Russische Probleme: Eine Entgegnung auf J. Hallers Schrift “Die russische Gefahr im deutschen Hause” [Reprint 2019 ed.] 9783111500263, 9783111134239


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German Pages 151 [156] Year 1917

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Table of contents :
Vorwort
Inhaltsverzeichnis
I. Methode und Einzelheiten der Polemik
II. Die Gliederung des Begriffs Rußland; natürliche Grenzen und Bestandteile
III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.
IV. Kiew und Moskau. II.
V. Verfassungsgeschichtliche und andere geschichtliche Details
VI. Expansion, Eroberung, Europäisierung
VII. Die Revolution
VIII. Die Agrarfrage
IX. Die Nationalitätenfrage
X. Parteisragen
XI. Fragen der Grenzmarken
XII. Auswärtige Politik
XIII. Der allgemeine Gegensatz der Methode und Auffassung
Persönlicher Anhang
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Russische Probleme: Eine Entgegnung auf J. Hallers Schrift “Die russische Gefahr im deutschen Hause” [Reprint 2019 ed.]
 9783111500263, 9783111134239

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Verlag von Georg Reimer in Berlin W Io

Rußland Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte vom Japanischen bis zum Weltkrieg von Dr. O- Hoeysch Professor an der Universität Berlin Zweite vollständig umgearbeitete Auflage

Mit 2 Karten

preis geheftet M.

gebunden UL \5.™

Dieses auf eingehenden Studien und auf streng wissenschaftlicher Grundlage beruhende Werk sei in der gegenwärtigen Zeit der ernsten Beachtung eines weiteren Leserkreises empfohlen. In zwölf Kapiteln wird der gewaltige Stoff in gründlicher und klarer Darstellung behandelt. Die Revolution, der Krieg mit Japan, die Verfassungsfrage, Agrarreform, Kirche, Schule und geistiges Leben, Volkswirtschaft, das Nationalitätenproblem bilden im wesentlichen den Gegenstand der Unter­ suchung des Buches, das geeignet ist, so manches Vorurteil zu beseitigen, das unsere Auffassung von russischen Zuständen bestimmt. Es gibt ein Bild des zeitgenössischen Rußland, wie es sich seit den für die weitere Entwicklung des Reiches so bedeutungsvollen Tagen von Tschuschima und Mukden ent­ wickelt hat. Wer nur einigermaßen gewöhnt ist, die Blicke über die Heimat hinaus nach Osten zu wenden, wird HoetzschS glänzend geschriebenes Buch mit größtem Gewinn studieren.

Gut und Blut fürs Vaterland Vermögensopfer — Steuerfragen — Erhöhung der Volkswirtschaft von Dr. 3. Iastrorv a. 0. Professor an der Universität Berlin

preis geheftet M. 6.—

in papxband M. 7.25 Inhalt.

Vorwort und Einleitung. Erster Teil: Vermögensopfer. I. Gut und Blut fürs Vaterland. — n. Die Grundlagen für die Ausführung des Vermögens­ opfers. — III. Die Allgemeinheit des Vermögensopfers und die Anwendung auf einzelne Arten, i. Kleine Vermögen. 2. Mobiltarbesitz. 3. Vermögen „nichtphysischer Personen" (Aktiengesellschaften u. ä.. Vereine; Stiftungen; Fideikommisse; Gemeinden etc.; Versicherungen). 4. Privilegien. IV. Rückblick. Zweiter Teil: Steuerfragen. V. Die Entwickelung der Steuerftagen. — VI. Die Abgrenzung zwischen Reichs- und Landes­ steuern. — VII. Einige Grundsätze über Steuerergiebigkeit. — VIII. Die Zukunft der Erbschaftssteuer. — ix. Die Zukunft der Einkommensteuer. — x. Die Zukunft des „Stempels". — XL (Beigabe) Monopole und öffentliche Betriebe. Dritter Teil: Erhöhung der Volkswirtschaft. xii. Finanzen und Volkswirtschaft. —- xm. Mehr arbeiten! — xiv. Weniger genießen! xv. Bessere Rücksicht nehmen! — xvi. Klarstellungen und Begrenzungen. Anhang: Literatur und Statistik. Register.

Russische Probleme Eine Entgegnung auf 9. Hallers Schrift „Die russische Gefahr im deutschen Hause"

von

Otto Hoehsch

Berlin J9J7 Druck und Verlag von Georg Reimer

Alle Rechte, insbesondere das der Über­ setzung in fremde Sprachen, vorbehalten.

Vorwort. (Vliese Schrift, die ich erst jetzt vorlegen kann, weil mir dafür nur -i' mühsam der Kriegs- und Berufsarbeit abgesparte Stunden zur

Verfügung standen, ist eine Abwehr des Angriffs, den Prof. Dr. Haller in Tübingen unter dem Titel „Die russische Gefahr im deutschen Hause" (Stuttgart 1917,94 S.) gegen mein Buch „Rußland. Eine Einführung auf Grund seiner Geschichte von 1904—1912" (Berlin 1913) in der

Rohrbachschen Serie „Die russische Gefahr" Heft 6 veröffentlicht hat.

Im Vorwort übernimmt Dr. Rohrbach selbst auch die Verantwortung für Hallers Schrift. Sie beschäftigt sich auf S. 5—39 mit den S. 1—39 meines Buches. Über die S. 40—122 urteilt Haller S. 40 oben mit fünf Druckzeilen ab; da er dieses Urteil nicht begründet, kann ich nichts anderes tun, als es ignorieren. S. 46—79 befassen sich mit den S. 123 bis 187 meines Buches, wobei der Hallersche Abschnitt S. 66—71 über Stolypins Agrarreform mein Kapitel 5 (Agrarfrage und Agrarreform S. 187—238) bis auf zehn seiner Druckzeilen völlig ignoriert. Ebenso läßt sein Abschnitt II5 (S. 71—79): „Der Nationalismus" meinen Ab­ schnitt darüber S. 515 ff. unberücksichtigt. Die Kap. 6 (S. 238—290) und 9 (S. 338—380) werden mit einem ungünstigen Urteil von drei Zeilen (S. 55) erledigt, abgesehen von einer Kritik an meiner Charak­ teristik der russischen Versüssung von 1906. Von Kapitel 10 wird aus den S. 423—432 herausgerissen, was sich auf die orientalische Frage und die russische Orientpolitik bezieht. Schließlich beschäftigen sich die S. 86—91 mit dem Abschnitte Kapitel 12,4 über Finnland (S. 495—515). Bon den 520 Seiten Darstellung meines Buche? werden also hoch­ gerechnet 130—140 Seiten für den „Nachweis" benutzt, von dem S. 6 und 94 sprechen. In einer Besprechung der 2. Auflage meines Buches in der „Frank-

Vorwort.

4

fmter Zeitung" (3.Juni1917), die offenbar auch aus Hallers Feder stammt,

heißt es: „Die scharfe Kritik, die das Buch erfuhr, hat nun den Verfasser

veranlaßt, eine vollständig umgearbeitete 2. Auflage herauszugeben." Diese Behauptung ist falsch. Eine scharfe Kritik hat mein Buch nirgends erfahren als in der Hallerschen Schrift, die am 25. Februar 1917 in meine Hand kam. Da war die 2. Auflage völlig ausgedruckt und ausgabeseitig; ihre Änderungen konnten also von Hallers Schrift

nicht beeinflußt sein. Was ich gezwungen bin, persönlich zu sagen, habe ich in einen kurzen Anhang verwiesen, damit sich der unbeteiligte Leser ganz davon dis­ pensieren kann. In der Polemik selbst lag mir daran, mit der Begrün­ dung meines Urteils die sachlichen Fragen selbst, so gut ich es vermag, zu fördem, vornehmlich die Problemstellung zu klären. Mehr als dies ist in einer Schrift wie der vorliegenden nicht möglich; sie kann

nicht mehr als andeuten, namentlich nicht den ganzen Quellen­ apparat beibringen, wenn sie nicht ein ganzes Buch werden sollte. Ich darf vielleicht anfügen, daß ich über die hier zur Erörterung stehenden Zentralfragen der russischen Geschichte schon im Dezember 1912 mit dem Herrn Verleger dieser Schrift ein Buch „Zur Einleitung in die Geschichte Osteuropas" verabredete, dessen Plan ich hier anschließe: „Die Kolonisa­ tion — Großrussen und Ukrainer — Staatenbildung und Verfassungs­ entwicklung — Stamm, Gau, Familie — Mir und Markgenossenschaft; gutsherrlich-bäuerliche Beziehungen — Kiew und Moskau — Adel und Lehnswesen — Wirtschaftsstufen und Städtewesen — der ständische

Staat — Absolutismus und Gesamtstaatsidee — Kulturart und Kultur­ niveau — Rezeptionen." Der Krieg hat die Studien, die diese Themen für Rußland und Polen in Parallele mit der westeuropäischen Entwick­ lung setzen sollten, selbstverständlich unterbrochen. Haller hat 1915 (Zeitschrift „Der Panther", 1915, S. 241) über mein Buch geurteilt: „Otto Hoetzsch hat 1913 den ersten Band eines breit angelegten Werkes über

Rußland herausgegeben, das dem deutschen Publikum das Verständnis unseres öst­

lichen Nachbarlandes erschließen soll. Eins jener Bücher, durch die bei uns ein Privat­ dozent Professor wird: mit viel Fleiß aus einer umfangreichen Sammlung von Notizen zusammengearbeitet.

Tiefere Kenntnis von Volk und Staat, die freilich gerade in

Rußland nur durch längere eigene Anschauung und Erfahrung, nicht durch noch so oft

wiederholte Eisenbahnfahrten erworben werden kann, spürt man nirgends. Dennoch

5

Vorwort.

ist der Verfasser bei unS, wo die Kenntnis russischer Verhältnisse noch immer auf dem Nullpunkt steht, in gewissen Kreisen zu einer Art von Autorität geworden."

Dies Urteil, nach dessen erstem Satz zweifelhaft ist, ob Haller auch nur den Titel meines Buches angesehen hatte, stimmt mit Hallers Urteil

von 1917 nur sehr zum Teil überein.

Zu seiner Legitimation, über

Fragen der russischen Geschichte und Gegenwart aus „längerer eigener Anschauung und Erfahrung, mit tieferer Kenntnis von Volk und Staat" zu sprechen, bemerke ich, daß er, ein in Estland geborener Balte, nach

der Studienvorbereitung in Reval und Dorpat 1890 die Ostseepro­ vinzen verlassen und in Berlin, Heidelberg, Rom, Marburg, Gießen, Tübingen, also fern von Rußland, gelebt hat. Sein Arbeitsgebiet

ist die deutsche Geschichte des Mittelalters und die des Papsttums; meines Wissens nur einmal hat er in der Arbeit „Die Verschwörung von Segewold" (Mitteilungen aus dem Gebiete der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands XX, Riga 1908) die Geschichte des Ostens, aber auch

nicht die Rußlands,

sondern Livlands gestreift.

Wie er selbst zu

Rußland und seiner Sprache steht, hat er selbst während des Krieges („Der Panther", Ostseeheft, Januar 1915, S. 81) gesagt: „Wir alle, die wir noch in den achtziger Jahren des vorigen Jahrhunderts in Livland aufwuchsen, haben es nie anders gewußt, als daß wir in einem deutschen

Lande als deutsche Untertanen des Kaisers von Rußland lebten. Wer die Grenze Livlands ostwärts überschritt, der ging nach unserem Sprachgebrauch „nach Rußland". Wer drüben seinen Wohnsitz suchte, der wanderte nach unseren Begriffen aus in die

Fremde. Fremd und unbekannt blieb uns die östliche Welt, während es für alle keinen größeren Wunsch gab, als Deutschland kennen zu lernen und recht oft wiederzusehen. Nur eine kleine Minderheit verstand die russische Sprache, nur ganz wenige be­

herrschten sie."

Wir wissen, daß die deutschen Balten diesem Standpunkte die Er­ haltung ihres Deutschtums verdanken, aber durch ihn und durch diese Vorbereitung nur in vereinzelten Ausnahmefällen dazu geeignet wmden,

uns Kenntnis und Urteil über Rußland zu vermitteln. Im folgenden bezieht sich ein Seitenzitat ohne Titel immer auf Hallers Schrift. Die erste Auflage meines Buches (das übrigens in

Rußland sofort verboten wurde) ist mit R, die zweite mit R 2 zitiert; die beiden anastatischen Neudrucke waren bis auf den Anhang völlig unverändert.

Die Transkription ist nach den bekannten Grundsätzen,

doch mit Beibehaltung der gewohnten Wortbilder, durchgeführt.

Berlin, im Oktober 1917.

Otto Hoehsch.

Inhaltsverzeichnis. L Methode und Einzelheiten der Polemik..........................................................

9

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland; natürliche Grenzen und Bestandteile

17

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau.

1.............

34

IV. Kiew und Moskau. II......................................................................................

64

V. Verfassungsgeschichtliche und andere geschichtliche Details........................ VI. Expansion, Eroberung, Europäisierung...........................................................

83 88

VII. Die Revolution......................................................................................................

95

VIII. Die Agrarfrage..................................................................................................... 104 IX. Die Nationalitätenfrage............................................................................................108 X. Parteisragen........................................................................................................... 120

XI. Fragen der Grenzmarken..................................................................................... 127 XII. Auswärtige Politik.....................................

134

XIII. Der allgemeine Gegensatz der Methode und Auffassung.......................... 143 Persönlicher Anhang......................................................................................................... 149

I.

Methode und Einzelheiten -er Polemik. Zuerst seien einige allgemeine Bemerkungen und solche über Hallers

Methode, meinen Text zu behandeln, gestattet, wozu, wie auch sonst, reichliche Zitate aus seiner Schrift nötig sind. Daß ein Versuch wie der in meinem Buch unternommene nicht beim ersten Anlauf in allem ge­ lingen und daher von Fehlem und Jrrtümem nicht frei sein kann, habe

ich im Vorwort der ersten Auflage (S. V) selbst gesagt. Von der Art des Rohmaterials, mit dem jeder über Rußland Arbeitende zu kämpfen hat, hat Haller schwerlich eine Vorstellung. Zu seinen Vorwürfen gegen den Stil (S. 7 und häufig) sage ich, daß, je tiefer jemand in die Rätsel

der russischen „Sphinx" einzudringen bemüht ist, um so vorsichtiger die Formulierung seiner Urteile werden wird. Die Mannigfaltigkeit des Stoffes und die Kompliziertheit seiner Probleme sind so groß, die Klämng durch die Forschung für die Vergangenheit noch so gering, die Entwick­ lung in der jüngsten Vergangenheit so sehr im Fluß, das Rohmaterial so spröde und umfangreich, daß die stilistische Behandlung oft ver­ klausulierter und auch unpräziser sein muß, als dem Schreibenden

selbst lieb ist.

Aber

die

apodiktische

Sicherheit des Urteils und

der Formulierung, mit der Haller arbeitet — mit einem Adjektivum ist für ihn Wesen und Kem des russischen Staates be­ zeichnet und erledigt —, gestattet mir mein Verantwortlichkeitsgefühl nicht. Da bei den Lesem an Vorkenntnissen so gut wie nichts vorausgesetzt

werden konnte, war die Mitteilung eines großen Tatsachen-, besonders Zahlenmaterials nicht zu umgehen. Weil aber wiederum der Umfang des Buches nicht allzu groß werden sollte, mußte der Stoff stärker zu­

sammengepreßt werden, als mir selbst lieb war.

