inhalt der erstrebten Reformen, und gelegentlich Literatur (sowie Werbung). Ein erheblicher Teil der Reformrhetorik war ausgesprochen idealistischer Natur und konzentrierte sich auf Bildung, Literatur, Religion und Wissenschaften. Dies reflektiert vermutlich, daß ein erheblicher Anteil der Autoren Schüler und Lehrer waren, denen Straßen- und Brunnenbau sowie landwirtschaftliche Probleme und die Details der hadramischen Stammespolitik in der Regel höchstens theoretisch vertraut waren. Der Artikel "Sind wir zivilisiert - und was sind die Grundlagen der Zivilisation" ist ein schönes Beispiel für den vorherrschenden Fortschrittsglauben und gibt einen guten Überblick über die zumeist mit - im westlichen Verständnis säkularen - Themen befaßte Reformdiskussion. 66 Ba Hashwan, der sich auf einen nicht näher benannten "großen Soziologen" bezieht, vertritt die Ansicht, daß "Zivilisation" einer näheren Definition bedürfe, da der Ausdruck gegenwärtig für so disparate Entwicklungen wie Feinschmeckerkost und Kolonialherrschaft verwendet werde. Er schlägt deshalb vor, zehn Kriterien zum Messen von Zivilisation anzulegen, nämlich 1. Volksgesundheit, 2. Reichtum, 3. dessen gerechte Verteilung, 4. das Sozialsystem (Sicherheit, das Vorhanden-

f , al-Bashir 17, 18.12.1914. 64

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al-Bashir 18, 1.1.1915, S. 2. Ein ähnlicher Tenor findet sich in einem Artikel in al-Dahna 2;17 (1929), S. 8f. Zur Situation im Hadhramaut im 1. Weltkrieg, vgl. Linda Boxberger, „Hadhrami Politics 1888-1967: Conflicts of Identity and Interest", in: Freitag/Clarence-Smith, Hadhrami Traders, S. 51-66, hier S. 55-59. Das Gedicht ist abgedruckt in 'Abd al-Khaliq al-Batati, Ithbat ma laisa mathbut min tarikh Yafi' fi Hadramaut, Jidda 1989, S. 103-105, es ist teilweise übersetzt und kommentiert in U. Freitag, „A poetic exchange about imperialism", in L. Edzard/C. Szyska (Hg.), Arabistische Texte und Studien, Hildesheim u.a. 1997, S. 203-214. al-Misbah I; 5-6 (Mai 1929), S. 105-7.

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sein von Arbeit, Kriminalstatistiken), 5. eine Regierung, die das obengenannte sichere, 6. individuelle Rechte, 7. Bildungswesen und tahdhib, 8. eine hohe Entwicklungsstufe der Wissenschaften (aus dem Kontext ergibt sich, daß er sich hier auf Natur-, nicht Religionswissenschaften bezieht), 9. hoch entwickelte Kunst und, 10. die Position der Frauen.67 Über den eigentlichen Inhalt hinaus ist es auch interessant, daß ein hadramischer Händler aus Marka in Somalia einen Beitrag nach Surabaya schickte. Dies belegt die Rolle der Zeitschriften für die Schaffung einer überregionalen und weitgehend anonymen Öffentlichkeit auf der Grundlage gemeinsamer Interessen. Die Autoren einer späteren Publikation aus Tarim gingen noch einen Schritt weiter und publizierten einen Aufruf des "Internationalen Klubs für islamische Korrespondenz", in dem es dezidiert um die Intensivierung der intermuslimischen Kontakte und den Austausch einer "vielfältigen Bildung" ging.68 Brieffreundschaften als ein Weg, neue Ideen auszutauschen, waren eine weitere Form der Öffentlichkeit, die nicht nur eine wichtige Rolle in der Bewußtseinsbildung spielte, sondern auch politische Dimensionen annehmen konnte. Dies illustriert ein Beispiel aus Malaysia Mitte der dreißiger Jahre, wo sich eine Organisation für Brieffreundschaften in die erste pan-malayische Organisation verwandelte. 69 Im Wadi Hadramaut sind die Anfänge der Presse nur schlecht dokumentiert.70 Es scheint, daß ein erster Versuch 1917 in Tarim von einer nicht näher beschriebenen "Vereinigung zur Verbreitung der Tugenden" (Jam'iyyat nashr al-fada'il) unternommen wurde. Offensichtlich bekamen die meisten Beteiligten schon während der Arbeit an dem Projekt angesichts der befürchteten Opposition seitens der Gelehrten kalte Füße. Nur ein einziger unter ihnen verfolgte das Projekt öffentlich weiter, auch wenn anonym eine Reihe anderer Jugendlicher kollaborierten. Nach vier Nummern der Zeitung "Hadramaut" gab er auf - Exemplare davon scheinen nicht erhalten zu sein. Die Gegnerschaft scheint so massiv gewesen zu sein, daß sich erst 1930 wieder junge Hadramis trauten, das Experiment zu wiederholen, Ba Kathir mit der bereits erwähnten Zeitschrift al-Tahdhib71 und 'Ali b. Ahmad 'Abdallah b. Yahya mit al- 'Ukaz·72 Es scheint, daß die Opposition gegen das neue Medium erst gegen

^ 72

Viele dieser Themen werden von dem 1924 in Kairo publizierten und weit rezipierten Werk Hadir al-'alam al-islami von Lothrop Stoddard und Shakib Arslan aufgegriffen (v.a. in Kapiteln 7 + 8), ohne daß die Ähnlichkeiten jedoch ausreichen, dies als das zitierte Vorbild zu identifizieren. al-Ikha, 2;9 (April 1940), S. 3. Leider sind mir keine derartigen Briefe, oder auch sonstige Privatbriefe aus der Periode zugänglich. Roff, The Origins, S. 213-221. al-Shatiri, Tarikh al-sihafa u. al-Sabban, al-Adat, Bd. 2. 1930 handschriftlich, 1931 in Kairo auf Kosten der al-Kaf Familie gedruckt, reprint Kairo 1961. al-'Ukaz bezeichnet einen bekannten Markt im Hijaz, möglicherweise sollte die eine Anspielung auf die Zeitung als Marktplatz von Ideen sein.

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Mitte der dreißiger Jahre nachließ, und um 1937 erschien die erste gedruckte Zeitung in Mukalla. Auch wenn nur wenige dieser frühen Publikationen erhalten sind, so zeigt ein erster Überblick über die Druckversion von al-Tahdhib, die handschriftliche al-Nahda (1942) und verstreute Exemplare weiterer Zeitungen, daß sich diese Journale nicht grundsätzlich von ihren südostasiatischen Vorgängern unterschieden. Allerdings dominierten religiöse Themen sehr viel deutlicher, und spezifisch hadramische Probleme standen auf der Tagesordnung. So findet man ausführliche Kommentare zu Beginn und zum Ende des Ramadan über die notwendigen Gebete, das Lesen von Korankommentaren etc. Dazwischen finden sich Kritik an bestimmten Gebräuchen, Gedichte, Nachrufe, Berichte über Besucher aus der Diaspora und historische Artikel, beispielsweise über die Rolle der Araber bei der Einführung des Islams in Südostasien.73 Ebenso wie in Südostasien nahmen die zumeist jugendlichen Autoren für sich in Anspruch, ihrer Gesellschaft und deren Gelehrten moralisch überlegen zu sein und sie deshalb belehren zu können und müssen. Ein Leitartikel von alTahdhib, der bescheiden als (koranischer) "Vers der Verfeinerung" (ayat altahdhib) betitelt war, erklärte, Gott habe es seiner Gemeinde zur Aufgabe gemacht, seinen Geboten zu folgen und seinen Verboten Gehorsam zu leisten. Dies sei, so erklärt der Autor, ebenso wichtig wie das Formen von Vereinigungen oder das Beten über den Gräbern - wobei letzteres eine von den Modernisten ohnehin verurteilte Sitte war.74 Hieran Schloß sich ein Artikel an, der wohl als ein Musterbeispiel dafür gelten kann, was den hadramisch-modernistischen Reformer in den dreißiger Jahren bewegte: Nahrungsmittelversorgung, Moral, Sicherheit und Ordnung, der Aufbau von Handwerk und Landwirtschaft, die Entwicklung des Handels, die Einrichtung von Schulen usw.75 Einmal mehr waren sich ansonsten zerstrittene Reformer in diesen Themen einig. Bin Hashim, der 1940 für die bereits erwähnte Vereinigung für Bruderschaft und Zusammenarbeit in Tarim "die Brüderlichkeit" (al-Ikha) herausgab, beklagte die Abhängigkeit des Hadramaut von Rücküberweisungen aus der Diaspora. Dies habe gefährliche Konsequenzen für die Landwirtschaft, da auf dem fruchtbaren Land Paläste gebaut würden mit Arbeitskräften, die man in der Landwirtschaft produktiver einsetzen könne.76 Schlußbetrachtung Ein zunächst kleiner Teil der hadramischen Diaspora begann im ausgehenden 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts, sich mit den hier behandelten Ver-

Zahrat al-Shabab l ; 4 u . 1;5, 1361 (1942-43). al-Tahdhib 4; 1, S. 60. Ebd., S. 64. al-Ikha 2;9, April 1940, S. 1-2.

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einigungen, Schulen und Zeitungen einen neuen sozialen und kulturellen Kommunikationsrahmen zu schaffen, der den bereits im Gange befindlichen Prozeß der Individualisierung und der Aneignung der Moderne beschleunigte. Sie schufen eine neue, hadramische Öffentlichkeit und nahmen gleichzeitig an der pan-islamischen und pan-arabischen Diskussion teil. Dies geschah in einer Periode, während der hadramische Unternehmer und Händler in Südostasien erheblichen wirtschaftlichen Erfolg hatten und ihre Gruppe durch Zuwanderung beständig anwuchs. Die oben skizzierten intellektuellen und organisatiorischen Entwicklungen sind ohne die Unterstützung dieser "Wirtschaftsbourgeoisie", deren Entstehung im größeren Zusammenhang mit der europäischen ökonomischen und kolonialen Expansion gesehen werden muß, zumindest in der beschriebenen Form kaum vorstellbar. Im Hinblick auf das Problem der europäischen Expansion und der kognitiven Interaktion zwischen nichteuropäischen und europäischen Gesellschaften stellen sich im Zusammenhang mit dem Hadramaut und seiner Diaspora drei Probleme, die hier nur als solche angedeutet, nicht jedoch grundlegend diskutiert werden können. Das erste ist die Frage, wie strukturell ähnliche Entwicklungen in Europa und in Asien - hier das Entstehen einer Handelsbourgeoisie und einer neuen Schicht von Intellektuellen, die sich eine eigene Form der Öffentlichkeit schaffen und bestimmte anthropozentrische Vorstellungen zu eigen machen - zu beurteilen sind. Ich würde, wie bereits einleitend bei der Diskussion der sozialen Träger der Reformbewegung dargelegt, von einer prinzipiellen Vergleichbarkeit dieser Phänomene und ihrer Konsequenzen ausgehen. Natürlich darf eine solche Vorstellung paralleler Entwicklungen nicht den historischen Kontext - nämlich den Kontakt zwischen Hadramis und anderen Kulturen, in denen Vorstellungen der Moderne schon früher verbreitet waren außer acht lassen. Insofern sind bei einer Analyse auch die kognitive Interaktion und Akkulturation zu berücksichtigen. Es erscheint mir jedoch - und dies ist das zweite Problem - außerordentlich schwierig, die relativen Bedeutungen von Parallelentwicklung und Interaktion gegeneinander abzuwiegen. Um den Wandel zunächst in der hadramischen Diaspora und dann im Hadramaut zu erklären, muß man vermutlich beide Faktoren - das Wachstum einer neuartigen Handelsbourgeoisie und ihren engen Kontakt mit anderen Kulturen - in Betracht ziehen, darüberhinaus aber auch die imperiale Expansion, die in vielerlei Hinsicht erst die ökonomischen und infrastrukturellen Rahmenbedingungen für die Herausbildung dieser Bourgeoisie beitrug. Möglicherweise sollte man sogar einen Schritt weitergehen und annehmen, daß sich bestimmte Vorstellungen der Moderne von ihrem europäischen Ursprung gelöst und verselbständigt hatten, mit der Konsequenz, daß für das hier untersuchte Thema nicht mehr nachvollziehbar wäre, welche Faktoren und in welcher Ursächlichkeit im einzelnen zu ihrer Entstehung beigetragen haben. Es ist in diesem

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Zusammenhang übrigens daran zu erinnern, daß "Integration" und "Globalisierung" im Bereich des Indischen Ozeans alte Phänomene waren, die bereits vor der europäischen Expansion existierten,77 und daß zumindest in den Handelszentren kognitive Interaktion zwischen einer Vielzahl unterschiedlicher Gruppierungen an der Tagesordnung war. Endlich wäre zu fragen, mit wem diese kognitive Interaktion eigentlich stattfand. Gerade die dargelegte Auseinandersetzung mit den Erfahrungen der chinesischen Diaspora in Südostasien und die enge Einbindung von hadramischen Unternehmern und Intellektuellen in Entwicklungen im malayischen Sprachgebiet weisen ebenso wie die hier nicht näher behandelte Auseinandersetzung mit Japan daraufhin, daß die hadramische Diaspora mit einer Vielzahl unterschiedlicher Gesellschaften in jeweils spezifischem Kontakt stand. Insofern muß man von Interaktion mit vielen verschiedenen Partnern ausgehen, in der Europa nur ein - keineswegs immer zentraler - Pol war. Die Vereinigungen, Schulen und Presseerzeugnisse, die während des frühen 20. Jahrhundert entstanden, weisen sowohl Komponenten in Organisationsform und Inhalt auf, die sie in islamische und universelle Prozesse einordnen lassen, als auch Themen und Interpretationen, die sie als eine spezifisch hadramische Variante der globalen Entwicklungen ausweisen. Insgesamt wurden die Reforminitiativen in der südostasiatischen Diaspora sehr viel rascher und positiver aufgenommen als im Hadramaut selbst. Dies läßt sich in verschiedener Weise erklären, mit der unterschiedlichen sozioökonomischen Zusammensetzung von Heimat- und Diasporagesellschaft, den anderen politischen Rahmenbedingungen, der unterschiedlichen Intensität des Kontaktes mit globalen Entwicklungen und den verfügbaren Alternativen (Emigration, vollständige Integration in Gastgesellschaften). Anders gesagt, die Entwicklung bestimmter neuer Formen von Öffentlichkeit im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts heißt noch nicht, daß sich die hadramische Gesellschaft - sei es in Südarabien oder in der Diaspora - als Ganzes verändert hatte, beschreibt aber einen Abschnitt in einem langwierigen Prozeß. Bibliographie al-1 Attas, Ali Husain, Taj al-a'ras, vol. 1, Kudus 1979 al Batati, Abd al-Khaliq, Ithbat ma laisa mathbut min tarikh Yafi' fi Hadramaut, Jidda 1989 BaWazir, S.'A., al-Fikr wa-l-thaqafa fi l-tarikh al-hadrami, Kairo 1961/1381 Bakhash, Shaul, Iran - Monarchy, Bureaucracy and Reform under the Qajars, i858-1896, London 1978 Balfaqih, Hasan, Tadhkirat al-bahith al-mukhtat ft shu'un al-ribat, Tarim o.J. (1378h./1958) Boxberger, Linda, „Hadhrami Politics 1888-1967: Conflicts of Identity and Interest", in: Ulrike Freitag/Clarence-Smith (Hg.), Hadhrami Traders, Scholars, and Statesmen in the Indian Ocean, 1750s-I960s, Leiden 1997, S. 51-66

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Dazu Κ. Ν. Chaudhuri, Asia Before Europe, Cambridge 1990, S. 382-387

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Ulrike Freitag

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Von "wilden Barbaren" zur "Blüte der Zivilisation": Zur Transformation eines Konzepts und zur Neubewertung des frühen arabischen Nationalismus Birgit

Schäbler

In der Phase der arabischen Geistesgeschichte, die als die Ära des "liberalen Denkens" bezeichnet worden ist und die von 1860 bis in die 1930/40er Jahre reicht, spielt das Konzept der Zivilisation eine zentrale Rolle. Diese Ära ist gekennzeichnet von einer intensiven Auseinandersetzung mit der Zivilisation Europas, die vielfach als überlegen, die eigene Zivilisation aber, sei es die des Osmanischen Reiches, sei es die der Araber, als reformbedürftig, krank und schwach empfunden wurde."Zivilisation" wird von verschiedenen Autoren zu verschiedenen Zwecken verschieden gedeutet, bewegt sich jedoch in einem Diskursfeld mit festen Polen. Nachzuzeichnen, was einzelne "große Autoren" unter dem Begriff der Zivilisation verstanden, kann aber nicht die Aufgabe meiner Untersuchung sein. Im folgenden soll der Versuch unternommen werden, in mikro-historischer Weise den Diskurs über Zivilisation in zwei Presseorganen zu verfolgen, von denen das eine ein eher schöngeistiges Magazin ist, das andere, gleichen Namens und vom gleichen Herausgeber, eine Tageszeitung. Anhand einer realen Krise in Syrien 1910/11 soll der Diskurs darüber, was "Zivilisation" ausmacht und was ein echter Reformdiskurs ist, von den Höhen der intellektuellen Auseinandersetzung herab in die politischen und gesellschaftlichen Auseinandersetzungen einiger bewegter Jahre in Syrien geholt werden. Das Ergebnis dieser Übung ist dann eine Facette des frühen arabischen Nationalismus, die bis jetzt weitgehend übersehen worden ist. Ort, Zeit und Träger der Handlung Es ist in der Tat auffällig, wie sehr der Reformdiskurs der Jahre um 1910 um den Begriff der Zivilisation kreist. Im Zentrum des Reiches, in Istanbul, war man sich der Überlegenheit Europas schmerzhaft bewußt. Unter der Last der Realgeschichte (Krimkrieg, Staatsbankrott) war hier ein früher, eher kultureller und optimistischer Zivilisationsdiskurs sehr schnell einem aggressiveren, von Europa beeinflußten und die Dichotomie West/Ost aufnehmenden Zivilisationsdiskurs gewichen. Der Ton, mit dem der Begriff Zivilisation beschworen wurde, war oftmals bitter, auch wenn das folgende Zitat durchaus selbstbewußt zu nennen ist. Im Juli 1326/1910, zum Jubiläum der 1000. Ausgabe der Zeitschrift Servet-i Fiinûn, nach Klaus Kreiser das "erfolgreichste Magazin in türkischer Sprache der Jahre 1891-1944", veröffentlichte Ahmet

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îhsân, Gründer und Herausgeber, diesen Passus auf der ersten Seite. "Tausend W o c h e n sind eine lange Lebenszeit, nicht nur für dieses geschundene Vaterland, von der Zivilisation entblößt, jeglichen Fortschrittes beraubt, sondern auch für den Westen, welcher seit vier Jahrhunderten des Licht des Wissens sorgfaltig aufsammelt auf dem rastlos fortschreitenden Pfad der Zivilisation. Das Erscheinen der tausendsten Nummer einer Wochenzeitschrift ist nicht für unser Land, sondern für die Kulturgeschichte des Nahen Ostens ein Ereignis, ein wichtiger Vorfall. Ich bin ein lebendes Dementi gegen all jene, die da behaupten, in dieser Umgebung könne sich nichts herausbilden, daß das Licht der Aktivität, daß die Produkte der Intelligenz zum Untergang verurteilt seien." 1

Auch in den Provinzhauptstädten des Osmanischen Reiches, wie z.B. in Damaskus, waren Intellektuelle, die sich prinzipiell als Reformer verstanden, dabei, Zeitschriften und Zeitungen herauszugeben, die sie als aufklärerisches Vehikel der Reform gestalteten. Die einflußreichste Tageszeitung dieser Ära in Damaskus war zweifellos al-Muqtabas, herausgegeben von Muhammad Kurd 'Ali, der auch für eine Monatszeitschrift gleichen Namens verantwortlich zeichnete.2 Damit haben wir hier den glücklichen Fall von zwei Publikationen desselben Herausgebers vorliegen, von denen die eine, als Zeitschrift, majalla, eher allgemeinere und der Allgemeinbildung dienende Beiträge enthält, während die andere, als Tageszeitung, jarîda, der aktuellen Information verpflichtet ist.3 Beiden jedoch ist ein unbedingter Aufklärungs wille eigen, der in der majalla schon im Untertitel sichtbar wird. Die Zeitspanne, die uns hier interessiert, 1908 bis ca. 1914, ist gekennzeichnet von mehreren politischen Entwicklungslinien. Im Herzen des Osmanischen Reiches entmachteten 1908 die sogenannten Jungtürken Sultan Abdülhamid und setzten die Verfassung wieder in Kraft. Das Parlament trat wieder zusammen und die arabischen Abgeordneten nutzten es, um die Sache der arabischen Provinzen zu vertreten. Hier verlief eine wichtige Konfliktlinie: Mit dem Wegfall des gemeinsamen Gegners, des "Despoten Sultan Abdülhamid", verschlechterten sich die Beziehungen zwischen türkischen und arabischen Mitgliedern der osmanischen Nation ( 'umma). Im Damaskus von Muhammad Kurd Ali, dem einflußreichsten Journalisten seiner Zeit, lassen sich vier Phasen feststellen: Von Juli bis Oktober 1908 unterstützten die

K. Kreiser, "Servet-i Fündn und seine Leser im Spiegel der tausendsten Nummer (1910)", in: C. Herzog,/R. Motika/A. Pistor Hatam (Hg.), Presse und Öffentlichkeit im Nahen Osten, Heidelberg 1996, S. 93. Siehe R. Hermann, Kulturkrise und konservative Erneuerung. Muhammad Kurd'Ali (1876-1953) und das geistige Leben in Damaskus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, S. 104; S. Seikaly, "Damascene intellectual life in the opening years of the 20lh century: Muhammad Kurd 'Ali and al-Muqtabas", in: M. Buheiry, Intellectual Life in the Arab East, 1890-1939, Beirut 1981. Im folgenden wird von der majalla (al-Muqtabas) als der Zeitschrift und der jarîda als der Tageszeitung gesprochen werden.

Von „wilden Barbaren" zur „Blüte der Zivilisation"

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arabischen Intellektuellen, die "Jungaraber" der jama 'iyya al-nahda al- 'arabiyya, der Vereinigung für die arabische Renaissance, die Jungtürken öffentlich, womit sie unter den Druck der konservativen Notabein gerieten. Von April bis September 1909 gewannen sie, immer noch verbündet, ihre Bewegungsfreiheit zurück. Im September 1909 löste ein Artikel Kurd Alis in alMuqtabas eine Krise aus, die sich, nicht zuletzt durch die Ereignisse, die wir im folgenden beschreiben werden, stetig zuspitzte. 1910traten 'Abdal-Ghanî al-'Uraysî, 'Abd al-Rahmân al-Shahbandar und Shukrì al-'Asalì, arabische Nationalisten der ersten Stunde, die für rund ein Jahr Mitglieder in der NahdaVereinigung und im Damaszener CUP-Ortsverband waren (der jungtürkische Partei "Komittee für Einheit und Fortschritt), unter Protest aus der Partei aus.4 Die Haltung zum Osmanischen Reich, zur Regierung in Istanbul und zur eigenen Gesellschaft, vor allem der eigenen ländlichen Gesellschaft, waren Themen, die das Konzept der Zivilisation in der Tageszeitung beherrschten. Eine eher schöngeistige Auseinandersetzung mit Europa beherrschte den Diskurs im Monatsmagazin. Dies wird schon an den verwendeten Termini für 'Zivilisation' deutlich. Das Monatsmagazin, im folgenden majalla genannt, verwendet den Begriff madaniyya, der madîna, 'Stadt', beinhaltet und somit dem europäischen Begriff Zivilisation, der ja civitas enthält, nahekommt. Die Tageszeitung verwendet den Begriff 'umrân, den Ibn Khaldün zur Beschreibung der Zivilisation der Seßhaften gebraucht, im Gegensatz zu tawahhusch, der "Wildheit" der nomadischen Lebensweise der Wüste oder Steppe.5 Der Zivilisationsdiskurs

in der Zeitschrift

al-Muqtabas

Revue mensuelle paraissant à Damas, Syrie. Pédagogie, sociologie, économie politique, littérature, histoire, archéologie, philologie, ménage, hygiène, bibliographie, civilisation arabe et occidentale,

so lautete der Untertitel der Zeitschrift, die 1906 in Kairo gegründet und zwei Jahre später nach Damaskus umgesiedelt wurde. War dieses Programm der majalla auch beinahe enzyklopädisch zu nennen, so kam dies in der Realität (glücklicherweise) nicht in vollem Ausmaß zum Tragen. Muhammad Kurd Ali übersetzte zwar zahlreiche fremdsprachige Artikel aus den im Untertitel genannten Disziplinen, konzentrierte sich aber überwiegend auf das Verhältnis von civilisation arabe et civilisation occidentale. Wie reformistisch gesonnene Intellektuelle vor ihm sah Muhammad Kurd Ali die Gesellschaft in der er lebte als eine im Verfall begriffene. Niedergang, Stagnation, Verfall, dies waren die 4

M. Haddad, "The Rise of Arab Nationalism Reconsidered", in: International Journal for Middle East Studies 26 (1994), S. 211. Ibn Khaldün, al-Muqaddima, arab. Ausgabe, A. Wafi (Hg.), Kairo 1957.

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Schäbler

Begriffe in denen er die syrische Gesellschaft wahrnahm und beschrieb. Unermüdlich rief er seine Leserschaft dazu auf, dies anzuerkennen und den Weg zu beschreiten, der aus diesem Zustand herausführen würde: den Weg der Reform und Erneuerung. 6 Verantwortlich für diesen Verfall waren ignorante Herrscher, die Glauben und Wissenschaft pervertiert hatten, um ihre unrechtmäßige Herrschaft zu erhalten. Die Osmanen, zum Beispiel, stellten für ihn schlichtweg ein Hindernis für die Zivilisation dar. Das Osmanische Reich, so argumentierte ein Artikel, sei dem Wesen nach ein tartarisches und als solches Wissenschaft und Kultur abgeneigt. Stärke würde hier ausschließlich nach der Größe seiner Armeen bemessen, oder der Wirksamkeit seiner Waffen. Wissen bedeute nur das Wissen um leistungsfähige Waffen, Größe nichts anderes als pure Macht und Ruhm nur Eroberungen.7 Gemäß der zu dieser Zeit weit verbreiteten Methode die "Wesensunterschiede" zwischen Kulturen in den jeweiligen Sprachen zu lokalisieren, sprach al-Muqtabas dem Türkischen die Kulturmächtigkeit ab: Im Gegensatz zum Arabischen sei das Türkische keine Sprache der Wissenschaft oder einer universalen Religion; noch sei es mit einer anerkannten Zivilisation verbunden. 8 Aus dem Osten war die Erneuerung also nicht zu erwarten. Es führte, so propagierte es al-Muqtabas, kein Weg vorbei an der Übernahme des Nützlichen aus der Zivilisation Europas.' Europas Zivilisation hatte sich durch die Errungenschaften seiner Wissenschaft, vor allem die Dampfmaschine und die Elektrizität transformiert. Durch diese beiden Erfindungen hatte es Entfernungen überwunden, die Wildnis urbar gemacht und wüstes Land besiedelt.1" Während sich die europäische Zivilisation also mit rasanter Geschwindigkeit fortentwickelte, bewegte sich die arabische mit der dumpfen Langsamkeit eines Maulesels (!)." Al-Muqtabas brachte zwar zahlreiche Nachrichten und Beiträge aus den USA und England, aber im eigentlichen war es Frankreich, das Muhammad Kurd 'Ali inspirierte. Paris erstand in den Spalten von alMuqtabas als Symbol europäischer Finesse, als wahre Verkörperung der westlichen Zivilisation, wo der Mensch schöpferisch tätig sein und sich moralisch, materiell und geistig verwirklichen konnte zum Wohle der ganzen Gesellschaft.12 Istanbul war demgegenüber das Symbol eines rückständigen

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Die folgenden Ausführungen stützen sich auf die Lektüre der Bände V, VI, und VII der majalla, aus den Jahren 1910, 1911 und 1917 und den Artikel von Samir Seikaly, dem alle acht Bände der Jahre 1906 bis 1916 zur Verfügung standen. (Die Herausgabe der Zeitschrift wurde allerdings häufig wegen politischer Verfolgung der Herausgeber unterbrochen). "Das Alte und das Moderne", majalla al-Muqtabas, IV, 1, 1909, S. 30-34. "Arabisch und Türkisch", majalla al-Muqtabas, IV, 2, 1909, S. 109-12. Zum Beispiel in: "Das Alte und das Moderne", a.a.O. Epilog in majalla al-Muqtabas, VIII, 7, 1908.

¡2 "Im Westen", majalla al-Muqtabas, VIII, 7, 1914, S. 494-509. Vor allem in "Seltsamkeiten des Westens ", (der Titel ist ein Wortspiel), a.a.O.

Von „ wilden Barbaren " zur „Blüte der Zivilisation "

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Orient, der zwar seinen Prunk zur Schau stellte, aber in einem Zustand der Ignoranz dahin vegetierte.13 Die kulturellen Ideen des Magazins basierten auf der Vorstellung, daß Zivilisationen sich niemals in Isolation entwickelt hätten. Sie erstanden nicht einfach und existierten in Gegnerschaft zueinander, sondern entwickelten sich sukzessive, aufeinander aufbauend. Sie standen miteinander in Kontakt und bereicherten sich gegenseitig. So war zwar jede Zivilisation einzigartig, aber nicht hermetisch abgeschlossen. Während beispielsweise die Perser im Osten von den Indern lernten und entlehnten, bezogen im Westen die Römer vieles in ihrer Zivilisation von den Griechen, die wiederum von den alten Ägyptern lernten und an die Araber weitergaben. Die arabische Zivilisation nahm die persische und griechische in sich auf, transformierte sie und wurde so zu einer reichen Quelle für den Westen, der sich reichlich an ihr bediente. Dieses Geben und Nehmen führte zu einer periodischen Ablösung der Zivilisationen und war somit der Motor der Geschichte. In diesem sich ständig reproduzierenden Wechsel habe jede Nation einmal während des Verlaufs der Weltgeschichte die Mission zu erfüllen, mit ihrer von einer der großen Religionen geprägten Zivilisation die Stafette des zivilisatorischen Vorreiters eine Zeitlang zu tragen und dann weiterzugeben. Wenn die Araber der Gegenwart nunmehr vom aufsteigenden Westen entlehnten, folgten sie nicht nur der Geschichte, sondern entdeckten auch ihre ureigensten Wurzeln wieder. Die islamisch-arabische Zivilisation konnte in der Vergangenheit nur blühen, indem sie mit anderen Zivilisationen in Kontakt trat und diese assimilierte und transformierte, und dies war der Weg auch heute.14 Hier lag Muhammad Kurd Alis Wertschätzung für die westliche Orientalistik begründet, die mit dazu beitrug, das arabische Erbe auszugraben und zu bewahren.15 War Muhammad Kurd 'Ali gegenüber den Machtansprüchen der europäischen Großmächte auch keineswegs blind, so machte er sich mit diesen "westlichen" Thesen und seiner unverhohlenen Bewunderung für den Westen doch naturgemäß Feinde unter seinen Kollegen. Aber in einem Artikel, den das französische Konsulat für so wichtig befand, daß er ans Außenministerium gesandt wurde, sagt er ganz klar: "Man sagt in Europa, daß es eine mazedonische Frage gebe, weil Mazedonien den Mazedoniern gehöre. Nun, wenn es eine syrische Frage gibt, dann heißt das, daß Syrien den Syrern gehört und nicht den Franzosen, weil Syrien osmanisch ist und so lange bleiben

majalla al-Muqtabas, V, 1910, S. 54-68. "Übertragung und Weitergabe", majalla al-Muqtabas I, 12, 1906, S. 616-624. Siehe hierzu die Abschnitte "Orientalisten und Orientalistik" in: R. Hermann, a.a.O., S. 83-94.

