Russische Antworten auf die polnische Frage 1795–1917 [Reprint 2019 ed.] 9783486775129, 9783486775112

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Inhalt
Die historische Karte des Problems
Der große Plan des Gosudarjs
Der slawischen Familie verlorener Sohn
Ende ohne Abschluß
Literaturhinweise
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Russische Antworten auf die polnische Frage 1795–1917 [Reprint 2019 ed.]
 9783486775129, 9783486775112

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RUSSISCHE ANTWORTEN AUF DIE POLNISCHE FRAGE 1795-1917 VON

DR. HEDWIG FLEISCHHACKER D O Z E N T AN DER UNIVERSITÄT BERLIN

M Ü N C H E N U N D BERLIN 1941

VERLAG VON R . O L D E N B O U R G

Copyright 1941 by R.Oldenbourg, Munchen und Berlin Drudc von R. Oldenbourg, Mûndien Printed in Germany

Inhalt Die historische K a r t e des P r o b l e m s Die älteste russisch-polnische Grenze 1; staatliche Ostausweitung Polens 2; die Standfestigkeit der ethnographischen Grenze — der Begriff der russischen Westgebiete 3. Der große Plan des Gosudarjs Die Grundhaltung Katharinas II. und Pauls I. in der polnischen Frage 4/5; Kaiser Alexanders ideenpolitische Anfänge und Fürst Adam Czartoryski 5/7; 1805 — Pulawy und Potsdam 8/9; 1807 — Tilsit und die Gründung des Großherzogtums Warschau 9/12; Alexanders doppelte Politik 13/15; Graf Michail Oginski und das „Großherzogtum Litauen" 16/18; 1812 — Alexanders Polenpolitik wird aktiv 18/19; Kalisdi und Paris 19/21; Laharpe und Pozzo di Borgo warnen 21/22; der Wiener Kongreß und die Gründung des „Royaume de Pologne" — neunundneunzigjähriger Friede zwischen den Teilungsmächten 22/25; der große Plan Kaiser Alexanders — Polenpolitik und Verfassungspolitik 25/31; der Zesarewitsdi Konstantin Pawlowitsdi 31/33; Alexanders erste Sejmreden 33/34; Wirkung auf die Russen 34/37; Enttäuschungen und Stillstand in Alexanders Polenpolitik 37/38; Russiche „Dekabristen" und polnische „Patrioten" 38; Alexanders Tod und der Aufstand der Dekabristen vom 14. Dezember 1825 38/39; Kaiser Nikolaus I. und Konstantin Pawlowitsdi — Alexanders politisches Erbe 40/42; Krönung und Sejm in Warsdiau 42/43; der polnische Aufstand von 1830—31 44/46; Nikolaus denkt an Verzicht auf Polen — Konstantins Untergang 47; der polnische Aufstand und die russische Öffentlichkeit 48/49; Aufhebung der polnischen Verfassung — die polnische Emigration — Verträge mit den Teilungspartnern 49/50; Kaiser Nikolaus bleibt unversöhnlich 50/51; Anfänge der Russifizierungspolitik in den Westgebieten 51/52; Michail Petrowitsdi Pogodin und die Anfänge einer allslawischen Auffassung in der polnischen . Frage 52; 1846—47 die Lösung der Krakauer Frage und die Bauerngesetzgebung Nikolaus' I. in Polen und den Westgebieten 53/54; 1848 — Nikolaj Turgenjev: Nachklänge des großen Planes Alexanders, Auftakte zum Panslawismus 54/55; 1854, der Ausbruch des Krimkrieges 56.

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Seite Der slawischen Familie verlorener Sohn 57—141 Der Krimkrieg und das „kommende Rußland" 57/58; Michail Pogodins und Alexander Herzens Harmonie im Altslawischen 59/63; 1856, der Pariser Frieden 63; Pogodins Selbstanklagen und neuer Optimismus 63/65; die Anfänge der „großen Reform" 65/66; Alexanders II. erste Begegnung mit den Polen 66/67; Konstantin Dimitriewitsch Kawelin, „Mir" und „Obsditsdiina" als slawophile Maßstäbe 67/68; Herzens „Kolokol" wirbt um die Polen 68/69; Herzens und Pogodins Frage nach der polnisch-russischen Grenze 69/70; die Polen schließen die Großrussen aus der slawischen Familie aus 71 ; 1861, russische Bauernbefreiung und polnische Unruhen 72/74; Reformen in Polen 75 ; Bismarcks Berichte aus Petersburg — die Stimmung der russischen Gesellschaft: außenpolitische „Phantasien", neue Verknüpfung von Polenpolitik und Verfassungsplänen 75/79; das Ende der Solidarität der Teilungsmächte 80/81, die Deutschfeindlichkeit der russischen öffentlichen Meinung und ihre geschiditsphilosophischen Erreger — Michail Bakunins Aufruf an die „russischen, polnischen und alle slawischen Freunde" 81/84; Iwan Aksakov, der Publizist der Slawophilie in der polnischen Frage 84; Sejm und Semskij Sobor 85/87; Alexanders II. müde Polenpolitik, geheimer Verzichtsgedanke : offene Zugeständnisse 87; Großfürst Konstantin Nikolaewitsdi und Marquis Wielopolski, der Versuch einer Versöhnungspolitik 87/88; abermals die Grenzen von 1772 88/90; das Bündnis zwischen Herzen—Bakunin und den polnischen Revolutionären 90/92; der Ausbruch de^ offenen Aufstandes in Polen, Fortsetzung der „liberalen" Polenpolitik in Petersburg 92/93; Ausbreitung des Aufstandes auf die Westgebiete und internationale Einmischung 93 ; Michail Nikiforowitsdi Katkov und seine Presse (Moskowskie Wjedomosti, Russkij Wjestnik) — Stimmungswechsel in der russischen öffentlichen Meinung 93/95; slawophile Staatsfremdheit und Katkovs Bejahung des Staates 95/97; Berührungspunkte zwischen Katkov und den Slawophilen: die „Organisierung der öffentlichen Meinung" und der „Semskij Sobor" 98; der Sturz Herzens durch Katkov 99/101 ; Michail Michajlowitsdi Murawjov, Generalgouverneur von Wilna, die Mobilisierung des westrussischen Bauern gegen den polnischen Adeligen 101/103; die Entdeckung des Westrussentums durch die russische Öffentlichkeit und die ukrainische Frage 103/104; Murawjov schlägt den Aufstand im Nordwesten nieder, Entspannung der internationalen Lage 104/106; Abberufung des Großfürsten Konstantin und Wielopolskis, finnischer Landtag 107; Jurij Samarin: „Unvereinbarkeit und Unversöhnbarkeit der Latinität mit dem Slawentum" — das letzte Wort der Slawophilie in der polnischen Frage 108—114; Staat und Gesellschaft in Rußland — der

Seite russische GesellsdiaftsbegrifF „Obschtsdiestwo" 114/115; Petersburgs letztes großes Programm für Polen, Bauerngesetzgebung von 1864 — das Ende des Aufstandes 115/116; das russische öffentliche Interesse an der polnischen Frage verdächtigt 118/119; polnischer Anschlag auf Kaiser Alexander II. 120; der Slawenkongreß in Moskau von 1867 — das Gleichnis vom verlorenen Sohn 120/122; Russifizierung im Westgebiet und im Königreich — liberale Kritik, Pypin und Spasowicz — Kaiser Alexanders Pessimismus 122/126; Nikolaj Jakowlewitsch Danilewskij, die Jahre 1871 und 1878 126/128; Konstantin Leontjev und Wladimir Solowjov — universalchristliche Gesichtspunkte in der polnischen Frage 128/131; die Revolution von 1905, polnisch-russische „Annäherung im Hasse gegen die Regierung" 131/132; d e r ' Neoslawismus, Grigorij Trubezkoj und Maijan Zdiechowski 133; die polnische Frage auf Semstwokongressen und in der Duma 134/136; die polnische Frage vor einem allslawisdien Forum — Selbstbezichtigung der Russen und politische Unverbindlidikeit ihrer Entschließungen, Roman Dmowskij und die russische Orientierung der Nationaldemokraten 137/139; Stolypins Fazit aus der Russifizierungspolitik in den Westgebieten 140; die Cholmerfrage 141. Ende ohne Abschluß 141—145 1914 — Das Manifest des Großfürsten Nikolaj Nikolaewitsdi an die Polen 142/143; 1915—16, Wiederkehr der Lage von 1812; der polnische Abgeordnete Haruszewicz ein Oginski redivivus — Nikolaus II. ein unebenbürtiger Nachfolger Alexanders I. 144/145. Literaturhinweise 146—150

V

Die historische Karte des Problems Wenn man von Moskau nach dem Westen blickt, dann löst sich die polnische Frage zunächst in eine Art politische Geologie auf — auch der politische Boden hat seine erdkundlichen Schichten. Die erste Grenze zwischen einem russischen und einem polnischen politischen Bereich, wie sie sich etwa für das zwölfte Jahrhundert feststellen und für das elfte vermuten läßt, lag um den oberen San und mittleren Bug. Hier traten die Reiche zweier Dynastien, der polnischen Piasten und der russischen Rjurikowitschi, einander nahe — noch gab es kein Aufeinanderstoßen, keine lineare Grenzberührung, wie wir sie aus der neueren Geschichte kennen. Wälder und Sümpfe, mensdienleere Gebiete bildeten einen breiten Grenzsaum — eine Grenzzone. Wie weit diese erste polnisch-russische politische Grenzscheide auch der ethnographischen Trennung zwischen Ost- und Westslawen entsprach, können wir heute nicht mehr eindeutig feststellen. Ein erster Kampf entbrannte um die sogenannten „tscherwenischen Städte", die zwischen Cholm und Beiz lagen. Boleslaus I. der Tapfere von Polen nahm sie 1018 den Rjurikowitschi ab, 1031 aber mußte sein Sohn Mieszko II. diese Eroberung wieder herausgeben. Und selbst nach diesem Ausgleich einer zunächst vorübergehenden Machtverschiebung scheinen orthodoxe „Rutheni" sich nodi innerhalb des polnischen Machtbereichs befunden zu haben. Im großen gesehen dürften aber die ältesten politischen Bereiche der Rjurikowitschi und der Piasten die ethnographischen Räume der Ost- und Westslawen nicht wesentlich überschnitten haben. Drei Jahrhunderte lang hielten die Nachbarn einander fast im Gleichgewicht. Noch von dieser Front am San und Bug aus erfolgte im 14. Jahrhundert der bekannte, weit nach Osten führende staatliche Vormarsch Polens, der von einem nennenswerten Fl e i s c h h a c k e r , Russische Antworten.

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völkischen Vorrücken der Polen allerdings nicht begleitet war. Um die Mitte des 14. Jahrhunderts setzte sidi Kasimir der Große von Polen nach dem Aussterben der galizischen Rjurikowitschi in den Besitz ihres Fürstentums, und 1386 erfolgte im Zusammenhang mit der Ehe zwischen Jagello von Litauen und der Königin Hedwig von Polen die erste polnisch-litauisdie Union, die, in den folgenden Jahrhunderten mehrfach wiederholt, zu einem dauernden staatlichen Zusammenschluß führte. Was Litauen an Polen brachte, das war zu keinem Teile polnisches und nur zum geringeren Teile litauisches Siedlungsgebiet. Die ungewöhnlich tatkräftige litauische Dynastie der Gediminowitsdii hatte von der verhältnismäßig schmalen Basis des litauischen Stammesbodens aus im 13. und 14. Jahrhundert weite Gebiete des zerfallenden Kiewer Staates der Rjurikowitsdii teils in ihren unmittelbaren Herrschaftsbereich, teils in ihren Machtbereich einbezogen und setzte im 15. Jahrhundert diese Ostausweitung noch fort. Der größte Teil des weißrussischen und des ukrainischen Siedlungsbodens verfiel der polnischlitauischen Herrschaft, der'Machtbereich der Rjurikowitsdii blieb im wesentlichen auf den großrussischen Raum beschränkt. Eine entschiedene Abwehr und der Gegenangriff aus dem Osten setzte erst Ende des 15. Jahrhunderts ein, als die Rjurikowitsdii von Moskau ihr Fürstentum zu ansehnlicher Macht emporbrachten, das „russische Land" zu „sammeln" begannen und ihren Herrschaftsbereich allmählich zur Monarchie entwickelten. Aber der Erfolg Moskaus war zunächst gering im Verhältnis zu dem Gesamtbesitz Polen-Litauens aus der Kiewer Erbschaft. Erst in der Mitte des 17. Jahrhunderts fiel eine bedeutende Entscheidung zugunsten des moskauischen Staates. In einem gewaltigen Kosakenaufstand löste sich die Ukraine selbst von Polen los. Jedoch der moskauische Zar, dem sich die Kosaken im Verlaufe ihres Kampfes unterstellten, vermochte nach dreizehnjährigem Kriege gegen Polen 1667 doch nur die DnjeprGrenze zu halten. So lag die Ostgrenze jenes Polen, das 1772 zum ersten Male geteilt wurde, noch immer um die Längengrade von Smolensk 2

und Kiew. Litauen, Weißrußland, die Westukraine, Wolhynien, Podolien und Galizien waren vier Jahrhunderte lang mit Polen verbunden, zum Teil unmittelbar der Krone Polen einverleibt gewesen. In ihrer völkischen Substanz jedoch waren diese Gebiete nur wenig verändert worden. Weder kolonisierend nodi polonisierend hatte der Pole hier breiteren nationalen Boden gewonnen, außer in der Oberschicht der adeligen Großgrundbesitzer. Das Band, das die verschiedenen Länder Polens umschloß, war somit auch 1772 wie in den vorausgegangenen Jahrhunderten im wesentlichen ein staatliches, verkörpert im König und im Adel, einer in den Ostgebieten fremden oder entfremdeten Oberschicht. Die breiten Massen der Ukrainer und Weißrussen hatte ihr orthodoxes Glaubensbekenntnis vor der Verschmelzung mit dem Polentum geschützt, und auch die beabsichtigte entnationalisierende Wirkung der Brester Kirchenunion von 1596 setzte erst spät, zum Teil erst unter russischer Herrschaft ein. Daß auch die litauischen Unterschichten sich vor der Polonisierung bewahrten, erwies die neueste Geschichte. Aber der politische Pole des 19. Jahrhunderts hat gerade die Ostgrenzen von 1772 nicht vergessen können. In seiner dreifachen Zielsetzung: Staat — Unabhängigkeit — Grenzen von 1772 stand das Verlangen nach der Wiedergewinnung der einstigen Ostgebiete des polnischen Staates, der russischen „Westgebiete", wie sie die Petersburger Regierung mit verwaltungspolitischem Terminus nannte, an erster Stelle. Mit dieser Ostorientierung setzten die Polen nur als Nationalpolitik jenes Ausdehnungsstreben in der Richtung des geringeren Widerstandes fort, das ihr Staat seit dem 14. Jahrhundert als Maditpolitik verfolgt hatte. Und mit bedeutend größerem Eifer und Geschick als während ihrer staatlichen Oberherrschaft bauten sie ihre kulturellen Positionen in Litauen, in Weißrußland und der Ukraine aus. So bildeten die „Westgebiete" immer ein zentrales Problem in der russischen Konzeption zur Lösung der polnischen Frage, wie weitausholend sie ansonsten auch sein mochte. l*

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Der große Plan des Gosudarjs Als Katharina II. 1772, 1793 und 1795 ihre Anteile aus den polnischen Teilungen heimbrachte, hatte sie in ihrem scharfen, besonders zur außenpolitischen Propaganda befähigten Verstände eine klare Vorstellung von der Deutung, in deren Licht sie ihre neuen Erwerbungen sehen wollte. Eine Medaille, die sie nach der zweiten Teilung prägen ließ, trug die unmißverständliche Inschrift „Entrissenes habe ich zurückgebracht", und der Zweifel des preußischen Ministers Herzberg an der Richtigkeit dieser Auffassung entfesselte in der Kaiserin hemmungslose Erbitterung. Mit der ihr eigenen Brutalität des Stils schrieb sie an Grimm: „Dieses Schaf von Herzberg hat nicht mehr Geschichtskenntnisse als mein Papagei" — und Katharina kannte die älteste russische Chronik gut genug, um aus ihr die alte Westausdehnung der russischen Herrschaft zu beweisen. „Ich habe nicht einen Fußbreit polnischen Landes erhalten", versicherte sie mit Entschiedenheit, „ich erhielt nur, was die Polen selbst nie aufgehört haben, Rotrußland zu nennen: die Wojewodschaft Kiew, Podolien und Wolhynien. Litauen aber war niemals Teil der Krone Polen (auch das ist richtig), ebensowenig Samogitien." Katharina hat damit einen mehr historischen als nationalen Standpunkt eingenommen, den ihre Nachfolger, ihr Sohn Paul und ihr Enkel Alexander, durchaus nicht teilten, den nicht einmal die offiziellen Gegner der eigenartigen Polenpolitik Alexanders I. ins Treffen führen werden und der erst viel später in nationaler Ausprägung wieder zu Ehren kommen wird. Für Katharina gab es nach den Teilungen keine polnische Frage mehr, wie sie denn überhaupt Probleme nicht liebte. Aber die Kaiserin starb schon 1796, im Jahre nach der letzten Teilung, und was bisher die private Meinung ihres Sohnes und ihres Enkels gewesen war, das wurde zunächst unter Paul gnädige 4

Laune eines Selbstherrschers, unter Alexander aber dann große Politik. Zehn Tage nach dem Tode seiner Mutter besuchte Kaiser Paul in eigener Person und in Begleitung des Thronfolgers den General KoSciuszko, der 9eit der polnischen Erhebung von 1794 in Petersburg gefangen saß, und begrüßte ihn mit der Kunde seiner Freilassung. Paul entließ auch alle anderen polnisdien Verbannten seiner Mutter, rief den Exkönig Stanislaus Poniatowski nach Petersburg, empfing ihn mit königlichen Ehren und wies ihm zwei Paläste zur Wohnung an. Grundsätzlich ging jedoch Pauls Polenpolitik über diese Gnadenerweisungen nicht hinaus. Er versicherte, daß er die Teilung Polens als einen ebenso ungerechten wie unpolitisdien Akt ansehe, jedodi als eine vollendete Tatsache, deren Änderung ihm unmöglich geworden sei. Auf eine neue politische Stufe, in eine neue geistige Ebene, trat die polnische Frage in Rußland erst 1801 mit dem Regierungsantritt Kaiser Alexanders I. I. Kaiserin Katharina hatte sidi bei der Erziehung ihrer Enkel nicht von den Grundsätzen ihres politischen Systems leiten lassen, sondern von ihrem Bedürfnis, als aufgeklärte Fürstin zu gelten. So konnte der Schweizer Laharpe den jungen Großfürsten Alexander und Konstantin — Nikolaus und Michail waren noch zu jung — ungehindert die politischen Ideen der Aufklärung vermitteln. So fand es Katharina auch richtig, die Brüder Czartoryski, junge polnische Fürsten aus politisch hodibedeutendem Hause, die sie gewissermaßen als Geiseln an ihren Hof zog, ihren Enkeln zur Gesellschaft zu geben. Noch zu Lebzeiten Katharinas, im Frühling 1796, eröffnete Alexander dem Fürsten Adam Czartoryski in einem dreistündigen, leidenschaftlichen Gespräch seine innere Haltung in der polnisdien Frage. Alexander sagte, daß er die Prinzipien seiner Großmutter verdamme, daß er Polens Sieg gewünscht und seinen Fall beklagt habe, daß er den Despotismus in allen seinen For5

men verachte und die Freiheit liebe, die allen Menschen in gleicher Weise zustehe, daß er größtes Interesse an der französischen Revolution genommen, ihre Ausschreitungen zwar mißbilligt, der Republik jedoch Erfolg gewünscht hätte. — Fast ist dieses historische Gespräch heute in anekdotenhaftes Licht gerückt, zu Unrecht, es war in der Tat eine „conversation decisive", wie Czartoryski sagt, die „eine Folge glücklicher und unglücklicher Ereignisse" nach sich zog, „deren Kette während langer Jahre in Erscheinung trat". Czartoryski erkannte die Bedeutung dieser Aussprache, in ihrer Deutung ging er fehl, und sein Weg führte in Enttäuschungen und Mißverständnisse. Er vernahm, zweifelnd, ob er wache oder träume, Alexanders Worte über Polen, aber er nahm nicht wahr, daß sich in dem jungen Verstände des Großfürsten grundsätzlich Verschiedenes mischte — der Untergang Polens und die französische Revolution. Das Ziel KoSciuszkos, das Ziel Robespierres — Alexander nennt beides Freiheit und deshalb interessiert ihn beides. Er sieht die polnische Frage nicht um ihrer selbst willen, nicht für sich allein, sondern im Rahmen seiner werdenden Weltanschauung — und er wird diese polnische Frage auch später immer in der Gesamtheit seines politischen Systems betrachten. Alexanders politische Überzeugungen werden reifen — und altern, ehe sie noch völlig gereift sind, sein geistiger Entwicklungsgang wird weniger Umkehr und Abkehr als Irrweg und Zögern sein, aber gewahrt bleiben wird als Bestandteil seiner Natur jenes ganzheitliche Denken, dessen erstes Zeugnis die „conversation decisive" ist. Czartoryski vermutete 1796 nicht, daß liberale Gedanken im Geiste eines Sohnes der Selbstherrschaft sich sehr eigenwillig spiegeln und brechen, und er vermutete noch weniger, daß die Einordnung der polnischen Frage in Alexanders politische Gesamtsicht für die polnischen Wünsche Gefahren barg. Alexander war damals neunzehn Jahre alt, und die Ideen der Aufklärung und der französischen Revolution hatten seinem Hang zu abstraktem Denken ersten Inhalt gegeben und seiner Abneigung gegen die Heuchelei des katharinischen Systems die

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Grundlage eines programmatischen Widerstandes verliehen. Der Pole Czartoryski bot ihm zu jener Zeit die einzige Gelegenheit eines Gedankenaustausches über diese Themen, über Ideen, die, wie Alexander leidenschaftlich versicherte, „in Rußland noch niemand zu teilen oder auch nur zu verstehen fähig" war. Audi diese knabenhafte Klage eines unverstandenen Großfürsten wird mit dem Kaiser altern — und immer wird irgendwie Polen nicht Ursprung oder Zweck, aber der Nährboden, das Versuchsfeld seiner Ideenpolitik liberaler Richtung sein. Allein Alexander war weder ein Schwärmer noch ein Schöpfer, ein Fanatiker des Plans, nicht der Tat, zu wirklichkeitsfern, um seine Welt zu gestalten, aber gerade noch wirklichkeitsnahe genug, um nichts zu erzwingen — im Notfall ein Meister in der Abwendung der Gefahr. Alexander erkannte die außen- und innenpolitischen Schwierigkeiten des polnischen Problems in aller Deutlichkeit. Neben seiner bejahenden Haltung in der polnischen Frage tritt daher sehr bald eine verneinende auf. Der erste Vertrag, den der Kaiser noch in seinem ersten Regierungsjahr mit Napoleon schloß, hatte „nur einen bemerkenswerten Artikel", wie Czartoryski bitter bemerkt, „und dieser war gegen Polen gerichtet" — er vereinbarte strenge Maßnahmen gegen die Beziehungen der beiderseitigen Staatsfeinde und Emigranten. Fünfzehn Jahre lang bewegt sich Alexander seitdem in der polnischen Frage in zwei entgegengesetzten Richtungen und erreicht in beiden äußerste Grenzen. Er verspricht den Polen die Wiedererichtung ihres Staates von 1772 — und scheint ebenso bereit, sie einschließlich ihres Namens preiszugeben. Fünfzehn Jahre lang unterliegt der Kaiser so abwechselnd zwei inneren Notwendigkeiten, einer ideenpolitischen und einer realpolitischen, um am Wiener Kongreß dann ihren Ausgleich zu versuchen. *

Adam Czartoryski hat aus den ersten Regierungsjahren Alexanders den Eindruck bewahrt, daß der Kaiser „damals das wahre Wohl Rußlands mit jenem Polens nicht für unvereinbar 7

hielt". „Vielleicht", so fügt der Fürst hinzu, „gab er sidi nicht genügend Rechenschaft über eine so schwere Frage, und glaubte, da er sie in weiter Ferne sah, daß er sie nicht ernsthaft zu ergründen brauche." Fürst Adam übersah, daß diese scheinbare Oberflächlichkeit des Kaisers nur ein Mittel seiner diplomatischen Kunst war, sich nicht zu binden. Er sollte bald erfahren, wie ungeheuer rasch das Vorgehen Alexanders in der polnischen Frage von der planenden in die ablehnende Richtung umschlagen konnte. Voll von Hoffnungen und Plänen für die Sache Polens genoß Czartoryski damals erste Jahre einer kaiserlichen Gunst, die alle Russen eifersüchtig machte und zuletzt beunruhigte, als Alexander Ende 1804 darauf bestand, daß der Pole das Außenministerium übernahm. Der Kaiser bereitete in diesen Monaten seinen ersten Kampf gegen Napoleon vor, schuf die Allianz mit Österreich, England und Schweden und suchte, vorläufig vergeblich, das Bündnis mit Preußen. Czartoryski aber nährte an der ablehnenden Haltung Berlins mit scheinbar wachsender Aussicht den Plan, Preußen zu überfallen, um ihm seinen Anteil aus den Teilungen abzunehmen. Er konnte die Gereiztheit seines Kaisers über das Zögern Friedrich Wilhelms ausnützen und schon im November 1804, bald nach seinem Amtsantritt, „indelikate Drohungen", wie der preußische Minister des Auswärtigen von Hardenberg sich ausdrückt, nach Berlin richten. Die Verhandlungen zogen sich hin, und Rußland traf Vorbereitungen, um den Durchmarsch zu erdrohen oder gegebenenfalls zu erzwingen. Czartoryski versicherte sich indes der Zustimmung Österreichs und Englands für den Fall der Wiederherstellung eines polnischen Staates unter russischer Herrschaft. Anfang Oktober 1805 begab sich Alexander zu seinen Truppen und nahm unterwegs in Pulawy, dem Familiensitz der Czartoryski«, Aufenthalt. Meilenweit strömte auf des Kaisers Wunsch der polnische Adel herbei, die polnische Welt zeigte 9idi wirkungsvoll in der Poesie historischer Erinnerungen und liebenswürdiger politischer Trauer, während es Alexander seinerseits verstand, in seiner tänzerischen Grazie gesellschaftlichen Charme

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als politische Verheißung empfinden zu lassen. Indessen wallte das politische Blut der Polen. Agenten schwärmten aus Pulawy aus, um in Warschau die Ankunft Alexanders zu verkünden, Josef Poniatowski, der Neffe des fetzten polnischen Königs, war bereit, „sidi an die Spitze der Bewegung zu stellen, um ihr einen nationalen Charakter zu verleihen" . . . und die Warschauer Marktweiber riefen den preußischen Polizeioffizieren zu, daß ihre Herrschaft nicht mehr von langer Dauer sein w e r d e . . . Man kann fragen, ob Alexander auch diese gefährlichen Kräfte hatte treiben lassen, bloß um Preußen einzuschüchtern. Jedenfalls suchte er in den krisenhaften Wochen die persönliche Verständigung mit Friedrich Wilhelm. Aber ehe es dazu kam, erfolgte der Stimmungswechsel in Berlin, allerdings nicht unter russischem Drude; Friedrich Wilhelm kam den etwas stürmischen Bündniswerbern von dem Augenblick an entgegen, da Napoleon preußisches Gebiet in Mitteldeutschland verletzt hatte. — Noch am 10. Oktober schickte Czartoryski eine Depesche an den russischen Botschafter Rasumowskij nach Wien: „Seine Majestät ist fest entschlossen, den Krieg gegen Preußen zu beginnen" — sechs Tage darauf erklärte Alexander seinem Außenminister, daß er nach Berlin reisen werde, und befahl seinen Generälen, alle Papiere, die etwas Preußen Feindliches enthielten, zu verbrennen. Czartoryski selbst hatte die Verhandlungen in Berlin zu führen, die zum Abschluß des Potsdamer Vertrages führten, zum Anschluß Preußens an die Dritte Koalition — im Juni 1806 schied er aus dem Amte. Es kam das Jahr 1807. Napoleon stand im äußersten Osten Preußens. Alexander unterlag nach kurzer täuschender Hoffnung am 14. Juni bei Friedland. Er suchte den Waffenstillstand mit Napoleon, den Frieden . . . Am 21. Juni berichtete der erste russische Unterhändler im französischen Lager, Fürst Lobanov, nach einem Empfang bei Napoleon: „Seine kaiserliche M a j e s t ä t . . . sdiloß mit den Worten, daß die Weichsel die wahre und natürliche Grenze Rußlands sein müsse." Als Lobanov zwei Tage später von seiner Mission

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zurückkehrte, machte er seinen unwahrscheinlichen Bericht durch ein überzeugendes Bild glaubhaft — Napoleon habe ihn vor eine Karte Europas geführt, mit dem Finger auf den Lauf der Weichsel gewiesen und ausgerufen: „Hier liegt die Grenze zwischen den beiden Reichen, Ihr Herr wird auf der einen Seite herrschen, ich auf der anderen." Am 25. Juni fand eine erste Begegnung der beiden Kaiser auf einem Floß in der Memel statt. Am Abend des 26. übersiedelte Alexander zu Napoleon nach Tilsit... Am 30. des Monats schrieb Fürst Boris Kurakin, der russische Bevollmächtigte für die Friedensverhandlungen, an die Kaiserin Mutter Mari ja Feodorowna: „Es hing vom Kaiser ab, seinen weiten Besitzungen alle polnischen Provinzen Preußens anzufügen und den Titel eines Königs von Polen anzunehmen..." Mehrmals spielte Napoleon in den folgenden Jahren deutlich auf dieses Angebot, das er dem russischen Kaiser gemacht hatte, an, und Graf Oginski, ein aufmerksamer Kenner der französischen und russischen Polenpolitik, schrieb zwanzig Jahre später in seinen Memoiren: „Napoleon zögerte nicht, die Vereinigung Warschaus und Polnisch-Preußens mit dem russischen Reiche vorzuschlagen. Und obwohl alle Anhänger Napoleons diesen Vorschlag bestritten und in Zweifel gezogen haben, ist es nicht minder wahr, daß er gemacht wurde, ich habe davon seither die authentischesten Zeugnisse unter den Augen gehabt..." Alexander hatte Forderungen erwartet, wie sie Napoleon unterlegenen Gegnern zu stellen pflegte — er fand sich rasch in die unverhoffte Zumutung, Geschenke annehmen zu sollen. Während seine Kanzlei den Abstand wahrte, ging er persönlich von Anfang an auf den Stil Napoleons ein. Nur im Tonfall persönlicher Freundschaft konnte die gefährliche Großmut des Siegers abgelehnt werden — und Alexander lehnte ab. Nur einen Augenblick erwägt er unter dem ersten Eindruck des ersten Angebots den Gedanken der Weichselgrenze — Preußen könne mit Böhmen entschädigt werden —, aber in der nächsten Minute stellt er fest, daß diese Grenze von einer territorialen Umordnung abhänge, die sehr schwer zu verwirklichen wäre, man 10

könnte sich damit begnügen, die Grenze Rußlands bis zur Memelmündung vorzutragen. Jedoch auch für diesen Fall wünscht Alexander eine „beträchtlichere" Entschädigung Preußens, sei es mit Einschluß einiger Gebiete Russisch-Polens. In Tilsit erkennt er bald, daß alle diese Erwägungen zwecklos waren, Napoleons Alternative war klar: die Krone Polens für die Vernichtung Preußens. Alexander zweifelt keinen Augenblick, daß die tatsächliche Erhaltung der fremden Macht für ihn wichtiger ist als die scheinbare Erweiterung der eigenen. Was sollte Alexander 1807 mit Polen? Er war besiegt und daher sichtbar ohne Initiative, auf den Alexanderkult von 1805 war der Napoleonkult gefolgt, in seinen eigenen ehemals polnischen Provinzen „schwelte das Feuer des Aufstandes, und sie waren bereit, Napoleon zu empfangen und sich ihm zu ergeben". Alexander wäre nicht der Wiederhersteller Polens geworden, sondern ein eingesetzter König wie die Brüder, Schwäger und Stiefsöhne des Korsen, ein Plünderer seines Bundesgenossen, kompromittiert unter den Großmäditen, ohne Hoffnung und Anspruch auf den Dank der Polen, ohne Macht und Autorität über sie. Aus Napoleons Angebot und Alexanders Ablehnung entsteht so in Tilsit das Großherzogtum Warschau. Es soll ein Staat werden, gebildet aus den Anteilen Preußens aus der zweiten und dritten Teilung, ein Erbherzogtum unter den Königen von Sachsen. Alexander kann diese Schädigung Preußens nicht mehr verhindern, aber er sieht den künftigen Vasallenstaat Napoleons mit neuen Augen an. Die Memelgrenze interessiert ihn jetzt nicht mehr, sein Verlangen nach „natürlichen" Grenzen, seine Abneigung gegen die „trockene Grenze" entdeckt plötzlich einen südlicheren geographischen Ort. Alexander wird jetzt annexionslustig an den Rändern des im Entstehen begriffenen Großherzogtums. Er hat das Gefühl, das alle späteren russischen Beurteiler seine Politik teilen, daß es ja nicht mehr Preußen ist, auf dessen Kosten ein Vordringen Rußlands an dieser Stelle erfolgen würde. Am 6. Juli, einen Tag vor Abschluß des Friedens und Bündnisses mit Frankreich — unvermeidlich waren Napoleons Friedens-

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sdilüsse audi Bündnisse — entwirft Alexander in meisterhaft gemimter Gekränktheit ein Memorandum an Napoleon: , , . . . Ich habe von der trodcenen Grenze Rußlands von Grodno bis zum Bug gesprochen, und daß es interessant wäre, sie durdi eine Grenze ersetzt zu sehen, die natürlich scheint, gebildet von Bobr, Narew und B u g . . . in der gestrigen Konferenz hat man aber versucht, diesem Punkt eine neue Interpretation zu geben, anstatt dem Lauf des Narew zu folgen, ist man flußabwärts gegangen. Auf diese Weise hätte die vorgeschlagene Erwerbung, weit davon entfernt, eine natürliche Grenze zu geben, keinen Wert für Rußland, da der größte Teil der trockenen Grenzen bestehen b l i e b e . . . was das Memelgebiet anlangt, so bin ich bereit, darauf zu verzichten..." Ein Blick auf die Karte empfiehlt sidi, er genügt. Was Alexander verlangte, war beinahe eine Herausforderung an den Schutzherirn des Herzogtums Warschau. Wurde der russische Wunsch erfüllt, dann bildete der neue Staat von der Mündung des Narew in den Bug bis zu seiner Nordostspitze einen ganz schmalen Hals, dessen Verbreiterung nördlich von Augustöwo viel zu gering war, um das südlichere Stüde etwa als Landbrücke vernünftig zu machen. Ohne Zweifel, Alexander wollte das Großherzogtum und seinen Schöpfer Napoleon vor den Polen und Europa lächerlich machen, die künftige Aufmarschlinie des Korsen verkürzen, seine Angriffsbasis abdrosseln, die halbe Ostgrenze des französischen Vasallenstaates zwischen Preußen und Rußland pressen, noch mehr — die Erfüllung der nissischen Forderung wäre praktisdj einer Aufhebung der russischwarschauischen Grenze gleichgekommen, einer fast unmittelbaren preußisch-russischen Nachbarschaft, die am Bug in die rus9isch-österreichisdie Grenze münden sollte. Trotz seiner geringen Fürsorge um den territorialen Bau des Großherzogtums erfüllte Napoleon die Zumutung seines Bundesgenossen nicht ganz. Alexander erhielt nur die Bobr-NurzecGrenze, den sogenannten Bialystoker Kreis, er hat so wenigstens zum Teil erreicht, was er wollte, eine Schmälerung, eine Verunstaltung der Gestalt des neuen Staates. 12

Und das Ergebnis von Tilsit? Alexander hatte eine große Gefahr spielerisch abgewendet: sittliche Kettung an Napoleon und politische Vereinsamung im Nordwesten. Das dafür gebrachte Opfer: Verzicht auf die planende Polenpolitik für noch nicht absehbare Zeit und Errichtung eines französischen Vasallenstaates an Rußlands Grenzen, fand Alexander nidit zu hoch. Er trieb eine Politik der inneren Unabhängigkeit, eine Politik auf lange Sicht, die eine neue Prüfung bestehen mußte, als Rußland 1809 kraft des Bündnisses von Tilsit in den österreichisch-französischen Krieg einzugreifen hatte. Alexander ließ die Österreicher von Anfang an wissen, daß er es „sich nicht versagen könne, die besten Wünsche für ihren Erfolg" zu hegen, seine Truppen überschritten die Grenze erst, als Napoleon schon in Wien war. Russen und Österreicher führten dann in beiderseitigem Einverständnis einen Scheinkrieg in Galizien, in dem Haupttreffen bei Podgorze fielen zwei Kosaken. Die polnischen Bundesgenossen machten dem russischen Oberstkommandierenden, Fürsten Golicyn, „mehr Sorgen als der Feind". Als Golicyn sich in der hohen Politik versuchte, seinem Kaiser die Eroberung Galiziens, die Erwerbung ganz Polens, die Annahme des polnischen Königstitels vorschlug, lehnte Alexander mit tiefer Begründung ab. Im Schlaglicht der napoleonischen Machtentfaltung wurden die Gefahren einer aktiven Polenpolitik immer deutlicher. Alexanders Außenminister Graf Rumjanzev mußte dem politisierenden Feldherrn im unmittelbaren Auftrage des Kaisers eine Reihe von Gesichtspunkten entwickeln, die eine programmatische Zusammenfassung der ablehnenden Richtung Alexanders in der polnischen Frage darstellen: Der Kaiser denkt an die Solidarität der Teilungsmächte, „die unmittelbare Folge einer Wiederherstellung des Königreichs Polen und seiner Vereinigung mit Rußland wäre die, daß das Band zwischen jenen Mächten, welche nach der Teilung Polens ein Interesse daran haben, einander zu unterstützen, völlig zerrisse". Alexander denkt auch an die Gefährdung seiner Westgebiete: „Müßten nicht bei einer Wiederherstellung Polens in seiner ursprünglichen Gestalt russische Gebiete 13

verlorengehen, die einst Polen gehörten?" — und er stellt die Frage nach der „Beständigkeit der polnischen Nation": „Ist nicht unter dem Anschein ihres heißen Wunsches, sich mit Rußland unter dem Zepter Seiner Majestät zu vereinigen, der Hintergedanke verborgen, diese Gebiete zurückzugewinnen und sich dann ganz von uns zu lösen?" Das Beispiel Ungarns und Irlands soll klar machen, wie wenig dauerhaft die Verbindung von Staaten sei, die zu verschiedenem Recht bestünden. „Dieses sind die Gründe", so schloß Rumjanzev, „warum Seine Majestät es vorzieht, Polen in seiner jetzigen Lage zu sehen, und nicht geruht, eine Angliederung Polens in seiner früheren Gestalt als nützlich für das Reich zu erkennen." Dennoch wünschte der Kaiser, daß Golizyn den Polen „mit der Hoffnung auf die Wiederherstellung ihres Vaterlandes schmeichle", damit sie sidi nicht an Napoleon mit der Bitte um Vereinigung Galiziens mit dem Großherzogtum wenden, denn— und jetzt griff Alexander selbst zur Feder und schrieb mit eigener Hand, „dies wäre für uns überaus unvorteilhaft". Soweit der Wortlaut eines Dokuments, das gleichsam die äußerste Grenze der negativen Polenpolitik Alexanders zeichnet. Seine Bedenken sind nicht nur vom Augenblick eingegeben, er wird die so scharf umrissene Problematik immer 9ehen, nur anders zu lösen versuchen. Aber ebenso dient die Vertröstung der Polen nicht nur dem unmittelbaren taktischen Zweck eines politischen Ablenkungsmanövers. Napoleon hat im Schönbrunner Frieden die Alexander so unerwünschte Vergrößerung des Großherzogtums Warsdiau um Teile Österreichisch-Polens vorgenommen. Rußland erhielt aus der Kriegsbeute den Tarnopoler Kreis, „nicht irgendein Gebiet", spotteten die Russen, „sondern vierhunderttausend Seelen nach der Art, wie die Zaren ihre Günstlinge zu beschenken pflegten". Das Großherzogtum Warschau nahm trotz der Mißbildung im Nordosten allmählich eine vorteilhaftere Gestalt an, als das mit dem Lineal zusammengestrichene Polen nach der zweiten Teilung besessen hatte. Alexander blieb seither unruhig. Es genügte 14

ihm nicht, daß Napoleon vor dem Corps Législatif freundliche Äußerungen über die gleichzeitigen Erwerbungen Rußlands in Finnland und den Donaufürstentümern tat, es genügte ihm auch nicht, daß der Innenminister Frankreichs vor derselben Versammlung die Versicherung abgab, daß sein Kaiser niemals die Absicht gehabt habe, Polen wiederherzustellen. Alexander verlangte vertragliche Sicherungen. Am 4. Januar 1810 unterzeichnete der französische Botschafter in Petersburg einen Vertragsentwurf, dessen Artikel I lautete: „Das Königreich Polen wird niemals wiederhergestellt werden." Dieser Punkt hatte angesichts des Daseins eines Großherzogtums Warschau nicht viel praktischen Wert, wenn man das Hauptgewicht nicht auf Worte legte — und in der Tat auf Worte kam es Alexander jetzt an. Der Artikel II bedingte: „Die Bezeichnungen Polen und die Polen werden nicht mehr angewendet, weder in bezug auf Teile jenes ehemaligen Reichs noch in bezug auf die Einwohner oder T r u p p e n . . . " Mehr als samt seinem Namen kann kein Ding und kein Wesen vernichtet werden. Wollte Alexander den Begriff Polen töten? Einige Jahre später wird ihn KoSciuszko trotz aller Enttäuschungen dafür preisen, daß er „den polnischen Namen wiederhergestellt hat". So ist der Vertragsentwurf vom 4. Januar 1810, das Dokument eines scheinbaren unerbittlichen Vernichtungswillens, nur ein Gang aus dem vorläufig noch spiegelfechterischen Zweikampf zwischen Alexander und Napoleon. Alexander hat es nicht verhindern können, er hat es um höherer Interessen willen sogar mitverschuldet, daß Napoleon den Kern eines polnischen Staates schuf, eine erste greifbare Hoffnung der Polen, wenn auch noch unter neutralem Namen. Alexander will nun wenigstens das Wort Polen aus den Zauberformeln zur Wiederrichtung eines polnischen Staates für sich retten, für sich bereithalten. Das war politische Magie, der Versuch, ein Wort zu bannen in dem Glauben an die Wiedergeburt durch das entfesselte Wort. Napoleon parierte kurz und unmutig — man mute ihm zu, Absurditäten zu sagen — und er unterzeichnete den Vertrag nicht. Alexander hatte eine empfindliche außen-

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politische Sdilappe erlitten. Das scheinbare persönliche Bündnis der beiden Kaiser war sichtbar zerrissen. In den folgenden Jahren der Vorbereitung zum zweiten Kampf mit Napoleon gingen Alexanders Absichten in der polnischen Frage mit seinem gesamten politischen Denken wieder in die planende Richtung über. Anfang 1811 ist er innerlich zu dem Ausgangspunkt seiner Polenpolitik zurückgekehrt. Am 6. Januar schreibt er an Czartoryski: „Die Umstände erscheinen mir überaus günstig, um mich einer Idee hinzugeben, die einst mein Lieblingsgedanke war, die ich unter dem Zwang der Umstände schon zweimal beiseiteschieben mußte, niemals war der Augenblick geeigneter." Sechs Wochen später, am 12. Februar, sprach sich Alexander deutlicher aus: „Unter der Wiederherstellung Polens verstehe ich die Wiedervereinigung alles dessen, was einst Polen ausgemacht hat einschließlich der russischen Provinzen mit Ausnahme Weißrußlands, und zwar so, daß Düna, Beresina und Dnjepr die Grenze sein sollen. Eine liberale Konstitution, geeignet, die Wünsche der Bewohner zu befriedigen, ist vorgesehen." Und Alexander stellt nur eine Bedingung: ewige Verbindung dieses neugeschaffenen Polens mit Rußland. Ohne Erklärung bleibt vorläufig diese plötzliche Selbstentäußerung eines russischen Kaisers, dieses scheinbare Vergessen der Gefährdung Rußlands, die Alexander 1809 so deutlidi vor Augen gesehen hatte. Ein Maximalprogramm war umrissen und die polnische politische Phantasie stürzte 9idi in diesen scheinbar noch leeren Raum und erfüllte ihn mit den sonderbarsten Kombinationen. Im April 1811 trägt der Pole Graf Michael Oginski, ein Sohn des Wilnaer Gebiets, dem Kaiser den Plan vor, aus den acht westrussischen Gouvernements eine Verwaltungseinheit unter dem Namen „Großherzogtum Litauen" zu schaffen. Oginski findet die Aufmerksamkeit und den Beifall seines Monarchen, noch mehr, Alexander äußert seine Freude darüber, daß ihre „Ideen einander begegneten", er beschäftige sich seit sechs Monaten mit einer Arbeit, die sich ganz im Sinne dieses Vorschlages bewege. Ohne einander ganz zu durchschauen, finden 16

der Pole und der Kaiser eine Sprache, in der sie sidi zu verstehen scheinen. Geschmeidig versetzt sich Oginski in den russischen Standpunkt: „Man muß Napoleon in dem Vorhaben, Polen wiederherzustellen, zuvorkommen." In der Tat, Alexander mußte für die kommende Auseinandersetzung mit Napoleon nichts mehr fürchten als die Entfesselung des Wortes Polen durch seinen Gegner. Oginski schürte diese Angst und wußte gleichzeitig Rat. „Von dem Augenblidc an, da Napoleon den großen Hebel der Wiederherstellung Polens nicht mehr zu seinen Gunsten spielen lassen könnte, würden notwendigerweise alle seine Parteigänger in jenem Teile Polens, der dem russischen Reiche eingegliedert ist, verschwinden, und im Kriegsfalle wäre man nicht mehr gezwungen, den Feind im Innern zu beobachten und zu bewachen, der oft viel gefährlicher ist als jener, den man mit der Waffe in der Hand bekämpfen muß." . . . Litauen würde ein Bollwerk an der am wenigsten verteidigten Stelle Rußlands werden und gleichzeitig die Herzen der Polen im Herzogtum Warschau an sich ziehen . . . Tatsächlich spielte Alexander seither fast ein Jahr lang mit dem Gedanken, einen zweiten für die Polen geschaffenen Staat neben das Großherzogtum Warschau zu stellen, um die Polen diesseits und jenseits seiner Grenzen, wenn nicht völlig für sich zu gewinnen, so doch in der leicht wandelbaren Erkenntnis ihres politischen Vorteils irre zu machen und in ihrer Stoßkraft an der Seite Napoleons zu schwächen. Niemals aber hätte Alexander ein so folgenschweres Vorhaben erwogen, wenn er ihm rein taktische Bedeutung zugedacht hätte. — Schon war der Finnländer Graf Armfeit, in solchen Fragen erfahren, mit dem Entwurf einer Konstitution für Litauen betraut. — Das „Großherzogtum Litauen" war nur eine Teilkonstruktion im Rahmen eines großen Planes, der erst später erkennbar wird. Ende September des Jahres erklärte der Kaiser vor Oginski: „Eines von beidem muß geschehen, entweder, im Falle des Krieges, schaffe ich ein Königreich Polen, das mit dem russischen Reiche vereint wird, wie Böhmen und Ungarn mit Österreich vereint sind, oder, wenn der Krieg nicht ausbricht, bringe ich F l e i s c h b a c k e r , Russische Antworten.