Mit Recht ist das von

10

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

G. Cleinow (in seiner Besprechung in den „Grenzboten") auch gegen

das Buch eingewendet worden. Das Literaturverzeichnis nennt Haller „recht flüchtig zusammen­ gestellt" (S. 7): Max Webers „Rußlands Übergang zum Scheinkon­

stitutionalismus" (so heißt der von Haller falsch zitierte Titel) fehle darin — S. 46 zitiert er selbst meine Erwähnung dieser Weberschen Schriften *), aus der hervorgeht, warum ich sie nicht in das Verzeichnis aufnahm. Vermißt wird die Anführung der „maßgebenden Schriften der russischen

Liberalen, etwa die Sammelschriften „Vöchy“ (Absteckpfähle) und „Intelligencija w Rossis"*2). Die erstgenannte Schrift (1909 erschienen)3) stellt der politischen Intelligenz das religiöse und Weltanschauungs­

problem. Masaryks Bemerkungen und Miljukows Urteil4) über „den uns auf den Seiten dieses Buches entgegentretenden Wirrwar all dieser

an sich einfachen und nicht einmal neuen Ideen" zeigen, daß sie nicht in „Literaturangaben zur Einführung" gehört. Auch für die zweite Sammlung ist da keine Stelle. Kupffers „Baltische Landeskunde" hätte vielleicht genannt werden können. Die drei von mir S. 527 genannten baltischen Schriften (die übrigens in dem Literaturverzeichnis zum Artikel „Baltische Provinzen" von * , * in Serings „West­

rußland" ®) sämtlich fehlen!) sind aber für das, worauf es mir ankam, weit geeigneter als Kupffers Werk, das zu vier Fünfteln nur physikalische und historische Geographie ist. Falöevs Atlas wird als Spielerei be­ zeichnet, von dem ich wohl nur den Titel kenne: das Heft, das seit langem

in meinem Besitz ist, ist zur ersten Veranschaulichung des russischen Re­ gierungsapparates ganz nützlich, von dem Hallers Schrift, obwohl sie

nach Rohrbachs Behauptung „vielleicht die beste Einfühmng zm Kenntnis des gegenwärtigen Rußlands ist" •), gar keine Vorstellung gibt. S. 75 wird noch moniert, daß ich von Zilliacus, Revolution und Gegen-

*) R S. 534 f, Sinnt. 23. ’) So heißt nach meinen Notizen der Titel dieses 1910 erschienenen Sammel­ werkes, das Haller mit „Rossija i intelligencija“ meint. •) Siehe darüber die instruktiven Bemerkungen bei Masaryk, Zur russischen Geschichts- und Religionsphilosophie (Jena 1913), II, S. 401—404. 4) In „Intelligencija w Rossij“. •) Leipzig 1917. S. 290. *) Magdeburgische Zeitung 26. März 1917.

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

revolution, keine Notiz nehme.

11

Daß ich den Verfasser und seine Tätig­

keit kenne, zeigt mein Zitat **); ihn als Quelle zu verwenden und als ge­ eignet zur Einfühmng zu nennen, lehne ich gerade deshalb ab. Mein

Literaturverzeichnis enthält über 160 Titel; mit 5—6 Titeln und dieser Art Bemerkungen dazu erledigt es Haller als „recht flüchtig zusammengestellt". Zur Charakteristik der Art, wie Haller im einzelnen polemisiert und

dazu meinen Text behandelt, seien zunächst folgende Beispiele angeführt. Er sagt S. 13 2): vor.

„Mit diesen Kleinrussen-Ukrainern geht im Laufe der Zeit etwas Merkwürdiges Sie müssen sich während des Krieges verslüchtigt haben. Im Nachtrag der 1916

erschienenen zweiten Auflage findet sich S. 561 eine „Nationalitätenstatistik".

Hier

liest der erstaunte Leser, nachdem ihm auch die kleinsten Bolkssplitter — Letten 1,4 Mil­

anen, Esten 900 000 und so weiter — gewissenhaft vorgesetzt worden sind, zum

Schluß die Zeile: „Kleinrussen (also nicht mehr Ukrainer) in schwer zu bestimmender Zahl in den Gouvernements Wolhynien, Kiew, Podolien." Früher 24, dann 32 Milli­ onen und jetzt nur noch „in schwer zu bestimmender Zahl"

raum ist zurückgegangen.

Aber auch ihr Wohn­

Früher wohnten sie (S. 463) in nicht weniger als acht

Gouvernements, jetzt sind davon nur drei übrig, und zwei sogar, in denen sie am dichtesten siedeln, Tschernigow und Poltawa, sind dem armen Volk entrissen."

Ganz deutlich steht S. 560 vor der von Haller angezogenen Tabelle: Statistik der Grenzmarken, die die nationalen Verhältnisse der Ostsee­ provinzen, Litauens, Polens', und des Restes des Westgebietes

wiedergibt, aber nicht, wie Haller es hinstellt, die an ganz andere Stelle gehörende Nationalitätenstatistik des ganzen Reiches, also auch nicht des gesamten kleinrussischen Elementes. S. 13: „Daß gerade Hoetzsch sich erst spät entschließt, „Ukrainer" statt „Klein­

russen" zu sagen, ist um so erstaunlicher, da er früher einmal vor engerem Fachkreise erllärt hat (Historische Zeitschrift Bd. 108, S. 542), Kleinrußland sei „ein wissenschaftlich

besser nicht zu brauchender Name".

Wenn er ihn nun doch in seinem Buche über

Rußland in der ersten Hälfte wieder braucht, sollen wir daraus den Schluß ziehen, daß dieses Buch nur zur Hälfte wissenschaftlich ist?"

Jeder Unbefangene wird zugeben, daß man den Ausdruck „Klein­

rußland" ablehnen kann, weil mit ihm wissenschaftlich nichts Rechtes anzufangen sei, und den Ausdruck „Kleinrussen"-»sehr wohl gebrauchen

-) R S. 546, Anm. 23. *) Sperrungen rühren von mir her.

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

12

Die wissenschaftliche Terminologie folgt ja auch dieser Differen­ zierung. kann.

S. 24 verlangt Haller ein Beispiel, „wo es den Russen gelungen ist, ein anderes Kulturvolk, gleichviel ob höher oder niedriger, sich zu assimilieren. Bisher ist noch keines bekannt; die Behauptung

von Hoetzsch widerspricht geradeaus den Tatsachen. Der russische Bolkscharakter hart — wer das sagt, kennt entweder die Russen nicht oder er muß auch das Wachs hart nennen. Über nichts klagen ja die Russen selbst so gem wie über ihre eigene

Weichheit."

Haller setzt dabei „Kulturvolk" an Stelle meiner, von ihm selbst zitierten, Worte: „Angehörige sogenannter höherstehender Volkstümer" (soll ich dem deutschen Ballen Haller Beispiele nennen, daß solche zu assimilieren dem russischen Volkstum allerdings recht erheblich

gelungen ist?) und mißversteht die Bemerkung über die Härte des Vollscharakters absichtlich. Auch ein in Hallers Sinn weicher Bolls« charakter kann in seinem nationalen Wesen gegen Entnationalisierung hart sein — für den russischen trifft das eben zu. S. 35: „Die Tiefe des Nachdenkens verrät sich im Schlußsatz: Der Adel ist eine „bevorzugte Klasse, die dem Zaren gegenüber aber ebenso rechtlos war wie jeder andere Russe". Worin bestand denn der Vorzug, wenn der Adel ebenso rechtlos war

wie das ganze Volk?"

Die Antwort kann Haller auf derselben Seite unten und S. 36 oben seiner eigenen Schrift lesen, wo er selbst die „sehr bedeutenden Vorrechte"

des Adels aufzähll. Er behauptet, daß sich davon in meinem Buche nichts finde. Im Kap. 1, S. 40, Kap. 5, S. 190, 196 und im Kapitel über die ständische Gliederung, wo auch nichts darüber stehen soll (S.291 und 293), findet sich das Notwendige auch bei mir. S. 36: „Geändert hat sich dies erst seit Aufhebung der Leibeigenschaft.

Da

wurde allerdings dem Landadel — unabsichtlich — das wirtschaftliche Rückgrat ge­ brochen, und seitdem hat er sich mehr und mehr aufgelöst und ist in der Masse der Linovniki, der bloßen Staatsbeamten, aufgegangen. Diese für die Gesellschast wie

ür den Staat grundstürzende Wandlung findet sich bei Hoetzsch mit keinem Wort erwähnt."

Da, wie sich auch sonst zeigt, Haller mein Kap. 5 (Agrarfrage und

Agrarreform) nicht durchgelesen hat, weiß er nicht, daß dieser Punkt ausführlich dort besprochen ist, wo er auch hingehört. (S. 198, 205 f.,

besonders S. 213—215, wo die Zahlen mitgeteilt sind).

Dafür setzt

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

13

er für das Aufgehen des Landadels in der Masse der bloßen Staatsbe­

amten einen ganz falschen, viel zu späten Termin an1). S. 37: „Manches ist einfach falsch. Zum Beispiel: „Der Absolutismus nach europäischem Muster, den in vollem Umfange Peter der Große cinführte, . . . (hier läßt Waller meine Fortsetzung aus: „ist mithin nicht etwas grundsätzlich Neues, das, in das russische Volk aus Europa übernommen, ihm aufgepfropft wurde. Sondern dieser Absolutismus") bedeutete nur eine Steigerung schon vorhandener Einrichtun­ gen oder besser, da eine solche prinzipiell nicht mehr möglich war, eine Bereitstellung der gesteigerten technischen Mittel des europäischen Absolutismus für den Dienst der Zarengewalt." Erstens war dieser Absolutismus nicht nach europäischem Muster gebildet, sondern der altgewohnte tatarische . . . Zweitens ist es logisch unstatthaft, zu sagen: „Der Absolutismus bedeute Bereitstellung von Mitteln für den Dienst des Herrschers." Das sind wieder Phrasen ohne rechten Sinn. Die Wahrheit ist, daß der absolute Zar, der tatarische Despot der früheren Zeiten, durch die Übernahme militärischer und administrativer Formen des Westens seine Macht steigerte."

Also erstens: dieser Absolutismus war nach Haller nicht nach euro­ päischem Muster gebildet (welches Vorbild hat Peter der Große sonst

vor Augen gehabt?), sondern der altgewohnte tatarische, nach mir: nicht etwas grundsätzlich Neues, sondem eine Steigerung schon vorhandener Einrichtungen usw. — wo ist der Unterschied zwischen ihm und mir? Zweitens: es ist logisch, unstatthaft und Phrase ohne Sinn, wenn ich sage: „dieser (petrinische) Absolutismus stellte die gesteigerten technischen Mittel des europäischen Absolutismus für den Dienst der Zarengewalt bereit", es ist aber logisch und sinnreich, wenn Haller dafür sagt, daß der „absolute Zar, der tatarische Despot der früheren Zeiten, durch die Übernahme militärischer und administrativer Formen des Westens seine Macht steigerte". Wiederum: wo ist der Unterschied zwischen beiden Fassungen? S. 38 f.: „Die Autonomie stand ja nur der Gemeinde als Ganzem zu. In Wirklichkeit waren es also drei, die über ihn (den Bauern) herrschten: die Gemeinde, der Grundherr und der Zar."

Ich sage1) (und das zitiert Haller sogar selbst S. 38 unten): „Die russi­

sche Bauerngemeinde hat sich bis in die unmittelbare Gegenwart einer Autonomie erfreut, von der man sich in Westeuropa kaum eine richtige Vorstellung gemacht hat.

*) S. unten S. 84 ff. •) R S. 39.

Man sah nicht, daß zwischen dem Bauern

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

14

und dem Zaren nicht nur der Grundherr, sondem auch die Dorfgemeinde

als herrschende Macht des einzelnen Lebens unbedingt stand."

Haller

und ich sagen also genau dasselbe; die zweite Hälfte seines Satzes findet sich bei mir S. 42 nochmals. Haller bringt es fertig, das nacheinander abzudrucken und mit folgender Kritik zu verbinden: „Man fragt hier wohl, wa- größer ist, die Unwissenheit oder die Anmaßung. Wie lange hat denn der Prof. Hoetzsch als Mitglied einer russischen Dorfgemeinde gelebt, um über das Maß der Freiheit, die in ihr der einzelne genoß, urteilen zu

können."

Und er belehrt mich über die Herrschaft der Gemeinde über den einzelnen, die ich selber eben „die herrschende Macht des einzelnen Lebens" genannt habe. S. 50: „Sein Urteil über das Oktobermanifest ist natürlich offiziell begeistert. Es erscheint ihm, zusammen mit der Schaffung des Mnisterkabinetts, der Aufhebung der Zensur und anderem „wie ein Bukett kaiserlicher Gnaden".

Meine Worte lauten1): „Alles das wurde zusammen am 4. No­ vember verösfentlicht und dem Volke wie ein Bukett kaiserlicher Gnaden ausgeschüttet." Ich berichte die Tatsache2), Haller schiebt ein Wort ein und stellt damit denSatz als mein UrteilüberdasOktobermanifestdar,

und der „offiziell begeisterte Hoshiswriograph"3) oder „Kronanwalt" 4)

ist fertig. S. 67: „Sicher ist so viel, daß die Agrarreform, die Stolypin eingeleitet hat, das größte Werk der Gesetzgebung darstellt, das nicht nur Rußland, sondern ganz Europa seit den Tagen des Freiherrn vom Stein gesehen hat, an Größe und Kühnheit des Entschlusses wie an allgemein politischer Tragweite sogar die deutsche Arbeiterversichemng weit überragend. Bei Hoetzsch ist davon allerdings kein Wort zu finden."

Uber die sachliche Seite dieses Urteils über die Stolypinsche Agrar­

reform spreche ich später. Hier nur der Hinweis, daß der ganze 2. Teil meines Kap. 5 (Agrarfrage und Agrarreform)5) unter diesen allge­ meinen Gedanken, nur nicht in der phrasenhaften Form des Hallerschen Urteils, gestellt ist, daß Haller diese Stellen, wie S. 70 zeigt, kennt und daß er, nachdem er S. 70 gesagt hat: Die Agrarreform „bedeutet eine *) *) «) *) •)

R ©. 127. Das Sachliche s. unten S. 98. S. 50 und 91. S. 37. R S. 216-238.

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

15

vollständige Umwälzung des bisherigen Wirtschaftslebens für gute drei

Viertel des Volkes, eine allmähliche wirtschaftliche und sittliche Gesun­ dung durch Befreiung des Individuums" (genau in demselben Sinne charakterisiere ich sowohl die Alexandrinische Reform in Kap. 2 wie die Stolypinsche in Kap. 5 — sogar das Wort „gesunden" gebrauche ich

da S. 237) fortfährt: „Bei Hoetzsch wird er (der Leser) auch darüber in die Irre geführt." S. 72: „Darum standen denn auch die Fremdvölker — mit einziger Ausnahme der deutschen Balten, die als kleine Minderheit im eigenen Lande auch bei einer Be­ freiung auf der Grundlage des allgemeinen Wahlrechts nichts zu hoffen hatten — von Anfang an in den Reihen der Revolution und halfen eifrig-, den Absolutismus zu brechen*)."