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Birgit Schäbler wird, so lange noch genug Blut und Leben im Osmanischen Reich erhalten ist, u m diese und anderen Provinzen zu verteidigen". 16

Dies ist ein schönes Beispiel dafür, daß der Diskurs der Zivilisation in der Sphäre der Kultur stattfindet, und nicht einfach blind in die Sphäre der Politik übertragen werden kann. Es muß im einzelnen immer überprüft werden, wie sich "Kultur" und "Politik" zueinander verhalten. Bei aller Faszination für Frankreich bedeutete sein klar vom Westen inspiriertes Reformkonzept keinen politischen Ausverkauf. Das Osmanische Reich, auch wenn es in seiner Vorstellung kulturell barbarisch und zu keiner echten Zivilisationsleistung fähig sein mochte, war immer noch ein Bollwerk gegen die Machtgelüste der europäischen Großmächte. Wie aber sah sein Reformkonzept im tagespolitischen Geschehen von Damaskus und der Provinz Syrien aus? Das Forum der Reformer in Damaskus war al-Muqtabas, die Tageszeitung. Die Umsetzung des Reformdiskurses in der jarìda

al-Muqtabas'7

Phase I: Die "unzivilisierten Barbaren" am Rande der Steppe als Objekte der Reform Die jarìda al-Muqtabas erschien ab Dezember 1908. Ihr Untertitel lautete: politische, ökonomische und gesellschaftliche Tageszeitung. Auf vier Seiten mit je fünf Spalten brachte sie jeweils einen längeren Leitartikel, den Muhammad Kurd 'Ali meist selbst verfaßte (oder aus dem Französischen übersetzte), Berichte und Kurzmeldungen aus dem In- und Ausland, und auf der letzten Seite Anzeigen und Termine. Sie druckte ebenfalls Leserbriefe und offene Briefe, die oft anonym waren. Zu den Mitarbeitern des ersten Jahres gehörten 'Adii Arslân, Shukrî al-'Asalì, 'Abd al-Wahhâb al-Inklîzî, später Salah al-Dîn und Jamâl al-Dîn al-Qâsimî, Fakhrî al-Barûdî und 'Abd al-Rahmân alShahbandar, Intellektuelle des frühen arabischen Nationalismus, die später Berühmtheit erlangten. Einige von ihnen sollten während des Ersten Weltkrieges hingerichtet werden. Im Jahre 1908 waren etliche von ihnen, wie erwähnt, in der jama'iyya al-nahda al-'arabiyya, der Gesellschaft der arabischen Renaissance tätig, als deren Sprachrohr sich al-Muqtabas verstand. Die jarìda unterhielt internationale Korrespondenten in Mekka, Istanbul und

Ministère des Affaires Etrangères, (im folgenden: MAE), Paris, N.S. Turquie, Syrie-Liban, Piat ^ an Pichón, 24. Dezember 1912. Die Trennung in intellektuellen und angewandten Diskurs wird hier zu analytischen Zwecken etwas überspitzt. Auch die Zeitschrift brachte bisweilen aktuelle Geschehnisse und deren Bewertung zur Sprache, während die Tageszeitung sich durchaus auch manchmal mit allgemeinen Zivilisationsthemen befaßte.

Von „ wilden Barbaren " zur „ Blüte der Zivilisation "

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Berlin, und lokale auf dem syrischen L a n d " Einer der eifrigsten Autoren war ein junger Mann aus dem Haurân, Khalîl Rifa'at "al-Haurânî", der um diese Zeit wohl in Damaskus Recht studierte. "Vor allem der Haurân, eine ländliche Gegend drei Tagesmärsche südlich von Damaskus, und al-Karak, noch weiter südwestlich gelegen, im heutigen Jordanien, nahmen einen breiten Raum im Reform- und Zivilisationsdiskurs auf den Seiten von al-Muqtabas ein. Dieser mikro-historische Diskurs durchlief mehrere Transformationen, die an reale dramatische politische Entwicklungen geknüpft waren. Im Verlauf dieses Diskurses würde sich einmal die politische Haltung der frühen arabischnationalen Intelligenz in Damaskus vom Osmanismus zum Arabismus wandeln, und die Reformobjekte, Drusen und Beduinen würden erst als "wilde Barbaren" konstruiert, die es zu züchtigen und zu zivilisieren galt, und dann in mehreren Schritten zu armen, unwissenden, zu Unrecht bestraften (arabischen) Opfern einer despotischen (türkischen) Regierung. Die "Macht des Diskurses" würde aus ihnen sowohl Märtyrer als auch aktive Helden machen, die Blüte des Arabertums. Politisch würde sich dies darin niederschlagen, daß dieselben städtischen Intellektuellen, die sie anfangs zu Barbaren stilisiert hatten, um ihre Teilnahme am Arabischen Aufstand 1916 werben würden. Der Haurân und al-Karak, an derfrontier zur Steppe gelegen, boten sich als sujet eines Reformdiskurses auch geradezu an. Beide Gebiete waren von tribal organisierten Bauern besiedelt, deren Clans und Stämme ihr politisches und soziales Leben weitgehend nach den Regeln und der sozialen Verfaßtheit organisierten, wie sie von den großen Beduinenstämmen der Steppe praktiziert wurden. Dies bedeutete, daß sie ihre Konflikte nach Stammesrecht Çurf) lösten, in dem nach dem herrschenden Ehrenkodex Vergeltung für Verbrechen durch die Sippe geübt wurde: Ein Mord konnte beispielsweise durch "Blutrache" (Vergeltung an einem Mitglied der Täterfamilie) oder durch ein von den Stämmen festgesetztes "Blutgeld" (diya, Entschädigungszahlung) gesühnt werden.2" Solche Bräuche nun waren in den Augen der städtischen Reformer und in der Ära des "Lichtes der Verfassung" ganz einfach "barbarisch" und "bestialisch", auch wenn sie von der osmanischen Regierung geduldet wurden. Ein Artikel, in dem den Lesern von al-Muqtabas diese Bräuche leicht verzerrt erklärt werden, kommt zu dem Schluß:

j® R. Hermann, a.a.O., S. 108f. Wer ist wer in Syrien führt ihn als Mann mit einer steilen Karriere, angesichts dessen, daß er offensichtlich aus dem Haurân stammte und keiner der großen Familien angehörte. Er brachte es zum Polizeichef, Vorsitzenden des Appellationsgerichts, und am Ende seiner Karriere sogar 2Q bis zum Gouverneur von Aleppo. Man huwa fi Sûriya, Damaskus 1954, S. 322. Anthropologische Studien haben ergeben, daß eine ganze Reihe Mechanismen in diesen Brauch eingebaut waren, die das Ausbrechen von großen Blutfehden zwischen ganzen Sippen verhindern halfen. Siehe z.B. D. Eickelmann, The Middle East. An Anthropological Approach, Englewood Cliffs 1981.

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Birgit Schäbler "Und so wurde das Bergland des Haurân zum Zufluchtsort von Massen von Verbrechern aus ganz Syrien". 21

Schon in den allerersten Ausgaben der Tageszeitung wird minutiös von Konflikten im Haurân berichtet, und von Anfang an sind innerhalb des Haurân die "Übeltäter" ausgemacht: es sind die lokalen, halb-seßhaften Beduinen der Lajâ, eines Teilgebietes des Haurân, die Ackerbau treibenden, seßhaften Drusen des Berglandes des Haurân, die halb seßhaften, halb nomadischen "Leute aus al-Karak" und die großen Beduinenstämme der Steppe, die allesamt die Opfer, die Bauern des Hauptgebietes des Haurân, der Haurânebene, bedrängten. Diese waren zwar ebenfalls tribal organisiert, aber schon seit längerem fiskalisch und administrativ ins Reich integriert und damit bezeichnenderweise schwächer als ihre Gegner, aber "bessere Osmanen". Im Falle der Drusen ist von ihnen ausdrücklich und ausschließlich als den ashqiâ' alDurûz, den drusischen Verbrechern oder Übeltätern die Rede. Die Artikel folgten dabei einem bestimmten Muster: Eine Kurzmeldung brachte das neueste Verbrechen , beispielsweise, daß geraubtes Plündergut nach einem Rüffel des Gouverneurs nur zu kleinen Teilen an die rechtmäßigen Besitzer zurückgegeben worden war oder der Wasserlauf eines Dorfes überfallen oder Telegraphenleitungen durchschnitten worden waren, und dies wurde gefolgt von einem stereotypen "und die Regierung tut nichts", oder einem "und die Regierung belohnt sie noch dafür", oder gar einer Stellungnahme des Gouverneurs selbst, der bedauert, "daß die Maßnahmen der Regierung nicht sehr effektiv seien, in diesem Landstrich, und daß die Regierung nun als nächstes Verwaltungsbeamte ernennen müßte, die nicht den Befehlen der Leute da unten gehorchten."22 Adressat und Rezipient dieser Meldungen war primär die Regierung. In einem langen Artikel auf der Titelseite von al-Muqtabas mit der Überschrift "Der Haurân und das Parlament" und unterzeichnet mit "Haurân: ein Patriot" wird im April 1909 erstmals ein umfassendes Reformkonzept vorgestellt, um den "barbarischen Taten" der umherziehenden Araber (d.h. Beduinen) ein Ende zu bereiten.23 Die Dörfer auf dem Land, so argumentiert unser Patriot, der wahrscheinlich niemand anderer als Khalìl Rifa'at selbst ist, der sich aber erst später namentlich zu erkennen

21

jarida al-Muqtabas, Nr. 18, 1909, S. 2. jarida al-Muqtabas, Nr. 48, S. 3, (Zitat oben), Nr. 51, S. 4, Nr. 132 (23. Mai), S. 2, Nr. 115 (3. März), S.3, alle 1909. Bedauerlicherweise stehen mir in manchen Fällen nur die Ausgabennummer, und nicht auch das Datum, zur Verfügung. Das Wort 'Araber', 'arab' oder 'urbân' stand seit altersher für peripatetische Steppenbewohner (der Arabischen Halbinsel und der seßhaften Bevölkerung Südarabiens). Bis zur arabischen Renaissance, bzw. dem frühen arabischen Nationalismus wurde es für Beduinen, also Nomaden, verwendet, und findet sich in der Bedeutung noch auf den Seiten von al-Muqtabas. Ich werde den Begriff im folgenden in der Weise verwenden, um der zeitgenössischen Wirkung und Bedeutungsverschiebung nahe zu bleiben.

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geben wird, brauchten "das Licht der Wissenschaft", und dafür brauche es Landwirtschaftsschulen, moderne Transportmittel und moderne Landwirtschaftsgeräte, neue Straßen, und Sicherheit. Die Drusen und die Araber aber brauchten zuerst einmal "Recht und Gesetz", d.h. verfassungsmäßige Gerichtshöfe, in denen Gerechtigkeit und Gleichberechtigung herrschten. "Ich lese die Zeitungen und finde kein Wort über den Haurân. Ich denke, daß die Parlamentarier aus unserer Gegend wissen, daß ihre Aufgabe nicht darin besteht, auf ihrem Stuhl zu sitzen und Kaffee zu trinken [...] das Parlament ist gegründet für die zivilisatorische Blüte ( 'umrâri) des Landes und es gibt keinen Ruhm außer dem Dienst am Vaterland und der Nation." 24

In einem weiteren Artikel, diesmal unterzeichnet mit "ein Patriot und Kritiker", und wahrscheinlich wieder aus der Feder Khalìl Rifa' ats, prägt der Autor den Begriff, der sich fortan durch al-Muqtabas ziehen wird. Der Titel dieses langen Artikels, auf der ersten Seite von al-Muqtabas, enthält ihn: "Haurân und die bewaffnete (Miß)wirtschaft". Diesmal ist der Ton beinahe beschwörend. Die Untaten der "verbrecherischen Barbaren", der Drusen und der Araber der Steppe, wie der Stamm der 'Arab Sardiyya aus al-Karak, die Menschen töten, Geld stehlen und Furcht und Schrecken verbreiten, können nicht mehr hingenommen werden. Anlaß des Artikels ist, daß ein Trupp von Sardiyya, Banî Sakhr (ein weiterer Stamm) und Drusen in einem der berüchtigten ghazzüs wiederum anderen Arabern hundert Kamele geraubt hatten. Diese "bewaffnete (Miß)wirtschaft", so unser kritischer Patriot, sei nicht mehr zeitgemäß. Die Barbaren wüßten offenbar nicht, daß die Zeit der Stämme etc. vorbei sei, sie wüßten nicht, daß die osmanischen Verfassungsschöpfer nichts akzeptierten, was hinter dem Gesetz der Verfassung zurückstehe, und diese Sache stehe weit hinter der Verfassung, der Justiz, dem Gewissen und der Vernunft zurück. Diese Sache sollte zum Anlaß genommen werden, die Moral der Drusen und Araber zu untergraben, weil man ihnen damit ihre tyrannischen, übermütigen, maßlosen und frevelhaften Gebräuche des Mordens, Raubens, etc. beweist. Die Regierung, so fürchtet der Autor, handele immer noch so, als ob die alte Ordnung in Kraft sei, und er selbst meldet sich in alMuqtabas zu Wort, "weil die Zeitungen die Zunge des Zustands der 'umma sind". Sicherheit sei die Basis für "Blüte und Zivilisation der Nation" ( 'umrân al- 'umma).25 Wenig später schreibt der Patriot aus dem Haurân einen offenen Brief an den Bezirksverwaltungsdirektor, indem er beklagt, daß wegen der drusischen Verbrecher und der Araber aus der Lajâ' und der Steppe ein

24 25

jarîda al-Muqtabas, Nr. 19, 5. April 1909, Titelseite "Der Haurân und das Parlament". jarîda al-Muqtabas, Nr. 170, 6. Juli 1909, Titelseite "Der Haurân und die bewaffnete (Miß)wirtschaft".

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völliger Mangel an Sicherheit im Haurân herrsche, wo diese Barbaren Schutzgelder von den Dörfern eintrieben. Zuweilen nahm der Diskurs der Reform gleichsam poetische Züge an: In einem Leserbrief stellt ein unbekannter Schreiber fest, daß die Drusen die einzige Religionsgemeinschaft sei, die bis heute nicht mit dem Rest der osmanischen Brüder an der Ehre der Verteidigung des geliebten Vaterlandes teilnehmen, wie die anderen Religionsgemeischaften (d.h. die neu rekrutierten Christen, B.S.), aus denen der Körper der ehrenvollen 'umma zusammengesetzt ist. Außerdem zahlten sie keine Steuern. "Ach, unsere Brüder, Einwohner des Haurân, lasset uns gemeinsam schreiben auf die Blätter unserer Herzen diese edlen, süßen Worte: "Die Liebe zum Vaterland gehört zum Glauben", was ein älteres Motto war, das vielfach von den Jungtürken verwendet wurde.26 Ein anderer Autor, der mit Abû Tamâm ( 'Vater des Guten' ) unterzeichnete, rechnete der Regierung minutiös ihre Verluste an Geld und Soldaten vor, die sie in den letzten 50 Jahren auf dem Wege der Reform im Haurân und im Versuch, die Drusen auf den rechten Weg (und hier wird der koranische Ausdruck verwandt) zu führen, verloren habe.27 Am 12. April 1910 berichtete al-Muqtabas, Sa'd al-Dìn Efendi al-Khalîl, der Abgeordnete für den Wahlkreis Haurân, habe in Istanbul ein Reformprogramm eingebracht, in dem er die Aufstellung von Schutztruppen vor den Angriffen der Drusen und 'Arab Sardiyya und einer Reihe von anderen Stämmen forderte, die ihre Herden im Haurân weiden ließen und tränkten, wo sie kein Land besäßen und keine Wasserrechte. Sie zögen Schutzgelder von den Dörfern ein, zerstörten die Bahnlinie der Hejazbahn, und die Einflußreichen und die Regierungsbeamten hielten bei all dem die Augen geschlossen. Er forderte weiterhin die Einrichtung von Schulen, und die Aktivierung der Landwirtschaft auf moderner Basis.2" Sa'd al-Dìn Efendi, aus einer der einflußreichsten Sippen des Haurân stammend, der Miqdâd, war im Parlament in Istanbul für seinen Wahlkreis sehr aktiv und hartnäckig in seinen Parlamentsvorlagen.29 Überdies war einer seiner engeren Verwandten in einem Schlagabtausch mit den Drusen im April 1909 ums Leben gekommen. Es war zwar auch ein Mitglied der mächtigsten Sippe der Drusen dabei umgekommen, aber die Drusen hatten ohnehin, wie wir gesehen haben, eine

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jarida al-Muqtabas, Nr. 427, 20. Juli 1910. jarida al-Muqtabas, Nr. 438, 3 August 1910. jarida al-Muqtabas, Nr. 342, 12. April 1910. Siehe S. Prätor, "Arabische Stimmen in der Istanbuler Presse der Jungtürkenzeit", in: Herzog/ Motika/Pistor-Hatam, a.a.O., S. 125. Ein ähnlicher Antrag vom 26. Januar 1909 wurde im Parlament abgelehnt; siehe zu den arabischen Abgeordneten in Istanbul ihr: Der arabische Faktor in der jungtürkischen Politik. Eine Studie zum osmanischen Parlament der II. Konstitution (1908-18), Berlin 1993.

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überaus schlechte Presse in Damaskus. Unter dem Druck des Reformdiskurses entsandten die Jungtürken, die an einer festeren Kontrolle Syriens interessiert waren, eine Strafkompanie unter dem Kommando des arabischen Offiziers Sâmî Pascha al-Farûqî, eines Schwiegersohns des Kriegsministers in den Haurân und nach al-Karak. Phase II: Die Strafkompanie in den Haurân im Jahre 1910: Von "Barbaren" zu "Opfern" Am 21. August kam Sâmî Pascha in Damaskus an und begab sich sofort in den Haurân. Es standen ihm über 30 Battaillone aus Adana, Ayntab, Izmir und Damaskus zur Verfügung, eine eindrucksvolle Armee, ausgestattet mit den technischen Errungenschaften der modernen Zivilisation, also "strong medical staff, search lights and field telephones"."1 Innerhalb von sechs Wochen im Oktober 1910 unterwarf die Strafkompanie das Bergland des Haurân. Die Drusen wurden entwaffnet, zum ersten Male in ihrer Geschichte, und die eingezogenen Martini-Gewehre auf 80 Kamelen in einer Triumph-Karawane auf den Straßen von Damaskus zur Schau gestellt.31 Darauf marschierte die Strafkompanie nach al-Karak, wo die Karakis in einem neun-tägigen Aufstand den osmanischen Teil des Städtchens zerstört hatten. Ursache der Revolte waren die Versuche des osmanischen Staates, ähnlich wie im Haurânbergland, eine Landregistrierung und eine Volkszählung durchzuführen, Rekruten für die Armee auszuheben und eine allgemeine Entwaffnung und ordentliche Gerichtsbarkeit durchzusetzen. Das Haurânbergland und al-Karak gehörten zu den letzten Gebieten im südlichen Syrien, wo der Machtanspruch des sich schon seit einiger Zeit modernisierenden und zentralisierenden osmanischen Staates noch nicht durchgesetzt war. Im wesentlichen ging es hier also darum, was sich als "Recht und Ordnung" durchsetzen würde, um die konfligierenden Machtansprüche des Staates und lokaler Eliten.32 Diese beharrten auf der alten Ordnung der Dinge, weil ihre Macht und Autorität bei ihren Stammesgenossen auf eben dieser beruhten. Dies ist der realgeschichtliche Hintergrund der berühmten hamla haurâniyya,

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Konsiliarberichte der europäischen Konsuln; Foreign Office, 618/2, Devey an Lowther, 1. und 30. September 1910; Ministère des Affaires Etrangères, Paris, Turquie, NS, Piat an Pichón, 20. Juli 1910. Foreign Office, 618/3, Devey an Lowther, 8. November 1910 und Ministère des Affaires Etrangères, Paris, Turquie, Piat an Pichón, 14. November 1910. Zur Geschichte der Drusen in Syrien siehe B. Schaebler, Aufstände im Drusenbergland. Gotha 1996; zur Geschichte al-Karaks siehe demnächst E. Rogan, Ottoman Reforms and Arab Revolts. Ich habe E. Rogan für die Überlassung seines Manuskriptes und nützliche Diskussionen zu danken.

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der Strafkompanie. Wie wurde sie im reformerischen Diskurs von al-Muqtabas gesehen? Während des ganzen Monats August war al-Muqtabas voll mit Berichten über die Drusen. Man hat den Eindruck, daß jeder, der je etwas mit ihnen zu tun hatte, sich als Experte gerierte und lange Berichte veröffentlichte. Eine ganze Serie auf der Titelseite beispielsweise wurde von jemandem verfaßt, der "Experte war, weil er fünfzehn Jahre unter ihnen gelebt hatte". Einige wenige Beiträge beruhten auf einer scheinbar einmaligen Begegnung mit einem Drusen und waren religiös gefärbt. Die Drusen, nur drei Tagesmärsche von Damaskus entfernt, und schon lange ein Objekt der Furcht und Faszination, waren weit mehr als die Karakis Tagesgespräch in Damaskus. Khalîl Rifa' at verfaßte die detailliertesten Berichte, in denen die Dörfer und ihre Scheichs aufgelistet waren, und die, wie Muhammad Kurd 'Ali später in seinen Memoiren schrieb, dem Militär die besten Dienste leisteten. 33 Die Zeitung war, nicht verwunderlich nach zwei Jahren des Aufrufs an die Regierung, aktiv zu werden, voll auf Seite des Staates - und, ebenfalls nicht verwunderlich, der Haurän-Bauern. In einem Artikel auf der ersten Seite von al-Muqtabas war schon im Titel klar ersichtlich, wo die Sympathien lagen. Der Titel lautete "Die Feindseligkeiten zwischen den Banî Miqdâd und den Banî al-Atrash" wobei der Name der Miqdâd aus der Ebene wesentlich größer gedruckt war als der der Atrash von den Drusen, die überdies in Anführungszeichen gesetzt wurden.34 Khalîl Rifa'at verteidigte die Strafkompanie, die notwendig war, weil es eben keinen Platz mehr gebe für die Barbarei. Er pries die Gerechtigkeit Sâmî Pascha al-Farûqîs, und beschwor in starken Worten die neue Zeit, wo jeder Herr seiner Person und seines Besitzes sei. Die 'umma, der Staat und der Haurän würden davon profitieren und der Haurân würde den Reichtum und die Blüte wiedererlangen, die er in den Zeiten der Römer genossen hatte (wo er in der Tat eine der Weizenkammern des Römischen Reiches gewesen war). Khalîl Rifa'at war ein echter Reformer, der hier, im Oktober 1910, noch an den Reformwillen der Regierung glaubte. Es ist auch auffallend, daß sich in seine Polemik gegen die Drusen niemals religiöse Untertöne mischen, wie dies auch bei den meisten anderen Artikelschreibern der Fall war. Für die Reformer waren die Drusen und Araber Barbaren, weil sie sich gegen die Reform stellten, nicht weil sie ungläubig oder dem Wesen nach schlecht waren.

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jarîda al-Muqtabas, Nr. 453, 21. August 1910. Damit sollte zum Ausdruck gebracht werden, daß sie eben keine alt-ehrwürdigen Landnotabein waren wie die Miqdâd, sondern neureiche Emporkömmlinge. Der Artikel, dessen Autor kein anderer als unser bekannter Khalîl Rifa'at war, erzählte, daß die Atrash vor kurzem noch Ziegen gezüchtet und die Erde gepflügt hätten, wobei sie auf einen alten Topf voller Gold gestoßen seien, und hierauf beruhe heute ihr Reichtum; jarîda al-Muqtabas, Nr. 492, 5. Oktober 1910.

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Nun, da die Staatsmacht eingegriffen hatte, sahen es die Autoren in alMuqtabas offenbar als ihre Aufgabe an, den Zustand der Rückständigkeit zu erklären und konkrete Reformvorschläge zu machen. Ein besonders origineller Beitrag auf der Titelseite von al-Muqtabas stammte vom Bischof Nikolaus Qâdî und trug den Titel "Sozio-ökonomische Studie zur Geschichte des Haurân. Für den Kommandanten der Strafkompanie, Sâmî Pascha al-Farûqî". Der griechisch-orthodoxe Bischof hatte seinen Sitz in einem Grenzdorf zwischen Ebene und Bergland, wo viele Christen lebten, und war deshalb mit der Gegend bestens vertraut. Zu dem Thema der Blutrache, das so viele Beiträge in al-Muqtabas beherrscht hatte, meinte der Bischof, daß man davon ausgehen müsse, daß diese Bräuche nicht in einer Generation abzuschaffen seien. So etwas brauche Zeit. Für die "Verzögerung des Wachstums" im Haurân gebe es viele Gründe. Durch die große Armut und die hohen Brautpreise, die von den Vätern der Braut gefordert würden, verzögerten sich die Heiraten enorm. Dies hielt die Männer zu lange im Zustand und in der Gruppe der Jungmänner, die mit ihren rauhen und tribalen Sitten primär Unruhestifter seien. Der Druck, unter dem die jungen Männer stünden, machte dann Probleme, zum Beispiel durch die Entführung junger Mädchen, auch wenn diese einverstanden waren. Diese Dinge beeinträchtigten die "vornehme, arabische Moral", aber die "Regierung wisse dies alles nicht". Eine Maßnahme, die es zu ergreifen gelte, sei die gesetzliche Regelung des Brautpreises, was viele Probleme lösen würde. Dies führte den Bischof zum nächsten, größeren Thema: der Stellung der Frau. Diese müsse unbedingt verbessert werden, "da es keinen Unterschied zwischen ihr und dem Manne" gebe. Die Frau im Haurân sei aber keine Partnerin in der Ehe, sondern eine Dienstmagd, die der Haurâner, nachdem er den hohen Brautpreis für sie bezahlt hat, unbarmherzig ausbeute und wegen der geringsten Kleinigkeit schlage, sogar wenn sie schwanger sei. In anderen Ländern gebe es Bewegungen, die Tiere zu schützen, hier im Haurân müsse die Frau gesetzlich geschützt werden. Dies gelte auch für die Kinder, die wegen der mangelnden medizinischen Versorgung von Krankheiten dahingerafft würden. Der Haurân brauche Ärzte und Apotheken. Der letzte Vorschlag, den der Bischof dem Kommandeur der Strafkampagne machte, war, daß er den Haurân noch weitere 10 Jahre von der Rekrutenaushebung ausnehmen sollte, bis die Leute von selber die Ehre des Dienstes am Vaterland erkennen würden. Dies fiele nicht unter das Dogma der Gleichbehandlung (aller Mitglieder der 'umma), "sondern wäre eine Art Rücksichtnahme auf den Schwachen, bis er wieder zu Kräften gekommen ist, wie ja auch der Kranke vom Armeedienst ausgenommen würde, bis er geheilt sei". Wie wir sehen, ändert sich der Ton. Im Angesicht der bewaffneten Macht des Staates werden die "Barbaren" auf dem Land allmählich umkonstruiert zu "Armen", zu "Schwachen" und zu "Unwissenden". Diese Transformierung

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(und nicht einfach nur Umdeutung, denn hinter der "Barbarei", wie sie beschrieben wurde, steht ja wirklich eine ältere, im Ton der "modernen" Reformer "unwissende" Lebensform) ihres öffentlichen, oder eher veröffentlichten Bildes wird im Text des Bischofs nur angedeutet, der ja wirklich über die Opfer, die Haurânbauern schreibt, und weniger über die Täter, die Drusen und Araber. Eindeutiger in diesem Zusammenhang ist ein offener Brief Khalìl Rifa' at's an den Gouverneur von Syrien "zum Grund der Unruhen im Haurân". Es gab, so wiederholte Khalìl Rifa'at auch diesmal, kein Recht und Gesetz in dieser Gegend.: "Die allgemeine Lage des Haurân ähnelt dem Zustand der Fische im Meer: der große, starke schluckt den kleinen, schwachen". 55

Aber zum ersten Mal läßt er der Sache der Drusen mehr Gerechtigkeit widerfahren: Die Gründe für die Feindseligkeit zwischen den Drusen und den Hauranis lägen im allgemeinen rechtlossen Zustand der ganzen Gegend begründet, wo es kein Wissen, keine Schulen, keine landwirtschaftlichen Maschinen gebe. Reiche Osmanen und Ausländer profitierten von dem Chaos und der Tatsache, daß die Steuern hoch seien und es keine Banken gebe. Alles das hetzte die eine Gruppe gegen die andere auf, so daß jede der beiden Gruppen die andere angriff, wenn sich eine Gelegenheit dazu ergab, deren Männer vorsätzlich tötete und Rache nahm. Die Drusen seien stärker, weil sie zusammenhielten, und sich für ihr Gemeinwesen interessierten. Anläßlich eines Unglücks trauere jedes Individuum von ihnen, im Unterschied zu den Hauranern, wo jeder im eigenen Saft schmore und sich nur um die eigenen Angelegenheiten kümmere. Der tiefere Grund liege aber darin, daß die alte Regierung nicht nach objektiven Gesetzen gehandelt und stattdessen die "bewaffnete Verwaltung" angewandt habe (d.h., Verwaltungsposten an lokale Stammeschefs vergeben und formale Unterwerfung unter das osmanische Regime durch etliche Ausnahmeregelungen erkauft hatte, B.S.) aus der sich dann das allgemeine Chaos und die Zerstörung entwickelt habe, bis dann die Verkündung der Verfassung in der Hauptstadt das Ende der Despotie und ihrer Vertreter besiegelte. Im Klartext: Die alte Regierung ist schuld. Aber Khalìl Rifa'at geht weiter: "Als Euer Ehren zum Gouverneur ernannt wurde", verbargen die Verbrecher ihre Taten, bis Euer Ehren den Stammesscheich der Araber der Lajâ Sa'd al-Dîn Abû Sulaymân zu sich rief und ihn vor der Militärkampagne von seinen Verbrechen begnadigte, ihm Ehren zuteil werden ließ und ihn zum Verwaltungschef des Lajä-Gebietes machte. Damit war ausgesagt, daß die neue "Regierung des Lichtes der Verfassung" nicht besser als die alte der Despotie war. Aber damit nicht genug: Als die Verbrecher nun

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jarìda al-Muqtabas,

Nr. 581, 23. Januar 1911.

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sahen, schreibt Khalil Rifa'at, was mit dem Lajä-Scheich geschah, da meinten sie unter sich, daß, wenn sie nur auch so viel Verderben anrichteten wie er, sie mit noch größeren Ehren bedacht werden würden. Und dies war der Grund für die Überfälle auf verschiedene Dörfer, von denen al-Muqtabas berichtet hatte, und in denen viele Unschuldige umkamen. Der Artikel endet mit Vorwürfen gegen die alte Regierung, aber es ist klar, daß die neue der Jungtürken damit gemeint ist. Die message ist: die neue Regierung ist kein Haar besser als die alte. Und: die Verantwortung für die Barbarei liegt bei ihr. Nachdem die Strafkompanie den Haurân und al-Karak befriedet, d.h. Waffen eingesammelt, Rekruten ausgehoben und Schuldige festgenommen hatte, stand die Bestrafung der Schuldigen auf dem Programm. In einem Militärtribunal im Haurân wurden 76 Karakîs und 79 Drusen zu Strafen verurteilt, die von drei zu fünfzehn Jahren Gefängnis und Zwangsarbeit, bis zu lebenslänglicher Haft und zur Todesstrafe reichten." Die Namenslisten und Strafen der Drusen wurden im Februar in al-Muqtabas veröffentlicht. Für die zum Tode Verurteilten wurden auch die Urteile abgedruckt. Was aber die größte Schockwirkung erzielte, waren minutiöse Beschreibungen der Hinrichtungen: "Um acht Uhr letzte Nacht schritten der Polizeidirektor und Nûrî Bey von den Offizieren der Strafkompanie der shaykh al- 'aql (der wichtigste religiöse Würdenträger bei den Drusen) Ahmad al-Hajari zu der Kaserne des Maydân, wo sich die Verurteilten befanden und es wurden von ihnen ihre Münzen genommen [...]. Um neun Uhr marschierten die Soldaten und einige Polizisten auf den Platz der Union 37 und als es zehn Uhr war, brachte man die Gefangenen mit der Straßenbahn dorthin. Es trat als erstes Yahya 'Amir vor und es wurde ihm der Erlaß seines Todesurteils verlesen. Darauf befahl der Verwaltungschef Halìm Bey dem shaykh al- 'aql, ihn nach seinem letzten Vermächtnis zu fragen. Er sagte: "Ich will, daß er Staat auf meine Familie mit einem verzeihenden und barmherzigen Auge blickt. Danach wurden ihm die Augen verbunden, er wurde zum Galgen geführt und gab seinen Geist auf, ohne noch ein weiteres Wort".58

Diese Darstellung ist wenig glaubhaft. Die Berichte des französischen Konsuls lesen sich da weit dramatischer, und er gibt zumindest bei der ersten Hinrichtung einen völligen anderen Bericht, in dem der Verurteilte den Kommandeur beschuldigt, ihm und den anderen Verurteilten freies Geleit zugesichert und sie nun verraten zu haben." Am nächsten Tage erschien in al-Muqtabas 36 Bashbakanlik Archivi, DH-SYS 60/3, Liste der Verurteilten, 2 Aghustos 1328/15. August 1912. ^ Ich habe E. Rogan für die Überlassung der Akten aus dem osmanischen Archiv zu danken. Gemeint ist der Sâhat Marj, den die Tram überquerte, und der wohl zu Ehren des CUP, des jungtürkischen Kommittees für Union und Fortschritt, zeitweise in Platz der Union umbenannt 3 g wurde. jarîda al-Muqtabas, Nr. 616, 19. Februar 1911. MAE, Paris, Turquie, Syrie-Liban, Piat an Cruppi, 9. März 1911.