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unser großes Projekt hinsichtlich Litauens zur Ausführung." Alexander erkennt, daß das litauische Experiment nur im Frieden gewagt werden kann, im Kriege aber oder bei Kriegsgefahr zu gefährlich wäre, eher geeignet, die russischen Sympathien zu verscherzen als die polnischen zu gewinnen. Ende November zieht er sich daher von dem Plan zurüdc: „Was mir Schmerz verursacht, ist, daß wir jetzt nidit die Zeit haben, unser litauisches Projekt auszuführen..." Aber Oginski läßt sich nicht elegant verabschieden, er steigert jetzt die in ebenso elegantes Französisch verstedcte Drohung: „Die stärkste Waffe Napoleons gegen Rußland ist die Wiederherstellung Polens, es steht außer Zweifel, daß man seinen Intentionen zuvorkommen muß, und daß die Stärke der Abwehrmaßnahmen den Angriffsmitteln entsprechen muß. Ich zweifle nicht daran, daß die russischen Armeen den französischen die Stirn bieten werden, aber es sei mir erlaubt, die Möglichkeit zu bezweifeln, daß selbst mit den schärfsten Mitteln die Ruhe in den Grenzgebieten aufrecht erhalten werden kann..." Alexander soll jetzt sofort, ohne die Zwischenstufe eines Großherzogtums Litauen zu betreten, die acht Gouvernements, Wilna, Grodno, Witebsk, Minsk, Mohilev, Kiew, Wolhynien und Podolien, zusammenfassen und zu einem Königreich Polen ausrufen. Der Kaiser ließ die wohlgemeinte Erpressung diesmal ohne Antwort. Im November 1812, „während Napoleon mit seiner Armee vor Kaluga steht", ist Oginski töricht genug, dem Kaiser Rußlands abermals die Verkündung eines Königreichs Polen zu empfehlen. Nein, so durfte Alexander nicht verstanden werden; er lehnte einen Schritt ab, der, zur Zeit, da Napoleon noch tief in Rußland steht, nur „als Prahlerei" erscheinen könnte. Und Alexander wird die Verwirklichung seiner polnischen Pläne so lange hinausschieben, bis die Polen ihm nichts mehr zu geben und nur noch alles zu verdanken haben. Das Jahr 1812 geht zu E n d e . . . Alexander hatte die Entfernungen Feldherrn sein lassen und den Sieg des russischen Werst über die französische Meile abgewartet. Den rüdcfluten18

ten Franzosen folgen die Russen und besetzen das Herzogtum Warschau. Aber noch ist nichts entschieden, und Alexander sucht abermals das Bündnis mit Preußen und Österreich. Die polnische Frage steht noch unausgesprochen zwischen ihm und diesen Mächten. Am 13. Januar schreibt der Kaiser an Czartoryski: „Um meinen Lieblingsgedanken hinsichtlich Polens gelingen zu machen, habe ich trotz meiner augenblicklichen glänzenden Stellung einige Schwierigkeiten zu besiegen . . . eine Veröffentlichung meiner Absichten mit Polen im gegebenen Augenblick würde Österreich und Preußen vollkommen in die Arme Frankreichs w e r f e n . . . " Am gleichen 13. Januar 1813 äußerte Alexander gegenüber dem preußischen Major von Natzmer, die alte Teilung Polens zwischen Österreich, Rußland und Preußen scheine ihm das Beste zu sein, was man in der Folge mit Polen machen könne. 1809 hatte der Kaiser ähnlich gedacht, aber auch damals hatte er die polnischen Hoffnungen auf seine Hilfe erhalten wollen. Sein Gedankenkreis zwischen voller Bejahung und voller Ablehnung der polnischen Frage ist noch immer der gleiche, nur das Schwergewicht seines politischen Wollens hat sich vollkommen in die planende Richtung verschoben. 1809 hatte er die Polen ablenken wollen, jetzt 1813 nahm er es mit dem Begriff der „alten Teilung" nicht sehr genau. Aber wie 1809 so mutete er auch 1813 dem Getäuschten keine volle Täuschung zu. *

Am 17. Februar 1813 überreichte der Oberst von Knesebeck im russischen Hauptquartier zu Kaiisch den preußischen Bündnisentwurf, dessen Artikel V forderte: „Rückgabe jenes Teiles des Herzogtums Warschau, der zu Preußen gehörte mit Ausnahme des Bialystoker Kreises." Mit diesem Augenblick begann der neue diplomatische Kampf der alten Teilungsmächte um Polen. Nicht die preußische Fassung, sondern der russische Gegenentwurf wurde die Grundlage des Bündnisses, das Friedrich Wilhelm III. am 26. Februar zu Breslau und Alexander I. am nächsten Tage zu Kaiisch unterzeichneten — ein Geheim2*

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artikel sicherte dem König zu, daß an „Altpreußen", also Ostpreußen, ein Gebiet angeschlossen werden sollte, „welches sowohl in militärischer wie geographischer Hinsicht diese Provinz mit Schlesien verbindet". Alexander hatte sich nach einem kurzen Versuch, die polnische Frage vollständig von den Bündnisverhandlungen fernzuhalten, rasch gefügt. Seither wird in allen weiteren Vereinbarungen der verbündeten Teilungsmächte das Schicksal des Herzogtums Warschau berührt — aber nur berührt und von Mal zu Mal vorsichtiger. In Paris entschloß man sich, diese peinlichste Frage endgültig auf den kommenden Kongreß zu verschieben. Der erste Pariser Frieden enthielt keine Bestimmungen über Polen, nur der Abdankungsvertrag Napoleons hatte die polnischen Truppen des Kaisers erwähnt; ihnen wurde gestattet, mit Waffen und Dekorationen in die Heimat zurückzukehren. Längst war Alexander entschlossen, den Marsch der Polen nach Rußland in stets wiederholter großartiger Geste als vergeben und vergessen zu erklären. Als er im Januar 1813 an Czartoryski schrieb, „die Rachsucht ist ein Gefühl, das ich nicht kenne", hatte er nur insoferne geheuchelt, als seine vollkommene Unempfindlichkeit für alle Akte der polnischen Feindschaft nicht einem christlichen Verdienst entsprang, sondern politischer Kaltblütigkeit. Alexander wußte von der Stimmung in Rußland: „Die Art, in der sich die polnische Armee bei uns verhalten hat, die Plünderung von Smolensk und Moskau, die Verwüstung des ganzen Landes hat den alten Haß wieder aufleben lassen." Dennoch hofft er „mit Weisheit und Vernunft" auch diese Schwierigkeiten zu besiegen. Er war überzeugt, daß es sich jetzt zwischen Russen und Polen um einen Pakt zu beiderseitigem politischen Vorteil handle, und er war persönlich selbst seinen eigenen polnischen Untertanen aus den Westgebieten gegenüber scheinbar ohne Organ für alles, was als Verrat zu bezeichnen und zu strafen sein souveränes Recht gewesen wäre: Ein großer Plan beschäftigte ihn. Als sich die polnische Emigration und die polnische Heerführung in Paris dem Kaiser näherten, gab Alexander diesen 20

Beziehungen sogleich wieder jenen gesellschaftlichen Charakter, der die Polen 1805 so entzückt hatte, und sprühte von jenen gleißenden überladenen Phrasen, die seinem politischen Ästhetizisimus Bedürfnis und Befriedigung waren. — Auf einem Ball der Gräfin Jablonowska fordert er KoSciuszko auf, in die Heimat zurückzukehren. Als der General einwendet, daß er nur ein freies Polen wiederbetreten werde, wendet sich Alexander an seine Umgebung: „Meine Herren, man muß die Dinge so einrichten, daß dieser Edelmann in sein Vaterland zurückkehren kann..." Und fast hätte man ihn in der noch blendenderen Phrase durchschauen können, die er auf dem Wege zum Wiener Kongreß bei einem neuerlichen Besuch in Pulawy äußerte: „Polen hat drei Feinde: Preußen, Österreich und Rußland, und nur einen Freund — der bin ich."

Die Bestürzung im russischen Lager über alle mit Alexanders polnischen Plänen verbundenen Gefahren beschränkte sich nicht auf die Nationalrussen. Der Schweizer Laharpe, dem Alexander nach wiederholtem eigenen Zeugnis alle seine völkerbeglüdcenden Ideen verdankte, und der Korse Pozzo di Borgo entschlossen sich im Mai 1815 zu einer dringenden Warnung an den Kaiser. Sie hielten die Erwerbung des Herzogtums Warschau aus strategischen Gründen für notwendig, aber sie widerrieten der Neuschöpfung eines Königreichs Polen: „Die Vernunft erfordert es, alles, was mit der Vergrößerung des Territoriums zusammenhängt, von der inneren Regierungsform Polens zu unterscheiden. Das ist eine Frage für sich, die nicht erwogen werden soll, ohne tausend andere zu bedenken, deren Richter Eure Majestät allein ist. Sie allein hat das erste Interesse daran, auszurechnen, welche Wirkung der Titel,König von Polen' vereinigt mit jenem,,Kaiser von Rußland' auf Europa ausüben wird. Falls diese Vereinigung statthaben wird, sollen die polnischen Provinzen, die dem russischen Reich sozusagen ein-

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geschmolzen sind, losgelöst werden, um einen Teil des Königreichs zu bilden? Wenn die polnische Nation einmal in ihrer Masse vereinigt ist, welches wird die Regierungsform sein, die auf ihre neue politische Existenz anwendbar ist, auf ihren Charakter und ihre Sitten? Wird die Regierungsform einen Einfluß auf das russische Reich ausüben und welcher Art? Bis zu welchem Punkt kann die rein politische Verbindung Polens mit der Krone Rußlands als unlösbar bezeichnet werden? Werden Preußen und Österreich, indem sie die Hoffnung verlieren, ihre polnischen Provinzen zu erhalten, nicht wünschen und darauf hinarbeiten, dieses Land ganz unabhängig von Rußland zu machen? Könnte diese Unabhängigkeit nicht alle Polen zusammenschließen und ein allgemeines Interesse Europas und der Türkei werden bis zu einem Punkt, da sich Rußland nicht mehr widersetzen kann?" Alle Schwierigkeiten, die Alexander bevorstanden, sind in diesem Memorandum angedeutet, aber Pozzo, der Diplomat, und Laharpe, der im Augenblick nur um das Staatsinteresse Rußlands besorgte Völkerfreund, unterschätzten die politische Einsicht und das diplomatische Geschick Alexanders.

Zunächst schien es allerdings, als wäre von allen Fragen, die in Wien zur Entscheidung standen, allein die polnische unlösbar. Zwischen Alexander und dem englischen Vertreter Castlereagh entspann sich ein Briefwechsel, der nur beide Teile in Reizung versetzte — zwischen Metternich und Alexander fanden heftigste persönliche Zusammenstöße statt, der Kaiser forderte den Minister zum Duell. — Am 3. Januar 1815 schlössen Österreich, Frankreich und England ein Defensivbündnis, dessen ungenannter Kriegsfall Alexanders polnische Pläne waren. Nur Preußen, dessen Ostinteressen am meisten gefährdet waren,

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hielt sidi zu Rußland, nicht allein deshalb, weil Alexander die Entschädigung Preußens durch ganz Sachsen betrieb. Man fühlte trotz der intriganten Haltung Alexanders, daß Rußland an einem gesunden, starken Preußen interessiert war. Der preußische Staatskanzler Hardenberg sah auch, während die anderen in Quadratkilometern und Titeln rechneten, mit richtigem politischen Blidc voraus, daß man unter der Bedingung einer erträglichen Grenzziehung der Wiederherstellung eines Königreichs Polen unter russischer Herrschaft zustimmen konnte. „Die Macht Rußlands sehe ich eher geschwächt als gestärkt durch dieses neue Polenreich unter dem Zepter desselben Souveräns", — noch war man ja allgemein überzeugt, daß Alexander die russischen Westgebiete zu diesem neuen Polen schlagen werde, „Das eigentliche Rußland verliert sehr stattliche und fruchtbare Provinzen. Verbunden mit dem Herzogtum Warschau werden sie eine ganz verschiedene und viel freisinnigere Verfassung haben als die des Reiches. Die Polen werden Vorrechte haben, welche die Russen nicht haben. Bald wird der Geist der beiden Nationen sich durchaus entgegen sein, ihre Eifersucht wird die Einheit lockern, Verlegenheiten aller Art werden entstehen, und ein Kaiser von Rußland, der zugleich König von Polen ist, wird weniger furchtbar sein als ein Fürst des russischen Reichs, der mit diesem den größten Teil dieses Landes, der ihm nicht streitig gemacht wird, als Provinz vereinigt." — Hardenberg behielt recht, obwohl nicht alle seine Voraussetzungen eintrafen. Alexander hat sich am Ende des diplomatischen Kampfes in Wien zu einer Grenzziehung verstanden, die Preußen und Österreich den Bedürfnissen ihrer Zeit entsprechend als tragbar empfinden konnten. Vielleicht hat der Kaiser dank seiner realpolitischen Einsicht diese Mächte nicht so ungern zu natürlichen Garanten der neuen Territorialordnung in Polen gemacht, wie er sich den Anschein geben mußte, um seine Zugeständnisse vor den Polen zu rechtfertigen. Mit dem Verzicht Rußlands auf Krakau, aus dem man einen Freistaat machte, mit der Rüdegabe des Gouvernements Posen und der Stadt Thorn an Preußen und des Tarnopoler Kreises an Österreich und endlich einigen

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kleineren Grenzverbesserungen war die polnische Frage außenpolitisch beantwortet. Was Alexander brauchte, war ja nicht die Westgrenze Polens vor der ersten oder zweiten Teilung, sondern ein Stüde dieses ehemaligen Staatsgebietes, das ansehnlich genug war, um den Namen Königreich Polen zu führen. Meisterhaft hatte er es verstanden, in dem Kampf um die territoriale Tragfläche dieses allenthalben als gewichtig empfundenen Wortes die beiden Richtungen seiner Polenpolitik, die ideen- und die realpolitische, zu versöhnen und sich selbst endgültig über ihren Schnittpunkt klar zu werden, auf dem das Gleichgewicht in Osteuropa ruhen sollte. Der Kampf mit den Mächten, das Ringen mit sich selbst um diesen Ausgleich war außenpolitischer Natur gewesen — Rußland verdankte Alexander einen neunundneunzigjährigen Frieden mit den Teilungsmächten. Was Kaiser Alexander, als er Wien verließ, noch bevorsteht, ist der Kampf um die innenpolitische Lösung der polnischen Frage; er wird schwerer sein als der außenpolitische, Alexander wird diesmal mehr Geist und Leidenschaft ins Feld schicken als Geschicklichkeit — aber diesen Kampf wird er verlieren.

II. Auch bei der innenpolitischen Wiedergeburt des „royaume de Pologne" standen die Mächte noch Gevatter. Die Gesichtspunkte Hardenbergs hatten Schule gemacht. Alexander sollte seinen Willen haben, gerade durdi die Erfüllung seiner Wünsche sollte die Machtentfaltung Rußlands eher gehemmt als gefördert werden. Jedoch die Diplomatensprache verdarb alles. Die Fassung der Wiener Kongreßakte besagte tatsächlich im Endergebnis „wenig oder nichts", wie ein englischer Diplomat 1831 feststellen mußte, als die Westmächte diesen Vertrag hervorholten, um ihn zum ersten Male gegen Rußland zu gebrauchen. Es handelte sich um wenige Sätze: „Das Herzogtum Warschau wird mit Ausnahme der Provinzen und Distrikte, über die in den folgenden Artikeln an24

ders verfügt ist, mit dem Kaiserreich Rußland vereinigt. Es wird mit diesem unwiderruflich durch seine Konstitution verbunden, um von Seiner Majestät, dem Kaiser von ganz Rußland, seinen Erben und Nachfolgern auf ewige Zeiten besessen zu werden. Seine Majestät behält sich vor, diesem Staat, der sich einer gesonderten Verwaltung erfreuen wird, jene innere Ausdehnung (extension intérieure) zu geben, die er für angemessen halten wird." Das waren mehr verbindliche Aufforderungen als bindende Verpflichtungen. Spätere westliche Diplomatengenerationen werden es trotzdem wenigstens versuchen können, spätere rassische Regierungen mit diesen Formulierungen zu quälen — Alexander konnte im Augenblick alles lächelnd unterschreiben. Er wußte, was niemand vermutete. Sein großer Plan ging über Sinn und Wortlaut der Wiener Schlußakte weit hinaus — und hinweg. Von Wien reiste Kaiser Alexander nach Warschau, wo seit der russischen Besetzung des Herzogtums nach dem Rückzug Napoleons eine halb polnische, halb russische provisorische Regierung tagte und auch der Zesarewitsch Konstantin bereits seines Amtes als Oberstkommandierender der polnischen Truppen waltete. Alexander tat alles, um die Polen zu gewinnen. Stets trat er in polnischer Uniform auf, mit dem Weißen-AdlerOrden dekoriert, umgab sich mit polnischen Adjutanten und richtete in Warschau einen eigenen Hofstaat e i n . . . Dennoch blickten die Polen finster, wie ein russischer Augenzeuge bemerkt, sie hatten volle Unabhängigkeit und die Grenzen von 1772 erwartet...

Nach Warschau eilte auch der Graf Oginski als Führer einer Abordnung der russischen Gouvernements Grodno, Wilna und Minsk. Vor Empfang dieser Deputation sprach Alexander mit dem Grafen unter vier Augen. „Der Kaiser hatte immer die Gewohnheit, sehr schnell und sehr fließend zu sprechen", erinnert sich Oginski in seinen Memoiren, „aber diesmal sprach er wahrhaftig ohne Unterbrechung und mit belebten Bewegungen."

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„Sind Sie nicht Abgeordneter von Litauen?", fragte Alexander den Grafen. „Ich kann es nicht dulden, daß Sie midi um die Vereinigung dieser Provinzen mit Polen bitten, denn man darf nicht glauben, daß es ihr anderen seid, die das verlangen. Man muß überzeugt sein, daß dies aus meinem eigenen Antrieb geschieht. Ich weiß, daß die Beziehungen, die bis zur Gegenwart zwischen Ihren Provinzen und Rußland bestanden haben, Ihnen nicht entsprechen können. Es gibt keinen vernünftig denkenden Menschen, der davon nicht überzeugt wäre. Aber es gibt auch niemanden, der auch nur die Annahme zulassen könnte, daß ich diese Provinzen von Rußland loslösen will. Im Gegenteil, ich will die Bande verstärken, die sie mit meinem Reiche verbinden, und zwar so, daß meine polnischen Untertanen keinen Grund haben, sich zu beklagen . . . Sie sind unzufrieden in Litauen und werden es so länge sein, bis Sie mit den Ihren verschmolzen sind, und sich der Wohltaten einer Konstitution erfreuen. Und dann wird es geschehen, daß ihre Wiedervereinigung mit Rußland ein vollkommenes Vertrauen und eine vollkommene Übereinstimmung zwischen den beiden Nationen herstellen wird. — Meine Gründe, dieses Projekt auszuführen, werden noch vertiefter 9ein, wenn ich auch in Zukunft Anlaß haben werde, mit der Armee und dem zivilen Leben ebenso zufrieden zu sein, wie ich es jetzt b i n . . . Wenn ich diese Regierung als Muster anführen könnte (citer pour modèle) — und man sehen würde, daß daraus kein Schaden für das Reich entsteht, dann wird es mir leicht sein, das übrige zu verwirklichen . . . " Keine Äußerung Alexanders über seine Polenpolitik scheint undurchsichtiger als diese, und doch ist keine klarer. Niemals hat sich der Kaiser — soweit historische Zeugnisse reichen — über seinen großen Plan erschöpfender ausgesprochen. Ein Satz scheint den anderen aufzuheben, und doch ergibt die Summe dieser dialektisch aneinandergereihten Widersprüche eines Rätsels Lösung: Alexander ist noch tief davon überzeugt, daß der polnische Charakter der Oberschicht im russischen Westgebiet entscheidend ist, und daß Rußland dieses Land nicht halten kann außer im Rahmen einer Gesamtlösung des polnischen Problems.

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Er betrachtet jenes Polen, das diese Gesamtlösung darstellen soll, als geeignetes Versuchsfeld für die Anwendbarkeit einer Verfassung unter seiner Herrschaft, als Keimzelle, er will eine solche Verfassung in seinem ganzen Reiche einführen. Dabei sollen die Westgebiete, seit den Teilungen zu Rußland gehörig, als halb nach Polen und halb nach Rußland blickendes Zwischenglied das überfließen des Verfassungslebens nach Altrußland vorbereiten und vermitteln, und das alles überwölbende Ziel dieser Maßnahmen und dieser Entwicklung ist die Reichseinheit. Rußland ist nicht benachteiligt, im Gegenteil, der große Plan soll seine ungeteilte Kraft erst schaffen. Alle Widersprüche einer fast fünfzehnjährigen Regierung lösen sich in diesem Plan. Das scheinbare Schwanken zwischen liberaler Spielerei und autokratischer Hinterhältigkeit klärt sich als das Schillern eines sehr tiefen und sehr schwierigen Grundgedankens. Alle Doppelzüngigkeit des Kaisers hatte nicht nach raschem Erfolg haschendem Leichtsinn gedient, sondern nur ein Endziel vor den Ohren aller jener zerredet, die nicht ganz befriedigt, aber auch nicht ganz enttäuscht werden sollten. Aus beweisenden Einzelheiten wird der Plan sichtbar. Schon 1809 hat Speranskij, der einflußreichste Mitarbeiter Alexanders in diesen Jahren, im Allerhöchsten Auftrage einen Verfassungsentwurf für das russische Reich ausgearbeitet, und im kleinen politischen Raum hatte der Kaiser noch im selben Jahre verwirklicht, was er mit Polen im größeren Maßstabe plante. Nach der Eroberung Finnlands hatte er dem neuerworbenen Gebiet eine Verfassung gegeben und 1811 das sogenannte Altfinnland, die Eroberungen Peters des Großen und der Kaiserin Elisabeth, diesem „Großherzogtum Finnland" rückgegliedert. 1811 war auch der Speranskijsche Verfassungsentwurf in das russische Staatsleben eingetreten, allerdings hatte man nur den als Krönung des Ganzen gedachten Reichsrat ohne repräsentativen Charakter eingerichtet. Aber 1819 wird Nowosiljzev, der Vertrauensmann Alexanders in Polen, eine neue Konstitution für Rußland entwerfen, deren Artikel 1 lauten wird: „Das russische Reich mit allen seinen Herrschaftsgebieten,

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die ihm, unter welcher Bezeichnung auch immer, einverleibt sind, wird in große Gebiete eingeteilt, die den Namen Statthalterschaften tragen." Und der Artikel 100 bestimmt — halb im Bann der polnischen Terminologie: „Der Reichssejm (die Reichsduma) zerfällt in die einzelnen Sejms der Statthalterschaften und in die allgemeine Reichsduma oder Sejm . . . " Das ist Alexanders Ziel: in der Gesamtverfassung werden sidi die Sonderverfassungen der historischen Einheiten organisch eingliedern und im Gleichgewicht halten, die Reichsduma wird die Kuppel eines ebenmäßigen Staatsbaues sein. 1809war Alexander vor den Beispielen Irlands und Ungarns zurückgeschreckt, 1811 aber hatte er den Polen versprochen, ihr Land nach diesen Vorbildern mit dem russischen Reich zu verbinden. Das Projekt Nowosiljzevs wollte beides, die Befürchtungen und das Versprechen durch höhere staatsrechtliche Formen überwinden. In der Nacht vom 16. zum 17. Oktober 1819 wird Alexander den Nowosiljzevsdien Entwurf als Grundlage der künftigen Verfassung des russischen Reiches annehmen . . . Wirklich groß war der Plan, fehlerlos die geistige Skizze, aber ohne Sicht in das Wesen zweier Völker, mit geschlossenen Augen erdacht. 1815 — Alexander stand auf der h|öhe seines mit soviel Vorsicht errungenen außenpolitischen Erfolges. — Er stürzte sich in das innenpolitische Risiko. Wenn die Voraussetzungen seines Planes falsch waren, wenn der Versuch mißglückte, wenn alle Hoffnungen und Befürchtungen hüben und drüben nur gereizt und nicht gelöst wurden . . . ? Zwei Voraussetzungen hatte Alexanders großer Plan. Die erste: der Kaiser wertet die politischen Kräfte des Polentums allgemein, er sieht über ihren rein nationalen Charakter hinweg. Befangen in diesem Irrtum hat er die Westgebiete als hohen Einsatz in sein hohes Spiel geworfen. Eine doppelte Rolle hat er ihrer Zwischenstellung zugedacht, das übrige Polen nach sich zu ziehen und mit dem Reich zu verklammern und gleichzeitig nach dem Innern Rußlands hin eine politische Kultur auszustrahlen, die den Russen- mangelt. Seit dem Regierungsantritt des Kaisers

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darf Czartoryski in seiner Eigenschaft als Kurator der Universität Wilna im gesatnten Westgebiet eine polnische Kulturpolitik treiben, deren Ausmaße und Wirkung in den späteren russischen Klagen übertrieben scheinen müßten, wären sie nicht durch die Begeisterung der politisch so schwer zu befriedigenden Polen über die Erfolge des Fürsten bezeugt. Alexander will in seiner Hoffnung auf einen Ausgleich zwischen der politischen Besessenheit der Polen und der politischen Unerwedctheit der Russen nicht sehen, daß Czartoryskis Tätigkeit nur auf eine Polonisierung, nicht auf eine Verbreitung einer allgemein wertvollen staatspolitischen Bildung und Gesinnung hinausläuft. Auch die zweite Voraussetzung Alexanders ist halb liberal. Aus der Überzeugung der Aufklärung von dem übernationalen Wert gleichbleibender freiheitlicher Einrichtungen stammt seine Hoffnung auf die völkerverbindende Kraft einer Konstitution. Demgegenüber ist Alexanders Glaube an das Band einer Stammesverwandtschaft zwischen Russen und Polen sehr schwach entwickelt, gelegentliche Äußerungen in diesem Sinne sind kaum mehr als Dekoration. Aber Alexanders Vertrauen in den Konstitutionalismus ist auch halb autokratisch; völlig aus dem Bewußtsein der Selbstherrschaft stammt seine Überzeugung, daß er alle zugleich mit dem liberalen Segen beschworenen Gefahren wird bannen können.. Seine Sejmreden werden von diesem Glauben Zeugnis ablegen. Eigenartig genug ist ja Alexanders Verhältnis zu dem Begriff Konstitution als solchem. Was der Kaiser suchte, war zweifellos jener Widerstand, an dem man wächst, an dem der geborene Selbstherrscher erst das Gefühl des Herrschens gewinnt — bedeutende Zaren hatten den Gegenspieler immer gesucht —, aber eine Konstitution als Bindung und Teilung der obersten Gewalt war Alexanders selbstherrlichem Empfinden völlig fremd. Schon 1817 ließ er dem Vizekönig Zajonczek sagen: „Seine Majestät hält die Wohltaten, mit denen er die Polen überhäuft hat, keineswegs für unwiderruflich. Seine Einrichtungen sind verbindlich für die Nation, aber nicht für ihn", er werde im Notfall zwischen Form und Wesen zu unterscheiden wissen. Audi hatte Alexander die „Charte con29

stitutionelle du royaume de Pologne" unmittelbar nach ihrer Verleihung schon verletzt. Das Amt eines kaiserlichen Kommissars, das Nowosiljzev in Warschau bekleidete, war in ihr nicht vorgesehen. Alexander war zu wenig Mensch, um jene brutale Gegnerschaft des nadcten Lebens zu begrüßen und zu begreifen, wie sie etwa Peter der Große in der täglichen Arbeit seiner Hände und seines Geistes gesucht und gemeistert hatte — er suchte die Befreiung von seiner Herrsdiereinsamkeit in einer ästhetischen Form. Er hoffte auf ein großartiges Schauspiel, auf ein gesteigertes Pathos, und fühlte sich Künstler genug, um selbst Dichter und Hauptakteur abzugeben und die interessante Spannung zwischen Herrscher und Volksvertretung zu voller Harmonie zu lösen. Niemals hätte er das Wesen des Konstitutionalismus, jenes „organisierte Mißtrauen zwischen Volk und oberster Gewalt", wie ein echter Russe vierzig Jahre später sagte, so tief verkannt, wenn sein Bedürfnis nach dem echten Partner echt gewesen wäre. Nur noch ästhetisch vollkommen, aber schon dekadent, verkörpert sich so in Alexander noch einmal der russische Herrscher, der Qosudarj, der Revolutionär von oben, der Einzelne, der ein Reich meistert, der Sucher nach dem Gegenspieler als der Ergänzung seines Wesens und Wissens und als Prüfstein seiner inneren Unabhängigkeit. Alexander suchte nur noch die äußere Form dieser Partnerschaft, den Reiz und nicht die Mühsal. So waren die Voraussetzungen des großen Planes falsch, falsch die Vorstellung vom politischen Polen, falsch der Begriff vom Wesen des Konstitutionalismus. Daß Alexander das allrussische Ziel in diesem Zwielicht nicht erreichen konnte, war nur eine Folge. „Es wird schwer sein, mehr Geist zu besitzen als der Kaiser Alexander, aber ich finde, daß da irgend etwas fehlt, und es ist mir unmöglich zu entdecken was" — das ist ein Wort Napoleons. — Was „da fehlte" an Alexander, das war die Brücke zwischen Denken und Tun und der natürliche Ausgleich zwischen Einsicht und Idee. Der große Korse konnte das nicht verstehen,

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ohne Zögern stürzten sich seine Gedanken in den Kampf um die Erfüllung, aber Alexander der Realpolitiker und Alexander der Ideenpolitiker waren zwei verschiedene Menschen, die einander mehr hinderten als halfen. Immer wenn Phantasie und Wirklichkeit einander berührten, fühlte Kaiser Alexander die Kluft zwischen seinem Wollen und seiner Tat. In diesem bodenlosen Raum hausen die Ängste vor dem Leben, die Neigung zum Mystizismus, der Wunsch, dem Throne zu entsagen. Und jedesmal, wenn sein schöpferisches inneres Sehen am Tageslicht erblindet, flüchtet er in den Entwicklungsgedanken und hüllt sich, nachdem jedermann beunruhigt ist, in Geheimniskrämerei... er hat die Absicht, Polen in einer Gesamtverfassung an Rußland zu schmieden, niemals ausgeführt, nicht einmal offen ausgesprochen. Ein Rückblick Speranskijs auf das Schicksal seines Verfassungsentwurfs von 1809 ist gleichzeitig eine Warnung und eine Weissagung an der Wiege des zweiten größeren Plans: „Glänzender wäre es vielleicht gewesen, wenn man alle Einrichtungen dieses Projektes zugleich vorbereitet und eröffnet hätte: dann wären sie in ihrer Fülle und Ordnung erschienen und hätten keine Verwirrung hervorgerufen. Aber Eure Majestät zogen die Sicherheit diesem Glänze vor und erkannten es für besser, einige Zeit den Vorwurf einer gewissen Verwirrung zu ertragen als plötzlich alles auf einmal zu ändern, ohne Grundlage als die der Theorie allein. Jedoch, wie begründet diese Vorsicht auch war, später wurde sie zur Quelle falscher Befürchtungen und unrichtiger Begriffe. Da man den Plan der Regierung nicht kannte, beurteilte man ihre Absichten nach Bruchstücken, tadelte, was man nicht durchschaute, und befürchtete, weil man Ziel und Ende der Veränderungen nicht absah, schädliche Neuerungen." III. Die Stimmung der Russen über Alexanders Polenpolitik war von Anfang an schlecht. Der Oberstkommandierende in Polen, der 31

Zesarewitsch Konstantin Pawlowitsch, begnügte sich allerdings damit, die Konstitution „zum Gegenstand seiner unaufhörlichen Sarkasmen zu machen", und die Vorstellungen der Polen von den Befugnisgrenzen eines rein militärischen Oberbefehlshabers empfindlich zu verletzen. „Alles, was Regel, Form, Gesetz ist, bedeckt er mit Lächerlichkeit", schrieb Czartoiyski wehklagend an Alexander, „ein Feind könnte Eurer Majestät nicht mehr schaden." Konstantin müsse unbedingt abberufen werden, und Fürst Adam legte seinem Brief den Entwurf des Absetzungsdekretes gleich bei. Wieder blieb Alexander unempfindlich gegen die Anmaßung, es war ihm nichts Neues, daß ihm Polen unaufgefordert fertige Manifeste oder Ukase zur Unterschrift vorlegten, er pflegte solche Erpressungen gleichsam zu übersehen. Es war auch überflüssig, den Kaiser über die geringe Anpassungsfähigkeit des Zesarewitsch in konstitutioneller Atmosphäre eigens aufzuklären. Alexander hatte den Bruder gerade deshalb nach Polen gesetzt, weil er ihn für geistig unbestechlich hielt, für unfähig, fremden Einflüssen zu unterliegen, für einen unwandelbaren instinktmäßigen Vertreter der Selbstherrschaft, der das Gleichgewicht im politischen Hasardspiel in Polen verbürgen werde. Ebenso hatte Alexander einst 1807 den Grafen Piotr Alexandrowitsch Tolstoj, einen dickköpfigen, ungewandten Mann, der die Abneigung der Russen gegen Alexanders scheinbaren französischen Kurs geradezu verkörperte, als außerordentlichen Gesandten zu Napoleon geschickt. Vergeblich hatte sidi Tolstoj selbst zu wiederholten Malen als unfähig für seinen Posten zur Abberufung angepriesen — es war eben Alexanders Art, dort, wor er es für gut fand, selbst nachgiebig zu scheinen, starre, schwierige Menschen als Vertreter einzusetzen. Konstantin sollte das verkörperte Mißtrauen Alexanders in Polen sein — Czartoryski schalt als schlechter Psychologe eben das, was Alexander schätzte. Dem unklugen Fürsten stand eine schwere Strafe, eine furchtbare Enttäuschung bevor, Alexander wird nicht ihn zum Vizekönig in Polen machen, sondern den alten, harmlosen General Zajonczek. Aber beide, Alexander ebenso wie Czartoryski, täuschten sich in Konstantin. Der 32

Zesarewitsch war in seinem Herzen ein vollkommen unpolitischer Mensch, er fand Freude an der polnischen Armee und verwuchs in den nächsten Jahren so vollkommen mit ihr und dem Lande, daß er zum Anwalt der Polen wurde. Tiefer als Konstantin Pawlowitsdi sahen politisch denkende Russen. Schon im Mai 1815 blickte Lanskoj, der Präsident der provisorischen Regierung in Warschau, mit düsteren Ahnungen in die Zukunft und verbarg seine Sorgen dem Kaiser nicht. „In der polnischen Armee nähren wir eine Schlange . . . in keinem Fall kann man auf die Polen rechnen." Im September 1816 äußerte der Generaladjutant und spätere Innenminister A. A. Sakrewskij: „Das wahnwitzige Königreich Polen kann den Russen niemals gut werden, wenn man die Polen auch noch so sehr verhätschelt." Michajlowskij-Danilewskij, ein anderer Adjutant des Kaisers, hörte im gleichen Jahre während einer Reise durch die Westgebiete die heftigsten Klagen der dortigen russischen Beamten, die Polen seien mit allen Kräften bemüht, sie zu verdrängen. Das waren vorläufig Sorgen und Beschwerden, aber die Rüdewirkung der Polenpolitik Alexanders auf Rußland griff unsichtbar und gefährlich schon tiefer. Die eben in Rußland entstehenden ersten Geheimgesellschaften, die Vorläufer der „Dekabristen", empfanden für den liberalen Kaiser keine Begeisterung. Als der „Bund der Rettung" von der Absicht Alexanders erfuhr, die Westgebiete von Rußland zu lösen, trat er zusammen und beschloß nach den Worten eines seiner Mitglieder, Sergej Murawjov-Apostols, „eher alles zu tun, als diese Abtretung zuzulassen" — und in diesem Zusammenhang fiel zum ersten Male die Losung zum Zarenmord...

Im Mai 1818 eröffnete dann Alexander seinen ersten Sejm. Mit Mühe konnte Capo d'Istria verhindern, daß der Kaiser bei dieser Gelegenheit einen Vergleich zwischen Polen und Russen zog, und das Versprechen, die Westgouvemements an Polen zu geben, offen aussprach. Des Grafen weitere Einwände blieben unberücksichtigt. Alexander fieberte nach dem Publikum F l e i s c h h a c k e r , Russische Antworten.