Der Satz, auf den hier Bezug genommen ist, steht in einer Übersicht

über die Autonomisten der Wahlbewegung für die erste Duma: „Die Deutschen der Ostseeprovinzen sammelten sich nicht in einer besondere Autonomie fordernden Gruppe, sondern lehnten sich gemäß ihren kon­ servativen und dynastischen Anschauungen an den Oktoberverband an." Mit meinem Wort von den konservativen Anschauungen ist darin dasselbe gesagt, wozu Haller drei Zeilen braucht. Und der Hinweis auf die „dynastischen" Anschauungen, die die Haltung der Balten zur Re­ volution unzweifelhaft auch bestimmt haben, soll Verständnislosigkeit für die Dinge sein? Um mich totzuschlagen, wird der Balte Haller sogar

gegen die eigenen baltischen Stammesgenossen ungerecht. S. 73: „Wenn diese Forderung aus nationale Autonomie erfüllt wurde, wenn Ukrainer, Polen, Tataren, Kaukasier, Weißrussen, Litauer, Letten und Esten eine gewisse Selbständigkeit in ihrenr Gebiet erlangten, dann war zunächst der feste Zu­ sammenhang, mit der Zeit vielleicht überhaupt der Bestand des Reiches, jedenfalls aber die Herrschaft der Großrussen in Frage gestellt. Das hat Hoetzsch verwischt, indem er (Seite 516) das Verhältnis der Großrussen zu den andern Völkern mir dem Verhältnis der Deutschen zu den Slawen in Österreich vergleicht. Die

Stellung, die die Großrussen in ihrem Reich einnehmen, haben die Deutschen in Österreich nie von ferne besessen."

Hat Haller meine S. 516, die er hier zitiert, überhaupt gelesen? Ich soll hier die Dinge „verwischen", indem ich sie.— genau so darstelle, wie l) Zu „hatten" gibt Haller die Anmerkung: „Aber keineswegs „gemäß ihren konservativen und dynastischen Anschauungen", wie Hoetzsch ohne jedes Verständnis für die Dinge S. 144 behauptet."

16

I. Methode und Einzelheiten der Polemik.

Haller in seinem ersten Satze.

Um eine Nebensache, die naheliegende

und sich aufdrängende Parallele mit dem Verhältnis der Deutschen zu den Slawen in Österreich, nur weil ich sie brauche, als unberechtigt zu erweisen, „haben die Deutschen in Österreich die Stellung der Groß­

russen nie von ferne besessen". Haller ist danach also die Zeit des so­ genannten deutsch-bestimmten Zentralismus (Maria Theresia, Joses II., bis 1848) in Österreich, die dem sehr wohl entspricht, nicht bekannt. S. 78: „Wie man weiß, handelte es sich (bei dem Stolypinschen Staatsstreich März 1911) um die Einführung eines abgeänderten Semstwo im Nordwestgediet, mit dem Zweck, den russischen Einfluß in diesem Reichsteil zu stärken. Die Duma änderte die Vorlage der Regierung ab, der Reichsrat verwarf sie ganz. Stolypin aber vertagte beide Häuser auf drei Tage und verkündigte das Gesetz kraft des Notpara­ graphen. Als Grund für diesen staatsrechtlichen Zynismus gibt Hoetzsch die reaktionäre Haltung der Ersten Kammer an, die „für den ruhigen Fortschritt des konstitutionellen Lebens immer bedrohlicher" geworden sei. „Mit großer Besorgnis sahen einsichtige Führer der Duma die unausbleiblichen Konflikte, die daraus hervorgehen mußten." Da hätte also Stolypin in der Ehrlichkeit seines „konstitutionellen Wollens" zum zweiten­ mal die Verfassung gerettet, indem er sie vergewaltigte? Davon ist kein Wort wahr. Um den „ruhigen Fortschritt des konstitutionellen Lebens" hat der Minister sich nicht aufgeregt."

Der Vorgang ist von mir S. 179 und 180 geschildert, der Grund Stolypins S. 181 angegeben, an der Stelle, aus der Haller (S. 78 oben) zwei Sätze zitiert. Im nächsten Absatz S. 181 fahre ich fort: „Es ist merk­ würdig, daß die Krisis (wegen der Semstwos im Nordwestgebiet) gerade am Reichsrat zum Ausbruch kam. Denn dieser stand sonst, wenn nicht unbedingt auf der Seite Stolypins, so doch entschieden auf der Seite der Regierung, der bestehenden Gewalt, des Bestehenden überhaupt. Und seine Stellung wurde immer stärker und für den ruhigen Fortgang des konstitutionellen Lebens immer bedrohlicher." Der Satz: „Mit großer Besorgnis usw." folgt erst auf der nächsten Seite in der Erörterung über das Verhältnis der beiden Kammem zueinander. Kein Wort über einen Zusammenhang zwischen Stolypins Staatsstreichpolitik und der allgemeinen Haltung des Reichsrats und dem „ruhigen Fortschritt des konstitutionellen Lebens" — diesen Zusammenhang stellt erst Hallers Methode her. S. 86 werden eine Äußemng von mir aus dem Buche S. 430 und

eine aus der Kreuzzeitung vom 13. September 1916 mit einem Geprassel von Schimpfworten als sich unvereinbar widersprechend gegeneinander-

UI. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

17

gestellt. Die erste lautet: „(Wenn die Bahnbauten im Sinne des Pots­ damer Abkommens ausgeführt sind), „dann steht Rußland in der orien­ talischen Frage in weiterem Sinne anders und sehr viel bedeutender da als bisher. Dann fehlt nur noch die Öffnung der Meerengen für seine

Flotte, und es ist alles erfüllt, was Rußland politisch von der gegen­

wärtigen orientalischen Frage im Ernst für seine Lebensinteressen verlangen muß", und die zweite: „Seit 1909 war es zwingend klar,

daß die österreichisch-ungarische Balkanpolitik und die deutsche Orient­ politik zu einem Zusammenstoß mit dem russischen Panslawismus führen mußten." Jeder Leser sieht, daß „Lebensinteresse" und „Pan­ slawismus" zweierlei ist und daher beide Sätze damals wie heute ab­ solut zusammenpassen. Daß Haller sie gleichwohl zu der Polemik S. 86

benutzt, ist — seine Methode, für die im folgenden noch fortwährend neue Beispiele zu geben sind.

II.

Air Gliederung des Legriffs Rußland; natürliche Grenzen und Lestandteile. Das 1. Kapitel von S. 7 an nimmt eine Gliederung des Begriffes Rußland vor, die Haller S. 8—10 als unklar und unanschaulich ablehnt

und zerfetzt. Was er statt dessen S. 10 f. wünscht, davon steht das Wesentliche zur Einleitung auf S. 6 f.x) genau ebenso. Aber für die Gliederung des Raumbegriffs Rußland ist das zunächst nur Einleitung und erster Hinweis. Diese selbst konnte in einem Buche zur Einführung nm von dem festen politisch-geographischen Begriffe des russischen Staatsgebietes vor dem Weltkrieg ausgehen, an den der Leser bei dem Worte Rußland zuerst denkt, und hatte dafür bestimmte Vorstellungen

in Zahlen der Quadratkilometer und der Einwohner zu geben. Sonst hängen die Vorstellungen des Lesers in der Luft, wie es geschieht, wenn chm so vage Begriffe gebracht werden wie die Hallers*2): südliche Steppe *) R2, S. 6. ') S. 10. Hoetzsch, Russische Probleme.

2

18

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland ufro.

— westlich des Dnjepr. Der Mangel bestimmter Raumvorstellungen hat sich im Urteil während des Krieges — an den Gebrauch des Wortes

Litauen sei z. B. erinnert — zur Genüge gezeigt.

Die erste klare Vorstellung ist nur mit Zuhilfenahme der Gouverne­ ments, was bestimmte Größenzahlen gestattet, zu schaffen. Sie kann nur von der alten Scheidung in europäisches und asiatisches Rußland, gegen die sich manches sagen läßt **), die aber unmißverständlich ist, ausgehen und dann die Trennung in Grenzmarken und Kerngebiet vomehmen. Wenn Haller diese Methode mit dem Schälen einer Zwiebel vergleicht, so habe ich gegen diesen Vergleich nichts.

Er ist jedenfalls richtiger

als wenn Rohrbach Rußland „auseinandernimmt wie eine Apfelsine, wo bei gehöriger Vorsicht durch keinen Riß und keine Wunde ein Tropfen Saft zu fließen braucht". Daß diese erste Gliederung auf die historischen und ethnographischen Grenzen zu geringe Rücksicht nimmt, sage ich selbst2). Aber obwohl die Gouvernementseinteilung Peters des Großen auf die natürlichen und wirtschaftlichen Einheiten keine Rücksicht nahm,

so spiegelt sie doch diese einigermaßen wieder und läßt in meiner An­ ordnung in konzentrischen Kreisen gleich das historische Wachstum des Moskauer Staates erkennen — gerade das, was Haller also zu Unrecht an meiner Darstellung vermißt. Schriebe ich für Leser, die die Größe und Einwohnerzahl der Gouvernements des russischen Staates im Kopfe haben, so hätte ich diese Gliederung vielleicht sparen können. Da das nicht der Fall ist, mußte von einer solchen ausgegangen werden, die zunächst bestimmte Raumvorstellungen vermittelt. Deshalb wurde „die ganze Operation vorgenommen"3), die nicht ohne gewisse Willkür sein kann, aber notwendig ist. Sie führt allmählich von dem genau Meßbaren zum weniger scharf zu Umgrenzenden und prägt auf diesem umständlichen Wege die Dinge fester ein als auf dem umgekehrten, auf dem der Leser niemals dazu kommt, Begriffe wie Litauen, Ukraine

und dergleichen genau zu lokalisieren. Die Einzelbegriffe nennt Haller zum Teil willlürlich geschaffen, zum Teil falsch. Für Wolgagebiet setzt er Tatarengebiet; jener Begriff

ist klar, dieser nicht, besonders da in diesem Gebiete nicht nur Tataren *) Siehe die Bemerkungen dazu R 2, S. 6. *) Anm. 14 zu S. 8.

’) In der 2. Auslage versuche ich, sie noch etwas instruktiver zu machen.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

wohnen.

19

Beim „Nordostgebiet" (Gouvemements Olonez, Wologda,

Wjatka, Perm, Archangelsk) vermißt er Klarheit des Gesichtspunktes der Absonderung.

Da auch hier die Gouvernementseinteilung zugrunde zu

legen war, muß das Stück der „finnischen Landbrücke" (nach Philippsons

Umgrenzung)x), das zum Gouvernement Olonez gehört, allerdings un­ berechtigterweise in dieses Gebiet gezogen werden. Sonst stellt es eine durch den Ural gegen Asien und durch Wolga, Kama, Bjelaja und das Ufaplateau einigermaßen umgrenzte natürliche Einheit dar, besonders weil sie ihren uralten kolonialen Charakter auf dem europäischen Boden

-es Reiches bis heute bewahrt hat.

Dieses „Nordostgebiet" ist das alte

Biarmien, das Gebiet der Nordostkolonisation Nowgorods. Auch die große Landeskunde von Semenov-Tfan-sanski, „Rossija“, nimmt das

Gebiet außer Olonez und dem „prikamskij kraj“ als „severnaja ob­ lagt’" (Nordgebiet) zusammen. Ich maße mir gar nicht an, mit solchen Begriffen nach Hallers Wort „Neuschöpfungen" zu geben, sondem ver­ suche nur, damit, wo sich nicht ein alter, feststehender Gliederungsbegriff

ohne weiteres ergibt, dem Leser die erste Handhabe zu geben. Mit „Westkleinrußland" erlaubt sich Haller wieder eine seiner Verschie­

bungen.

Er sagt:

„Westkleinrußland" ist freie Erfindung. Bisher war es nicht gerade üblich, Kleinrußland in Ost und West zu spalten, ebensowenig wie man daran gedacht hat, es ganz oder teilweise mit „Weißrußland" zu einer Einheit zu vereinigen. Falsch ist es auch, daß Litauen und Kleinrußland „oft als Westgebiet zusammengefaßt" würden. Das ist vor Hoetzsch wohl noch nie geschehen."

Der Gebrauch der Bezeichnungen: Westgebiet, Nordwest- und Süd­ westgebiet — dieses schließt vom kleinrussischen Gebiet die Gouveme­ ments Wolhynien, Podolien und Kiew, also seinen Westen, ein — ist amtlich und nichtamtlich in Rußland geläufig. Die Spaltung Klein­ rußlands in Ost und West war in der Semstwoorganisation Tatsache2); auch die Begriffe „rechts-" und „linksufrige" Ukraina lehren Haller, daß eine solche Spaltung gar wohl üblich war. Aber ich habe weder Kleinrußland gespalten noch Litauen und Klein­

rußland zusammengefaßt, sondem nur in Klammer die Bezeichnung *) Landeskunde des europäischen Rußlands (Leipzig 1908) S. 110. •) Der Staatsstreich Stolypins 1911 dehnte das Semstwo erst auf die Gou­ vemements Witebsk, Mogilew, Wolhynien, Kiew, Minsk, Podolien aus.

II. Die Gliederung des Begriff- Rußland usw.

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Westgebiet erklärt, damit der Leser weiß, was er damit anfangen soll,

wenn er auf sie stößt. Aus gleichem Grunde erwähne ich „Neu-Rußland"; die Anmerkung 13 dazu erklärt, warum ich den Begriff nicht verwende. Obwohl Haller diese Anmerkung gelesen hat, stellt er die Behandlung des Begriffs Neu-Rußland als Flüchtigkeit und Unüberlegtheit hin.

Die Zuweisung der Neurußland „von Rechts wegen zukommenden" drei Gouvemements Jekaterinoslaw, Cherson, Beßarabien zu „Klein­ rußland" soll „der Wirklichkeit wie dem Sprachgebrauch widersprechen". Was Haller mit „Wirklichkeit" meint, weiß ich nicht; Jekaterinoslaw und Cherson sowie auch Beßarabien gehören wenigstens zum Teil

national dem kleinrussischen Gebiete zu.

In der 2. Auflage ist Beß­

arabien, was richtiger ist, zu den Grenzmarken gezogen. Ich wieder­ hole: mir kam es hier auf die vorläufige Orientiernug nach Raumbegriffen an, die nicht anders als ein wenig künstlich ausfallen konnte. Was Haller S. 10 an deren Stelle setzt, gibt die zuerst nötigen festen Vorstellungen

nicht. Der Raumeinteilung lasse ich eine gleiche der Bevölkerung folgen, aus demselben methodischen Grunde. Dabei wird,das Notwendige über das Nationalitätenproblem gesagt. Daß das nicht nach S. 8 ff. gehört, wo es Haller vermißt, ist selbstverständlich, wenn ich erst vom Raum und dann von den Menschen rede. Der Einwand, daß das Nationalitäten­ problem zuerst und danach erst die staatlichen Fragen zu behandeln ge­ wesen wären, ist auch sonst gegen mich erhoben worden. Er ist aber wohl nicht begründet. Bis 1914 hat in Osterreich-Ungam die Nationalitätenfrage eine viel größere Rolle gespielt als in Rußland; würde des­ halb ein ähnliches Buch über Osterreich-Ungam sie zuerst behandeln

und nicht vielmehr auch erst die staatliche Organisation? Mit voller Absicht habe ich die Anordnung so getroffen, die nicht gleichgültig ist. Haller sagt bat)ei1): „Hoetzsch sagt: „Rußland ein Nationalitätenstaat — das ist seine Form«!, die er

mehrfach wiederholt; er scheint mit ihr Glück zu haben, denn man begegnet ihr in

neuester Zeit überall.