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unter dem Titel "Die gerechte Strafe" eine Rechtfertigung der Todesurteile. Die Hinrichtung der drei drusischen Verbrecher habe einen großen Eindruck hinterlassen. Seit 35 Jahren habe Damaskus keinen Galgen mehr gesehen, (...), die Todesstrafe sei in der Ära von Sultan Abdülhamid außer Gebrauch gekommen und das Morden sei leichter gewesen, als ein Glas Wasser zu trinken. Nun gebe es eine wachsame Regierung, und, so wurde impliziert, jeder potentielle Mörder würde sich seine Tat ein zweites Mal überlegen. Am 1. März 1911 erschien eine weitere Beschreibung von Hinrichtungen. Hier erlebe man, so schrieb es wohl Muhammad Kurd 'Ali selbst, die osmanische Gerechtigkeit in ihren prächtigsten Manifestationen. Der schreckliche Anblick sei eine gute Lektion für alle, die töten.4" Am 17. März erschien ein weiterer Hinrichtungsbericht. Diesmal fehlten die starken Worte zur Rechtfertigung der Hinrichtungen. Dafür wurde den letzten Worten des zum Tode Verurteilten ein größerer Raum gegeben. "Meinen Sohn, so sprach der Mann in seinen letzten Minuten, haben die Truppen mitgenommen und ich bitte, daß er nach Hause geschickt wird zu meiner Familie, weil ich einen kranken zweiten Sohn habe, für den er sorgen soll, und ich habe ein Testament bei einem Freund im Nachbardorf aber meine Familie sei Sâmî Pascha und dem Staat anvertraut."

Der Bericht Schloß mit den Worten: "Und es machte die Zuschauer und auch uns selbst betroffen, die Unwissenheit der Söhne des Vaterlandes zu sehen, die in Tod und Verderben getrieben werden durch die Schlechtigkeit ihrer Taten."41 Aus der jartda ist die Haltung der Herausgeber nicht ganz eindeutig zu ersehen. Es gibt starke Anzeichen dafür, daß Muhammad Kurd 'Ali und sein Bruder Ahmad anfangs wirklich von der Gerechtigkeit der Urteile überzeugt waren. Andererseits ist davon auszugehen, daß die Behörden gerade in dieser Sache ein wachsames Auge auf al-Muqtabas und seine Herausgeber hatten, die vorher schon mit den Jungtürken aneinander geraten waren und denen ihre Redaktion 1909 schon einmal geschlossen worden war. Aber gerade die Art und Weise, wie der letzte Bericht verfaßt ist, sendet eine eindeutige Botschaft. Zwar formal korrekt und ohne ein explizites Wort der Kritik löst er durch die persönlich gehaltene Darstellung des Todeskandidaten Betroffenheit bei seinen Lesern aus. Es ist die Botschaft, die wir bereits ausgemacht haben: die "verbrecherischen Barbaren" sind in Wahrheit "arme Unwissende", die sich durch ihre Taten in Tod und Verderben stürzen. Aber durch ihre Unwissen-

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jartda al-Muqtabas, Nr. 624, 1. März 1911. Von den zum Tode verurteilten Karakis wurden fünf Männer im Mai 1911 in Damaskus gehängt, sechs auf dem Marktplatz von al-Karak. Weitere zwölf Männer wurden später in alKarak hingerichtet. E. Rogan, Ottoman Reforms, Manuskript, S. 294.

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heit, so wird impliziert, sind sie eigentlich unschuldig, und damit Opfer der Staatsjustiz. Die Zeitung al-Muqtabas, wiewohl sie die Hauptträgerin des Diskurses ist, ist nicht die einzige Quelle, die uns zur Verfügung steht. Aus den Memoiren Muhammad Kurd 'Alis geht hervor, daß er sich mit dem Kommandeur der Strafkampagne entzweite und der Version der Opfer Glauben schenkte: "Die Zeitungsberichte waren (ursprünglich) so verfaßt, daß sie die Sache der Aufständischen unterminierten und ihrer Sache schadeten. [...] D o c h dann zerstritt ich mich mit d e m Kommandeur und die Zeitung hörte auf, ein Loblied auf ihn und die Kampagne zu singen" 42

Phase III: Die Kampagne der Nationalisten: Von "Opfern" zu "arabischen Brüdern" Aber noch aussagekräftiger sind Gnadengesuche und, vor allem, eine Amnestiekampagne, die von den Damaszener Intellektuellen im Dunstkreis der Redaktionsstube von al-Muqtabas durchgeführt wurden. Das erste Gesuch um eine allgemeine Amnestie, unterzeichnet mit den Siegeln von 112 Drusenscheichs, stammte von den Drusen selbst. Darin nahmen sie den Diskurs der Presse wieder auf. Sie seien unwissend, schrieben die Scheichs, ihr Zustand ähnele dem der Beduinen der Steppe (der bâdiyya). Wenn die letzte Regierung ihnen die Wege des Wissens gewiesen hätte, wäre alles, was die Militärkampagne nach sich zog, nicht geschehen.43 Auch die Karakis argumentierten in dieser Weise. "Nicht aus bösem Willen, sondern aus Unwissenheit und Unachtsamkeit" sei geschehen was geschehen sei, und was sie in einen Zustand des Ruins getrieben habe, der keine Grenzen kenne.44 Die Amnestiekampagne, die von den Damaszener Intellektuellen nach den Hinrichtungen ins Leben gerufen wurde, schlug einen anderen Ton an. Bereits im Dezember 1911 hatten Shukri al-'Asalì und Taufìk Majalî, der Abgeordnete von al-Karak, Kriegsminister Mahmûd Shevket Pasha "in einem sehr angriffslustig formulierten Offenen Brief' aufgefordert, "doch schon jetzt die Dossiers bezüglich der Entwicklungen im Haurân und in al-Karak zu konsultieren, damit er nicht aus Mangel an Information die Auskünfte verschieben müsse, die sie fordern würden - wie gerade im aktuellen Fall in Albanien geschehen".45 Im Dezember 1912 ging ein Telegramm ab, unterzeichnet von Muhammad Kurd 'Ali, Shukrî al- 'Asalì, ' Abd al-Rahmân al-Shahbandar, 'Abd

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Kurd Ali, M., mudhakkirât, Damaskus 1948, Band 1, S. 81. BBA-DH-SYS 60/3, Dokument 24, 17. Dezember 1911. Zitiert nach Rogan, a.a.O., S. 296. Praetor, a.a.O., S. 125. Der offene Brief erschien in Meslek, Nr. 226-13, 24.12.1911 und Takdirat, Nr. 158, 24.12.1911, S. 1.

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al-Wahhâb al-Inklizî, Muhammad Fakhrî al-Barûdî und den Herausgebern von weiteren Tageszeitungen. Dies war die crème de la crème der frühen arabischnationalistischen Intelligentsia, und diese nahm kein Blatt mehr vor den Mund: "Die tragischen Ereignisse von Haurân und al-Karak gehören zu den Untaten (sie!) der letzten Regierung der Union (CUP). Mehrmalige Anträge auf Amnestie für die v o m Militärgericht des Haurân zu Gefängnis verurteilten Haurânis und Karakis, die gestellt wurden, u m die Verfehlungen der Verwaltung auszugleichen und die gebrochenen Herzen zu heilen, sind ohne Ergebnis geblieben. Dies erscheint v o m Standpunkt der Gerechtigkeit nicht angebracht. Nunmehr ist es ein Gebot der Barmherzigkeit, im Namen der Menschlichkeit eine Amnestie der Unglücklichen zu erlassen, die in den Gefängnissen dahin sterben". 44

Das nächste Telegramm war von Shukrì al-'Asalì, Fayiz Ghusayn, 'Abd alWahhâb al-Inklîzî, den Damaszener Intellektuellen, aber auch mehreren Stammeschefs von den Drusen, den Banî Sakhr, und den Wuld 'Ali, Beduinen der Steppe, unterzeichnet.47 Diesem Telegramm müssen also Treffen und Gespräche vorausgegangen sein, und damit haben wir im Dezember 1912 die wohl frühesten bisher ermittelten politischen Kontakte zwischen "modern" eingestellten städtischen Intellektuellen und traditionalistischen Stammeschefs. Aus den "wilden Barbaren" waren im Namen des Arabismus arabische Brüder im Kampf gegen die Osmanen geworden. Diese neue Bruderschaft machte den arabischen Aufstand von 1916, das politische Bündnis zwischen städtischer Intelligentsia und arabischen Stämmen unter Führung des Scherifen Husayn erst möglich. Im Oktober 1914 fanden erste Kontakte zwischen den Bakrîs, alt-eingesessenen Damaszener Notabein und führenden drusischen Clanchefs aus dem Bergland statt. Der Amir Faysal, ein Sohn des Scherifen Husayn, traf 1915 die Bakrîs. Und in einem Brief von Fauzî al-Bakrî aus dem Jahre 1916 heißt es dann: "Wir trafen Abmachungen zwischen Nûrî Sha'lân (dem Oberscheich des großen Araberstammes der Ruwala), seinem Sohn Nawâf und den Drusen, daß es einen gleichzeitigen Aufstand geben sollte [...]". 48

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BBA-DH-SYS 60/3, 15. Dezember 1912. Mein Dank an Hasan Karateke, der mir beim Lesen und Übersetzen der osmanischen Dokumente geholfen hat. BBA DH-SYS 60/3, Dokumente 48, 61, Telegramme an Innen- und Premierminister, 22. Dezember 1912. Zur Rolle des Telegraphen vgl. E. Rogan, "Instant Communication: The Impact of the Telegraph in Ottoman Syria" in: T. Philipp/B. Schaebler, The Syrian Land. Process of Integration and Fragmentation in Bileid al-Shâmfrom the I8'h to the 2ffh century, Stuttgart 1998, S. 113-128. Zitiert nach Arab Bulletin, vol. 1, S. 169; Bd. 2, S. 8.

Von „wilden Barbaren" zur „Blüte der Zivilisation"

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Drusen und Araber spielten im Arabischen Aufstand eine wichtige Rolle. Die Söhne und Vettern derer, die 1911 in Damaskus gehängt worden waren, und die erbitterte Feinde "der Türken" waren, machten aus ihren Häusern und Dörfern Asylstationen für verfolgte Nationalisten. Nach Cemal Paschas Verhaftungen arabischer Nationalisten, die in den berühmten Hinrichtungen von 1915 und 1916 endeten, faßte man den Plan, aus dem Drusenbergland eine Art Durchgangsstation und Fluchtweg für Deserteure aus der osmanischen Armee zu machen. Das Arab Bulletin stellte fest: "Im Bergland gibt es den organisierten Versuch, Desertionen in den feindlichen Truppen zu ermutigen. Man stellt Deserteuren Unterkunft und Verpflegung zur Verfügung, und verpflegt und versorgt sie, bis sie nach Süden zur Arabischen Armee gebracht werden. Über hundert Mann sind auf diese Weise beschafft worden.". 49

"Der Zufluchtsort von Massen von Verbrechern aus ganz Syrien" war zu einem Teil des neuen arabischen Vaterlandes transformiert worden. Die Drusen und Steppenaraber, die die öffentliche Sphäre auf den Seiten von alMuqtabas als "Barbaren" betreten hatten, wurden nun gerade wegen ihrer "barbarischen" Eigenschaften zu Vorkämpfern des Arabismus und zur Blüte des Arabertums, während es jetzt "die Türken" waren, die zu "Barbaren" umkonstruiert wurden. Die Faszination des Arabertums Doch die politische Geschichte der tatsächlichen Bündnisse zwischen städtischen Intellektuellen und "wilden" Steppenarabern ist nicht zu erklären ohne die Faszination in der kulturellen Sphäre, die das Arabertum in diesen wenigen Jahren erfuhr und die bis zu den arabischen Nationalisten der 1940er Jahre nachwirken wird. Die Transformation unserer "Barbaren" in der Presse wurde von einem Meinungsumschwung in der Damaszener Öffentlichkeit des Jahres 1910 begleitet, der in den Konsularsberichten beschrieben und durchaus nachvollzogen wird. Die Damaszener, die in ihrer Mehrheit gegen die Jungtürken eingestellt seien (die Christen seien verstimmt, daß sie nun auch Wehrdienst leisten mußten, den konservativen religiösen Kreisen schien sie sowie suspekt), so der französische Konsul, begännen sich zu fragen, wer sie denn eigentlich gegen die großen Beduinenstämme der Steppe verteidigen sollte, wenn die Drusen, ihr natürliches Bollwerk im Süden, von den Türken entwaffnet würden. Viele Damaszener Notablen hatten Grundbesitz im Haurân, und auf dem Weizen des Haurân beruhte nicht nur ihr Reichtum,

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Arab Bulletin, Bd. 3, S. 331.

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sondern auch die Versorgung der Stadt.50 Die Militärkampagne, so sah es das Konsulat nun, das vor dem Jahre 1910 ebenfalls die Bestrafung der "Verbrecher" gefordert hatte, die ja immer auch die Christen des Haurân und damit die besondere Klientel der Schutzmacht der orientalischen Christenheit bedrohte, sei in Wahrheit "eine Invasion von Barbaren" gewesen. Wenn "die Türken" sich auf etwas anderes verstünden als die Zerstörung, so würden sie jetzt den Wiederaufbau ermutigen. Stattdessen lieferten sie die wehrlosen Bewohner den Beduinen der Steppe aus.51 Überhaupt ist in den Konsularsberichten permanent von unruhigen, rebellischen Beduinen die Rede, die bereit seien, sich aufzulehnen. Vom Iraq über die Karakis, bis zum Hejaz nach Jemen schien sich eine ganze Beduinenfront zu sammeln, bereit, die Städte anzugreifen. Im Dezember 1910 kursierten Gerüchte, Beduinen revoltierten entlang der ganzen Bahnlinie in den Hejaz.52 Wie wir gesehen haben, machten die Karakis zwei Wochen später in der Tat den Anfang. Das Konsulat in Jerusalem stand unter Schock. Drusen, so meldete der Konsul, die sich nicht unterworfen hatten und in den Süden geflohen waren, hetzten die großen Stämme zu einem Angriff auf die Regierung auf und träfen auf offene Ohren.Die Karakis mobilisierten die Stämme bis nach Gaza. Wenn "es die Araber im Süden von Palästina denen von Karak gleichtun und sich gegen die Türken auflehnen, und die Gerüchte besagen, daß sie sich mit ihren Brüdern im Osten zusammentun wollen", dann sei Jerusalem mit seiner kleinen Garnison nicht zu halten. Solcherart sprächen auch die Parteigänger des arabischen Nationalismus und hofften, daß ein Aufstand im Osten der Beginn des Abzugs der Türken sei.55 Im Januar 1911 kabelte das Konsulat in Damaskus nach Paris, daß es Nachricht habe, die Araber von Asir und Yemen seien in voller Rebellion, diejenigen entlang der Hejazbahn immer noch bedrohlich, und die Türken äußerst besorgt.54 Der Sturm aus der Steppe, der Regierungen hinwegfegt - diese Vorstellungen existierten in der Theorie und in der Literatur. In Ibn Khaldûns zyklischem Geschichtsbild ist die Steppe der Ort, aus der die neuen Energien zur Regeneration der städtischen Zivilisation kommen. Sein Werk war 1749 ins Türkische übersetzt worden und wurde von den Osmanen als Einführung

j j MAE; Paris, Turquie. Syrie-Liban, Damaskus, Piat an Pichón, 14. September 1910. MAE; Paris, Turquie. Syrie-Liban, Damaskus, Piat an Pichón, 14. November 1910. 5 3 MAE; Paris, Turquie. Syrie-Liban, Damaskus, Telegramm Piat an Pichón, 6. Dezember 1912. 5 4 MAE; Paris, Turquie. Syrie-Liban, Jerusalem, Gueraud an Pichón, 23. Dezember 1910. M A E ; Paris, Turquie. Syrie-Liban, Damaskus, Piat an Pichot, 4. Januar 1911. Gerüchte hatten zu dieser Zeit in Syrien Nachrichtenwert und verbreiteten sich in Windeseile. In Aleppo zum Beispiel druckte die lokale Presse Sonderausgaben, in denen der Tod Sultan Abdülhamids gemeldet wurde. Grundlage waren Falschmeldungen aus Istanbul, und die Presse dementierte. Aber immer neue Gerüchte kursierten über entweder Tod oder Flucht des Sultans, als Frau verkleidet [...], a.a.O., Aleppo, Larouce an Pichón, 10. April 1910.

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in die Staatskunst sehr geschätzt.55 Rifa'at al-Tahtâwi hatte nach seiner Rückkehr aus Paris nach Kairo 1854 der amtlichen Druckerei von Bulâq unter den arabischen Klassikern auch das Werk Ibn Khaldûns in Auftrag gegeben.56 Es war in lesenden Kreisen also bekannt. Die Beduinen kamen in seiner berühmteren Muqaddima nicht unbedingt als Kulturträger vor. Sie waren auch in Ibn Khaldûn's Sprache die Vertreter der "Steppenzivilisation, mit ihren Stämmen und wilden Gruppen".57 Aber ihre 'asabiyya, ihr Zusammengehörigkeitsgefühl oder ésprit de corps, ihr Mut, ihre völlige Autonomie, kurz ihre enorme Vitalität, machten sie zum Reservoir neuer, großer Dynastien, wenn die jeweils alte Dynastie durch zu lange Herrschaft in der "Zivilisation der Städte" verweichlicht und unfähig geworden war. Warum sollte man diese Kräfte nun nicht nutzen, um sich der „türkischen Herrschaft" zu entledigen? Und Vitalität war genau das, was die arabische Zivilisation in dieser Phase der Stagnation und des Verfalls dringend brauchte. Das alt-arabische Erbe war seit den historischen Romanen und Geschichtswerken Jurjî Zaydâns in seiner romantischen Form in lesenden Kreisen durchaus präsent.5" Und "vielleicht der erste Autor, der mit Stolz von seinem arabischen Blut sprach", im Jahre 1860, war Butrus al-Bustânî aus der ersten Generation der Autoren des arabischen Wiedererwachens. w Wie wichtig der Topos des reinen arabischen Blutes60 in der Konstruktion der arabischen Identität war, wird auch im folgenden Zitat deutlich, in dem die Drusen, zum einen islamisch-heterodox, zum anderen immer wieder persischer Ursprünge verdächtig, 1925 in Kairo zu besonders "echten" Arabern konstruiert werden: "Genealogien vermengten sich, Ursprünge verloren sich und Blut wurde vermischt in den meisten Gegenden von Bilâd al-Shâm. Aber es verblieb im Haurân und an manchen Stellen des Libanon eine Religionsgemeinschaft, die ihr klassisches Arabisch bewahrte und zusammengeschweißt wurde durch ihr Zusammengehörigkeitsgefühl ( 'asabiyya) und in

Der Freiherr von Hammer-Purgstall, der zu Beginn des 19. Jahrhunderts Forschungen im Osmanischen Reich betrieb, war über das Ausmaß der Kenntnis der Muqaddima innerhalb der Staatsbürokratie überrascht und beschrieb Ibn Khaldûn als den "arabischen Montesquieu";B. Tibi, Nationalismus in der Dritten Welt am arabischen Beispiel, Frankfurt 1979, hier zitiert nach der engl. Übersetzung, Arab Nationalism, a critical enquiry. New York 1997, S. 285, Fußnote 100, leider ohne Quellenangabe. * Hourani, a.a.O., S. 72. 5 g Ibn Khaldûn, arabische Version, a.a.O., S. 271. ^ Zu Jurjî Zaydân siehe T. Philipp, Jurji Zaydan. His Life and Thought, Beirut 1979. A. Hourani, Arabic Thought in the Liberal Age, Cambridge 1991, S. 101. Für den Versuch einer Theorie, die die Nation generell als primär vom "sense of a shared blood" konstituiert sieht, siehe die Arbeiten von Connor, W., v.a. "The Nation and ist Myth" in: A. Smith (Hg.), Ethnicity and Nationalism, Leiden 1992, S. 50.

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d e r Q a y s i y y a u n d Y a m a n i y y a 6 ' bis zu d i e s e m T a g e leben [...] u n d d i e s e a r a b i s c h e u n d i s l a m i s c h e G r u p p e sind die D r u s e n [...]". 6 2

Aber auch die früh-nationalistischen Aussagen, die sich auf den Islam stützten, der ja angetreten war gerade der arabischen Stammeszersplitterung und tribalen 'asabiyya ein Ende zu setzen und die Araber unter dem Banner des Islam zu einigen, kamen um den positiven Gehalt dieses vor-islamischen Zusammengehörigkeitsgefühls nicht herum. Im Falle al-Kawâkibîs war dies gar nicht erst Programm. Er stellte in seinem Werk Umm al-qurâ, ein anderer Name für Mekka, die Araber der Arabischen Halbinsel heraus, die "die die älteste Nation mit einer glänzenden Zivilisation seien, was bewiesen werde durch die Verbreitung ihrer Sprache und die Exzellenz ihrer Literatur und Weisheit".63 Dieser Text erschien ursprünglich in al-Manar, dem vielleicht bekanntesten Publikationsorgan der sich auf den Islam berufenden Reformer, um 1900/1901. Schon seit den 1880er Jahren waren auch Ideen im Umlauf, die den Arabern das Kalifat zurückgeben wollten, wobei nur ein Geschlecht von Arabien, also der arabischen Halbinsel in Frage kam, eine Vorstellung, die der Scherif Husayn dann seinen Plänen im Arabischen Aufstand zugrundelegte. Und vielleicht ist es kein Zufall, daß der Mann, der diese Vorstellungen am klarsten zu Papier brachte, Wilfrid Blunt, gleichzeitig von einer Faszination für die Araber der Steppe beseelt war, die ihm "das kleine Reich Ibn Rashids im Najd als der Inbegriff menschlicher Freiheit erscheinen ließen, trotz einer primitiven Brutalität, die er und seine Ehefrau entweder nicht wahrnahmen, oder entschuldigten", wie Albert Hourani, sichtbar um Verständnis bemüht, kommentierte.64 An dieser Stelle finden wir also wieder den Doppelcharakter der Araber gespiegelt, zum einen in der romantischen Vorstellungswelt des Reisenden, zum anderen im rationalen Duktus des Wissenschaftlers.

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Alle arabischen Stämme wurden in Genesis 10, eingeordnet in die Genealogien von Adnän, dem Urvater der nördlich lebenden Stämme Arabiens, Nachfahre von Ismael, Sohn des Abraham und Qahtän, Stammvater der südlichen Stämme und mit Yoktan, Nachfahre von Sem, Sohn des Noah identifiziert. Vgl. M. Rodinson, The Arabs, (Übersetzung aus dem Franz.), Chicago 1981, S. 16. Im Bewußtsein der ländlichen Bevölkerung des Bilâd al-Shäm (Großsyriens) war der Mythos vom Ursprung aus dem Innerarabien, von der beduinischen Herkunft, fest verankert und realisierte sich in der Identifizierung mit den beiden Stämmen der Qaysiyya und Yamaniyya, was im 16. und 17. Jahrhundert zu verwickelten politischen Konflikten führte. Vgl. M. Hoexter, "The role of the Qays and Yaman factions in local political divisions", in: Asian and African Studies 9 (1973), S. 249-311. Kh. Zirikli, "Einleitung" in: Thabit, Die Drusen, der Große Syrische Aufstand und die Biographie Sultan Pascha al-Atraschs, Kairo 1925, S. 1. Die drusische Überlieferung besagt, daß die Einwanderung in den Haurân vor allem nach der Schlacht von Ayn Dâra, 1711, zwischen diesen beiden Fraktionen erfolgte. A. al-Kawakibi, 'umm al-qurâ, Beirut 1991, S. 162. W. Blunt, The Future of Islam, London 1882; A. Hourani, a.a.O., S. 120.

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Das Verdienst aber, diese Faszination aus dem Diskurs der Intellektuellen herab in die Sphäre von Fleisch und Blut transferiert zu haben, wo sie dann politisch wirksam wurde, kommt unseren Haurandrusen und Karakis zu. Im Kulturkontakt mit ihnen schienen den städtischen Intellektuellen die alten arabischen Werte wiederaufzuleben, die fortan fester Bestandteil des nationalen arabischen Diskurses der Zivilisation werden sollten. In Muhammad Kurd 'Alis reuigen Worten: "Ich zankte mit mir selbst, weil ich so begeistert war über die Bestrafung des Berglands und seiner Bewohner, bei denen es doch Freunde gab, und bei denen Ehre, Großzügigkeit und Männlichkeit herrschten." 65

In seinem Magazin war er offensichtlich bestrebt, den Karakis, den ehemaligen Barbaren der Tageszeitung, mehr Gerechtigkeit widerfahren zu lassen. Unter dem Titel 'umrân al-Karak, also etwa "die zivilisatorische Blüte von alKarak" ließ er in einem langen Artikel die glorreiche Vergangenheit dieses Landstrichs Wiederaufleben, vom König Moab über Saladin bis zur traurigen Gegenwart, mit vielen gelehrten Zitaten und dem Schluß, daß die "Könige von einst" nun arm und elend seien, und die Schuld und Verantwortung dafür bei der Regierung liege.6' Welche Formen der Diskurs der Zivilisation in seiner voll politisierten Form annehmen konnte, soll im folgenden Zitat deutlich werden, das gleichzeitig auch den Höhepunkt des in diesem Beitrag analysierten Prozesses zum Ausdruck bringt: "Ihr Söhne Qahtâns, Ihr Nachfahren Adnâns! Schlaft Ihr? Dies ist Euer Land, und sie sagen, daß das Volk regiert, aber die, die über Euch im Namen der Verfassung herrschen, sehen Euch nicht als Teil des Volkes an, denn sie unterdrücken und verfolgen Euch. (...) In ihren Augen seid Ihr nichts anderes als eine Herde Schafe, die man schert, melkt und schlachtet. (...) W o ist Eure Qahtanische Ehre? W o ist Euer Adnanischer Stolz? Die Armenier, so klein ihre Zahl ist, haben ihre unabhängige Verwaltung vom türkischen Staat erkämpft und werden ihre Unabhängigkeit erhalten, (...) während Ihr auf ewig die Sklaven der Nachfahren von Dschingis und Hülagü sein werdet, die Eurer fortgeschrittenen arabischen Regierung in Bagdad, dem Hort des Friedens, ein Ende gesetzt haben ; und der Nachfahren von Tamerlan, der einen Turm in Aleppo gebaut hat aus den Köpfen von

^

M. Kurd Ali, a.a.O., S. 82. majalla al-Muqtabas, V, S. 710-732. Städtische, am American Protestant College in Beirut ausgebildete Intellektuelle wie der Arzt 'Abd al-Rahmân al-Shahbandar ließen sich 1917 in beduinischer Tracht abbilden, oder, wie der städtische Notable Nasîb al-Bakrî als Hejazi mit schwarzem Sklaven im Hintergrund, ganz im Stile der großen Scheichs. Auch wenn dies eher festliche Portraits waren, zur Feier des Arabischen Aufstands, sind Änderungen des Habitus nicht auszuschließen.

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80 000 Arabern. W i e lange wollt Ihr noch schweigend zusehen, wie man Eure Ehre schändet, (...) wie man Euer Geld in den Palästen von Konstantinopel f ü r Alkohol, Musik und Luxus ausgibt und Eure jungen Männer gegen ihre arabischen Brüder hetzt, im Jemen, in al-Karak und im Haurân." 6 7

Dieses flammende "Manifesf'aus Kairo aus dem Jahre 1914 erwähnt nicht nur die Hauraner und Karakis, bis zum Jahre 1910/11 weitgehend unbekannte und für die Kairiner sicher völlig unbedeutende Größen, ein Zeichen für die Bedeutung, die die Handvoll Haurâner und Karakîs als arabische Opfer despotischer türkischer Willkür mittlerweile im nationalistischen Diskurs erlangt hatten. Es greift auch eine ganze Anzahl von Symbolen aus dem Diskursfeld "Zivilisation" und "Barbarei" auf. Adnân und Qahtân sind die Urväter der Araber, die Nordaraber und Südaraber der vorislamischen Arabischen Halbinsel/ 8 In Qahtân und Adnân ist für die arabischen Nationalisten in positiver Weise das "reine Blut" der Araber und überhaupt die "reine", asketische Lebensform der Beduinen verkörpert,. Das negative Stereotyp der Araber als Schafe (nicht einmal Kamele) züchtende Hirten, fernab von jeder Zivilisation, wurde von städtischen Osmanen (und Persern) gleichermaßen gerne für die Araber verwendet. Hier wird dieses negative Stereotyp aufgegriffen, und die Araber selbst werden als Schafe dargestellt, um sie "wachzurütteln". Die Osmanen dagegen fallen endgültig, ähnlich wie es auch Muhammad Kurd 'Ali in seinem Magazin dargestellt hatte, einmal unter die Rubrik der "Barbaren" (Kultur-zerstörerische Nachfahren der Mongolen) und zum andern in die Rubrik der "falschen Zivilisation": verweichlichte, frivole und oberflächliche Verhaltensweisen ohne tiefere Moral (Paläste, Trinkgelage etc.), beides Stereotypen, die auch in der orientalistischen Kunst und Ideenwelt des Westens zu finden sind, ohne jedoch notwendig von diesen beeinflußt zu sein.™ Ausblick

Selbstbehauptung durch Rückgriff auf das Eigene, in den meisten Fällen eine glorifizierte Vergangenheit, ist eine wohlbekannte Strategie in der Auseinandersetzung mit dem Fremden, der Herausforderung von außen. Was jedoch jeweils als fremd und eigen konstruiert wird, unterliegt sich wandelnden

7 Arabisch-nationalistisches Manifest, verteilt in Kairo zu Beginn des Ersten Weltkrieges, zit. gg nach S. Haim, Arab Nationalism, An Anthology, Berkeley u.a. 1962, S. 83. Siehe Fußnote 52. Zum Topos der Barbaren und zum "türkischen ' Verrat' an ihrer eigenen Antike, dem Kalifat von Bagdad", siehe z.B. K. Kreiser, "Haben die Türken Verstand? Zur europäischen Orient-Debatte im napoleonischen Zeitalter", in: Hans Stein (Hg.), Ulrich Jasper Seetzen, 1767-1811, Leben und Werk, Gotha 1995, S. 168. Zum Bild des "vom Luxus verdorbenen, verweichlichten" Osmanischen Reiches in der Kunst siehe z.B. den Ausstellungskatalog G. Sievernich/H. Budde, Europa und der Orient, 800-1900, München 1989.