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und wollte etwas bieten. Seine Thronrede schwelgte in der Entfaltung seines politischen Ästhetizismus: „Vertreter des Königreichs Polen! . . . d i e in Eurem Lande herrschende Organisation gestattete mir, was ich Euch sdienkte, sogleich zur Ausführung zu bringen und die Prinzipien liberaler Einrichtungen sofort in die Praxis umzusetzen... und ich hoffe, ihren heilsamen Einfluß mit Gottes Hilfe auf alle Länder auszudehnen, weldie die Vorsehung meiner Führung anvertraut hat. So habt Ihr mir die Mittel gegeben, meinem Vaterlande das zu zeigen, was ich ihm schon seit langen Jahren vorbereite, und was ihm zufallen wird, wenn die Voraussetzungen einer so wichtigen Sache die nötige Reife erlangt haben werden. Vertreter des Königreichs Polen! Bemüht Euch, die Höhe Eurer Bestimmung zu erreichen. Ihr seid berufen, Europa, das seine Blicke auf Euch gerichtet hat, ein großes Beispiel zu geben. Zeigt Euren Zeitgenossen, daß liberale Einrichtungen, deren geheiligte Grundsätze mit den zersetzenden Lehren verwechselt werden, die in unseren Tagen die gesellschaftliche Ordnung bedrohen, kein gefährlicher Traum s i n d . . . " Der Sejm verlief dann sozusagen programmgemäß, nur eine Vorlage der Regierung fand keine Mehrheit. Das war gerade jene Prise Salz, die Alexander gewünscht hatte, und er gestand dies auch ganz naiv ein. „Ich habe dem Beifall geklatscht", sagte er in seiner Schlußrede, „denn idi sehe darin die Unabhängigkeit Eurer Meinung." Konstantin Pawlowitsdi tröstete sich dank seinem Mangel an politischer Einsicht über die Eindrücke dieses ersten Sejms mit köstlichem Humor. Er schrieb an einen Vertrauten: „Ich sdiidce Ihnen ein Programm der Gratisvorstellung, die am 15. im Schlosse stattgefunden, und bei welcher ich in der Volksmenge Figur machte, indem ich die Rolle des Abgeordneten von Praga spielte..." In der Tat hatte Konstantin gutmütig die Farce einer solchen Wahl über sich ergehen lassen. Aber die Umgebung Alexanders in Warschau urteilte mit Bitterkeit und Schärfe. Die Rede des Kaisers sei beleidigend für das russische Selbstgefühl gewesen. — „Die Russen waren in Warschau gleichsam nicht 34

vorhanden — die Polen standen überall an erster Stelle, als ob sie und sie allein den Typ aller Fähigkeiten darstellten und die Russen alles bei ihnen lernen sollten. Ein solcher Zustand war unnatürlich und konnte nidit von langer Dauer sein. Die Polen träumten mehr von sich, als die Vernunft zugelassen hätte, und plauderten ihre Überheblichkeit unentwegt aus, die Russen schwiegen, aber verbargen die Verletzung ihres Nationalgefühls tief." Während einer Parade in Warschau fanden sich drei hohe russische Offiziere: Paskjewitsch trat an Miloradowitsch und Ostermann heran — : „Was soll aus all dem werden?" fragte er, und Ostermann antwortete: „Was daraus werden soll? In zehn Jahren wirst du sie im Sturm nehmen." „Er irrte nur um drei Jahre", fügt Paskjewitsch in seinen Memoiren kalt hinzu. Der nachmals berühmte General Jermolov schrieb zur gleichen Zeit: „Besten Dank für die herrliche Rede, die den neuen Untertanen des Königreichs Polen gehalten wurde. Glüddich mögen die Polen durch solche Fürsorge sein, und der Hochmut, der diesem überheblichen Volke eigen ist, nährt sidi daran, daß sie uns in der Folge zum Beispiel dienen sollen. Das Schicksal hat ihnen keinen anderen Triumph über uns gegeben, so will man ihnen wenigstens hinsichtlich der Bildung schmeicheln... idi glaube, die Vorsehung wird uns nicht bis zu jener Erniedrigung f ü h r e n . . . " Aber die bedenklichste Ablehnung der Polenpolitik Alexanders lag vielleicht in der Kälte, in dem Abstand, in der Ironie der nächsten Männer des Kaisers. Sieben Adjutanten umstanden während der Sejmreden seinen Thron, sie wechselten nur hin und wieder Blicke und kamen später darin überein, daß der Kaiser seine rhetorische Leistung mehrmals vor dem Spiegel geprobt haben müsse. Midiajlowskij-Danilewskij schrieb in sein Tagebuch: „Ohne Zweifel, es war sehr interessant, solche Worte aus dem Munde eines Selbstherrschers zu hören, aber man muß erst sehen, dachte ich, ob dieses Vorhaben ausgeführt wird. Peter der Große sagte nicht, daß die Russen unzivilisiert seien, und daß er die Absicht habe, sie zu kultivieren — er bildete sie ohne alle weiteren Einleitungen —." 3«

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In Rußland selbst äußerte der alternde Karamsin resignierte Sorgen um eine Jugend, die fortan im Wachen und im Traume nur noch die Konstitution sah, Sorgen, die sich als berechtigt erwiesen. Es war die besondere Tragik des großen Planes Alexanders, daß die Verkettung von Verfassungs- und Polenpolitik die russische Jugend in zwei ganz verschiedenen Richtungen zur Revolution führte. Aus den Reihen derselben jungen Leute, die 1817 Alexander töten wollten, weil er bereit schien, die Westgebiete an Polen zu geben, gingen die Dekabristen, die Träger des großen Militäraufstandes von 1825, hervor, deren Ziel es war, Rußland zu einem Verfassungsstaat zu machen. Indessen suchte auch der russische „Krepostnik", der adelige Herr über leibeigene „Seelen", sich den Sinn der gefährlichen Sejmrede Alexanders klar zu machen. Speranskij beobachtete Anfälle von Angst und Niedergeschlagenheit des Adels und befürchtete Bauernunruhen: „Was soll man denn von den Bauern verlangen, wenn schon die Gutsbesitzer zwischen politischer und bürgerlicher Freiheit nicht unterscheiden können." Es liegt ein seltsames Beispiel für die Verbildung durch politischen Doktrinarismus darin, daß der beschränkte „Krepostnik" die natürlichen Zusammenhänge im Grunde besser begriff als der Kaiser und sein Staatsmann, die beide auf der Höhe der politischen Bildung ihrer Zeit standen. Speranskij sah den Weg von der „politischen" zur „bürgerlichen" Freiheit vor sich, mit anderen Worten den Weg von der feudalen politischen Privilegierung der oberen Schichten zur sozialen Erlösung und bürgerlichen Gleichberechtigung der Massen. Alexanders Gedanken in dieser Frage mochten nicht viel anders sein, und die „Krepostniki" hatten unmittelbar nicht viel zu befürchten — aber sie besaßen die feinere politische Witterung. In der Tat erfolgte die Verleihung der politischen und sozialen Rechte in Rußland in umgekehrter Reihenfolge. Auf die Bauernbefreiung von 1861 folgte — erst 1905 — die Gewährung politischer Rechte an die Untertanen. Mit den Polen selbst war der Kaiser vorläufig zufrieden. 1819 studierte er die Akte der polnisch-litauischen Union, und im selben Jahre vollzog er einen ersten Schritt zur Wiederherstel-

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lung dieser Union. Durch Ukas vom 29. Juni dieses Jahres wurden das Königreich und die Gouvernements Wilna, Minsk, Wolhynien und Podolien in militärischer Hinsicht zusammengefaßt und dem Oberkommando Konstantins unterstellt — die politische Ergänzung dieser Maßnahme schien nur noch eine Frage der Zeit. — Da fiel der alte Karamsin dem Kaiser beschwörend in den Arm. Er sprach diesmal nicht als Historiograph, nicht als Vater der russischen Geschichtsschreibung, er sprach als nationalrussischer Politiker. Er verzichtete darauf, den historischen Anspruch Rußlands auf die Westgebiete geltend zu machen und gegen den polnischen abzuwiegen. „Alte Rechtstitel gibt es in der Politik nicht, wir haben Polen mit dem Schwerte genommen, das ist unser Recht!" Und er drohte mit verzweifelter Leidenschaft: „Wir verzeihen den Polen, aber niemals würden wir Russen Ihnen verzeihen, wenn Sie für das Beifallsklatschen der Polen uns in Verzweiflung stürzten. Ich höre die Russen reden, und ich kenne sie. Wir würden nicht nur herrliche Gebiete verlieren, sondern auch die Liebe zum Zaren. Unsere Seelen würden auch für das Vaterland erkalten, wenn wir sehen müßten, daß es nur ein Spielzeug selbstherrlicher Willkür ist!" Und wirklich, Alexander hat die Grenzen des Königreichs Polen, dessen „extension interieure", nicht mehr geändert. Zu dem Widerstand der Russen kamen bald Enttäuschungen über die Polen selbst, und die Furcht vor der europäischen Revolution. Schon in der Eröffnungsrede zum zweiten Sejm sprach der Kaiser von dem „Geist des Bösen", der jetzt über Europa seine Schwingen breite. Ein lärmender Reichstag, der alle Regierungsvorlagen ablehnte, erschütterte dann seine in die Polen gesetzten Hoffnungen auf das tiefste. Seine Schlußrede war mehr bitter als zürnend und ohne Kraft. Alexander stand am Ende seiner Tage, er wagte es nicht, sich das Scheitern dieses Herrscherlebens ganz zu gestehen. In seiner alten Verkennung des Wesens des Konstitutionalismus sdiob er die radikale Stimmung des Sejms den Galerien zu und hoffte durch Aufhebung der Öffentlichkeit der Sitzungen aus ihm doch noch jenes Instrument zu

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machen, das er als Hebel seines großen Planes erdadit hatte. In der Tat traf man 1824 durch einige empfindliche Verfassungsverletzungen Vorsorge dafür, daß der letzte Sejm ruhig verlief. Und Alexander versprach anläßlich dieses letzten Aufenthaltes in Warschau abermals den Anschluß der Westgebiete an das Königreich. Dieses neuerliche Versprechen war gleichsam das letzte Wort der Polenpolitik Alexanders I. — eine Deutung erübrigt sich. In Alexanders Regierung fällt nur noch — ein Vortakt zum Nachspiel seiner Polenpolitik. Die russischen Verschwörer näherten sich den polnischen, die „Dekabristen" der „patriotischen Gesellschaft". Das polnisch-russisdie Hauptproblem war in den Tiefen der Verschwörerarbeit dasselbe wie in den Höhen der kaiserlichen Politik — die Grenzen von 1772. Pestel, einer der führenden Köpfe der Dekabristen, trat allerdings für eine den Polen sehr günstige künftige Grenzziehung ein, die weit in das russische Staatsgebiet einschneiden sollte. Diese Abtretungen unterwarf er jedoch Bedingungen, welche die ebenfalls nur bedingt zugestandene Unabhängigkeit Polens vollkommen aufgehoben hätten. Eine gewisse Ähnlichkeit dieser Gedanken Pesteis mit dem großen Plan Alexanders ist unverkennbar. Aber der Widerstand seiner Mitverschworenen selbst gegen eine solche Lösung war leidenschaftlich. Und gerade aus dem Kreise der Dekabristen erscholl eine Losung, die Karamsin dem Kaiser gegenüber unterdrückt hatte. Man bezeichnete die Westgebiete als „uraltes Vaterland der Russen", und selbst Pestel nannte sie, zum Teil in Widerspruch zu seiner Grenzziehung, die „Wiege des russischen Staates". Alexander hinterließ keine Schule — nur Verwirrung.

IV. Am 1. Dezember 1825 ist Kaiser Alexander I. in Taganrog gestorben, es war als ob ein Vorhang fiele, nicht mehr, des Kaisers Hand hatte sich seit Jahren nur noch marionettenhaft

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geregt, aber das Bild einer Herrschaft, die bis zuletzt seine Züge getragen hatte, war jetzt erloschen. Dem Tode Alexanders folgten die bekannten Mißverständnisse in der Thronfolgefrage. Konstantin Pawlowitsdi hatte nach seiner morganatischen Ehe mit einer polnischen Gräfin längst der Nachfolge entsagt, es war ganz Alexanders Art gewesen, diesen Verzicht als Familiengeheimnis zu behandeln, den nächstberechtigten fast zwanzig Jahre jüngeren Bruder Nikolaj Pawlowitsdi nur ungenügend zu unterrichten und die Verzichtsurkunde so ausgezeichnet zu verstecken, daß sie im notwendigen Augenblick nicht zu finden war. Die „Dekabristen" nützten die Verwirrung, sie tragen ihren Namen von dem Aufstand, den sie am 14. Dezember alten Stils zu entfesseln versuchten. Kaiser Nikolaus I. übernahm am 24. Dezember die Herrschaft. Rußland ging ohne merkbare Erschütterungen aus diesen unruhigen Tagen hervor, es verlor n u r die Blüte einer ersten politischen Jugend, die Alexander besessen zu madien, aber nicht zu erziehen und zu leiten verstanden hatte, die glaubte, was der Kaiser 1818 verkündet hatte, 1825 erzwingen zu können. Nikolaj Pawlowitsdi sah die Zusammenhänge, aber er hatte kein Verständnis für den Zwang, „denn es sind ungeheuer verschiedene Dinge, ob man etwas fast Versprochenes wünscht oder der Regierung in ihren Maßnahmen zuvorkommen will auf eine geheime und daher schuldhafte W e i s e . . . " Einige Jahre später studierte er die Sejmreden seines Bruders, sein Herz wurde bitter. — „Hier haben wir eine der ersten Ursachen der Ereignisse vom 14. Dezember." Die polnischen Geheimgesellschaften hatten an dem Aufstand der Dekabristen nicht mitgewirkt, aber die Verhöre legten bald die unterirdischen russisch-polnischen Beziehungen bloß. Kaiser Nikolaus stieß so gleich am Anfang seiner Regierung auch auf den polnischen Verschwörer, erfuhr, daß er sich die Grenzen von 1772 verbissen zum Ziel gesetzt hatte, und daß er vom Ausland, von England, Geld erhielt. Nikolaus erfuhr noch mehr — die Aussagen der Dekabristen eröffneten die ganze Tragweite der Polenpolitik Alexanders. Der Generaladjutant des

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Kaisers, Graf Benckendorff, schrieb an den Feldmarschall Diebitsdi: „Diese große polnische Frage ist der Stein des Anstoßes, an dem die Liebe der Russen zu Kaiser Alexander zerschellt ist Wir haben dies während der Verhöre mehr als klar gefühlt und gesehen." Dieser Eindruck haftete in Nikolaus sehr tief, er war überzeugt, selbst wenn er den Polen die Westgouvernements geben wollte, wäre ihm dies nicht möglidi, „meine Familie und ich würden in dem Sturm zugrunde gehen, der sich dann erhöbe". Und nun beginnt, gleichzeitig mit diesen Erfahrungen des Kaisers jene merkwürdige und verhängnisvolle Rolle Konstantins in der polnischen Frage, die nur aus einem völligen Mangel an politischem Instinkt, seiner Liebe zu Polen, zumal zur polnischen Armee, und seiner grenzenlosen Verehrung für den verstorbenen kaiserlichen Bruder erklärt werden kann. Ein erster Prozeß gegen die polnische „patriotische Gesellschaft" hatte noch zu Lebzeiten Alexanders stattgefunden. Schon damals hatte der Zesarewitsdi sich lange gesträubt, an eine Verschwörung seiner polnischen Offiziere zu glauben und hinter allen Anzeichen nur die Intrigen der Emigration und des Auslandes vermutet. Auch nach den ersten Nachrichten vom Aufstand der Dekabristen frohlockte er, daß noch kein Name jener kompromittiert sei, die Alexander seinem Befehl anvertraut habe. Als Konstantin diese Hoffnung getäuscht sah, versuchte er dem Kaiser die Ziele der polnischen Geheimgesellschaft nahe zu bringen und verständlich zu machen. „Lesen Sie den Schluß des Briefes des dahingegangenen Kaisers an KoSciuszko", schrieb er am 17. Februar 1826 an Nikolaus, „und Sie werden darin die Enträtselung dieser ganzen nationalen Gesellschaft finden." Und einem Vertrauten entwickelte er, mit der Bitte, dem Kaiser davon Mitteilung zu machen, folgende Gedanken: „In der Aussage der Polen sehe ich nur die natürliche Folge . . . jener Reden, die während der drei Sejms von der Höhe des Throns verkündet wurden. Außerdem sehen diese Herren, daß Altfinnland an das neue angegliedert wurde und nicht umgekehrt; jetzt frage ich Sie, wie wollen Sie, daß ein solches Beispiel ihnen nicht den Kopf

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verdrehe." — „Notre ange" nannte die kaiserliche Familie den dahingegangenen Alexander — das war eine merkwürdige Verlagerung der Schuld des Toten in ein unberührbares Gebiet, eine Untertanehtreue kaiserlicher Brüder, die ohne Beispiel ist, ein resigniertes „zu gut für diese Welt" im Anblick unabsehbarer irdischer Fehler. Alexander war zu schwach gewesen, seinen großen Plan durchzuführen, und zu schwach, ihn aufzugeben. Er hatte zwei völlig wesensverschiedene Staatsgebilde mehr aneinander gekettet als verbunden, und zudem noch den Zankapfel riesiger Gebiete zwischen beide geworfen. Der Ausgleich, den er beabsichtigt hatte, aber versäumte, erfolgte dann explosiv. 1825 hatte Rußland den ersten Versuch zu einer Revolution im modernen Sinne des Begriffs erlebt, 1831 werden sich die Polen erheben... Völlig einander unähnlich waren die Söhne Kaiser Pauls. Nikolaus besaß nichts von der morbiden Geistigkeit Alexanders, aber er krankte auch nicht an der politischen Unfähigkeit Konstantins. Er war nüchtern und ohne schöpferische Gedanken, aber pflichtbewußt und leidenschaftlich, und aus allen diesen Gründen überzeugt, daß die Erhaltung des Bestehenden seine höchste Aufgabe und die einzige Rettung vor den Mächten der Zerstörung sei. In diesen Rahmen der Erhaltung des Bestehenden fiel auch die Wahrung der dem Kaiser innerlich widerwärtigen polnischen Konstitution: „Lassen wir die Dinge, wie sie sind, und widersetzen wir uns allen, die weitergehen wollen", schrieb er 1826 an Konstantin, und im Frühling 1830 vor Eröffnung seines ersten und letzten Sejms gestand er Friedrich Wilhelm III., seinem Schwiegervater: „Sie kennen, Sire, meine Leidenschaft für konstitutionelle Formen und werden sich sagen, welche Freude es für mich ist, auf einem Reichstag Figur zu machen, da ich aber nun einmal diese Einrichtung geerbt habe, und geschworen habe, sie aufrecht zu erhalten, gehe ich ehrlich ans Werk." Und Nikolaus wollte, daß die Polen auch wissen sollten, daß sie mit einer Angliederung der Westgebiete nicht mehr redinen durften: „Es ist doch meine Pflicht als ehrlicher Mann, diese Hoffnungen so sehr zu vermindern als ich kann 41

oder zumindest nicht zu ermutigen . . . Es ist mir lieber, sofort zu wissen, wer die Unzufriedenen sind, als sie erst zu schaffen, indem idi sie immerfort täusche durch die Nichterfüllung einer Hoffnung, die ich unklug unterstütze und ermutige." Unter den Voraussetzungen dieser Grundeinstellung stand Nikolaj Pawlowitschs kaiserliches Bedürfnis, pflichtgemäß seine polnischen Untertanen auch zu lieben. Einmal schrieb er an Konstantin: „Sie haben zu dem Staatssekretär Grabowski gesagt, ,Seien Sie Pole, was mich betrifft, so werde ich Russe bleiben', aber ich sage ,Seid Polen und ich selbst bin das eine und das andere'." Nikolaus wollte auch den Thronfolger Alexander ebenso zu einem König von Polen wie zu einem Kaiser von Rußland erziehen. Das Polnische sollte dem Knaben „wenn möglich ebenso vertraut werden wie das Russische", 1827 suchte er einen ausgedienten polnischen Frontsoldaten für den Neunjährigen zur Aufsicht. Der Erzieher des Thronfolgers, Shukowskij, entwarf ein Programm, das des Dichters würdig war. Alexander sollte die polnische Geschichte und Literatur studieren, damit er „nach der Bekanntschaft mit der Vergangenheit und Gegenwart Polens dessen Zukunft liebe, wie es einem Zaren ansteht, der auf dem Himmel, welcher sich über beiden ihm Untertanen Völkern wölbt, den Regenbogen des Bundes errichten soll". 1829, anläßlich der Krönung seines Vaters zum König von Polen in Warschau, war der elfjährige Thronfolger schon in der Lage, sich frei im Polnischen auszudrücken, unterhielt sich mit dem Adel und begrüßte die Truppe polnisch. Nikolaus selbst litt unter den Krönungsfeierlichkeiten. In höchster Eile war er nach Warschau gereist, um nichts zu sehen, was ihm mißfallen könnte und wenigstens in guter Stimmung anzukommen. Unmittelbar nach der Zeremonie schrieb sein Adjutant Graf Bendcendorff in sein Tagebuch: „ . . . D i e Polen mußten von Selbstzufriedenheit erfüllt s e i n . . . aber auf uns wirkte alles irgendwie drückend. Nach der Rüdekehr in die inneren Gemächer schickte der Gosudarj nach mir, als er meine geistige Erregung sah, verbarg er auch die seine nicht..." 42

1830 schickte sich Nikolaus an, seinen ersten Sejm abzuhalten. Konstantin riet ab, für ihn war der Reichstag „ein schlechter Scherz". Aber der Kaiser fühlte sich an seinen Eid auf die polnische Verfassung gebunden. „Wir sind da, um den Gebrauch der öffentlichen Freiheiten zu regeln und ihren Mißbrauch zu unterdrücken." In diesen Worten fanden die Auffassungen der Brüder Alexander und Nikolaus, die eine von der Bejahung, die andere von der Ablehnung des Konstitutionalismus kommend, ihren einzigen Schnittpunkt. Die Warschauer Regierung legte ein Arbeitsprogramm für den Reichstag vor, das der Kaiser mit Recht als dürftig rügte, nach der Erwiderung, man wolle so stürmische Debatten vermeiden, erhob er jedoch keine Einwendungen mehr. Dennoch war die Stimmung der Kammern, zumal der Landboten, scharf oppositionell, und Nikolaus empfing die peinlichsten Eindrücke. Seine Stimmung verschlechterte sich an dem tiefen inneren Gegensatz zu Konstantin, der nur zum Schaden der Sache niemals zur Aussprache kam, weil der Kaiser gegenüber dem älteren Bruder und der Zesarewitsch gegenüber dem Kaiser jene Form der äußeren Ehrfurcht wahrte, in der die Romanovs des 19. Jahrhunderts offenbar Zuflucht vor den grausigen Bildern der Familiengeschichte des 18. Jahrhunderts suchten. Konstantin, der als echter Sohn Kaiser Pauls die Polen durch kleine Willkürakte reizte, alle wirklichen Gefahren aber übersah, trägt nebst Alexander die größte Schuld an den unklaren Verhältnissen bis zum November 1830. Benckendorff begleitete seinen Herrn auch diesmal nach Warschau: „Der Gosudarj war nicht ganz mit sich selbst zufrieden und noch weniger mit seinem älteren Bruder, er fühlte die peinliche Lage eines russischen Monarchen im Königreich Polen... aber er hatte gleichsam Angst, sich vollkommen Rechenschaft zu geben." Im Mai hatte der Sejm getagt, wenige Wochen später erfolgte in Frankreich der Sturz Karls X. Dieser Sieg der Revolution und die nachfolgenden Unruhen in Belgien lösten in Kaiser Nikolaus die feste Absicht aus, im Bunde mit Preußen und Österreich einzugreifen, um einer allgemeinen Revolution 43

zuvorzukommen. Bei seinem Schwiegervater fand Nikolaus allerdings wenig Gegenliebe für seinen Plan. In Rußland selbst wütete die Cholera, Nesselrode und Kankrin erhoben finanzielle Bedenken. Die Dinge zogen sich hin, und man schrieb schon den 30. November, als Diebitsch erklärte: „Wenn unsere Finanzen nicht erlauben, den Frieden Europas zu verteidigen, dann werden sie noch weniger erlauben, den Kampf durchzuhalten, wenn dieses selbe Europa Polen emanzipieren wird." Der Feldmarschall wußte nicht, daß bereits in der vorangegangenen Nacht in Warschau die Revolution ausgebrochen war. Der polnische Aufstand vom November 1830 wäre vielleicht eine Revolte geblieben, wenn Konstantin sofort eingegriffen hätte. Welchen Zweck konnte Alexander sechzehn Jahre zuvor mit der Ernennung seines ältesten Bruders und vielleicht Nachfolgers zum Oberstkommandierenden der polnischen Armee verbunden haben, als den, einen natürlichsten Vertreter der Selbstherrschaft, einen unbestechlichsten Hüter des Gesamtreichs für den Augenblick der Gefahr bereit zu haben. Aber Konstantin tat jetzt das Unsinnigste mit größter Folgerichtigkeit. Nachdem er mit knapper Not einem Anschlag auf sein Leben entgangen war, zog er mit seinen russischen Regimentern aus der Stadt, entließ am 3. Dezember auch jene polnischen Truppen, die ihm bisher gefolgt waren, vereinbarte mit den Revolutionären eine förmliche Kapitulation über seinen Abzug nach Rußland und versprach noch Unterstützung der polnischen Forderungen, die wieder vor allem auf Wiedergabe der Westgebiete gerichtet waren. — Kaiser Alexander hatte sich in seinem Bruder tief getäuscht. Der Zesarewitsch versagte gerade in der Stunde, für die er seiner geistigen Veranlagung nach bestimmt zu sein schien. Allmählich, unmerklich war der in Kleinigkeiten bis zuletzt selbstherrliche Mann der Atmosphäre Polens unterlegen. Der erste Augenblick der Bewährung enthüllte seine sittliche Katastrophe. Nikolaus begab sich nach der ersten Nachricht vom Aufstand äußerlich ruhig zu seinen Gardeoffizieren ins Michailspalais und

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nahm die Wachtparade ab. „Ich will", sagte er dann in einer kurzen Ansprache, „wenn es notwendig sein sollte, midi selbst an Eure Spitze stellen und auf Warschau marschieren. Bleibt aber ruhig, und vor allem werft keinen Haß auf die Polen. Vergeßt nicht, daß es Brüder unseres Blutes sind. Auch klage idi dessen, was geschehen ist, nidit die Polen an. Die Mehrheit des Volkes hat keinen Anteil daran." So bekannte sich Nikolaus in dieser sdiweren Stunde zur polnisch-russischen Stammesgemeinschaft, die der Polenfreund Alexander nur gelegentlich und oberflächlich erwähnt hatte. Die Haltung Konstantins aber widersprach so sehr allem, was der Kaiser erwartet hatte, daß ihm kein anderer Ausweg blieb — als den Bruder nach außenhin zu decken. Zur Kaiserin aber sagte er: „Wenn Konstantin vergißt, was er als Großfürst von Rußland sich schuldig ist, dann hören meine Bruderpflichten auf und der Souverän von Rußland muß handeln." In dem Kampf, der sich nun entwickelte, verlor Diebitsch sein Leben und das Vertrauen des Kaisers, und erst Paskjewitsdi wurde der Armee, die Konstantin geschaffen hatte, Herr. Aus dem Aufstand wurde ein Krieg, ein Krieg zwischen ungleichen Gegnern, aber immerhin zwischen Gegnern. Nikolaus glaubte schon Anfang 1831 einer furchtbaren Alternative gegenüberzustehen: „Wer von beiden soll zugrunde gehen, Rußland oder Polen, denn es scheint, daß eines zugrunde gehen muß." „Aristokraten", die einen Ausgleich mit Petersburg suchten, und „Demokraten", die für beide Teile Situationen schaffen wollten, aus denen es kein Zurück mehr gab, bestimmten das Bild der Revolution im Innern. Am 15. Januar 1831 verkündete der Sejm die Absetzung des Hauses Romanov. In der Folge suchte man Kandidaten für den erledigten Thron in Österreich und Preußen. Im Ausland wirkten polnische Emigranten und Sendlinge. Man verhandelte mit dem französischen Botschafter für Petersburg auf preußischem Boden im Reisewagen im Walde, der Botschafter Louis Philippes in Berlin empfing die polnischen Unterhändler nachts, in Paris erließ die Emigration eine Proklamation

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nach der anderen und verlangte den Dank Frankreichs für die Rettung vor dem russischen Angriff, in London wirkte der Marquis Wielopolski. Die Polen erreichten nichts außer mehr oder minder verletzenden diplomatischen Schritten der Westmächte in Petersburg und einer Rede Louis Philippes vor der Kammer, die Nikolaus tief erbitterte; aber die Hoffnung auf auswärtige Hilfe erhielt den Widerstand der Revolutionäre aufrecht, und noch im Juni 1831, als ihre Abgesandten aus Konstantinopel und England unverrichteter Dinge zurückkehrten, stützten sich die polnischen Führer auf eine angebliche baldige Hilfe aus dem Westen. So von außen beunruhigt, aber nicht bekämpft, empfand Nikolaus am bittersten und ungeduldigsten die nur langsamen Erfolge und gelegentlichen schweren Niederlagen seiner Truppen. Auch ließ Diebitsdi einen großen Sieg ungenützt, weil er wußte, daß der Kaiser einen Sturm auf Warschau nicht wünschte, und noch Paskjewitsdi machte den Revolutionären Angebote, die auf der anderen Seite als Schwäche empfunden wurden. Die Polen entwickelten einen politischen und militärischen Unverstand, den die Russen einfach nicht begriffen. Noch am Tage vor der Kapitulation Warschaus ist es geschehen, daß die Verteidiger eine Verhandlungsfrist verstreichen ließen, ohne auch nur Antwort zu geben . . . In diesen Kampf fällt ein Schritt von russischer Seite, dem Preußen iih nächsten Aufstand zuvorkommen wird. Diebitsdi erbat in Berlin die Erlaubnis zum Durchmarsch durch Ostpreußen, um die revolutionäre Armee im Rücken fassen zu können. Aber die preußische Regierung war damals nicht so elastisch wie 1863, als Bismarck mit der Alvenslebenschen Konvention eine seiner wichtigsten, weil ersten und grundlegenden, außenpolitischen Situationen schuf. Man fühlte sich in Berlin durch die russische Zumutung befremdet. Der Feldmarschall hatte aber nur eine Frage angeschnitten, die sein Herr selbst in späteren Verträgen mit den Teilungspartnern grundsätzlich zu regeln bestrebt sein wird. Nikolaus war von der Solidarität der Teilungsmächte in einem so starken Maße durchdrungen, daß er

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in diesem Sinne die Grenzen zwischen den drei Staaten aufgehoben wissen wollte. Jeder Hintergedanke lag ihm dabei fern. Schon am Beginn seiner Regierung hatte er festgestellt: „Weder Preußen noch Österreich haben etwas von Polen, mit Ausnahme ihrer Provinzen in Posen und Galizien, diese beiden Provinzen sind mit den Staaten, denen sie gehören, verschmolzen, zumindest in P r e u ß e n . . . " Jetzt während des Aufstandes dachte Nikolaus sogar an Verzicht. Nicht der Ausgang, nur die Dauer des Kampfes mit der polnischen Revolution war zweifelhaft, als der Kaiser im Juni 1831 aller polnischen Dinge so müde geworden war, daß er mit eigener Hand folgende Absicht niederschrieb: „Ich sehe nur ein Mittel, und zwar dieses, erklären, daß der russischen Ehre mit der Eroberung des Königreichs genug getan ist, daß aber Rußland kein Interesse hat, Provinzen von so flagranter Undankbarkeit zu besitzen, daß seine wahren Interessen verlangen, unsere Grenzen an Weichsel und Narew zu errichten und festzulegen, daß es den Rest als seiner unwürdig seinen Alliierten abgibt und ihnen überläßt, davon den Gebrauch zu machen, den sie für entsprechend halten." — In Preußen dachte man kühler, Rußland sei in der Lage, allein mit Polen fertig zu werden.

Am 27. Juni 1831 ist Konstantin Pawlowitsch im Feldlager der russischen Truppen an der Cholera gestorben. Es starb ein russischer Großfürst, einstmals sogar Thronfolger, der bei seinem Abschied von Warschau gesagt hatte: „Ich bin im Grunde ein besserer Pole als Ihr Herren alle, ich habe so lange Eure Sprache gesprochen, daß es mir schwer fällt, russisch zu sprechen . . . idi wäre gern bei Euch geblieben... aber ich werde niemals ein Louis Philippe s e i n . . . " Mit Alexander und Konstantin waren die beiden einzigen Männer Rußlands dahingegangen, denen die polnische Frage ein inneres Anliegen war. Für ihre Nachfolger auf dem Thron und

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in den nächstverantwortlichen Stellen war Polen nur eine Bürde, überschwer durch die Schuld dieser beiden Männer.

V. Rußland antwortete auf den Aufstand von 1830/31 sehr eigenwillig. Die breiten Massen vermuteten nicht allein hinter Bränden in Moskau polnische Anstiftung, sie schrieben den Polen auch die Schuld an der Cholera zu. Das geistige Rußland aber äußerte sich in Gedichten, in Gedichten, die veröffentlicht wurden, und in solchen, die erst Jahrzehnte später im Druck erscheinen durften. Puschkin verfaßte damals sein berühmtes „Den Verleumdern Rußlands", prägte den Begriff vom häuslichen Streit der Slawen, und stellte die verfängliche Frage, ob sich die slawischen Ströme in das russische Meer ergießen würden. Shukowskij feierte seine Enttäuschung über Polen in zwei Siegesgedichten. Manuskript aber blieb Chomjakovs schmerzlicher Fluch über die historischen Ansprüche, über den „Trug der vergangenen Jahrhunderte", und Tjutschevs Trauergesang, der in dem Leid, das den Polen widerfahren war, ein läuterndes Opfer sah auf dem Wege zur gemeinslawischen Freiheit unter russischer Führung. Alle diese Auffassungen weisen in die Zukunft, bald werden sie die poetische Hülle ablegen und sich in die politische Doktrin hämischen. Die jungen russischen Offiziere in Polen gerieten indessen noch einmal in den Bann der Vergangenheit, in den Bann Alexanders I. Die polnische revolutionäre Regierung hatte unter den Papieren Nowosiljzevs die Konstitution von 1819 gefunden und im Juli veröffentlicht. Nach der Eroberung Warschaus konnten allerdings nur noch achtzehn Stück der Auflage verkauft werden, dann stellte der General Witte den Rest sicher, aber es gelang ihm nicht, auch nur eines der früher verkauften und verbreiteten zu finden. Die geheime Nachfrage war sehr groß, „man zögerte nicht, hohe Summen für ein Exemplar zu zahlen". — Das war der Geist der Dekabristen, der Geist Alexanders. Kai-

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ser Nikolaus erfuhr jetzt zum ersten Male von dem Dasein dieses Verfassungsentwurfs; „Neunzig von hundert unserer Offiziere werden ihn durchfliegen, ohne ihn zu verstehen, die zehn anderen werden ihn im Gedächtnis behalten, kritisieren und, was das Wichtigste ist, nicht mehr vergessen. Das beunruhigt midi mehr als alles andere."

Kaiser Nikolaus entschied über das staatliche Schicksal des Königreichs rascher als über das persönliche der Aufständischen. Das „Organische Statut" vom Februar 1832 nahm der Schöpfung Alexanders den staatlichen Charakter, wahrte aber die autonomen und die bürgerlichen Rechte. Diese Lösung war liberaler als selbst der Staatssekretär für polnische Angelegenheiten in Petersburg, der Pole Grabowski, für möglich gehalten hatte. Zur Anwendung gelangte das Organische Statut allerdings nicht, da Nikolaus 1833 Ursache fand, über Polen den Kriegszustand zu verhängen und zwanzig Jahre lang nicht mehr aufzuheben. In Frankreich hatten sich die flüchtigen Führer des Aufstandes wieder gesammelt — diese in den Grenzen einer fremden Macht gleichsam konservierte Revolution wurde für Rußland seither zur Quelle jahrzehntelanger fortgesetzter Beunruhigung. Mit dem Auge des Emigranten, das alle Dinge diplomatisch oder revolutionär erfaßt und zugleich politisch verzeichnet, wachten „Aristokraten" und „Demokraten" nach Osten gewendet, stets bereit, Rußlands innere und äußere Schwierigkeiten zu nutzen und wenn möglich zu schaffen. Kein Jahr verging, ohne Nikolaus, sei es auch durch die bizarrsten Symptome der „polnischen Intrige", zu erschrecken. Anfang 1833 faßte der Pole Zaliwski in Lyon den wahnwitzigen Plan, mit ganz kleinen bewaffneten Banden an verschiedenen Stellen in Polen einzudringen, um die russischen Truppen so lange zu beschäftigen, bis die Revolution organisiert sei —, und er führt diesen Plan im März des Jahres aus! Für den November 1833 war ein neuer Aufstand in Warschau angesagt. Schon im September und Oktober des Jahres vereinbarte Rußland mit Österreich und Preußen in den KonF l e i s c h h a c k e r , Russische Antworten.

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ventionen von Münchengrätz und Berlin gegenseitige Garantie der polnischen Besitzungen und Unterstützung im Falle neuer polnischer revolutionärer Bewegungen, mit Österreich auch automatische Öffnung der Grenzen. Friedrich Wilhelm konnte sich nur zu der nachträglichen offiziellen Erklärung entschließen, daß er im Notfall auf ein offizielles Gesuch hin den Durchmarsch russischer Truppen nicht mehr verweigern werde. Erst 1834 schloß Nikolaus das Verfahren gegen die Aufständischen von 1830 ab, seine höchstrichterliche Strenge gipfelte in zweihundertaditundfünfzig Todesurteilen gegen Emigranten, die dem Arm des Henkers entzogen waren, die Zurückgebliebenen traf Güterentziehung und Verschickung, jedoch über die neuen Putschversuche nach der Niederwerfung des großen Aufstandes urteilte das Feldgericht. Innerlich hatte der Kaiser mit den Polen für immer gebrochen. Annäherungsversuche von polnischer Seite beantwortete er mit Verachtung. Eine polnische Abordnung, die ihm den Dank der Nation für die Verleihung des Organischen Statuts überbringen sollte, empfing er mit bitterer Feierlidikeit. Graf Bendcendorff konnte diesmal notieren: „Diese für die Polen erniedrigende Szene machte einen guten Eindruck auf die anwesenden Russen und befriedigte ihr Selbstgefühl." Der Kaiser aber schrieb aus demselben Anlaß an Paskjewitsch: „Dankbarkeit erwarte ich von den Polen nicht, und ich gestehe, daß ich sie so tief verachte, daß ihre Dankbarkeit für mich auch keinen Wert hätte." Am 16. Oktober 1835 empfing Nikolaus im Schloß Lazienki in Warschau eine polnische Abordnung, der er keinen Zweifel mehr über seine Unversöhnlichkeit ließ: „Ich weiß, meine Herren, daß Sie midi sprechen wollten; ich kenne sogar den Inhalt Ihrer Ansprache, um Ihnen eine Lüge zu ersparen, wünsche idi nicht, daß sie stattfindet. Ja, meine Herren, um Ihnen eine Lüge zu ersparen, denn idi weiß, daß Ihre Gefühle nicht solcher Natur sind, wie Sie mich glauben machen wollen, und wie könnte ich Ihnen Glauben schenken, da Sie zu mir am Vorabend der Revolution in derselben Sprache gesprochen h a b e n . . . Der Kaiser Alexander hat für Sie mehr getan als ein Kaiser von

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Rußland hätte machen dürfen. Ich sage das, weil ich es denke, er hat Sie mit Wohltaten überhäuft, hat Sie mehr begünstigt als seine eigenen Untertanen und hat Sie zu der blühendsten und glücklichsten Nation gemacht. Er wurde mit dem schwärzesten Undank belohnt. Sie haben sich niemals mit ihrer so überaus vorteilhaften Lage begnügen wollen und zuletzt Ihr eigenes Glück zerbrochen . . . Meine Herren, es braucht Handlungen und nicht Worte . . . Idi spreche zu Ihnen, ohne mich zu erregen — Sie sehen, daß ich ruhig bin, ich wünsche keine Rache und werde Euch Gutes wider Euren Willen t u n . . . ich habe hier die Alexanderzitadelle errichtet und ich erkläre Ihnen, daß ich bei der geringsten Meuterei die Stadt bombardieren lassen werde, ich werde Warschau zerstören, und gewiß werde ich es nidit sein, der es wieder a u f b a u t . . . " Das war das Ende des großen Planes Alexanders. — W a s davon blieb, war die finnische Verfassung, gleichsam ein erster Stilversuch zu einem riesenhaften staatlichen Bau, den Alexander genial entworfen, ohne Rücksicht auf die Tragfähigkeit des politischen Bodens und die Gunst der politischen Atmosphäre begonnen und mitten in der Ausführung aufgegeben hatte. Die anspruchslosen Häuser des finnischen Landtags standen so abseits, daß sie, von den Russen teils mit Ärger, teils mit Neid bestaunt, noch in das 20. Jahrhundert hinüberlebten, während das polnische Verfassungsgebäude fünfzehn Jahre nach seiner Errichtung zusammengestürzt war und der innerrussische politische Raum bis 1905 unberührt blieb. * Die polnische Frage in Rußland war in ein neues Stadium getreten, die Problemstellung kehrte sich um. Nikolaus legte keinen moralischen Wert auf Polen, der unerwünschte Besitz reizte nur immer wieder die ganze Schärfe und Härte seines russischen Verantwortungsbewußtseins. Aber der Kaiser wollte sittlich wiedergewinnen, was sein Bruder preisgegeben hatte — die Westgebiete. Schon am 28. September 1831 gründete er ein 4*

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Komitee, dessen Aufgabe es war, „diese Provinzen in jeder Hinsicht den inneren. Gouvernements. Großrußlands gleichzumachen". Alexander hatte unter dem Einfluß seines anationalen Bildungsideals die Tätigkeit der Jesuiten in den Westgouvernements begrüßt und gehofft, sie würden dort „im guten Sinne wirken", Nikolaus begann den Kulturkampf gegen Katholizismus und Union als die Hauptstützen des Polentums in diesen Provinzen und erreichte 1839 mit der Aufhebung der Brester Kirchenunion von 1596 ein erstes Ziel. Im gleichen Jahre kehrte Michail Petrowitsch Pogodin von einer „Reise durch die slawischen Länder" heim und übergab seinem Ministerium eine Denkschrift. Professorale Lebensferne konnte man dem noch jungen Gelehrten nicht vorwerfen, er hatte eine neue Problemstellung in der polnischen Frage mitgebracht. Er riet, den Polen kulturelle Vergünstigungen, seien es Scheinvergünstigungen, zu gewähren, denn, so sagte er, die Slawen „blicken auf Polen als das Muster russischer Herrschaft". — Damit war die polnische Frage in bewußt politischer Absicht in den Rahmen der allslawischen gestellt. Aber dieser Gedanke von ungeheurer politischer Tragweite wanderte vorläufig ins Archiv. Später allerdings wird er Schule machen, einschließlich der scharf deutschfeindlichen Note Pogodins und das russische außenpolitische Denken in jene Zerrissenheit und Uferlosigkeit bringen, in jenes Zwielicht, wo ein Ziel das andere beschattete und aufhob, das Rußland in den Weltkrieg führte. Kaiser Nikolaus beschied sich damit, Rußland vor der polnischen Gefahr zu schützen, wie er es verstand, es lag ihm ferne, die polnische Frage von einer ideellen Seite her zu beleuchten. Immer wieder hörte man von polnischen Attentatsabsichten gegen den Kaiser und seinen Statthalter, 1836 brachten es polnische Intrigen zu einem russisch-englischen Zwischenfall im Schwarzen Meer, die Beziehungen der beiden Staaten waren ja gespannt genug, seit der Vertrag von Hunkiar-Iskelessi die Türkei in Abhängigkeit von Rußland gebracht hatte. Nikolaj Pawlowitschs Unruhe wuchs, als 1840 Friedrich Wilhelm IV. 52

den Thron bestieg. Des Schwagers Verfassungspläne haben dem Kaiser manche böse Stunde bereitet, und die peinlichsten Beweise der fortdauernden polnischen Verschwörung wurden ihm durch die Hoffnung versüßt, daß „Fritz" nun fester sein werde. Schon 1838 hatte Paskjewitsch erklärt, es sei unmöglich, die Neubildung polnischer Verschwörungen zu verhindern, solange der Freistaat Krakau bestehe. Die Lösung von 1846, die Einverleibung der Republik in das Kaisertum Österreich, erfolgte dann ganz im Sinne Nikolaus I., er hatte es im Gegensatz zu Paskjewitsch von vornherein abgelehnt, die Stadt seinen polnischen Besitzungen anzugliedern. Wieder waren seine Gedanken über Polen auf Verzicht gerichtet. Aber jetzt dachte er an einen Tausch: das Gebiet „zwischen Bsura und Weichsel" gegen (Ost-)Galizien, denn dieses, so sagte er, „ist unser altes Land". Der Kaiser versagte es sich diesmal, den Plan zum Gegenstand eines diplomatischen Vorschlages zu machen; er ist bedeutsam genug als Gedanke, als ein — vom großrussischen Standpunkt — rein nationales Maximalprogramm, das später nur selten in dieser Unvermischtheit auftreten wird, meist aber als Kern innerhalb eines panslawistischen Programms. Das Jahr 1846 wurde aber in der inneren Polenpolitik entscheidend. Kaiser Nikolaus eröffnete nach dem kulturellen auch den wirtschaftlichen Kampf gegen den polnischen Adel. Er hatte sich in der ersten Hälfte seiner Regierung sehr viel mit der Bauernfrage beschäftigt. Seine Angst vor Veränderungen hielt ihn aber im Inneren Rußlands von entscheidenden Maßnahmen zurück, er glaubte, den Adeligen, den natürlichen Polizeimeister des ewig unruhigen Dorfes, den politisch meist völlig uninteressierten „Krepostnik", nicht entbehren zu können. In Polen und im Westgebiet aber war der Adelige Träger der Revolution, keine Stütze der Selbstherrschaft. Unter diesem eigenartigen Zwang der polnischen Frage, die alle russischen Maßstäbe verkehrte, leitete Nikolaus nun im Königreich und in den Westgouvernements durch die Ukase von 1846 und 1847 eine Bauernpolitik ein, unter deren Schwergewicht dem westlichen Gutsbesitzer die Vorteile der Leibeigenschaft allmählich so zweifel53