Und doch ließe sich keine verkehrtere finden.

Ein Nationali­

tätenstaat ist ein Staat, in dem — nicht etwa verschiedene Nationalitäten leben, sonst

gehörten so ziemlich alle größeren Staaten der Welt in diese Kategorie —, sondern ein Staat, in dem verschiedene Nationalitäten in ihrer Besonderheit als gleichberech« *) S. 21.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw. tigte Teilnehmer am öffentlichen Leben anerkannt sind.

21

Darum ist Österreich ein

Nationalitätenstaat, und Ungarn ist keiner. Ebensowenig Rußland... Rußland ist ein Eroberungsstaat, wie es nur je einen gegeben hat. Hoetzsch selbst schreibt S. 27 einen ganz richtigen Satz: „Seine (Rußlands) Großmachtstellung ist begründet durch Unterwerfung andersstämmiger Völker, deren politische Ideen sein Staat stark genug war, zu zerbrechen, ohne sie damit überall ertöten zu können." Wie kann er eS dann trotzdem zum Nationalitätenstaat stempeln wollen? Das heißt doch, mit Worten und Begriffen Ball spielen."

Letzteres tut HaNer.

Der Gegensatz des Nationalitätenstaates ist

der Nationalstaat, d. h. der Staat, der auf der Grundlage eines Volks­

tums ruht (wobei Splitter fremder Nationalitäten in ihm nicht zählen); Nationalitätenstaat ist ein Staat, der auf der Grundlage mehrerer Bolkstümer ruht, besser — im Zeitalter des überall erwachten und An­ sprüche stellenden nationalen Bewußtseins —, zu ruhen versucht. Die Definition Hallers ist willkürlich; in bezug auf Österreich würden z. B.

die Tschechen, die Slowenen, die österreichischen Italiener sie ablehnen. Nationalitäten- und Eroberungsstaat sind keine kontradiktorischen Gegensätze, wie Haller es darstellt, sondern Rußland kann sowohl ein Eroberungsstaat wie ein Nationalitätenstaat sein, ein Staat, der auf mehreren Volkstümern ruhen will, sein, genau so, wie es die Türkei ist. Was Haller einen Nationalitätenstaat nennt, ist ein Nationalitätenstaat, in dem das Problem von Staatsorganisation und Nationalitätenauto­ nomie bereits gelöst ist. Aber ein Staat verschiedener Nationalitäten, in dem das noch nicht der Fall ist, bleibt darum doch ein Nationali­ tätenstaat **). Während des Krieges ist in Frage gestellt worden, ob man

die Begriffe Osteuropa und Rußland überhaupt so brauchen darf, wie ich es tue. Zur Vermeidung von Mißverständnissen?) stelle ich fest, daß ich nicht sage: Osteuropa reiche bis an die Elbe. Ich sage vielmehr ausdrücklich ’): „Der Geograph beginnt Osteuropa wohl *) Ein mir zufäNig in die Hand kommendes charakteristisches Zitat dazu: der radikal-sozialistische „Den" spricht (27.Juli/9. August 1917) vom „staatlichenAufbau eines gosudarstvo narodnostej, als das Rußland erscheint", und fügt den beiden russischen Worten in Klammer das deutsche Wort: Nationalitätenstaat hinzu. •) Penck, Die natürlichen Grenzen Rußlands (Berlin 1917) S. 2: „Kein Geograph wird diesen Flachlandzipfel auch nur bis zur Elbe zu Osteuropa pellen, so wie es Hoetzsch aus historischen Gründen glaubt tun zu müssen." •) S. 4.

22

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland «sw.

erst mit der Ostgrenze des Deutschen Reiches, und es lassen sich genügend

physikalisch-geographische Gründe dafür anführen.

Für die politisch­

geographische und vollends die historisch-politische Betrachtung aber stellt Osteuropa eine Einheit dar von der Elbe bis an den Ural"1). Die folgen­

den Sätze dort zeigen, wie das gemeint ist und daß ich als Historiker unter historischen und politisch-geographischen Gesichtspunkten spreche.

Der

Begriff Ostemopa, so gebraucht, erschließt allein, weil er den Zusammen­ hang der deutsch-polnisch-russischen Geschichte fest ins Auge faßt, das Verständnis der Machtkämpfe im östlichen Staatensystem, das erst durch den Siebenjährigen Krieg mit dem westlichen Staatensystem völlig ver­

schmilzt. R. Pohle druckt2) jenen Satz von mir über Osteuropa ab und bringt es fertig, daran folgende, gm nicht dazu passende, Bemerkungen zu knüpfen: „Und dann heißt es weiter von dieser „Einheit", sie sei „ein gewaltiger, sehr wenig gegliederter Kontinent ohne deutliche und natürliche Grenzen an sich". Demgemäß sollten also die vier Landschaftsformen des osteuropäischen Flachlandes — Tundra,

Wald, Steppe und Wüste, die den Ausdruck des Klimas und seiner wichtigsten Funk­ tionen, Bodenbeschasfenheit und Pflanzendecke, darstellen, gar keinen Einfluß auf das

Leben der Menschen und die Geschicke der Völker ausüben? Man zeige uns einen

Europäer, den Schweden, Norweger, Finnländer oder Russen, der als Renntiernomade in der Tundra einherzögel Bisher hat sich niemand außer Lappen, Samojeden, Ostjaken und Syrjänen in den waldlosen Gefilden des Hochnordens heimisch fühlen

können. Das ist doch kein Zufall, sondem es beruht auf bestimmten, festgelegten Ge­ setzen, die den Menschen an die Natur binden. Der Verf. weiß offenbar auch nicht, welche Rollen Wasserscheiden, Moor- und Seengürtel u. a. in der politischen Geo­ graphie zu spielen pflegen. Selbst wenn sein Buch lediglich als historisch-politische Abhandlung zu werten wäre, dürfte er nicht die elementaren Grundlagen der Gliederung des Russischen Reiches vernachlässigen."

Pohle hätte gegen meinen Satz, Osteuropa sei ein wenig gegliederter Kontinent ohne deutliche und natürliche Grenzen in sich, polemisieren

können. Statt dessen stellt er meinen allgemein politisch-geographischen Gründen die vier physikalisch-geographischen Teile des russischen Flach­ landes entgegen, die ich nach ihm vernachlässige, obwohl ich sie S. 12,13

schildere und ihren Einfluß auf das Volk betone. Pohle weist mich auf die Rolle der Wasserscheiden, Moor- und Seengürtel in der politischen *) In der Zeitschrift für osteuropäische Geschichte I, 364, wo ich diese Formel

zuerst brauche, zitiere ich dazu Partsch, Schlesien (Breslau 1896), I, 21 ff. ») Zeitschrift für Erdkunde 1917, Heft 2, S. 89 f.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

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Geographie hin und will damit jedenfalls das trennende Moment, das sie darstellen können, hervorheben. Für Rußland haben aber die Wasser­ scheiden—vom Moor- und Seengürtel dort spreche ich nachher—gerade eine verbindende Rolle gespielt. Die Forscher x) sind sich darüber einig,

welche Bedeutung dasFlußsystem für die Verbindung zwischen Norden und Süden, auch Nordwesten (Nähe der Quellgebiete von Wolga, DnLpr und Düna) des ganzen Russischen Reiches — Polen steht mit Narew, Bug, Weichsel für sich, ebenso der Südwestteil Rußlands, durch den

Bug und Dnestr fließen und den der Pruth

begrenzt — hatte und

hat: das Stromsystem ist gut verbunden und leicht zu verbinden und be­

gründet so einen starken, natürlichen Zusammenhang. Datin liegt bereits ein wesentlicher Grund gegen die Theorie von den sogenannten natürlichen Bestandteilen Rußlandsl2). Diese ist im Weltkrieg besonders von Rohrbach neu belebt worden, ohne daß damit etwas Neues ausgesprochen wurde. Wie der aggressive Pansiawismus der Gegenwart bereits sein ganzes Gedankenmaterial in Danilewskis „Rußland und Europa"2) fand, so entnahmdiese Theorie l) Schiemann, Rußland, Polen und Livland I, S. 26, 43. — Pantenius, Geschichte Rußlands. 2. Aufl. (Leipzig 1917), S. 2. — Hettner, Rußland» (Leipzig 1916), S. 20. — Philippson a. a. O. S. 21 f. — KljuLevskij, Kurs russkoj istorij I • (Moskau 1908), S. 60 f. — Das Buch des verstorbenen bekannten

kurländischen Schriftstellers Theodor Pantenius ist ja nicht ein Werk der Forschung, aber eine sorgfältige Zusammenfassung der ganzen russischen Geschichte mit selbständi­

gem und unbefangenem Urteil, wie sie sonst so in Deutschland nicht vorhanden ist. Haller sagt (S. 5): „Dem deutschen Durchschnittspolitiker ist Rußland so

fremd wie China; dafür hat schon unser Geschichtsunterricht gesorgt, der die östlichen

Nachbarländer Deutschlands als Luft behandelt."

die Geschichtschreibung

auch

Dem Geschichtsunterricht hat aber

nicht ausreichend geholfen.

Auch

die

baltische

Geschichtschreibung hat — mit den bekannten wenigen und hervorragenden Aus­ nahmen — die russische Geschichte vernachlässigt. So füllte das Buch von Pantenius eine Lücke aus, das, als von einem Deutschbalten geschrieben, Haller wohl gelten lassen wird und das ich auch weiterhin zitiere. Er wirft mir mehrmals vor — Geschichte und Politik vermischend —, daß ich mein Buch im Kriege unverändert habe neu drucken

lassen; Pantenius, der im November 1915 starb und die zweite Auflage selbst druck­

fertig gemacht hat, hat ebenfalls derartige Stellen, die Haller angreifen würde, unver­ ändert gelassen.

a) Ich gehe darauf ein, um die Entgegnung Hallers auf Bemerkungen über die Ukraine — s. u. — ausführlich zu begründen.

•) Erschienen 1869.

R2 S. 412, 416.

24

n. Die Gliederung des Begriff- Rußland usw.

die „Zerlegung des russischen Kolosses" dem Programm der Preußischen Wochenblattpartei, das ihrerseits sich dafür an Haxthausen anschloß Dieser sagt in seinen „Studien über Rußland"x): „Das Land ist von bet Natur in 4 kolossale Abteilungen eingeteilt." Diese 4 Teile sind nach ihm: der Norden — der Strich vom Ural bis Smolensk — die Schwarz­ erde — die Steppe. Haxthausen zog übrigens daraus nicht den Schluß, daß diese Teile auseinanderfallen müßten, sondern fuhr dort fort: „die jede für sich, sobald sie einmal angemessen bevölkert sind, die Bedingun­ gen einer wahren Selbständigkeit nicht haben, sondern nux tn ihrer Vereinigung einen mächtigen und unabhängigen Staat bilden". Er erklärt sogar*2)* „die staatliche Einheit und Unteilbarkeit Rußlands als eine Naturnotwendigkeit, es kann aber und darf keine erobernde Macht sein". Die Wochenblattpartei nahm die Haxthausensche Zonentheorie8) auf und machte sie zur Grundlage eines politischen Wollens. Als der Weltkrieg ausbrach, wurden diese Gedanken wieder ausge­ nommen und ohne originale Weiterbildung propagiert. Sie interessieren hier nur als Anspruch exakter Gliederung Rußlands, nicht als politisches Programm, nur als Erkenntnis, nicht als Wollen. Der Hauptvertreter dieser Anschauungen ist Rohrbach 4):* * „Damit ist das notwendige Ziel dieses Krieges — und wenn nicht diese-, so deS nächsten! — gegenüber Rußland gegeben. Die russische Gefahr kann dauernd über­ haupt nur durch ein Mttel beschworen werden, und dieses.Mittel heißt: Zerlegung

deS

russischen Kolosses in seine

ethnographischen Bestandteile.

natürlichen, geschichtlichen und

Die Teile sind Finnland, die Ostseeprovinzen,

Litauen, Polen, Beßarabien, die Ukraine, der Kaukasus und Turkestan. Was übrig bleibt — Groß-Rußland oder Moskowien und Sibirien, das in seinem westlichen Teil

nur eine Verlängerung von Groß-Rußland ist — gehört äußerlich und innerlich zu­

sammen und hat seinen Ausgang anS Meer durch den Finnischen Meerbusen und die nördliche Dwina.

All die genannten Gebiete sind sowohl untereinander als auch besonders von >) I (1847), S. XIV. ») a. a. O. S. XV. •) Im Artikel vom 29. April 1854 wird sie zitiert.

Die politischen Gesichts­

punkte daraus finden sich etwa in den Artikeln vom 18. und 25. Februar, 1. Juli, 7. Ok­

tober 1854, auch 4. Februar des gleichen JahreS. 4) Vossische Zeitung, 25. Dezember 1914: „Rußland und wir." Rohrbach hat

diesen Gedanken im Kriege sehr oft ausgesprochen; ich zitiere die früheste und um­ fassendste Äußerung, die mir zur Verfügung steht.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

25

Groß-Rußland abtrennbar, ohne daß an den Schnittstellen lebensgefährliche nationale Blutungen entstehen, und sie lassen sich großenteils auch mit selbständigem staatlichem Leben erfüllen. Abgesehen hiervon könnte man das etwas kühne, aber vollkommen deutliche Bild brauchen, daß Rußland sich auseinandernehmen läßt wie eine Apfelsine, wo bei gehöriger Vorsicht durch keinen Riß und keine Wunde ein Tropfen Saft zu fließen braucht, während Staaten wie Deutschland oder Frankreich, wenn man sie zer­ stückeln wollte, einer zerschnittenen Frucht gleichen würden, aus deren Wundflächen Lebenssaft sich ergießt."