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Diskursen. Wie schnell diese transformiert werden können, wie aus dem Fremden, Barbarischen Eigenes, und aus dem vormals Eigenen Fremdes, Barbarisches werden kann, hat unser Beispiel hoffentlich gezeigt sowie es auch gezeigt hat, daß die Expansion Europas zwar direkt und indirekt Entwick lungen in den außereuropäischen Gesellschaften auslöst, daß aber Europa nicht unbedingt im Zentrum der Auseinandersetzung stehen muß. Nicht einmal im Kontext unseres historischen Falles, der Vorgeschichte des Arabischen Aufstands, dem Paradebeispiel europäischer Manipulation („Lawrence von Arabien"), spielt Europa im Diskurs die beherrschende Rolle, sondern sind es vielmehr lokale Gegebenheiten, die Erfahrungen der Lebenswelt, die ihn bestimmen. Dies bedeutet jedoch nicht, daß er deshalb weniger bedeutsam oder wirkungsmächtig wäre. Im Gegenteil: Nicht England brachte städtische Nationalisten und arabische Stämme zusammen, dies geschah durch die Transformation eines Konzepts. Bibliographie Arab Bulletin, Bulletin of the Arab Bureau in Cairo, 1916-1919, 4 Bde., with a new introduction and explanatory notes by Dr. Robin Bidwell, Archive Editions, 1986 Archivquellen: Ministère des Affaires Etrangères, Turquie, Syrie-Liban al-Kawakibi, Α., 'umm al-qurâ, Beirut 1991 Blunt, w „ The Future of Islam, London 1882 Connor, W., "The Nation and its Myth" in: Smith, A. (Hg.), Ethnicity and Nationalism, Leiden 1992, S. 48-57 Eickelmann, D., The Middle East. An Anthropological Approach, Englewood Cliffs 1981. Haddad, M., "The Rise of Arab Nationalism Reconsidered", in: International Journal for Middle East Studies 26, (1994), S. 201-222 Haim, S. Arab Nationalism, An Anthology, Berkeley u.a. 1962 Hermann, R., Kulturkrise und konservative Erneuerung. Muhammad Kurd Ali (1876-1953) und das geistige Leben in Damaskus zu Beginn des 20. Jahrhunderts, Frankfurt a.M. u.a. 1989 Hoexter, M., "The role of the Qays and Yaman factions in local political divisions", in: Asian and African Studies 9 (1973), S. 249-311 Hourani, Α., Arabic Thought in the Liberal Age, Cambridge 1991 Ibn Khaldûn, al-Muqaddima, A. Wafi (Hg.), Kairo 1957 Kreiser, Κ., "Servet-i Fiinûn und seine Leser im Spiegel der tausendsten Nummer (1910)", in: C. Herzog/R. Motika/A. Pistor Hatam (Hg.), Presse und Öffentlichkeit im Nahen Osten, Heidelberg 1996 Kreiser, K., "Haben die Türken Verstand? Zur europäischen Orient-Debatte im napoleonischen Zeitalter", in: Hans Stein (Hg.), Ulrich Jasper Seetzen, 1767-1811, Leben und Werk, Gotha 1995, S. 155-173 Kurd Ali, M., mudhakkirât, Bd. 1, Damaskus 1948 Man huwa fî Sûriya, Wer ist wer in Syrien?, Damaskus 1954 majalla al-Muqtabas, Muhammad Kurd'Ali (Hg.), Zeitschrift, 8 Bde, Kairo/Damaskus 1906-1916 Philipp, T., Jurji Zaydan. His Life and Thought, Beirut 1979. Prätor, S., "Arabische Stimmen in der Istanbuler Presse der Jungtürkenzeit", in: Christoph Herzog/R. Motika/Anja Pistor-Hatam, Der arabische Faktor in der jungtürkischen Politik. Eine Studie zum osmanischen Parlament der II. Konstitution (1908-18), Berlin 1993 Prätor, S., Der arabische Faktor in der jungtürkischen Politik. Eine Studie zum osmanischen Parlament der II. Konstitution (1908-18), Berlin 1993

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Rogan, E., "Instant Communication: The Impact of the Telegraph in Ottoman Syria" in: T. Philipp/B. Schaebler, The Syrian Land. Processes of Integration and Fragmentation in Bilâd alShämfrom the 18"· to the 2 f f h century, Stuttgart 1998, S. 113-128 Rogan, E., Ottoman Reforms and Arab Revolts unveröffentlichtes Manuskript Schaebler, Β., Aufstände im Drusenbergland, Gotha 1996 Seikaly, S., "Damascene intellectual life in the opening years of the 20lh century: Muhammad Kurd 'Ali and al-Muqtabas", in: M. Buheiry, Intellectual Life in the Arab East, 1890-1939, Beirut 1981, S. 125-153 Sievernich, G./H. Budde, Europa und der Orient, 800-1900, München 1989 Tibi, B., Nationalismus in der Dritten Welt am arabischen Beispiel, Frankfurt 1979 (engl. Übersetzung: Arab Nationalism, a critical enquiry, New York 1997) Zirikli, Kh., „Einleitung", in: K. Thabit, Die Drusen, der Große Syrische Aufstand und die Biographie Sultan Pascha al-Atraschs, Kairo 1925

Der Leitartikel in der frühen chinesischen Presse. Aspekte kultureller Interaktion auf der Ebene des Genres Andrea Janku „It is a weighty word of classical origin, the sort of utterance that runs to and fro in erudite circles. Something beyond mere talk is implied. Unlike trivial talk, discourse resonates with reason, with method, with purpose. Whether its loftier values were ever entirely realized is, in one sense, of no moment. Discourse is an ancient aspiration. As idealized in the Western culture's vision of classical Greece, expression was valued as a means to some telos, some greater end. For Aristotle, expression was not simply for its own sake but, rather, was discourse in the service of the civic good, oragathon. Expression, properly understood, was essential to padeia, the shaping of character".' „Der Leitartikel (lunshuo) ist die Seele der Zeitung" (...) 2

Textgenres gehören zu den wichtigsten kulturellen Ressourcen einer Gesellschaft, und welche Genres eine bestimmte Gesellschaft ausgebildet hat, sagt einiges über die Strukturen dieser Gesellschaft aus. Ich verwende den Begriff Genre als soziologische und nicht als literarische Kategorie, weil ich der Frage nachgehen will, welche Handlungsmuster einem bestimmten Genre zugrunde liegen und wie diese sich verändern.3 Leitartikel, die in einer diffusen gesellschaftlichen Sphäre operierten, zunächst eine quasi-private ("quasi" weil veröffentlichte) Meinung (erst des Herausgebers der Zeitung, dann einer bestimmten sozialen Gruppierung außerhalb der Bürokratie) vertraten und schließlich beanspruchen sollten, die "öffentliche Meinung" schlechthin zu repräsentieren, 4 gehörten nicht zum klassischen Repertoire chinesischer Textgenres. Der moderne Begriff shelun (Leitartikel) ließ in China bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts auf sich warten und kam dann mit den Publikationen der exilierten Reformer und Revolutionäre auf dem Umweg über Japan nach China. 5 Dennoch gab es schon einige Jahrzehnte bevor der neue Begriff geprägt wurde, so etwas wie Leitartikel in China. Während die Untersuchung dieser Texte und der Geschichte des neuen Genres das Modell der Aneignung

3

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Ronald K. L. Collins/David M. Skover, The Death of Discourse, Boulder 1996, S. xix. Ren Baitao, Yingyong xinwenxue (Angewandte Journalistik), Shanghai 1989 (1937), S. 73. Vgl. Carolyn R. Miller, "Genre as Social Action", in: Quarterly Journal of Speech 70 (1984), S. 151-167. John Swales, "Genre and Engagement", in: Revue Beige de Philologie et d'Histoire 71 (1993), S. 687-698. Xu Baohuang, 'Xinwenzhi zhi shelun' (Das Editorial der Zeitung), in: Ders., Xinwenxue gangyao (Abriß der Journalistik), Shanghai 1989 (1930). Yao Gonghe, Shanghai xianhua (Plaudereien über Shanghai), Shanghai 1989 (1917), S. 126.

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westlicher Ausdrucksformen und anschließender Instrumentalisierung derselben zu Zwecken der Selbstbehauptung 6 bestätigt, gibt es doch auch über dieses Modell hinausgehende Hinweise auf allgemeinere Entwicklungsmomente und ihre kulturelle Verankerung. Der Leitartikel als die herausragende Ausdrucksform der politischen Meinungspresse hat sich im Rahmen eines offenen interaktiven Prozesses herausgebildet. Westliche Vorbilder wurden rezipiert und zusammen mit eigenen chinesischen Formen in einem neuen Genre integriert. Dabei wurden die kulturellen Möglichkeiten des neuen Genres ausgetestet und entwickelt. Als dann die Reformer und Revolutionäre im ersten Jahrzehnt nach der Jahrhundertwende die neue Presse massiv zur Selbstbehauptung instrumentalisierten, sahen sie in ihrem Instrument nichts Fremdes mehr. Im Gegenteil schien ihnen die kommerzielle chinesische Presse nicht als ein angeeignetes westliches Medium, sondern reformierten und modernisierten sie und benutzten sie ganz bewußt als modernes, nicht spezifisch westliches Kommunikationsmedium. 1872 erschien im North China Herald ein Leitartikel über die chinesische Presse, der in geradezu exemplarischer Weise die Haltung des "wohlwollenden Kolonisatoren" vorführt, der ausgezogen ist, um einem entwicklungsbedürftigen Volk die Errungenschaften der zivilisierten Welt nahezubringen. Die Freiheit der Presse erscheint als eine der herausragendsten dieser Errungenschaften. If there is one subject more than another upon which Englishmen are prone to dilate, it is the felicity of having a free press. W e are all naturally grateful for a boon which has done so much to elevate us amongst the nations, and we are not soon tired of referring to the advantages it has been the means of conferring upon our race.

Während die Engländer sich die Freiheit der Presse erkämpft hätten, sei die Presse in China seit Urzeiten frei gewesen. "If a man writes a book in China, and can afford to get it printed, there is no let or hindrance placed in his way by the Government, and, if he composes in a correct style, his volume is pretty certain to gain a large circulation." Daß trotz dieser idealen Bedingungen in China nichts entstanden sei, dessen Einfluß der politischen Presse in England vergleichbar gewesen wäre, führt der Autor auf den stereotypen Charakter der in China publizierten Schriften zurück. Diese seien "[...] not healthy and vigorous enough to effect a radical change, nor even to stir up a righteous discontent. They are all cut to a pattern. They are not books animated by

Dietmar Rothermund, 'Aneignung und Selbstbehauptung: Antworten auf die europäische Expansion'. Einleitung zum 6. Kolloquium des DFG-Schwerpunktprogramms "Transformationen der europäischen Expansion vom 15. bis 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur kognitiven Interaktion von europäischen und außereuropäischen Gesellschaften", Heidelberg, 13.15.2.1998.

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any vivid spirit or invigorating principle. There is no earnestness in their appeals, no warmth in their denuciations. If abuses are touched upon, they are referred to the age of some ancient sovereign who is a traditional incarnation of vice, and the edge of the censure is thus blunted."

Dieses Defizit, so glaubte man nun, würde durch den zunehmenden westlichen Einfluß bald verringert werden können. "The natives now under instruction read the books of European writers, and we hope that the glowing thoughts which they contain will gradually penetrate the most impervious of nations, and bear fruit."'Dieser Artikel erschien kurz nach der Gründung der Shenbao ("Shanghai Daily News", 1872-1949), die bald zu einer Institution in der Meinungslandschaft Shanghais und des offiziellen Chinas werden sollte, und er zeichnet die Karikatur einer chinesischen Kultur der öffentlichen Kommunikation, die nun durch das Implantat der neuen Presse konterkariert werden sollte. Was ist nun dieses "englische Modell", dem man unterstellen kann, ähnlich wie das gesamte model settlement als ein Idealbild westlicher (britischer) Kultur in Shanghai neu inszeniert worden zu sein, und welches Handlungsmuster bestimmt den leading article der englischen Presse? Der Begriff leading article (bzw. editorial) ist seit dem späten 18. Jahrhundert belegt. Seine Blüte erlebte er - zeitgleich mit der politischen Presse - im 19. Jahrhundert. In der viktorianischen Ära spielten die Herausgeber und Redakteure von Zeitungen eine wichtige politische Rolle. Die Presse und damit der leading article als Meinungsform par excellence war quasi untrennbar mit dem parlamentarischen System und der Kultur des freien politischen Debattierens verbunden. Politische und administrative Reformen waren wichtige journalistische Themen, wirtschaftliches Wachstum und technologische Neuerungen wurden in engem Zusammenhang mit der freien Presse gesehen. Viele Herausgeber und Redakteure waren selbst politische Aktivisten, Lobbyisten oder Parteileute, und für eine einflußreiche Minderheit war der Journalismus ein wichtiger Schritt auf dem Weg zu einem Sitz im Parlament oder einer anderen politischen Funktion.9 Die Presse wurde zunehmend als ein Mittel der Propaganda wahrgenommen, was für eine politische Instrumentalisierung ausschlaggebend war. So schrieb ein Geistlicher 1851, die Aufgabe des Herausgebers einer Provinzzeitung sei es, "to work by tongue and pen for the social political mental moral and religious [sic] advancement of the

7 , g The Chinese Press, in: North China Herald, 25.5.1872. Shanghai Mercury Office, 1843 - Shanghai - 1893, The Model Settlement, Shanghai 1893. 9 Joel Wiener (Hg ), Innovators and Preachers. The Role of the Editor in Victorian England, Westport 1985. Vgl. auch Laurel Brake u.a. (Hg.), Investigating Victorian Journalism, Houndmills 1990. Stephen Koss, The Rise and Fall of the Political Press, Vol. 1: The Nineteenth Century, London 1981.

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people." 10 Es war diese Verbindung zur Politik, die zu einer enormen Aufwertung des sozialen Prestiges der Zeitungsleute, v.a. der Herausgeber und Redakteure, geführt hatte." Und es war diese Erscheinungsform der politischen Presse, die nach der ersten Phase der missionarischen Presse die frühe chinesische (und auch japanische 12 ) Presse inspiriert und ihr ein gewisses wenn auch zuweilen zweifelhaftes - Prestige verliehen hatte. Ein Historiker der englischen Presse sieht den Herausgeber der modernen Zeitung im Zentrum der Viktorianischen Welt: "He typified both the transformations that were making Britain an urban nation and a stable society. Damit sind zwei Grundpfeiler der bürgerlichen Gesellschaft bezeichnet Urbanität und Stabilität - und gleichzeitig werden die Handlungsgrenzen dieser Leute, und damit die Grenzen der freien Presse, deutlich, die eben ihr bürgerliches committment ist. „The solid, bourgeois respectability of so many Victorian editors, along with the spiralling costs of production and the interests of shareholders and advertisers, imposed their o w n constraints on the freedom of the press. The integrity of the notion of a Fourth Estate has in recent years been ably and deservedly demolished, and its continued use by journalists and historians is distinctly unhelpful." 1 4

Oder anders gesagt, die Verwandlung der Rolle der Zeitungsleute vom sozialen outcast zum respektablen Bürger hatte auch ihre Wirkung auf die Funktion der Presse. Anstatt sich in Revolution zu üben - die hatte man ja schon hinter sich - wirkte sie als ein sozialer und politischer Stabilisator. Die ersten Journalisten in China, die sich aus derselben Schicht der Bildungselite rekrutierten wie die Beamtenschaft, konnten sich in ähnlicher Weise als Teil einer den Staat und die Gesellschaft politisch und moralisch stabilisierenden neuen Institution verstehen - ohne daß diese neue Institution eine vergleichbare Vorgeschichte durchlaufen hätte. Es ist dieses Konzept einer bürgerlichen Presse, das ein Ernest Major (s.u.) in Shanghai - einer modernen Enklave in einer vorrevolutionären Gesellschaft - so erfolgreich verfolgte.

Zitiert in Derek Fraser, "The Editor as Activist: Editors and Urban Politics in Early Victorian 11 England", S. 126, in: Wiener (Hg.), Innovators and Preachers, S. 121-143. Zum sozialen Ansehen des Journalisten in Europa siehe Lenore O'Boyle, "The Image of the Journalist in France, Germany, and England, 1815-1848", in: Comparative Studies in Society 2 and History 10 (1968), S. 290-317. Zur Bedeutung der Presse und ihrer Leitartikel für die Einführung des Parlamentarismus in j 2 Japan siehe Hanazono Kanesada, The Development of Japanese Journalism, Osaka 1924. ] 4 Wiener (Hg.), Innovators and Preachers, xiii. (Hervorhebungen A.J.). Aled Jones, "Local Journalism in Victorian Political Culture", in: Brake u.a.. (Hg.), Investigating Victorian Journalism, S. 63-70.

Der Leitartikel in der frühen chinesischen

Major als Pionier des chinesischen

Presse

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Leitartikels

Es waren Missionare, die Anfang des 19. Jahrhunderts erst in Südostasien und dann in Südchina die ersten chinesischsprachigen Journale gegründet und damit das Medium für neue Textgenres nach China gebracht hatten. Daß damit auch völlig neue Handlungs- und Wirkungsmöglichkeiten bereitstanden, wurde zwar schon bald verstanden (z.B. von Lin Zexu), diese sollten aber erst sehr viel später, als die Zeitungen in höheren Auflagen erschienen und eine weitere Verbreitung fanden, umfassend umgesetzt werden. Die chinesischsprachigen Druckerzeugnisse, die von westlichen Missionaren in China hergestellt wurden, erinnerten zunächst nur entfernt an die typische westliche Zeitung. Sie enthielten wohl "Diskurse" (lun), diese hatten aber nichts mit dem politischen Leitartikel der westlichen Presse zu tun, sondern waren religiöse Traktate zur Verbreitung der Frohen Botschaft oder wissenschaftliche Artikel zur Verbreitung von "nützlichem Wissen". Die frühen kommerziellen Zeitungsgründungen nach westlichem Muster (sie erschienen nicht als Hefte, wie die Missionarspublikationen, sondern in der Form moderner Zeitungen als Blätter) in Hongkong waren ganz auf die Informationsbedürfnisse des Handelshafens abgestimmt, und so spielten auch hier Leitartikel keine oder nur eine untergeordnete Rolle. 15 Die religiösen Traktate waren kaum geeignet, in gebildeten Kreisen nennenswerten Einfluß auszuüben, und für die späteren von Chinesen gegründeten kommerziellen Zeitungen "nur" insofern von Bedeutung, als sie die technischen Voraussetzungen zur Produktion von Zeitungen geschaffen hatten. Der Einfluß der frühen kommerziellen Presse in Hongkong war lokal eng begrenzt. Ihre Bedeutung lag v.a. darin, die Pioniere des chinesischen Journalismus mit dem Metier vertraut gemacht zu haben. Entsprechend waren die Reaktionen der chinesischen Bildungselite: Strikte Ablehnung religiöser Propaganda und wißbegierige Aufnahme der sog. "westlichen Gelehrsamkeit". Kommerzielle Zeitungen stießen aus stilistischen oder ideologischen Gründen auf Ablehnung. Die Zeitung war als Medium eingeführt, aber gerade nicht als Träger von unabhängiger Meinung und tagesaktuellen (politischen) Nachrichten, wie es das Ethos der englischen Presse war. Weder in den frühen chinesischsprachigen Zeitungen in Hongkong noch in der ersten chinesischsprachigen Tageszeitung in Shanghai, der von der North China Herald Co. herausgegebenen Shanghai Xinbao ("Shanghai News", 1861-1872), spielte der Leitartikel als eigenständiges Genre eine charakterisierende Rolle. Einen völlig anderen Weg ging der Geschäftsmann Ernest

Vor der Gründung der Shenbao gab es in Hongkong die Zhongwai Xinbao ( 1858-1919), Jinshi Bianlu (Hongkong News, 1864-ca. 1900), beides ausländische Unternehmen, und die (Xianggang) Huazi Ribao (The Chinese Mail, 1864 bzw. 1872-1941) als erstes chinesisches Unternehmen.

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Major (1841-1908)' 6 mit der Gründung der Shenbao 1872. Die Attraktivität seines Produkts für die von ihm anvisierte Klientel bestand darin, daß er - in Zusammenarbeit mit seinen chinesischen Mitarbeitern - ein Zeitungskonzept entwickelt hatte, das sich sehr eng an klassische Erscheinungsformen und Handlungsmuster anlehnte. Im Gegensatz zu den Hongkonger Zeitungen wählte er ein Format, das das (chinesische) Format des Hofzirkulars, der Jingbao (Peking Gazette), adaptierte. Die Zeitung wurde so auf die Papierbögen gedruckt, daß diese zur üblichen Heftform zusammengefaltet werden konnten.17 Damit hatte er das Modell etabliert, dem fast alle Zeitungsneugründungen bis zur Jahrhundertwende nacheifern sollten.18 Das zweite Novum für eine kommerzielle Tageszeitung war die Integration des Leitartikels, dessen Ideologie und Rhetorik sich an chinesische Konventionen anlehnte, zentral auf der Titelseite. Dagegen stilisiert die chinesische Geschichtsschreibung Wang Tao (18281897), den Gründer der Xunhuan Ribao ( Universal Circulating Herald, 18741941) in Hongkong, zum Vater des politischen (Leit-)Artikels (zhenglun), nicht zuletzt deshalb, weil sie einen "indigenen" Ursprung für die Modernisierung dieses wichtigen Genres brauchte.19 Die Xunhuan Ribao war die erste Tageszeitung, die sich rühmen konnte, ein rein chinesisches Unternehmen zu sein.20 Dabei bleibt unerwähnt, daß die politischen Artikel in der Xunhuan Ribao längst nicht die herausragende Stellung einnahmen, die ihnen in der Shenbao zukam. Die berühmten politischen Artikel erschienen nur ein- bis dreimal pro Woche unter der Rubrik "Nationale und Internationale Nachrichten" im zweiten Teil der Zeitung. Zudem hatte Major den Leitartikel schon zwei Jahre vorher zu einem charakteristischen Merkmal der Shenbao gemacht. Dennoch darf nicht unerwähnt bleiben, daß Major sich bekanntlich, bevor er mit der Shenbao auf den Markt ging, über die Erfahrungen der Hongkonger Journalisten kundig gemacht hatte,21 daß von Anfang an enge

Zu Major siehe R. G. Wagner, z.B. 'Ernest Major's Shenbaoguan and the Formation of late Qing Print Culture'. Paper prepared for the Conference "Creating a Multiethnic Identity: The ] 7 Shanghai Concessions 1850-1910", Heidelberg, June 7-9, 1998. Einen Überblick über die verschiedenen Formate chinesischer Zeitungen gibt Wolfgang Mohr, Die moderne chinesische Tagespresse. Ihre Entwicklung in Tafeln und Dokumenten., „ Band 3: Dokumente, Wiesbaden 1976. Beispielsweise die Hubao (1882-1900), Huibao (1874), Xinbao (1876-1882), Xinwenbao 1 9 (1893-1949). Z.B. Chen Zusheng. 'Wang Tao', in: Xinwenjie renwu (Persönlichkeiten aus der Welt der Presse), Bd. 1. Beijing 1983; Fang Hanqi, Zhongguo xinwen shiye tongshi (Geschichte der 2 0 chinesischen Presse), Beijing 1992, S. 477. Zur Gründungsgeschichte der Xunhuan Ribao vgl. Natascha Vittinghoff. 'Freier Fluß: Zur Kulturgeschichte des frühen chinesischen Journalismus (1862-1911)', Diss. Heidelberg, S. 8321

1 5 6

·

Hu Daojing. "Shenbao liushiliu nian shi" (66 Jahre Geschichte der Shenbao), in: Ders., Baotanyihua (Presseanekdoten), Shanghai 1940, S. 83.

Der Leitartikel

in der frühen chinesischen

Presse

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persönliche Verbindungen zwischen Wang Tao - der schon seit 1864 als Redakteur der Jinshi Bianlu (Hongkong News, 1864 - ca. 1900) gearbeitet hatte, also kein Presseneuling war - und den chinesischen Mitarbeitern der Shenbao bestanden, und daß die Shenbao regelmäßig die Artikel der Xunhuan Ribao nachdruckte. Die "Aneignung" des Genres vollzog sich also von Anfang an in einem intensiven interaktiven Prozeß und nur so konnte das Genre erfolgreich sein. Schon in den ersten Ausgaben der Shenbao folgten einige der Leitartikel der besten Tradition einer "aufklärerischen" Presse. Diskutiert wurden z.B. auf Modernisierung drängende Themen wie die Vorteile der Eisenbahn für einen Handelsknotenpunkt wie Shanghai, die Vorzüge eines Wasserwerks und der Abbau von Bodenschätzen. Möglicherweise haben solche Artikel nur begrenzte Zustimmung gefunden oder, wie ein Autor es formulierte, "wer zu hoch singt, findet niemanden, der einstimmen kann."22 Doch der langfristige Erfolg des Konzepts zeigt, daß Major sehr bald den richtigen Ton gefunden hatte. Den Leitartikel betreffend waren es v.a. zwei Dinge, die die Shenbao gesellschaftsfähig machten. Erstens bediente er sich eines unaufdringlichen Tons, indem er seine Artikel als Vorschlag oder guten Rat formulierte - auf lokaler Ebene an "die um die Dinge der Welt Besorgten", auf nationaler Ebene an "die für die Regierung Verantwortlichen" - und sich dabei an etablierte rhetorische Konventionen hielt. Zweitens reagierte er (beispielsweise bei der Themenwahl) flexibel auf die Bedürfnisse des Marktes und der von ihm anvisierten Klientel - der chinesischen Bildungselite, die er aktiv in die Gestaltung der Zeitung mit einbezog. In den ersten Ausgaben erschienen wiederholt die Statuten der Shenbao, worin um Leserbeiträge, literarische Stücke (v.a. Gedichte mit aktuellem Bezug) und Abhandlungen (verstanden als Kritik oder Rat an die Regierungsverantwortlichen) gebeten wurde. Diese Strategie der Einbeziehung der Leser fand eine starke Resonanz. Sowohl die literarischen als auch die essayistischen Leserbeiträge haben entscheident dazu beigetragen, daß die Shenbao sehr schnell unter die kulturellen Ressourcen der Jiangnan-Elite eingereiht wurde. Die (signierten) Abhandlungen erschienen zum großen Teil zentral auf der Titelseite, ebenso wie die (unsignierten) Artikel der Shenbao-Redakteure oder diejenigen aus Majors eigener Feder. Diese Abhandlungen über "die Regierung des Landes und die Lebenshaltung des Volkes, die Kultivierung des Bodens und Probleme der Bewässerung, die zum einen von den Erfordernissen des kaiserlichen Hofes für das Wohl des Landes und des Volkes handeln und zum anderen um die Mühen des einfachen Volkes um das tägliche Brot wissen",23 die meistens als lun ("Abhandlung", "Diskurs") oder shuo ("persuasive Rede") erschienen, die lunshuo, waren bald als das chinesische Äquivalent zum englischen leading 22

Hu Daojing, "Shenbao liushiliu nian shi", S. 84. "Ben guan tiaoli" (Statuten unserer Zeitung), Shenbao

(SB) 30.4.1872.

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article etabliert. Schon die Wortwahl dieser Beschreibung zeigt, wie eng Major an chinesische Textgenres und die ihnen zugrunde liegenden Handlungsmuster anknüpfte. Zunächst wird man an die seit der Ming-Zeit (13681644) etablierte Literatur zur Kunst der Staatsführung (jingshi wen)24 erinnert, und weiter verweist der Themenkreis an die Aufgaben der Beamten und Zensoren, den Autoren von Memoranden und Throneingaben. Dennoch betont Major in einem Leitartikel über die Ursprünge der Shenbao auch ein wesentliches Moment der modernen Presse. Mit dem Beispiel der europäischen und speziell der Londoner Presse illustriert er die Vorteile des neuen Mediums Zeitung. Ein wichtiger Punkt dabei ist, daß mit der Presse die Vielfalt der Nachrichten und Meinungen nicht mehr allein dem Hof vorbehalten sein wird, sondern auch das Volk erreichen werde.25 Der Shenbao gelang es mit diesem Konzept, innerhalb kürzester Zeit einen festen Platz in der intellektuellen Landschaft des Jiangnan-Gebiets einzunehmen. 1881 schrieb ein chinesischer Redakteur in der Yongbao (Ningbo Report) über die unerreichten Qualitäten der Shenbao, die allein dem energischen Wirken ihres Herausgebers zu verdanken seien. Das größte Verdienst der Shenbao - noch vor dem vollständigen Abdruck der Peking Gazette, wodurch diese endlich die notwendige Publizität erhielte, und dem informationsreichen Anzeigenteil - sei der obligatorische "Diskurs", d.h. der Leitartikel (lun). „Auf jeden Fall muß es täglich einen Diskurs (Leitartikel) geben. Meistens handelt er über die aktuelle Politik, wenn nicht, dann ist er von Belang für den Wandel der Zeiten und die Moral des Volkes oder er entspricht den Gefühlen der Menschen und den Prinzipien der Dinge. Unermüdlich wird [ein Thema] untersucht und Meinungen werden gegeneinander abgewogen. Wenn er auch gelegentlich von Vorurteilen bestimmt sein mag, die Gegenwart abtut und die Vergangenheit preist, das Kleine hervorhebt und das Wesentliche übergeht, und dadurch nicht immer in der Lage sein mag, völlig mit der tatsächlichen Situation in Einklang zu stehen, so ist doch seine Haltung in höchstem Maße ehrenhaft (gong) und seine Absicht in höchstem Maße durchdacht (mi) und niemals findet man vages, leeres Gerede. Diejenigen [Leitartikel], die genau auf eine konkrete Situation zielen, sind tatsächlich Medizin zur Rettung der Nation und Donner zum Aufschrecken des gemeinen Volkes. Das ist der erste Punkt, weshalb sie (die Shenbao) von Nutzen für die aktuellen Probleme ist." 26

25

26

Die erste Qing-Edition des Jingshi wenbian (Collection of writings on statecraft), He Changling und Wei Yuan (Hg.) erschien 1827. Vgl. Benjamin A. Elman. "The Relevance of Sung Learning in the Late Ch'ing: Wei Yuan and the Huang-ch'ao ching-shih wen-pien", in: Late Imperial China 9:2 (Dec. 1988), S. 56-85. "Shenjiang Xinbao yuanqi" (Die Ursprünge der Shanghai Daily News), SB renshen (1872) 3

·

2 9

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"Shenbao zhiyi" (Zweifelnde Fragen über die Shenbao), in: Yongbao, Guangxu 7.3 (1881). Die ersten zwei Seiten dieser Ausgabe sind reproduziert in Mohr, Die chinesische Tagespresse, Teil 3, S. 90/91. Die Yongbao erschien 1881/1882 monatlich bei der American Presbyterian Mission Press (Ningbo), die Redakteure waren Chinesen.

Der Leitartikel in der frühen chinesischen Presse

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Da Major eine so wesentliche Rolle für diese Innovation der chinesischen Medienlandschaft gespielt hat und hier die Bedeutung seiner Arbeit so ausdrücklich betont wird, scheint es zunächst verlockend, den Leitartikel, ebenso wie die moderne Presse als solche, als ein fremdes Implantat zu sehen, das nun darauf wartet, von seinem Gastorganismus abgestoßen oder inkorporiert zu werden. Jedoch zeigt sich bald, daß dieses Szenario den literarischen, sozialen und politischen Phänomenen, die mit der Geschichte des Genres in seinem chinesischen Kontext verbunden sind, nicht ganz gerecht wird. Wenn wir den Spuren des Texts als sozialer Kategorie folgen, dann können wir die Interaktionen zwischen den Kulturen in einem komplexeren Zusammenhang sehen. Der klassische

Diskurs

Die "traditionellen" Wurzeln des neuen Genres reichen mindestens bis zu den historischen Diskursen (shilun) der Han-Zeit zurück. 27 Von Anfang an dienten diese Diskurse der Formulierung politischer Kritik, und oft geschah das aus einer Position außerhalb jeder offiziellen Funktion heraus. Das war das Außergewöhnliche und Unerhörte: der einzige institutionelle Schutz unter dem diese individuellen Kritiker operieren konnten, bestand aus dem ideologischen Rahmen, der den Staat insgesamt trug, nämlich die Bedeutung der Kommunikation zwischen "oben" und "unten" (den "Weg der Rede") für die Gewährleistung einer guten Regierung und damit für den Bestand des gesamten Kulturstaates. Der Rückgriff auf eine klassische Definition des Genres gibt weiteren Aufschluß über die ihm zugrunde liegenden Handlungsmuster. Im Kapitel "Lun shuo" des Wenxin Diaolong, Chinas ältester umfassender literaturtheoretischer Abhandlung (Ende 5. Jahrhundert), werden lun und shuo als zwei eigenständige Begriffe behandelt, wobei ersterer als ein Überbegriff für die verschiedensten Diskurs- und Kommentarformen fungiert. Lun ist der gelehrte Diskurs, der im Bereich der Prosa eine herausragende Position einnimmt. Die Beschreibung der wichtigsten Charakteristika verdeutlicht den ideologischen Hintergrund des Genres: „Die Weisungen und Ermahnungen des Heiligen Philosophen heißen Klassiker (jing), die Schriften, die die Klassiker erklären und die ihnen zugrunde liegenden Prinzipien darlegen, heißen Diskurs (lun). Der Diskurs ist gleichbedeutend mit einer Ordnung oder inneren Logik (lun). Ist diese innere Logik mit den zugrunde liegenden Prinzipien kohärent und ohne Widersprüche, dann wird die Absicht des Heiligen nicht verloren gehen. [...] Die Funktion des lun als ein Genre ist es, zwischen wahr und falsch zu unterscheiden.^..] Er ist das Maß aller Dinge. Daher sollte seine Aussage (yi) kohärent sein

Einen Überblick über die klassischen Zuordnungen zum Genre lunshuo gibt z.B. Jiang Bozan in Wentilun zuanyao (Das Wichtigste über literarische Genres), Shanghai 1942.

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Andrea Janku und seine Sprache Geschwätzigkeit vermeiden; er sollte Intention (xin) und Vernunft (Ii) zusammenführen in vollkommener Harmonie, in seiner Komposition sollten beide lückenlos verschmelzen; die verwendeten Ausdrücke sollten so eng mit der Intention (xin) verbunden sein, daß der Feind nicht weiß, wo seine Kritik ansetzen soll. Das ist das Wesentliche [des Diskurses]." 28

Die Bedeutung des shuo dagegen weist auf die Praxis des Diskurses. Sie wird von der Tätigkeit der von Staat zu Staat ziehenden Fürstenberater der Zeit der Streitenden Reiche (403-221 v. Chr.) abgeleitet. So sei die Essenz des shuo, im günstigsten Moment eine Idee klar und effektiv zu präsentieren. Seine Prinzipien seien Loyalität (zhong) und Aufrichtigkeit (xin) gegenüber dem Herrscher. Wollte man also die normativen Inhalte des frühen Leitartikels isolieren, so hätte man den gelehrten (autoritativen) Diskurs, der die Prinzipien der Klassiker überliefert und bestimmt, was wahr und falsch, gut und schlecht ist, und die überzeugende Rede, die zur rechten Zeit am rechten Ort in angemessenen und effektiven Worten diese Prinzipien für die Regierung nützlich macht. Der Begriff lunshuo in der neuen Bedeutung Leitartikel faßt diese beiden Aspekte zusammen. Sowieso ist bei allen Texten, die sich, in welcher Form auch immer, an ein Publikum wenden, die Kohärenz der Argumentation kaum von einer überzeugen wollenden Rhetorik zu trennen. Wichtig ist mir hier, deutlich zu machen, mit welchem Ethos dieses Genre daherkam und wie es zu erklären ist, daß die Integration des Genres in die Zeitung mit ausschlaggebend für den Erfolg des neuen Mediums bei der Bildungselite war. Der Leitartikel schuf zunächst Raum für die Formulierung der hehren Ideale der literarischen Elite - der ideologischen Grundlage des Staates. Doch weit wichtiger war - auf dieser Basis - seine soziale und politische Funktion als Ort der Artikulation einer unabhängigen (im Sinne von uneigennützigen) Meinung, wirksam zunächst auf lokaler, bald aber auch auf nationaler Ebene. Die Zeitung konnte als ein der Regierung zugewandtes Sprachrohr aufgefaßt werden - und bot so eine Alternative zu den etablierten Institutionen der Rede (v.a. das Zensorat und die bürokratische Elite), die durch ihre Unabhängigkeit vom bürokratischen System behaupten konnte, effektiver zu sein als diese. Auf dieses Handlungsmuster des Fürstenberaters verweisen viele Leitartikel, wenn sie beipielsweise ihre Überlegungen mit Formeln wie "die Regierungsverantwortlichen mögen dies doch bitte bedenken" ausdrücklich an die Regierenden adressieren.