Haft erscheinen werden, daß eine geschickte Regie ihm zehn Jahre später den Wunsch, die Bauern zu befreien, entlocken kann... Das Jahr 1848 verlief trotz aller russischen Befürchtungen in Kongreßpolen ruhig. Fürst Adam Czartoryski war von Paris nach Berlin geeilt — fast achtzigjährig, aber von unverwüstlicher politischer Rüstigkeit —, erwartete er als König der „weißen" Emigration den Ruf zum Einzug in Warschau — vergeblich. Weither aus dem Westen Europas kam noch einmal ein Edio auf den großen Plan Alexanders. Nikolaj Turgenjev, ein alternder Dekabrist, der „erste russische Emigrant", griff zur Feder. Er sieht zwei Wege zur Lösung der polnischen Frage, zunächst: Einführung europäischer staatlicher Einrichtungen in Rußland selbst und ähnlicher Einrichtungen in Polen, das ein Vizekönig aus der kaiserlichen Familie regieren könne. Der erste Verfassungsversuch in Polen sei zwar nicht in jeder Hinsicht günstig ausgefallen, aber man solle nicht vergessen, daß damals ein konstitutionelles Polen mit einer absoluten Monarchie verbunden wurde, bei Ähnlichkeit der staatlichen Einrichtungen würden sich alle Mißlichkeiten sogleich bedeutend verringern. Ein zweiter Weg wäre: vollkommene Vereinigung von Polen und Russen. Der Grundzug dieses Systems wäre die gesetzgeberische Einheit des ganzen Reichs — wobei den örtlichen Bedingungen entsprechende Unterschiede in den Einzelheiten der Verwaltung gewahrt bleiben sollten. Auch dieses System hätte angesichts der verschiedenen Nationalität der Bevölkerung des Reichs seine Mängel, es würde aber keine Gefahr für die staatliche Festigkeit bringen, weil das russische Element die überragende Mehrheit darstelle. „Die Polen der alten Provinzen und auch des Königreichs — so ist es wohl erlaubt zu glauben — würden in ihrer Verschmelzung mit Rußland so große und positive Vorteile finden, daß jene Einbuße, die dabei ihre nationale Selbstliebe erleiden müßte, weniger fühlbar würde." Das war, wenn auch in weniger genialer Konzeption, ungefähr der alte Plan Kaiser Alexanders — und der Fehler Alexanders: „Rußland hat keinen

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Grund, andere Mittel zur Zivilisation zu suchen als jene, die mit Erfolg der allerzivilisiertesten Welt gedient haben, Rußland hat nichts zu tun, als aus diesen Mitteln zu schöpfen, deren Wirksamkeit niemals zweifelhaft war, deren Wirkung überall die gleiche ist, überall segensreich . . . " Das war die letzte Begegnung Alexanders mit den Dekabristen! Aber eigenartig gemischt mit allslawischen Tönen und schriller Deutschfeindlichkeit hatte Nikolaj Turgenjev die alte Weise Alexanders. Der Kaiser war kein grundsätzlicher Freund Österreichs gewesen, in Zeiten des Gegensatzes hatte er mit dem Gedanken der Zerstörung dieser Monarchie, der zugleich ein panslawistisdier Gedanke war, gespielt, um in ruhigeren Zeiten das Habsburgerreich wieder als Bestandteil seines Systems der Sicherheit zu erkennen. Das Deutschtum aber hatte Alexander nie gehaßt — Preußen als notwendig empfunden. . Turgenjev aber sucht, wie Pogodin, die polnisch-russische Verständigung um der Slawen willen. „Sagt, welche Wirkung könnte dieser Anblick auf die zahlreichen slawischen Stämme haben, die in anderen Staaten eingeschlossen sind. Glaubt Ihr nicht, daß das Herz der Slawen stärker für Rußland schlagen würde, denn je . . . ? " Und diese slawische Verständigung selbst errichtet Turgenjev auf dem polnisch-deutschen Gegensatz. Er ist überzeugt, daß die Polen, kraft der gemeinsamen Abstammung, gegen die Russen nicht jene angeborene Abneigung hegen, die sie unwiderruflich von den Deutschen trennt: „Das menschliche Herz scheint so eingerichtet, daß ein starker Haß einen zweiten schon ausschließt." — Die Russen werden allerdings erst im 20. Jahrhundert mit dieser These Turgenjevs bei den Polen Schule machen, aber sie werden sie vor allem selbst mehr und mehr glauben und sich so in den Weltkrieg hineinreden, obwohl das Zukunftsbild Turgenjevs von der brüderlichen Versöhnung zwischen Polen und Russen — trotz des gemeinsamen konstitutionellen Staates — sich bis 1914 nicht erfüllen wird. Kaiser Nikolaus hatte in diesen Revolutionsjahren Gelegenheit, seine Einstellung zur allslawischen Frage zu äußern, als er

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1849 die jungen Slawophilen sehr milde zur Ordnung rief. Iwan Aksakov erklärte damals für sich und seine Brüder, daß sie keine Panslawisten seien, daß ihnen Rußland am nächsten stehe, und der Kaiser vermerkte auf dem Bekenntnis: „Das ist auch richtig so, denn alles andere ist ein Traum, allein Gott kann bestimmen, was die Zukunft bringt, aber wenn das Zusammenspiel der Umstände zu einer solchen Vereinigung führen sollte, dann wird dies zum Unheil Rußlands sein . . . " Indessen beteiligten sich die Polen an allen Revolutionen Europas, vor allem in Italien und Ungarn, und Nikolaus freute sich, als er von einem großen Zerwürfnis, einer „plus grande brouille" zwischen Polen und Ungarn erfuhr. Ein Nachspiel dieser Ereignisse, die russische Forderung an die Türkei, elfhundert aus Ungarn übergetretene Polen auszuliefern, führte dann fast noch zu einer internationalen Auseinandersetzung. Aber erst sechs Jahre später entzündete sich, nicht an der polnischen, sondern unmittelbar an der orientalischen Frage jener europäische Krieg, den die polnische Emigration seit 1831 erwünscht urtd betrieben hatte. So klein war der geographische Raum der Auseinandersetzung, daß dieser Kampf den Namen Krimkrieg erhielt, aber seine innenpolitischen Folgen in Rußland schufen eine Zeitenwende.

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Der slawischen Familie verlorener Sohn Im Krimkrieg wurde der Zusammenbruch des alten Rußland sichtbar. Kaiser Nikolaus hatte versucht, ein überliefertes System zu konservieren, das durch Kaiser Alexander schon in Zweifel gestellt war, ein System, das an den Fehlern der siebzigjährigen Frauenherrschaft des 18. Jahrhunderts entartet und im 19. Jahrhundert, unbeweglich im Strome des geschichtlichen Lebens, widersinnig geworden war. Alexander I. hatte einst auf den politischen Russen gewartet, unmittelbar nach dem Tode des Kaisers war der Dekabrist, der erste T y p des politischen Russen erschienen — er trat als Revolutionär auf. Kaiser Nikolaus verhängte daraufhin über Rußland dreißigjähriges politisches Schweigen, dreißigjährige politische Untätigkeit. Dieses Schweigen, diese Untätigkeit wurde zur gefährlichen politischen Schule des Russen. Ohne Leitung, ohne Beispiel, ohne Aufgabe berauschte er sich heimlich an einer ringsum gärenden Welt, grübelte in den Geheimnissen der deutschen idealistischen Philosophie, erregte sich sozial an den Lehren des französischen utopistischen Sozialismus, baute sich eine eigene Überlieferung in die russische Vergangenheit, mengte und mischte, zweifelte und erfand und schuf sich seine Ziele selbst. In den dreißiger Jahren des 19. Jahrhunderts „war das kommende Rußland ausschließlich unter einigen jungen Leuten vorhanden, die kaum der Kindheit entwachsen waren". Zwei Kreise bildeten sich zunächst in Moskau aus der Universitätsjugend, der eine um den schon vom Tode gezeichneten geistvollen Jüngling Stankjewitsch, der andere um den kommenden Revolutionär der Feder, Alexander Herzen. Zwischen diesen Kreisen bestand anfangs „keine große Sympathie", bekennt Alexander Herzen selbst, „jenen gefiel unsere fast ausschließlich politische Richtung 57

nicht, uns gefiel die ihre, fast auschließlich spekulative nicht". Später tausdite man Anhänger und Grundsätze aus, schloß sich anders und mit anderen zusammen, die großen Richtungen entstanden — „Westler" und „Slawophile". Aber das Schlagwort bedeckt nicht die geistige und menschliche Vielfältigkeit dieser Kreise. Als sie sich auflösten, rückten ihre Mitglieder zum ersten Angriff auf die russische öffentliche Meinung vor — in einer Schwarmlinie, die den ungeheuren Abstand von dem Anarchisten Bakunin bis zu dem philosophischen Nationalisten Konstantin Aksakov umspannte. Aber auch das geschichtliche Leben selbst sträubte sich gegen den kaiserlichen Befehl zum ewigen Verharren, sprengte außerhalb aller Theorie in einer von niemandem beabsichtigten zwangsläufigen Umkehrung der Werte das erstarrte System. Bisher waren die Bodenpreise in Rußland nach den leibeigenen Bauern bemessen worden, die auf der Scholle saßen, jetzt kam es vor, daß unbesiedeltes Land teurer verkauft wurde als besiedeltes. Längst hatte es sich auch in der Industrie erwiesen, daß die Leistung des freien Lohnarbeiters produktiver war als die des Leibeigenen. Der Krimkrieg bewies — dieses Rußland konnte nicht mehr siegen. Es wollte auch nicht mehr siegen. Die Slawophilen Samarin, Iwan Aksakov, Koscheljov haben das Geständnis nicht gescheut, daß sie die Niederlage begrüßten. „ . . . Es war uns, als schritten wir aus einem quälenden, düsteren Keller heraus, wenn noch nicht an das Licht Gottes, so doch in eine Vorhalle dazu, wo eine erfrischende Luft schon spürbar wurde. Die Landung der Verbündeten in der Krim, die darauf folgenden Niederlagen an der Alma und bei Akerman und die Belagerung Sebastopols haben uns nicht allzusehr betrübt; denn wir waren überzeugt, daß selbst Niederlagen erträglicher und vorteilhafter seien als jene Lage, in der sich Rußland in letzter Zeit befand. Die Stimmung der Gesellschaft und sogar des Volkes war, wenn audi zum Teil unbewußt, der gleichen Art." Wenn die nationalsten Männer Rußlands Landesverrat als Gedankensünde begingen, dann war die Stunde des inneren Zusammenbruchs gekommen,

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er vollzog sich ohne Revolution, im Namen des Kaisers selbst und erhielt den Namen „Zeit der Reformen".

L Mit dem Ausbruch des Krimkrieges erhob sich auch die polnische Frage. Ein Teil der polnischen Emigration drang in die Westmächte, den Kriegsschauplatz nach Polen zu verlegen, und der Gedanke, das Königreich wiederherzustellen, beschäftigte die Kabinette. Keine dieser Gefahren nahm greifbare Gestalt an, aber sie waren da, und die „polnische Intrige" verschärfte die Notlage Rußlands in seinem ersten europäischen Kriege nach 1815. So drängte sich die polnische Frage gleichsam von selbst dazu, sofort in jene Neustellung aller Probleme aufgenommen zu werden, die das russische politische Denken jetzt vornahm. Zwei Männer ergriffen 1854 zuerst das Wort, Michail Pogodin und Alexander Herzen. Sie hatten nichts gemein, nicht einmal die frühe geistige Begegnung, die Herzen mit so vielen Politikern und Denkern seiner Zeit verband. Pogodin stand diesen einstigen Gemeinschaften der ungleich gestimmten Moskauer Freunde, die alle etwas auf einander abgefärbt hatten, ferner, zum Teil schon deshalb, weil er um etwa eine halbe Generation älter war. In der Mitte der dreißiger Jahre, als sich in Moskau die Studentenkreise um Stankjewitsch und Herzen bildeten, wurde Pogodin an der gleichen Universität schon zum Professor ernannt. Und doch berühren Herzens und Pogodins Gedanken einander an Höhepunkten. Wie war das möglich? Welche geistige Verwandtschaft konnte zwischen ihnen bestehen, zwischen Pogodin, dem Sohn eines Leibeigenen, der sich zum offiziellen Historiker Rußlands emporgearbeitet hatte, und Herzen, dem Sohn eines Altadeligen, der mit dem Mädchen seiner ersten Neigung von dem Lose des Verschickten geträumt, diese Sehnsucht nach Verbannung bald erfüllt gesehen und Rußland 1847 für immer verlassen hatte, um für eineinhalb Jahrzehnte der

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gefährlichste Ankläger der russischen Regierung zu werden. Aber beide, der ehrbare Professor ebenso wie der revolutionäre Flüchtling, erfüllen mit den Inhalten ihrer grundverschiedenen Weltanschauung ein gleiches, das allslawische Ideal. Und so beginnen diese beiden Männer jenes eigenartige politische Gedankenspiel, in dem Polen zunächst freigegeben wird, um zuletzt in einem größeren Rahmen wieder umfangen zu werden, ein Spiel, das allmählich von den russischen Politikern verschiedenster Richtung wiederholt wird. Pogodin ringt sich in der Not des Augenblicks den vollständigen Verzicht auf Polen ab: „Wozu sollen wir wünschen, es bei uns zu halten, es ist eine Pest an unserem Leibe, einer der Gründe oder zumindest der Vorwände des europäischen Hasses gegen Rußland, welchen wirklichen Nutzen bringt es und wieviel S c h a d e n . . . " Aber Pogodin denkt nicht an einen dauernden Rückzug wie Kaiser Nikolaus, seine Entsagung ist der Preis für ein höheres Ziel. „Wenn der slawische Bund zustande kommen soll, dann müssen wir auf Polen verzichten . . . ist es nicht nützlicher und vorteilhafter für uns, an der Spitze von zwanzig verbündeten Staaten zu stehen, als einen feindlichen am Busen zu nähren. Der Tausch scheint vorteilhaft!" Der Politiker Pogodin war naiv, aber gefährlich, der Historiker Pogodin jedoch über die Vorgeschichte der Angliederung Polens an Rußland schlecht unterrichtet — oder verfälschte er seine Kenntnisse? „Kein Russe hat je diese Erwerbung gewünscht, kein russischer Gosudarj hat sie g e s u c h t . . . die Feinde Rußlands haben uns dieses Unglücksland aufgehalst zum Zeichen der Dankbarkeit für die Dienste, welche Rußland Europa durch die Befreiung vom Joche Napoleons erwiesen h a t t e . . . Rußland mußte Polen bei sich dulden als unumgängliches Ü b e l . . . " Jedoch ganz ernst ist diese geräuschvolle Lossagung nicht gemeint, mitten im Fluß der entsagenden Predigt stößt Pogodin auf den mitleidsvollen Zweifel: „Kann denn Polen gesondert bestehen?" Eine leidenschaftslose Betrachtung seiner Geschichte beweise, daß sein staatlicher Untergang nur der „unvermeidliche Abschluß der vorangegangenen Ereignisse" war. „Betrachtet man das Territorium des

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eigentlichen Polens, seine Geographie, dann kommt man zu demselben S c h l u ß . . . es ist ein ergänzendes Land, ein Grenzland, aber durchaus kein eigenständiges!" Jetzt scheint der Rüdetritt von dem zuvor ausgesprochenen Verzicht leicht, aber Pogodin bleibt hartnäckig bei seiner Großmut, die Polen sollen ihren Willen haben, eine genaue ethnographische Trennungslinie soll zwischen den beiden Völkern gezogen werden, der polnische Grundbesitz im Westgebiet soll aufgekauft oder gegen russischen in Polen ausgetauscht werden, russischer Geist „soll in Polen ebensowenig bleiben wie polnischer in Rußland" bis — „bis die beiden Stämme verstehen, daß es für sie vorteilhafter ist, sich wieder zu verbinden und ein Ganzes zu bilden. W i r verstehen das schon, aber die Polen brauchen erst die Erfahrung"! — „Mag ein Polen sein! Das ist ein herrliches, heiliges, brüderliches Geschenk, würdig des guten und leichten russischen Herzens . . . mögen sie es genießen, wie sie wollen, bis zu dem Zeitpunkt, da sie selbst die allerengste Verbindung mit uns wünschen werden!" Das war ein ständiges Drehen im Kreise, immer wieder glitt Pogodin aus der Entsagung in die Hoffnung auf um so sichereren Wiedergewinn und aus dem Einheitsprogramm abermals zurück in das föderalistische. „ . . . Übrigens bei der Gründung des slawischen Bundes und bei einer Schutzherrschaft Rußlands mit wechselseitiger Hilfe aller slawischen Stämme kann Polen wie auch die übrigen Staaten gesondert existieren. Das ist die einzige Form seines späteren Seins. Unsere Grenze ist Memel und Bug, die in strategischer Hinsicht sogar vorteilhafter zu sein scheint als die jetzige Grenze des Königreichs Polen gegen Preußen. Rußland wird von Europa durch einen ganzen Wall verbündeter slawischer Staaten getrennt und kann bei sich zu Hause tun, was es will, gestützt auf die Kräfte des ganzen Bundes." Man kann nur noch fragen, wozu Rußland hinter diesem slawischen Wall eine strategische Grenze b r a u c h t e . . . Mehr seinen Gedanken nachjagend als sie beherrschend, hatte Pogodin die einzelnen Probleme, die er aufwarf, weder getrennt zu entwickeln noch organisch zu verbinden verstanden. Er hatte sein großes Programm eines slawischen Bundes hastig für den 61

politischen Augenblick mißbraucht. Was er unmittelbar bezweckte, war — Einschüchterung der Gegner und Waffenhilfe der Balkanslawen in diesem Kriege: „Erklärt die Unabhängigkeit Polens und es erzittert Österreich, Preußen und ganz Deutschland . . . Lord Dudley-Stuart beißt sich in die Zunge, die Legion der gegnerischen öffentlichen Meinung zerstreut s i c h . . . Die Slawen sehen unsere Uneigennützigkeit, überzeugen sich von der Reinheit unserer Absichten, weisen alle westlichen Einflüsterungen von sich und ergeben sich Rußland endgültig und bedingungslos von ganzer Seele auf Leben und T o d ! . . . " Herzens Gedanken über dasselbe Thema sind noch utopischer und noch gefährlicher, aber in ihrer Art folgerichtiger und ehrlicher als die Pogodins. Herzen ist auch um eine Quelle der politischen Erfindung reicher als Pogodin, er will den politischen und sozialen Umsturz in Rußland, sieht ihn vor sich und rechnet mit ihm. Auf diesem von allem historisch Gewachsenen gesäuberten Felde wandelt selbst die Phantasie noch leichtfüßiger. Herzen braucht daher zur Erreichung seines gedachten Ziels nicht den Umweg über den unbedingten Verzicht auf Polen. „Das Verschlingen Polens durch das zaristische Rußland ist Abscheulichkeit und G e w a l t . . . " , aber er war schon 1853 überzeugt: „Aus der gewaltsamen Einheit schaut eine freie Einheit hervor, aus der Einheit, welche Polen durch Rußland verschlingt, eine Einheit, die auf der Anerkennung der Gleichberechtigung und Eigenart beider begründet ist. Die gefesselten Gefangenen blickten einander an und erkannten einander als Brüder, das gleiche Blut meldet sich, und die Familienfeindschaft entschwindet." Auch 1854 ist Herzen ohne Rückfrage bei den Polen vollkommen von der unbedingten Gemeinsamkeit eines völlig gleichartigen revolutionären Interesses und von der verschmelzenden Kraft der Revolution überzeugt. „Was will Polen? . . . Polen will ein freier Staat sein, es ist bereit, mit Rußland vereinigt zu sein, aber mit einem Rußland, das ebenfalls frei i s t . . . um sich mit ihm zu vereinigen, muß Polen volle Freiheit h a b e n . . . " und Herzen sieht den „freien und unzerreißbaren Bund Polens und Rußlands" vor sich „als Anfang einer freien Vereinigung aller 62

S l a w e n . . . " — Frei, frei — das Wort erschlug fast den Gedanken. Aber Polen blieb im Krimkrieg ruhig.

Kaiser Nikolaus ist mitten in diesem Kriege am 2. März 1855 nach kurzer Krankheit gestorben. Alexander II. fiel es als erste schwere Aufgabe zu, den aussichtslosen Kampf zu beenden. Napoleon III. schlug vor, die Wiedererrichtung Polens als Kriegsziel aufzustellen — England lehnte ab — die Verhandlungen kamen in Gang. Aber die vollkommene Ausschaltung der polnischen Frage auf dem Pariser Kongreß wurde dem russischen Bevollmächtigten, Grafen Orlov, nicht leicht gemacht. Mit Stolz meldete er am Ende seiner Mission: „Ich bin sehr zufrieden, daß ich den Namen Polen während der Sitzungen in Anwesenheit der Vertreter der Großmächte nicht hören mußte." — Clarendon entschuldigte sich im Juli 1856 nach einer Interpellation Lord Lyndhursts im Oberhaus gleichsam für diese Nachgiebigkeit, denn die nur bedingte Amnestie Alexanders für die polnischen Verbannten seines Vaters hatte einen neuen Sturm der Polen auf die öffentliche Meinung Europas ausgelöst. Pogodin grübelte jetzt resigniert über die Ursachen der Niederlage, er erleichterte sein Herz durch Selbstanklagen: „Warum haben sich die slawischen Stämme während des letzten Krieges nicht erhoben? Weil sie nichts Genaues und Klares über unsere Absichten wußten, weil sie an unserer Beständigkeit zweifelten, . . . und endlich, weil sie unsere grobe Selbstgerechtigkeit nicht lieben, weil sie nicht ein Joch gegen das andere tauschen und nicht aus dem Regen in die Traufe geraten wollen!" Das war sehr aufrichtig, die russischen „Liberalen" rieben sich die Hände, als sie dieses Geständnis zu Gesicht bekamen. Aber Pogodins Pathos eignete sich nicht für lange Klagen, seine Überzeugung von der organischen Verbundenheit des polnischen Problems mit der allslawischen Sache war so stark, daß er den Mut fand, die Möglichkeit zu einem Wiederaufstieg Rußlands von der polnischen Basis aus zu sehen. Aus der Resignation er-

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hob sich seine optimistische Phantasie. „Das Mittel, das stärkste und wirksamste Mittel, aus unserer jetzigen Lage herauszukommen, muß, meiner Meinung nach, Polen liefern. Polen war für Rußland die verwundbarste, gefährlichste Ferse, es muß seine starke Hand werden. Polen hat uns die ganze slawische Welt entfremdet, es muß sie uns wieder nahebringen. Polens wegen haben wir uns mit der besten europäischen Öffentlichkeit verfeindet, durch Polen müssen wir uns mit ihr wieder versöhnen. Wie aber soll ein so glänzendes Ziel erreicht werden? Sehr einfach. Gebt Polen eine gesonderte, eigene Verwaltung. In unteilbarer Herrschaft mit dem russischen Reich verbleibend, unter dem Zepter des gleichen Herrschers mit seinem Statthalter, mag Polen sich selbst verwalten, wie es ihm gefällt. . . Das wäre schon eine so heilige Sache, daß die Engel im Himmel sich freuen würden . . . die Polen ergreifen mit Begeisterung die unerwartete Gnade . . . werfen sich in unsere offenen Arme . . . und kein Feind wagt, sich unseren Westgrenzen zu nähern." Pogodin hatte jetzt nur ein neues Mittel gewählt — nicht mehr Unabhängigkeit Polens, sondern Autonomie, die gleiche Wirkung aber erhoffte er mit den gleichen Worten — Formulierungen, die ihm gelungen schienen, wiederholte er gerne. „Erklärt diesen Entschluß in einem allergnädigsten Manifest — und Louis Bonaparte dämpft sofort die Stimme, die Engländer beißen sich in die Zunge, Österreich erhält einen tödlichen Schlag in die Brust . . . Die benachbarten Polen, die österreichischen und preußischen, werden die treuesten Freunde Rußlands, ohne sie wagen Österreich und Preußen keinen Schritt zu tun, da sie gezwungen sind, ihre überschüssigen Kräfte darauf zu verwenden, um die polnischen Gebiete zu halten, aber sie werden sie nicht halten können, denn der Repealgedanke wird ganz natürlich in den Polen entstehen, und bei der ersten günstigen Gelegenheit verschmelzen sie mit ihrem teuren Vaterlande, das heißt Galizien und Posen vergrößern die Macht Polens und Rußlands!" Jetzt hatte Pogodins Phantasie ihre ganze Spannweite wieder erreicht. „Alle übrigen Slawen und anderen Stämme, welche in Österreich unterdrückt werden, wie Tschechen, Kroaten, Serben und

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Ungarn, werden neben einem glücklichen, sich selbst verwaltenden Polen leben und selbstverständlich einen ebensolchen Spielraum erstreben. Die türkischen Slawen bleiben hinter ihnen nicht zurück — und siehe, auf einmal sind wir hundert Millionen. W i r bitten ergebenst, dagegen anzukämpfen!" Pogodin konnte sein Programm von 1856 ebensowenig veröffentlichen wie das von 1854, „Mißverständnisse mit der Zensur" verfolgten ihn noch lange. Er mußte sich damit begnügen, seine Aufsätze handschriftlich in Freundeskreisen weiterzureichen. Aber was er da, halb politischer Kanzelredner, triefend von Pathos, halb Provokateur in saloppem Zeitungsstil verkündete, war nicht nur das Selbstgespräch eines begabten, einsamen Schwätzers. Bismarck wird wenige Jahre später als preußischer Gesandter in Petersburg Gelegenheit haben, fast dieselben Gedanken in der höchsten russischen Gesellschaft, zum Teil in unmittelbarer Nähe der Regierung festzustellen.

Jedoch ehe die polnische Frage wieder brennend wurde, geriet die russische öffentliche Aufmerksamkeit für einige Jahre vollkommen in den Bann der „Großen Reform". Man beachtete es kaum, wie im eigenartigen Spiel des geschichtlichen Zufalls die größte Frage Rußlands jetzt unmittelbar aus jenem Zusammenhang mit der polnischen hervortrat, den Kaiser Nikolaus durch seine Bauerngesetzgebung in den Westgebieten geschaffen hatte. — Alexander II. wünschte im Sinne einer sozialen Versöhnung, daß die Initiative zur Bauernbefreiung vom Adel ausgehe, vergebens erwartete er aus dem Inneren Rußlands die erhoffte Aufforderung zur unvermeidlichen Tat. Die Adelsversammlungen blieben stumm; wirtschaftlich instinktlos und sozial unempfindlich, ließ der alte „Krepostnik" den neuen Typ des „reuigen Edelmannes", der sich längst schämte, sein Vermögen nach „Seelen" zu zählen, nicht zu Worte kommen. Im Westgebiet aber hatte die Bauernpolitik Nikolaus I. dem Gutsherrn die Leibeigenschaft verleidet. Der litauische Adel hatte es sogar all die Jahre lang verstanden, sich den Gesetzen von 1847, die F l e i s c h h a c k e r , Russische Antworten.

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er wirtschaftlich als untragbar empfand, zu entziehen, angesichts ihrer drohenden Durchführung wurde er schwankend . . . Der Generalgouverneur von Wilna, Nasimov, konnte diese Stimmung für die Zwecke des Kaisers nützen; im November 1857 reiste er nach Petersburg und berichtete von dem Wunsch der litauischen Adeligen, ihren Bauern die Freiheit zu geben. Der Kaiser antwortete auf diese Meldung sdiriftlidi — das sogenannte „Nasimovsche Reskript" war der Auftakt zur Bauernbefreiung. Jubelnder Optimismus bemächtigte sich der fortschrittlichen Russen. In den radikalsten Geistern erwachte die alte russische Lust am Gosudarj. Die gewagtesten Huldigungen empfing Alexander von links. „Du hast gesiegt, Galiläer", rief Alexander Herzen in London aus, und der junge „Nihilist" Tschernyschewskij stellte den Kaiser über Peter den Großen. Man übersah im ersten Rausch der Freude, daß Alexander II. nicht vom Typ der revolutionären russischen Herrscher war. Schon die Worte, mit denen der Kaiser seine Reformabsicht verkündet hatte — „es ist besser, mit der Abschaffung der Leibeigenschaft von oben her zu beginnen, als zu warten, bis sie sich von unten her selbst abzuschaffen anfangen wird" —, konnten niemals das Bekenntnis einer Schöpfernatur sein.

An Reformen in Polen dachte Alexander zunächst nicht. „Allergnädigste Manifeste", die Zauberformeln zur Beschwörung eines panslawistischen Bundes, wie sie Pogodin empfahl, sparte er — für ungelegenere Zeit. Seine erste Ansprache an die Polen hatte nichts von dem verführerischen Zauber Alexanders I., aber auch nichts von der zerschmetternden Wucht Nikolaus' I., sie war nicht freundlich, aber auch nicht imponierend, sie wirkte irgendwie peinlich. Alexander sprach von der großen Familie der russischen Kaiser — das war eine seiner oft wiederholten Lieblingsvorstellungen — er sagte, daß er wie die Finnen so auch die Polen gleich seinen anderen Untertanen liebe, und rief ihnen, wo einst Alexander I. den Sejm gebeten hatte, zu

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beweisen, daß Verfassungen kein gefährlicher Traum sind, die berüchtigten Worte zu: „point des rêveries, point des rêveries!" . . . „Ich werde, wenn es notwendig sein sollte, auch zu strafen wissen, und Sie werden sehen, daß idi streng strafe." In der Tat, Alexander änderte an dem Verwaltungskörper und der Gesetzeslage im Königreich nichts, und Herzen fragte enttäuscht, warum der Kaiser dann überhaupt in Polen gewesen sei, da doch alles beim alten bliebe; aber die „liberale Ära" dieser Jahre im Inneren Rußlands ließ Raum für die Ansätze zu einer polnisch-russischen Annäherung. Konstantin Dimitriewitsch Kawelin, der feinsinnige Jurist, Historiker und Soziologe, bemühte sich um eine Versöhnung auf der Grundlage kulturellen Verstehens und lieh der Gründung einer ersten polnischen Zeitung in Petersburg seine Hilfe. In Kawelin hatte sich ein Mann mit anspruchslosen Händen in die Lösung der polnischen Frage gemischt, ein Mann, der den beiden Hauptnchtungen seiner Zeit, dem Westlertum und der Slawophilie, ebenso nahe kam, wie er andererseits für sich allein stand. Man rechnet Kawelin zu den Westlern, aber er hielt gleichsam die Mitte in jener Kette, zu der sich die Moskauer Kreise der dreißiger und vierziger Jahre gemischt und gelockert hatten. Der berühmte Westler Belinskij war sein Hauslehrer gewesen, freundschaftliche Beziehungen zu Piotr Kireewskij und Chomjakov hatten ihn slawophilen Einflüssen zugänglich gemacht. Seine Mitarbeit an der Bauernbefreiung hatte stark im Zeichen der Slawophilie gestanden. Auch Kawelin teilte den slawophilen Glauben an die urslawische Echtheit und Unberührtheit der russischen Dorfgemeinde, das Vertrauen in die erlösende soziale Kraft des „Mir" und der „Obschtschina" mit ihrem Gemeindelandbesitz. Die Bewunderer des „Mushik", des Bauern, übersahen, daß die großrussische Dorfgemeinde viele Züge ihrer eigenartigen Verfassung erst seit dem 16. Jahrhundert unter starkem staatlichen Einfluß ausgebildet hatte. Für sie war es im Gegenteil ausgemacht, daß die Westslawen die urslawischen Gemeinschaftsformen, wie sie im Mir und in der 5*

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Obschtschina gegeben seien, eingebüßt hätten, und sie trugen diese Maßstäbe auch in die polnische Frage hinein. Unter dem bestimmenden Einfluß der Mirtheorie stand auch Alexander Herzen, dem der geistig weite, politisch aber völlig unrevolutionäre Kawelin 1859 in leidenschaftlicher Bewunderung zurief: „Repräsentant des freien russischen Gedankens, dem Größe und Zukunft bevorsteht — dir gebührt ein Lorbeerkranz!" — Herzen hatte in diesen Jahren den Höhepunkt seines Einflusses in Rußland erstiegen. Seine Zeitschrift „Kolokol", das heißt „Die Glocke", die er in London herausgab, rollte, obwohl in Rußland verboten, unter den bestechlichen Händen der Zollbeamten über die Grenze, gewann in dem politisch interessierten russischen Publikum immer größere Verbreitung, lag auf den Schreibtischen der Regierungszimmer und selbst unter den allerhöchsten Augen. Das einmal ergriffene polnische Thema hielt Herzen fest, er warb um das polnische politische Vertrauen. „Polen hat ein unveräußerliches Recht auf ein von Rußland unabhängiges Dasein, ob wir es wünschen, daß sich ein freies Polen von einem freien Rußland trennt, das ist eine andere Frage, nein, wir wünschen es n i c h t . . . ich hasse tief jede Zentralisation, aber ich bin überzeugt, daß eine Stammesföderation ein weiteres Entwicklungsfeld der Staatlichkeit gewährleistet als die Zersplitterung derselben Völkerfamilie in einzelne Teile." Herzen bot alles auf, um die Polen mit der leichten Fessel der Überzeugung zu binden, die nicht schmerzt und dodi am festesten hält. „Um zu sagen, ob man mit Rußland gehen kann oder nicht, muß man sehen, was aus der allgemeinen Bewegung herauskommt, in die sich Rußland jetzt stürzt, es ist doch nicht möglich, daß ihr wirklich nicht seht, wie der Gletscher abtaut, der uns bedrückt, Nikolaus dachte einen Krieg aus, man schlug ihn, zwei Grad weniger — er starb — zehn Grad w e n i g e r . . . " Das Verhältnis Polens zu Rußland sei nicht dasselbe wie das der Lombardei zu Österreich — der Vergleich war aktuell, Herzen schrieb während des österreichisch-italienischen Krieges: „Österreich ist kein Volk, Österreich ist eine Polizeimaßnahme, eine zusammengesetzte Verwaltung, es hat mit nichts Lebendigem zu

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tun, ruht nicht in sich selbst, ohne Teile ist es nicht, es ist das größte historische Gespenst, das je e x i s t i e r t e . . . Rußland aber ist eine lebendige Persönlichkeit... die eben jetzt auf die Völkerbühne der Geschichte t r i t t . . . " Wenn Polen dennoch eine Loslösung will, dann geschehe sein Wille, „aber ehe sie die Familienbande zerreißen, mögen sie Rußland näher kennenlernen, nicht das Rußland der Beamten und Uniformen, sondern das ackernde R u ß l a n d . . . und das denkende Rußland, dann werden sie uns ohne zwischenvölkischen Haß verlassen und ohne bittere Worte, die Beleidigung eines Volkes, mit dem sie solange kämpften, das den größten und andauerndsten Einfluß auf ihr Schicksal hatte, würde auf sie selbst den Schatten werfen . . . " Polen hatte dreißig Jahre lang schweigen müssen, in dieses Schweigen konnte man jede Art politischer Erkenntnis und Besinnung hineininterpretieren, man konnte hoffen, für freundliche Worte einen empfänglichen Boden zu finden, man konnte auch hoffen, Habenichtse zu einer vernünftigen Begrenzung ihrer Ansprüche bereitzufinden. Wieder kommen Herzen und Pogodin einander sehr nahe. Der politische Professor hatte es schon 1854 für unmöglich gehalten, daß die Polen noch an die Ostgrenzen von 1772 denken könnten. „Es ist doch nicht möglich, daß die Polen nicht vernünftiger geworden sind!" Auf die Frage, in welchen Grenzen soll Polen wiederhergestellt werden?, hatte er „die allereinfachste, klare, richtige und gerechte Antwort" gegeben, „in den Grenzen der polnischen Sprache, wo man polnisch spricht, dort ist Polen, ebenso wie dort Rußland ist, wo man russisch spricht." Auch Herzen war 1859, „was die Hauptfrage betrifft, die kulturelle Eigenständigkeit Polens", vollkommen beruhigt, „sie ist durch die Sprache schon gelöst". Aber Herzen ist, wenn auch nur schlecht und flüchtig, von der Problematik einer Grenzziehung auf dieser Grundlage unterrichtet. „ W o ist die Linie, wo Rußland aufhört und Polen beginnt, natürliche Grenzen gibt es nicht, weder Bergketten noch Flüsse, so muß man andere Grundlagen suchen, im Leben des Volkes selbst, in seinem kulturellen S e i n . . dort wo das Volk sich zur Orthodoxie bekennt, in einer Sprache spricht, die dem Russischen

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näher steht als dem Polnischen, wo es sein bäuerliches Leben bewahrte, den Mir, die Gemeindeversammlung, den gemeindemäßigen Landbesitz, dort wird es wahrscheinlich russisch sein wollen. Dort, wo sich das Volk zum Katholizismus oder zur Union bekennt, wo es die Obschtschina und den gemeindemäßigen Landbesitz eingebüßt hat — dort ist wahrscheinlich seine Sympathie für Polen stärker und es wird mit Polen g e h e n . . . " Herzen kannte Westrußland zu wenig, um zu wissen, daß auch die ukrainische Bauerngemeinde von Haus aus anders gewachsen ist als die großrussische Obschtschina. Aber er weiß doch etwas von dem besonderen Wesen der Ukraine und löst mit der Großzügigkeit des revolutionären Föderalisten ein Problem, das die offiziellen oder halboffiziellen Panslawisten in Rußland jetzt und später nicht einmal sehen wollten. Herzen denkt an die Möglichkeit, daß die Ukrainer sich weder zu Rußland noch zu Polen schlagen wollen: „Gut, dann sollen sie frei sein und beiden die Hand reichen." Aber so rasch und edel dieser Verzicht geleistet ist, so rasch tröstet auch die Hoffnung, daß er nicht notwendig sein wird: „Wenn Rußland nach der Befreiung der Bauern mit Land wirklich in eine neue Phase des Lebens eintritt, . . . dann denke ich nicht, daß die Ukraine sich von Rußland wird loslösen wollen . . . " Allmählich kam Herzen mit den Polen ins Gespräch, seine Redaktion erhielt Briefe, die polnischen Emigrantenpresse reagierte auf den Kolokol, es ergaben sich Mißverständnisse, wirklich nur Mißverständnisse versichert Herzen, „Streit gibt es zwischen uns nicht, nur ungeheure Mißverständnisse". Aber Herzen behandelte unter dieser Voraussetzung eine polnische Antwort, die sein durchaus großrussisch bestimmtes slawisches Empfinden tief verletzen mußte. Seinem Föderationsgedanken setzten die Polen eine Trennung der slawischen Welt entgegen: auf der einen Seite Rußland, „das heißt die Slawen, welche mit Finnen und turanischen Stämmen vermischt sind", auf der anderen Seite Polen und die „alten Slawen". Rußlands Aufgabe liege auf den ungeheueren Ebenen Asiens, die Berufung der anderen Slawen aber sei Widerstand gegen die germanische 70

Herrschaft und Eroberung der Türkei. Im Grunde war dieses Programm nur die allgemeine Anwendung einer auf ein ganz bestimmtes nächstes Ziel gerichteten polnischen Theorie, die von Russen und Ukrainern mit einem Aufschrei der Entrüstung vernommen wurde, als sie 1861 von Duchinski, in ein wissenschaftliches Gewand gekleidet, auf dem Büchermarkt erschien. Die Polen waren damals eben daran, ihre historischen Ansprüche auf die Grenzen von 1772 zeitgemäß auch rassisch zu unterbauen — man wies die Großrussen aus der slawischen Familie aus und erklärte, daß sie Namen und Sprache von den Westrussen genommen hätten, die als echte Slawen nur eine völkische Übergangsform zu den Polen darstellten. Herzen fühlte den Todesstoß nicht sogleich, er wollte im Gespräch bleiben. — Polen habe sich weit entfernt von den anderen Westslawen gehalten und von oben herab und gleichgültig auf sie geblickt, bei der Entwicklung des Panslawismus hätten diese Völker daher ihre Sympathien nach Rußland gewendet, daraus folge noch nicht, daß sie sich unbedingt mit Rußland vereinigen müßten — „aber ob sie sich im gegenteiligen Falle nur mit Polen föderativ verbinden, das ist noch keineswegs eine entschiedene Frage, übrigens haben sie, was sie braudien, Berge, Meere, Flüsse, Grenzen, um eine Donau- oder Karpatenföderation zu bilden, und wenn sie es wollen, dann mögen sie auch unabhängig b l e i b e n . . . " Dieses Teilen, Zusamenfassen und Wiederteilen eines halben Kontinents wurde allmählich unernst. Jedoch wer wollte es übersehen, Herzens slawischer Föderalismus war dem „slawischen Bunde" Pogodins illegitim verschwistert. Herzen zeichnete die Konturen seines neuen Osteuropa nicht mit so sicherer Hand wie sein offizieller Partner in Moskau, aber er war in einem Punkte folgerichtiger als Pogodin, der auch in der guten Hut des „slawischen Bundes" immer noch nach Rußlands strategischen Grenzen suchte — Herzen hatte zu seiner Föderation mehr Vertrauen: „Jede Grenze, die fällt, verringert die Linie der Generalstabskarte, das heißt Ströme menschlichen Blutes . . . " Herzens Kolokol war ein meuterndes Schiff auf Fernfahrt, aber zweifellos russischer Boden, die einzige Spanne Rußland, 71

auf der ein politisches Gespräch zwischen Russen und Polen möglich war, so unfruchtbar diese Auseinandersetzung blieb, Herzen verlor nicht die Geduld, und so redete sich der Kolokol allmählich in das Jahr 1861 hinein.