Rohrbach wirst, gewissermaßen in Synthese der Theorie Haxt­ hausens und der Auffassung der Wochenblattpartei, die „natürlichen, geschichtlichen und ethnographischen Bestandteile" zusammen, so daß

man nicht weiß, welche dieser Teile er „natürlich" nennt. Mit Ausnahme der Ukraine sind seine Teile Grenzmarken oder Kolonien1). Die von ihm

verwendeten Begriffe sind nationaler oder historisch-politischer Natur, das Problem der „natürlichen Begrenzung" wird so durch ihn nicht ge­

fördert. Moskowien setzt er Großrußland gleich, er meint also dasselbe wie ich, wenn ich Moskau als Staatsbegriff, nicht als Stadt brauche:

das von Moskau staatlich organisierte, vom Großrussentum besiedelte Gebiet. Daß Westsibirien nur eine Verlängerung Groß-Rußlands ist, ist richtig2); nur übersieht Rohrbach, daß der Prozeß, durch den Mutter­ land und Kolonie zu einer solchen Einheit werden, heute noch längst nicht abgeschlossen ist3). Die Thesen — ich lasse jedes politische Urteil beix) Diese Bezeichnung für Kaukusus und Turkestan ist wohl unmißverständlich, wenn auch ihre rechtliche Stellung als Teile des Reichsgebiets nicht die einer Kolonie ist. *) R2, S. 6. Leroy-Beaulieu, Das Reich der Zaren. (Berlin 1884.) II, 367. — Kraßnow, Rußland. (Leipzig 1907.) S. 1. *) Hatters Behauptung S. 11: „Diese gewaltige Ausbreitung nach Osten (nach Sibirien) ist das Werk des Volkes selbst, der Staat hat hier nur zu ernten gehabt, was die spontane Arbeit des Volkes gesät hatte. Sibirien ist in der Hauptsache ohne staatliche Machtmittel von großrussischen Bauern und Händlern in allmählichem Vor­ dringen gewonnen worden", stellt die Dinge genau auf den Kopf. Schon die Chrono­ logie der staatlichen Besitzergreifung und der Volksbesiedlung zeigt, daß genau daS Gegenteil richtig ist. Was Hatter beschreibt, ist der Prozeß des „Winning of the West“ in Nordamerika, nicht der Gewinnung Sibiriens, das erst der Staat erwarb und organi­ sierte, und in das danach die Siedlung einströmte. Daher auch der verschiedene Cha­ rakter der letzteren: in Nordamerika eben „spontan", in Rußland (was Hatter an­ scheinend nicht weiß) staatlich geregelt. Man hat berechnet (R2, S. 303), daß aus den ersten drei Jahrhunderten, die Sibirien zu Rußland gehörte (einschließlich der staatlich Verschickten, die gerade nicht spontan nach Sibirien gingen), sich 4% Millionen

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II- Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

feite —, die Rohrbach stellt, sind also: 1. organisch zusammengehörendes Kerngebiet Großrußland und Sibirien, 2. dessen Ausgang zum Meer:

FinnischerMeerbusen (dem widerspricht Rohrbach selbst, indem er Finn­ land und die Ostseeprovinzen ablöst, also „Moskowien" von der Ostsee absperrt) und nördliche Dwina, d. h. der Hafen von Archangelsk. 3. kein natürlicher Zusammenhang der andem Teile, also Möglichkeit der Lösung „ohne lebensgefährliche nationale Blutungen" — da werden die Begriffe „natürlich" und „national"durcheinander gebraucht, und in bezug auf die Ukraine widerspricht sich Rohrbach wieder selbst, da er gerade durch ihre Ablösung schon wirtschaftlich Großrußland tödlich treffen will. 4. Zerlegung des Kolosses in seine Bestandteile, d. h. Rückgängigmachung eines 600jährigen Prozesses der Staatenbildung, bei der aber die Kern­ macht, die diese Staatenbildung durchführte, noch dazu um Sibirien

erweitert und verstärkt, bestehen bleibt. Ohne in das Arbeitsgebiet des Geographen überzugreifen, muß sich der Historiker doch ein Urteil darüber bilden, inwieweit von der Natur

gegebene Trennungslinien in dem Staatsgebiet, das bis 1914 den Namen Rußland (europäischen Anteils) trug, vorhanden sind. Dieses

Problem wird von der Frage nach den „natürlichen Grenzen Rußlands" gemeint, aber ungenau und unklar — was ist darin „Rußland"? — be­ zeichnet. Grundsätzlich sagt Penck dazu sehr richtig*): „Allerdings fehlt diesen Grenzen die Zuschärfung zu einer Marklinie, wie sie uns im schwer

Köpfe in Sibirien zusammengefunden haben, während die staatliche Siedlungspolitik von 1896 bis 1909.3% Millionen herüberführte. „Die Kolonisation Sibiriens erscheint, sagt Bernackij (in seiner Antrittsvorlesung an der Petersburger Universität: „0 dvifcenii ruaakich na voatok“, Nanönyj iatoriö. zumal, herausgegeben von Karöev, I, 1914, S. 58 f.), vom Moskauer Gesichtspunkt vor allem als Erwerbsunternehmung des Fiskus. Sie muß als Kombination der Volksbewegung mit der Erwerbsunter­ nehmung des Staates betrachtet werden." x) Die natürlichen Grenzen Rußlands (Berlin 1917) S. 30 f. Hier heißt es: „Finnland, das Baltland mit Litauen, Polen und Beßarabien werden vom russischen Bolkslande durch natürliche Grenzen geschieden." In „Politisch-geographische Lehren des Krieges" (Berlin 1915) S. 26 schafft Penck einen Begriff „Zwischeneuropa", der Finnland, die baltischen Provinzen, Litauen, Polen, einen Teil von Weißrußland und einen der Ukraine vom bisherigen Begriff Rußland löst. Die Trennungslinie läuft nach dem Kärtchen S. 26 von der Ostgrenze des gesamtfinnischen Gebietes (nicht nur des Großfürstentums) etwa bis Narwa und von da nach Süden zur Krim.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

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übersteiglichen, gletschertragenden Kamme eines Hochgebirges entgegen»

tritt, und sie werden vielfach nicht durch den Lauf größerer Ströme hervorgehoben, an die man gern Staatengrenzen verlegt, wenn man einen gewonnenen Besitz gleichsam mit einem Graben umzieht, den der Nachbar schwer überschreiten kann." Soweit ich sehe, ist sich die geo­

graphische und historische wissenschaftliche Literatur darüber einig, daß nur Finnland, die Krim und Transkaukasien (wenn man dieses zum

europäischen Rußland rechnet) durch scharfe natürliche Grenzen vom übrigenReiche getrennt sind. Für sich stehen ferner das Weichselgebiet und Beßarabien, und noch weniger scharf von der kontinentalen Masse getrennt Litauen und die Ostseeprovinzen **), aber die Einheit der

Ebene vom Ural zur Weichsel wird hier stärker betont, als die natür­ lichen Gegensätze, die durch die allmählichen Übergänge des Flachlandes,

die Bedingungen der wirtschaftlichen Ergänzung und die Eisenbahnen leicht überwunden werden2).

Am wichtigsten und umstrittensten ist die Ukraine. Indes sind weder der ukrainische Geograph Rudnickys3) noch der unstreitig erste ukrainische Historiker Hruschewski4) trotz lebhaften Bemühens, die Ukraine als geographische Einheit darzustellen, in der Lage, feste physikalisch-geographische Grenzen für das von ihnen mit dem Namen Ukraine bezeichnete Territorium zu geben.

Beide umgrenzen

*) Für diese sagt Arbusow, Grundriß der Geschichte Liv-, Est- und Kurlands * (Riga 1908), S. 1: „Landeinwärts, sowohl im Osten wie im Süden, ist eine natürliche Abgrenzung nicht vorzunehmen; Livland erscheint nur als Ausläufer einer mächtigen

Kontinentalmasse." Leroy-Beaulieu, a. a. O. I, S. 28sagt, daß die Ostseepro­

vinzen „durch die geographische Lage an das große Reich gekettet sind, dessen Küsten­ land sie bilden und dem die Häfen als Ausgangstor dienen. Von Rußland getrennt, wären sie gleichsam vom Kontinent abgeschnitten und kämen in eine ähnliche Lage wie das österreichische Dalmatien, bevor die Besetzung Bosniens und der Herze­

gowina ihm einen Hintergrund gegeben hatte." *) S. dazu Hettner S. 9ff. — Philippson S. 5—9. —

Kljuäevskij,

Kurs rusakoj iatorii (Moskau 1908) P, ©. 43—79. — Selbst ein der Propaganda des denkbar weitesten Begriffes von Mitteleuropa gewidmetes Buch wie Arldt,

„Die Völker Mitteleuropas" (Leipzig 1917), sagt S. 5 sogar: „Eine scharfe natürliche

Grenze zwischen Polen und dem Großrussenreich fehlt allerdings ganz." ») Ukraina, Land und Volk (Wien 1916), S. 3 ff.; daraus S. 4, 5, 25.

4) Geschichte des ukrainischen Volkes, I. (Leipzig 1906), S. 2 f.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

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ihren Begriff nur ethnographisch.

Rudnickij sagtx): „Nicht Meere und

Gebirge scheiden in Osteuropa Naturgebiete und anthropogeographische Einheiten, sondern morphologische Schattierungen, hydrographische und klimatische Grenzen, pedologische und pflanzengeographische Ver­

hältnisse." Mit andem Worten: feste, natürliche Grenzen zwischen Norden und Süden sind nicht zu ziehen; die Ukraine ist nicht, wie Rud-

nickyj behauptet, eine ausgesprochene geographische Einheit. Auch ihre natürliche Abgrenzung nach Westen durch Dnjöpr oder Dnjöstr wäre willkürlich; da ist die natürliche Grenze das Karpathengebirge und das Donaudelta, die beiden Faktoren, die hier Ost- und Südosteuropa von­ einander scheiden. Vollends willkürlich sind genaue Angaben von Quadratkilometerzahlen für den Umfang der Ukraine unter Gesichts­

punkten der natürlichen Abgrenzung. Damit ist schon das Nötige auf

Haller2) zu diesem Punkte

gesagt: „Hoetzsch wiederholt wörtlich das bekannte Urteil, das Moltke vor 60 Jahren

gefällt hat, vom Russischen Reich könne „kein Teil ohne den andern bestehen", weil sie alle einander wirtschaftlich zu nötig hätten.

Das ist aber heute längst als Irrtum

erkannt und nachgewiesen. Heute pfeifen es ja die Spatzen von allen Dächern, daß der Verlust der Ukraine für das europäische Rußland den volkswirtschaftlichen Schwind­

suchtstod bedeuten würde; daß die Ukraine zwar sehr wohl ohne Rußland, dieses aber ohne die Ukraine keineswegs existieren kann. Jemand, der andere über Rußland belehren wollte, hätte das auch schon 1913 wissen müssen. Wer es übersieht oder übergeht, der versteht die russische Politik, die innere wie die äußere, überhaupt nicht."

Diese Ansicht von der Ukraine hat durch die Rohrbachsche Agitation,

der Haller nur nachschreibt, in Deutschland weite Verbreitung ge­ funden. Indes hat noch niemand — auch Haller tut es nicht — die Behauptung erwiesen, daß die Ukraine sehr wohl ohne den Norden, besser ohne Moskau, existieren könnens. Angenommen, die Ukraine

sei ein fest zu umgrenzender geographischer Begriff — Haller beschwert sich mit diesem Problem überhaupt nicht —, und ihre

Selbständigkeit sei durchgesetzt —, ich lasse beiseite, daß die Schwarzmeerküste keineswegs rein ukrainisches Gebiet ist —, wohin würde ’) S. 5.

Dazu die dem Buch beigegebene physikalische Karte.

«) S. 15. •) Darauf wird Haller auch in den Sozial. Monatsheften 1917, Heft 8, S. 410 von H. Kranold, Vorfragen einer östlichen Orientierung, hingewiesen.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

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die Wirtschaft dieses ukrainischen Staates gravitieren, wo würde sie ihre Absatzgebiete suchen? Eine natürliche Grenze gegen den Norden existiert, wie gesagt, nicht. Die Verkehrsbeziehungen würden erhalten bleiben. Auch für eine selbständige Ukraine und ein selbständiges Moskau

behielten die Bahnlinien Moskau—Kiew—Odessa, Moskau—TulaCharkow—Sewastopol, Moskau—Woronesch—Rostow die große Bedeu­ tung, die sie für die Verbindung von Norden und Süden heute haben. Ferner liegt zwischen der eigentlichen Produktionszone der Ukraine und dem Meere — was sür den Verkehr einer selbständigen Ukraine mit Mitteleuropa über das Schwarze Meer—Dardanellen—Mittelmeer er­ schwerend ins Gewicht siele — ein unproduktives Steppengebiet, und von den Standorten ihrer Produktion liegt zudem das Donezbassin in der östlichen, also entfernteren Ecke des ukrainischen Gebietes. Diese

natürlichen Gegebenheitenx) läßt die von der Agitation erweckte Vor­ stellung von der Bedeutung einer selbständigen Ukraine für Mittel­ europa — als dessen „östlicher Brückenkopf etwa noch die übrige Ukraine vom Dnjepr bis zum Don (!)" sogar gelegentlich gefaßt totrb2) — außer

acht. Man hat manchmal das Gefühl, als fragten sich die Verfechter dieser Gedanken gar nicht, wo die Ukraine eigentlich liegt. Industrie und Holzbedarf der Ukraine sind auf den Norden angewiesen, während dieser auf das Getreide und die Zuckerrübe des Südens angewiesen ist und zugleich aus seiner industriellen Mitte, die ganz außerhalb des ukraini­

schen Gebietes liegt, den Süden mit Textilwaren versorgt. Diese Zu­ sammenhänge hat Moltke mit genialem Scharfblick gesehen, und sie be­ stätigt Penck3) mit dem Satze: „So ist denn das Russische Reich seinem Wesen nach ein Binnenstaat, beschränkt auf den Getreidereichtum der Steppe, den Holzreichtum des Waldes und den Metallreichtum des Ge-

*) In der Bewegung um eine neue Landverteilung, zu der die Revolution geführt hat, weist die russische Presse daraus hin, daß die Bauern in der Ukraine, etwa in Kiew und Poltawa (niedrigste Durchschnittsgröße des Nadöllandes, f. R2 S.163) selbst

unter Aufteilung des ganzen Großbesitzes jeder nicht über 6 Deßjatinen erhielten, man also die Befriedigung des Landbedürfnisses für sie in den östlichen und nordöst-

lichen großrussischen Gouvernements suchen müßte. Das würde also auch im Sinne des Zusammenhalts wirken. *) Arldt a. a. O. S. 5. •) Die natürlichen Grenzen Rußlands (Berlin 1917) S. 6.

30

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

birges und geknüpft an die alle drei Gebiete verbindende Wolga." An anderer Stellex) sagt Penck freilich: „Eng sind in der Tat die wirtschaftlichen Bande zwischen Klein« und Großrußland

geworden. Jenes ist die Kornkammer für den Norden. Kohle, es gewährt ihm Eisen.

Es ist ein Hauptlieferant der

Aber wenn wir uns die wirtschaftlichen Bande gelöst

denken, so würden doch beide Glieder dabei nicht zugrunde gehen müssen.

Groß­

rußland und Kleinrußland erstrecken sich beide aus dem Waldland des Nordens in das Steppenland des Südens.

Beide haben ihre Bergbaugebiete.

Großrußland hat die

Metallschätze des Ural, Kleinrußland den Eisenreichtum der Schwelle der Ukraina.

Beide haben Kohlen. Zwar hat die Ukraina im Donezgebiete mehr als Moskowitien

in Zentralrußland und dem Ural; dafür aber verfügt Großrußland über die reichen Erdölschätze des Kaspischen Gebietes. Kurz, beide haben das, was sie brauchen, um in weitem Umfange sich selbst zu genügen. Beide haben aber auch Wege zum Meere: Kleinrußland den längs seiner Ströme zum Schwarzen und Asowschen Meere; Groß­

rußland erreicht am Don das Asowsche Meer und an der Newamündung den Finni­ schen Golf; es erstreckt sich zum Eismeere und Kaspisee. Es ist durch Kleinrußland an keiner Stelle abgetrennt vom Meere: es erreicht dieses überall dort, wo seine Flüsse

es tun, und diese sind die großen Verkehrsadern des Landes."