28

Liu Xie (465-522), Wenxin Diaolong. Kap. 18. Die Übersetzung folgt Zhou Zhenfu, Wenxin Diaolong jinyi (Übersetzung des Wenxin Diaolong in die moderne chinesische Sprache), Beijing 1986.

Der Leitartikel in der frühen chinesischen

Presse

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Der Leitartikler als Fürstenberater In "Über die Schwierigkeit, die Verpflichtung zur Rede zu erfüllen", einem 1884 erschienenen programmatischen Leitartikel, stellt sich die Shenbao explizit in das Licht des Gelehrten- (Intellektuellen-)Ideals der unabhängigen Kritik. Hier wird dem Journalisten indirekt die Rolle eines Zensors bzw. unabhängigen politischen Beraters zugewiesen.29 Theoretisch sollte es die Aufgabe des Zensorats sein, Kritik und Rat zur Verbesserung der Regierung und vor allem - und das war in engem Zusammenhang damit zu sehen - zur Bewahrung der moralischen Integrität innerhalb der Bürokratie zu artikulieren. In der Praxis stellte sich jedoch heraus, daß eine unabhängige und selbstlose Meinungsäußerung für die Zensoren, die ja selbst Teil des Systems, Teil der Bürokratie waren, oft eine heikle Angelegenheit war und den Vorwand für vielfachen Mißbrauch lieferte. In seiner Komposition folgt der Artikel einer bewährten Argumentationsstrategie, die durch ihre oft mechanisch erscheinende Abfolge wohl dazu beigetragen hat, daß die lunshuo später als baoguan bagu ("Zeitungsartikel im Stil der achtgliedrigen Prüfungsaufsätze", d.h. formal und inhaltlich schematisch verfaßte Artikel) verschrien wurden. Auch der Beginn mit einem Zitat aus den Klassikern (hier dem Mengzi) erinnert an die Aufgabenstellung der Prüfungsaufsätze, hier geht es jedoch nicht um Textexegese. Die MengziStelle ist nicht mehr und nicht weniger als ein effektiver Aufhänger für die nachfolgende Argumentation, in der jede Aussage auf das bis zum Schluß nicht explizit genannte aktuelle Thema zielt. Dabei ist der ursprüngliche Kontext der zitierten Stelle eine Anspielung auf die Rolle der Zeitung als Vehikel uneingeschränkter Meinungsäußerung. „Mengzi sagte einmal: Jemand, der zur Meinungsäußerung verpflichtet ist, d e s s e n Rede aber unbeachtet bleibt, der sollte seinen Abschied nehmen." 3 0

Und davor heißt es im Mengzi, "Jemand der ein Amt innehat und seine Amtspflicht nicht erfüllt, der sollte seinen Abschied nehmen." Diese beiden Aussagen beschreiben exakt das Dilemma des beamteten Kritikers. Mengzi entgeht diesem Dilemma, indem er kein offizielles Amt bekleidet, also auch kein Gehalt vom Staat bezieht. Er bewahrt sich damit die Freiheit, weiterhin seine Meinung zu äußern, auch wenn sie von offizieller Seite keine Beachtung findet. (Für den Zensor würde das bedeuten, seine Amtspflicht nicht erfüllt zu haben.) Die Erklärung, die der Leitartikler dem Zitat folgen läßt, wirkt verwirrend: ¿.y 30

"Lun yanze zhi nan jin" (Uber die Schwierigkeit, die Verpflichtung zur Rede zu erfüllen), SB 21.11.1884. Mengzi 2B.5. Legge, The Chinese Classics, Hongkong 1960, Bd. 2, S. 218f.

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Andrea Janku „Dabei ist mit unbeachtet bleiben nicht nur gemeint, ob der Fürst darauf hört oder nicht. Wenn man reden kann (d.h. in einer Position ist zu reden) und auch redet, das Gesagte aber nicht gehört wird, dann bedeutet das, diese Rede bleibt unbeachtet. Wenn man aber nicht reden kann (also nicht in einer Position ist zu reden) und dennoch redet und [allein] der Fürst nicht daraufhört, dann kann man davon nicht sagen, daß die Rede unbeachtet geblieben wäre."

Diese kurze Erläuterung, die auf den ersten Blick wie ein leeres Wortspiel erscheint, enthält auf den zweiten Blick ein alternatives Konzept desjenigen, der der Adressat einer "öffentlichen" Beschwerde sein könnte. Weder im Mengzi noch im Zeitungsartikel wird dieser explizit genannt. Zunächst wird die Situation desjenigen beschrieben, der per definitionem in einer Position ist, zu reden, d.h. von Amts wegen dazu autorisiert und auch verpflichtet ist, zu reden. Er wird dafür bezahlt, daß er Kritik äußert, und ist gescheitert, wenn derjenige, der ihn bezahlt, seine Worte nicht beachtet. Für denjenigen jedoch, der nicht in einer solchen Position ist, d.h. nicht von Amts wegen zur Rede autorisiert ist, stellt sich die Situation anders da. Er ist keinem Fürsten verpflichtet. In diesem Fall ist nicht das Verhalten des Fürsten dafür ausschlaggebend, ob die Rede Beachtung findet, also ihr Ziel erreicht oder nicht. Hier wird implizit auf die Existenz eines zweiten Adressaten hingewiesen, der unabhängig vom Fürsten der Rede einen Sinn verleihen kann. Wie Mengzi die Freiheit hat, weiterhin an einem Ort zu wirken, auch wenn der Fürst seine Lehren nicht annimmt, so kann auch beispielsweise die Zeitung ihre Aufgabe in der Öffentlichkeit weiterhin wahrnehmen, auch wenn der Hof ihre Äußerungen augenscheinlich nicht beachtet. Der Leitartikler fährt damit fort, den Fall derjenigen, die von Amts wegen zur Rede autorisiert und verpflichtet sind, nämlich der Zensoren, ausführlich zu diskutieren. Das scheinbar tolerante Klima der Qing wird als völlig korrupt und inkompetent entlarvt, wodurch schließlich deutlich wird, daß es keiner Sache dringender bedarf, als einer unabhängigen, integren Institution der Meinungsäußerung. Nachdem anhand historischer Beispiele illustriert wurde, was die Zensoren idealerweise leisten bzw. nicht leisten sollten, wird das Wichtigste zusammengefaßt. Sie sollen hilfreich für die Staatsplanung und förderlich für das Wohl des Volkes sein (s. o. die Beschreibung in den Statuten der Shenbao und im Artikel der Yongbao), sie sollen helfen, die Integrität des Staatswesens zu bewahren (des Kaisers und seiner Bürokratie) und den guten Ruf des Landes zu sichern. Wenn sie sich dagegen nur ruhmheischend unqualifiziert und eigennützig äußerten, so sei zu befürchten, daß der Hof in Zukunft solche Ermahnungen unbeachtet lassen wird bis hin zu der Gefahr, daß der "Weg der Rede" völlig geschlossen würde. Nachdem noch einmal die dringendsten Aufgaben "derjenigen, die ihre Pflicht zur Rede erfüllen müssen" aufgezählt wurden, bleibt noch die Frage, wer diese erfüllen soll. Sollten etwa "jene, die speziell mit der Diffamierung anderer ihre Karriere vorantrei-

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ben wollen," solchen Anforderungen genügen? Es bleibt nur noch der Schluß, daß eine neue, von den bisherigen Zwängen unabhängige Instanz deren Aufgabe übernehmen muß. Das erste politische Ereignis von nationalem Ausmaß, das in der Shanghaier Presse umfassend diskutiert wurde - eine Diskussion, die Aufmerksamkeit bis in die Regierung auf sich zog -, war der (nie offiziell erklärte) sino-französische Krieg um Annam (1883-1885). Nachdem sich die Shenbao durch die Propagierung eines äußerst unpopulären Standpunktes in der Debatte um die Beendigung des Konflikts in höchstem Grade exponiert hatte, erschien dieser Artikel gewissermaßen als nachgeschobene Rechtfertigung. Mit der Bloßstellung der Ineffektivität der alten Institution der Rede, mit der Aufdeckung von Formen des Mißbrauchs dieser Institution und der daraus ersichtlichen Notwendigkeit einer neuen Institution der Rede kritisierte die Shenbao das System des Zensorats und rechtfertigte gleichzeitig ihre Rolle in der aktuellen politischen Debatte. Die Shenbao bemühte sich nach dem besten Vorbild der Londoner Times um eine akkurate Berichterstattung. Sie hatte einen Reporter an den Ort des Geschehens geschickt und berichtete ausführlich und umfassend. Es erschienen unzählige Leitartikel, die in der Regel die aggressive französische Politik verurteilten und die militante chinesische Reaktion unterstützten. Nach einer empfindlichen chinesischen Niederlage auf See schlug die Redaktionspolitik jedoch plötzlich um. Während ein substantieller Teil der in der Öffentlichkeit hörbaren und gewichtigen Stimmen eindeutig - und nach der Niederlage erst recht - für Krieg votierten, lancierte Majors Shenbao mitten in diese militante und emotional angespannte Atmosphäre zwei einflußreiche Leitartikel, die sich energisch für einen Friedensschluß aussprachen. Dabei schienen das brutale und auch völkerrechtlich fragwürdige Vorgehen der Franzosen (worüber auch die Londoner Times wiederholt berichtete), Gerüchte über eine Verstärkung der französischen Militärpräsenz und die immer horrender werdenden Reparationsforderungen jedem Friedensadvokaten von vornherein den argumentativen Boden zu rauben. Die Shenbao begründete ihren Positionswechsel mit rationalen Überlegungen, denen zufolge - abgesehen von der Prestigefrage, Annam als chinesischen Vasallenstaat zu erhalten und die erlittenen Demütigungen zu vergelten - eine kriegerische Fortführung des Konflikts keinerlei Vorteil für China bringen konnte, dagegen aber den prosperierenden Handel gefährdete. Der erste dieser Leitartikel ist ein Leserbeitrag, der unter einem Pseudonym abgedruckt wurde.31 Im Anschluß daran erschien ein Leitartikel, dessen Autor eindeutig als Major identifizierbar ist.32

31

"Lu yan he shu" (Abdruck eines Briefes, der für Frieden spricht), SB 2.9.1884. In einem Leserbrief an die Shenbao (28.9.1884) wird der Autor als ein "um die Angelegenheiten der Zeit besorgter westlicher Gelehrter" (Taixi wenshi zhi liuxin shiwu zhe) bezeichnet.

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Während das erste Friedensplädoyer v.a. durch ökonomische Interessen motiviert war, lieferte Major seinen Lesern eine rationale Analyse der militärpolitischen Lage, die mit derselben Schlußfolgerung endet.33 Wie unerhört diese Friedensagenda angesichts des immer militanter werdenden Klimas tatsächlich war, macht die Vehemenz der Leserreaktionen in der Shenbao und v.a. in der rivalisierenden (und polemisierenden) Hubao deutlich. Offizielle Stimmen brachten aufgrund von parteilichen Riicksichtsnahmen und privatem Opportunismus nicht den Mut auf, ähnliche Ansichten zu artikulieren.34 Major tritt ganz bewußt in diese Lücke. Indem er den Wunsch nach einer Entscheidungsschlacht, durch die China erhobenen Hauptes als klarer Sieger aus dem Konflikt hervorgehen würde, als seine private Meinung (siyi) bezeichnet, disqualifiziert er all die offiziellen Stimmen, die dasselbe vertreten, als eben solche (verantwortungslose) private Meinungen. Daher sei es die Hoffnung der Zeitung, daß "die Leute, die in China die Macht in der Hand halten, sich der enormen Tragweite der gegenwärtigen militärischen Angelegenheit bewußt" seien und entsprechend verantwortlich handelten. In der Einleitung des Artikels bedient er sich der konventionellen politischen Rhetorik ("der Hof ist mit dem Volk ein Herz und eine Seele", "mit allen Kräften auf das Wohl des Landes hin streben", "gemeinsam nach Reichtum und Stärke streben") und versichert seine Besorgnis um das Wohl Chinas, mit dem Ziel einen Grundkonsens für die folgende Argumentation herzustellen. Die Situation Chinas sei die in einer steilen Felswand, "verliert der Fuß einmal den Halt, dann gibt es keine Rettung mehr. Wenn man nur einmal Pech hat, dann wird das die Grundlagen auflösen. Unsere Zeitung hat darüber nachgedacht und kann nicht länger schweigen." Nach dieser neun Zeilen langen Versicherung über die gemeinsame Interessengrundlage führt er in drei klaren Punkten aus, warum es für China das beste wäre, sich auf einen Friedenskompromiß mit Frankreich einzulassen. Wenn er sich auch vordergründig an die Leser wendet, so geht er doch davon aus, daß sich die Regierungsverantwortlichen auch unter diesen befinden. Nachdem die Kritik an diesem Friedensplädoyer nicht abbricht, verteidigt Major in einem weiteren Leitartikel die Rolle seiner Zeitung, indem er ihr die Funktion des unvoreingenommenen, unopportunistischen politischen Beraters zuschreibt. „Unsere Zeitung würde es niemals wagen gegen die Interessen des Volkes zu argumentieren, e b e n s o w e n i g würde sie es wagen, der herrschenden Meinung zu entsprechen,

34

Die Hubao (16.9.1884) identifiziert ihn direkt als "Eigentümer des Shenbao-Verlagshauses" (Shenbaoguan zhuren). "Lun shishi zhi jiji" (Über die Dringlichkeit der gegenwärtigen Lage), SB 3.9.1884. Vgl. Lloyd E. Eastman, The Throne and Mandarins. China's Search for a Policy During the Sino-French Controversy I880-I885, Cambridge 1967.

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nur u m sich bei den Leuten einzuschmeicheln und selbst gut dazustehen. Wollte man das, dann müßte man nur sagen, die Franzosen seien Feiglinge, China könne mit Leichtigkeit den Sieg erringen, die Franzosen würden es nie wieder wagen, solche Überfälle zu verüben, usw. Die verehrten Leser würden entzückt sein und sich darum reißen, unsere Zeitung zu kaufen. Warum sollte unsere Zeitung also nicht so handeln? Aber die Autoren unserer Zeitung leben alle von den Früchten dieses Bodens, sie kennen nur die Loyalität zum Kaiser und die Liebe zu ihrem Vaterland, wie könnten sie es wagen aus einem so eigennützigen Motiv China völlig blind an die Sache herangehen zu lassen! Krieg und Frieden sind keine Themen, über die es unsere Zeitung wagt, verantwortungslos herumzudabattieren. Wir wünschen nur, daß man sich alles reiflichst überlege, entsprechend seinen Möglichkeiten vorgehe und keine großartigen Reden halte, um sich gegenseitig aufzuhetzen und irrezuführen, bis die Regierungs verantwortlichen wohl doch noch entgegen besserem Wissen [eine Politik betreiben, die] gezwungenermaßen auf Krieg hinausläuft." 35

Am Ende des Artikels wird nochmals die "staatstragende Absicht" (baogu bangben zhi yi) der Shenbao betont. Vor dem Fuzhou-Debakel hatte auch die Shenbao eine offene Kriegserklärung gefordert (14.8.1884) und die Friedensadvokaten im Zongli Yamen kritisiert (20.8.1884). Der extrem militanten Stimmung, die danach die Öffentlichkeit beherrschte, war schwer zu begegnen. So berichtete die Londoner Times am 2.9.1884: "Peking, Aug. 29. The Imperial Edicts and diplomatic circulars recently issued by the Tsung-li Yamen (Zongli Yamen) indicate that a spirit of defiance is the result of the Foochow disaster. Placards have been set up in the streets proclaiming war with France, [...]" Genau in diesem Moment, als die Friedensadvokaten innerhalb der Regierung (allen voran Li Hongzhang) politisch am Ende waren, schwenkte die Shenbao explizit und wirkungsvoll auf den Friedenskurs um. Am selben Tag, an dem der umstrittene Leitartikel erschien, wurde einer der profiliertesten Vertreter der Friedenspartei im Zongli Yamen, Yan Jingming, streng abgemahnt. 36 Sechs weitere Kollegen wurden aus ihrem Amt entlassen. 37 Doch am 29.9. meinte die Times von einem Umschwenken der kaiserlichen Gesinnung berichten zu können. Am 30.9. schließlich meldete sie: "It is reported, that the Empress has decided to conclude peace with France." Dennoch waren die Widerstände stark. In einer am 28.10. einberufenen Hofkonferenz wurden neue Friedensvorschläge geradewegs verworfen, doch gleichzeitig hatte sich damit manifestiert, daß man über die Möglichkeiten eines Friedensvertrags diskutierte. Eine direkte Beeinflussung der Politik des Hofes durch die Stimmen der neu

"Lun Zhong-Fa jinri qingxing" (Über die neueste Lage im Konflikt zwischen China und Frankreich), SB 11.9.1884. Da-Qing Dezong jing (Guangxu) Huangdi shilu (Die wahrhaften Aufzeichnungen des Kaisers Dezong jing (Guangxu) der großen Qing-Dynastie). Nachdruck: Taibei: Taiwan Huawen shuju, S.1754. Eastman, Throne and Mandarins, S. 148, Fußnote 8.

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etablierten Öffentlichkeit läßt sich zwar nicht eindeutig belegen, auffällig ist jedoch, daß nicht lange nach Erscheinen der Leitartikel der Hof genau den Weg einschlug, der von der Shenbao vorgeschlagen wurde - und wenig später den opportunistischen Stimmen der Hauptstadt-Bürokratie den Mund verbot, d.h. hier den "Weg der Rede" Schloß.38 Vom klassischen Diskurs (des Literaten) zum modernen Leitartikel (des Journalisten) Wie oben gezeigt, waren in der Shenbao schon nach kurzer Zeit die klassischen Formen des lun (des gebildeten Diskurses) und shuo (der persuasiven Rede) als neue Leitartikel etabliert. Herbert A. Giles übersetzte 1892 in seinem Wörterbuch zuo lun, also "einen Diskurs verfassen" als "to write a leader".39 Spätestens zu diesem Zeitpunkt also hatte sich die neue Bedeutung des Wortes so weit etabliert, daß sie in einem Wörterbuch dokumentiert wurde. Spätestens 1895 (sehr wahrscheinlich auch schon früher) wurde der zusammengesetzte Begriff lunshuo in der Bedeutung Leitartikel verwendet. 40 In dieser Bedeutung ist das Wort ein Neologismus, der als solcher auch ins Japanische Eingang gefunden hat (ronsetsu). 4i Die Tatsache, daß das Genre in einem neuen Medium funktionieren mußte, und die rasante Entwicklung dieses Mediums nach der Jahrhundertwende führten schließlich zur Etablierung eines neuen Handlungsmusters. Parallel dazu sollte das Genre bald einen neuen - seinen modernen - Namen, shelun, erhalten. Eines der wichtigsten Instrumente der Reformer und Revolutionäre, die sich nach den gescheiterten Bewegungen von 1898 (Hundert-Tage-Reform) und 1900 (Aufstand der "Unabhängigen Armee") im japanischen Exil neu zu organisieren begannen, war die politische Presse. Eines der wichtigsten Genres für die Propagierung ihrer Ideen war der Leitartikel, für den sie den japanischen Begriff shasetsu (chin, sheshuo - wörtlich "Rede des Zeitungsverlags") benutzten, der offensichtlich ein Amalgam des englischen editorial mit dem chinesischen lunshuo war. Seit 1903 wurde dieser Begriff auch von revolutionären Organen in Shanghai benutzt.42 Die moderne chinesische Form 38

S. 190-193. 3 9 Eastman, Throne and Mandarins, 4P Herbert Giles, A Chinese-English Dictionary, London 1892. Z.B. SB 31.10.1895. Ada Mateer übersetzt 1915 (in New Terms for New Ideas. A Study of the Chinese Newspaper. Shanghai, 1915, 62) lunshuo als "leading article, editorial". Für den Begriff shelun ("the same") merkt sie an, "usually sociological in its character, hence the 41 name". 42

In der modernen chinesischen Sprache ist die Bedeutung "Leitartikel" für lunshuo obsolet. Die Guomin Ribao (The China National Gazette, gegr. Aug. 1903) veröffentlicht lange Abhandlungen in Fortsetzungen unter der Rubrik sheshuo (Editorial). Die Leitartikel der Jingzhong Ribao (The Alarming Bell Daily News, Febr. 1904 - Jan. 1905) und später der Minxu Ribao (The People's Wail, OktVNov. 1909) erscheinen als sheshuo.

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ist wahrscheinlich wiederum eine Adaption des japanischen Begriffes. Das Wort shelun wird zuerst 1907 von der (revolutionären) Shenzhou Ribao (The National Herald, 1907-1927) und der (reformerischen) Shibao (Eastern Times, 1904-1939) verwendet. In der Shibao wird der neue Begriff in Abgrenzung zur individuellen Meinung der lunshuo (signierte Leserzuschriften, die als Leitartikel erscheinen, werden weiterhin so bezeichnet) speziell für solche Artikel verwendet, die die Meinung der Zeitung artikulieren oder in einem weiteren Verständnis die Meinung der Gesellschaft schlechthin repräsentieren wollen - die öffentliche Meinung, als deren Vertreter sich die Zeitungen sehr bald stilisieren werden. Die begriffliche Modernisierung des Genres via Japan markiert den Übergang von einer (universalen) Ideologie des Diskurses hin zu einer (Partei-) Ideologie des Editoriais. So bezeichnet eine moderne Wörterbuchdefinition das Editorial als "die autoritative Meinung der Redaktion einer Zeitung... In konzentrierter Form widerspiegelt und verbreitet es den Standpunkt (lichang), die Auffassung (guandian) und die Meinung (zhuzhang) einer bestimmten Partei, soziopolitischen Gruppe oder gesellschaftlichen Vereinigung zu wichtigen Ereignissen und drängenden Fragen der Zeit."43 Das Handlungsmuster des politischen Agitators hatte das des (freien) politischen Beraters des Thrones abgelöst. Dessen Selbstverständnis war es gewesen, die Kommunikation zwischen oben und unten aufrechtzuerhalten. Die einflußreiche, aber doch noch sehr gemäßigte Reformpresse, die seit der Niederlage gegen Japan 1895 entstanden war, hatte sich nach der Jahrhundertwende zu einem der wichtigsten Agitationsinstrumente zur (patriotischen) Solidarisierung ganzer Provinzen entwickelt. Im Fall der Bewegung zur Rückgewinnung der Eisenbahnrechte in den Provinzen Jiangsu und Zhejiang wird diese Funktion der Presse besonders deutlich. Was mit dem diplomatisch formulierten, sprachlich und intellektuell anspruchsvollen, also elitären Diskurs begonnen hatte, war zu einer unverblümten und facettenreichen Darstellung einer Redaktionspolitik geworden, die stellvertretend für bestimmte Parteiinteressen stand und deren Ziel die Mobilisierung möglichst breiter Bevölkerungskreise war. Der Leitartikler auf dem Weg zum politischen

Aktivisten

Die chinesische Niederlage gegen Japan markierte den Beginn der ersten Blüte der politischen Presse in China. Zu diesem Zeitpunkt war das Handlungsmuster der Presse als speaking official so weitgehend etabliert, daß der Guangxu-Kaiser 1898 so weit ging, das Magazin der Reformer in Shanghai,

Gan Xifen, Xinwenxue 206.

da cidian (A Dictionary of Modern Journalism), Zhengzhou 1993, S.

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die Shiwubao (The Chinese Progress, 1896-1898), zu einem offiziellen Organ seiner Regierung zu erklären. Gleichzeitig zeigt das Beispiel der Shenbao, daß sich dieses Muster schon überlebt haben sollte. Nach dem Putsch der Kaiserinwitwe Cixi, durch den dem Reformprojekt des jungen Kaisers ein jähes Ende bereitet wurde, bezog der damalige Chef-Redakteur der Shenbao, Huang Xiexun (1852-1925), eine staatstreue, d.h. in diesem Fall Cixi-loyale Position. Obgleich seine Zeitung die meisten inhaltlichen Forderungen der Reformpolitik mitgetragen hatte, verurteilte er die Politik der Reformer nun als häretisch und anti-dynastisch - wobei sich diese Kritik gegen Liang Qichao und v.a. gegen Kang Youwei persönlich richtete. Es war diese Wendung der Redaktionspolitik gegen die Protagonisten der Reformbewegung, die für die existentielle Krise verantwortlich gemacht wurde, die die Shenbao in den Jahren nach der Jahrhundertwende erleben sollte. Anstatt, wie die meisten anderen Zeitungen, zu ihrem Selbstschutz Stillschweigen zu bewahren, ergriff die Shenbao offen das Wort für die Dynastie, also für Cixis Politik der Machterhaltung. Dies wurde als ein dem Zeitgeist entgegengerichteter, rückwärtsgewandter Zug empfunden und in einer neueren Arbeit als eine Form des ökonomischen Suizids beschrieben.44 Erst vor kurzem wurde diese Redaktionspolitik damit erklärt, daß Huang Xiexun dafür bezahlt worden sei, Hetzartikel gegen Kang Youwei zu schreiben.45 Dabei ist dies zur Erklärung dieses Phänomens gar nicht notwendig. Huang Xiexun war das Beispiel par excellence für den Literaten-Journalisten, dessen Selbstverständnis die staatstragende Rolle des Beamten im neuen Gewand war. Gegen den erklärten Widerstand von jüngeren Mitgliedern der Redaktion hielt er noch für einige Jahre an dieser Qing-loyalen Redaktionspolitik fest. Das Ende der Karriere bei der Shenbao, das durch deren „große Reform" 1905 (im Jahr der Abschaffung des Prüfungssystems!) besiegelt wurde, markierte damit das Ende der „alten" Form im modernen Medium, die sich nun gefallen lassen mußte, als „erstarrt" kritisiert zu werden - entsprechend der Kritik am Prüfungsaufsatz.46 Neutraler formuliert kann man sagen, daß der Pressediskurs der großen etablierten Zeitungen vor der Jahrhundertwende kaum über das innovative Niveau der Selbstverstärkungsbewegung der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts hinausgegangen war. Zudem waren eilig verkündete Edikte der 44

Hu Daojing, „Shenbao [...]", S. 89. Zhang Mo, „Liushi nian lai zhi Shenbao" (60 Jahre Shenbao), in: Shenbao gaikuang (Die allgemeine Situation der Shenbao), Shanghai 1935. Terry Narramore, Making the News in Shanghai. Shen Bao and the Politics of Newspaper Journalism, 45 1912-1937, Ph. D., Canberra 1989, S. 29. Min Tu-ki. "The Soochow-Hangchow-Ningpo Railway Dispute", in: National Polity and Local Power. The Transformation of Late Imperial China., Cambridge (Mass) 1989, S. 181-218. Madeleine Chi, "Shanghai-Hangchow-Ningpo Railway Loan. A Case Study of the Rights Recovery Movement", in: Modern Asian Studies 7.1 (1973), S. 85-106. Fang Hanqi, Zhongguo xinwen shiye tongshi (Geschichte der chinesischen Presse), Beijing 1992, S. 633-637.

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Regentin restriktiv genug, um offene Kritik an der Zerschlagung der Reformbewegung zu verhindern, wenn sich auch, mit Ausnahme der Shenbao, keine der kommerziellen Zeitungen ausdrücklich auf die Seite der Regierungspolitik gestellt hatte. Diese Zurückhaltung sollte bald ein Ende haben. Das Beispiel der Protestbewegung gegen die Staatsanleihe zur Finanzierung der Eisenbahnstrecke Shanghai-Hangzhou-Ningbo, die 1907 ihren Höhepunkt erreicht hatte, zeigt, wie der Leitartikel und schließlich die Zeitung in ihrer Gesamtheit Ausdruck einer kollektiven Meinung werden konnten, in diesem Fall derjenigen der wirtschaftlichen und sozialen Elite der Provinzen Zhejiang und Jiangsu, die sich ausdrücklich gegen die Regierungspolitik wendet.47 Insofern könnte man den 1907 erstmals belegten Begriff shelun nicht nur als das Sprachrohr der Zeitungsredaktion, sondern tatsächlich als Ausdruck der öffentlichen Meinung überhaupt begreifen. Hier lieferten sich die verschiedenen Zeitungen auch keine Polemiken untereinander, sondern standen in ihrer politischen Aussage in einer Linie gegen die Regierungspolitik. Das gilt für alle fünf großen Tageszeitungen Shanghais, für die Shibao (19041936) und Zhongwai Ribao (The Universal Gazette, 1898-1911) der Reformer und die revolutionäre Shenzhou Ribao (The National Herald, 1907-1927) ebenso wie für die gemäßigten, schon Institution gewordenen Xinwenbao (1893-1949) und Shenbao, vielleicht mit Differenzen im Ton, aber eins in der Sache. Sie agierten als Sprachrohre mächtiger Interessengruppen (hier die Jiangnan merchant-gentry), die ausgehend von einem lokalen Interesse ein zunehmend nationales Interesse - gegen die Dynastie - behaupteten. In Leitartikeln, Kritiken, Kommentaren und nun auch Karikaturen wurde der Ausverkauf des Landes und seiner Ressourcen durch die Qing-Regierung angeklagt. So begann z.B. ein Leitartikel der Shenzhou Ribao: „Ach! Wissen unsere Landsleute denn, daß unsere Regierung uns bald unter der Eisenbahnstrecke begraben wird? Ach! Wissen unsere Landsleute denn, daß [die Provinzen] Jiangsu und Zhejiang heute noch den Leuten aus Jiangsu und Zhejiang gehören, [die Provinzen] Jiangsu und Zhejiang morgen aber schon den Ausländern gehören werden?" 48

Die Xinwenbao karikierte die Beamten des Außenministeriums als den Ausländern hörige Lakaien. Die Zhongwai Ribao druckte Spottgeschichten auf die Regierung. Die redaktionellen Teile aller genannten Zeitungen waren fast 47 4g

Min Tu-ki, „The Soochow-Hangchow-Ningpo Railway Dispute", in: National Polity and Local Power. The Transformation of Late Imperial China, Cambridge (Mass.), 1989, S. 181-218. "Wei Su-Hang-Yong wenti jinggao zhu tongbao" (Aufruf an alle Landsleute betreffend die Frage der Suzhou-Hangzhou-Ningbo-Linie), Shenzhou Ribao, Oktober 1907, enthalten in: Luo Jialun (Hg.), Jiang-Zhe tielu fengchao (Die Unruhen um die Eisenbahn in Jiangsu und Zhejiang), Taibei 1968 (Shanghai 1907), S. 202-205.

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ausschließlich diesem Thema gewidmet, sie wurden in ihrer Gesamtheit zu einem editorial statement. Hier wurde Solidarität manifestiert und Protest gegen die Politik des Außenministeriums artikuliert. In der Vielfältigkeit ihrer Artikulation vereinte die Presse weite Kreise in der gemeinsamen Sache. Es gab während der heißen Phase des Protests von Oktober bis Dezember kaum einen Leitartikel zu einem anderen Thema. Als Beispiel: In der Xinwenbao erschienen oft Dokumente wie Eingaben, Petitionen etc. "an Stelle des Leitartikels" (dailun). Diese artikulierten Protest oder formulierten Handlungsstrategien, wie z.B. am 26.10. ein Brief der Vereinigung zur Vorbereitung der Verfassung (yubei lixian gonghui) an alle Bildungsvereinigungen (jiaoyuhui), in der die Einrichtung eines Platzes für öffentliche Proklamationen (xuanjiangsuo) gefordert wird. Ab dem 8.11. wurde eine eigene Rubrik "Absichtserklärungen bezüglich der Eisenbahn-Angelegenheit" (lushi yijian shu) eingerichtet. Fast täglich wurden "Fragmente der öffentlichen Meinung" (yulun yi ban) abgedruckt. Hier wurde über die aufgewühlten Emotionen berichtet oder über eine Sitzung der Zhejiang Railway Co., bei der ein Delegierter der Aktionäre dafür plädierte, lieber zu sterben als nachzugeben. Täglich erschienen unter der Rubrik "Wichtige Nachrichten" Dokumente, die die Artikulation des Protests dokumentierten, meist Telegramme an die verschiedensten Institutionen und Entscheidungsträger. Alle diese Rubriken spiegelten schon durch ihr Druckbild die öffentliche Erregung wieder. Wichtige Passagen, Schlüsselbegriffe und sloganartige Formulierungen, die sich auch zum Skandieren bei Demonstrationen eigneten, wurden groß und fett gesetzt. Am 31.10. beispielsweise fanden sich unter dieser Rubrik die folgenden Dokumente: Telegramm der Handelskammer Songjiang an das Ministerium für Wirtschaft. Drucktechnisch hervorgehoben sind die acht Zeichen für "entschlossen gegen die Anleihe aus dem Ausland, schützt die Eisenbahn, schützt das Volk." Telegramm der Aktionäre der Jiangsu Railway Co. an die aus Jiangsu stammenden Beamten in der Hauptstadt. "Die Eisenbahnrechte sind Staatsrechte. Wenn die Herzen des Volkes einmal verloren sind, wer soll dann noch für das Bestehen des Staates garantieren?" Telegramm der Vereinigung für Ausbildungsangelegenheiten von Taishu an das Zensorat. "Wer wird es in Zukunft wagen, ein Unternehmen anzugehen? Der Puls des Süd Ostens ist die Grundlage des gesamten Staates." Telegramm der Handelskammer Suzhou an das Wirtschaftsministerium. "Sobald das Vertrauen des Volkes verloren ist, ist die Desintegration des Handels im Südostens zu befürchten." usw. Neben diesen strukturellen Veränderungen (von einer vorwiegend vertikalen zu einer vorwiegend horizontalen Ausrichtung der Kommunikation) hatte sich auch das äußere Erscheinungsbild der Zeitungen verändert. War es einst das der chinesischen Konvention angepaßte Format, das zum Erfolg der Shenbao beigetragen hatte, so war es nun umgekehrt das bewußt "modern"

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gewählte Layout, das zur Popularität der neuen Presse beitrug. Das moderne, d.h. westlich inspirierte Layout, mit dem zuerst die von Ausländern betriebene kommerzielle Presse v.a. in Hongkong gearbeitet hatte, blieb in der Shanghaier Presse bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts bedeutungslos. Doch diesmal war es ein chinesischer Journalist, der explizit das japanische, bzw. westliche Zeitungsformat als sein Modell bezeichnete. Mit seiner Zhongwai Ribao hatte Wang Kangnian (1860-1911) schon 1898 den neuen Standard eingeführt. Diese frühe Neuerung fand zunächst keine Freunde. Die Leser seien so sehr an das alte Format und Layout der Shenbao und Xinwenbao gewöhnt gewesen, daß sie das neue unpraktisch fanden. Es dauerte ein paar Jahre bis sich die Leser an das neue gewöhnt hatten, "sie fanden dann das alte unpraktisch."49 Spätestens mit der Gründung der Shibao 1904 hatte sich das neue Format und Layout durchgesetzt. 1905 folgte auch die Shenbao in ihrer "großen Reform" dem neuen Trend. Aneignung westlicher Vorbilder oder offene interaktive

Prozesse?