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1861 — Die Vorarbeiten zur Bauernbefreiung standen unmittelbar vor dem Abschluß, aber die Hoffnungen auf eine Erneuerung Rußlands durch dieses Werk, das Vertrauen in die schöpferische Kraft Alexanders II. waren längst niedergeschlagen ; nur der russische Bauer erwartete von seinem Zaren alles — alles russische Land. Kurz vor der Verkündung des Befreiungsmanifestes brachen in Polen Unruhen aus. Innerlich völlig von Rußland unabhängig, hatte sich das politische Polen im geheimen weiterentwickelt, gewartet, und endlich an der Einigung Italiens so sehr entzündet, daß nur das Bewußtsein des völligen Mangels an Mitteln den Ausbruch der Krise solange hinausgeschoben hatte. Jetzt revoltierte Polen, wie es zunächst konnte, die Frauen legten Trauerkleider an, die Geistlichkeit öffnete die Pforten der Kirchen für eine andächtige Menge, die nationale Feiern, Jahrestage der polnisch-litauischen Unionen und der Schlachten KoSziuszkos begehen wollte, die Predigt war politisch, die Prozession eine Demonstration. „Die kleinlichen Verfolgungen der Regierung haben ein Wunder getan, sie verwandelten die rückschrittliche Religion in eine nationale Opposition", seufzte Alexander Herzen. Er konnte über die Polen nur halbe Wahrheiten sagen, denn er verstand sie nicht, immer noch glaubte er, daß sie die gleiche Revolution erstrebten wie er und seine Anhänger. Aber unbewußt beneideten diese freiwillig heimat- und geschichtslosen russischen Revolutionäre die Polen um die Fähigkeit, immer wieder in einer toten Vergangenheit Wurzel zu fassen. „Sie haben Berge von Reliquien — wir leere Wiegen." 72

Der russische Außenminister und sein kaiserlicher Herr waren zunächst optimistisch. Man fühlte sich stark und populär durch die bevorstehende Bauernbefreiung und hielt einen Aufstand der Polen für unwahrscheinlich, „weil der polnische Adel ebensogut wisse wie jedermann, daß in einem solchen Falle die Kaiserliche Regierung viel mehr Schwierigkeiten haben werde, den Adel gegen die Bauern, als sich selbst gegen beide zu schützen." Als Wien die Vorfälle in Polen ernst nahm, wurde Petersburg mißtrauisch, allerdings nicht gegen die Polen; Fürst Gortschakov war der Meinung, die österreichische Regierung wolle in der allgemeinen revolutionären Krise Osteuropas ausschließlich das polnische Element in den Vordergrund stellen, um dadurch die „Sache Österreichs" von Hause aus als eine gemeinschaftliche der Teilungsmächte erscheinen zu lassen. Die Gerüchte von einer beabsichtigten Änderung der „Verfassung des russischen Polens in nationaler Richtung" bezeichnete der Kaiser persönlich als völlig aus der Luft gegriffen. Solcher Art waren die ersten Wahrnehmungen, die der preußische Gesandte in Petersburg im Januar 1861 über die Stimmung der russischen Regierung in der polnischen Frage seinem Außenminister mitteilen konnte. Am 19. Februar erließ Alexander II. das Befreiungsmanifest. Der russische leibeigene Bauer war jetzt persönlich frei, befreit von der Herrengewalt des Adeligen, befreit von dem Schimpf, zusammen mit Rind und Pferd als lebendes Inventar des Gutes aufzuscheinen, befreit von der Gefahr, zugleich mit Jagdhunden und Karossen verkauft oder am Spieltisch verloren zu werden — eine Gefahr, die Nikolaus I. menschenfreundliche, aber sozial völlig unzureichende Gesetzgebung doch nicht ganz zu bannen vermocht hatte. Aber die soziale und wirtschaftliche Erlösung brachte das Gesetz vom 19. Februar nicht. Das Bauernland war zu gering bemessen, der Loskauf zu hoch bewertet und nicht einmal obligatorisch. Und der russische Bauer glaubte — wie schon so oft —, daß der Gutsherr den Willen des Zaren unterschlage, das Gesetz verfälsche — er antwortete mit Unruhen, mit örtlichen Aufständen. 73

Ende Februar steigerten sich audi die Unruhen in Warschau. Ein Zusammenstoß mit dem Militär auf dem Schloßplatz forderte erste Todesopfer in der Menge. . . Kaiser Alexander verlangte jetzt scharfe Maßnahmen, er dachte an 1830 und an die Zitadelle, die sein Vater gebaut hatte, Warschau dürfe nicht aufgegeben werden, im Notfalle müsse man die Stadt bombardieren . . . Der Generalgouverneur von Warschau, Fürst Michail Dmitriewitsch Gortschakov, glich die Übertreibung des Kaisers durch Schwäche aus, er glaubte, eine kleine Unordnung durch kleine Zugeständnisse beheben zu können. Und in wenigen Wochen war Kaiser Alexander unter dem Einfluß seiner Ratgeber dafür gewonnen, diese Methode im großen Stil anzuwenden. Fast möchte man die drei Jahre russischer Polenpolitik, die jetzt folgen, mit jenen drei Tagen vergleichen, die im November 1830 alles entschieden. Wieder wird man Zugeständnisse im unrichtigsten Augenblick machen, aber diesmal nicht allein in Warschau — sondern auch in Petersburg. Wieder wird einem Bruder des Kaisers, es wird sogar wieder ein Konstantin sein, das Schicksal der polnischen Frage in die Hand gegeben, aber diesmal wird man den Großfürsten erst nach Warschau sdiicken, nachdem die polnische Bewegung im vollen Gange ist. Wieder wird der russische Kaiser mit dem Gedanken eines Verzichtes auf Polen bis an die Weichsel spielen, aber diesmal noch ehe der Konflikt aufständische Formen angenommen hat. Und 1863, da die Revolution nun doch endgültig ausbricht, wird auch die Ansprache des Kaisers an seine Gardeoffiziere nicht fehlen. Für die Polen lag diesmal alles anders — sie hatten kein nationales Heer wie 1830. Zwei Jahre beobachten sie, wie Rußland auf ihre Unruhe reagiert und ermüden moralisch die Regierungen in Petersburg und Warschau — um dann durch Insurgenten und Terroristen, die sich in den Wäldern sammeln, die russischen Truppen sechzehn Monate lang zu beschäftigen.

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II. A m 14./26. März 1861 unterzeichnete Kaiser Alexander II. ein Reformprojekt, das in aller Eile im Staatssekretariat für polnische Angelegenheiten in Petersburg ausgearbeitet worden war. Man hatte sich des Organischen Statuts von 1832, das niemals durchgeführt worden war, erinnert und Denkschriften aus dem „weißen" Lager Polens berücksichtigt. Der Staatsrat im Königreich Polen und die Regierungskommission für geistliche Angelegenheiten und Volksbildung wurden wiederhergestellt, gewählte Räte mit dem Recht, dem Staatsrat Vorschläge zu erstatten, in den Gouvernements, Kreisen und größeren Städten eingerichtet. Als der Außenminister Fürst Gortschakov von diesem Programm den auswärtigen Regierungen Mitteilung machen ließ, gefiel er sich in der Wendung, „daß Seine Majestät Reformen, welche durch die Entwicklung der Ideen und der öffentlichen Interessen gefordert werden, nicht nur nicht ablehnt und hinauszögert, sondern entschieden an die Sache gehend, mit ungeschwächter Folgerichtigkeit durchführt". Otto von Bismarck stand bis zum Ende seiner Petersburger Mission im April 1862 unmittelbar neben dieser Entwicklung, den konservativen Standpunkt seiner Regierung gab er unmißverständlich, aber nur vorsichtig weiter, er hatte schon am 12. März die Einstellung der leitenden russischen Männer erkannt: „Man vergißt, daß es sich hier im strengsten Sinne des Wortes darum handelt, entweder Hammer oder Amboß zu sein." Seit den Tagen Friedrich Wilhelms III. und Nikolaus' I. hatten Preußen und Rußland ihre Standpunkte in der polnischen Frage vertauscht. Die ablehnende russische Haltung gegenüber den preußischen Ratschlägen zur Festigkeit ließ Bismarck auch weiterhin Beobachter bleiben . . . Was Bismarck sah, war ein Irrgarten politischer Denkwege, ein Kreuzen zwischen Rechts und Links, ein Abwechseln von Rückzugs- und Vormarschlinien, jenes wilde Feld unveredelter politischer Triebe, das Kaiser Nikolaus zurückgelassen hatte. 75

Die russische Gesellschaft verbarg ihre Ansichten vor dem preußischen Gesandten nicht, sie führte ihn zunächst in die Geheimnisse der neueren russischen Verzichtpolitik hinsichtlich Polens ein. Bismarck spricht von dem „altrussischen liberalen Adel" und nennt dessen Ansichten „bemerkenswert". „Diese Politiker gehen von dem Grundsatz aus, daß der Besitz von Warschau eine Last für Rußland s e i . . . " , solche Auffassungen waren für Berlin keine Neuigkeit mehr, neu aber war, was Bismarck im Nachsatze mitteilte: „ . . .und daß man ohne Gefahr für letzteres die Bildung eines unabhängigen polnischen Reiches zulassen könne, welches aus dem größeren Teil des jetzigen Königreichs, aus Westgalizien und aus Posen zu bestehen hätte, während allenfalls die russisdbe Bevölkerung der größeren Osthälfte Galiziens dem Mutterlande wieder zufallen könnte." Pogodins Auffassungen waren in den Denkkreislauf der russischen Gesellschaft gelangt, und sie waren schon erstaunlich hoch gestiegen, denn Bismarck mußte feststellen: „Dieser Gedanke wird nicht bloß von politischen Phantasten vertreten, sondern einflußreiche Leute in reiferen Jahren, deren Meinung ihrer amtlichen Stellung wegen notwendig auf die Entschließungen der Regierung einwirkt, diskutierten ihn als mögliche Eventualität, ohne daß es mir gelänge, sie von der Absurdität desselben zu überzeugen." Dem scharfsichtigen Gesandten war an dieser russischen Verzichtspolitik nur eine Nuance entgangen, die den Polen selbst kein Geheimnis war, sie wußten von „gewissen russischen Liberalen, die den geheimen Wunsch hegen, daß das befreite Polen, nachdem es neue Wirren erlitten, gezwungen sein werde, unter den Schutz Rußlands zu eilen". Völlig unbesorgt waren Bismarks Gewährsmänner auch um das Schicksal der Westgouvernements: „Sie nehmen an, daß alle zur alten Krone Litauen gehörigen Landesteile der früheren Republik Polen . . . in dem gesamten Bauernstande ein so überwiegend russisches, nur äußerlich mit Polen verbunden gewesenes Element in sich trügen, daß jeder Versuch eines neuen polnischen Staates, sich weiter nach Osten auszubreiten, fruchtlos sein würde." Diese letztere Auffassung teilte Fürst Gortschakov 76

offen, der Westen Rußlands bedürfe der Russifizierung nicht, „er sei russisch". Bismarck allein erkannte das Problem in seiner ganzen Schärfe, ohne aus dem berufeneren Kreise, in dem er wirkte, Belehrung zu erfahren: „Es liegt auf der Hand, daß selbst ein auf das rein polnische Element beschränktes Polen, als stets bereiter und eroberungsbedürftiger Verbündeter jedes Feindes Rußlands oder Preußens, ein unerträglicher Nachbar sein und seinen Ehrgeiz ohne Unterlaß auf Wiedererwerbung der altpolnischen Grenzen richten würde. Man vergißt..., daß nicht nur der litauische, römisch-katholische Bauer, sondern auch der galizisch-ruthenisdie (Kleinrusse) den Moskoviten ebenso als Fremden betrachtet wie den „Ljächen" (Polen), und daß für die polnischen Bestrebungen irgendeine für Rußland oder Preußen annehmbare Abgrenzung schlechthin undenkbar ist." Aber die polnische Frage erschöpfte sich in diesen Tagen nicht mehr in mehr oder weniger außenpolitischen Problemen, sie hatte wieder einmal eine Bedeutung erlangt, die an das innere Leben Rußlands rührte. Es war eine klägliche Auferstehung des großen Planes Alexanders I., als jetzt die russische öffentliche Meinung bereit war, sich an dem Gewinn revolutionärer Erpressung zu beteiligen. Bismarck beobachtete, „wie in allen den Kreisen russischer Nationalität, welche an der Politik Anteil nehmen, die Tatsache, daß den Polen überhaupt Konzessionen gemacht sind, anstatt ihnen mit Gewalt entgegenzutreten, eine überwiegend günstige Beurteilung findet. Den wesentlichen Grund zu dieser Stimmung schreibe ich der Voraussicht zu, daß der Kaiser das, was er den Polen bewilligt habe, den Russen auf die Länge nicht werde versagen können. Das Verlangen des Adels, für das Aufgeben seiner Herrschaft über die Hälfte der bäuerlichen Bevölkerung durch mehr oder weniger ausgedehnte politische Berechtigungen entschädigt zu werden, ist allgemein . . . Der in den Universitäten und der Presse heimische Liberalismus hat sich zum Teil sehr viel weitere und andere Ziele gesteckt... Einstweilen stimmen . . . die Politiker aller Farben darin überein, daß es so, wie es ist, nicht bleiben könne. Eine Partei oder auch nur einzelne Staatsmänner von Einfluß, welche die Beibehaltung 77

der bestehenden Einrichtungen des russischen Reiches für wünschenswert oder möglich hielten, scheint es nicht zu geben. Änderungen verlangen alle: die Gemäßigten wenigstens Einrichtungen für Rußland gleich den neuen polnischen, vorbehaltlich weiterer Ausbildung, und den exzentrischen Köpfen schwebt das Ideal slawischer Konföderationen bis nach Böhmen, Illyrien und Griechenland hinein, mit mehr oder weniger demokratischen Grundlagen als erreichbar vor, sobald die Fesseln des Absolutismus den Aufschwung nicht mehr hemmen würden, zu welchem sie die russische Nation prädestiniert halten." Pogodin hatte nicht ohne Erfolg seine Manuskripte, die eine verständnislose Zensur zurückwies, von Hand zu Hand gegeben, Herzen nicht vergeblich seinen Kolokol nach Rußland geschmuggelt. Man kann nur noch fragen, ob ihre Gedanken mehr das Ergebnis oder mehr die Erreger dieser wirbelnden öffentlichen Meinung waren. Bismarck erlebte dieses Rußland, in dem die Lektüre des Kolokol zumindest zum guten Ton gehörte. „Es ist kaum möglich, sich anders als aus eigener Erfahrung eine Vorstellung von den ausschweifenden Phantasien zu machen, welchen sich gebildete Russen auf dem Gebiete der internationalen Politik hingeben..." Ein scharfes politisches Auge sah durch die Fenster eines Gesandtschaftspalais ein ganzes Reich. Der Historiker steht vor der seltenen Tatsache, daß Gesandtenberichte des 19. Jahrhunderts Entscheidendes zur inneren Geschichte, zur Ideengeschichte eines europäischen Staates aussagen. Die russischen Zeugnisse bestätigen nur im einzelnen und in der Fülle, was Bismarck im Wesen erfaßt hat. Da wird es zunächst klar, daß sich in Rußland die Stimmung des Krimkrieges erhalten hatte, man war bereit, Niederlagen der Regierung zu bejahen, um der Auflockerung der eigenen inneren Struktur, um der „Reformen" willen. Aber diese Grundstimmung war jetzt noch unsittlicher geworden als 1855 oder 1856, ein merkwürdiger Ausgleich zwischen innenpolitischer Ideenlosigkeit und zügelloser außenpolitischer Phantasie hatte stattgefunden, eine Solidarität der Richtungen, die eine wechselseitige Bastardisierung der Meinungen war. Es war gewiß nicht Schwäche politischen Unlerscheidungs78

Vermögens, wenn Bismarck gelegentlich von der Wiedergabe liberaler Auffassungen ohne Ubergang zur Charakteristik panslawistischer Gedankengänge kam. Eine Systematik der einzelnen politischen Richtungen gab es nicht, eine Idee floß in die andere über und alle entstellten einander wechselseitig. — Das tanzte vor dem staatsmännischen Auge und irrlichterte über einen politischen Boden hin, der nie mehr gesund wurde. Selbst die klägliche Bereitschaft, von einem unterdrückten völkischen Nachbarn Einrichtungen zu borgen, die man sich zuvor gerne abtrotzen ließ, und die überhebliche Überzeugung, eine ganze slawische Welt nach dem eigenen, noch unerschlossenen Wesen gestalten zu können, stellen nicht so sehr absolute Gegensätze dar, als die äußersten Quellpunkte eines allgemeinen Dranges, eine tote Gegenwart zu beleben. Alexander II. hatte dem Wirbel dieser Strömungen nicht standgehalten. Er hatte um der Russen willen in der polnischen Sache eine nachgiebige Haltung angenommen — nichts könnte deutlicher machen, wie sehr sich Rußland seit den Tagen Alexanders I. verändert hatte. Bismarck berichtete am 4. April 1861 nach Berlin: „Den Erlaß der neuen polnischen Institutionen vermag ich mir nur dann zu deuten, wenn ich ihn als ein Ergebnis von Einflüssen ansehe, welche das edle Streben des Kaisers nach dem Glücke seiner Völker für Tendenzen dienstbar zu machen wissen, deren wahre Ziele von Sr. Majestät nicht erkannt und nicht gewollt w e r d e n . . . " Und am 11. April berichtet er nadi einer Aussprache mit Gortschakov: „ . . . es war überraschend, wie ich aus dem Munde des kaiserlichen Ministers die identischen Redewendungen wiederhörte, mit welchen die in Betreff Polens eingeschlagene Richtung in liberalen Kreisen... mir gegenüber erläutert wurde. Fürst Gortschakov ist Aristokrat und dabei praktischer Staatsmann an der Spitze der Geschäfte; auf große Umwälzungen und auf lähmende Einschränkungen der kaiserlichen Gewalt, deren wesentlicher Teil zu seiner eigenen Disposition steht, ist daher sein Sinn nicht gerichtet; aber eine öffentliche Arena für seine Leistungen, Einrichtungen, welche 73

Rußland vor Europa den Nimbus westlicher Zivilisation verleihen, die dankbare Anerkennung seiner Standesgenossen vom hohen Adel sind ihm einerseits ebensosehr Bedürfnis, als er andererseits von der Beteiligung der Besseren unter der Aristokratie und von größerer Publizität der Staatsgeschäfte wirkliche Vorteile für sein Vaterland und namentlich ein Gegengewicht gegen die Korruption des Beamtenstandes erwartet. . ." „Er selbst sieht eine Ungunst des Schicksals darin, daß der Glanz seiner persönlichen Gaben nur durch die Vermittlung geschriebener Depeschen und nicht durch eine öffentliche ministerielle Tätigkeit in parlamentarischen Versammlungen der Mitwelt zur Anschauung gebracht werden kann." Im April 1861 leugnete Fürst Gortschakov noch einen Zusammenhang zwischen der neuen Innenpolitik in Polen und einer beabsichtigten Verfassungsänderung in Rußland. „Es sei weder nötig noch ratsam, die Polen und Russen in übereinstimmender Form zu regier e n . . . " , aber im November bekannte er, daß „analoge Institutionen, wie die den Polen vom Kaiser verliehenen . . . für Rußland s e l b s t . . . anwendbar und wünschenswert seien." Bismarck zweifelte nicht an der positiven Staatsgesinnung des Fürsten: „Ich bin . . . überzeugt, daß er . . . seinem kaiserlichen Herrn und seinem Vaterlande die besten Dienste zu leisten glaubt, selbst in dem Falle, daß er wirklich daran arbeiten sollte, Rußlands innere und auswärtige Politik Zielen entgegenzuführen, welche er dem Kaiser nicht in ihren vollen Konsequenzen zur Anschauung bringt..."

Am 8. April 1862 wird Otto von Bismarck Alexander II. sein Abberufungsschreiben überreichen, und bei dieser Gelegenheit wird sich der russische Monarch in stärksten Worten zu der traditionellen russisch-preußischen Freundschaft bekennen, aber der preußische Gesandte hat schon ein Jahr zuvor die historische und politische Erkenntnis gewonnen, „daß . . . die russische Politik trotz aller Familienanhänglichkeit des Kaisers ihre eigenen wahren oder vermeintlichen Interessen ohne Rücksicht-

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nähme auf die unsrigen oder die Österreichs zu verfolgen bereit ist, vom Gefühl der Solidarität mit uns wird sie nidbt mehr beherrscht"... Zehn Jahre lang hatte Kaiser Alexander I. die außenpolitische Lösung der polnischen Frage reifen lassen, mehrmals hätte er zwischen 1805 und 1815 nur die Hand auszustrecken brauchen, um ein Polen zu ergreifen, dessen Grenzen mehr oder weniger in seinem Belieben lagen — er zog es vor, seine polnischen Pläne erst in dem Augenblick an der politischen Wirklichkeit zu messen, als er sich dem Einfluß seiner westlichen Nachbarn auf deren Gestaltung nicht mehr entziehen und mit russischen Zugeständnissen die Garantie Österreichs und Preußens verbinden konnte. Kaiser Nikolaus hatte dann seine gesamte Polenpolitik auf die Grundlage der Interessengemeinschaft der Teilungsmächte gestellt, die er sogar durch neue Abtretungen an seine Bundesgenossen zu stärken geneigt war. Jetzt erfolgte die Zersetzung des russischen Solidaritätsgedankens von unten her, griff aus einer allmählich sich politisierenden Gesellschaft die überlieferten und dem Kaiser noch genehmen Maximen der Regierungspolitik an. Was Alexander I. schon an einem schwachen preußischen Staat begriffen hatte, die Notwendigkeit einer tragfähigen Landstütze Ostpreußens und Schlesiens —, das wird das öffentliche Rußland an einem starken Deutschen Reich nicht mehr begreifen. *

Die ablehnende Haltung der breiteren russischen Öffentlichkeit gegenüber Deutschland stammle nicht so sehr aus dem Panslawismus, als sie ganz umgekehrt die allslawische Interessengemeinschaft jedermann leicht verständlich machte. Das war eine logische Verwirrung des politischen Denkens; was zur Not als Folge taugen mochte, trat als Ursache auf, aber das Bedürfnis der russischen öffentlichen Meinung fragte nicht danach, ob der Inhalt oder der Rahmen, das Ziel oder das Hindernis an erster Fleischli acker, Russische Antworten.

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Stelle stand, übrigens ist die Geschichte der inneren russischen Haltung gegenüber dem Deutschtum eigenartig genug. Der deutsche Gelehrte August Wilhelm Schlözer — der Vater der Slawistik — und Johann Gottfried Herder hatten an der Wende des Jahrhunderts die geschichtsblinde Lehre von den sanften, in den holden Geschäften des Friedens ihr Genügen findenden Slawen im Gegensatz zu den kriegerischen gewalttätigen Westvölkern aufgestellt. Rasch hatte sich diese Lehre in Osteuropa verbreitet. Und als Hegel verkündete, daß der Weltgeist in nacheinander geschichtlich berufenen Völkern seine Wohnung nehme, entdeckte der Russe hinter der schamvoll empfundenen Rückständigkeit seiner Gegenwart eine völkische Jugendlichkeit, der die Zukunft im Sinne eines hegelianischen Weltgeschehens gehören sollte. — Philosophisch origineller und politisch erregender war die aus einem wirklichen politischen Geschehen heraus gestellte Problematik der Slawophilen: Peter der Große habe mit der nationalen Eigenentwicklung Rußlands gebrochen, seine Reform, nach den Vorbildern germanischer Staaten und mit Hilfe von Männern germanischer Herkunft durchgeführt, habe die oberen Schichten Rußlands dem Volke entfremdet. Diese Theorie war ebenso groß in ihren Fehlern wie in ihren Wahrheiten. Zweifellos hatte sie viel für sich; was könnte ihre historische Echtheit besser beweisen als die Tatsache, daß die „Raskolniki", die Altgläubigen, schon zu Lebzeiten dieses Zaren behauptet hatten, Peter sei gar nicht der echte Zarensohn, sondern ein unterschobenes Kind aus der „Deutschen Vorstadt" Moskaus. Wirklich, Peter der Große, der letzte vollrussische Zar, war in seinem Denken und Tun ein rassisches Rätsel, auf das die altgläubige Legende eine sehr tiefe Antwort gegeben hatte, und ebenso tief, aber in einem gewissen Sinne ebenso primitiv wie die abergläubische Deutung der Raskolniki war die Problemstellung der Slawophilen. Man glaubte sich durch eine artfremde Kultur auf falsche Wege geführt, lehnte die neue Hauptstadt Peters — Petersburg — als das Sinnbild, als den geographischen und kulturellen Ausgangspunkt der Überfremdung ab, und glaubte, die Wiedergeburt

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Rußlands nur aus den von der Reform unberührt gebliebenen Gefilden des Bauerntums erwarten zu können, das zugleich die reinste Überlieferung des Urslawentums durch die Jahrhunderte mit sich geführt hätte. Aber dieser slawophile Einfall war zugleich eine geschichtsphilosophische Fahndung nach dem Schuldigen an dem trostlosen geistigen und materiellen Zustand Rußlands — man ertappte ihn jetzt leicht in der Vergangenheit und Gegenwart an den zahllosen deutschen Namen unter den Männern der russischen Diplomatie, des Heeres und der Verwaltung. Die geschichtsschwere und in ihren Einzelheiten und Feinheiten niemals unter die Menge zu bringende Lehre der Slawophilen hat so gleichzeitig die denkbarste Vereinfachung der politischen Selbsterziehung und Meinungsbildung der russischen Gesellschaft geschaffen, die leicht zu pflückende Frucht einer scheinbar tiefen allgemeinen politischen Erkenntnis. Dieses innenpolitische Ressentiment gegenüber dem Deutschtum gab den Grundton in den außenpolitischen Disharmonien. Ganz eng war der Kreis der zünftigen Slawophilen, aber als Schlagworte — „Obschtschina" oder „Petersburg" — stahlen sich ihre Begriffe aus den Philosophenstuben fort, vergröberten in der rauheren Luft der Tagespolitik und reizten das politische Vorstellungsvermögen der öffentlichen Meinung. Wieder hatte Alexander Herzen in London die erste Möglichkeit, hochpolitisch zu formulieren, was in Rußland noch die Zensur „in der Sprache Äsops" auszudrücken zwang: „ . . . Mögen jene Völker für ihre Vergangenheit verantwortlich gemacht werden, deren Nabelschnur mit der Geschichte noch nicht zerschnitten i s t . . . so wie die Reform Peters die Moskauer Ordnung zerschlagen hat, wird die bevorstehende Reform die Petersburger Ordnung zerschlagen, der erste organische völkische Gedanke, der aus diesen Schneegipfeln hervorkam, trägt in sich schon den Keim einer Befreiung vom deutschen Joch . . . " In diese Problemstellung wird auch die polnische Frage eingeschlossen. „Ein freies Polen reißt uns aus der deutschen Umarmung", schrieb Herzen unter dem Titel „Vivat Polonia!" am 15. März 1861 im Kolokol. — Im August dieses Jahres flieht Michail Bakunin aus der sibi-

rischen Verbannung und trifft am 17. Dezember in London im Hause Herzens ein, gerade rechtzeitig, um sich von der ersten Stunde der Freiheit an wieder dem Rausch der Revolution hinzugeben, den er seit seiner Verhaftung im Jahre 1848 entbehrt hatte. Im Februar 1862 veröffentlicht der Kolokol Bakunins Aufruf „An die russischen, polnischen und alle slawischen Freunde" : — „Solange wir über Polen herrschen, müssen wir Sklaven der Deutschen bleiben", nur die vereinigten Kräfte der „drei deutschen Mächte" vermögen Polen unter dem Joch zu halten, „wir müssen aufhören, Petersburger Deutsche zu sein . . . , wir müssen aufhören, uns selbst zu vernichten und unseren einzigen Ausweg, unsere Zukunft in Polen; solange wir es unterdrücken, haben wir keinen Weg in die slawische Welt."

Ende 1861, Anfang 1862 meldeten sich die Slawophilen in der polnischen Frage selbst zum Wort, zunächst in der Person eines Mannes, der mehr Propagandist als Schöpfer war — Iwan Aksakov. Auch er glaubt an die freiwillige Rückkehr eines aus dem russischen Verbände entlassenen Polens. Rußland brauche sich nur aus Polen zurückzuziehen, und in einigen Jahren werden die Polen selbst — „und zwar diesmal eine freiwillige und aufrichtige Vereinigung mit Rußland suchen". Aksakov ist überzeugt, daß früher oder später die „engste und vollständige, aufrichtige Vereinigung eines slawischen Polens mit einem slawischen Rußland" kommen muß, daß der „unbeugsame Weg der Geschichte dazu führt", und daß es besser wäre, „angesichts einer solchen unvermeidlichen geschichtlichen Entscheidung" allen Gefahren des Zwistes zuvorzukommen und sich freiwillig gegen die Feinde des gesamten Slawentums zu verbinden. Allenthalben begegnen wir diesem gleichen Gedanken, auch Kawelin, der „Westler", sieht einen zwangsläufigen Zusammenhang zwischen Verzicht und Wiedergewinn und die Einbettung Polens in die allslawische Sache. Er schrieb zur selben Zeit an Alexander Herzen: „Käme der russischen Regierung der glückliche Gedanke, auf Polen zu verzichten, so würde sich ein wunderbares

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Schauspiel zeigen, es würde Polen wieder zu uns ziehen, weil hinter der polnischen Frage eine ungleich wichtigere, die slawische steht, in welcher man sich ohne Rußland nicht rühren kann..." In Iwan Aksakov stellte die Slawophilie einen der fruchtbarsten und anregendsten Publizisten zur polnischen Frage. Schon in seinem ersten Artikel, den er in seiner Zeitung „Denj" noch im November 1861 veröffentlichte, warf Aksakov ein Schlagwort in die Debatte, das Schule machte. Er sprach, allerdings nur ganz nebenbei, von dem „polnischen Verrat an den slawischen Grundlagen". Zwei andere Slawophile, Hilferding und Samarin, werden diesen Gedanken 1863 zum System entwickeln, Konstantin Kawelin sah schon 1862 die Auseinandersetzung zwischen Russen und Polen halb slawophil: „Durch gegenseitige Reibung heilen wir uns von Roheit und Unsinnigkeit, sie sich aber von den nichtslawischen Säften und Skrofeln, von denen sie strotzen." Und Kawelin hofft auf die Annäherung, welche „durch die gegenseitige Wiedergeburt, durch das Bewußtsein der Einigkeit in dem tiefen Hauptunterschied mit der europäischen Synthese verursacht wird". Iwan Aksakov hatte auch einen neuen Einfall. Im Mittelpunkt der slawophilen Verehrung für die Einrichtungen des vorpetrinischen Rußlands stand der „Semskij Sobor", jene beratende ständische Versammlung, deren sich die Zaren des 16. und 17. Jahrhunderts ohne Beeinträchtigung ihrer absoluten Machtvollkommenheit bedient hatten. Während die russischen Liberalen von einem Parlament träumten, ersehnten die Slawophilen und ihre Anhänger im festen Glauben an seine slawische Echtheit und erneuernde Kraft — den Semskij Sobor. Die Liberalen hofften, daß eine polnische Verfassung auf die Dauer nicht ohne Gegenstück in Rußland bleiben könne, Aksakov schlug vor, einen polnischen Sejm nicht nach der alten Art, sondern nach dem Muster des Semskij Sobor, aber mit unbedingter Zuziehung der Bauern, zu berufen, der über den Verbleib Polens bei Rußland entscheiden sollte. Schüchtern legt Aksakov das Geständnis ab, daß audi er die Rückwirkung einer solchen Verfassungsänderung in Polen

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auf Rußland erhofft. „Von der Regierung würde es abhängen, ob man der Stimme des polnischen Volkes die Stimme des russischen gegenüberstellen will — einem polnischen Sejm einen russischen Semkij Sobor." So gingen jetzt alle politischen Wünsche der Russen in Polen vor Anker, um etwas von jener politischen Wirklichkeit an Bord zu nehmen, die in Rußland nicht mehr heimisch zu sein schien. Aber auch der Ruf nach einer beratenden Vertretung war nicht auf die kleine Welt der Slawophilen beschränkt geblieben. Die eigenartige Verflechtung von Rechts und Links, von übernommenen und bodenständigen politischen Gedanken reichte ihn weiter. Selbst die Vorstellungen des Fürsten Gortschakov von einer russischen ständischen Vertretung standen dem slawophilen Ideal zumindest äußerlich näher als einem Parlament. Gortschakov war überzeugt, daß die Autokratie für Rußland „nodb" unentbehrlich sei. „Es schließe dies aber nicht aus, daß die kaiserliche Selbstherrschaft von beratenden Elementen unterstützt werden könnte, welche neben ihr Platz fänden und eine lebendigere Beteiligung der gebildeten Klassen an den Regierungsgeschäften zu vermitteln geeignet wären." Das Recht der Gesetzgebung bleibe dem Kaiser ungeschmälert, „auch wenn er sachverständigen Rat entgegenzunehmen und die Wünsche seiner Untertanen durch verschiedenartige Organe kennenzulernen suche". Alexander II. selbst bekannte, daß für ihn „der Gedanke, auch den Rat anderer Untertanen als der Beamten zu hören, an und für sich nichts Widerwärtiges habe, und daß eine größere Beteiligung achtbarer Nobilitäten an den öffentlichen Geschäften letzteren nur förderlich sein könne". Aber er empfand sogar Neuerungen solcher Art als „liberal" — und sie stammen auch — so wie sie dem Kaiser nahegebracht wurden — aus einem anderen Geist als der slawophile Semskij Sobor. Alexander II. mißtraute auch der Möglichkeit, „der liberalen Entwicklung eines Landes an der Linie, welche dieselbe nicht überschreiten solle, mit Erfolg Stillstand zu gebieten". Vor allem aber dürfe der fast religiöse Glaube des Volkes an die Machtvollkommenheit des Zaren nicht verletzt werden. „Ich würde, ohne etwas dafür zu gewinnen, nur die «86

Autorität der Regierung vermindern, wenn idi irgendwelche Vertreter des Adels oder der Nation an ihr teilnehmen ließe . . . " Es war die Tragik der letzten Zaren, daß sie an die Unwandelbarkeit und Unvermischtheit der Weltanschauung des russischen Bauern glaubten und seinen wirklich noch starken Glauben an den Herrscher mit starrem Götzenkult verwechselten. So gab es auch in dieser Frage, die jedem echten Russen am nächsten war, keine Verständigung zwischen dem „Gosudarj" in Petersburg und den Slawophilen in Moskau, die den Bauern, den „Mushik", zwar idealisierten, aber seinen urwüchsigen Hang zu bewußtem öffentlichen Leben doch erahnten . . . Den polnischen Problemen stand Alexander II. ohne Illusion gegenüber, es lag ihm ferne, etwa an eine Lösung im Rahmen einer neuen Reichspolitik zu denken. W i e einst sein Vater war er sogar „nicht abgeneigt, Polen teilweise aufzugeben" und gestand dies Bismarck „mit dürren Worten". Sein Gedankengang ähnelte den negativen Voraussetzungen Michail Pogodins, „Polen wäre eine Quelle von Unruhe und europäischen Gefahren für Rußland", und Alexander sprach von einer strategischen Grenze, — die Weichsel und „Warschau als Brückenkopf". — Fast aus derselben politischen Müdigkeit wie dieser unbekannt gebliebene Verzichtsgedanke stammte auch Alexanders Reformpolitik in Polen.

Indessen wuchsen in dem Maße, wie des Kaisers Zugeständnisse sich steigerten, auch die Unruhen in Polen. Ende Mai 1862 erfolgte ein allerhöchster Ukas: „Seiner Kaiserlichen Hoheit, unserem allerliebsten Bruder, befehlen wir, Statthalter in unserem Königreich Polen zu s e i n . . . " Im Juni begab sich Konstantin Nikolaewitsch nach Warschau, um gemeinsam mit dem Marquis Wielopolski — dem einzigen Polen, der bereit war, mit Petersburg zu regieren — das Werk der Reform und Befriedung zu stärken und zu vollenden. Inmitten von Demonstrationen und Attentaten begannen beide ihr Werk. Die Rolle Wielopolskis, der in seinem Volke keine Stütze fand, und der unbedingte Ver-

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söhnungswille des Großfürsten gaben den Polen nur Gelegenheit, die täuschende Hoffnung der Russen auf eine friedliche Regelung zu verlängern. Im August 1862 richteten dreihundert polnische Adelige an den Grafen Zamojskj als den „Vertreter und Deuter des Geistes der Nation" eine Denkschrift mit der Bitte, diese dem Großfürsten zu übergeben: „Als Polen können wir eine Regierung nur dann unterstützen, wenn sie eine polnische Regierung geworden ist, und wenn alle Gebiete, welche unsere Heimat bilden, vereint werden und sich einer Konstitution und freier Einrichtungen erfreuen werden . . . Der Großfürst selbst hat in seinem Manifest unsere Anhänglichkeit an unsere Heimat hervorgehoben, aber diese Anhänglichkeit kann nicht zerteilt werden, wenn wir unsere Heimat lieben, dann in ihrer Gesamtheit, in den Grenzen, die ihr Gott gezogen und die die Geschichte geheiligt hat." Und im Oktober und November richteten die polnischen Adeligen von Podolien und Minsk an die Regierung die Bitte um Vereinigung ihrer Gouvernements mit dem Königreich . . . Es bedurfte nicht erst dieser krassen Beweise, schon seit den ersten Demonstrationen an den Jahrestagen der polnisch-litauischen Unionen wußte ganz Rußland, daß die Hoffnung, Polen hätte seine Ostgrenzen von 1772 vergessen, irrig war. — Selbst polnische Stimmen, die die Grenze von 1667 verlangten, wurden mitunter laut. In der Frage der Westgebiete aber waren die Russen aller Richtungen eines Sinnes. Vergeblich bemühten sie sich, das polnische Interesse auf das preußische und österreichische Teilgebiet abzulenken. Iwan Aksakov gestand der Gräfin Bludowa: „Ich liebe die Polen nicht und habe sie wegen ihrer Ansprüche auf Kiew tüchtig gescholten — doch kann ich sie wegen ihrer Absichten auf Warschau, Posen und Krakau nicht tadeln", und im Denj drückte er sich im selben Sinne, wenn auch gewundener aus. Pogodin fühlte sich unangenehm berührt von dem „tiefen und bedeutungsvollen Schweigen" der Polen über „Posen und Schlesien, O s t - und Westpreußen, den polnischen Teil Galiziens und sogar über Krakau, die bis vor kurzem unabhängige Wiege Polens". Gerne wollte man die Polen auf

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fremde Kosten schadlos halten, aber selbst hatte man nichts an sie abzutreten, eher etwas zu verlangen. Pogodin stellt eine russische territoriale Forderung an das Königreich Polen, die audh Bismarck als Verlangen der russischen Gesellschaft bekannt war: „Einen Teil der Gouvernements Lublin und Augustowo, besiedelt von unserem russischen Stamm"; es war im wesentlichen die Forderung nach der Ausgliederung des Cholmer Landes aus dem Königreich Polen, welche die nationale russische Öffentlichkeit fortab stellte. Auch von den russischen Revolutionären in London konnten die Polen kein Verständnis für ihre historischen Ansprüche auf das russische Westgebiet erwarten. Herzen und Bakunin verkündeten das uneingeschränkte Selbstbestimmungsrecht der Nationen und nahmen damit eine Haltung an, deren politische Selbstlosigkeit in der Diskussion gefährlicher war als der nicht mehr ganz unbestrittene ethnische Reditsanspruch der nationalen Russen auf Ukrainer und Weißrussen. Herzen hatte schon 1859 in der Antwort an einen polnischen Korrespondenten mit höflicher Ironie bezweifelt, daß der Adel die Nationalität eines Gebietes ausdrücke. Bakunin nennt in seinem Aufruf an die „slawischen Freunde" den polnischen Standpunkt in der Grenzfrage einen Irrtum, allerdings einen „überaus verständlichen und verzeihlichen Irrtum, denn sie sind ihrer Nationalität b e r a u b t , . . . sie sehen mit leidenschaftlichem Schmerz in die Vergangenheit" — die bedingte Anerkennung der Fragestellung des Gegners als Voraussetzung der Diskussion läßt auch er sich angelegen sein. Aber Bakunin verlangt, nachdem er sein Verständnis für die Rückwärtsgewandtheit der Polen beteuert hat, die Abkehr vom historischen Polen, das in einer Zeit, da „überall das Volk laut seinen Willen fordert", unmöglich sei. „Wird die Wiedervereinigung Litauens, Weißrußlands, Livlands, Kurlands und der Ukraine mit Polen möglich sein, wenn die litauischen, weißrussischen, livländisdien, kurländischen und ukrainischen Bauern das nicht wollen? . . . Erklärt ein bäuerliches Polen, dann werden viele dieser Stämme und, falls Rußland hinter Euch zurückbleibt, vielleicht alle mit Euch g e h e n . . . Zwischen Rußland und Polen darf es fortab nur noch einen Kampf geben,

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den Kampf der Anziehungskraft des einen oder des anderen auf die zwischen ihnen lebenden Völker. Wessen geistige Faszination die stärkere ist, wo die Völker ein freieres Leben erwartet, dorthin werden sie g e h e n . . . " Bakunin ahnt die großrussische Entrüstung über diese Aufforderung zu einem gleichberechtigten Kampf, aber er fühlt sich schuldlos, denn auch für ihn ist die Entsagung nur Mittel zum Wiedergewinn, und er vergißt für einen Augenblick, wie alle seine Landsleute, daß er nicht allein vor ihnen spricht. ,,.... O b wir wollen oder nicht, wir werden alles gewaltsam Festgehaltene und Angegliederte aufgeben müssen, es bleibt uns nur eines, freiwillig die vollkommene Unabhängigkeit und Freiheit aller uns umgebenden slawischen und nichtslawischen Völker anzuerkennen, und seid überzeugt, sobald wir das tun, werden sich alle unsere Nachbarn unvergleichlich näher und fester mit uns vereinigen, als sie uns jetzt verbunden sind. Wir werden den Slawen notwendig sein, wir werden den Polen selbst notwendig sein. Sie werden uns selbst rufen, wenn die Stunde des gemeinslawischen Handelns schlägt, wenn es notwendig sein wird, die slawischen Länder . . . zu verteidigen . . . " ü b e r einen weiten Weg war Bakunin so zu der Kreuzung, an der Panslawisten und Slawophile standen, zurückgekehrt. Bakunin suchte zur selben Zeit auch die revolutionäre Tat. Wie die Liberalen in Polen die russische Konstitution suchten, so suchten Herzen und Bakunin in Polen die russische Revolution. Immer noch auf den Pfaden weiland Kaiser Alexanders, — immer noch nährten Russen in Polen, am polnischen Wesen, eine innerrussische Sache, allerdings für die russischen Revolutionäre war Polen nicht mehr Vorbild, der revolutionäre Atem Polens sollte nur noch ihre schlaffen Segel spannen. Was Herzen und Bakunin erstrebten, das war der Aufstand der russischen Massen, der bäuerlichen Massen, die Erneuerung der slawischen Welt und sei es Europas aus der sozialen Formkraft des großrussischen Bauerntums. Herzen empfand es als größtes Glück, daß die russischen Unterschichten so spät mit dem Westen in Berührung kämen. Bei einem früheren Zusammen90

treffen mit der westlichen Zivilisation, solange diese noch „voll des Glaubens an sich selbst war, hätten wir die petrinisdie Arbeit im Innern fortgesetzt und wahrscheinlich die schlichten bäuerlichen Schreine zerbrochen, die unser einziges Erbgut sind . . . wahrscheinlich hätten dann Katholizismus und römisches Redit auch uns an das Schiff gefesselt, das jetzt untergeht... der gemeindemäßige Landbesitz, der Mir, . . . alles wäre zerstört worden wie in Polen . . . " „Stellen Sie sich jetzt das Ergebnis vor, wenn dieser sechste Teil der E r d k u g e l . . . befreit von den deutschen Ketten, den Proletarier des Westens anruft und beide gewahr werden, daß im Grunde ihre Sache dieselbe i s t . . . " Dieser großrussische Glaube an die soziale Mission der „Obschtschina" wird auch die sozialistischen Geheimbünde Rußlands noch jahrzehntelang führen, erst der Marxismus wird dieses nationale Protoplasma des russisdien Sozialismus zerstören . . .