Aber dieser Hinweis auf den Weg zum Meere ist geradezu ein Beweis dafür, daß eine selbständige Ukraine, derartig von Großrußland bis nach Asow umfaßt und flankiert, von vornherein eine tödlicheSchwäche in sich trüge. Auf ihr würde der Druck eines im Rücken freien Großrußlands lasten, dem die Wolgamündung und der Kaspisee für den Weg zum Meere ja nichts bedeutet, dem die Dnfepr-, Bug- und Dnjestrmündung dazu fehlten und das den Weg zum Meere nur im äußersten Winkel des

Schwarzen Meeres, in der Donmündung — dort übrigens auch schon zum Teil ukrainisches Gebiet durch- und abschneidend2) — hätte. Dieser Umstand sowie die Tatsache, daß auch nach dem Bilde, das Penck zeichnet, Großrußland für die Möglichkeit, sich wirtschaftlich selbst zu genügen, gegen den Süden erheblich im Nachteil wäre, würden Moskau veranlassen, sofort wieder da anzufangen, wo Alexej Michailowitsch und Peter der Große (dessenFeldzüge nach Asow!) begonnen haben. Es würde alles an den Rückerwerb des Südens setzen, der mit ihm wirt­ schaftlich und verkehrsgeographisch verbunden ist, Mitteleuropa aber in

') a. a. O. S. 34 f. *) S. dafür die Rudnickys „Ukraina" beigegebene ethnographische Übersichts­ karte von Osteuropa.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

31

beiden Beziehungen fern liegt und von letzterem gegen Moskau nicht zu verteidigen wäre. Die Frage nach den natürlichen Grenzen Rußlands braucht, wie

erwähnt, diesen Begriff — auch Haller tut das — in einer die Klarheit nicht fördernden Weise. Rußland war und ist der Name für das Reich

der Romanows *) — Rossija seit Alexej Michailowitsch — bis zur Re­ volution, eine historisch-politisch gewordene staatsrechtliche Einheit, aber weder ein physikalisch-geographischer noch ein nationaler Begriff. Ge­ meint ist bei solcher Verwendung des Begriffs das von Großrussen

besiedelte und organisierte Gebiet um Moskau, das durch Angliederung, und Eroberung anderer Gebiete zum Weltreich geworden ist. Von ihm lösen die von Penck geschaffenen Begriffe „Zwischeneuropa"*2) und „warägischer Grenzsaum" nach Merkmalen der physikalischen Geographie große Gebiete los. Zwischeneuropa trennt Finnland, die Ostseeprovinzen,

Litauen, Polen, Beßarabien, einen Teil von Weißrußland, einen der Ukraine ab. Der warägische Grenzsaum3) vom Finnischen bis zum Asowschen Meere ist „im Westrand über 1200 km durch Flußläufe be­ zeichnet, im Peipusgebiete durch Narwa und Welikaja, im Süden durch Beresina und Dnjepr. Auch der Ostrand wird auf 1000 km, im Jlmenseegebiete durch Wolchow und Lowat, im Süden durch den Donez hervor­ gehoben". So bedeutsam die Penckschen Hinweise sind — lehrreich be­ sonders für den Historiker, weil sie mit neuen Gesichtspunkten zwingen, alte Vorstellungen neu durchzudenken —, so fallen doch auch gegen sie die oben betonten Gesichtspunkte der kontinentalen Einheit schon nach den Lehren der Geschichte ins Gewicht. Die Natur hat jedenfalls, wie die Geschichte lehrt, im militärisch-strategischen Sinne an diesen Stellen nicht getrennt. Denn natürliche Schwierigkeiten haben z. B. die Ex­ pansion Moskaus in die Ukraine und nach der Schwarzen Meerküste nicht gehemmt, sondern nur machtpolitische Hindernisse. Die polnischlitauisch-weiß- und großrussischen Kämpfe sind durch die Poleßje nicht

behindert worden — man denke nur etwa an die große Zeit der litaui­ schen Geschichte, an Gedymins und Witowts politische Tätigkeit. Und *) S. unten darüber und über Ruä. 2) Politisch-geographische Lehren des Krieges. Berlin 1915, S. 26; dort auch das Kärtchen. 3) Die natürlichen Grenzen Rußlands S. 17 f.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

32

im Norden hat die Linie des Peipussees und des Seengürtels — dies

auch gegen Pohle — auch gegen den Flankenangriff nicht gesichert: von Alexander Newski, der 1242 auf dem Eise des Peipussees *) die Ordens­ ritter besiegte, bis zu Peter dem Großen hat die Natur die baltischen Lande nicht geschlitzt. Die Bedeutung der physikalisch-geographischen Momente ist groß, aber scharfe Trennungslinien ziehen sie nur an den oben*2)*bezeichneten Stellen. Sonst ist der Kontinentalcharqkter stärker als

sie. Vor allem für das Kerngebiet — Großrußland und die Ukraine — ist, wie gesagt, eine Scheidung nach diesen Gesichtspunkten nicht denkbar. Ebene und Klima — das hat schon Leroy-Beaulieu hervorgehoben *) —

machen eine isolierte Existenz beider Teile nicht möglich.

Und dazu

halten die nordsüdlich ziehenden Wasserstraßen sie zusammen, deren Scheiden, wie die Geschichte lehrt, so leicht zu überwinden sind. Haller möge einen Blick auf die vortreffliche Karte werfen, die Pantenius seinem Buche beigegeben hat: das Flußsystem Rußlands — er wird sehen, warum trotz ihm Moltkes Wort richtig ist und Moskau der Mittelpunkt

des Reichs tourbe4).* * DieseBetrachtung steht ausschließlich unter demGesichtspunkte der von der Natur gegebenen Scheidungen. Daß Nationalität und Politik auch, was natürlich zusammengehört, zu trennen vermögen, lehrt die Ge­ schichte. Und daß die modernen Verteidigungsmittel auch unnatürliche Grenzen halten können, daß die Entwicklung des Kriegswesens heute

gestattet, sich von der natürlichen Grenze sehr stark unabhängig zu halten, zeigen die Erfahrungen des Weltkrieges. Schon zur Trennungsfrage zwischen Nord- und Südrußland unter nationalen und historischen Gesichtspunkten führt der zweite Einwand

*) Schiemann a. a. O. I, S. 55. — „Am Ufer des Peipus, bei Jsmene oder

beim Krähenstein, sog. Schlacht auf dem Eise," sagt Arbusow a. a. O. S. 41. Nach der beigegebenen Karte liegt der Schlachtort am westlichen (!) Ufer des Sees.

*) S. 27.

8) I, 26. — Auch auf den Anfang (Absatz 2 des 1. Kapitels) bei Solowjew, Istorija Rossij8 (Petersburg s. a.) 1,10, über die Ebene „vom Weißen zum Schwarzen und vom Baltischen zum Kaspischen 2Reet" als historischen Faktor sei hingewiesen. 4) S. darüber die Bemerkungen bei Solowjew a. a. O. I, S. 1119 f. und

meinen Hinweis auf die merkwürdige Parallele zwischen Moskwa und Spree, Moskau und Berlin, R S. 6, R2 S. 5.

II. Die Gliederung des Begriffs Rußland usw.

33

gegen die Penckschen Begriffe, daß nämlich diese natürliche Begrenzung von Rußland das russische Volk so, wie man den Begriff bisher nahm, auseinanderreißt. Legt man z. B. die Nationalitäten- und Stammes­

grenzen x) in eine physikalisch-geographische Karte des mit der Linie Zwischeneuropas geteilten Westrußlands, so ergibt sich, daß diese in der Mitte ethnographisch Zusammengehöriges trennt und die Ursitze des mssischen Volkes ablöst. Man kann die Ukrainer so scharf wie möglich

von den Großrussen trennen, aber dieses Zwischeneuropa reißt die Sitze der ersteren auseinander, es weist nur etwa die knappe Hälste, vielleicht noch weniger, nach Westen und ein Viertel der Weißrussen nach Osten2). Die „Flucht der alten Warägerstraße" ist keine so scharfe Grenzlinie; sie3) „birgt heute noch die Westgrenze der Großrussen, die bald auf ihrem Westrande, bald auf ihrem Ostrande verläuft". Damit sagt

Penck, daß diese natürliche Grenze nicht zugleich die ethnographische Grenze sein kann. Und«): „die Warägerlinie trennt Großrussen von den Weiß- und Kleinrussen". Zeichnet man sich den warägischen Grenzsaum

nach Penks Kärtchen in eine Nationalitätenkarte ein, so ergibt sich, daß das besonders für die Kleinrussen nicht ganz zutrifft. Da ist dann die Linie Paquets3) konsequenter: „Petersburg südlich bis Smolensk und von dort in einem flach nach Osten ausgespannten Bogen gleichsam wie ein zweiter, in das Binnenland abgezeichneter Rand des Schwarz­ meerbeckens bis an den Fuß des Kaukasus." In jedem Falle kann eine solche natürliche Begrenzung, soweit das Gebiet des russischen Volks­

tums in Frage kommt, von wirklicher Bedeutung nur sein, wenn durch sie nicht Stämme, sondern Völler voneinander getrennt würden. Der wichtigste Teil dieses Problems ist die ukrainische Frage. *) Erstere aus der Karte in R 2, letztere bei Schiemann a.a. O. I, S.26 oder im Historischen Handatlas von Spruner-Menke Nr. 67.

’) Natürlich cum grano salis. Denn selbstverständlich will Penck nicht die Lineal, grenze, zu der der kleine Maßstab seines Kärtchens zwang, ausstellen.

’) a. a. O. S. 24. 4) S. 31.

•) Nach Osten (Berlin 1915) S. 17.

Hoetzsch, Russische Problem«.

3

34

HI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

III.

Wie Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I. Haller sagt1): „Man ermißt also, was es besagen will, daßHoetzsch zu dieser (ukrainischen) Frage nirgends klare Stellung nimmt und sie schließlich, soweit es geht, zu unter­

drücken sucht, indem er sich nicht einmal mehr der ukrainischen Bolkszahl erinnern will, die er doch früher selbst angegeben hat."

Die ukrainische Volkszahl steht S. 19 und 463 f.2); bezüglich des Anwurfs im Schluß dieser Sätze ist3) schon das Nötige gesagt.

Sieht

man nun an, was Haller über die ukrainische Frage S. 14 und 15 sagt, so nimmt er — eine völlig unklare Stellung zum Tatsächlichen ein. Die Fragen: ob eigene Sprache und Nation?, die politischen Wünsche der Ukrainer?, ob selbständiges Staatswesen oder Aufgehen im Großrussentum? — alles bleibt bei ihm unentschieden, und zwar einfach deshalb, weil diese Fragen heute exakt nicht zu entscheiden sind. Wenn ich sie daher so vorsichtig wie möglich beantwortete, ist das unklar und versagt mein Buch „in einem entscheidenden Punkte", wenn Haller alles in der

Schwebe läßt, ist erwiesen, daß „die ukrainische Frage schon jetzt4) das große Zentralproblem der russischen Geschichte*) ist und es künftig erst recht sein wird". Da er eine andere Grundlage auch nicht an Stelle der meinigen setzen kann, so müssen Russophilie, persönliche Motive usw. herhalten, um zu beweisen, ja was? — daß wir beide ein abschließendes Urteil über Untergrund und Aussicht der ukrainischen Frage nicht ab­ geben können. Wer nur den sachlichen Gehalt seiner (S. 14, 15) und meiner Ausführungen nebeneinander hält, wird einen wesentlichen sach-) S. 16. 2) R2, S. 18 f. — Die hier zitierte Statistik A. A. Russows steht in dem von ihm mit herausgegebenen „ULramrllijVöstniL" (1906), ©. 222 ff. Diese Zeit­

schrift wurde von den Ukrainern russisch 1906 herausgegeben und ist eine sehr wert­ volle Quelle über die ukrainische Frage im Revolutionsjahr. Ich habe sie 1906 ge­ sammelt und dem Seminar für osteuropäische Geschichte an der Universität Berlin

überwiesen.

’) Oben S. 11. *) In Hallers Manier könnte man „jetzt", „Geschichte" und „künftig" hübsch ein­ ander gegenüberstellen.

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

35

lichen Gegensatz nur in dem schon behandelten Punkte über die natürliche

Zusammengehörigkeit der Ukraine mit Moskau konstatieren; über den Punkt Kiew-Moskaux) spreche ich nachher. Einige Einzelheiten: Ich sage2), daß „die Tatsache des Kleinrussentums zu den sehr ernsten Fragen Rußlands gehöre, weil hier der Boden, wenn einmal eine neue Erschütterung des Staates kommen sollte, ganz besonders günstig bereitet ist". Darauf Haller S. 15: „Das Letzte ist wohl kaum richtig. Die Erfahrung hat gezeigt, daß die Gefahr unmittel­ barer Losreißung in der Ukraine3) weniger groß ist als anderswo." Wo spreche ich S. 468 oben von Losreißung, ein Wort, das ich mit voller

Absicht vermied? Haller sagt, daß die Gefahr der Losreißung weniger groß sei als anderswo, und zugleich, daß der Besitz der Ukraine Rußland, „wenn er erhalten bleibt, in Zukunft auch die Mittel und den Anreiz geben wird, noch mehr als bisher mit den westlichen Nachbarn in Wett­

bewerb auf den volkswirtschaftlichen Kampfplätzen des nahen Orients zu treten. Mit einem Worte: Rußland muß die Ukraine behaupten,

um zu bleiben, was es war, und um noch mehr zu werden, was es ist." Hallers Schrift soll laut Vorwort gegen „schiefe und mangelhaft unter­

richtete Anschauungen über russische Dinge" polemisieren und gibt hier, da sie das nicht kann, ein rein politisches Argument, daß näm­ lich die Ukraine, die es selbst nicht kann oder will, losgerissen werden müsse — anders kann dieser Abschnitt auf den Leser gar nicht wirken. Nur mit leisem Lächeln kann ich Hallers belehrenden Hinweis auf die entscheidende ukrainische Frage lesen. Es ist seine erste Äußerung dazu; eigenes Wissen und Urteil zeigt sie nicht. Ich habe seit 1905 auf sie hingewiesen, mir durch eigenen Augenschein in Galizien 1905, 19064) und 1909, Südrußland 19064), persönliche Bekanntschaft mit ihren Füh-

>) S. 20-23. ') R .S. 468. •) Die Erwartungen darauf sind aber im Kriege, und zwar von Anfang an, von niemand stärker geschürt worden als dem Rohrbach-Hallerschen Kreise. «) S. meine Aufsätze: „Eine Ferienreise durch Galizien. Mt einem Nachwort über die Ruthenen und Polen in Rußland". Deutsche Monatsschrift IX (1906), S. 449 bis 463, 638—659, in denen bereits die Hauptdaten und Probleme der ukrainischen Frage bezeichnet und erörtert sind.

36

in. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

rern (M. Hruschewski, Bagalöj, I. Franko, Sembratowicz, K. Lewickyj,

Kuschnir u. a.) und durch Erlernen des Ukrainischen ein Urteil zu bilden versucht. Ich habe mich immer bemüht, die Aufmerksamkeit auf die erste historische Autorität der Ukraine, M. Hruschewski *), zu lenken und in der von mir mit herausgegebenen Zeitschrift für osteuropäische Ge­ schichte die Abteilung Ukraine eingeführt und sorgfältig gepflegt.