Entsprechend dem eingangs genannten Modell könnte man sagen, daß die Einführung des angelsächsisch geprägten leading article in ein chinesisches intellektuelles Umfeld zunächst eine der chinesischen Kultur wesensfremde Beeinflussung dargestellt hätte. Nach einem Prozeß der Aneignung wäre der Leitartikel für die Selbstbehauptung gegenüber anderen Nationen - bzw. die Selbstbehauptung gegen den Ausverkauf der Nation durch die Qing-Regierung, was das wichtigste Anliegen der Presse dieser Jahre nach der Jahrhundertwende war - instrumentalisiert worden. Die Internationalisierung bzw. Modernisierung der Instrumente hätte also der Propagierung nationaler Anliegen gedient. Dem stehen die offenen interaktiven Prozesse, in denen sich das chinesische Genre von Anfang an entwickelt hat, gegenüber. Zudem zeigen sich bei einem vergleichenden Blick auf Entwicklungstendenzen in einem westlichen Kontext einige Parallelen, die diesem Szenario eine weitere Dimension hinzufügen. Die im Motto zitierte Definition des klassischen Diskurses deutet ein autoriales Ethos an, das dem des lunshuo nicht fern ist. Wenn es - wie die Autoren von The Death of Discourse behaupten - dieses Ethos war, das den Geist des First Amendment der amerikanischen Verfassung (1791) ausmachte und dem Begriff der Pressefreiheit ursprünglich und idealerweise zugrunde lag,50 dann gab es - um die Parallele zum chinesischen Fall zu ziehen - mit der Option des täglich zu veröffentlichenden "Diskurses" einen Anknüpfungs-

Wang Yinian (Hg.), Wang Xiangqing (Kangnian) zhuanji yiwen (Biografie und nachgelassene Schriften des Herrn Wang Kangnian). Nachdruck: Taibei: Wenhai chubanshe, o.J. (1938), S. 106. Collins, Skover, Death of Discourse, S. xx.

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punkt an das Ethos des "klassisch" gebildeten Literaten. Betrachtet man die Gesamtentwicklung vom Diskurs zum Leitartikel (und weiter zu anderen Genres der modernen Massenkommunikation) in China und im "Westen" parallel zueinander, so wird neben einer (einseitigen) Beeinflussung auch eine (gemeinsame) Entwicklung zu einer Modernität - wenn auch auf unterschiedlichen Wegen - deutlich. Wenn auch das Phänomen, als dessen Gegenstück der zitierte Passus erscheint - die völlige Mediatisierung jedes ernsthaften Diskurses durch die amerikanische Fernsehkultur -, weit entfernt von der hier diskutierten chinesischen Realität ist, so waren doch seit den ersten Jahrzehnten dieses Jahrhunderts mit dem zunehmenden Einfluß eines new journalism,51 der Ausrichtung der Presse auf ein Massenpublikum, auch in China Auswirkungen einer "Amerikanisierung" der Verhältnisse spürbar. Die verschiedenen Entwicklungsstränge des chinesischen Leitartikels seit der Jahrhundertwende führen schließlich auch zum Ende des "klassischen Diskurses" - zumindest in diesem Medium. Es sind verschiedene Strömungen, die zu gravierenden Veränderungen in der Medienlandschaft geführt haben. Auf der einen Seite verlangte das zunehmend revolutionär werdende soziale Klima unter den Intellektuellen in den städtischen Zentren (v.a. Shanghai) nach bissigerer Kritik und einer deutlicheren Artikulation von Standpunkten. Die Zeitungsmacher hatten eine völlig neue Agenda, die den Charakter des Mediums und des Leitartikels veränderte. Auf der anderen Seite - und längerfristig gesehen forderte die moderne Metropole als neuer öffentlicher Raum zunehmend ihren Tribut. Das Medium mußte sich an den schnelleren Lebensrhythmus der Stadt anpassen und schließlich auch den Erfordernissen einer neu strukturierten und zunehmend breiteren Leserschaft gerecht werden. Der deutlichste Ausdruck für eine "Vermassung" war die Entstehung der Boulevardpresse, die ihre Blüte in den 1920er und 30er Jahren erleben sollte.52 Aber schon 1907 druckte beispielsweise die Shibao die Übersetzung eines japanischen Artikels, in dem ausdrücklich kurze, leicht verständliche Texte als Leitartikel gefordert werden. 53 Die langen, für den Leser mühsamen und den erklärten Willen zur aufmerksamen Lektüre fordernden Leitartikel hielten sich noch eine Weile in den revolutionären und reformerischen Zeitungen, ließen aber einem völlig neuen Zeitungskonzept zunehmend mehr Raum. Auch in der englischen Presse verlor der Leitartikel gegen Ende des 19.

52

53

Vgl. Joel H. Wiener (Hg.), Papers for the Millions. The New Journalism in Britain. 1850s to 1914, New York/Greenwood 1988. Zhu Junzhou, "Shanghai xiaobao de lishi yange" (Die historische Entwicklung der Shanghaier Boulevardpresse), Xinwen yanjiu ziliao 42 (1989.2), S. 163-179; 43 (1989.3), S. 137-153. 44 (1989.4), S. 211-220. "Lun Ribao shang zhi lunshuo" (Über die Leitartikel in den Tageszeitungen), Shibao 6.1.1907.

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Jahrhunderts an Bedeutung. Die entpersönlichte Organisationsstruktur der modernen Zeitung einerseits und die zunehmende Bedeutung der Schlagzeile und eine Anonymisierung des Nachrichtengeschäfts durch die großen Agenturen andererseits bewirkten dies. Erstere machte eine einheitliche Redaktionspolitik unmöglich, letzteres machte den Leitartikel beispielsweise der Times als wichtigste und exklusive Nachrichtenquelle obsolet. 54 Man ging dazu über, die Zeitung insgesamt zu einer redaktionellen Aussage zu machen. Von der Auswahl der Nachrichten und Schlagzeilen, über die verschiedenen Formen des Kommentars (Meinungsartikel, Kurzkritik, Satire, Karikatur etc.), bis hin zur Entscheidung über Layout und Design, wurde das Image der Zeitung (als solche und nicht ihres Herausgebers oder Besitzers) facettenreich komponiert. So betrachtet ist der "Leitartikel" nicht mehr nur als ein westlicher Import zu sehen, sondern vielmehr als eine lokale Erscheinungsform eines quasi globalen Phänomens der Modernität. "Seitdem die fünf Kontinente durch den Handel verbunden sind" (aus chinesischer Perspektive bedeutet das, seit der Mitte des 19. Jahrhunderts), erzwingen die vielfältigen und weitläufigen Kontakte die Modernisierung der Kommunikationsmittel. Das ist ein Phänomen, das nicht kulturell kontingent ist, ganz gleich, wo die entsprechenden Erfindungen gemacht wurden. Quasi ein Nebenprodukt der Modernisierung der Medienlandschaft war die Profanisierung des klassischen Diskurses. Dabei reflektiert das Spannungsfeld, in dem der in die Zeitung verpflanzte Diskurs operiert, in gewisser Weise die Existenzbedingungen des modernen Intellektuellen. Auf der einen Seite steht die hehre Form des unvereinnahmbaren und uneigennützigen philosophischen, historischen und schließlich politischen Diskurses, auf der anderen Seite das Verlangen nach Einflußnahme, nach sozialem und politischem Engagement, das nicht selten umgekehrt zu einer Vereinnahmung durch mächtige Institutionen führte. Es wäre absurd behaupten zu wollen, daß es eine solche existentielle Spannung vorher nicht gegeben hätte. Dieser Konflikt unterscheidet sich jedoch von demselben Konflikt früherer Zeiten eben durch die Möglichkeiten und Wirkungen der modernen Massenkommunikation, die bestimmten Äußerungen eine ganz andere Tragweite geben bzw. ein Privatisieren kaum noch legitim erscheinen lassen. Das Beispiel der Genregeschichte lunshuo-shelun zeigt, daß sich durch die weite Verbreitung, die die neuen Medien ermöglichten, beim Wirkungspotential intellektuellen Handelns eine qualitative Neuerung vollzogen hat, die dazu führt, daß die Gefahr der Vereinnahmung größer wird. Dabei zeichnen sich vornehmlich zwei Alternativen einer Weiterentwicklung intellektuel-

54

Lucy M. Salmon, 'The editor and the editorial', S. 261-263, in: The Newspaper rian, London 1923, S. 249-286.

and the Histo-

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1er Einflußmöglichkeiten ab, die, obwohl auf den ersten Blick gegensätzlich, letztlich doch beide auf eine Entmündigung des Publikums hinauslaufen: Auf der einen Seite der gleichgeschaltete Monolog der Macht totalitärer Gesellschaftsformen, auf der anderen Seite die Entwicklung hin zum reinen Infotainment - dem 9.8- Sekunden-soimd bitei5 - der modernen Kommunikationsgesellschaft. Beides führte dazu, daß es der Presse in China und mit ihr dem Leitartikel ähnlich erging wie den früheren Institutionen der Meinungsäußerung. Zensur und Korruption zerstörten jeden Glauben an ihre moralische Kraft und damit auch den Glauben an die Macht der Presse.56 In den zwanziger und dreißiger Jahren verlor das politische Editorial immer mehr an Bedeutung, und unabhängige Geister fanden in anderen Genres subtilere Formen der Meinungsäußerung. Was bleibt sind bis heute die autoritativen Editoriale der Machthabenden. Die leiseren Töne der unabhängigen Stimmen muß man zwischen anderen Zeilen suchen. Diskussion Die Person Majors erregte bei den Teilnehmern solches Interesse, daß die erste Frage lautete, ob es ein Buch über ihn gebe (Gaube). Da es das bisher noch nicht gibt, wurden folgende biographische Informationen gegeben: Major wurde 1841 geboren und wuchs in East London auf. Seine Mutter war in Indien geboren, sein Vater arbeitete im Kriegsministerium. Er Schloß sich einer pro-chinesischen Gruppe in London an, lernte bereits mit 17 Jahren Chinesisch und wanderte mit 20 Jahren nach China aus. Dort gründete er einen großen Verlag und die erste chemische Fabrik in Shanghai, wurde ein großer Kunstmäzen und kehrte 1892 nach England zurück (Wagner). Die ersten westafrikanischen Zeitungen publizierten in erster Linie Wochenüberblicke, war das in China auch so, wurde gefragt (Böttcher). Die Referentin antwortete, daß moralische Abhandlungen zunächst im Vordergrund gestanden hätten. Ferner wurde nach dem Preis und dem Vertrieb der Zeitungen gefragt (Krüger). Dazu hieß es, sie seien nicht teuer gewesen, hätten sich aber weniger über den Absatz als durch Anzeigen finanziert. Es habe Straßenverkäufer aber auch Abonnements gegeben (Vittinghoff, Janku, Wagner). Dann wurde gefragt, wo die Zeitungen gelesen wurden - daheim oder in Lesezirkeln? (Krüger) Dazu wurde auf das Tagebuch eines Lesers verwiesen, der zunächst ein eifriger Leser der chinesischen Klassiker gewesen sei und sich dann einer ebenso intensiven Zeitungslektüre gewidmet habe (Mittler). Neben der Lektüre daheim habe es aber durchaus auch die in Lese-

^

Collins/Skover, Death of Discourse, S. 18. Dieser Strukturwandel der Öffentlichkeit, wie er sich in der Presse Chinas wiederspiegelte, ist konzise beschrieben in "Baohua", einem Leitartikel der Beijing Ribao (Peking Daily News, 1904-1935), 11.12.1927.

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hallen gegeben (Wagner). Ferner wurde danach gefragt, ob die Zeitungen in der Tradition des sogenannten "Zensorats" gestanden hätten (Sagaster). Darauf wurde geantwortet, daß die Tradition der Manifestation der Volksmeinung bei der Veröffentlichung von Zeitungen durchaus eine Rolle gespielt habe (Wagner). Zur herausragenden Rolle des Leitartikels in der chinesischen Presse wurde bemerkt, daß auch in der Hindi-Presse der Leitartikel des Herausgebers immer von besonderer Bedeutung gewesen sei (Meisig). Ferner wurde nach der Änderung des Stils der Leitartikel gefragt. Gab es eine Tendenz, von der am Prüfungsaufsatz orientierten Abhandlung zu einer zugespitzten Meinungsäußerung überzugehen? (Rothermund) Die Referentin bestätigte, daß dies nach der Jahrhundertwende der Fall gewesen sei, auch habe man sich dann einer einfacheren Sprache bedient und obskure Anspielungen vermieden. Hierzu wurde ergänzt, daß die normative durch die analytische Aussage ersetzt worden sei. Autoritative Feststellungen wurden nun durch "Sprachregelungen" abgelöst (Wagner). Abschließend wurde betont, daß die in dem Referat für China dargestellten Entwicklungen nur etwa im Zeitabstand von einer Generation hinter gleichartigen Entwicklungen in Europa lägen. Das sei für die Zeitungswissenschaft, die sich sonst meist nur mit der nationalen Geschichte beschäftigt, sehr bedeutungsvoll und müsse hervorgehoben werden (Bley). Bibliographie Brake, Laurel, Aled Jones und Lionel Madden (Hg.), Investigating Victorian Journalism, Houndmills 1990 Chen Zusheng, "Wang Tao", Xinwenjie renwu (Persönlichkeiten aus der Welt der Presse), Bd.l, Beijing 1983 Chi, Madeleine. "Shanghai-Hangchow-Ningpo Railway Loan. A Case Study of the Rights Recovery Movement", in: Modern Asian Studies 7.1 (1973), S. 85-106 Collins, Ronald K. L./David M. Skover, The Death of Discourse, Boulder 1996 Eastman, Lloyd E., The Throne and Mandarins. China's Search for a Policy During the SinoFrench Controversy 1880-1885, Cambridge (Mass.) 1967 Elman, Bejamin A. "The Relevance of Sung Learning in the Late Ch'ing: Wei Yuan and the Huang-ch'ao ching-shih wen-pien", in: Late Imperial China 9.2 (Dec. 1988), S. 56-85 Gan Xifen. Xinwenxue da cidian (A Dictionary of Modern Journalism), Zhengzhou 1993 Hanazono Kanesada, The Development of Japanese Journalism, Osaka 1924 Hu Daojing, "Shenbao liushiliu nian shi" (66 Jahre Geschichte der Shenbao), in: ders., Baotan yihua (Presseanekdoten), Shanghai 1940, S. 81-104. Jiang Bozan. Wentilun zuanyao (Das Wichtigste Uber literarische Genres) [Chongqing:] Zhengzhong shuju 1942 Century, Koss, Stephen, The Rise and Fall of the Political Press in Britain, Bd. 1 : The Nineteenth London 1981 Luo Jialun (Hg.), Jiang-Zhe tielu fengchao (Die Unruhen um die Eisenbahn in Jiangsu und Zhejiang), Tai bei 1968 (Shanghai 1907) Ma Guangren, Shanghai xinwen shi, ¡850-1949 (Geschichte der Shanghaier Presse), Shanghai 1996 Mateer, Ada H., New Terms for New Ideas. A Study of the Chinese Newspaper, Shanghai 1915 Miller, Carolyn R, "Genre as Social Action", in: Quarterly Journal of Speech 70 (1984), S. 151-167

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Janku

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Protestanten, Presse und Propaganda in China: Strategien der Aneignung und Selbstbehauptung von chinesischen Journalisten im 19. Jahrhundert Natascha

Vittinghoff

Daß ausländische Missionare im 19. Jahrhundert einen wesentlichen Anteil an der Entwicklung eines modernen chinesischen Pressewesen genommen hatten, ist in der westlichen wie chinesischen Sekundärliteratur zur Pressegeschichte heute im allgemeinen so weit anerkannt, daß den Missionaren sogar die Begründung der modernen chinesischen Presse zugesprochen wird. Zweifelsohne haben die missionarischen Aktivitäten wesentliche technische Innovationen, inhaltliche Anstöße und konkrete Vorbilder als Bedingung der Möglichkeit einer Ausbildung einer chinesischen Tagespresse geliefert. Als solche Gründerväter tauchen sie in den von den damaligen Zeitungen selbst entworfenen Genealogien einer chinesischen Presse allerdings nicht auf. Statt sich auf diese Vorbilder zu beziehen, mit denen viele der ersten Journalistengeneration persönlich verbunden waren, in engem Kontakt und regem Austausch standen, werden als historische Bezugspunkte autochthone Regierungsorgane, die Hofgazetten (jingbao), oder westliche Tageszeitungen (xinbao), mit Vorliebe die britische Times, genannt. Der Missionar kommt als Prototyp des Journalisten in China in den Selbstdarstellungen der chinesischen Zeitungsmacher nicht vor - ein Schweigen das m.E. beredt über die Problematik der eigenen Historisierung und Legitimation der ersten chinesischen Journalisten spricht. Der folgende Beitrag setzt sich daher zum Ziele, nach den Ursachen für den schwierigen Umgang mit der Missionarspresse und ihren Agenten zu fragen, und zu untersuchen, aus welchen Gründen eine Absetzung von der missionarischen Presse notwendig geworden sein mag. Die Untersuchung stellt sich dabei hauptsächlich die Frage, auf welchem Wege und aus welchem Grunde sich die ersten chinesischen Journalisten zwar Aspekte des missionarischen Journalismus in erheblichem Maße praktisch angeeignet und zunutze gemacht haben, auf ideologischem Terrain aber eine historische Eigenständigkeit und inhaltliche Einzigartigkeit behaupten wollten und konnten. Führt man sich auf der anderen Seite den spezifischen europäischen Kontext der Chinamission des 19. Jahrhunderts vor Augen, was in bisherigen Studien fast völlig vernachlässigt worden ist, eröffnen sich neue Perspektiven und damit Erklärungen für die Strategien der Mission sowie Zeitungspublikation, was in der Auseinan-

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dersetzung mit den chinesischen Kollegen freilich eine ebenso wichtige Rolle spielt.1 In der Bearbeitung dieser Fragen werde ich mich auf die beiden wichtigsten frühen chinesischen Tageszeitungen und deren Mitarbeiter konzentrieren, der Shenbao, die 1872 in Shanghai von dem britischen Unternehmer Ernest Major (chines. Meicha, 1841 -1908) gegründet wurde, und der Xunhuan Ribao, die 1874 als erste rein chinesische Zeitung in Hongkong von Wang Tao (1828 1897) ins Leben gerufen wurde. Wang Tao, der später sogar als „Vater des Journalismus in China" bezeichnet wurde, zählt zweifellos zu den berühmtesten frühen chinesischen Journalisten des 19. Jahrhunderts. Von den Missionaren werden so auch nur die in Erscheinung treten, die mit diesen Journalisten in Kontakt standen und auf dem chinesischen Pressemarkt des 19. Jahrhunderts eine wichtige Rolle spielten. Kollegen: Protestantische Missionare und chinesische

Journalisten

Als Anfang einer modernen chinesischen Presse wird häufig die Gründung des Chinese Monthly Magazine (Chashisu meiyue tongjizhuan) genannt, das 1815 von den britischen Missionaren der presbyterianischen London Missionary Society (LMS) und eigentlichen Gründern der protestantischen Mission in China, Robert Morrison (1782-1834) und William Milne (1785-1822) in Malacca ins Leben gerufen wurde. 2 Wie der Titel anzeigt, handelte es sich zwar um ein chinesisch-sprachiges Presseerzeugnis; das Magazin wurde jedoch nicht - wie ursprünglich intendiert - in China, sondern „im Exil" publiziert, da Protestanten wie Katholiken seit der Erklärung der katholischen Mission als Heterodoxie im Jahre 1724 die Mission in China verboten war. 3 Der Zustand der Illegalität der Mission wurde durch das Toleranzedikt von 1844 schrittweise aufgehoben: nach einer Phase der Religionszulassung in den wenigen durch den ersten Opiumkrieg geöffneten Vertragshäfen wurde schließlich nach dem zweiten Opiumkrieg 1860 die generelle Inlandsmission

Einen solchen Zusammenhang stellt zwar schon 1929 der sehr frühe Missionsforscher Kenneth Scott Latourette her (A History of Christian Missions in China), London 1929 (Repr.: Taipei 1966), seine diesbezüglichen Fragestellungen führten aber bisher zu keinen spezifischen Untersuchungen in der Erforschung des Einflusses der China-Mission auf die chinesische Pressege^ schichte. Zu Kurzbiographien und Listen der Veröffentlichungen in China der beiden Missionare siehe Memorials of Protestant Missionaries to the Chinese: Giving a List of their Publications, and Obituary Notices of the Deceased, Shanghai 1867 (Repr: Taipei 1967), S. 3-24. Morrison hatte zunächst versucht, eine Missionarspresse im für Ausländer geöffneten Viertel Kantons zu etablieren, war aber wenige Jahre später von Kanton nach Malacca umgezogen, um den Schikanen der chinesischen Behörden zu entgehen.

Protestanten, Presse und Propaganda in China

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vertraglich zugesichert. Die neu eingereisten protestantischen Missionare gehörten fast ausschließlich der Strömung der sog. zweiten Erweckungsbewegung des 19. Jahrhunderts in Nordeuropa und den Vereinigten Staaten an, die durch einen ausgeprägten Missionseifer und die Gründung zahlreicher Missionsgesellschaften in Europa charakterisiert war und die Chinamission begründete. Als Opponenten der Landeskirchen operierten diese Missionsgesellschaften oftmals isoliert von ihren Heimatländern und waren stark auf das persönliche Engagement ihrer wenigen neuen Mitglieder angewiesen. 4 So ging die Mission in China in diesen ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts nur langsam voran, und es befanden sich etwa im Jahre 1866 nur 195 protestantische Missionare in China, die sich auf 24 verschiedene Missionsvereine verteilten und etwa 3000 Konvertiten betreuten.5 Bis zu diesem Zeitpunkt zeigten sich auch nur sehr vereinzelte und kurzlebige Bemühungen der Missionare, chinesische Zeitungen zu vertreiben und auf diesem Wege ein breites Publikum zu erreichen, zum Beispiel in Form des 1833 gegründeten, prominenten East West Monthly Magazine (Dongxiyang kao meiyue tongjizhuan) des deutschen Missionars Karl Friedrich August Gützlaff. 6 Die besondere Bedeutung, die die Protestanten im Unterschied zu katholischen Missionaren der Auslegung der Heiligen Schrift zumaßen, sowie die damit verbundene besondere Beachtung der Mission über das gedruckte Wort, hatten nicht nur schon in der Reformationszeit einen wesentlichen Innovationsschub in der Entwicklung eines mechanisierten Pressewesens bewirkt, sondern waren auch in China wesentliche Triebkräfte für die Entwicklung technischer Verfahren zur Herstellung von beweglichen Lettern oder den Import westlicher Druckmaschinen. 7 Die Meilensteine der technischen Entwicklung wurden hierbei sämtlich von britischen und amerikanischen Presbyterianern gesetzt - angefangen mit dem Druck eines ersten chinesisch-englischen Lexikon von Robert Morrison 1815 bzw. dessen erster Bibelübersetzung. Die hierfür hergestellten Letternsätze wurden weiter zum Druck des oben genannten ersten missionarischen Magazins Chinese Monthly Magazine benutzt, und

4

Kenneth Scott Latourette, History, S. 205-208. Adrian A. Bennett, Missionary Journalist in China. Young Allen and His Magazines, 1860-1883, Athens (Georgia) 1983, S. 28. Eine Liste der frühesten Publikationen bis in die 60er Jahre findet sich in Liang Yuansheng, Lin Lezhi zai Hua shiye yu „Wanguo gongbao" (Lin Yezhis Unternehmungen in China und das „Globe Magazine"), Hongkong 1978, S. 70. Auf die Diskussion bzw. Tatsache, daß umstritten bleibt, ob nicht auch die Verbreitung des Buchdruckes als ein wesentlicher Motor für die Entwicklung der reformatorischen Aktivitäten betrachtet werden kann, sei hier hingewiesen. So z.B. bei Lucien Febvre/Henri Martin, L'apparition du livre, Paris 1994, Marks U. Edwards, Printing, Propaganda and Martin Luther, Berkeley 1964.

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diese Verlagspresse wurde wiederum Vorbild für ebensolche Einrichtungen in Batavia und Macao. Und nicht nur die erste chinesische Tageszeitung Xunhuan Ribao wurde, wie erwähnt, mit Hilfe der Druckmaschinen und Einrichtungen der LMS hergestellt, sondern auch viele der chinesischen Ausgaben der ersten britischen Zeitungen wurden dann ins Leben gerufen, wenn ein Missionsverlag einen Satz von chinesischen Lettern zum Verkauf bereitgestellt hatte. Trotz der numerischen Minderzahl hatten die Missionare so schon in den 60er Jahren eine Monopolstellung im modernen Druck chinesischer Bücher erlangt. In Hongkong operierten zwei Missionarspressen, von denen die bekanntere das Verlagshaus der LMS war, die Druckerei des Englisch-Chinesischen Kollegs (Yinghua shuyuari). Hier wurden erstmals chinesische Schüler aufgenommen. 8 Die neue Druckerei der LMS, die von den berühmten Missionaren James Legge (chines. Li Yage 1814-1897) und dann Ernst Eitel (chines. AiDe, 1838-1908) betrieben wurde und Wang Tao als ihren Mitarbeiter zur Übersetzung der Klassiker beherbergte, sollte später bei der Gründung der ersten rein chinesischen Zeitung, der Xunhuan Ribao eine wesentliche Rolle spielen.9 Die erste Missionarspresse in Inland Chinas wird 1830 in Kanton von dem professionellen Drucker Wells Williams ins Leben gerufen, gefolgt von der Gründung der Presse der American Presbyterian Mission durch Walter M. Lowrie 1844 in Ningbo; nach seinem Umzug nach Shanghai avancierte dieser Amerikanisch-Chinesische Verlag (Meihua Shuguan) in den 60er Jahren zum erfolgreichsten Großunternehmen im Druckbereich, das über 100 Arbeiter beschäftigt haben soll.10 Wie überall auf der Welt befanden sich die Missionare auch in China in einer Position „as an interpreter of culture in a cross-cultural setting [...], one who acts to clarify the meaning or translates elements of one culture to the members of another culture".11 Die Missionare der ersten Jahrzehnte des 19.

g Fang Hanqi, (Hg.), Zhongguo xinwen shiye tongshi, Juan yi. (Allgemeine Geschichte des chinesischen Journalismus) vol. 1, Beijing 1992, S. 293 ff. bzw. Guo Weidong (Hg.), Jindai waiguo zai Hua wenhua jigou zonglu (Gesamtliste der ausländischen Kulturinstitutionen im modernen China), Shanghai 1993, S. 199. Die andere Druckerei ist die Imprimerie de Nazareth (Nazale yinshuguan), die 1884 von französischen Katholiken gegründet wurde, hauptsächlich missionarische Werke vertrieb, aber auch die Verbreitung von wissenschaftlichen Schriften proklamierte und bis 1957 bestand. Guo Weidong, Gesamtliste, S. 234. Suzanne W. Barnett, "Silent Evangelism: Presbyterians and the Mission Press in China. 18071860", in: Journal of Presbyterian History, 49.9. (1971), S. 287-302; Ji Shaofu (Hg), Zhongguo chuban jianshi (Kurze Geschichte des Publikationswesens in China), Shanghai 1991, S. 264-267. Zum Vergleich einer solchen Rolle der Missionare in Afrika z.B. JonnaLynn Κ Mandelbaum, The Missionary as Cultural Interpreter, New York u.a. 1989, S. 7.

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Jahrhunderts in China hegten - im Unterschied zu denen in vielen anderen Erdteilen der Welt - zweifellos eine tiefe Bewunderung und einen erheblichen Respekt vor den Errungenschaften der alten chinesischen Kultur - und sahen klar ein, daß ihre Rolle als Publizisten im Reich der Mitte durchaus nicht einzigartig oder konkurrenzlos war: „We have to deal with the oldest nation in the world; one whose history extends back four thousand years [...]. A people whose prepossessions and prejudices and cherished judgements are the outgrowth of milleniums. Whose literature, ancient and vast, is as powerful as ever with the people. [...]. They are therefore prepared to meet us with our own weapons - newspaper against newspaper, literature against literature."' 2

Eine genaue Kenntnis der chinesischen Literatur und Geschichte wurde daher ebenso als Bedingung einer erfolgreichen Mission angesehen, wie umgekehrt die Vermittlung westlichen allgemeinen Wissens als Voraussetzung für die Annahme theologischer christlicher Inhalte betrachtet wurde. Das europäische Chinabild im 19. Jahrhundert wurde wesentlich von den zahlreichen Berichten dieser Missionare geformt und weitergegeben und bis heute noch zählen so manche Übersetzungen von chinesischen Klassikern durch die Missionare zu den „Klassikern" der Sinologie.13 Umgekehrt enthielten viele der ersten missionarischen Publikationen einen erheblichen Anteil an Darstellungen über den Westen und Einführungen in die z.T. ebenso in Europa brandneuen westlichen Naturwissenschaften. So behandelte das 1868 von Young J. Allen in Shanghai gegründete Magazin Church News (Jiaohui Xinbao) zwar dem Titel entsprechend zu etwa 30 % religiöse Themen, der überwiegende Teil von 60 % war jedoch säkularen Nachrichten aus aller Welt und naturwissenschaftlichem und technischem Material gewidmet.14 Die von den Missionaren publizierten Bücher waren selten von Chinesen verfaßt und bestanden zunächst hauptsächlich aus religiösen Texten und Übersetzungen westlicher Werke, wobei die Übersetzungen in enger Kooperation zwischen Missionaren und chinesischen Mitarbeitern entstanden. Wie verschiedene Überlieferungen berichten, wurde den chinesischen Literaten dabei 12

Rev. A. Williamson, „The Field in All Its Magnitude", Records of the General Conference of the Protestant Missionaries of China, Shanghai, May 10 - 24 , ¡877, Shanghai 1877 (Repr. Taipei 1973), S. 57. Einflußreich in der Herausbildung eines Chinabildes waren v.a. die berühmten Magazine Chinese Repository (1832-1851) oder Chinese Recorder (1867-1941). Als prominenteste ÜbersetzerNamen seien hier nur der deutsche Richard Wilhelm und schottische Missionar James Legge genannt. Es handelt sich hier um den ebenfalls sehr erfolgreichen und weit rezipierten Vorläufer des oben erwähnten Globe Magazine. Adrian A. Bennett, Missionary Journalist. Siehe die inhaltliche Analyse der Zeitschrift in Kapitel 4.