Für die polnischen Aufständischen war das Bündnis mit den russischen Revolutionären ebenso notwendig wie unerwünscht. Herzens Einfluß in Rußland schien groß, sein revolutionäres Ansehen bedeutend, selbst der Prinz Napoleon suchte anläßlidi eines Aufenthaltes in London im Sommer 1862 persönliche Fühlung mit ihm. Herzens Beziehungen zu der ersten sozialistisdien Geheimgesellschaft in Petersburg, „Semlja i Wolja" (Land und Freiheit), schufen auch die Verbindung zwischen den polnischen Aufständischen und den russischen Revolutionären. Ende September 1862 überbrachten ihm drei Polen einen Brief des „Zentralen Nationalkomitees" in Warschau, eine Erklärung, die in Rußland wirken sollte. Bakunin übertrieb vor den Besuchern die revolutionären Kräfte Rußlands. Herzen versudite abzuwehren: „Eine Organisation, der wir sagen könnten, geh nach rechts oder geh nach links, besitzen wir nicht." In der Bauern- und Grenzfrage trachtete man, sich irgendwie aneinander anzupassen. Aber Herzen hatte, als er den gemeinsam redigierten Wortlaut des polnischen Manifestes in die Druckerei schickte, den Eindruck, daß die Polen „für das Bauernland wenig Interesse haben,

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dafür um so mehr für die Provinzen". Dennodi blieb er im Banne der polnischen Sache. Der Kolokol rief das russische Heer zum Ungehorsam und zur Verbrüderung mit den Polen auf, brachte das Manifest eines revolutionären „Komitees russischer Offiziere in Polen" und begrüßte am 1. Februar 1863 den Ausbruch der offenen bewaffneten Rebellion mit einem „Resurexit".

III. In der Nacht vom 10. auf den 11. Januar 1863 hatten die Aufständischen im gesamten Königreich mit Ausnahme W a r schaus die russischen Truppen in ihren Quartieren überfallen. Am 13. Januar machte Alexander II. seinen Gardeoffizieren von diesen Vorfällen Mitteilung: „Ich weiß, daß die polnischen Revolutionäre auf Verräter aus Euren Reihen rechnen, aber sie erschüttern nicht meinen Glauben an die Treue meiner ruhmreichen Armee . . . " — W i e tief mußte seine Sorge sein! Am 19. Februar, am Jahrestag der Bauernbefreiung, streute die Semlja i Wolja Flugblätter, Aufrufe an die russischen Truppen zur iVleuterei. Dennoch war Alexanders II. „liberale Ära" noch nicht zu Ende. Noch im Februar hörte das staunende Rußland, daß die Polen jene „habeas corpus"-Akte zurückbekommen sollten, welche die Verfassung von 1815 gewährt hatte. Nicht einmal die Slawophilen konnte diese Bevorzugung einer meuternden Nationalität mehr ertragen. „Wir können auf diese Verfügung unserer Regierung hinsichtlich Polens nur mit voller Sympathie antworten", schrieb Iwan Aksakov im Denj, „es ist doch nicht möglich, daß die Polen die ganze Wohltat dieses neuen Gesetzes nicht zu schätzen wissen? Wir Russen wenigstens würden es zu schätzen v e r s t e h e n . . . Eine Regierung, die so großmütig und freiwillig sich ihrer Prärogative begibt, Menschen ohne Angabe des Grundes zu verhaften . . . ohne Gerichtsverfahren ins Gefängnis zu werfen in Form einer administrativen Maßnahme . . . , eine solche Regierung verdient Preis und D a n k b a r k e i t . . . " Hoff-

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nungslos war der Geist einer Regierung, die solches Lob ertrug. Mitleiderregend ist Aksakovs Beglüdcwünsdiung der Polen, „die von allen Untertanen des russischen Kaisers mit Ausnahme des Großherzogtums Finnland allein einer solchen Aufhebung der im übrigen Rußland bis jetzt geltenden Ordnung für würdig befunden wurden". Und Alexander II. hat noch eine andere große liberale Geste vor, er wird im Juni den finnischen Landtag einberufen, den ersten seit 1809. Binnen kurzem griff der polnische Aufstand auch auf die Westgebiete über, und gleichzeitig mit dieser inneren Erschwerung der Lage begann die ausländische Intervention in der polnischen Frage drohende Formen anzunehmen. Rußland stand einer unerwarteten Revolution gegenüber, deren Ausbreitung noch nicht abzusehen war, und gewärtigte einen neuen europäischen Krieg, für den nichts vorbereitet war — noch 1862 hatte man große Truppenentlassungen vorgenommen. Als Gortschakov das Recht der Mächte auf Einmischung zurückwies, tat er es mit dem sichtbaren Gefühl der Verlegenheit des liberalen russischen Staatsmannes gegenüber dem politisch höher stehenden England. — Die anderen Staaten müßten, ehe sie zur politischen Reife Englands gelangten, verschiedene Stufen durchschreiten, erklärte er. Die Reformen Alexanders II. in Polen würden zunächst zu einer vollkommenen Verwaltungsautonomie führen auf Grund von provinzialen und städtischen Institutionen, welche auch der Ausgangspunkt der Größe Englands gewesen seien. Noch ehe der höchste russische Staatsmann dieses politische Bekenntnis ablegte, hatte ein russischer Journalist, Michail Nikiforowitsch Katkov, in seinen beiden Moskauer Presseorganen, den „Moskovskie Wjedomosti" und dem „Russkij Wjestnik", eine andere Sprache angeschlagen. „Seit den Tagen Voltaires und Montesquieus", so konnte der politisch interessierte Russe in der Märznummer des Russkij Wjestnik lesen, „war die Aufmerksamkeit Europas ständig auf den politischen Aufbau Eng93

lands gerichtet, und es wurde ein allgemeines Schema der politischen Verfassung ausgearbeitet, das unter dem Namen Konstitution als verbindlich für jeden Staat, der auf dem Niveau seines Zeitalters stehen will, betrachtet wird. . . . Aber welcher gesund denkende Mensch würde nicht zugeben, daß alle diese Konstitutionen gar keine wesentliche Bedeutung haben, gar keine wirkliche K r a f t . . . Alle diese neuesten Staatsverfassungen, alle diese konstitutionellen Hüllen, stellen ungeachtet der hohen Zivilisation jener Länder, die sich in sie kleiden, in Wahrheit nichts Ernsthaftes dar, nichts Beständiges, und dienen nur als Ausdruck eines vorübergehenden Zustandes der europäischen Gesellschaft... Niemandes Denken kann bei diesen gemachten Konstitutionen zur Ruhe kommen, . . . und in der Tat ist das Übel in diesem organisierten Mißtrauen zwischen der obersten Gewalt, welche ohne Volk nichts bedeutet, und dem Volk, welches ohne oberste Gewalt nichts bedeutet, nicht offenkundig?" Katkov war der stärkste Repräsentant, die Verkörperung jenes russischen Stimmungswechsels, der sich seit Anfang 1863 vollzogen hatte. Der polnische Mord an schlafenden, wehrlosen Soldaten, die Gefährdung der Westgebiete, die ausländische Bedrohung einer ratlosen Regierung, alle diese Eindrücke hatten den russischen Instinkt zur Selbstbehauptung geweckt. Seit dem März 1863 überschüttete Rußland seinen Kaiser mit einer Flut von Ergebenheitsadressen. Alexander II. erlebte zum zweiten und letzten Male das Glück der Untertanenliebe. Adelsversammlungen und bäuerliche Gesellschaften, Universitäten und altgläubige Gemeinden, baltische Barone und kaukasische Beys, alles legte sich dem Thron zu Füßen. In diesem Trachtenzug der Loyalität steckte zum Teil viel Bühnenarbeit, Katkov selbst beging ein Schelmenstück. Die verschmitzten Moskauer Raskolniki bedienten sich seiner Feder, fast unübersetzbar ist der historische Kitsch, den er aus den Begriffen dieser Menschen, die längst dem Staat und der Gesellschaft verlorengegangen waren, fabrizierte. — „ G o s u d a r j . . . in den Neuerungen deiner Herrschaft erlauschen wir die Stimme unserer Überlieferung" — der

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Kaiser glaubte audi dieser Versicherung gerne. Er teilte diesen holden Irrtum mit den Slawophilen, die einer polenfreundlichen tschechischen Presse das von Katkov aufgesetzte Sprüchlein der Altgläubigen als den Beginn eines neuen, endlich mit seiner Vergangenheit ausgesöhnten Rußlands präsentierten. Jedoch, wenn man auch alles abstridi, was an künstlicher Begeisterung zusammengetragen wurde, so bleibt doch ein Rußland, das zum ersten Male seit Jahrzehnten in seiner nationalen Substanz erregt war. Der Kriegsminister Dmitrij Alexandrowitsch Miljutin schrieb damals an seinen Bruder Nikolaj, einen der hervorragendsten Mitarbeiter an der Bauernreform: „ . . . unsere ganze Gesellschaft ist jetzt unvergleichlich besser gestimmt als früher. Nur die verbissensten Nihilisten betrachten es noch als ihre Pflicht, Objektivität und sogar Sympathie für die Polen zu zeigen; die ganze Masse der vernünftigen Leute aber zeigt einen unbestreitbaren Auftrieb an Patriotismus, der alle die Vorstellungen widerlegt, welche unsere Emigranten und üblen Touristen im Auslande verbreiten." Katkov wurde in dieser Bewegtheit führend. Er machte Schluß mit der Verziditpolitik, Iwan Aksakovs „suffrage universelle" lehnte er ab. „Das Volk ist nicht eine Herde von Köpfen . . . in ihm lebt auch seine Vergangenheit und Zukunft, nicht die Summe müßiger Jas und Neins entscheidet über das Schicksal eines Staatsgebietes, sondern die Macht, die ihm innewohnt. Ein Staat und ein Volk treten ein Gebiet nicht ab, weil ihnen das so richtig dünkt, sondern weil sie nicht mehr die Kraft haben, es zu halten." Vor dreißig Jahren war Katkov zusammen mit Bakunin und Konstantin Aksakov in der Stube Stankjewitschs gesessen — jetzt trennte ihn von den Richtungen beider fast der gleiche Abstand. Was die Presse Katkovs vom Denj fernhielt, das war der schwach entwickelte Sinn der Slawophilen für die gesamtpolitischen Zusammenhänge Rußlands, jene Staatsfremdheit, an der sie alle mehr oder weniger krankten. Weiland Konstantin Aksakov hatte diese Staatsfremdheit zur Theorie entwickelt. Nicht erst durch die petrinische Reform auseinandergerissen, sondern

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von der russischen Staatsgründung an sah er Staat und Volk als zwei verschiedene geschichtliche Wesenheiten einander gegenüberstehen. Im Staate erblickte er das Gesetz der Gewalt, ein westliches Prinzip, die „äußere Wahrheit" verkörpert, im Volk den slawischen Verzicht auf die Gewalt, die „innere Wahrheit". Diese Theorie sollte nicht revolutionär sein, im Gegenteil, sie wollte unpolitischen Untertanengehorsam philosophisch begründen, sie eignete dem Staat das Recht auf Entscheidung und Tat, dem Volk das Recht auf „Meinung" und Äußerung dieser Meinung zu. Aber die sittliche Entwertung des Staates durch diese Theorie konnte in Haß ausarten. Konstantin Aksakov selbst ließ sich zu dem Wort hinreißen: „Das Falsche liegt nicht in dieser oder jener Form des Staates, sondern im Staate selbst!" Man brauchte nur noch auf diesen so übel beleumundeten Staat zu verzichten, um zum Anarchismus Bakunins zu kommen. Dieser Staatsfremdheit gegenüber steht Katkovs Glaube an einen organischen Staatskörper, an ein selbsttätiges Leben des Staates, an die Wechselwirkung aller Funktionen dieses politischen Wesens. Grenzprobleme, Abfallsbewegungen erkennt er als Krankheitssymptome „einer allgemeinen Schwächung des staatlichen Organismus", sie bedeuten, daß im Staat „irgendein Übel steckt, von dem man sich so schnell wie möglich befreien muß". Staatskörper nach ethnographischen Merkmalen zu bestimmen, lehnt er ab, man wolle doch nicht „ . . . Wörterbuch und Grammatik die Grenzen eines staatlichen Territoriums feststellen lassen". „Alles, was einmal in ein Staatsgebiet eingetreten ist, wird sein ebenso wesentlicher Teil wie alles übrige, und für jeden Teil des Staatsterritoriums bürgt die gesamte Kraft des Staates", seine Ehre und Würde, seine Kraft und sein Recht „sind in gleicher Weise an alle Teile seines Territoriums gebunden" . . . Diese Verteidigung des Bestehenden, diese Bejahung des Staates war, was die russische Öffentlichkeit brauchte. Während die liberalen Zeitungen und gelegentlich auch der Denj — Verzicht auf Polen — riefen, sei es aus Angst vor der Einmischung der Mächte, sei es in Verzweiflung an der Möglichkeit, eine innere Lösung zu finden, ist Katkov, der von den „West96

lern" kam, überzeugt, daß Rußland mit dem Verlust Polens die Bedeutung einer europäischen Großmacht einbüßen und wieder zu einem halb europäisch, halb asiatischen Staate herabsinken würde, wie vor Peter dem Großen. Die Geschichte habe das polnische und das russische Volk in eine solche Beziehung gesetzt, daß entweder das eine oder das andere auf selbständiges politisches Dasein verzichten müsse. „Die Polen beklagen sich jetzt, und für die Polen beklagen sich andere über die Unterdrückung, welcher die polnische Nation ausgesetzt ist. In Wirklichkeit wollen aber die Polen nicht die Wiederherstellung ihrer Nationalität, sondern die Wiederherstellung ihres früheren Staates im Widerspruch zum nationalen Prinzip." Diese Forderungen könnten Rußland nicht gefährlich werden, wenn es sie nicht selbst so oder so fördern würde. „Wenn die polnische Nationalität im Bestände unseres Staates ein schädlicher und parasitischer Körper zu sein scheint, dann muß man die Ursache davon nicht nur im Wesen dieser Nationalität, sondern vielleicht noch mehr in uns selbst suchen." Diese Selbstanklage Katkovs stammt nicht aus jenem Reuegefühl gegenüber Polen, das Herzens und Bakunins stärkstes Werbemittel war und auch bei Pogodin und Aksakov anklingt, sondern aus seinem organischen StaatsbegrifT, in dessen Namen er Polen weder aufgegeben noch gesondert organisiert wissen wollte. „Polen ist tot und die Welt war bei seinem Begräbnis anwesend . . . , aber sein Gespenst kommt wie ein Vampir, das Blut lebendiger Menschen zu saugen . . . , nicht der ist der Feind der Polen, der diesen Vampir verjagt, sondern derjenige, der ihn b e s c h w ö r t . . . " Es gab Russen, die sagten — Polen ist zivilisierter als wir, es kann sich deshalb nicht mit derselben Verfassung wie Rußland begnügen. Katkov gab eine drastische Antwort: „In Europa hat man von Anfang bis heute nichts von einer polnischen Zivilisation g e h ö r t . . . Mit der deutschen Kultur könnte sich die russische nicht vergleichen, mit der polnischen kann sie es getrost aufnehmen — Europa kann ohne beide auskommen. Und selbst wenn die polnische Zivilisation höher wäre als die russische — wenn die germanische unter russischer Herrschaft leben konnte F l e i s c h h a c k e r , Kussische Antworten.

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und kann bei voller politischer Einheit mit den anderen Herrschaftsgebieten, wäre es dann nicht töricht, sich auf irgendwelche Vorzüge der polnischen Zivilisation zu berufen, die angeblich einer ebensolchen Vereinigung mit Rußland im Wege stehen sollen." Wenn Polen die Vorteile einer Repräsentation genießen wolle, dann müsse es wissen, daß diese Repräsentation keine Beschränkung der obersten Gewalt darstellen oder auch nur den „Schatten einer Doppelherrschaft" heraufbeschwören dürfe. „Das Prinzip der obersten Gewalt muß eines sein, wie verwickelt auch ihre Organisation sein mag." Eine Vertretung unter dem Zepter des russischen Zaren „kann nichts anderes sein als die Festigung, Offenbarung und Belebung des Bandes zwischen der obersten Gewalt und dem Volksleben..., eine Vertretung in diesem Sinne kann nichts anderes sein als die richtig organisierte Kraft der öffentlichen Meinung . . . , die öffentliche Meinung ist eine große Kraft unserer Zeit. Aber diese Kraft kann sich nur dann gedeihlich auswirken, wenn sie sich um eine geordnete und gesetzliche Organisation gruppiert." Ohne diese Organisation bildet sich eine „falsche und schädliche öffentliche Meinung", weil niemand eine „sittliche Verantwortlichkeit für die von ihm geäußerte Ansicht empfindet..." Jetzt war Katkov den Slawophilen zum Händegreifen nahe, seine Vorstellung von einer Volksvertretung entsprach dem „Semskij Sobor" — aber das war nur ein Berührungspunkt geistiger Kurven. Die Slawophilen widerstrebten jeder Art von Verschmelzung Polens mit Rußland. Iwan Aksakov hatte nur gewünscht, daß der Zar einem Sejm einen Semskij Sobor gegenüberstelle. Ebenso widerstrebte der Denj einer .„Aufsaugung Polens durch Rußland in der Freiheit", wie sie die russischen Konstitutionalisten nach einem Schlagwort der französischen Presse auf ihre Fahnen geschrieben hatten. „Wir können doch nicht deshalb, weil Polen meutert und weil es peinlich erscheint, ihm etwas zu geben, was Rußland nicht besitzt, in aller Eile irgendeinen Kaftan zusammennähen, in den Rußland und Polen zusammen hineinschlüpfen können. Der Kaftan würde sofort in allen Nähten platzen . . . " Und der Slawophile Jelagin sagte, eine Ein-

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Schmelzung Polens im Absolutismus würde nur bedeuten, daß Rußland „Polen verschluckt", und „sich mit Polen durch und durch vergiftet." „Alle Elemente der Unordnung, welche in Rußland existieren, finden ihre Stütze und Nahrung im polnischen Element, das wie ein komprimiertes Gas aus einem verschlossenen Gefäß ausströmt..."

Aber die Slawophilen wußten, daß ihre unmittelbare Wirkung nicht weit reichte. Iwan Aksakov bezeichnete am 24. August im Denj die Moskowskie Wjedomosti als den unbezweifelbaren „Vertreter der Mehrheit unserer Gesellschaft." Alexander Herzen in London fühlte schon im Februar, wie seine Uhr ablief. „Wenn die Insurrektion ohne die geringste Teilnahme Rußlands unterdrückt wird.. ., wenn auch die Bauern den erwarteten Tag vorübergehen lassen, wird es dann nicht auch für uns Zeit, abzutreten?" Aber der Kolokol setzte den Kampf für Polen mit verzweifelter Erbitterung fort: „Wenn wir glauben könnten, daß das russische Volk in seinem asiatischen Sklavensinn die Herrschaft über andere Völker liebt und deshalb seine Sklaverei erträgt und deshalb auch jetzt für die Regierung gegen Polen eintritt, dann bliebe uns nur zu wünschen übrig, daß Rußland als Staat vernichtet werde, erniedrigt, in Teile zerschlagen, und daß das beleidigte und getretene Volk ein neues Leben beginne..." Der nüchterne, alleruntertänigste Jahresbericht des Chefs der Gendarmen, Fürst Dolgorukov, vom Frühling 1863 verzeichnete bereits den in der Geschichte der öffentlichen Meinung Rußlands epochalen Sturz Herzens durch Katkov. Feuersbrünste in Petersburg, für die man abermals, wie 1831, polnische Brandstiftung verantwortlich machte, hätten die Stimmung, besonders der unteren Schichten der Hauptstadt, stark beeinflußt: „Herzen und seine Propaganda erhielten dadurch einen ziemlich schweren Schlag, zu dem dann die Herausgeber der Moskauer Zeitschrift Russkij Wjestnik, Katkov und Leontjev, beitrugen, die als erste in Rußland mit einer scharfen Presse gegen die sinnlosen und verderblichen Theorien 7*

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Herzens auftraten. Die bösartigen Angriffe, mit welchen die erwähnten Herausgeber von seiten der liberalen russischen Zeitungen überschüttet wurden, beweisen, daß der Schlag getroffen hat, der dieser Propaganda zugefügt wurde." Es mochte etwas bedeuten, wenn der Chef der Gendarmen seinen Bericht mit der Folgerung schloß: „Auf diese Weise ist es gelungen, die revolutionäre Wolke zu zerstreuen, welche sich über Rußland zusammengezogen und bei der ersten günstigen Gelegenheit niederzugehen gedroht hatte." Die Rolle der Londoner Revolutionäre im polnischen Aufstand wurde politisch und menschlich entwürdigend: „Wir sind schuldig vor den Polen, und wie wir noch schuldig sind! Wir müssen alles von ihnen ertragen und ihnen unser Recht auf Brüderschaft in der Tat und nicht nur mit Worten beweisen", hatte Bakunin 1862 gerufen. „Zur Liebe kann man niemanden zwingen", stellte er im Herbst 1863 fest, als er in Schweden weilte, um die Finnen und die nordrussischen Raskolniki zu revolutionieren und an der Seexpedition Lapinskis — einer Wiederholung des Unternehmens Zaliwskis in großem Stil — teilzunehmen. Bakunins unglückliche persönliche Eigenschaften verstärkten noch das Mißtrauen der Polen gegen ihre hartnäckigen Londoner Freunde. Die Agitation der Semlja i Wolja unter den russischen Truppen hatte nur geringen und praktisch überhaupt keinen Erfolg. Im November 1863 wurde die Geringschätzung der Polen für ihre russischen Bundesgenossen offenkundig, als Katkov ein Programm des roten Aufstandsführers Mieroslawski veröffentlichte: „Den unheilbaren Demagogen muß man den Käfig zum Flug über den Dnjepr öffnen, darin besteht unsere ganze panslawistische und kommunistische Schule, darin besteht unser ganzer Herzenismus . . . " Jetzt zerrissen auch die letzten persönlichen Bande zwischen den Revolutionären in London und ihren alten Freunden in Rußland. Der nächste Freund und Mitarbeiter Herzens, Ogarjov, beleidigte in der verzweifelten Sucht des Kolokol, unbedingt Trümpfe auszuspielen, den treuen Kawelin. Der Denj nannte Bakunin „Verräter am russischen Volk". Die Moskowskie Wjedomosti gaben den russischen 100

Revolutionären an dem Unglück der Polen Schuld, sie hätten durch ihr Hilfeversprechen den polnischen Aufstand ausgelöst. Herzen suchte sich jetzt von Bakunin zu distanzieren . . . Der Kolokol verlor im Jahre 1863 zwei Drittel seiner Abonnenten, er hat den Prestigeverlust nie wieder aufholen können. Der Photograph Lewicki, ein Verwandter Herzens, hielt die innere Katastrophe des großen Revolutionärs der Feder mit den Mitteln seiner neuen Kunst fest. Er fertigte ein Trickbildchen an: Herzen, stehend, macht einem zweiten, im Lehnstuhl sitzenden Herzen Vorwürfe wegen seiner Haltung in der polnischen Frage...

Ein mittelbarer Beweis für die Bedeutung Katkovs sind die Übertreibungen des Auslandes, man schrieb ihm sogar die Ernennung des Generals Michail Michajlowitsch Murawjov zum Generalgouverneur von Wilna zu, der im Mai 1863 den schwachen Nasimov ablöste. Der General, dessen Äußeres so erschreckend war, daß Herzen das „Porträt" Murawjovs propagandistisch auswerten konnte, befand sich in der Tat in bewußtem geistigen Abstand von allen jenen Petersburger Staatsmännern, die, nicht ohne Hintergedanken, auf eine Lösung der polnischen Krise durch Zugeständnisse gehofft hatten. Als man ihn, den Mann der harten Hand, dem der Beiname „Henker" bereits anhaftete, rief, war sein Urteil über die Lage, die er retten sollte, eindeutig. „Unsere Regierung hatte bis zu jener Zeit allen polnischen Intrigen und Manifestationen nachgegeben, jetzt war man erschreckt." Murawjov verließ Petersburg mit dem Bewußtsein, daß er von der Regierung keine Unterstützung zu erwarten habe, weil der Minister des Innern, Waluev, und der Chef der Gendarmen, Fürst Dolgorukov, ebenso wie Fürst Gortschakov „nur bemüht waren..., die Polen durch Zugeständnisse zur Herablassung gegenüber Rußland zu bringen". Der Marquis Wielopolski — seine faszinierende Persönlichkeit wird allenthalben bestätigt — habe sich fast aller „regierenden Köpfe" bemächtigt, Gortschakov fürchtete zudem die Drohungen der 101

Westmächte, die „unsere Schwäche sowie die große Sympathie unserer höchsten Gesellschaft und überhaupt der ganzen demokratischen Partei Rußlands für die polnische Sache s a h e n . . . " „Der Kaiser schwankte, obwohl er die Notwendigkeit entscheidender Maßnahmen einsah." Anläßlich der Betrauung mit seiner Mission erklärte Murawjov vor Alexander II.: „Idi kenne das polnische Volk und weiß, daß wir durch Nachgiebigkeit die Sache nur verschlimmern . . . , das Westgebiet ist altes russisches Land — wir haben es selbst polonisiert." Mit dieser Auffassung stand Murawjov nicht allein. Nach allgemeinem Urteil hatte trotz der Maßnahmen Kaiser Nikolaus' die Polonisierung der Westgebiete gerade unter seiner Herrschaft Fortschritte gemacht. Die assimilierende Wirkung der Oberschicht begann so im 4. Jahrhundert der polnischen Adelsherrschaft im Westgebiet ihr Werk. Alles, was dem Einfluß einer beweglicheren, geweckteren, mit dem Anspruch auf Höherwertigkeit auftretenden Kultur irgendwie zugänglich war, auch der russische Beamte im Westgebiet, unterlag der polnischen Atmosphäre. Die großrussische Öffentlichkeit hatte sich mit dem staatlichen Besitz begnügt und war in all diesen Jahrzehnten im übrigen bei der Meinung geblieben, daß Polen etwa „hinter Smolensk" anfange. „Daß die westrussische Frage für die überwältigende Mehrheit unserer Gesellschaft eine Entdeckung und eine Neuheit war, kann man schon daraus schließen, daß plötzlich 1862 und 1863 alles darüber zu sprechen anfing, während ein Jahr zuvor noch keine Rede davon war. Man sprach mit dem größten Nachdruck, der das frühere Schweigen vergessen machen sollte", stellte Alexander Pypin 1880 rückschauend fest. Die Redaktion des Denj erließ eine Art „Manifest" an die weißrussische orthodoxe Geistlichkeit: „Wir sind schuldig vor Euch, vergebt uns, die Ereignisse haben uns die Augen g e ö f f n e t . . . und zugleich den ganzen Abgrund unserer Schuld, wir, die russische Gesellschaft, haben gleichsam vergessen, daß es ein Weißrußland g i b t . . . " Die frühere Bußstimmung gegenüber Polen wurde jetzt durch ein neues Reuegefühl gegenüber den Westgebieten abgelöst, ihr ethnographisches Schicksal bildet fortab 102

den Hauptgegenstand des russischen Interesses in der polnischen Frage. Die Regierung selbst war zur Zeit sogar um den Besitz der Westgebiete besorgt, der Kaiser hielt ihren Verlust bei einem europäischen Kriege und einer Wiederherstellung Polens für durchaus möglich . . . Murawjov machte vor der Abreise nach Wilna seine Abschiedsbesuche, die Kaiserin sagte zu ihm: „ ,Wenn wir wenigstens Litauen halten könnten', von dem Königreich Polen war nicht einmal die Rede — in solcher Stimmung befanden sich damals kaiserliche Personen."

Der neue Generalgouverneur von Wilna „überzeugte sich bald, daß mit der Waffe allein" der Technik des polnischen Aufstandes nicht beizukommen war. Sein Name wurde nun das Stichwort für jene allgemeine Mobilisierung des westrussischen Bauern gegen den polnischen aufständischen Adeligen, welche die russische Verwaltung jetzt und später betrieb, allerdings in ständiger Angst vor den beschworenen Masseninstinkten und dauerndem Schwanken zwischen der zweifellos polnischen aristokratischen und der nicht mehr ganz unbestritten russischen demokratischen Gefahr. Im Juli 1863 begrüßte Iwan Aksakov Weißrußland mit Begeisterung, „wo das Volk nach fünfhundertjährigem polnischen Joch zum erstenmal im heurigen Jahre in die Arena der Geschichte als historischer Faktor getreten ist. . . und der weißrussische Stamm steht sogar nach dem Zeugnis der allerverzweifeltsten Ukrainophilen in Sprache und Kultur dem großrussischen noch näher als der kleinrussische". Allenthalben wird jetzt die Verteidigung des russischen nationalen Anspruchs auf die Westgebiete eingeflochten. Es war die Tragik der großrussischen „Entdeckung" des westrussischen Elements, daß sie zu einer Zeit erfolgte, da die polnische Frage schon durdi eine ukrainische kompliziert wurde, und es nicht mehr damit getan war, die letztere einfach als böswillige polnische oder gar österreichische „Erfindung" abzutun. Auch Katkov fürchtete die

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Möglichkeit, daß nach einer „mechanischen Operation" Polens „analoge Bestrebungen" in den gesündesten Teilen des russischen Reichs auftreten könnten, begnügte sich aber ausdrücklich mit einer „Andeutung". Allerdings die Haltung der ukrainischen Bauern entsprach im Augenblick etwa dem, was man in Petersburg schon 1861 erwartet hatte: „Sie reinigten das Land in zwei Wochen von den Aufständischen, und wenn die russische Regierung nicht zu strengen Maßnahmen gegriffen hätte, dann hätten die Bauern gewiß nicht einen Polen im Lande gelassen." Pogodin und manche Slawophile verlangten jetzt eine Aussiedlung der Polen aus dem Westgebiet. „Mögen sie sich in ihr Polen scheren", schrieb die Redaktion des Denj in ihrem Aufruf an die Weißrussen. Fast mit denselben Worten forderte der Slawophile Kojalowitsdi die Polen auf, das Westgebiet zu verlassen: „Wir werden uns versöhnen, wenn wir auseinandergehen." Iwan Aksakov entwickelte das Programm einer vornehmen finanziellen Lösung der Aussiedlungsfrage. Michail Pogodin schlug sich reuig an die Brust: „Auch ich bekenne mich schuldig, ich habe lange gedacht, daß die Polen auf den Gedanken an ihre alten Eroberungen in Rußland verzichten könnten . . . ich verurteile jetzt diesen alten Traum . . . , man muß die Polen aus den russischen Westgouvernements austreiben, um jeden Preis, ausräuchern, fortschicken, fortführen, im Staatsinteresse, mit Geld und Pfandbriefen auf unseren Namen, mit ihren Priestern, ihren Schätzen und ihren Trauerkleidern, mit ihrer ganzen beweglichen Habe, aber das Unbewegliche, das Land, ist unseres Blutes, ist russisch und den Polen nicht eine Spanne davon!" Der Slawophile Hilferding sah die ganze polnische Frage ausschließlich in den Westgebieten konzentriert. Die Polen verlangten nur die Grenzen .von 1772, sie könnten mit demselben historischen Recht die Grenzen von 1667 fordern, jedoch am linken Dnjeprufer sei die polnische Nationalität bereits in die Lage eines „ausländischen Elements innerhalb der vorherrschenden einheimischen Nationalität" geraten. Ehe in den Westgouvernements der einheimischen russischen und litauischen

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Nationalität eine ebensolche „faktische Bedeutung" wiedergegeben werde, wie sie die russische jenseits des Dnjeprs besitzt, sei jeder der bisher erörterten Lösungsversuche der polnischen Frage aussichtslos. Man verzichte auf Polen — in zwei bis drei Jahren würde man die polnischen Truppen in den Westgouvernements sehen und es von neuem erobern müssen. Man gebe den Polen eine Autonomie bei nur dynastischer Verbindung mit Rußland — der polnische Adel der Westgouvernements würde nach diesem Polen gravitieren. Man vereinige Polen mit Rußland — beide möglichen Arten der Vereinigung seien in gleicher Weise unzweckmäßig: die Erfolglosigkeit einer absoluten bedingungslosen Diktatur sei durch die Geschichte schon bewiesen, die Vereinigung durch gemeinsame staatliche Einrichtungen aber scheitere wieder an dem polnischen Anspruch auf die Westgebiete; ganz gleichgültig, ob diese Einrichtungen beratender Natur nach slawophilem Wunsch oder konstitutionelle seien, jede Art von Volksvertretung setze eine Versammlung von Menschen voraus, die ein gemeinsames Ziel verfolgen... Von der Sorge, der Westgebiete in einem europäischen Kriege verlustig zu gehen, war die Petersburger Regierung bald befreit. Binnen kurzem hatte Murawjov den Aufstand in den nordwestrussischen Gouvernements erstickt. Als die Mächte im Sommer ihre Schritte wiederholten und ihre Drohungen verstärkten, war Fürst Gortschakov unzugänglicher geworden. Österreich und England schwiegen seither. Napoleon III. wollte Rußland noch auf einen Kongreß schleppen, aber London lehnte ab. Pogodin hatte die Polen schon 1859 in einem „Sendschreiben" vor den Westmächten gewarnt: „Es ist klar, daß Ihr nichts von Frankreich zu erwarten habt, dreizehn Regierungen jeder Form, zehn Herrscher und Richtungen verschiedenen Geistes und verschiedener Art unter tausend verschiedenen und entgegengesetzten Umständen, vollkommen einander unähnlich ihrer Natur nach — stimmen alle nur darin überein, daß sie Euch opferten, ohne jeden Gewissensbiß, für ihren vorübergehenden und sogar vermeintlichen Vorteil! Und die Franzosen haben noch ein gutes 105.

Herz, warmes Blut, sind begeisterungsfähig und zu Opfern bereit. — W a s könnt Ihr dann von den kalten, selbstsüchtigen, berechnenden Engländern erwarten? . . . Für die Engländer seid Ihr verachtete Werkzeuge, B r a n d r a k e t e n . . . " Katkov formulierte seine Geringschätzung gegenüber der ausländischen Einmischung kurz und kalt: „Es lohnt, sich der diplomatischen Geschichte der polnischen Frage zu erinnern, um zu sehen, daß sie immer nur Mittel, niemals Ziel war." Die Lage war für Rußland gerettet, und die polnische Frage hörte für ein halbes Jahrhundert als Gegenstand internationalen Interesses zu existieren auf. Es stellte sich in den außenpolitischen Beziehungen Rußlands allmählich so etwas wie die Solidarität der Teilungsmächte wieder her — nicht zur Freude der Russen. „Ein Krieg gegen Österreich", schrieb Aksakov am 20. Juli 1863, „ein wirklicher Krieg — eine ungewöhnliche Erscheinung in unserer Geschichte, wäre für uns die T a u f e zu einem neuen politischen G l a u b e n s b e k e n n t n i s . . . " Dieses neue politische Glaubensbekenntnis, das Aksakov eine Woche später deutlicher umriß, sollte ein rein panslawistisches sein. „Im Kriege mit Österreich und seinen Folgen würden wir vielleicht eher die Lösung der unlösbaren polnischen Frage finden, als in allen anderen Erwägungen und Maßnahmen. Aber einen Krieg mit Österreich können wir unserer Überzeugung nach nur dann führen — wenn wir die slawische Fahne aufpflanzen, die Fahne der Befreiung der slawischen Stämme (unter ihnen auch des polnischen) von dem österreichisch-deutschen Joch . . . " J e d o d i Iwan Aksakov glaubt nicht an eine unmittelbar bevorstehende „Befreiung" von den „deutschen Überlieferungen der neuesten Periode unserer Geschichte", „ . . . noch steckt in uns selbst allzusehr der D e u t s c h e . . . " Dank oder Anerkennung für Preußen, das durch die Alvenslebensche Konvention vom M ä r z 1863 den Russen jene Form der Unterstützung gegen den polnischen Aufstand gegeben hatte, die Kaiser Nikolaus einst vergeblich erstrebte, empfand man nicht. U m so häufiger stellte man den Polen die Alternative zwischen Versöhnung mit Rußland oder Germanisierung.