Die

Bedeutung der Frage, genau wie sie Haller S. 15 oben bezeichnet, habe ich sehr oft schriftlich und mündlich erörtert. Vor dem Kriege wurde aber diese Beschäftigung, abgesehen von den ruthenischen und den an der polnischen Frage interessierten Kreisen, mehr als Liebhaberei betrachtet, die nicht recht ernst zu nehmen sei. Ich habe sogar den Ein­ wand erfahren, daß ich die ukrainische Frage übertriebe, jetzt aber die Genugtuung, daß die Partien meines Buches darüber, als der Krieg ausgebrochen war, gern benutzt wurden, und sie manchmal im Gewände

der Agitation wieder erkannt. Der Krieg gab mit der Agitation, die nunmehr erst der Rohrbachsche Kreis darin aufnahm2), Veranlassung,

die Frage erneut zu prüfen; wie ich sie vom nichtpolitischen Standpunkt auffasse, ist S. 22 f. und 403 der 2. Auflage niedergelegt. Ich weiß wohl, daß damit die wissenschaftlichen Probleme nicht gelöst sind; daß Hallers Polemik diese fördert, wird niemand behaupten. Daß ein Urteil über Sprache und Nationalität der Kleinrussen im

Verhältnis zu den Großrussen angestrebt werden müsse, bestreitet von allen, die darüber reden, nur Haller mit dem Diktum: „Politische Flügen werden nicht nach der Grammatik entschieden, sondern nach dem Willen

und der Tat" (S.14). Den Willen der ukrainischen Massen zum eigenen Volkstum vermag Haller so wenig zu bejahen wie ich oder irgendein anderer, auch kein Vertreter der ukrainischen Intelligenz in Europa, der uns davon spricht. Die Revolution wird erst zeigen, wie ich es aus­ drücke 3): „ob der Gegensatz von Groß- und Kleinrussentum mehr ist als *) Professor in Kiew und Lemberg, heute Präsident berUkrainska Zentralna Bada. — S. meine Besprechung des 1. (leibet einzigen ins Deutsche übersetzten) Bandes Historische Vierteljahrsschrift 1907, 2, S. 222 ff. ’) In dem langen Kapitel: Rußland in Rohrbach, Deutschland unter den Weltvölkern (3. Ausl. Berlin 1911) S. 67—151, kommt die ukrainische Frage über­ haupt nicht vor, während z. B. die Finanz- und die Agrarfrage ausführlich be­ sprochen werden. ’) R 2, S. 403.

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kien» und Moskau. I.

37

der zwischen Süd und Nord oder zwischen Kolonialland und Mutter­ land". Die großen, hemmenden Momente setzt Haller selber ganz richtig auseinander (S. 14).

Aber sein Leser weiß danach wirklich nicht, wes­

halb gerade nach Haller die ukrainische Frage so schwer für Rußland

sein soll, wenn sie so liegt, wie er sie S. 14 charakterisiert, warum sie sogar (S. 74 Anm.) eine Hauptursache des Stolypinschen Staatsstreiches gewesen sein soll.

Haller braucht die Bezeichnungen „ukrainische Slawen" ’), „ukraini­ sches Reich"x) und befolgt damit eine Methode, von der Smolka2) mit einem gewissen Recht spottet: „Was würde man sagen, wenn es jemand einfiele, von der Erobemng Österreichs durch die Legionen des Tiberius zu sprechen?" Ukraine und Ukrainer sind in der Bedeutung, wie sie die ukrainische Bewegung2) heute verwendet, Buchausdrücke.

Ukraine heißt Mark, Grenzmark, genau der Bedeutung entsprechend, die dieser Begriff in unserem Mittelalter hat. Es gibt daher auch mehrere „Ukrainen", deren wichtigste das heute so genannte Gebiet ist. Es war das Grenzgebiet gegen die Steppenvölker des Südens. Das Wort kommt schon in den altrussischen Chroniken vor4) und ist so im 12. oder 13. Jahrhundert entstanden. Später wurde es, im 16. und 17. Jahr­

hundert, genauer auf die Gebiete der sogenannten Hetmanschtschina (am mittleren und unteren Dnepr, in der Hauptsache westlich des Dnöpr)

lokalisiert.

Es ist kein fest begrenzter geographischer und auch kein be­

stimmter historisch-politischer Begriff2). *) S. 17. *) Die reußische Welt (Wien 1916), S. 249.

Immerhin ist es unmißver-

Dieses Buch des bekannten polni­

schen Historikers nennt sich mit Recht historisch-politische Studien. Denn es ist von

der Parteilichkeit des polnisch-ruthenischen politischen Gegensatzes keineswegs frei. •) Neben dem am besten das Material liefernden Buche Rudnickyjs, das freilich

an der übertreibenden nationalistischen Tendenz, die Ukraine in jeder Beziehung als geschlossene Einheit darzustellen, leidet, ist Dm. Donzows Schrift: „Die ukrainische

Staatsidee und der Krieg gegen Rußland" (Berlin 1915) als die sorgfältigste in der ukrainischen Agitationsliteratur zu nennen. Sie hat offenbar auch Haller als Quelle gedient, während nirgends zu erkennen ist, daß er den viel wertvolleren Hruschewski

auch nur dem Namen nach kennt. *) Sreznevskij, Materialy dl ja slovarja drevne-russk. jazyka.

(Peters­

burg 1893ff.), führt 8. v. an: Ipatiev. LStopiS zu 6697 (Poln. sobr. r. 1. II, 138) und

Pakov. I, zu 6779 (a. a. O. IV, 182) und 6856 (S. 190). •) Hruschewski betitelt deshalb sein großes Werk „Istorija Ukraini-Rusi“.

38

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

stündlich, wenn heute der Begriff „die Ukraine" so gebraucht wird wie

„die Mark" für das brandenburgische Gebiet. Me aber niemand „Mark" als geographischen Eigennamen gebraucht, so sollte man auch nicht, wie Rudnickyj es tut, „Ukraina" als solchen verwenden. Man erweckt damit

ebenso falsche Vorstellungen wie Haller mit den „ukrainischen Slawen" und dem „ukrainischen Reich". Die altgeschichtliche Bezeichnung ist das aus „Ruä, rusin“x) stammende latinisierte „Ruthene, ruthenisch". In den „Artikeln Bogdan Chmielnickyjs" von 1654, in denen die Vereinigung

der Ukraine mit Moskau festgelegt wurde, spricht dieser nicht für das „ukrainische" Volk, sondern für „ves mir christianskij rossijskij*2)*“, was die ukrainische Literatur mit ruthenisch wiedergibt. Daneben waren im 16.und17,JahrhundertdieAusdrücke„ukrainisch" und „Ukraine" aufge­ kommen. Offizielle Bezeichnungen waren sie in Rußland nicht. Die Akten

sprechen vielmehr von Kleinrußland und kleinrussisch, nach einer Unter­ scheidung, die im 14. Jahrhundert bei den Byzantinern üblich war; mit „PLtxpd Piuusta“ und „Russia Minor“ ist der Süden Rußlands gemeint2). Etwas Herabsetzendes, wie manchmal behauptet wird, liegt darin für die Südrussen nicht. Dementsprechend braucht unsere Geschichtschreibung — ich nenne Bernhardi, Schiemann, auch Pantenius4) — Kleinrussen und kleinrussisch, ebenso die slawische Philologie. Die Bezeichnung „ukra­ inisch" ist erst in den letzten höchstens zwei Jahrzehnten allgemein auf­ gekommen; selbst die „Ukrainische Rundschau" hieß in den ersten drei Jahrgängen „Ruthenische Revue" und mußte die Verwendung des

Wortes „ukrainisch" seit 1. Januar 1906 besonders motivieren. Historisch richtiger wäre: „Rusi-Ukralni“, wie es auch z. B. einmal bei ihm II, S. 191 heißt. *) Was schon im Vertrag Olegs mit Byzanz von 911 vorkommt; Vladimirskij-

Budanov, Christomatija po ist. russk. prava (Petersburg 1889) I, S. 3 u. 6.

') Polnoje Sobranie Zakonov I, Nr. 119, S. 322. *) Karamzin (ich zitiere nach der Handausgabe in der „Billigen Bibliothek" Suworin) V, 181: „1422 bei der Belagerung von Golub oder Kulm waren bei Witowt

verbündete Druschinen aus Moskau und Twer oder Großrussen, wie das damalige Verzeichnis des Ordens sagt." 4) Für Haxthausen gilt dasselbe. — Bernhardt braucht „Ukraine" stets ganz korrekt als unbestimmten geographischen Begriff. Solowjew stellt am vorsichtigsten immer nur die „alte südliche 8hi6" und die „neue nördliche Ruö" einander gegenüber.

In gleichem Sinne spricht Kostomarow oft von „südlicher" und „östlicher 8tuS“.

in. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

39

Diese Feststellungen sind nicht kleinliche Krittelei. Die Unsicherheit der Terminologie zeigt, daß die Frage des Unterschiedes zwischen Nord-

und Südrussen nicht so einfach liegt, wie die Hallersche Terminologie erscheinen läßt. Indem erx) den Ukrainer wie den Polen, Deutschen, Letten usw. als selbständige Nationalität dem Großrussen gegenüber­ stellt, vollzieht er eine Entscheidung des politischen Willens — dieser

kann so sprechen, wie es die ukrainische Bewegung ja tut2), aber nicht des wissenschaftlichen Urteils. Auf letzteres aber kommt es mir in meinem Buche an. Hruschewski8) und Rudnickyj8) suchen den anthropologischen Typus des Ukrainers zu bestimmen und als vollkommen selbständig gegenüber dem „polnischen, weißrussischen, russischen Typus" zu erweisen. Sie gehen damit auf den Wegen, die Kostomarow5) gewiesen hat. Dieser

unterscheidet zwar zwei „Nationalitäten", braucht aber: „Stamm — Volk — russisch-slawische Nationalität — verschiedene Zweige des russi­

schen Volkes, des allgemein-russischen flämischen Stammes" unterschiedslos durcheinander und zeigt damit, daß das Problem nicht so einfach liegt. Zum anthropologischen maßt sich der Historiker kein Urteil an. Der anthropologische Unterschied zwischen Großrussen und Kleinrussen drängt sich ja dem Reisenden auf, wenn er den Menschentyp etwa im Gouverne­ ment Poltawa mit dem im Gouvernement Wladimir vergleicht, ebenso wie die psychischen Unterschiede8). Ob das zur Stabilierung eines eigenen

Begriffs: ukrainische Nation ausreicht, darauf gibt die Siedlungs­ geschichte vorläufig folgende Antwort. Hier kann die Frage unentschieden bleiben, wann die Individuali­ sierung nach Stämmen7) im Slawentum eintrat, wo seine Urheimat war, wie man sich zu der These stellt, daß die Besiedlung des mittleren Dneprbassins bereits eine erste Kolonisation des ostslawischen *) Z. B. S. 23. *) Es ist ein Beweis für ihre Stärke, daß die Bezeichnungen „ukrainskij narod“ und „ukrainskoe dvizSnie“ heute in Rußland gang und gäbe geworden sind. ’) I (deutsche Ausgabe), S. 4 und 309 ff. *) S. 175 ff. •) In „Dve russkija narodnosti“ (1861), Werke (Petersburg 1903) I, S. 31—65. •) S. meine Bemerkungen R 2 ©. 22 und Kostomarows zitierte Monographie. ’) russisch plemena — an die bekannte Stelle am Anfang des Nestor fei erinnert. Haller weiß von den ostslawischen Stämmen offenbar überhaupt nichts.

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HI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

Elements war. Zwischen 800 und 900 haben wir jedenfalls differen­ zierte Stämme vor uns1), und die Forscher brauchen, soweit ich sehe, auch heute noch übereinstimmend den Begriff: Ostslawentum — Schie­

mann sagt: russische Slawen — als ihre Zusammenfassung zu einer Einheit bereits für diese Zeit. In der warägischen Staatsbildung müssen

sie gegen die Westslawen bereits — sprachlich und sonst — abge­ sondert gewesen sein; die älteste Chronik, der sogenannte Nestor, be­ trachtet sie ja auch so. Vom Stamme der Poljanen von Kiew aus erfolgt die politische Zusammenfassung, vorläufig abgeschlossen durch Wladi­ mir I. (980—1015), ungefähr gleichzeitig mit der der Stämme2), aus denen das Polentum entstand, unter Meszko (992 f) und Boleslaw I.

(992—1025). Wie bekannt, lag der Schwerpunkt dieses Reiches am mittleren Dnäpr; seine Grenze lief, grob bezeichnet, von den Karpathen bis südlich Kiew, von Kiew nach Nordosten und, indem wir das Zwischen­ stück absichtlich unbestimmt lassen, von Nowgorod entlang der Grenze

des esthnisch-litauisch-lettischen, dann des westslawischen Gebietes. Das Gebiet des unteren Dnepr gehört noch nicht zu dieser ostflawischen Siedlung, die an den Flußläufen entlang ging und das Waldgebiet sicher noch wenig ergriffen hatte. Im Nordosten gehen einzelne Städte in diese erste Zeit zurück: Murom ist angeblich schon im 9. Jahrhundert gegründet,

Rostow (Jaroslavskij) vor den Ruriks, Susdal wird 1024 zuerst erwähnt. Bis zum Tode Jaroslaws 1.(1054) geht diese erste Periode: „ein großes,

slawisches Gemeinwesen — denn das normannische Element beginnt immer mehr zu schwinden — unter Fürsten ursprünglich nordischer Her­ kunft, die aber flämische Sprache und wohl auch Sitte angenommen haben, verbunden durch denselben Glauben, den sie mit gewissem Gegen­ satz den „rechten" nennen, tritt uns in sich geschlossen entgegen. So ist an die Stelle der durch kein anderes Band aE das der Sprache und eines

wenig ausgebildeten Kultus geeinigten Stämme flämischer Herkunft nunmehr ein Volk getreten, das russische, welches so weit entwickelt ist, daß es eine eigene nationale Politik hätte treiben können2)." Das

Gefühl der auf Sprache, Religion, Staat begründeten Einheit ist vor*) S. z. B. die Karte bei Schiemann a. a. O. I, S. 26 oder bei Hruschewski, Oöerk istorij ukrainskago naroda1 (Petersburg 1906), Anhang. *) Übrigens auch von einem Stamm der Polanen (Kujawier) aus. •) Schiemann a. a. O. I, S. 92.

IH. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

41

Handen: es bildet sich im 10. und 11. Jahrhundert und drückt sich im

11. und 12. Jahrhundert aus, politisch etwa in der Zusammenkunft von LjubeL 1097, die die Einheit der Zerrissenheit in Teilfürstentümer gegen» überstellt1), literarisch in der ältesten Chronik, die von der „russkaja zemlja“ spricht, im „Liede vom Zuge Igors", das in patriotischem Schmerz die Folgen des Verlustes der Einheit beklagt2),3 in der Russ­ kaja Pravda8). Es geht auch in der Zeit der Teilfürstentümer nicht verloren.

Schwerlich entsprach ihm, bei der Dünne der Be­

völkerung und den großen Raumverhältnissen, schon die volle Einheit des Volkstums; ich spreche daher4)5auch noch für das 12. Jahrhundert vorsichtig erst von dem „aus verschiedenen flawischen Stämmen des Dneprtales und seiner Nebenflüsse eben entstehenden

Volkstum". Aber in jedem Falle war eine ostslawische, russische Gemein­ samkeit da, von der aus sich die Weiterentwicklung vollzog.