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der Inhalt des Textes von dem Missionaren auf Chinesisch erklärt und von jenen dann in flüssigem schriftlichem Chinesisch niedergelegt.15 Diese missionarischen Verlagshäuser wurden durch ihre Publikationen und ihre Funktion als internationale Treffpunkte zu Zentren der Vermittlung zwischen Ost und West: situiert in den großen Hafenstädten wie Shanghai oder Hongkong waren sie Informations- und Anlaufstelle für Durchreisende und Ausgangspunkt für erste Überseereisende geworden. Auch für viele Japaner war der Druckverlag der LMS in Hongkong ein attraktives Besuchsziel auf ihren Reisen ins Ausland gewesen. Wie Zhou Jiarong feststellt, interessierten sich japanische Reformer schon ab den frühen 60er Jahren für Schulbücher und missionarische Publikationen und kauften diese bei Legges Verlag ein. Auch Wang Tao erhielt ab 1868 bis zu seiner Rückkehr nach Shanghai zahlreiche Besuche von japanischen Gelehrten oder Journalisten in dem von ihm übernommenen Verlagshaus. Die Gründer der ersten chinesischen Zeitung Xunhuan Ribao übernahmen die Funktionen dieser Einrichtungen als Mittler zwischen den Kulturen, nachdem sie den missionarischen Druckverlag der LMS aufgekauft hatten. Wie aus vielen Tagebüchern oder Reiseaufzeichnungen von z.B. Guo Songtao (1818 -1891), Li Gui (1842-1903) oder Ma Jianzhong (1845-1899) ersichtlich, wurde das Verlagshaus der Xunhuan Ribao ein wichtiges Zentrum, welches man aufsuchte, um sich vor seinen Reisen zu informieren. In diesen Institutionen hielten sich ja nicht nur zum Teil selbst Auslands - und reiseerfahrene Journalisten auf, die zahlreichen Buchpublikationen über die Verhältnisse im Ausland wurden auch als nützliche Reiselektüre an diesen Orten erworben. 16 Aus diesen beruflichen Verbindungen entstanden oftmals enge persönliche Freundschaften, lebenslange Kontakte zwischen chinesischen Journalisten und westlichen Missionaren. Die meisten der chinesischen Journalisten der ersten Stunde waren in missionarischen Schulen ausgebildet worden oder in den missionarischen Verlagen als Übersetzer oder Drucker angestellt gewesen. Ein großer Teil von ihnen war somit auch getauft - auch wenn das in ihren Publi-

Xiong Yuezhi, Xixue Dongjian yu wan Qing shehui (Der Fluß westlicher Wissenschaften nach Osten und die Gesellschaft der späten Qing), Shanghai 19952, S. 475-480. Die Bibelübersetzung Wang Taos, die auf diese Weise in Kooperation mit Henry Medhurst entstanden ist, wird aufgrund ihres feinen literarischen Stiles die populärste und einflußreichste Bibel des 19. Jhdts. genannt. Lo Hsiang-lin, The Role of Hongkong in the Cultural Interchange Between East and West, Vol I-II, Tokyo 1963, S. 43 und 45. Zhou Jiarong, „Zai Xianggang yu Wang Tao huimian - Zhong Ri liangguo mingshi de fang Gang jilu" (Wiedersehen mit Wang Tao in Hongkong - Aufzeichnungen von Hongkongbesuchen zelebrierter Gelehrter aus China und Japan"), Unveröffentlichtes Manuskript vorgelegt zur „Wang Tao yujindai shijieguoji xieshu yantaohui (Internationale Konferenz über Wang Tao und die moderne Welt)", Hongkong: 18.-20. Dezember 1997, S. 1-9.

Protestanten,

Presse und Propaganda

in China

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kationen selten Erwähnung findet. 17 Der berühmte Wang Tao verdankte dem Engagement der Missionare der LMS sogar sein Leben, da sie ihn aus Shanghai in die Kolonie Hongkong schmuggelten, als er in ernsthafte politische Schwierigkeiten mit der chinesischen Regierung geraten war. Seine enge Freundschaft zu Legge ist in zahlreichen Briefen, Tagebucheinträgen und Artikeln belegt.18 Eine eindeutige Parteinahme oder Entscheidung für ein Engagement in religiösen oder säkularen Institutionen schien weder von Missionaren noch Journalisten gefordert oder erwartet, denn es wechselten z.B. Journalisten der Shenbao wie Cai Erkang (1852 - 1920) und Shen Yugui (1807/8 1907) problemlos zwischen missionarischen und nicht-missionarischen Zeitungen hin und her. Kontrahenten und Kollaborateure: Politische Implikationen der Missionarsarbeit Viele der fortschrittlichsten chinesischen Beamten hielten schon früh Kontakt zu Missionaren wie auch zu Journalisten. Der bekannte Reformer Feng Guifen ( 1809-1874) traf sich zum Beispiel schon in den 60er Jahren einmal wöchentlich mit dem amerikanischen Missionar und Journalisten Young Allen (chines. Lin Lezhi, 1836-1907) und war wiederum enger Freund der Journalisten der Shenbao und Wang Taos. Der britische Missionar und Mitherausgeber der einflußreichsten Missionars-Zeitschrift Globe Magazine ( Wanguo gongbao), Timothy Richard (1845-1919) oder der amerikanische Gilbert Reid (18571927) waren zum Ende des 19. Jahrhunderts soweit in die Nähe des politischen Zentrums gerückt, daß sie 1898 eine einflußreiche Rolle in der berühmten und kurzen Reformbewegung des Guangxu-Kaisers spielen konnten.19 Missionarische Mitarbeiter an Regierungsprojekten, wie Young Allen am Shanghaier Übersetzerbüro der Regierung (Guangfang yanguari) oder John Fryer (chines. Fu Lanya, 1839-1928) am Shanghai Arsenal, wurden zudem 17

Zu den sozialen und kulturellen Hintergründen der ersten Journalisten und Zeitungshäuser in in Hongkong und Shanghai siehe die entsprechenden Teile II. 1 und II.2 meiner Dissertation: Natascha Vittinghoff, Freier Fluss: Zur Kulturgeschichte des frühen chinesischen Journalismus (1862-1911), Dissertation, Universität Heidelberg 1998. Z.B. Legge, James, The Chinese Classics, vol 1-V, Taibei 1985, Vol IV: Shijing, Preface. S. viii; Wang Tao, Taoyuan wenlu waibian (Äußere Kapitel aus der Sammlung von Wang Tao), 1883 (Repr.: Shenyang 1994), S. 315; Wang Tao, „My Sojourn in Hongkong", in: Yang Qinghua (Hg.), Renditions. Special Issue: Hongkong, no 29/30 (1988), S. 37-41. Z.B. William E. Soothill, Timothy Richard of China. Seer, Statesman, Missionary and the Most Disinterested Adviser the Chinese Ever Had, London 1924;Tsou Mingteh, „Christain Missionary as Confucian Intellectual: Gilbert Reid (1857-1927) and the Reform Movement in the Late Qing", in: Daniel Bays (Hg.), Christianity in China. From the Eighteenth Century to the Present. Stanford 1996, S. 73-90.

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von der chinesischen Regierung mit Titeln und Symbolen der chinesischen Beamtenhierarchie ausgezeichnet.20 Das Globe Magazine selbst wurde an höhere Dienststellen der Qing-Regierung verteilt und hatte mit seinen Artikeln großen Einfluß auf den Reformdiskurs der letzten Jahrzehnte des 19. Jahrhunderts. Zudem standen - wie aus vielen ihrer politischen Kommentare deutlich - britische wie amerikanische Missionare den konservativen Regierungsaktivitäten des Kaiserhauses durchaus kritisch gegenüber und scheuten sich nicht, diese Kritik direkt in Artikeln des Magazins zu äußern.21 Eine allzu große Nähe zu den Missionaren öffentlich zu präsentieren, barg daher in politischer Hinsicht erhebliche Gefahren verschiedenartiger Angriffe für chinesische Journalisten mit sich. Es ist daher kaum erstaunlich, daß sie sich mit verschiedenen Mitteln von ihren missionarischen Kollegen abzusetzen versuchten. Durch die verschiedenen sogenannten „ungleichen" Verträge, die von britischen Kriegsschiffen in den sogenannten „Opiumkriegen" 1842 und 1860 erzwungen worden waren, war ab 1860 die Inlandsmission eröffnet worden, was in chinesischen konservativen Regierungskreisen auf immer stärkere Ablehnung stieß. Das führte zu häufigen Throneingaben, die ein Verbot der Missionstätigkeit für Chinesen forderten. 22 Gleichzeitig waren die Missionare schon aus organisatorischen und finanziellen Gründen bemüht, eine eigenständige chinesische Kirche aufzubauen, die eines Tages in selbstständiger Mission operieren könnte, und konzentrierte sich auf die Ausbildung chinesischer Laienpriester. 23 Eine chinesische Tageszeitung, die mit Hilfe einer ehemaligen Missionspresse gedruckt wurde, konnte von konservativer Regie-

20

23

Adrian A. Bennett, Missionary Journalist, und ders., John Fryer: The Introduction of Western Science and Technology into Nineteenth Century China, Cambridge 1967. Fryer wurde zwar trotz eigener Bemühungen nie in eine Missionsgesellschaft aufgenommen, stand aber in sehr engem Kontakt zu den Missionaren in Shanghai und nahm an deren Konferenzen teil. Adrian A. Bennett stellt zum Beispiel in seiner Analyse der Wanguo gongbao fest, daß die missionarischen Journalisten zwar oftmals betonten, keine Kritik an der Regierung und China üben zu wollen, dafür im Inhalt aber immer kritischer wurden. Adrian A. Bennett, Missionary Journalist, S. 153-154. Im Unterschied zu den durchaus nicht unkritischen chinesischen Tageszeitungen bestand darin, daß chinesische Beamte hier auch namentlich kritisiert wurden. Über den Widerstand der chinesischen gentry gegen missionarische Aktivitäten, siehe Paul Cohen, China and Christianity. The Missionary Movement and the Growth of Chinese Antiforeignism 1860-1870, Cambridge 1963, S. 77-87. Vorreiter in diesem Unterfangen war der exzentrische und sprachbegabte Missionar Gützlaff, der schon in den 30er Jahren über hundert chinesische Prediger organisiert haben soll. Jessie G. Lutz,/Lutz R. Ray, „Karl Gützlaff's Approach to Indigenization: The Chinese Union", in: Daniel Bays (Hg.), Christianity in China. From the Eighteenth Century to the Present, Stanford (CA) 1996, S. 269-291.

Protestanten,

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in China

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rungsseite leicht als ein solcher Versuch der Mission von Chinesen interpretiert werden. Konkretere Gefahr drohte jedoch in politischer Hinsicht dadurch, daß allzu missionars-freundliche Journalisten sogar als staatsfeindliche Rebellen aufgefaßt werden konnten. In der politisch-sozialen Vorstellung der konfuzianischen Weltordnung wurden die christlichen Missionare den zahlreichen religiösen Sekten zugeordnet, die grundsätzlich heterodoxe Meinungen vertraten und verbreiteten. Eine solche Affinität schien angesichts von ähnlichen religiösen Vorstellungen - z.B. Rettung durch ein Paradies - und organisatorischen Strukturen - z.B. Gottesdienste mit charismatische Führern und Frauen gerechtfertigt, wie auch durch die Tatsache, daß sich viele Konvertiten aus solchen chinesischen Sekten rekrutierten.24 In Krisenzeiten der imperialen Regierung konnten die Aktivitäten dieser religiösen Assoziationen immer wieder in soziale Aufstandsbewegungen übergehen und die politische Einheit des Reiches stark gefährden. Nahezu das gesamte chinesische Reich wurde in den drei Jahrzehnten von 1850 bis 1870 von einer ganzen Reihe von Aufständen und Rebellionen - vom Südwesten durch die Hui und Miao bis in den Norden Chinas durch die Nian - erschüttert, deren prominentestes und für die Regierung gefährlichstes Beispiel die zehnjährige Taiping Rebellion darstellte. Im Versuch ein neues Himmelreich zu gründen und die Qing Regierung zu stürzen, gelang es den Taiping ab 1850, große Teile Südchinas zu erobern und schließlich ein eigenes Herrschaftsgebiet zwischen Kanton und Shanghai mit dem naheliegenden Nanjing als Hauptstadt zu etablieren. Da sich der Anführer der Taiping, Hong Xiuquan, nach einer Vision selbst zum Bruder Jesu erklärte, wurde diese religiössoziale Bewegung von westlichen Beobachtern als christliche Rebellion aufgefaßt und von einem großen Teil der Missionare - wenigsten zu Anfang aktiv unterstützt.25 In politischer Hinsicht konnte somit bei zu engem Kontakt der chinesischen Journalisten mit den Missionaren auch gleich eine Nähe zu den staatsfeindlichen Rebellen des Umlandes geschlossen werden: als zum Beispiel Wang Tao 1862 wegen eines aufgefundenen heimlichen Schreibens an die Rebellenführer verdächtigt wurde, die Einnahme Shanghais propagiert und die Rebellen unterstützt zu haben, wurde - wie die Korrespondenzen zwischen chinesischen Beamten und britischem Konsulat zeigen - allein sein Ar-

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25

Daniel H. Bays, „Christianity and Chinese Sects: Religious Tracts in the Late Nineteenth Century", in:Suzanne W. Barnett/John King Fairbank (Hg.), Christianity in China. Early Protestant Missionary Writings, Cambridge 1985, S. 121-134. Rudolf G. Wagner, Reenacting

the Heavenly

Vision: The Role of Religion

Rebellion (China Research Monograph No 25), Berkeley 1982.

in the

Taiping

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beitsverhältnis bei den Missionaren ein wichtiges Argument, das seine Sympathien zu den Rebellen beweisen sollte.26 Konkurrenten: Neulinge auf dem

Publikationsmarkt

Ein wichtiges Motiv, sich mit seinen Publikationen von denen der Missionare absetzen zu wollen, lag sicher darin begründet, daß chinesische Journalisten und Missionare einen gerade neu erschlossenen Publikationsmarkt umkämpften, auf welchem sie sich sehr profan Marktanteile und Verkaufszahlen zu sichern bemühten. Die chinesischen Mitarbeiter in den missionarischen Verlagen arbeiteten zum großen Teil selbständig in den Druckereien und genossen offensichtlich ein hohes Ansehen unter den Missionaren. Schnell übernahmen sie das technische knowhow, setzten es für ihre eigenen Zwecke ein und führten selbst Innnovationen ein. Huang Sheng (auch Wong Hsing, 1825-1905), der Druckerei-Manager des LMS Verlages in Hongkong, zum Beispiel war nicht nur unverzichtbar für die Leitung der Druckerei geworden, sondern führte, wie Turner berichtet, auch selbst Experimente für technische Verbesserungen durch, insbesondere der Entwicklung der elektrolytischen Maternherstellung, ein Verfahren, das Gamble 1858 in Ningbo erfunden hatte, und welches dem Meihua Shuguan zu seiner Vormachtstellung mitverholfen hatte. Außerdem riet er dringlich zur Einführung einer automatischen Druckfarben-Zufuhr, um die Wirtschaftlichkeit des Unternehmens zu erhöhen. 27 Noch unter der Leitung von Rev. Turner begann Huang Sheng, einen eigenen Satz Matern herzustellen, was fünf Jahre später beim Verkauf der Druckerei zu einem heftigen Streit führte, der sogar gerichtlich ausgetragen werden mußte. Offenbar hatte Huang Sheng den Plan gehabt, eine eigene Schriftgießerei zu gründen, falls die der LMS nach Kanton umziehen würde. Huang Shengs Interesse war zunächst vor allem kommerzieller Natur, später jedoch hatte er vor, wie Eitel berichtet, den Satz Matern in Peking dem Kaiser zu schenken, worauf Eitel ihm erbost klarzumachen versuchte, daß er nun nicht nur den Marktwert der Druckerei erheblich verringern würde, sondern die

2

27

Wang Tao, der sich aufgrund dieses Vorwurfes in Lebensgefahr befand, wurde unter dem Schutz des britischen Konsulates von den Missionaren nach Hongkong geschmuggelt. Zur Diskussion der Dokumente von 1862 aus dem Public Record Office zu Wang Taos Flucht siehe Natascha Vittinghoff, Freier Fluß, S. 101-104. LMS Archive, C W M Incoming Letters: South China and Ultra Ganges: Box 6, Brief von F. Turner an J. Mullen, 28. Oktober 1867.

Protestanten,

Presse und Propaganda

in China

147

Druckerei auch noch um einen potentiellen Produktionsauftrag bringen würde, wenn er seinen Satz einfach verschenke. 28 Diese Konflikte hatten weitere Konsequenzen, als chinesische Journalisten den Druckverlag der LMS in Hongkong kaufen wollten, da sie versuchten den Verkaufspreis mit dem Argument zu drücken, daß Huang Sheng im Besitze der Matern ein Konkurrenzunternehmen aufziehen könnte. Außerdem weigerten sie sich zunächst, die speziellen Vertragsauflagen der britischen Missionare anzunehmen: zum Beispiel sollten sie versprechen, keine Sonntagsausgabe zu publizieren und in der Zeitung keine anti-missionarischen Inhalte zu propagieren. In den Zeitungsanzeigen wurde das Nichterscheinen am Sonntag lapidar damit begründet, daß am Wochenende von den Ausländern keine Handelsgeschäfte unternommen würden und somit keine dringenden Nachrichten anfielen. Weiterhin wurde von den Missionaren sogar gefordert, daß im Verlag weiterhin religiöse Pamphlete gedruckt würden und sie ursprüngliche noch laufende Verträge der LMS fortführen mußten. Auch das wurde zunächst abgelehnt, aber „after much higgling" doch akzeptiert. 29 Die Missionarszeitungen machten zwar wiederholt in ihren Editoriais deutlich, daß sie kein finanzielles Interesse an den Zeitungsgründungen hatten. 30 In der Tat arbeiteten die Missionsverlage jedoch unter erheblichem finanziellen Druck, da sie von ihren Heimatorganisationen abgeschnitten waren - wie z.B. die amerikanischen Missionare in den 60er Jahren während des Bürgerkrieges - oder aus ideologischen Gründen keine Unterstützung von ihren Landeskirchen erhielten. 31 So waren sie durchaus daran interessiert, wirtschaftlich ertragreiche Unternehmen zu führen. Major betont von Anfang an ausdrücklich, daß er die Shenbao gründete, um Profit zu machen. 32 Da die Zeitungsführung der Shenbao wiederum deutlich macht, daß es Major und seinen Mitarbeitern nicht nur um Profit gegangen sein kann, - da sie sonst nicht durch

Mit einem Satz Matern, wie er ihn aus den Patrizen der Druckerei gewonnen hatte, konnte er praktisch unendlich viele Lettern gießen, deren Herstellung sehr kostengering war und deren Verkauf den größten Ertrag im Druckgeschäft einbrachte. LMS Archive, CWM Incoming Letters: South China and Ultra Ganges: Box 6, Brief von F. Turner an J. Mullen, 28. Oktober 1867 und LMS Archive, CWM Incoming Letters: South China and Ultra Ganges: Box 7, Brief 2g von E. Eitel an F. Turner, 9. Januar 1873. Der Käufer Chen Aiting mußte versichern, die Schriften der British and Foreign Bible Society weiterhin zu vertreiben LMS Archive: CWM Incoming Letters: South China and Ultra Ganges: Box 7, Brief von E. Eitel an J. Mullen, 28. Januar 1873. Z.B. „Benguan zhuren zixu (Selbstdarstellung unseres Verlagsleiters)", Wanguo gongbao, 30. Januar 1875. Valentin H. Rabe, „Evangelical Logistics: Mission Support and Ressources to 1920", in: John K. Fairbank (Hg.), The Missionary Enterprise in China and America, Cambridge 1974, S. 56-90. Z.B. „Lun benguan zuo benbao yi (Warum unser Haus diese Zeitung macht)", Shenbao, 11. Oktober 1875, S. 1.

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Natascha

Vittinghoff

provokative Berichte und Diskussionen so häufig das Risiko der Schließung hätten eingehen müssen - muß diese Aussage vor allem als Absetzung gegen die missionarischen Projekte verstanden werden: es sollte damit deutlich gemacht werden, daß die Zeitung vor allem aus wirtschaftlichen und nicht ideologischen Interessen betrieben wurde.33 Daß zwischen den chinesischen und missionarischen Presseleuten ein starkes Konkurrenzverhältnis bestand, zeigen nicht nur die erwähnten Berichte über juristische Streitigkeiten, sondern wird auch im August 1878 in einem langen Leserbrief des North China Herald expliziert: Ein drei Spalten langer Aufruf des schottischen Missionars der LMS und späteren Redakteurs der erwähnten Wanguo gongbao, Alexander Williamson (chines. Wei Lianchen, 1829 -1890), proklamierte die Gründung einer Times für China, die alle anderen Zeitungen übertreffen könnte. Was er vorschlug, war eine missionarische Tageszeitung, die sowohl christliche als auch tagespolitische Inhalte verbreitete und durch das schon bestehende Netz der Missionare im Inland den Vorteil gegenüber anderen Tageszeitungen haben würde, bis in die hintersten Ecken Chinas vorzudringen und somit das erste wirklich nationale und inländische Medium zu sein.34 Ein deutlicher Vorteil der missionarischen Zeitungen bestand in der Tat darin, daß diese als ausländische Unternehmen theoretisch auch im Inland gedruckt werden konnten, während die chinesischen noch auf die Vertragshäfen beschränkt waren, um im Schutz der britischen Jursidiktion zu bleiben. Kontroversen: Über die wahre Aufklärung Die Rolle der Presse in der chinesischen Öffentlichkeit schien den protestantischen Missionaren immerhin so brisant, daß Shanghaier Gemeinden, wie Rev. Butcher 1877 berichtet, die dringliche Hoffnung auf eine aufrechte moralische Haltung der Journalisten in die Fürbitten der Gottesdienste mit einschlossen: „That it may please Thee to help all literary persons, and editors of the Public Press that they may use all their Powers in the cause of Truth and Righteousness and rise above the praise and blame of men."35 Ständiges Thema von Diskussion und Disputen über die Missionsarbeit in China waren die richtige Komposition bzw. Verwendung von gedruckten 33

35

Zu den anderen Aspekten und Gründen für eine solche Argumentation der Shenbao, siehe Natascha Vittinghoff, Freier Fluß. S. 167-168. „A 'Times' for China", North China Herald, 24. August 1878. Rev. Dean Butcher, „The Duty of the Foreign Residents Aiding in the Evangelization of China and the best means of doing so", Records, S. 274. Butcher bezeichnet die Passage als „unauthorized version of the English Litany", die in Shanghai in Umlauf wäre.

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Traktaten. Im Mittelpunkt standen dabei die Fragen, ob man sich in den Missionsbemühungen wesentlich an eine gebildete chinesische Oberschicht wenden - und daher konsequenterweise das für den Schriftverkehr gebräuchliche gehobenere klassische Chinesisch verwenden - oder mit Verschriftlichung der allgemeinen Umgangssprache die breiten Bevölkerungsmassen anzusprechen versuchen sollte. Verbunden mit einer Entscheidung für die zweite Lösung war dann die weitere Frage, ob man in Lokaldialekten schreiben oder den nördlichen Pekingdialekt allen religiösen Pamphleten zugrunde legen sollte. Eine ähnliche Diskussion sollte sich unter den Zeitungsmachern der ersten chinesischen Tageszeitungen fortsetzen. Wiederholt wurde von den Missionaren beklagt, daß ihre Texte und Predigten ihren Lesern und Zuhörern unverständlich blieben - und die Parallelität der Probleme der Zeitungen und missionarischen Publikationen von den Missionaren selbst gezogen: „We should look at the Chinese daily newspapers, - they must know the style best fitted to reach people".36 So deckten sich viele Kriterien, die Rev. Muirhead in einem Essay als rechte Weise des Predigens anführt, „simple, clear and plain", „direct, pointed, practical", „interesting and attractive"37 nahezu direkt mit den programmatischen Aussagen der Zeitungen über den rechten Stil ihrer Artikel: „Heutzutage gibt es viele Ereignisse im Reich, die man berichten könnte, die aber alle begraben und verborgen werden. Woran liegt das nur? Liegt es daran, daß es niemanden gibt, der an den Ereignissen interessiert ist und sie aufzeichnet, so daß interessante Nachrichten und Anekdoten nicht überliefert werden können? Das wäre besonders bedauerlich! Verfolgt man das vom Altertum bis heute zurück, so hat es extrem detaillierte Aufzeichnungen von Lokalchroniken und Abhandlungen über hohe Berge und weite Ebenen von den Historikern gegeben. Aber sie zeichneten eben nur Nachrichten früherer Generationen und längst vergangene Ereignisse auf. Zudem war die Länge so ausführlich und der Stil so erhaben, daß nur Herren der gentry sie verstehen und nur Literaten und Gelehrte sie lesen konnten. Dann kamen die Beamtenromane, die spezielle Abhandlungen ersetzten [...]. Dergleichen konnte nun überall gleichermaßen gelesen und eingesehen werden. Doch waren ihre Geschichten zum Teil unglaubwürdig, ihre Aufsätze alle stilistisch so fein konzipiert, daß sie nur noch den Reinen Gesprächen (qingtan ) der Λκ-Gelehrten eine Hilfe sein, von Gebildeten wie einfachen Leuten aber nicht gleichermaßen genossen werden konnten. Will man daher heute Aufzeichnungen von gegenwärtigen Dingen machen, bei denen der Stil schlicht aber nicht grob, die Ereignisse kurz aber detailliert sein sollen, daß von den Gelehrten oben bis hin zu den Bauern, Arbeitern und Kaufleuten alle gleichermaßen davon wissen, so eignet sich dafür nichts besser als eine Zeitung." 38

^ Diskussionsbeitrag von Rev. Dr. Douglas (S. 223) zu einem Essay von Rev. C. Goodrich, „Importance of a Vernacular Christian Literature, with Special Reference to the Mandarin", 3 7 [1877], Records. S. 213 - 218. 3 g Rev. Muirhead, „Preaching to the Heathen - Matter and Manner", Records. S. 76-83. „Benguan gaobai (Anzeige unseres Hauses)", Shenbao, 30. April 1872, S. 1.

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Auch hier wurde zwar gefordert, daß ein einfacher, leicht verständlicher Stil in den Meldungen und Artikeln vorherrschen sollte, damit sich diese von den herkömmlichen Abhandlungen unterschieden. Gleichzeitig zeigen aber Leserbriefe, die sich über den schwierigen Stil der Shenbao beklagen, daß dem Anspruch einer breiten ungebildeten Leserschaft in der Tat durch die gängigen Zeitungen kaum gerecht werden konnte.39 Das Scheitern der Zeitung in dieser Hinsicht führt zur Gründung einer ersten wirklich in einfacher Sprache für „das einfache Volk", i.e. Bauern, Handwerker und Frauen! - publizierten Zeitung, der 1876 vom Shenbao Haus gegründeten Volkszeitung (Minbao), doch auch dieser Versuch erwies sich als sehr kurzfristiges und erfolgloses Unterfangen. 40 Dieser Gedanke, eine möglichst breite ungebildete Bevölkerungsschicht anzusprechen, und dabei vor allem auch die Frauen in den Aufklärungsprozeß mit einzubeziehen, war wiederum auch unter den neuen Erweckungsbewegler weit verbreitet und wiederholt in den Magazinen Young Allens thematisiert worden. Während die Xunhuan Ribao vertraglich zusichern mußte, keine anti-missionarischen Inhalte zu publizieren, wurde der Shenbao von der von Missionaren betriebenen Zeitung Shanghai Xinbao vorgeworfen, daß sie inhaltlich antimissionarisch sei. Daß nun gerade eine von Briten gegründete Shenbao eine missionarsfeindliche Haltung einnehmen sollte, beunruhigte die (missionarischen) Herausgeber freilich besonders, da durch das Zeitungsmedium die öffentliche Meinung noch stärker beeinflußt werden konnte als durch schon zirkulierende antimissionarischen Plakate oder eingereichte Memoranden. 41 Als die Shanghai Xinbao der Shenbao eine ausländerfeindliche Haltung unterstellte, verteidigte sich letztere gegen diesen Vorwurf deutlich: „Gestern las ich in einem Artikel in der Xizi Xinbao [i.e. Shanghai Xinbao], daß viele der Leitartikel und Nachrichten der Shenbao nicht den Ideen der Westler entsprächen, weshalb sie stark kritisiert und verachtet würde. Daß seien wirklich falsche Worte! Außerdem hätte ein Artikel... über Aufstieg und Fall der Missionare... besonders das Mißfallen der westlichen Missionare erregt, weshalb es nur angemessen wäre, uns hart zu kritisieren und zu verachten. Die Herausgeber der westlichen Zeitungen geht das doch eigentlich gar nichts an und doch schlagen sie solche Wellen auf und verschlimmem noch die Situation. Was soll das? [...] Da die Westlichen Zeitungen oftmals die Interessen der westlichen Seite

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„Yu Shenbaoguan lun Shenbao zhi geshi bijian (Diskussion meiner bescheidenen Ansicht mit dem Shenbao Verlag über den Stil der Shenbao Zeitung)", Shenbao 13. März 1875, S. 3-4. North China Daily News, 31. März 1876. Bei der Shanghai Xinbao handelte es sich zwar um keine missionarische Zeitung, sondern eine kommerzielle chinesische Ausgabe des North China Daily News, doch waren die Herausgeber durchwegs amerikanische Missionare, nämlich Marquis Wood, John Fryer und dann Young Allen. Adrian A. Bennett, Missionary Journalist. S. 57-59.

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wahren und oftmals die Interessen der westlichen Seite fördern - wäre es da nicht nur angemessen, wenn auch die chinesischen Zeitungen oft Interessen der Chinesen wahrten und oft Interessen der Chinesen förderten? [...] Wenn wir nicht die Interessen der Chinesen schützen würden, könnten dann die Chinesen an das Allgemeininteresse [unserer] Artikel (yilun zhi gong) glauben?" 42

Die Kontroversen zwischen Missionaren und chinesischen Journalisten kreisten um eben jenes Problem der Rolle von Zeitungen als Aufklärer des Volkes und diese wurde auf das Schlachtfeld der richtigen „objektiven" Berichterstattung übertragen. Laut missionarischer Auffassung sollte die Verbreitung westlichen Wissens in China den sogenannten „Aberglauben" zurückdrängen und so eine Grundlage für einen christlichen Glauben schaffen. Nicht nur die britischen Zeitungen in Shanghai und sogar Hongkong sondern selbst Konsulatsberichte aus den Archiven des Public Record Office beklagten nun den Umstand, daß die Shenbao unglaubliche Geschichten mit absonderlichen übernatürlichen Inhalten abdruckte. Damit würden die chinesischen Zeitungen die Verantwortung und Pflichten als öffentliche Stimme mißbrauchen, weil sie das ungebildete Volk in die Irre führten. Angeblich soll die Shenbao bzw. Major, auf diese Kritik lapidar geantwortet haben, daß "it goes down", d.h. ein kommerzielles Argument angeführt haben: „Our readers will doubtless recollect that on several occasions we have had cause to pass some pretty severe strictures upon the (to our eyes) great abuse of the exceptional opportunity for educating the masses indulged in by the editor of that journal, who, a foreigner himself, yet allows the paper to be the vehicle of spreading broadcast wherever it goes, the grossest and most superstitious fables. These are, as the Shun-pao itself says, eagerly read by the masses, and our contemporary justifies itself for the insertion of such mischievous trash by the simple fact that it „goes down". The Evening Gazette does not assume the perogative of universal censor more than any other independent organ, but we conceive it to be not only the privilege, but the duty of every newspaper conducted upon conscientious principles, to condemn and expose, upon every possible occasion, the pernicious system of disseminating folly among an ignorant and unenlightened people." 43

In der Tat verteidigte die Shenbao ihr Programm aber inhaltlich: mit diesen Geschichten würde eine chinesische literarische Tradition fortgesetzt. Diese traditionellen Geschichten über Absonderlichkeiten (zhiguai xiaoshuo) würden auch nicht immer von den Gelehrten geglaubt, seien aber wichtiger Be-

42 43

„Lun Xizi Xinbao lübo Shenbao shi (Uber die häufige Kritik der North China Daily News an der Shenbao)", Shenbao, 13. Dezember 1872, S. 1-2. The Celestial Empire, 14. Januar 1875.