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Indessen war das Ende des Aufstandes im Königreich noch nicht abzusehen. Im August gingen der Marquis Wielopolski und der Großfürst Konstantin Nikolaewitsdi ins Ausland; — „ . . . das polnische Volk wollte den Sinn der Ernennung Eurer Kaiserlichen Hoheit zu meinem Statthalter nicht verstehen und nicht würdigen...", sagte Alexander II. in dem Abberufungsschreiben an den Bruder. Die Versöhnungspolitik war gescheitert. Alexander II. vollzog jetzt seine große liberale Geste in Finnland. Im September eröffnete er den Landtag in Helsingfors — mochten die Polen und auch Europa sehen, welchen Glücks sich die Aufständischen beraubt hatten. Wieder sprach Alexander II. von der großen Familie der russischen Kaiser, und er bewies, was er einem geduldigen Volke zu geben bereit war: er versprach, dem finnischen Landtag das Recht der Initiative zu gewähren, ein Recht, das der polnische Sejm Alexanders I. einst nicht besessen hatte. Und Alexander II. sprach wie aus einer versunkenen Welt: — «von ihnen, Vertretern des Großfürstentums, wird es abhängen, durch Würde, Mäßigung und Ruhe ihrer Debatten zu beweisen, daß in den Händen eines weisen Volkes, das geneigt ist, gemeinsam mit dem Herrscher in praktischem Geist an der Entwicklung seiner Wohlfahrt zu arbeiten, liberale Einrichtungen nicht nur keine Gefahr darstellen, sondern die Garantie der Ordnung und des Gedeihens . . . " — Etwas mehr Schwung — und dieselben Worte hätte Alexander I. sagen können, und doch, was könnte das Scheitern des großen Planes deutlicher machen als gerade diese Rede des Neffen, ihr Zeitpunkt, ihr Ort und ihr gesamtpolitischer Hintergrund. Iwan Aksakov eilte, wie zuvor die Polen so jetzt die Finnen zu beglückwünschen — er tat es diesmal ohne Neid, wenn auch nicht ohne Empfindlichkeit: „Was Rußland betrifft mit seinem weisen immer mit dem Herrscher gemeinsam handelnden Volk, — so versteht es unter dem Wort ,liberale Einrichtungen' vor allem vollkommen nationale Einrichtungen, welche seinen völkischen und geschichtlichen Grundlagen entsprechen und nicht Splitter irgendwelcher westlicher Einrichtungen. Unser tägliches Brot im Augenblick — ist die Erweiterung der Freiheit der Mei107

nung und ihres Ausdrucks im Wort, und dieses tägliche Brot erwarten wir . . . ! " Es war vielleicht einer der tragischesten Fehler der Selbstherrschaft, daß sie die „Organisierung der öffentlichen Meinung" im Sinne Katkovs und der Slawophilen versäumte und damit auch die Schulung des denkenden Russen am politisch Möglichen. *

Zur selben Zeit sagte das geistige Rußland durch Jurij Samarin sein letztes Wort über das polnische Problem. „Der gegenwärtige Stand der polnischen Frage" war der anspruchslose Titel eines Aufsatzes, den Samarin im Denj vom 23. September 1863 veröffentlichte. In der Tat war, was Samarin zu sagen hatte, nicht durchaus neu, zunächst eine kritische Sichtung der bisherigen Publizistik und in den eigenen Positionen ein Fußen auf den zahllosen Stufen des russischen Denkens in der polnischen Frage, aber auch ein Tiefersteigen zu den letzteft geschichtsphilosophischen Abgründen des Problems und ein letzter Schritt nach aufwärts zur endgültigen Schlußfolgerung. Schon Iwan Aksakov hatte das zwangsläufige Ergebnis der slawophilen Weltanschauung in der polnischen Frage als Schlagwort vom polnischen „Verrat an den slawischen Grundlagen", vom „Polonismus", in Umlauf gesetzt und den drohenden Krieg als „Kampf zweier Welten" gesehen. Hilferding hatte sich dann besinnlicher gefaßt: „Wenn es sich erweisen sollte, daß das russische Volk Zuflucht und Hüter des geistigen und gesellschaftlichen Eigenwesens des slawischen Stammes ist, dann hätte Polen einen geschichtlichen Verrat begangen; als es nahe daran war, Rußland zu beherrschen, hätte es die ganze Zukunft des Slawentums zerschlagen und in der Gegenwart kämpfte es gegen die geschichtliche Zukunft der slawischen Welt." Aber Samarin sah alles klarer, leidenschaftlicher und doch irgendwie ernster, ordnete und verankerte die treibenden Gedanken. „Von allen Fragen, die Europa jemals beschäftigt haben, ist die polnische fast die verworrenste und komplizierteste. Das 108

rührt davon her, daß sie sich aus drei Tragen zusammensetzt, die ihrem Wesen nach verschieden sind, ungeachtet ihres engen Zusammenhanges. Die Polen als Volk, als besonderes Element in der Gruppe der slawischen Stämme. Polen — als selbständiger Staat. Endlich Polen oder genauer der Polonismus — als Kulturelement, als Vertretung und bewaffnete Propaganda der Latinität inmitten der slawischen Welt. Diese drei Begriffe werden ununterbrochen vermischt und gehen einer in den anderen über. Die ganze Politik der Polen besteht in ihrer Identifizierung, unsere Politik — in ihrer Trennung." Das Recht der Polen auf nationales Leben bejahte Samarin, den Anspruch Polens auf selbständiges staatliches Dasein wies er zurück. Ähnlich Katkov, aber auf völlig anderem Denkwege, gelangte Samarin zur Ablehnung einer Kongruenz von Nation und Staat. Katkov hatte, ohne zu erklären warum, den Staat als geschichtliche Wesenheit verselbständigt aus einem sehr leidenschaftlichen und persönlichen politischen Gefühl heraus. Samarin verwies mit der slawophilen Kühle gegenüber dem Staat auf historische Entwicklungsgesetze. „Zu den wesentlich-notwendigen und unverwirkbaren Eigenschaften einer lebenden und anerkannten Nationalität rechnen wir die politische Selbständigkeit nicht, denn obwohl Volkstum und staatliche Gestalt zwei eng miteinander verbundene Erscheinungen sind, bedingt doch die erste nicht mit Notwendigkeit die zweite." Jedem Staate liege ein nationales mehr oder weniger einheitliches Element zugrunde, das gleichsam seinen Kern darstelle, und die staatliche Gestalt diene als eine der Erscheinungsformen dieses Elements, als — das war echt slawophil gedacht — seine „Vertretung ad extra". Diese Tatsache gebe aber noch nicht das Recht auf den umgekehrten Sdiluß; denn nicht jede Nationalität und nicht in jeder Epoche ihres Daseins sei imstande, sich die Form eines selbständigen Staates zu geben. Es gebe ganze Stämme, welche die Reife zur Staatsbildung noch nicht erreicht hätten und viel109

leicht nie erreichen würden und andererseits Völker, weldie ihre politische Selbständigkeit überlebt haben. Es gebe große und starke Staaten, die aus verschiedenen „diemisch verbundenen" nationalen Elementen sich bildeten, am häufigsten seien Staaten, die vorzugsweise von einem Volk geschaffen wurden, dessen Kraft vorherrscht, aber in ihrem Bestände sehe man untergeordnete Nationalitäten, anerkannte und nicht anerkannte, die sich eines größeren oder geringeren Grades bürgerlicher Selbständigkeit erfreuen. „So rechtfertigt einerseits die nationale Besonderheit an sidh noch nicht das Streben nach politischer Selbständigkeit, andererseits kann ein Staat, der sich gebildet hat, nicht aussdbiießHdb als das Antlitz dieser oder jener Nationalität betrachtet werden . . . " Die polnische Forderung nach historischen Grenzen, die russische Sorge seit Karamsin, war von diesem Blickpunkt mit leichter Ironie abzutun. „Welche Grenzen solle man für historische halten und welche für nichthistorische: die Grenzen Boleslaus des Tapferen, Kasimirs des Großen, Bathorys oder Stanislaus Augusts, in welchem Jahr, Monat und Tag hörte nach der Meinung der Polen ihre politische Geschichte auf?" Das übliche russische Stoßgebet, „es ist doch nidit möglich, daß die Polen nicht begreifen . . . " liegt Samarin fern, er lobt vielmehr die polnische Aufrichtigkeit, durch die Forderung nach den Grenzen von 1772 zu gestehen, daß ein ethnographisches Polen als Staat „undenkbar" wäre. Samarin braucht nicht mehr Recht gegen Recht zu setzen, Anspruch gegen Anspruch, er stellt Sinn gegen Unsinn, denn er begreift das ganze Problem aus einer geschichtlichen Entartung der Polen. „Polen, das ist ein scharfer Keil, den die Latinität mitten in das Herz der slawischen Welt getrieben hat, um sie zu zersprengen . . . " „Die tiefe Unvereinbarkeit und Unversöhnbarkeit der Latinität mit dem Slawentum ist durch die historische Erfahrung der Jahrhunderte erwiesen. Immer und überall, je freiwilliger und aufrichtiger die slawische Natur die Latinität in sich aufnahm, je tiefer sich diese in sie hineinfraß, um so schneller erkrankte sie unter dem Einfluß dieses feinen und alles durch110

dringenden Gifts, zersetzte sich und ging zugrunde." Allenthalben hatte die russische Publizistik das polnische „Adelsvolk", die Schlachta, und ihren Erzieher, den Jesuiten, als die eigentlichen Träger der Feindschaft gegen Rußland schon gebrandmarkt — niemals aber hat ein Russe dieses Polen der Schlachta und der Jesuiten philosophischer angegriffen als Samarin. „ . . . Kein slawischer Stamm hat sich der Latinität so bedingungslos in Dienst gegeben wie der polnische..." Das slawische Element Polens werde „durch eine doppelte Wand der kirchlichen und feudalen Latinität abgemauert", „die alte Obsditsdiina wurde zurückgedrängt, und in den Vordergrund trat ein Stand, dem die Aristokratie verliehen wurde". — Und niemals war gleichzeitig der polnische Anspruch, eine höherwertige, missionsberechtigte Kultur, die Vorhut Europas zu vertreten, satirischer zurückgewiesen worden als in dem Hohn Samarins: „Polen, so sagt man uns, ist nicht etwa irgendein Zweig der allslawischen Familie,... es ist das Salz des Slawentums . . . " Polen wendet sich an Europa: „Tritt für mich ein und ich bin Dein treuer Diener, ich stehe auf der Wacht, um Dich vor jener unzivilisierten Macht zu bewahren, welche aus der Verbindung des östlichen Schismas mit dem mongolischen Despotismus entstanden ist. Löse mir die Hände, und unser Feind verschwindet wie ein Trugbild, der Osten Europas wird Dein sein, und ich selbst werde Dir meine gebundenen Brüder z u f ü h r e n . . . " „Weiter als bis zum Selbstmord kann weder ein einzelner Mensch noch ein Volk gehen. Polen ist bis zu dieser Grenze gegangen, aber sich zu einem nichtslawischen Volk umzuschaffen, seine Natur zu verändern oder gegen eine andere zu tauschen, vermochte es dennoch nicht. Die Polen fühlen das und noch mehr fühlt es Europa. Zum Dank für ihren Eifer und ihre begeisterte Verehrung nimmt es ihre Dienste herablassend an . . . , aber versteht und achtet sie n i c h t . . . " „ . . . Die anerkannte Unfähigkeit der Polen, sich irgendeiner äußeren Ordnung zu unterwerfen, ihr eifersüchtiges Wachen über die persönliche Freiheit, die bis zur Verneinung jeder Bedingtheit in der politischen Sphäre geht, alle diese verlachte Halt111

losigkeit, dieses unruhige Hin und Her, das mit dem ironischen Terminus polnische ,Wirtschaft' gebrandmarkt ist, alles das ist nidits anderes als das lebende Zeugnis der Unfähigkeit der slawischen Natur, sich endgültig in den Zwängen der Latinität einzuleben . . . Europa ist sich dessen auf seine Art bewußt und verachtet die Polen für die Erfolglosigkeit ihrer jahrhundertelangen Bemühungen, sich völlig nach seinem Bilde umzugestalten . . . " Aber auf den bitteren Spott folgt die Selbstanklage, die dem bewußten Slawen anstand. — „Wir Russen haben dieses Urteil der westlichen Wissenschaft und politischen Weisheit allzu leichtsinnig unterschrieben, wir waren nicht imstande, die slawische Strömung, die trotz allem durch ihr politisches Leben und ihre Literatur läuft, zu würdigen oder auch nur zu verstehen . . . , wir verstanden es nicht, in ihren eigenen Augen gerade das zu rechtfertigen, was wir allein verstehen und anderen erklären können — dieses unfreiwillige Aufleuchten eines uns verwandten völkischen Elements . . . " „Wie zwei Seelen, die in einem Körper eingeschlossen sind, führten und führen bis heute Slawentum und Latinität innerhalb Polens selbst einen unversöhnlichen Kampf auf Leben und Tod. In ihm liegt das tief tragische Interesse der polnischen Geschichte . . . welchen freiwilligen Selbstquälereien sich Polen auch unterwerfen mag, wie es sich auch geißeln mag, um sich endgültig in den Augen der Latinität von der Erbsünde seines slawischen Blutes zu reinigen, es wird seine Natur nicht umschaffen; seine Zukunft, wenn es eine Zukunft überhaupt besitzt — liegt in der slawischen W e l t . . . , nicht am Schwänze der L a t i n i t ä t . . . " Jetzt waren alle Lösungsmöglidhkeiten von heute oder morgen verschlossen, Katkov wird als kurzsichtig abgetan. „Eine politische Vertretung auf russischen Grundlagen, wie sie der Russkij Wjestnik meint, das heißt, ohne Zwangsgewalt, im Sinne einer Organisierung der öffentlichen Meinung, würde den Polen ebenso unverständlich sein . . . wie eine Kirche ohne P a p s t . . . , worin wir Befriedigung finden würden, das müßten sie als bitteren Hohn empfinden . . . , als neuen Angriff auf ihre Nationalität." Auch Iwan Aksakovs Sejmgedanken weist Samarin ab. 112

„Eine Volksbefragung in Polen könnte nur dann zu positiven Ergebnissen führen, wenn Polen selbst mit sich eins w ä r e . . . , aber dann gäbe es auch keine polnisdie Frage in der Gestalt, wie sie jetzt vor uns steht —, ein zerbrochenes Gefäß, das von oben bis unten kracht, gibt keinen vollen Klang . . . " Und Samarin ist überzeugt, daß man von einem Polen, das sich selbst nicht versteht, nur zum hundertsten Male hören könnte, daß es nicht mit Rußland leben w i l l . . . „Eine endgültige Lösung der polnischen Frage, eine solche Lösung, welche die Polen befriedigen würde, ist undenkbar ohne ihre grundlegende geistige Wiedergeburt. Polen muß sich von seinem Bunde mit der Latinität lossagen und endlich mit dem Gedanken abfinden, nur es selbst zu sein, das heißt ein slawischer Stamm von jenen zu sein, die ein und derselben geschichtlichen Berufung dienen; andererseits muß auch Rußland sich entscheiden und verstehen, nur es selbst zu sein, das heißt der geschichtliche Vertreter des orthodoxen slawischen Elements. Mit anderen Worten, kein militärischer oder diplomatischer Triumph ist vonnöten . . ., nicht diese oder jene Umgestaltung in unserem Staatsbau, sondern der freiwillig anerkannte Triumph des einen Kulturprinzips über das andere . . . " So vereinigte sich in Samarin der tiefste Pessimusmus des Russen in der polnischen Frage mit dem höchstgespannten Verlangen nach einem russisch-polnischen Ausgleich im Slawischen. Aber die Slawophilen wußten, daß ihre Zeit nicht Heute und nicht Morgen war. Dieses Bewußtsein entband zugleich von der Pflicht, das echte Heil in der Gegenwart zu suchen. So geschah es, daß Samarin, der philosophisch eigenwilligste der Publizisten, zur polnischen Frage realpolitischer dachte als die Tagesgrübler. „Durch die Macht der historischen Umstände ist die Frage des Volksgewissens zu einer staatlichen geworden, und die staatliche Frage nahm europäische Ausmaße an. Der ewige Kampf des Slawentums mit der Latinität ist aus dem Bereich des Geistigen in die Wälder Litauens und in die Kabinette der Diplomaten übergegangen; Blut wird vergossen, Dörfer brennen . . . Diese Erscheinungen versetzen uns in einen anderen Bereich der polFleischhacker, Russische Antworten.

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nisdien Frage und veranlassen uns, eine Antwort auf sie zu suchen, aber schon nicht mehr im früheren Sinne. Hier im Bereich der politischen Kombinationen erhält auch das Wort Lösung eine andere beschränktere Bedeutung. Wenn wir in diesen Bereich übergehen, müssen wir vor allem die Hoffnung aufgeben, eine endgültige und volle Lösung zu finden: zweitens müssen wir von vorneherein wissen, daß wir die Polen nicht befriedigen können, unser Ziel darf nur darin bestehen, sie für Rußland unsdbädlidb zu madben ...", vor allem muß man im Königreich den Aufstand ersticken und dazu die „atterwirksamsten "Maßnahmen ergreifen, ohne sich bei ihrer Wahl von dieser oder jener Voraussetzung abhängig zu machen, welche die allgemeine Lösung des künftigen Schicksals betreffen . . . " Die ganze Dämonie der Slawophilie hatte sich in diese mit elegantester Glätte und echtester slawischer Trauer niedergeschriebenen Formulierungen gehüllt. Als Jurij Samarin die Feder niederlegte, trat er eine Reise nach Polen an — die Slawophilie war vom Kaiser zum politischen Handeln in Polen berufen worden . . . IV. Die Anregung zur Trennung von Staat und Volk hatten die Slawophilen aus einem subtilen Erleben der russischen Gegenwart empfangen, welcher in der Tat ein organisches Ineinanderaufgehen dieser beiden Lebensträger jedes staatlichen Gemeinschaftswesens mangelte. Es war nur die Tragik der Slawophilen, daß sie diese zeitgebundene Tatsache als wesentlich hinstellten, historisch unterbauten und zum geschichtlichen Gesetz erhoben, obwohl gerade sie einer organischen Lösung der Spannung in dem Ideal einer echten Befragung des Volkes durch eine echte Selbstherrschaft am nächsten kamen. Durch die Slawophilie geprägt war auch der russische Begriff der Gesellschaft, „Obschtschestwo". Vom selben Wortstamm wie die Bauerngemeinde, die „Obschtschina", gebildet, sollte dieser Gesellschaftsbegriff 114

auch ebenso eine selbstgewachsene, in sich selbst ruhende, aus eigenem inneren Gesetz sich entwickelnde Gemeinschaft ausdrücken, der Staat sollte ihr möglichst fern bleiben. Unverkennbar gab es im damaligen Rußland auch zwei Arten von Nationalismus, einen staatlichen und einen gesellschaftlichen. Beide konnten einander sehr nahe kommen, aber ein gewisses Mißtrauen blieb — die Regierung bezweifelte die Reinheit der gesellschaftlichen Absichten, die Gesellschaft ihrerseits die Fähigkeit der Regierung zur Erfüllung nationaler Belange. Nur selten auch bediente sich der Staat seiner nationalen Gesellschaft zur Lösung augenfällig gemeinsamer Aufgaben, wie bei den Vorarbeiten zur Bauernbefreiung. Aber man trennte sich dann bald wieder. Die großen Männer der Bauernreform, die in ihren Auffassungen den Slawophilen und Kawelin nahestanden und der Befreiungsakte zum Teil ihr Gesicht gegeben hatten, wurden unmittelbar nach dem 19. Februar 1861 der Entrüstung des reaktionären Teils des Adels zum Opfer gebracht und verabschiedet. Nikolaj Miljutin, „die Seele der Bauernreform", sank so nach sechsundzwanzigjähriger Beamtenlaufbahn gleichsam wieder in die Gesellschaft zurück, andererseits stellte sein freier Mitarbeiter, Jurij Samarin, den „Wladimir III. Klasse" mit dem Bemerken zurück, daß er für eine Arbeit am Gesellschaftsbau keine staatliche Ordensauszeichnung annehmen könne . . .

Nikolaj Miljutin weilte im Ausland, als ihn der Kaiser im Sommer 1863 zurückberief, um die Durchführung eines neuen Reformplans für Polen in seine Hände zu legen. — Schon im April 1862 hatte Alexander II. gesprächsweise gegenüber Bismarck die Absicht geäußert, „Polen so gut zu regieren, wie es ohne den intelligenteren Teil seiner Bevölkerung möglich sei", dennoch hatte er kurz darauf das Experiment Wielopolski, den letzten Versuch zu einer Versöhnung mit der polnischen Oberschicht, unternommen. In dem Maße als das Scheitern dieses Versuches fühlbar wurde, nahm in der russischen Regierung das letzte große Programm einer Lösung der polnisdien Frage Ge8*

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stalt an: Petersburg wollte das politisch nodi völlig unberührte, auch am Aufstand kaum beteiligte polnische Bauerntum sozial erlösen und sich politisch verpflichten. Als der Kaiser im Sommer 1863 in zwei überaus gnädigen Audienzen Nikolaj Miljutin die Mission in Polen auferlegte, sah er in ihm den Mann, der den polnischen Bauern zur Stütze der russischen Regierung im Königreich machen werde. Dieser Gedanke der Regierung war nicht neu. Er lag nur zu nahe angesichts des kulturellen Widerwillens der oberen polnischen Schichten gegenüber Rußland. Die nationalrussische Publizistik hatte diesen geringschätzenden polnischen Abscheu vor dem russischen Staatsherrn bis in die Tiefen der volksbildenden Kräfte zu analysieren versucht und oft genug als die Verirrung der Schlachta allein bezeichnet. Meist war diese Erkenntnis von der Erwartung begleitet, daß dieser westwärtsgewandte, Rußland widerstehende Stand sich endgültig aufreiben und die formbare Masse des polnischen Bauerntums zurücklassen werde. Niemand sprach diese Hoffnung drastischer aus als Michail Pogodin: „Die jetzige polnische Schlachta muß wie die alten Juden aus Ägypten fortgeführt werden und auf einer vierzigjährigen Wanderschaft durch die europäische Wüste zugrunde gehen, und das neue Polen mit seinen befreiten Bauern . . . muß ein neues Leben beginnen, eine neue Geschichte in Vereinigung mit Rußland." Ja, Pogodin war auch „schon lange" von der „keltischen oder romanischen Herkunft" der Schlachta überzeugt. Andere Propagandisten glaubten aus der Theorie von der normannischen Herkunft der polnischen Staatsgründer den Schluß ziehen zu können, daß die polnische Oberschicht immer noch in ihrem rassischen Bestände unslawisch sei. Das war recht unvorsichtig, denn der normannische Ursprung der staatsbildenden Schicht war für Rußland weit besser belegt und bewiesen als für Polen. Pogodin fühlte, daß die Analogie bestehen blieb, gleichgültig ob man die Schlachta aus Nord- oder Westeuropa stammen ließ, aber sein Versuch, sie aufzuheben, blieb eine unbewiesene Behauptung. „Die Schlachta — das sind Einwanderer in Polen wie bei uns die Normannen; aber unsere Normannen 116

haben sich mit den Slawen vermischt, wie ein Tropfen Wein im Wasser, die Schlachta aber blieb gesondert im Wasser, wie ö l . . . " Den Geheimnissen dieser historischen Chemie, den Ursachen, warum das nordische Blut im slawischen leichter lösbar sein sollte als das westliche, scheint Pogodin allerdings nicht nachgegangen zu sein. Im übrigen lag in allen diesen Überspitzungen die russische Antwort auf die polnischen Versuche, die Großrussen aus der slawischen Familie zu verweisen und Ukrainer und Weißrussen für das Polentum zu beanspruchen. Seit dem Beginn der polnischen Krise hatte auch der Denj die öffentliche Aufmerksamkeit auf das polnische Bauerntum zu lenken versucht — Rußland solle in Polen „eine neue historische Idee vorantragen: Bedeutung und Anteilnahme des einfachen Volkes, der bäuerlichen Bevölkerung, im Gemeinschaftsleben des Volkskörpers. Das Erscheinen dieses Elements im gesellschaftlichen Leben könnte die Rückkehr Polens zum slawischen Prinzip fördern . . . , vielleicht bewahrt es in sich Kräfte zu einem neuen historischen Leben P o l e n s . . . " Miljutin ging jetzt nicht allein in das Königreich, er nahm seine beiden Mitarbeiter von 1861, Jurij Samarin und den Fürsten Wladimir Tscherkasskij, mit sich, Hilferding und Koscheljov folgten nach: die Slawophilie hatte in Polen das Wort — und die Tat. Ihre Aufgabe war sozial erleichtert, politisch aber erschwert durch die Bauerngesetze, welche die geheime polnische „Nationalregierung" in dem Bestreben, das Volk in den Aufstand mitzureißen, erlassen und nach Samarins eigenen Beobachtungen auch durchzusetzen verstanden hatte. Samarin gestand, welche Bedeutung er diesem neuen Stadium des Kampfes zwischen der russischen Herrschaft und dem polnischen Aufstand um die Gefolgschaft des polnischen Bauern beimaß: „Wessen Kraft wird endgültig die stärkere sein, wem wird es gelingen, das schwankende Gefühl der Massen an sich zu ziehen, von der Entscheidung dieser Frage hängt der endgültige Ausgang des Kampfes ab." Und Katkov sagte in den Moskowskie Wjedomosti gerade heraus — man müsse so handeln, daß mit der Regierung und nicht mit dem polnischen Adel das Andenken 117

an diese kapitale Maßnahme verbunden b l e i b e . . . In der T a t , die neue Bauernordnung in Polen wurde das „liberalste" Gesetz der Regierung Alexanders II. — der obligatorische Loskauf, die Vergrößerung der bäuerlichen Bodenfläche, die „allständische Wolostjgemeinde", alles Ideale der russischen Bauernfreunde, die außerhalb des Gesetzes vom 19. Februar 1861 geblieben waren, wurden 1864 in Polen verwirklicht. Die Grundgedanken dieses Gesetzes waren das Werk der Slawophilie — selbst ein Proudhon zollte ihm Anerkennung. Als die russische Regierung am 19. Februar 1864 — man wählte mit Absicht den Jahrestag von 1861 — die Bauerngesetzgebung für das Königreich Polen erließ, währte der Aufstand noch. Erst Ende März wurde die geheime „Nationalregierung" gefaßt, am 1. Mai 1864 verkündete die russische Heeresleitung das Ende des Feldzuges. V. Für die großen Programmatiker in der polnischen Frage, für die Slawophilen, für Michail Pogodin und Katkov, war die Liquidierung des polnischen Aufstandes nur der Beginn, nur die Voraussetzung zur Lösung der polnischen Frage. Aber überall dort, wo man die Dinge lediglich an dem Schatten der europäischen Bedrohung gemessen hatte, war das ganze Bild der polnischen Gefahr erloschen. Man griff wieder nach den alten Maßstäben. Eine Petersburger Zeitung erklärte schon im August 1863, daß die russische Gesellschaft anfange, der polnischen Frage überdrüssig zu werden, die man eben weitgehend als außenpolitisches Problem empfand. Die allenthalben beobachtete Rückwendung des russischen öffentlichen Interesses zu den sogenannten „inneren" Fragen Rußlands schloß aber nicht einmal das Westgebiet ein. Noch im September 1864 schrieb Iwan Aksakov beseligt: „Das wesentlichste und ruhmreichste Ergebnis der Ereignisse des letzten Jahres ist in der T a t die Besitzergreifung . . . der Westgebiete . . . durch das gesellschaftliche und allvölkische Bewußtsein." Er verkündete, daß die nationale Er118

fassung und Sicherung dieses Landes Aufgabe der russischen Gesellschaft sei. Sie solle ihre besten Kräfte nach dem Westen schidcen, als Beamte, Friedensrichter und Gutsbesitzer im Lande ansässig machen. Die großen Gütereinziehungen nach dem Aufstand und die Einschränkung des Verfügungsrechts über den polnischen Bodenbesitz durch das Gesetz vom 10. Dezember 1865 schienen ja Raum zu geben für eine Durchsetzung der Oberschichten mit Russen und eine organische Russifizierung. Aber Iwan Aksakov wird dann jahrzehntelang das Versagen der russischen Gesellschaft an dieser Aufgabe beklagen und schon 1867 resigniert feststellen, daß, wie „abnormal" das auch sein mag, die Regierung die Pflichten der Gesellschaft übernehmen müsse. Allmählich verlor sich die Auseinandersetzung der Russen über die polnische Frage in ein journalistisches Gezänke der Unentwegten. Die Moskowskie Wjedomosti und die Presse der Slawophilen fanden wie früher so auch jetzt und später keine gemeinsame Front, aber sie besaßen einen gemeinsamen Hauptfeind in der Zeitung des russischen Großgrundbesitzers, „Wjestj". Schon sehr bald äußerte dieses Petersburger Organ sich beunruhigt über die russische Sozialpolitik in den Westgebieten, über die „Parteinahme der Beamten für die unteren Schichten" und hieß den Denj „demagogisch und fanatisch", Katkov aber einen „Roten und Demokraten". In der Wjestj zeigte sich ganz drastisch, wie im Bewußtsein der russischen Oberschicht das eigentlich Polnische an der polnischen Frage und diese selbst damit in den Hintergrund trat, wie das nationale Empfinden an einer ständischen Interessengemeinschaft abstumpfte. Ähnlich hatte vor dem bewaffneten Aufstand das vermeintliche gemeinsame liberale Interesse gewisse russische Strömungen der polnischen Sache geneigt gemacht.

Das große russische Gespräch über die polnische Frage ermüdete zusehends, das Problem war zerredet und nicht gelöst. Ohne durch größere Ereignisse von nachhaltiger Wirkung an

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Polen erinnert zu werden, ging Rußland den Weg seiner inneren Zersetzung... Am 4. April 1866 fiel der „Schuß Karakosovs" — frühere Zaren waren in Palastrevolutionen untergegangen, zum ersten Male hatte sich jetzt eine Hand aus dem russischen Volke gegen den Gosudarj erhoben. — Der Attentäter muß ein Pole sein — schrie Katkov in alle Welt hinaus —, er ist kein Russe, er kann kein Russe sein — „man soll uns nichts von unseren Nihilisten erzählen, von unseren sogenannten Roten, das ist ein Betrug, mit dem man uns ablenken w i l l . . . " Als Katkov nicht mehr bestreiten konnte, das Karakosov Russe war, bezeichnete er ihn als das Werkzeug polnischer Hände. In Katkov war nichts von jener apokalyptischen Ahnung, die Alexander Herzen wünschen ließ, daß die Slawen wenigstens geeint seien, wenn die große Katastrophe hereinbrechen werde, die Bakunin mit der Uberzeugung erfüllte, nur durch Selbstvernichtung könne sich der russische Adel retten . . . Am 25. Mai 1867 entging Kaiser Alexander II. einem zweiten Attentat, das diesmal tatsächlich ein Pole auf ihn verübte, während er sich zum Besuch der Weltausstellung in Paris befand. Zur selben Zeit tagte in Moskau im Rahmen der russischen ethnographischen Ausstellung ein „slawischer Kongreß". Eben wollte man sich am 26. Mai zur Mittagsstunde an eine reichgedeckte brüderliche Tafel setzen, als die erregende Nachricht aus Paris eintraf, man schickte nach einem Popen und ließ einen Dankgottesdienst abhalten. Das entscheidende Wort über die abwesenden Polen war allerdings schon einige Tage früher gefallen. Michail Petrowitsch Pogodin hatte es durch eine unvorsichtige Jeremiade ausgelöst: „. . . Ich habe den Namen der Polen ausgesprochen. Aber wo sind sie? Ich sehe hier niemanden. Ach, sie allein unter allen Slawen stehen fern und werfen uns finstere Blicke zu . . . Wir schließen sie nicht aus unserer Familie aus; bitterlich weinend über ihre schicksalhafte Verblendung wünschen wir, daß sie doch wenigstens jetzt ihre unnatürliche Lage erkennen mögen . . . " 120

Diese sanften Worte gaben dem tschechischen Vertreter Rie ger Mut. Er kam geradewegs von der Pariser Weltausstellung, wo ihm die polnischen Emigranten einen Protest gegen den Besuch der Tschechen in Rußland überreicht und das Versprechen abgenommen hatten, die polnische Sache in Moskau zur Sprache zu bringen. Nun suchte er eine Form, die den russischen Gastgebern erträglich sein sollte: „ . . . M e i n e Herren! Als der polnische Aufstand losbrach, sagten wir, daß er ein Unglück für die Polen s e i . . . , jetzt aber sage ich, daß dieser Aufstand gleichzeitig ein Unglück für das gesamte Slawentum war. Die Herzen zweier slawischen Völker haben sich mit der Bitterkeit des Bruderzwistes e r f ü l l t . . . , und, meine Herren, solange dieser unversöhnliche Haß dauert, solange ein slawisches Volk vor den Türen unserer slawischen Halle steht, solange ein slawisches Volk sich gegen das andere wendet, aus Angst um sein Dasein, solange wird auch zwischen uns keine Eintracht s e i n . . . Wenn der Kampf zwischen Polen und Rußland fortdauert, wenn die Polen zum letzten Kampf schreiten werden, zum Kampf um ihr völkisches Sein, wer bürgt uns d a f ü r . . . , daß sie nicht die Deutschen zur Hilfe gegen die Russen rufen w e r d e n . . . Ich habe schon gesagt, daß die Polen während des Aufstandes nicht nur der Regierung und dem Heer, sondern auch dem russischen Volk Unrecht taten; wir haben gesehen, wieviele von ihnen bestrebt waren, den russischen Stamm zu verunglimpfen und in ganz Europa verhaßt zu machen . . . , wir haben den Schmerz, welchen dieses Unrecht in Euren Herzen erzeugt hat, wohl verstanden. Aber dennoch fragen wir Euch: W a s geschieht, wenn der Bruder den Bruder beleidigt, und der Beleidigte den anderen besiegt hat? Soll die beiderseitige Bitterkeit und der Haß Jahrhunderte dauern? Ich glaube, daß jetzt der Augenblick kommt, wo sich die brüderliche Liebe äußern muß. In diesem entscheidenden Augenblick muß der siegreiche Held zu dem besiegten Bruder sagen: Ich habe dich gezähmt, du bist in meiner Hand und ich kann mit dir alles machen, was mir beliebt. Aber ich bin gerecht, ich will mit dir brüderlich umgehen, ich will dir dein Recht und dein Sein schenken . . ." 121

Michail Sergeewitsch Solowjov, der große russische Historiker, suchte mit viel T a k t die notwendige russische Antwort indirekt zu geben, aber nach ihm erhob sich der Fürst Tscherkasskij. Er fragte, ob eine der im russischen Reich vereinten Nationalitäten mehr Rechte verlangen dürfe als die herrschende. Polen habe mehr Vorzüge genossen als Rußland, aber zweimal, 1831 und 1863, seine politische Freiheit durch eigene Schuld verloren : „Wenn die Söhne Polens aus eigenem Antrieb zu unserer gemeinsamen brüderlichen Tafel zurückkehren, in unser väterliches Haus, aber nicht als widerspenstige Söhne, sondern gleich dem verlorenen Sohn, gewappnet mit aufrichtiger, demütiger Reue, dann werden wir ihnen unsere brüderlichen Arme weit auftun, und es wird kein Kalb so wohl gemästet sein in unserer Herde, das für diesen Festtag zu schlachten uns leid wäre." Begeisterter Beifall der Russen verstärkte diesen Mißton in der Harmonie der slawischen Versammlung. —

Fürst Tscherkasskij war erst vor kurzem von seiner Mission in Polen zurüdtgekehrt. Er hatte es persönlich erlebt, wie die Polen zum zweiten Male ihre politische Freiheit verloren, wie die russische Regierung allmählich alle jene autonomen Einrichtungen, den Staatsrat, die Regierungskommissionen wieder aufhob, die sie bis 1863 gegeben hatte. Am 28. März 1867 war die völlige Verschmelzung des Königreichs mit den übrigen Teilen Rußlands verkündet worden. Aber diese Verschmelzung bedeutete mehr eine formale Wiederaufsaugung der polnischen autonomen Behörden durch die Petersburger Ministerien, als eine Angleichung des positiven Rechtszustandes im Königreich an den innerrussischen. Der polnische Bauer erfreute sich einer fortschrittlicheren Gesetzgebung als der innerrussische, der fortschrittlichsten des damaligen Rußlands überhaupt. Aber die den anderen Ständen zugute kommenden neuen Einrichtungen, welche die „Zeit der Reformen" abschlössen, die städtische und die landschaftliche Selbstverwaltung (Semstwo), wurden auf Polen nicht ausgedehnt, und die neue Gerichtsverfassung erhielt 122

das Königreich ohne Schwurgericht. Diese Hohlräume in der Verschmelzung entstanden nur zum Teil unter dem Einfluß allgemeiner Hemmungen der russischen Regierung, die ihre Reformen, kaum erlassen, als gefährlich empfand und auch im Innern Rußlands sofort wieder einschränkte. Entscheidender war, daß Petersburg dem polnischen Adel und Bürgertum, als den Trägern des Aufstandes, jede Möglichkeit zur Organisation vorenthalten wollte. In dem Mißtrauen gegen die polnischen Oberschichten wurzelte auch zunächst die jetzt einsetzende Politik der Russifizierung, deren erste Stufe der russische Beamte w a r . . . Harmlos stand die Slawophilie wieder abseits — und in der Tat, die plumpen Methoden der russischen Regierung gefielen ihr nicht. Aber die slawophile Losung zum Kampf gegen den „Polonismus", die Überzeugung, daß die Polen zu ihrem eigenen Heile von allem Unslawischen gereinigt werden müßten, konnte in dem Alltagsbereich der ebenso findigen wie unschöpferischen russischen Verwaltungspraxis kaum eine erhabene Anwendung finden. Zwangsläufig wirkten auch die von den russischen Nationalen begrüßten und immer noch als ungenügend empfundenen Russifizierungsmaßnahmen in den Westgebieten nach dem Königreich hinüber, für das sich jetzt die entpolitisierte Bezeichnung „Weichselland" einzubürgern begann. Am deutlichsten ist der Gang dieser Russifizierungspolitik an den Sprachenverordnungen abzulesen, die ihren Höhepunkt — nur den gesetzlichen, noch nicht den verwaltungspraktischen — erreichten, als 1885 die Unterrichtssprache auch in den Gemeindeschulen in allen Gegenständen die russische wurde. Auch der Kampf gegen die Brester Kirchenunion wurde jetzt auf den Boden des Weichsellandes hinübergetragen. Die Maßnahmen der russischen Regierung führten dazu, daß schon 1875 die Union auch im Königreich äußerlich nicht mehr bestand, aber die Synodalnachrichten über die kirchliche Lage diesseits und jenseits der russisch-polnischen Grenzen von 1815 trafen für die Orthodoxie wenig günstige Feststellungen. 123

Das russische Regime in Polen nach 1863 war hart, in tausend kleinlichen Quälereien der Verwaltungspraxis verästelt, und ohne dauernden Erfolg. Die polnischen Sozialisten nationaler Richtung werden seit dem Ende der achtziger Jahre wieder jene Kampfstellung gegenüber Rußland beziehen, die von der illusionslosen Generation nach dem Aufstand, den sogenannten Vertretern der „Organischen Arbeit", geräumt wurde.

Die Sorge, daß das polnische Bauerntum nach seiner sozialen Stärkung von 1864 seine neugewonnenen Kräfte nicht lange der russischen Herrschaft zur Stütze bieten werde, erwachte bald bei allen politischen Richtungen in Rußland. Aber der russische Vorrat an großen Gedanken zur Lösung der polnischen Frage war jetzt endgültig erschöpft. Die Regierung beschränkte sich fortab auf negative Maßnahmen, und die Liberalen rügten diese Politik, soweit die Zensur dies gestattete, und erwarteten, ohne irgendwie programmatisch zu werden, eine Besserung des russisch-polnischen Verhältnisses von einer Minderung des herrschenden Drucks. In Alexander Pypin, dem berühmten russischen Literarhistoriker, und seinem Freunde Wladimir Spasowicz, dem Mitgründer der polnischen Zeitung „Kraj" in Petersburg, reichten dieser mäßige russische Liberalismus und die sogenannte „Ugoda", eine bleibend versöhnliche polnische Richtung, eineinander die Hände. Die kulturelle polnisch-russische Zusammenarbeit, verkörpert in diesen beiden Männern, kam zu bedeutenden wissenschaftlichen Leistungen, ohne jemals politische Reichweite zu erlangen. Auch die Tätigkeit der russischen Linken in der polnischen Frage, von Herzen und Bakunin eingeleitet, kam nicht zu politischer Entfaltung. Anfang der achtziger Jahre empfing die erste polnische sozialistische Partei, Proletariat, ihren terroristischen Charakter von der russischen Narodnaja Wolja — die nationale Richtung im polnischen Sozialismus löste dann diese Bindungen, während den reinen Marxismus hüben und drüben eine polnische Frage im eigentlichen, daß heißt im historischen und völkischen Sinne nicht interessierte. Auch die rus124

Sischen Nationalen hatten sich 1863 in der polnischen Frage sichtlich geistig verausgabt. Nur die slawophile Demagogie wurde noch einmal sehr tiefsinnig. Die Slawophilen erkannten, wie völlig unzweckmäßig eine rein sprachliche Russifizierung war — ohne einen in dieser Sprache zu vermittelnden anziehenden Kulturgehalt. Das wirklich wirksame Mittel zur „Entpolonisierung" des Westgebietes, zur Erlösung auch der Polen selbst vom „Polonismus", sahen sie, auch wenn dies nur selten offen ausgesprochen wurde, einzig in der Orthodoxie. Iwan Aksakov gewährte eine selten weite Sicht in diese innersten Gedanken der Slawophilen. „Im Westgebiet sind Lateinertum und Orthodoxie nicht so sehr persönliche Glaubensbekenntnisse, als vielmehr geschichtliche, geistige und sittliche Kräfte, unter deren Wirkung das eine oder das andere Volkstum entstand." War sich Aksakov bewußt, wie er mit dieser Erkenntis den Boden eines absoluten Christentums verließ — welche grundstürzenden Geisteskräfte steckten doch in der Slawophilie! Und es war schließlich nur noch eine Frage des politischen Mutes, wie weit diese Erkenntnis auch auf das ehemalige Königreich und seine Reinigung vom „Polonismus" angewendet werden sollte. Aksakov besaß diesen Mut. Es war der letzte Gedanke Rußlands in der polnischen Frage, der wirklich stark und wirklich gefährlich war, als Iwan Aksakov an die alte Sehnsucht der Völker nach einer Liturgie in der Muttersprache dachte — „selbst im Königreich Polen in den kernpolnischen Gebieten würden die orthodoxe Messe, der orthodoxe Gottesdienst in polnischer Sprache und ein paar Dutzend verheirateter orthodoxer Priester polnischer Nationalität aus den bekehrten Polen (und solche werden sich finden) eine wohltätige Wirkung auf die Gemüter der Landbevölkerung ausüben und ihnen wohl anziehender erscheinen als die lateinische Messe mit den ledigen Geistlichen . . . " Aksakov gesteht, daß er von solchen Versuchen keine religiöse Revolution erwarte, er habe aufgehört, an eine Wiedergeburt der Polen zu glauben, aber eine hemmende, zersetzende Wirkung auf den noch nicht abgeschlossenen Vorgang der polnischen Volkswerdung hält er für möglich und wünschenswert. „Es gibt 125

bedeutende Massen des einfachen polnischen Volkes, die physisch und ethnographisch ein besonderes polnisches Volkstum darstellen, und die bei der Entwicklungsmöglichkeit, die sich ihnen jetzt dank Rußland bietet, unvermeidlich zu Anteilnehmern der polnischen katholischen ,Kultur' werden, d. h. von vorneherein zu Opfern des polnischen Katholizismus verurteilt sind: für sie gibt es nur eine Rettung, um nicht endgültig zugrunde zu gehen — die Orthodoxie. Und es besteht kein Zweifel, daß ein orthodoxes Volk, sei es auch polnischer Herkunft, nicht nur Rußland nicht feindlich sein wird, sondern im Gegenteil mit ihm einen geistigen Bund eingehen wird, der enger und fester sein wird als der rein äußerliche administrative Verband." Die russische Regierung hat allerdings einen solchen Angriff auf die Substanz des Katholizismus nicht unternommen, gering genug waren ihre inneren Erfolge schon bei der Rüdeführung der Linierten in den Schoß der Orthodoxie. Der russische Pope war kein Missionar, seine Apathie ebenso wie die Unzulänglichkeit des russischen Beamten verkürzten die Reichweite und verengten den Sinn jeder Maßnahme. Zu irgendeiner Kulturpropaganda gegenüber dem Polen war der Russe nicht fähig. Alexander II. war sich dessen völlig bewußt: „Der Russe fühle nicht die nötige Überlegenheit, um die Polen zu beherrschen...", hatte er zu Bismarck geäußert, und er glaubte selbst nicht an den Erfolg einer Russifizierungspolitik. *

Allmählich höhlte sich die von innen her an Polen herangebrachte Gedankenmasse der Russen durch eigene Verflachung selbst aus. Was sollte auch jenes Rußland vom Ende des 19. Jahrhunderts, das seinen Zusammenbruch sehenden Auges nicht mehr aufzuhalten vermochte oder blinden Blicks alle Vorzeichen als Signale der Erneuerung umdeutete, in einer Frage noch leisten, die ihm immer periphär geblieben war? Dieser inneren Erschlaffung entspricht die Versteifung des Problems nach außen hin. Man verkalkte jetzt die äußeren Ränder eines politischen 126

Raums, dessen Lebenswege organisch zu durchbluten man nicht vermochte, durch greisenhafte Mißgunst gegenüber dem fähigeren Nadibarn. Es kam die Sorge, daß den Deutschen gelingen könnte, was Rußland nicht gelang. Zwei Ängste beunruhigten fortan die liberalen Russen ebenso wie die nationalen: die eine Angst vor der kolonisatorischen Kraft Preußens — sie würde nach der Eindeutschung Posens die Grenze des Königreichs überschreiten, an der Weichsel hätte Deutschland einen noch günstigeren Hundertsatz von Deutschen und Juden (!) — und die andere Angst vor den Reizen des österreichischen Verfassungslebens, denen sich die galizischen Polen durchaus zugänglich zeigten, so daß im 20. Jahrhundert eine „austropolnisdie Lösung" in den Bereich der Möglichkeit gerückt schien. Vergeblich seufzten die Russen nach wie vor über die Verblendung der Polen, die ihre wahren Feinde in den Deutschen nicht erkennen wollten. Nikolaj Jakowlewitsch Danilewskij, der bedeutendste Publizist des Panslawismus, brachte in seinem „Rußland und Europa", das zunächst 1869—70 in der Zeitschrift „Sarja" erschien, kaum etwas Neues zur polnischen Frage, aber er gab dem dreifachen deutsch-polnisch-russischen Gegensatz, in den man die polnische Frage jetzt auflöste, das brutalste Bild: „Wer das abstoßende, aber interessante Schauspiel eines Kampfes zwisdien giftigen Spinnen gesehen hat, der wird bemerkt haben, daß so ein böses Tier, während es mit Verbissenheit einen seiner Gegner auffrißt, gar nicht gewahr wird, daß ein anderer es selbst schon von hinten anfrißt. Stellen diese Spinnen nicht das wahre Wappen des adelig-jesuitischen Polens dar, ein Symbol, das seinen staatlichen Charakter viel treuer wiedergibt als der einköpfige Adler." Das Jahr 1871 bedeutete für die Polen das Ende einer letzten Hoffnung, für die Russen den letzten Anlaß zu einer inneren Haltung gegenüber Deutschland, die in ihrer Entwicklung zum Weltkrieg führte. Der Panslawist Budilowitsch leitete in diesem Jahre einen Aufsatz in der „Rußkaja Bjeseda" mit dem Gedanken ein: „In einigen Jahren können wir plötzlich vor der schick127

salhaften Unmöglichkeit stehen, Polen für das Slawentum zu retten — es wird von der Welle des Germanentums überspült und ertrinkt. Noch ist die polnische Frage nicht unlösbar und hängt in bedeutendem Maße von uns Russen ab." Sein Parteigänger Lamanskij zog nach dem russisch-türkischen Krieg von 1877/78, dessen Ergebnis die Russen so wenig befriedigt hatte, einen tröstlichen Schluß: „Das Anwachsen der Deutschen kann auch eine gute Seite haben, für Polen und Russen einen gemeinsamen Standpunkt schaffen, die gemeinsame Gefahr zwingt die Gegner zu gemeinsamem Handeln — dabei ist diese Gefahr den Polen viel näher." Zur selben Zeit fand auch Alexander Pypin in zahlreichen wissenschaftlidien Veröffentlichungen Gelegenheit, sich am Rande zur polnischen Frage zu äußern. Er nahm scharfen Abstand von den Losungen der Slawophilie und des Panslawismus, aber er teilte die Einstellung dieser Richtungen zu Deutschland. Pypin war geistig zu geschult, um die damals in Rußland beliebte begriffliche Gleichsetzung der deutschen Einheit und der slawischen Einheit nicht als logischen Fehler zu erkennen und abzulehnen, aber auch er sah die polnische Frage durchaus auf dem Hintergrund eines Gegensatzes zu Deutschland. Bei der Kritik an Pusdikins Wort vom „häuslichen Streit" der Slawen kam ihm der Gedanke, die polnisdie Frage könne bald in ganz anderer Bedeutung eine häusliche werden, da der deutsdie Drang nach dem Osten schon jetzt die „häusliche" Grenze Rußlands erschüttere. Samarins Ideallösung der polnischen Frage durch den Triumph des russisch-orthodoxen Kulturprinzips bewunderte Pypin als Gedankenleistung, aber er fand, daß man etwas „rascher Wirkendes" finden müsse, angesichts des „ständigen Zurückweichens der slawischen Welt (und im besonderen Polens in seinem preußischen Teil) vor der römisch-germanischen".

In diesen Jahren äußerten sidi auch die bedeutendsten russischen Denker ihrer Zeit, Konstantin Leontjev und Wladimir Solowjov, zur polnischen Frage. Sie waren einsame Männer 128

ohne Schule, von jenen wenigen, die über die geistigen Stellungen der sechziger Jahre hinausgingen, Philosophen, die der Russe bewunderte, aber es war ihnen vergönnt, die politischen Denkinhalte der breiteren russischen Öffentlichkeit durch ihre großartige Antithese noch einmal aufzulockern, während die Slawophilie in minder begabten Köpfen allmählich schal wurde. Beide kamen von den Slawophilen her. Konstantin Leontjev teilte mit ihnen den Widerwillen gegen das „gleichmacherische liberale Europa" und die Forderung nach einem völkischen Leben aus der eigenen Substanz und Überlieferung. Aber dem allslawischen Gedanken stand Leontjev kühl gegenüber. „Die Stunde ist nahe, da wir es nicht nur gestehen, sondern laut heraussagen werden, daß der Erwerb Konstantinopels notwendiger und staatlicher ist als die platonische Befreiung der Slawen." 1882 erschien Leontjevs Artikel „Orthodoxie und Katholizismus in Polen" in der Zeitschrift Grashdanin: „Nicht die wahre Rechtgläubigkeit wird sich in die Breschen ergießen, welche sich da und dort durch die Unterminierung unserer heutigen Russiflzierung ergeben, sondern die traurigen Spülwasser des großrussischen Liberalismus . . . Die Katholiken sind Christen, und jetzt ist eine solche Zeit gekommen, daß nicht nur die Altgläubigen oder Papisten, auch die Buddhisten von Astrachan und die Muselmänner und Skopzen uns teurer sein müssen als die vielen, vielen Russen jener unbestimmbaren Farbe und jenes heimtückischen Petersburger Typs, die jetzt gegen den Nihilismus schreien, dem sie selbst Vorschub geleistet haben . . . Die Russifizierung der Randgebiete ist nichts anderes als ihre demokratische Europäisierung." In Wladimir Solowjov war die Überzeugung von der slawischen Berufung Rußlands überwölbt durch den Glauben an eine übervölkische Berufung der Menschheit durch das Christentum. Die unüberbrückbare geistige Trennung von Westen und Osten, von Katholizismus und Protestantismus auf der einen und Orthodoxie auf der anderen Seite, empfand Solowjov als den ausweglosen Fehler des russischen nationalen Denkens. O f t kam er an den alten Stellungen der Slawophilen vorbei, aber sie F l e i s c h h a c k e r , Russische Antworten.

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waren für ihn nur Ausgangspunkte, von denen er abstieß zu neuer Fahrt, um mit der Erkenntnis zurückzukehren, daß das Weltbild der Väter falsdi war. Er deckt sich in seinen Feststellungen über die Polen vollkommen mit den Slawophilen, nicht aber in seinen Urteilen: „Ungeachtet ihrer blutsmäßigen Antipathie gegen die Deutschen und ihrer blutsmäßigen Nähe zu den Russen wollen sich die Vertreter des Polonismus eher zur Eindeutschung verstehen als zur Verschmelzung mit Rußland." Solowjov findet das begreiflich: „Geist ist stärker als Blut." Die Slawophilie war einer Gleichsetzung von Geist und Blut nahegekommen. Da sie an einer blutsmäßigen Verwandtschaft aller Slawen nicht zweifelte, konnte sie die geistige Haltung der Polen nur als Entartung empfinden. Für Solowjev war der Geist in Gestalt eines absoluten Christentums das Primäre, nur in bewußter Einordnung in das Universale hielt er ein Volk auch national für entwicklungsfähig. In diesem Lichte gewinnt auch Peter der Große eine neue Bedeutung. „Peter der Große zertrümmerte erbarmungslos die harte Schale des ausschließlichen Nationalismus, die den Keim der russischen Eigenständigkeit in sich verkapselt hatte, und warf diesen Keim kühn auf den Boden der europäischen Weltgeschichte." Diese Weltanschauung läßt sich in die politische Praxis viel gesdimeidiger einordnen als die slawophile. Als Jurij Samarin die polnische Frage vom slawophilen Standpunkt zu Ende gedacht hatte, schloß er mit dem Bekenntnis, daß die Ergebnisse für die praktische Politik vollständig ungeeignet und auch nicht verpflichtend seien. Solowjov konnte für seine Lehre durch den Hinweis auf die großen praktischen Erfolgaussichten werben. „Die Befreiung von der nationalen Ausschließlichkeit wird für Rußland auch durch den Umstand erleichtert, daß auf dem Wege des nationalen Egoismus, der uns von der westlichen Kultur fern hält, Rußland niemals das nächste Ziel seiner Politik erreichen kann: die Einigung der slawischen Völker, die Sammlung der slawischen Welt. Die größere Hälfte unserer Stammesverwandten (Polen, Kroaten, Tschechen und Mährer) streben gemäß den geistigen Prinzipien ihres Volkslebens zur westlichen Welt. Bei einer negativen Einstellung zum

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Westen können wir für sie nicht ein wirkliches Einigungszentrum werden." Welch ein Höhepunkt in der geistigen Arbeit am Panslawismus! VI. Michail Pogodin und Alexander Herzen, Iwan Aksakov und Alexander Pypin hatten als die trübe Quelle aller polnischrussischen Mißverständnisse die völlige Unkenntnis der beiden Völker von einander beklagt und eine unmittelbare Auseinandersetzung gewünscht. Aksakov hatte seine Presse für dieses aufrichtige „Gespräch", wie Pypin sagte, zur Verfügung stellen wollen — man konnte die russische Zensur dafür verantwortlich machen, daß nichts Ähnliches zustande kam. Pogodin hatte in seiner leidenschaftlichen Art sogar ein Ehrengericht der slawischen Völker über den polnisch-russischen Streit gefordert. D a s 20. Jahrhundert erfüllte alle diese Wünsche. Die Revolution von 1905 sprengte die T o r e der Selbstherrschaft, und die russischen Massen stürzten sich in den politischen Bereich, in dem vier Jahrhunderte lang der Z a r allein gewaltet hatte. Alle öffentlichen Körperschaften waren über Nacht politisiert und der Saal wurde bereitet, in dem die Völker Rußlands von Mund zu Mund einander kennenlernen sollten — das Manifest Nikolaus II. vom 17. Oktober 1905 versprach die gesamtrussische Verfassung, das allrussische Parlament, die Reichsduma. Fast hundert Jahre lang hatte es so ausgesehen, als ob nur von den Randgebieten her die Erscheinungsformen des westlichen politischen Lebens in das innere russische Reich übergreifen könnten. Jetzt hatte man alles aus der eigenen Werkstatt — die Revolution und die Konstitution. Verglichen mit 1861—63 hatte so das Verhältnis der Russen zu den Polen eine wesentliche Veränderung erfahren. Die Liberalen brauchten nicht mehr die Hände auszustrecken, um einen Zipfel des konstitutionellen „ K a f t a n s " zu ergreifen, der — vielleicht — in Petersburg für die Polen zurechtgemacht wurde, und die Revolutionäre brauchten aus ihren Kellerverstecken nicht mehr Aus9*

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sdiau zu halten, ob aus dem brennenden polnischen Hause nicht doch noch der zündende Funke auf Rußland überspringe. Die polnischen Unruhen waren diesmal nur eine Begleiterscheinung der russischen. Dem Manifest vom 17. Oktober 1905 waren die Mißerfolge Rußlands im Kriege gegen Japan vorausgegangen. — Wieder war ein Rußland in den Krieg gezogen, das nicht mehr siegen wollte, das die Niederlage begrüßte, weil sie die Regierung sturmreif für den inneren Angriff machte. Kindischer Trotz hat im Krimkrieg diesen verräterischen Wunsch entschuldbar und zur tragischen Geburtsstunde einer Reform von oben gemacht, deren Mängel erst durch den bald wieder einsetzenden Stillstand zu unheilbaren Gebrechen wurden. Diesmal aber war eine Revolution zwischen die auswärtige Niederlage und die innere Umgestaltung getreten. Kaiser Nikolaus II. verstand diese Zeichen seiner Zeit nicht, nur eine überragende Persönlichkeit hätte in der Gärung dieser russischen Zeitwende vielleicht noch schöpferisch eingreifen können. Aber Nikolaus II. war kein neuer Gedanke und kein starker Wille gegeben, er verkörperte nur noch die äußere Form des Gosudarjs. Und die „bürgerlichen Elemente", von der Revolution zunächst hochgetragen, blickten nur nach oben, nach den Reizen der Konstitution, mit denen die Selbstherrschaft allzusehr gegeizt hatte, und wurden es nicht gewahr, daß sie nur der vulkanische Druck willenlos gereizter Massen emporhob, um sie bei der nächsten Zuckung dieses politischen Elementarereignisses zu verschlingen. Die Russen hatten in diesen Tagen von den Polen nichts mehr zu erwarten als ihre Stellungnahme in künftigen parlamentarischen Blockbildungen. Wieder erhielt das W o r t Kawelins von der polnisdi-russichen „Annäherung im Hasse gegen die Regierung", die „mit den veränderten Verhältnissen verschwinden und nur Enttäuschungen zurücklassen" werde, seine tiefe Bedeutung. Neben dem vorparlamentarischen und dem parlamentarischen Spiel um die Stimmen der Polen wirkte — allerdings mehr außerhalb der Duma — die neuerwachte Sehnsucht der Russen nach einer slawischen Versöhnung der beiden feindlichen 132

Völker. Sie verkörperte sich in einer Bewegung, die mit dem Namen „Neoslawismus" von dem Panslawismus alter Schule Abstand nahm, dessen imperialistische Versteifung allenthalben in Verruf gekommen war. Die merkwürdig unklare Grenzführung zwischen den einzelnen politischen Richtungen der russischen Intelligenz, die für das 19. Jahrhundert kennzeichnend gewesen war, hatte sich indessen in stark ausgeprägten Persönlichkeiten zur ausgesprochenen Zwitterhaftigkeit entwickelt. Der T y p des „liberalen Konservativen" war keine Seltenheit und allgemein bewundert in so „hochkultivierten" Vertretern, wie etwa den Fürsten Trubezkoj, vier Brüdern, die dank ihrer finanziellen Unabhängigkeit das seit den Tagen der Slawophilie beliebte unverbindliche Schweben zwischen Staat und Gesellschaft zu hohem Stil zu entwickeln vermochten. In der Moskauer Wochenzeitschrift Ewgenij Trubezkojs, dem „Moskowskij Jeshenjedjelnik", fand die lang herbeigewünschte Aussprache zwischen Polen und Russen eine Heimstätte; Marjan Zdiechowski, der polnische Philosoph und Literarhistoriker, wurde in den Spalten des Blattes der bedeutendste polnische Gast. Die Namen Zdiechowskis und Grigorij Trubezkojs sind für die russisch-polnische Versöhnungsbewegung ebenso kennzeichnend wie etwa die Namen Pypin und Spasowicz eine Generation früher. Alexander Pogodin, einer der Schildknappen des Neoslawismus, sdhrieb 1907, voll Trauer auf die erste bereits verebbte Welle der russisch-polnischen Annäherung zurückblickend: „Im Frühling 1904 wandte sich die Zeitung Rusj an alle Slawen mit dem Ostergruß ,Christus ist erstanden'. Dieser Gruß blieb nicht ohne Echo. Auf ihn antworteten auch die Polen. In unserer Presse wandte man der polnischen Frage verstärkte Aufmerksamkeit zu, die sich plötzlich als eine der brennendsten Fragen der Gegenwart erwies. Die russische Presse offenbarte viele Sympathien für die polnischen Brüder, . . . und wir erlebten eine Zeit schöner und notwendiger Begeisterung für die Ideen der Gerechtigkeit und Brüderlichkeit. Gerade von diesem Standpunkt wurde die polnische Frage in der Mehrzahl unserer Zei-

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tungsartikel, in Reden auf verschiedenen Semstwozusammenkünften und anderen behandelt..., leider endigte dieses Aufblühen brüderlicher Gefühle ebenso plötzlich, wie es begonnen hatte, bald legte man sich die alten Rechnungen vor, und alle fühlten, daß alte Voreingenommenheit und alte Vorurteile nidit so leicht vergessen werden." In der T a t hatten sich die russischen Semstwokongresse von 1905 in ihren Resolutionen für die Autonomie Polens ausgesprochen und gleichzeitig erklärt, „daß eine solche Lösung der polnischen Frage nicht nur nichts gemein hat mit dem Begriff der Loslösung Polens von Rußland, sondern im Gegenteil sich als unbedingt notwendig erweist zur festen Sicherung der Einheit und Stärke des Reiches, und daß es daher nicht der tatsächlichen Lage der Dinge entspricht, wenn die Regierung die Verhängung des Kriegszustandes über das Königreich Polen mit der Forderung nach Autonomie und der Deutung dieser Forderung als erster Stufe zur Losreißung von Rußland motiviert". Diese erste in der polnischen Frage öffentliche Geste der Russen entsprach ihrer Verbrüderung mit den Völkern des gemeinsamen Reichs gegen die gemeinsame Regierung, aber schon damals erhoben sich Stimmen, die den Begriff der Autonomie durch die Bezeichnung Selbstverwaltung ersetzt sehen wollten — es war dies nicht nur ein Streit um Worte. Auch im Parteiprogramm der Konstitutionellen Demokraten war eine Autonomie für Polen in Aussicht genommen, aber in der Duma standen die Kadetten (wie die Partei nach den Anfangsbuchstaben genannt wurde) dem Bestreben der Regierung, die polnische Frage auszuschalten, dann ebenso kühl gegenüber wie die anderen russischen Parteien. Die polnischen Abgeordneten in der ersten Duma spielten keine bedeutende Rolle, ihr Bestreben, die russischen Partner nicht zu reizen, machte sie ungefährlich. Nur einmal versuchten sie, sich irgendwie bemerkbar zu machen angesichts der deutlichen Absicht der Regierung, die polnische Frage zu übergehen und der sichtlichen Abneigung der russischen Dumamitglieder, das polnische Autonomieverlangen auf die Tagesordnung zu setzen. Am 30. April 1906 brachte der polnische Abgeordnete Haruszewicz 134

eine gemeinsame Erklärung von siebenundzwanzig polnischen Abgeordneten zur Verlesung: „Das jetzige Königreich Polen wurde vor einundneunzig Jahren aus Teilen des Territoriums des ehemaligen polnischen Staates gebildet und mit dem russischen Reich auf Grund internationaler Akte vereinigt..., gemäß diesen Bedingungen hat Kaiser Alexander I. dem Königreich Polen eine Konstitution g e g e b e n . . . Kaiser Nikolaus I. ersetzte diese Konstitution von 1815 durch das sogenannte „organische Statut" von 1832, das Polen seiner Volksvertretung beraubte, aber die gesonderte Verwaltung des Landes wahrte und ebenso seine ganze gesonderte Struktur . . ., die Aufhebung dieser Autonomie erfolgte erst später auf dem Weg einzelner Gesetze und administrativer Verordnungen, die juristisch nicht fähig sind, das grundsätzliche Verhältnis des Königreichs Polen zum russischen Reich zu verändern. — In den Staatsgrundgesetzen hieß es bisher (Art. 4 ) , daß mit dem kaiserlich allrussischen Thron unzertrennbar verbunden sind die Throne des Königsreichs Polen und des Großfürstentums Finnland. — In den neuen Staatsgrundgesetzen vom 23. April 1906 aber ist die Bezeichnung Königreich Polen vollkommen unterdrückt. So hat die Regierung am Vorabend der Eröffnung der Reichsduma eine der Grundlagen des staatlichen Gesamtbaus gestürzt. Und das geschieht in einem Augenblick, da die ganze Bevölkerung des Königreichs Polen heiß und einmütig für die autonomen Rechte ihres Landes kämpft, da diese Forderungen des polnischen Volkes ein freundliches Echo in der russischen freiheitlichen Bewegung gefunden haben, und da sich uns Polen die Möglichkeit eröffnete, unsere unverwirkbaren Rechte vor dem Angesicht des russischen Volkes zu vertreten." Die Duma hatte nichts dagegen, daß diese polnische Erklärung der „Kommission zur Abfassung einer Antwortadresse auf die Thronrede des Kaisers" übergeben wurde — das war nach den Worten des außerhalb der Duma stehenden polnischen Politikers Wladislaw Studnicki ein „Begräbnis erster Klasse". In der „freiheitlichen" Presse Rußlands fand die Deklaration ein böses Echo. Schon vorher war selbst der Moskowskij Jeshe135

njedjelnik nervös geworden, als er erfuhr, daß sich in der Duma eine Autonomistenpartei bilde, und er fragte die Polen, warum sie die Bedeutung ihrer Rechte schwächen und mit den Rechten der Tataren und Baschkiren auf eine Stufe stellen wollten. Im Programm der Kadettenpartei sei es längst schon niedergeschrieben, daß Polen eine Autonomie aus den Händen eines freien und konstitutionellen Rußlands erhalten werde. Daher müßten Polen und Russen nach der Erreichung dieses ersten Ziels — der Einbürgerung der Freiheit und Konstitution in Rußland streben. „Der Zusammenschluß der Polen in einer Gruppe, die andere Aufgaben an erste Stelle rückt, verletzt daher das Gesetz der Perspektive und zersplittert die Kräfte." Noch schärfer äußerte sich die Zeitung der Kadetten, „Rjetschj", sie verurteilte an der Deklaration vom 30. April vor allem, daß sie die polnische Sache auf internationale Grundlage stellte. Obwohl der Moskowskij Jeshenjedjelnik selbst die Deklaration als mißlungen und die „Argumentation auf Grund der Traktate für wenig überzeugend" hielt, warnte er die Kadetten, man dürfe „nicht den kleinsten Anlaß zu dem Verdacht geben, daß die Leute, die hinter der Rjetsch stehen, einen Anlaß suchen, in der polnischen Frage zu retirieren". Damit war allerdings in Form der Warnung vor der Möglichkeit eines falschen Anscheins die Feststellung einer Tatsache gegeben. „Alles was folgte, verstärkte diese Abkühlung", so schloß Alexander Pogodin sein resigniertes Resumé von 1907, „freundliche Aufsätze zur polnischen Frage erschienen immer seltener, die alten Beschuldigungen tauchten a u f . . . , und jetzt stehen wir wieder vor dem verbrochenen Krug'. Die polnische Frage erfreut sich keiner Sympathie in der russischen Gesellschaft und, was das Allerschmerzlichste ist, in der besten und fortschrittlichsten Gesellschaft". In demselben Sinne schrieb Fürst Grigorij Trubezkoj im April 1907 an Marian Zdiechowski : „Sympathien und Begeisterungen vergehen in unserer wenig kultivierten Gesellschaft ebenso schnell, wie sie entstehen, und die polnische Frage, die im letzten Winter in Mode war, ist jetzt gleichsam von der Bildfläche verschwunden."

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Im selben Jahr führte die Regierung einen Schlag gegen die Konstitution, der besonders die Polen empfindlich traf. Nach der Auflösung der zweiten Duma hatte sich Nikolaus II. entschlossen, das Wahlgesetz zu ändern, er hoffte durch neue soziale und nationale Proportionen in der Zusammensetzung der Abgeordneten ein gefügigeres Haus zu gewinnen. Die erste Wahlordnung hatte den russischen Bauern überaus begünstigt. Aber der Mushik hatte dem Gosudarj eine bittere Überraschung bereitet, er war sofort radikalisiert worden. D a s neue Wahlgesetz sollte nun sowohl die Zahl der bäuerlichen Abgeordneten wie der Vertreter der Nationalitäten verringern. In die erste und zweite D u m a hatten die Polen siebenunddreißig Abgeordnete geschickt, in der dritten Duma saßen nur noch vierzehn Polen. Die Haltung der Regierung machte es den russischen Politikern leicht, ohne sich selbst zu verpflichten die Polen weiterhin zu vertrösten, man wollte sie ja auch für die Außenpolitik gewinnen. Die Niederlagen im Fernen Osten und die darauffolgenden inneren Erschütterungen hatten nicht nur die russische außenpolitische Phantasie auf den Nahen Osten zurückverwiesen, sondern auch in den Westslawen die Angst vor der „absence de Russie", die von einem wachsenden Einfluß Deutschlands begleitet war, wachgerufen. Die Solidarität der Slawen sollte jetzt Rußland stärken —, und wieder sah man, wie einst Michail Pogodin, in der Lösung der polnischen Frage die erste Voraussetzung zur allslawischen Politik. Die Problemstellung des alten Pogodin war um so unabweislicher geworden, als nun auch Tschechen und Südslawen sie mahnend und energisch erhoben. Die Russen aller Lager gingen jetzt in den Geständnissen über die Fehler und Ungerechtigkeiten der russischen Polenpolitik sehr weit. Fürst Ewgenij Trubezkoj schrieb im April 1906 in seinem Blatt: „Wir müssen die slawischen Völker überzeugen, daß uns die Absicht, ihre Eigenart anzutasten, völlig ferne liegt, und daß wir im Gegensatz zum Slawophilentum bereit sind, ihre geistigen Besonderheiten zu achten. Auf dem Balkan übernahm Rußland die Aufgabe eines Befreiers der Bruderstämme. Z u Hause war es ihr Unterdrücker, ja es 137

wurde der Schrecken der slawischen Völker, die es befreite. Sie fürchteten das Schicksal Polens und entfremdeten sich u n s . . . Rußland muß daher nicht nur in der äußeren, auch in der inneren Politik slawisch w e r d e n . . . W i r müssen aus den Polen Bürger unseres großen Reiches machen und ihnen dieselben Rechte wie den russischen Bürgern gewähren, das Recht, in der Muttersprache zu lehren und verwaltet zu werden, örtliche Selbstverwaltung und Religionsfreiheit. Erfüllen wir diese elementaren Verpflichtungen nicht, so wird der Gedanke der slawischen Einigung als ein bloßes Trugbild erscheinen; die slawische Zwietracht wird dann eine mächtige Waffe in den Händen der Feinde Rußlands werden." Im Januar 1908 verkündete der slawophile Scharapov, die Zwietracht der beiden Hauptzweige des slawischen Stammes sei die Ursache, daß es zwar slawische Neigungen bisher gab, aber keine slawische Politik. Bulgaren, Serben, Tschechen, alle hätten naturgemäß das gleiche Schicksal wie Polen gefürchtet, und die Westslawen hätten daher zu Österreich gehalten. Eine ehrliche Verständigung zwischen Russen und Polen sei die Vorhalle zur slawischen Frage, welche Rußland nicht mehr übersehen könne, denn, vom Slawentum losgelöst, gehe es ungeheuren Gefahren entgegen. Der Kadettenführer Peter Struwe erklärte in der „Russkaja Myslj", das bisherige Vorgehen gegen die Polen bringe Rußland in Abhängigkeit von Deutschland, das im geeigneten Augenblick ÖsterreichUngarn gegen Petersburg ausspielen könne. Die Aussichten für ein Gelingen der russischen Versöhnungsbewegung schienen sich wesentlich zu bessern, als Roman Dmowski, der Führer der Nationaldemokraten, plötzlich ein Programm der russischen Orientierung seiner Partei verkündete. 1908 erschien Dmowskis Buch „Deutschland, Rußland und die polnische Frage", in dem er den Gedanken vertrat —, der gemeinsame Feind aller Slawen sei das Deutschtum, gegen dieses richte sich auch der Kampf der Polen. Die Behauptung des Weichselgebietes sei angesichts der deutschen Gefahr die Hauptaufgabe der Polen. Auf das Westgebiet wolle man verzichten und nur den geistigen Zusammenhang mit den dort lebenden

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Polen wahren. Die negative Bedingtheit dieser russischen Orientierung erregte bei den Russen keinen Verdacht, hatten sie doch seit mehr als einem halben Jahrhundert den Polen die Versöhnung auf der Grundlage des gemeinsamen Gegensatzes zum Deutschtum empfohlen. Im Dezember 1907 veröffentlichte Grigorij Trubezkoj einen Aufsatz „Deutschland, Polen und Rußland", es war eine Satire auf die alte Politik der Solidarität der Teilungsmächte. „In früherer Zeit hat Polen als Zement der Freundschaft zwischen den russischen und deutschen Bajonetten gedient. Aber jetzt, nachdem soviel Wasser dahingeflossen ist, und soviel russisches Blut bei verschiedenen geschichtlichen Experimenten vergossen worden ist, kann man doch nicht unsere frühere Stumpfheit voraussetzen und unsere frühere Bereitschaft, für die Deutschen die Kastanien aus dem Feuer zu holen." Jetzt ging auch des alten Pogodin Ruf nach einem slawischen Schiedsgericht im polnisch-russischen Streit in Erfüllung. 1908 tagte ein Slawenkongreß in Prag, der vom 11. bis 15. Mai 1909 in Petersburg unter dem Vorsitz des Tschechenführers im österreichischen Reichsrat, Kramarsch, fortgeführt wurde. Die Gefühle der Russen für die Polen waren sehr geteilt, aber Kramarsch entschied souverän. „Wer für die Unterdrückung von Slawen durch andere Slawen stimmt, der streicht sich selbst aus der Liste der Neoslawisten." Und der Kongreß nahm folgende Resolution an: „Das Exekutivkomitee findet, daß die russischpolnische Verständigung in Rußland und außerhalb Rußlands nur durch unbeugsame Anwendung der Prinzipien des Prager Kongresses erreicht werden kann, d. h. durch Anerkennung der vollkommenen Gleichberechtigung beider Völker und der Unzulässigkeit irgendwelcher Ausnahmsgesetze, sowie durch Anerkennung des Grundsatzes, daß jedes Volk auf seinem Heimatboden das Recht auf Sprache und Schulen besitzt und auf Einrichtungen, die seine nationale Entwicklung sichern." Diese Resolution war politisdi ebenso unverbindlich wie die Semstwobeschlüsse in der polnischen Frage von 1905. In der Duma herrschte nach wie vor Schweigen über die polnische Autonomie-

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forderung, und die Regierung blieb von den polenfreundlichen Strömungen vollends unberührt. Rußlands bedeutender Ministerpräsident Pjotr Arkadjewitsdi Stolypin gestand in diesen Tagen, wie unfähig die russische Regierung trotz aller Russifizierungsmaßnahmen gewesen war, die polnische Oberschicht in den Westgebieten zurückzudrängen. Noch waren nicht einmal in den Westgebieten die Landschaftsselbstverwaltungen, die Semstwos, eingeführt worden. Das sollte jetzt geschehen, aber auf anderen Grundlagen als im Innern des Reiches. Stolypin gab offen zu, daß die Bevölkerung der W e s t gebiete vor der oberschichtlichen polnischen Minderheit geschützt werden müsse, die dortigen Semstwos sollten daher auf nationaler, nicht auf ständischer Grundlage eingerichtet werden. „Es ist klar, daß die jahrhundertelangen ungeheuren Bemühungen des Staates hinsichtlich der Sicherung des Übergewichts der russischen Staatlichkeit im Westgebiet nicht null und nichtig gemacht werden können, null und nichtig sogar ohne Kampf . . . , einfach infolge eines theoretischen seelenlosen Staatsaktes. D a her hat es sich das Ministerium zum Ziel gesetzt, die künftigen landschaftlichen Einrichtungen vor der ungeheuren Gefahr zu sichern, in ein kolonisatorisches N e t z verwandelt zu werden, das im Lande, wenn nicht feindselige Prinzipien verbreiten würde, so doch solche, welche mit den staatlichen nicht zusammenfallen." Gleichzeitig, man stand ja in der Annexionskrise mit ihrer Kriegsgefahr, erhoben sich in der russischen Presse Stimmen, die den alten Gedanken Kaiser Nikolaus I. aufgriffen und fragten, ob sich Rußland nicht besser an die Weichsel zurückziehen solle, und die halboffiziöse Zeitung „Rossija" erklärte, die Polen gehörten nicht in den slawischen Bund, sie seien slawisch redende Fremdlinge. Im selben Jahre holte die Regierung zu einem neuen Schlage gegen die Polen aus. Seit 1863 stand auf dem nationalrussischen Programm die Forderung nach einer Ausgliederung des Cholmer Landes mit seiner überwiegend ukrainischen Bevölkerung aus

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den „Weichselgouvernements", wie man jetzt mit völlig neutralisierter Bezeichnung das polnische Königreich Alexanders I. zu nennen liebte. Auch die Regierung war dem gleichen Gedanken schon wiederholt nahegetreten, jetzt brachte sie einen diesbezüglichen Gesetzesentwurf in der Duma ein. Die Liberalen waren erregt über die täppische Art, mit der die nationalistischen Kreise und die Regierung diese Lösung der Cholmer Frage bald als großes nationales Anliegen, bald als harmlose Verwaltungsmaßnahme präsentierten — , und die allslawische Zusammenarbeit mit den Polen war endgültig zerstört. 1910 tagte in Sofia ein neuer Slawenkongreß, die Polen beschickten ihn nicht, und als Alexander Pogodin betrübt sein Glas auf die abwesenden Polen und Ukrainer erhob, brachte Graf Bobrinskij einen Trinkspruch auf jene aus, die keine slawischen Verräter seien. Schon auf dem Petersburger Kongreß des Vorjahres hatte Pogodin bei seinen radikalnationalen Landsleuten einen Sturm der Entrüstung ausgelöst, als er das Recht auf kulturelle Selbstbestimmung für die Ukrainer forderte . . . — 1912 fiel eine erste Entscheidung in der Cholmer Frage, ein Gouvernement Cholm wurde aus den Gouvernements Lublin und Siedice herausgeschält. Seine Lösung aus dem Verband der Weichselgouvernements erfolgte dann drei Jahre später im M ä r z 1915. Neunhundert Jahre zuvor war in dem Gebiet zwischen Cholm und Beiz die erste polnische Eroberung auf Kosten eines ersten russischen Staates erfolgt. In demselben geographischen Raum vollzog sich jetzt die letzte russische Erwerbung auf Kosten einer immer noch zusammenhängenden, wenn auch längst entpolitisierten polnischen Verwaltungseinheit. — Mit eiserner Folgerichtigkeit scheint so eine politische Rücklaufbewegung bis zum Ende abgerollt zu sein. Aber die geschichtliche Realität des Vorgangs war gegeben in der nationalen Standfestigkeit des Ukrainertums, das seine Volkstumsgrenze hier wie anderswo fast tausend Jahre gehalten hatte.

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Ende ohne Abschluß Ohne durch einen inneren Ausgleich mit den Polen gestärkt zu sein, nur durch die wirksame Propaganda Roman Dmowskis vor einem plötzlichen Abfall der Polen geschützt, war Rußland in den Weltkrieg gegangen. Dmowski hatte zwar seine Führung der polnischen Dumafraktion im Zusammenhang mit der Cholmer Angelegenheit aufgeben müssen, aber sein Einfluß in Polen war stark genug geblieben, um den russischen Krieg gegen Deutschland als nationalpolnisches Anliegen populär zu machen. Schon in den ersten Kriegstagen schien sich die russische Orientierung der Nationaldemokraten bezahlt zu machen. Am 15. August 1914 erließ der russische Oberstkommandierende Großfürst Nikolaj Nikolaewitsch ein Manifest. „Polen! Die Stunde hat geschlagen, da der geheiligte Traum Eurer Väter und Großväter sich verwirklichen kann. Vor anderthalb Jahrhunderten wurde der lebendige Leib Polens in Stücke gerissen, aber seine Seele ist nicht gestorben. Sie lebte von der Hoffnung, daß die Stunde der Wiedergeburt des polnischen Volkes, seiner brüderlichen Versöhnung mit dem großen Rußland, kommen wird! Die russischen Truppen bringen Euch die selige Kunde von dieser Versöhnung. Mögen die Grenzen ausgelöscht werden, die das polnische Volk in Teile zerschneiden, und möge es sidi vereinigen unter dem Zepter des russischen Zaren. Unter diesem Zepter wird Polen wieder geboren werden, frei in seinem Glauben, seiner Sprache und seiner Selbstverwaltung . . . " Der Wortlaut dieses Aufrufs war eine geistige Frucht des Neoslawismus, er stammte „vollständig", wie der Kadettenführer Peter Struwe versichert, aus der Feder des Fürsten Grigorij Trubezkoj, und ein anderer Bewunderer des „liberal-konservativen" Fürsten, Baron Nolde, rühmt Grigorij Trubezkojs „persönlichen Anteil an 142

dem Prozeß der Entstehung und Ausgestaltung der Kriegsziele, der sehr bedeutend war und für Augenblicke entscheidende Bedeutung gewann. Hat nicht er als erster das Problem Polen als Aufgabe der russischen Politik der Kriegszeit in seiner ganzen G r ö ß e aufgezeigt?" . . .

Die Regierung Nikolaus II. hatte bis zu ihrem Untergang damit zu tun, die Hoffnungen, die das Manifest des Großfürsten Nikolaj Nikolaewitsch erweckt hatte, hinzuhalten, und die Verpflichtungen, die sich aus ihm ergaben, abzuschwächen. Als die Havasagentur das W o r t Selbstverwaltung des Aufrufs mit „Autonomie" übersetzte, gab der russische Außenminister Sasonov seinem Botschafter in Paris Weisung, dieses Mißverständnis aufzuklären. Im Dezember 1914 informierte der russische Innenminister Maklakov die Gouverneure des Weichsellandes dahin, daß das Manifest des Großfürsten „sich nicht auf das Weichselland beziehe, und daß es nur die nicht zum russischen Reich gehörigen polnischen Territorien im Auge habe, die der Großfürst Nikolaj Nikolaewitsch im Laufe der Kriegshandlungen erobern könnte. Solange das nicht geschieht, wird an der politischen Situation des Weichsellandes nichts geändert werden." Im Juni 1915 wurde durch Beschluß des Ministerrats ein polnisch-russisches Komitee gebildet, das vorläufige Besprechungen über die im Manifest des Großfürsten enthaltenen Prinzipien führen sollte. D e r Ministerpräsident Goremykin eröffnete die erste Sitzung mit den W o r t e n : „In der Proklamation gibt es zwei Fragen, Vereinigung der polnischen Gebiete und Selbstverwaltung, und diese beiden Fragen sind eng miteinander verbunden. Die Vereinigung Polens ist in den Händen Gottes; und ich sage Ihnen, meine Herren, wenn es zu dieser Vereinigung Polens kommen wird, dann wird es auch eine Selbstverwaltung geben, wenn es aber nicht dazu kommen wird, dann wird es auch keine Selbstverwaltung geben." Nach neun Sitzungen ging die Kommission, ohne eine gemeinsame Basis gefunden zu haben, auseinander. Nichts fürchtete zudem die russische Regierung in

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Erinnerung an die außenpolitischen Folgen der Wiener Kongreßakte so sehr wie eine Aufrollung der polnischen Frage vor einem künftigen internationalen Kongreß, und ihre Bundesgenossen nahmen auf dieses stets gereizte Abwehrgefühl der Russen in der polnischen Frage alle Rücksicht.

Indessen vollendete das deutsche Ostheer die Eroberung Kongreßpolens und rückte weit in das russische Westgebiet vor. J e mehr der deutsche Sieg an Boden gewann, um so sichtbarer wuchs vor den Augen der Russen nicht nur die strategische, sondern auch die politische Lage der napoleonischen Kriege empor. Es gab Staatsmänner, die dieser Wiederholung einer historischen Situation Ausdruck verliehen, indem sie zur Wiederanwendung der alten Mittel rieten. Der frühere Generalgouverneur von Warschau, N . D . Ljubimov, empfahl, ein Manifest zu erlassen, das eine Amnestie für alle während der deutschen Besetzung politisch Kompromittierten enthalten sollte. „Ein solcher Aufruf würde nichts Neues oder Unerhörtes darstellen. Ein ebensolcher Aufruf wurde 1812 erlassen bei der Säuberung unserer Gebiete von der Armee Napoleons." M a n hatte in Rußland keinen Sinn dafür, daß das Hauptgewicht dieser Erinnerung auf den letzten Worten liegen sollte. Im Gegenteil, jetzt, da man Polen militärisch verloren hatte, waren manche politische, militärische und regierende Kreise zu großartigen Gesten bereit, um die „russische Orientierung" der Polen am Leben zu erhalten. Schon im M a i 1915 hatten die Kadetten eine autonome Verfassung für Polen ausgearbeitet, und im Sommer 1916 stürzte der russische Außenminister Sasonov im letzten Augenblick über ein Autonomieprojekt für Polen, das die Billigung Kaiser Nikolaus II. bereits gewonnen hatte. Nikolaus war bereit gewesen, einem L a n d politische Geschenke zu machen, das er gar nicht mehr besaß. Als Deutschland und Österreich-Ungarn in der Zwei-Kaiserproklamation vom 5. November 1916 die Wiedererrichtung eines Königreichs Polen in Aussicht nahmen, forderte der polnische

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Abgeordnete Haruszewicz als ein Oginski redivivus: „Im Gegensatz zu dem österreichisch-deutschen Akt müssen Rußland und seine Verbündeten unverzüglich ihre Entscheidung in der polnischen Frage verkünden: auf diese Entscheidung wartet das polnische Volk seit zwei Jahren mit Ungeduld." Kaiser Alexander I. hatte im November 1812, als er von polnischem Lande keinen Fußbreit besaß und der Feind noch tief in russischem Gebiet stand, es abgelehnt, den Polen politische Versprechungen zu machen, die zur Zeit nur als „Prahlerei" erscheinen könnten. Nicht das gleiche Taktgefühl hielt Kaiser Nikolaus II. in der gleichen Lage davon ab, seine „Entscheidung zu verkünden" — er war unfähig, sich zu entscheiden . . . Unbeantwortet versank die polnische Frage im Chaos des russischen Untergangs. *

Im Jahre 1930 schrieb der Kadettenführer Peter Struwe anläßlich eines Nachrufs auf den Fürsten Grigorij Trubezkoj: „ . . . Wenn unsere gemeinsamen Ideen über die russisch-polnische Befriedung auf der Grundlage einer Autonomie vor dem Kriege triumphiert hätten, dann hätte es keinen Weltkrieg gegeben und nicht geben können." Liegt in diesen rätselhaften Worten die Erkenntnis, daß Rußland von seinen ungelösten inneren Fragen in die äußere Verwicklung getrieben wurde? Seit Alexander III. ließ die russische Regierung dem Panslawismus die Zügel schießen, um das politische Temperament der Russen von der Innenpolitik abzulenken. Daß man auch die polnische Frage, deren innenpolitische Lösung seit den Tagen Alexanders I. vergeblich versucht worden war, mit hineinzog in dieses Betäuben der innenpolitischen Unlust durch unkontrollierbar reizvolle außenpolitische Zielsetzungen war einer der größten Fehler der russischen politischen Öffentlichkeit und der kaiserlich russischen Regierung gewesen. Realpolitisch gesehen ist der hundertjährige Friede zwischen den Teilungsmächten nicht wegen, sondern trotz der polnischen Frage zerstört worden.

F l e i s c h h a c k e r , Russische Antworten.

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GESCHICHTE DER V Ö L K E R UND STAATEN Geschichte des deutschen Volkes V o n F r i e d r i c h S t i e v e . yo.Tausend. 544S., xi Karten. In Leinen RM. 6.50

Geschichte Englands V o n C. M . T r e v e l y a n . 861 Seiten, 36 Karten. In zwei Leinenbänden RM. 17.50

Geschichte Indiens V o n Sir George D u n b a r . 438 Seiten, 16 Karten. In Leinen RM. 10.50

Geschichte der französischen Nation V o n Charles S e i g n o b o s . In Leinen RM. 9.50

358 Seiten, 6 Karten.

Geschichte Finnlands V o n William S o m m e r . In Leinen RM. 9.50

347 Seiten, 3 Karten.

Geschichte der islamischen Staaten und Völker V o n Carl B r o c k e l m a n n . In Leinen RM. 12.50

Griechische Geschichte Von

514 Seiten, 8 Karten.

im Rahmen der Altertumsgeschichte

Ulrich W i l c k e n .

14. Tausend.

350 Seiten.

2 Karten. In Leinen RM. 5.50

Nordische Frühgeschichte und Wikingerzeit V o n Ulrich N o a c k . 349 Seiten. In Leinen etwa RM. 9.50 „Der Verlag R. Oldenbourg macht sich durch die Herausgabe von Monographien verdient, die in großem Stil europäische Geschichte treiben. In selten glücklicher Weise wird der Leser durch solche Geschichtswerke zum Verstehen der Völker befähigt." Bücherwurm

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