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standteil ihrer literarischen Lektüre. So könne auch der Leser selbst entscheiden, ob er sie für tatsächlich oder fiktional halten wolle. „Neulich erschien ein Artikel in einer westlichen Hongkonger Zeitung, der speziell diskutierte, daß die Shenbao üble Geschichten und Erzählungen von Geistern und Gespenstern abdruckte, und wir damit das ungebildete Volk in die Irre führen und die Massen verderben würden. Ach! Unser Haus hat diese Geschichten, die beschrieben sind, eigentlich nur gehört und glaubt das nicht tatsächlich. [...] Unser Haus hat detailliert erklärt, daß die Aufgabe der neuen Zeitungen darin besteht, die Worte der Leute zu sammeln und Geschichten im Volk zu suchen. Und wie könnten wir [allein aufgrund] unserer unbedeutenden Ansicht sagen, daß es solche Angelegenheiten im ganzen Reich nicht geben könnte, oder sagen, daß es sie in alter und neuer Zeit nicht geben kann und daß alles, was die Leute mit eigenen Augen sehen und mit ihren Ohren hören und uns überliefern, falsch sein sollte und dieses noch als Lügen diffamieren ! Aus gerade diesem Grunde beauftragen wir Reporter überall, uns alle merkwürdigen und ungewöhnlichen Begebenheiten mitzuteilen, damit wir sie in unserer Zeitung publizieren können. Diese Arten von Geschichten, die wir drucken, werden von einer Hälfte der Chinesen geglaubt und von der anderen bezweifelt. Selbst wenn alle es für Lügen halten würden, würden sie doch die neuen Absonderlichkeiten schätzen, so wie sie früher Werke wie die Abhandlung über Yi Jian, die Abhandlung über Kui Che oder die Weitläufigen Aufzeichnungen über die Regierungsperiode des Höchsten Frieden 44 gelesen haben und nehmen es als Hilfsmittel für ihre Konversationen. Es heißt zwar, daß der heilige Meister Konfuzius nicht über Absonderliches und Geister gesprochen habe. Aber sind nicht Gan Bao mit seinem Soushenji und Dong Po mit seinen Geistergeschichten (Dong Po shuo gui ) auch Personen aus dem Altertum, die über tausend Jahre bekannt sind? Und obwohl das so ist, druckt unser Haus solche Geschichten auch nicht dauernd ab." 45

Außerdem hätten die Ausländer überhaupt kein Recht über die Richtigkeit eines Zeitungsprogrammes zu befinden. Denn gegen den Vorwurf der Volksverdummung setzte die Shenbao die Ansicht, daß selbst die britischen christlichen Zeitungsmacher nicht frei von Aberglauben seien, geschweige denn die Missionare.46 Gerade dieser versteckte Hinweis der Shenbao zeigt in amüsierend subtiler Weise an, wie sich die Journalisten die Argumentation der Missionare aneigneten und als Mittel der Selbstbehauptung einsetzen konnten: indem sie darauf anspielten, daß auch der christliche Glaube wenigstens aus chinesischer Sicht nicht nur aufklärerischen Inhaltes sein konnte, da die Bibel

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45

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Zum Yijianzhi von Hong Mai (1123-1202), Kuichezhi von Guo Tuan, ca. 1165-ca. 1189 und Taiping Guangji, eine Literatur-Enzyklopädie, die unter der Aufsicht von Li Fang (925-966) im Jahre 978 fertiggestellt wurde, siehe William Nienhauser, The Indiana Compendium to Traditional Chinese Literature, Bloomington (Indiana) 1986. „Bo Xianggang xibao lun Shenbao shi (Eine Gegendarstellung zur Diskussion der Shenbao durch die Hongkonger westlichen Zeitungen)", Shenbao, 25. Dezember 1874, S. 2. Ebd.

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ebenso unglaubliche übernatürliche Inhalte vermittle, die kein noch so vernünftiger Westler nicht zu glauben wage würde. „Unser Haus druckt solche Geschichten auch nicht dauernd ab. Aber jedesmal wenn eine besonders merkwürdige Geschichte von uns gedruckt wird, findet man sie sicher in Übersetzung in der Evening Gazette (Zhengfeng Xibao)47, aber wichtige wirtschaftliche Ereignisse [die wir beschreiben] sind dagegen nur selten zu finden ! Entweder muß der Herausgeber dieser Zeitung sich besonders für diese üblen und merkwürdigen Ereignisse interessieren, oder meinen, daß sich andere Leute besonders daran erfreuen. Selbst wenn einige aufgrund dieser [Geschichten] unser Haus kritisieren, woher nimmt sich der Herausgeber der Evening Gazette das Recht, als Alleinherrscher unsere Aufsätze zu verbessern und wie ein Kompaß uns den rechten W e g zu zeigen oder wie ein Kapitän uns ans Ufer zu führen! D i e Herzen und Wesen der Chinesen und Westler sind doch im großen ziemlich ähnlich und nicht sehr verschieden. Laut der Erziehung der Westler müssen sie in ihrer Jugend auch merkwürdige Geschichten aus dem Altertum glauben. Und was in verschiedenen B ü c h e m beschrieben ist, müssen sie respektieren und glauben und würden selbst als Erwachsene nie wagen zu sagen, daß sie es nicht glaubten. 48

Koketterie:

konfuzianische

Journalisten

stellen sich vor

Auch in gesellschaftlicher und kultureller Hinsicht konnten die neuen chinesischen Journalisten leicht auf Neid und Widerstand ihrer konfuzianischen „Kollegen" stoßen: mit ihrer westlichen Schul- oder Berufsausbildung in den Missionarsschulen oder Institutionen waren sie in Hongkong und Shanghai schnell zum Bestandteil einer neuen sozialen Elite aufgestiegen. 49 Damit hatten sie sich den traditionellen Karrierewegen über die Staatsexamina entzogen und verweigerten den Nachweis der Zugehörigkeit zur kulturellen Elite durch die Teilnahme am Studium der konfuzianischen Klassiker und obligaten Regierungstexte. Während in den frühen 50er und 60er Jahren für einen Chinesen im Dienste der Missionare offenbar noch ein großer Erklärungsbedarf für einen schmählichen „Verkauf seiner literarischen Kraft an die Ausländer bestanden hatte, hatte sich schon in den 70er Jahren ein selbstbewußter Umgang mit den Fremden in China entwickelt. So lamentierte Wang Tao in den 50er Jahren in 47

49

So übersetzt im Celestial Empire, 14. Januar 1875. In der englischen Übersetzung des Artikels im Celestial Empire wird angemerkt, daß der chinesische Text hier keinen Zweifel lasse, daß auf das alte und neue Testament angespielt wurde. Im Chinesischen heißt es allerdings nur „in verschiedenen Büchern" (gezhong shu zhong), womit nicht ausschließlich die Bibel gemeint sein muß. The Celestial Empire, 14. Januar 18?5 · Carl T. Smith, "The English-educated Chinese Elite in Nineteenth-Century Hong Kong", in: David Faure (Hg.), History of Hong Kong 1842 -1984, Hongkong/London 1995, S. 29-56.

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Shanghai zum Beispiel noch lautstark über sein Arbeitsverhältnis am Druckverlag der LMS: "Many years have already passed since I first came to Shanghai. Alhtough [my coming] was necessitated by time and fate, I had not intended or expected to be [here] so [long]. Yet, since this is how it is now, I have to [accept the situation] and settle down; in short my situation now can be described as „regarding a perilous situation as though it was a prosperous road", and „treating bitter vegetables as though it was sweet water chestnuts". Relying on these barbarian pigmies [...] for a living is particulary repulsive. [...] Since their living habits and desires definitely have nothing in common with ours, i have to watch my words and actions all the more. I start the day at dawn and withdraw at dusk. This comes close to slaving away like a small peddlar and being as lowly as somehone hired to pound rice. My character has always been easygoing and careless, and [working here at the Mission Press] is like being in prisonM the contrast between me and what I have to write is like that between ice and chacoal. In name, I am an editor, but in fact I am the one who is given orders. [My work] is so irrelevant and outside of true scholarship that if [the paper on which the work is written] is not used for covering pickle jars or mending windows, one might as well throw it straight into the privy." 50

In seinen Erinnerungen an die späteren Jahrzehnte in Hongkong ist er dagegen voll des Lobes über die westlichen Errungenschaften und Einrichtungen der Kolonie und seinen freundschaftlichen Umgang mit James Legge. 51 Im Jahre 1872 kehrt er von einer Europareise mit jenem heute bekanntesten Sinologen nach Hongkong zurück und wird in den Hongkonger Zeitungen aufgrund seiner Expertise in westlichem Wissen respektvoll mit Dr. Wong tituliert.52 Es bleibt aber festzustellen, daß die ersten Journalisten oftmals Vorwürfe des konfuzianischen Establishments traf, die eigenen kulturellen Wurzeln zu verraten und den Ausverkauf der literarischen Tradition zu betreiben, gegen die sie ihren neuen Status als „freischaffende" Literaten ohne legitimen Bildungsnachweis zu verteidigen hatten. Auch gegenüber diesen konservativen Stimmen mußten die neuen Journalisten somit Selbstbehauptungsstrategien entwickeln, und taten dies, indem sie sich in eine vorgestellte konfuzianische Kultur-Gemeinschaft zu integrieren versuchten und sich als besonders "konfuzianisch" präsentierten.

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Brief von Wang Tao, Januar 1858, zitiert bei Catherine Yeh, 1997, „The Life style of Four Shanghai Wenren in Late Qing China", in: Harvard Journal of Asiatic Studies, vol 57. no 2, S. 419-470, Zitat S. 430-431. Zu zwiespältigen Ansichten zu Hongkong von Wang Tao et.al. siehe Natascha Vittinghoff, „Fruchtbares Neuland: Das kulturelle und politische Experimentierfeld Hongkong im 19. Jahrhundert", in: Das Neue China, 24.2 (1997), S. 23-25. Elizabeth Sinn, „Fugitive in Paradise: Wang Tao and His Life in Hongkong. A Study in Cultural Transformation", Unveröffentlichtes Manuskript vorgelegt zur „James Legge" Konferenz, University of Aberdeen, 8.-12. April, 1997. S. 10-11.

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Wie oben erwähnt, ist die völlige Absenz der missionarischen Vorbilder in den von den Zeitungen selbst entworfenen Genealogien dieses neuen Mediums der Zeitung mehr als auffällig. In der eigenen Historisierung kommt damit wieder eine sehr ambivalente Haltung zum Ausdruck: zum einen präsentierten sich die neuen chinesischen Zeitungen eindeutig als Neuheit - so neu wie die Zeitung ist, machte sie auch den Leser neu und umgekehrt - die Bedürfnisse des neuen Lesers erforderten immer auch zugleich eine Erneuerung der Zeitung. In einem der frühen Artikel wird geradezu ein rhetorisches Fest des Neuen gefeiert, wenn es heißt: „Was die Shenbao heraushebt, ist daß sie eine neue Zeitung ist. Sie schätzt das Neue. Was nicht neu ist, wird gestrichen. Es wird nicht abgedruckt. Falls dann alle das Neue an der Shenbao lieben und zum Vorbild nehmen, wird das Neue der Shenbao auch dadurch erweitert werden, daß man es sich zum Vorbild nimmt. [...] Aber wir hoffen, daß die Leute durch das Neue befähigt werden, sie [die Zeitungen selbst] zu erneuern. Wenn die Leute sie erneuern und das täglich verbreiten, so geschieht das von den Leuten selbst aber erneuert auch die Leute."53

Der so beschriebene dialektische Prozeß bedürfte keiner weiteren Erklärung an den Leser, wäre dieser mit der reinen Neuheit zufrieden. Offenbar ist er es nicht. Denn fast im gleichen Atemzug behaupten die Zeitungen ebenso, daß es sie prinzipiell in China schon immer gegeben hätte, daß es weit abgelegen sei zu denken, sie wären ein reiner Import aus dem Westen, und daß die Grundstrukturen der Zeitungskommunikation in Norm und Praxis der traditionellen politischen Kultur Chinas immer schon angelegt gewesen seien. Mit diesem Bekenntnis wird eine prinzipielle Loyalität gegenüber der Regierung zum Ausdruck gebracht und betont (die in vielen spezifischen Aussagen wiederholt wird), was den missionarischen Zeitung nicht möglich gewesen wäre. Das Loyalitätsbekenntnis war dringlich besonders aufgrund der zahlreichen Rebellionen, die das Land erschütterten - und wie erwähnt häufig in Verbindung zu missionarischen Aktivitäten gebracht wurden. Ein solches Loyalitätsbekenntnis war freilich besonders dringlich für einen politischen Flüchtling wie Wang Tao, der nicht nur um sein Leben gefürchtet hatte, sondern zudem aus dem Exil in seine „Wahlheimat" Shanghai zurückzukehren bemüht war. So sind seine nachdrücklichen Beteuerungen, im konfuzianischen Geiste erzogen worden zu sein und dementsprechend zu handeln, in diesen Kontext zu stellen und zu verstehen:

^

„Shenbao guan fu (Dem Shenbao-Verlag gewidmet)", Shenbao, 15. Februar 1873, S. 1.

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„Als ich mir als Rκ-Gelehrter [i.e. konfuzianischer Gelehrter] die Haare gebunden und die Bücher aufgenommen hatte, habe ich es ganz entschieden als meine Aufgabe gesehen, den Herrscher zu beraten und dem Volk zu dienen. Wenn ich nun aber müßig und träge bin, weil ich dieses Ziel nicht erreiche[n kann], und dahin komme, daß ich bis ans Ende meiner Tage wie blindlings umherirre, so daß ich die Ansichten, die ich in meinem Leben gewonnen habe, nicht zur Beurteilung freigeben kann und selbst einer in Winterkälte zum Verstummen gebrachten Zikade gleiche - erweise ich mich nicht dann [erst] als wirklich unwürdig des Himmels und der Erde, die mich hervorgebracht haben, der Fürsten und Lehrer, die mich gebildet haben, des Vaters und der Mutter, die mich aufgezogen haben ! Die Gründung einer Zeitung dagegen ist zwar vom Namen her eine neue Unternehmung, tatsächlich aber ist es doch ein Erbe [unserer Tradition], Im Altertum fuhren die Sonderwagen des Kaisers aus und sammelten die Gerüchte im Volke; Beschwerdeleisten und Lobrede-Banner wurden am Wegesrand aufgestellt. Auch der Sinn dieser Dinge lag darin, daß man dadurch überall um die verborgenen [Ansichten] des Volkes wußte. Die in der Zeitung gedruckten Ereignisse sind doch erst recht nichts anderes als unsere beschränkten Schreibereien von geringer Kenntnis, die wir den Verantwortlichen zur Auswahl vorlegen. Was darunter an gemeinem dummen Zeug ist, das unkundig der allgemeinen Prinzipien ist, sollen sie lesen und einfach nicht weiter beachten." 54

Die neuen Journalisten waren durch ihren Hintergrund und ihre Tätigkeit somit nicht nur Mittler zwischen verschiedenen Kulturen geworden, sondern befanden sich auch in einer Mittelposition zwischen zwei möglichen Orientierungspolen - den "modernen" westlichen Missionaren und den "traditionellen" konfuzianischen Literaten. Gerade die Überwindung beider Optionen durch die Herausbildung einer eigenständigen Position war aber die Bedingung dafür, daß sie sich erfolgreich durchsetzen konnten. Zusammenfassung: Aneignung und Selbstbehauptung Die Argumentation der Zeitungen zeigt eine sehr selbstbewußte Haltung der chinesischen Journalisten den Missionaren gegenüber, denen sie in der journalistischen Praxis doch geradezu einen Großteil ihrer Grundlagen verdankten. Weder die von den Missionaren erfahrene Schulbildung, noch die beruflichen Ausbildungen in den Missionsverlagen als Drucker, Übersetzer oder Editoren, noch Auslandsreisen und persönliche Kontakte, die die Missionare ermöglicht hatten, werden als Stimuli oder Hilfen der Zeitungsgründungen erwähnt. Statt dessen wird in den Selbstdarstellungen der Zeitungen versucht, den Prozeß der Aneignung möglichst nicht zu thematisieren bzw. auf technische und formale Aspekte zu beschränken. Solche Aussagen sind vor allem als Selbstbehaup-

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„Ribao you bi yu shizheng lun (Welchen Nutzen Zeitungen für die aktuelle Politik haben)", Xunhuan Ribao, 6. Februar 1874, S. 3.

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tungsstrategien zu verstehen und motiviert durch eine Reihe spezifischer kultureller, politischer und sozialer Umstände. Der Widerspruch in der Haltung der Journalisten hatte historisch gesehen v.a. ökonomische und politische Gründe: zum einen war die Distanzierung von den Missionaren aufgrund der religiösen Rebellionen zur politischen Notwendigkeit geworden. Zu leicht konnte eine Verbindung zwischen chinesischen Journalisten, Missionaren und Taiping Rebellen gezogen, und damit die Journalisten in die Nähe der Landeshochverräter gerückt werden. Mit einer Absetzung von den Strategien der Missionare näherte sich die Shenbao wiederum den konservativen chinesischen Kreisen, die gerade in den 70er Jahren verstärkt missionarische - und vor allem die von Chinesen ausgeübten - Tätigkeiten unterbinden wollten. Zum anderen war die äußerliche Ablehnung der missionarischen Tätigkeiten ein Ausdruck des Kampfes um Marktanteile. Aus den Missionsschulen und Verlagshäusern entlassen mußten die chinesischen Journalisten auf einem chinesischen Markt beweisen, daß sie mit den neuen Kenntnissen und Fertigkeiten die bisher sehr erfolgreichen Missionarsmagazine zu übertreffen und zu verdrängen imstande waren. Aber auch unter den ersten oftmals ganz auf sich selbst gestellten ausländischen Journalisten-Missionaren befanden sich solche, die das Zeitungsgewerbe nicht allein aus missionarischem Interesse betrieben, sondern dem profanen Anliegen, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Das Problem der kulturellen Akzeptanz des neuen Mediums war freilich nicht durch die einfache Übernahme westlicher Techniken und Maschinen zu lösen. Die Strategien der chinesischen Journalisten, sich von den missionarischen Kollegen abzusetzen, wurden von letzteren oft kritisch verfolgt und kommentiert. Die Bemühungen, die Leserakzeptanz durch rhetorische und inhaltliche Neuerungen oder Zugeständnisse an die Tradition zu vergrößern, wurden wiederum von den protestantischen Missionaren diskutiert und nachgeahmt. Wie hier nicht weiter ausgeführt werden kann, war es auf dem internationalen Zeitungsmarkt in China zu einer erfolgreichen Werbestrategie geworden, sich als besonders "chinesisch" zu präsentieren, was die verschiedensten - und auch ausländische - Zeitungen gern für sich in Anspruch nahmen. Dieses Markenzeichen einer „Anwaltschaft der Vertretung chinesischer Interesssen" wurde von allen Zeitungen in Dienst genommen und jeweils verschieden koloriert. Die neuen von chinesischen Journalisten organisierten Tageszeitungen bemühten es unter anderem, um sich von den Missionaren zu distanzieren. Die Missionare selbst benutzten es, um chinesische Leser zu gewinnen und letztlich, weil sie sicher auch tatsächlich überzeugt waren, daß ihre Handlungen im Interesse der Erweckung der Menschheit und so letztlich auch der Chinesen seien.

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Vittinghojf

Diskussion Die erste Frage betraf die Zahl der Journalisten, von denen im Referat die Rede war (Eckert). Die Referentin sagte, es seien etwa 40 bis 50 gewesen, die dann allerdings auch sehr lange im Journalistenberuf verblieben seien. Unter Hinweis auf die Position missionarischer Zeitungen in Afrika wurde gefragt, wie es mit der Beziehung zu rebellischen Bewegungen gestanden habe und warum die missionarischen Zeitungen offenbar den Journalisten wenig bieten konnten, so daß diese dann in die allgemeine Presse abgewandert seien (Krüger). In diesem Zusammenhang wurde auch nach dem Kampf um Marktanteile gefragt (Rothermund). Die Streitkultur in den Redaktionsstuben war der Gegenstand einer weiteren Frage. Im osmanischen Reich sei es auf diesem Gebiet sehr polemisch zugegangen, sei man in China sachlicher geblieben? (Ursinus). Die Referentin antwortete, daß es auch in China harten Streit gegeben habe, daß sich aber die Zeitung "Shenbao" darum bemüht habe, persönliche Attacken zu vermeiden. Die Darstellung des Einflusses der christlichen Missionen erweckte Neugier darauf, um welche Missionare es sich denn dabei gehandelt habe (Sagaster). Die Referentin erwähnte die Londoner Missionsgesesellschaft (LMS) und die amerikanischen Missionsgesellschaften, die durch die Einführung eines neuen Druckverfahrens die LMS aus dem Feld schlugen. Ergänzend dazu wurde mitgeteilt, daß die LMS schon sehr früh aktiv gewesen sei und sich sowohl mit besonderen Erweckungsmissionen als auch durch die Beihilfe zur Gründung indigener Kirchen bemerkbar gemacht habe. Sie habe ferner in ihren Presseerzeugnissen die Berichterstattung über die Errungenschaften der Technik besonders betont. Diese Art der Berichterstattung sei besonders für solche Leser, die kein Englisch konnten, von großer Bedeutung gewesen (Wagner). Die Frage nach dem christlichen Bekenntnis der Journalisten kam mehrfach in der Diskussion auf (Krüger, Koschorke). Die Referentin sagte, alle von ihr behandelten Journalisten seien getaufte Christen gewesen, die aber insbesondere dann, wenn sie für allgemeine chinesischen Zeitungen arbeiteten, darauf bedacht gewesen seien, ihre christliche Identität nicht hervorzukehren. Sie waren vermutlich in Missionsschulen erzogen worden, doch läßt sich aus ihren biographischen Mitteilungen nicht erkennen, ob die Taufe bereits eine Bedingung für ihre Zulassung zur Missionschule gewesen sei.

Protestanten,

Presse und Propaganda

in China

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Natascha

Vittinghoff

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Zweiter Teil: Perspektiven der Interaktion mit dem Anderen

Koloniale Dialoge und die Kritik am Orientalismus Jamal Malik Wechselseitige Wahrnehmungsprozesse verschiedener Kulturen erlangen in der gegenwärtigen Phase der Globalisierung und der transkulturellen Kontakte einerseits und der steigenden Zahl ethnischer und religiöser Konfrontationen andererseits zunehmend an Bedeutung. Denn ein großer Teil der Konflikte wird von Zerrbildern und Stereotypen genährt, die auf die gängige Historiographie zurückgehen und die ihre Wurzeln in vielerlei Hinsicht im 19. Jahrhundert haben. Wie es zu dieser Transformation der Geschichtsschreibung kam und welche Auswüchse diese haben kann, ist von Edward Said auf literaturtheoretischer Ebene eindrucksvoll dargestellt worden.1 Saids Beitrag ist zwar von vielen Seiten kritisiert worden, Tatsache ist aber, daß seine Thesen einen Diskussionsprozeß in Gang brachten, der den wissenschaftlichen Diskurs über und mit dem "Orient" in eine neue Richtung lenkte. Sozial- und kulturanthropologische Studien folgten, während Historiker sich tendenziell aus der Debatte zurückhielten. Eine sozialhistorisch ausgerichtete Fragestellung scheint daher notwendig zu sein, um die Debatte auch aus dieser Perspektive zu vervollständigen und die Stereotypen von "Orient" und "Okzident" aufzuweichen und neue Sichtweisen zu ermöglichen.2

2

Vgl. Edward S. Said, Orientalism, London 1978. Die Kritik an Saids Werk ist hinreichend bekannt; vgl. Journal of Asian Studies 39/1980; Sadik Jalal al-Azm, "Orientalism and Orientalism in Reverse", in: Khamsin: Journal of Revolutionary Socialists of the Middle East, 8 (1981), S. 5-26; E. Said, "Orientalism Reconsiderd" in: Francis Barker (Hg.), Europe and its Others, 2 Bde., Colchester 1985, Bd. 1, S 14-27; Hartmut Fähndrich, "Orientalismus und Orientalismus. Überlegungen zu Edward Said, Michel Foucault und westlichen 'Islamstudien'", in: Die Welt des Islams 28 (1988), S. 178-186; John M. MacKenzie, Orientalism: History, Theory and the Arts, Manchester 1995. Siehe auch Carol A. Breckenridge/Peter van der Veer (Hg.), Orientalism and the Postcolonial Predicament, Philadelphia 1993; Thierry Hentsch, Imagining the Middle East, Fred A. Reed (Übers.), Montréal/New York 1992. Zu diesem Zweck wurde ein Internationaler Workshop zum Thema gegenseitige Wahrnehmungen organisiert. Er lehnte sich inhaltlich an das DFG-Schwerpunktprogramm "Transfer-

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Im Zentrum des vorliegenden Beitrags werden deshalb die vorherrschende Auffassungen über die Wechselverhältnisse zwischen Europäern und Nicht-Europäern in der kritischen Zeitspanne von 1750 bis 1850 am Beispiel Südasien erörtert. Diese Phase wird von zwei militärischen Auseinandersetzungen in Indien umrahmt: Plassey 1757 war der erste militärische Übergriff der Briten auf indisches Territorium, während die Niederschlagung der Rebellion von 1857 die endgültige britische Macht in Indien einläutete. Der Zeitraum ist zugleich wegen der geistesgeschichtlichen Entwicklungen in Europa und Asien von höchster Brisanz.3 Zudem kristallisiert sich in diesen hundert Jahren die Idee eines europäischen Aufstieges und eines orientalischen Verfalls heraus.4 Das Ausleuchten der komplexen und ambivalenten Prozesse gegenseitiger Wahrnehmung kann als Mittel dienen, binäre Gegensätze von europäischem Selbst und nicht-europäischem Anderen zu hinterfragen und eine auf Essentialisierung basierende kulturelle Differenz und deren gleichzeitige Transformation in eine epistemologische Kategorie sowie die damit verbundene Verneinung von anderen Gültigkeitskriterien zu rekonstruieren. Denn in diesen Prozessen zeichnen sich verschiedene Phasen der Reziprozität ab: Einer Situation kultureller Überlagerungen und Kulturkontakte folgten wie es scheint eindimensionale Machtstrukturen. 5 Je nach sozialen, ethnischen, religiösen und politischen Hintergründen und Zusammenhängen verfügten beide Seiten doch stets über die Sensibilität und Rezeptionsfähigkeit, ihre Positionen im neuen Umfeld neu auszuhandeln. Voraussetzung dafür war, daß neben Abhängigkeitsverhältnissen und Ergänzungen gemeinsame Diskursebenen bestanden. Kultur wird in diesem Zusammenhang denn auch mation der europäischen Expansion vom 15. bis 20. Jahrhundert. Untersuchungen zur kognitiven Interaktion europäischer mit außereuropäischen Gesellschaften" an, und fand mit der logistischen und finanziellen Unterstützung des Orientalischen Seminars in Bonn, dem Center for International Cooperation in Advanced Education and Research, Universität Bonn (CICERO), und der Deutschen Forschungsgemeinschaft (DFG) im Dez. 1996 in Bonn statt. Die überarbeiteten Beiträge erscheinen als Sammelband voraussichtlich 1999. Im Verlaufe des Workshops wurde eine Reihe von Themen problematisiert und sowohl vom theoretischen als auch empirischen Standpunkt aus wie auch aus verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen, etwa Geschichte, Religionswissenschaften, Ethnologie, diskutiert. Der überwiegende Teil der Beiträge konzentrierte sich allerdings auf das 19. Jahrhundert (!), als die Vorstellung vom Kolonialen und Kolonialisierten entweder im Begriff war, sich herauszukristallisieren oder sich schon als Stereotyp festgesetzt hatte. Zudem scheinen die Quellen aus dieser Zeit leichter zugänglich, lesbar oder/und erhältlich zu sein als die aus der Zeit davor. Siehe die wichtige Studie von Wilhelm Halbfass, Indien und Europa: Perspektiven ihrer 4

geistigen Begegnung, Basel/Stuttgart 1981. Diese Entwicklungen sind dokumentiert z.B. von Thomas Metcalf, Ideologies of the Raj, Cambridge 1995. Vgl. dazu Urs Bitterli, Die "Wilden" und die "Zivilisierten": Grundzüge einer Geistes- und Kulturgeschichte der europäischen-überseeischen Begegnung, München 1976 (erweiterte Auflage) München 1991. *

Koloniale Dialoge und die Kritik am

Orientalismus

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nicht essentialistisch aufgefaßt, sondern kann als Diskursfeld verstanden werden, ein Feld, in dem Interpretationen verschiedener sozialer Realitäten aufeinandertreffen, miteinander konkurrieren und sozusagen einen kulturell hybriden Zusammenhang darstellen. Die in diesem Feld operierenden Repertoires unterscheiden sich je nach Kontext, Raum und Zeit, sie sind funktional und können daher zugleich Schnittmengen aufweisen. Und diese Schnittmengen sind von besonderer Bedeutung. 6 Ausgangspunkt für die Wahrnehmungsprozesse bildet die Überlegung, daß das eigene kulturelle Wissen oder die eigene Weltsicht eine wesentliche Rolle bei der Konzeptionalisierung des Gegenüber, des Anderen, spielt. Wenn dieser nicht verstanden wird, bedient man sich Metaphern, d.h., bekannte und akzeptierte Konzepte und Kategorien werden benutzt, um das Unbekannte zu beschreiben. Durch das Anlegen des eigenen Rasters auf das Fremde wird dieses "ent-fremdet", und es gilt als verstanden, wenn es in vertraute Kategorien übersetzt ist.7 Diese Übertragungsprozesse schaffen zugleich einen Freiraum, in den eigene Erfahrungen eingebracht werden können. 8 Das eigene Wissen dient somit als notwendiges Reservoire für Klassifikationen. Diese Ver-Änderung 9 (engl.: othering) des Kolonialisierten stützt sich mitunter - besonders im 19. Jahrhundert - auf einen hermeneutischen Monolog. D.h., der Gegenstand wird nicht aus sich heraus gelesen, sondern die Klassifikationen werden in einen anderen und aus einem anderen Kontext übersetzt und stellen fortan einen Teil der historischen Herangehensweise für die Wissensproduktion über den Anderen dar. Dieser linguistische Apparat, i.e., Metaphern oder auch Taxinomien (s.u.), stellt dann neues Wissen und neue epistemologische Kategorien und infolgedessen neue Machtkonstellationen her.10 Im dynamischen Prozeß der Konstruktion und Rekonstruktion des Anderen - durch Projektion und Introjektion - ändert sich aber auch die Selbstwahrnehmung, so daß in diesem Oszillierungsprozeß britische genauso wie indische Selbstkonzepte stets modifiziert werden. Imaginierte Vorstellungen wie etwa Autochthonität, Reinheit und Homogenität oder nationale Kultur sind daher einer permanenten Änderung unterworfen. Auf und vor allem

g

Von daher wird der Versuch gemacht, die rein subalterne Sichtweise um einen Schritt zu erweitern. Zu den wichtigen Beiträgen der subalternen Historiographie siehe Partha Chatterjee and Gyanendra Pandey, Subaltern Studies, VII, Delhi 1995. Hans Peter Duerr, Traumzeit: Über die Grenze zwischen Wildnis und Zivilisation, Frankfurt/M. 1978, S. 152, zitiert in: Irmela Hijiya-Kirschnereit, Das Ende der Exotik: Zur japanischen Kultur und Gesellschaft der Gegenwart, Frankfurt/M. 1988, S. 199. Siehe Aleida Assmann, "Interkulturelle Übersetzung - Grenzen, Chancen, Aporien", in: Alois Hahn/Norbert Platz (Hg.), Interkulturalität (im Druck) Dazu siehe auch Werner Schiffauer, Fremde in der Stadt. Zehn Essays Uber Kultur und Differenz, Frankfurt/M. 1997. Michel Foucault, Archeology of Knowledge, Α. M. Sheridan Smith (Übers.), New York 1972

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zwischen beiden Seiten kann folglich eine ganze Reihe gesellschaftlicher Übergänge ausgemacht werden, die durchaus produktiv wirken konnten, da sie sozialen Raum für verschiedenste Identitäts- und Diskursebenen boten." Es handelt sich gewissermaßen um einen Diversifikationsprozeß des Selbst und des Anderen, ganz im Gegensatz zu eingefahrenen kolonialen und auch nationalistischen Vorstellungen. Die darin zum Ausdruck kommende "kulturelle Hybridität"12 sollte später - im 19. Jahrhundert - durch eine vermeintliche Reinigung der eigenen Kultur, die es natürlich nicht gegeben hat - eine Säuberung wenn man so will - gegenüber dem nunmehr als degeneriert erklärten Anderen vermieden werden.' 3 Diese Säuberung führte zu einer eindeutigen Machtstruktur, die sich durch ein komplexes Prozedere herausbildete und fortan eine globale koloniale Identität förderte und forderte. Die Rolle des Marktes, auf dem Kultur, Wissenschaft und Wirtschaft ineinanderflossen und wo Kultur als allgemein zugängliche Ware angeboten werden konnte14, war für Prozesse der Rezeption, Aneignung, Verwerfung und Tilgung wichtig. In der Periode 1750-1850 gab es Kräfte und Veränderungen in gesellschaftlichen, wirtschaftlichen und normativen Bereichen, die erst durch Wechselwahrnehmungen in Bewegung gebracht wurden. Der Blick auf diese Reziprozitäten eröffnet daher neue Forschungsperspektiven, er richtet sich nicht nur auf Verschiedenartigkeiten, sondern auch auf Gemeinsamkeiten, und vor allem auf das Neue und stets Bewegliche - auf die dynamischen Zwischenräume. Aus diesem Zwischen-Blickwinkel, d.h., aus dem Raum zwischen festgelegten Begrifflichkeiten, erscheint Südasien als eine äußerst komplexe Region, in der intellektuelle Konstrukte z.T. selbst entwickelt wurden, die dann auch eine profunde Bedeutung für Europa hatten. Ausgehend von diesen Überlegungen kann die Beschäftigung mit exponierten Trägern des Kolonialisierungsprozesses, d.h. mit Gelehrten, Orientalisten, Informanten und Reisenden, etc., die mitunter aus einer ZwischenPerspektive heraus agierten, wichtige Ergebnisse zu Tage fördern. Denn gerade diese Kräfte oszillierten zwischen verschiedenen gesellschaftlichen Sprachen und Lebenswelten, sie waren zwar durch gesellschaftliche Verschiedenartigkeit oder andere Faktoren von einander getrennt, aber sie bezoZur Kategorie sozialer Raum siehe Pierre Bourdieu, Sozialer Raum und >KlassenKlassen