Der Kiewer Staat konnte sich nicht halten: Teilung und Seniorat und die Angriffe der Steppenvölker — 11. Jahrhundert die Polowzer, die Petschenegen, dann die Tataren — machen seine Weiterexi­ stenz unmöglich: 1169 Eroberung Kiews durch Andrej Bogoljubskij von Susdal, 1240 Zerstörung Kiews durch die Tataren. Diese Entwicklung führte zur eigentlichen Kolonisation des nordöstlichen Waldgebietes und zur Entstehung des großrussischen Stammes. Im Nordosten gab es schon jene städtischen Mittelpunkte und Sitze rurikidischer jüngerer Teilfürsten­ tümer, aber die Verbindung war noch im 11. Jahrhundert schwer und direkt nicht vorhanden (wegen des Waldes) — daran erinnert noch die (Volkshelden)sage von Ilja von Murom6). Die Kolonisation des Nord­ ostens stellt sie her. Neue Städte entstehen: Perejaslavl-Zaleßkij •) 1152, Wladimir an der Kljasma angeblich schon 1116, von Andrej Bogoljubskij *) S. die charakteristischen Stellen Poln. Sobr. R. L. I (1846) S. 109, zu 1097

Anfang. 2) Besonders in den Zeilen 294—304 oder 581—586.

3) Vladimirskij-Budanow,

Obzor

istorij russkago prava (Petersburg

1909), S. 24. — S. die Einleitung der 2. Redaktion der „Russkaja Pravda“: „Recht verordnet für das russische Land, als sich vereinigten Jzjaslav usw."; Goetz, Das

russische Recht (Russkaja Pravda) (Stuttgart 1910) I, S. 13. 4) R S. 5. 5) S. die Stelle seiner Erzählung bei Kljuöevskij I, S. 355.

e) Hinter dem Walde gelegen. — Auch Susdal führt diesen Beinamen.

in. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

42

1157 zur Residenz erhoben, Twer 1181, Moskau wird 1147 zuerst er­ Andrej Bogoljubskij rühmt sich seiner städtegründenden Tätig­ keit; er sagt zu den Bojaren: „Ich habe die ganze „bölaja Ruä“ (Suzdal) mit Städten und großen Dörfern besiedelt und menschenreich ge­ wähnt.

macht 1)." Dies, die Wanderung der Städtenamen — es sei nur an Wladimir Volynskij und Wladimir an der Kljasma erinnert; ein Dorf Kiew gibt es noch heute im Moskauer Kreise, Perejaslawl kommt dreimal

vor2) — und der Volkssagen sind Symptome dieser Kolonisation, die

ihre Parallele mit der unseres Ostens geradezu aufdrängt. Sie beginnt, wenn man überhaupt solche feste Zahlen geben darf, in der Mitte des 12. Jahrhunderts und geht über die Gouvernements Kaluga und Orel in die Bassins der Oka und oberen Wolga bis zur Mitte des 14. Jahr­ hunderts und darüber hinaus3). Daneben steht die Nowgoroder Koloni­ sation von Mitte des 11. Jahrhunderts nach den Bassins der Onega und nördlichen Düna, Wytschegda, Petschora, Kama und Wjatka gleichfalls

bis weit ins 14. Jahrhundert.

Wie bekannt, stießen die Siedler auf finnische Völkerschaften: Besen, Meren, Muromen usw., und aus der Assimilation mit ihnen ist das Großrussentum entstanden. In den Sitzen des Südens, die unaus­ gesetzt von den Steppenvölkern weiter zu leiden hatten, trat eine gewisse Verödung ein, von der Plano Karpini 1245 spricht. Wir lassen dahin­ gestellt, ob sie so großwar, wie Kljuöevskij sie darstellt, nach dem eine er­

neute Wanderung aus Rotrußland wieder in die Lücken einströmt. Jeden­ falls ist int Süden auch eine gewisse Mischung seit Ende des 11. Jahr-

*) Kljuäevskij a. a. O. I, 357.

Drängt sich da nicht die Stelle Helmolds

(I, 57, SS. XXI, 55 f.) über den Grafen Adolf II. von Wagrien, den Zeitgenossen Andrejs, von selbst zum Vergleich aus? — S. auch die Bemerkungen über die gegebenen

Richtungen und die Leitung dieser Kolonisation bei Solowjew, I, 709, 1216,1335 ss.

’) Erinnerung an die Wanderung der Städtenamcn in den Ber. Staaten! •) Der Prozeß hat in dieser Nordostrichtung heute noch nicht seinen Abschluß gefunden.

S. den sehr interessanten „Bericht über eine Sprachforschungsreise in

Rußland" von R. Pelissier, Ztschr. f. osteurop. Geschichte IV, S. 187 ff. Die Beobachtung in der Gegenwart bietet daher erwünschte Ergänzung für die Erforschung der Vergangenheit (für die z. B. die Heiligenleben eine wichtige Quelle sind. BestuLev-Rjumin, Quellen und Literatur zur russ. Geschichte. Übers, von Schie­

mann.

Mitau 1876, S. 24).

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

43

Hunderts eingetreten: mit den turkotatarischen ElementenT). Auch Rudnickyj 2) sagt nur, daß der ukrainische Typus „keine merklichen

Spuren einer mongolischen Beimischung zeige". Hruschewski bestreitet3) die Einfuhr solchen Blutes und erklärt4) die Assimilierung der soge­ nannten „Schwarzkappen" (cernye klobuki), der türkischen Kolonien in

der Ukraine im 11. und 12. Jahrhundert für nicht wahrscheinlich; er

meint, daß diese vielmehr in der tatarischen Horde aufgegangen seien.

Im einzelnen stellt dieser Kolonisationsprozeß3), dessen zusammen­ hängende Darstellung den Russen ebenso fehlt6) wie uns eine Geschichte der Kolonisation des deutschen Ostens, noch viele Probleme. Die Grundzüge werden heute übereinstimmend so dargestellt, wie es hier geschah. Wer Hruschewski und Kljuöevskij nebeneinanderlegt, dem drängen sich die gleichen Züge eines aus gemeinsamer Wurzel hervorgehenden Prozesses auf. Ersterer braucht zwar für den Süden konsequent den Begriff „ukrainisch", schlägt sich aber, wenn er die Schei­

dung zwischen „Russen" und „Ukrainern" schon in prähistorischer Zeit sucht, mit den Bemerkungen7) über das „gemeinsame Urterritorium", über die Stämme, das „mehr oder weniger selbständige" selbst. Auch Bagalöj8), eine zweite historische Autorität der Kleinrussen, der z. B. deren Interessen in der Cholmfrage **) gegen die Polen entschieden ver-

*) Bon dem „germanischen Blut, das in der Ukraine von der Warjagerzeit her steckt", wie Rohrbach, Der Kampf um Livland (München 1917) S. 14, sagt, kann

natürlich im Emst keine Rede sein. •) S. 183. ') Oierk S. 31. *) Istorija Ukralni-Rusi II (1905), S. 547 ff., 584.

•) S. darüber auch Kljuöevskij, Bojarskaja duma drevnej Rusi* (Moskau 1909), S. 82 ff., 535; Platonov,l>ekcij po russk. istorij (Petersburg 1904), S. 87; Eine gute, knappe Übersicht steht im Band Rossija, Encikloped. Slovaf von BrockHaus-Efron Bd. 54, S. 137 s. und 451 f., wo auch der mit der Kolonisation entstandene Unterschied zwischen Groß- und Kleinrussen sehr objektiv und wohlabgewogen be­

zeichnet wird. •) Die russische Universitätsvorlesung behandelt ihn, wie ich z. B. von Ljubavskij

in Moskau weiß, sehr eingehend. ') z. B. Oierk S. 15, 22, 23. •) Früher Professor in Charkow und Reichsratsmitglied. 1) R S. 485.

44

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

focht, sprichtT) von „den Nestern der russischen Slawen" geht also auch

von der Einheit des Volkstums aus. Die Frage, wie die finnische Blutzufuhr, die sowohl im physischen Typus wie volkspsychologisch zu erkennen ist, den ostslawischen Charakter verändert habe, ist in der russischen Forschung sehr beliebt2). Exakt ist die Frage heute noch nicht zu beantworten. Aber alle Beobachtun­ gen zusammengenommen erlauben heute dem Forscher nicht, von zwei

Nationen: „Ukrainern" und „Großrussen", zu reden. Haxthausen3) hat noch heute recht, daß „die finnische Nationalität in der der Russen auf­ gegangen ist", nicht umgekehrt, daß also die russische die stärkere war. Kostomarow4)* sagt in diesem Zusammenhang: „Wie wir sehen, hat das slawische Element die volle Herrschaft über das fremde erlangt." Selbst Hruschewski6) spricht von den „rostow-susdalschen Fürsten, die in ihrer Politik das erste historische Beispiel des Wettbewerbs der jüngeren großrussischen Nationalität, die sie repräsentieren, mit ihrer älteren südlichen Schwester geben" (im 12. Jahrhundert). Und Axel Schmidt stellt als Elemente der „russischen ethnologischen Kultur" fest „zu fast gleichen Teilen: die urslawischen Grundlagen — altukrainische

Einflüsse — urfinnisches Kulturgut — mongolisch-tatarischen Kultur­

einschlag", konzediert also die Hälfte der ethnologischen Elemente als den Großrussen und Kleinrussen gemeinsam"). Die Führer der Ukrainer standen dem Zarismus feindlich gegenüber und betonen die Selb­ ständigkeit ihres Volkstypus und den Willen zur eigenen Nationalität. Daneben stehen aber die Ergebnisse der Siedlungsgeschichte, die sich

unter dem gemeinsamen Netz der Teilfürstentümer und mit dem gemein­ samen Bande der Sprache und Religion vollzog, dahingehend, daß Groß­ russen, Kleinrussen, Weißrussen') — ganz vorsichtig ausgedrückt — sied­

lungsgeschichtlich, ethnologisch als Glieder einer, der russischen oder ost2) Russkaja Istorija, I (Moskau 1914), S. 133. 8) S. u a. auch die vorsichtigen Ausführungen bei Vladimirskij-Budanov

S. 114. - R2 S. 21. a) Studien usw. II, 206.

S. auch Karamsin I, S. 27.

4) a. a. O. S. 48. *) Ist. Ukralni-Rusi II, 223.

6) Westrußland, her. von Gering, S. 135.

7) Aus den Stämmen (Kriwitschen, Drehowitschen) im Quellgebiet von Düna,

Dnjepr, Njemen erwachsen; sie haben, verkümmerte Slawen der Urheimat, sich den slawischen Charakter ziemlich rein erhalten.

in. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

45

slawischen Welt, bei erheblicher Differenzierung durch Mischung mit fremdem Blut *), erscheinen, „Zweige eines Volkes geblieben" sind*2). Mit noch größerem Nachdruck als die ethnologische wird die lin­ guistische Selbständigkeit des ukrainischen Volkes betont. Auch hier maßt sich der Historiker kein Urteil an; einen Standpunkt muß er aber gewinnen. Fast leidenschaftlich tritt auch hier Rudnickyj für die selb­ ständige ukrainische Sprache ein3). Bei ihm sind die Übertreibungen

auch für den Nichtphilologen — Rudnickyj ist Geograph — mit Händen zu greifen, z. B. wenn er behauptet4),* „die junge ukrainische Wissenschaft verfüge über eine Terminologie, welche z. B. die russische weit hinter sich läßt"6)* oder 8 wenn er von der „schier tausendjährigen Entwicklung der ukrainischen Literatur" spricht6), wofür er als Beispiele den Nestor, die galizisch-wolhynische Chronik, das Jgorepos, anführt — Literaturdenkmäler, die Gemeingut des Nordens und Südens sind2). Viel vorsichtiger spricht Hruschewski3): die ukrainischen Mundarten ein gewisses sprachliches Ganze — zwar sich in den Grenzgebieten x) Die Frage, ob sich dadurch der den Weiß-und Kleinrussen fehlende staaten­ bildende Sinn^ der Großrussen erklärt, darf wenigstens aufgeworfen werden.

*) S. die sehr ruhigen Bemerkungen bei Nie der le, ObozrSnie sovremennago slavjanstva (Enzykl. der slaw. Philologie, her. v. Jagiö. Lief. 2, Petersburg 1909), S. 10 ff., 35 f. — Auf Pypins Istorija russkoj etnografii muß auch hingewiesen werden; Bd. III gibt die Übersicht über die kleinrussische Ethnographie. — Gegen Hallers ukrainische Slawen sei auch Penck, Die natürlichen Grenzen usw. angeführt, der S. 25 sagt: „Der heutige russische Staat umfaßt beinahe das gesamte Gebiet der

drei russischen Stämme," und S. 31: „Kein Zweifel, daß sich die drei russischen Stämme von einer gemeinsamen Wurzel herleiten.... Sprachlich ist die Verschiedenheit zwischen

Groß-, Klein- und Weißrussen nicht groß." ’) S. 185 ff.

4) S. 191. s) Dazu s. Jagi LS Urteil über die Neologismen im Kleinrussischen in: Die ost­

europäischen Literaturen und die slawischen Sprachen (Berlin 1908) S. 18. •) S. 192. *) Schachmatow, der Hauptbearbeiter des unten erwähnten Gutachtens, sagt (Rossija a. a. O. Bd.55, S.565): „Man kann nicht von Weiß-, Klein-, Großrussen im

10. oder 11. Jahrhundert sprechen. Aber dabei ist es schwer, daran zu zweifeln, daß man

unter den altrussischen Stämmen, von denen die Chroniken erzählen, nicht mehr oder weniger umfangreiche Gruppen unterscheiden muß, die nach ihrer geographischen

Nachbarschaft, Sprache und Gewohnheiten sich vereinigt haben." 8) I (deutsche Ausgabe) S. öf.

46

HL Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew «nd Moskau. I.

bett benachbarten slawischen Sprachen annähernd —, sich aber durch phonetische, morphologische und syntaktische Eigentümlich­ keiten unterscheidend. Die wichtigste wissenschaftliche Auwrität der Ukrainer läßt also die Frage, ob Sprache oder Dialekt, unentschieden. Die flämische Philologie tut das gleiche. Den von Rudnickyjx) aufge­

zählten Autoritäten stehen andere, wie Brückner*2) oder Vondrak3), entgegen, die dem Ukrainischen nicht die Selbständigkeit einer Sprache zuerkennen; auch das Urteil vonJagiö4) ist zurückhaltend und schwebend.

Ein Gutachten der Petersburger Akademie wird oft angeführt. Auch Haller (S. 14) zitiert es, aber fälschlich als aus dem Jahre 1906 stam­ mend. Es war5)*vom * Ministerkomitee durch das Ministerium der Volks­

aufklärung erfordert und ist vom 20. Februar/5. März 1905 datiert. Es ist von 7 Akademikern, darunter Schachmatow, Oldenburg, LappoDanilewski u. a., verfaßt und führt den Titel: „Über die Aufhebung der Beschränkung des gedruckten kleinrussischen Idioms" (ob otmßnß stesnenija malorusskago pecatnago slova). Als Manuskript ist es 1905 „auf Verfügung der Akademie", dann 1906 in Lemberg gedruckt und angeblich 1910 in Petersburg herausgegeben worden. In den Schriften der Akademie ist es indes nicht erschienen. Von chauvinistisch-großrussischer Seite — das Gutachten hat im Prozeß Bendasjuk in Lemberg eine Rolle gespielt — wurde es als Parteischrift hingestellt ’). Es gibt eine sprachgeschichtliche Übersicht und stellt das

Recht und die Selbständigkeit des ukrainischen Idioms fest und ’)

das „Recht der ukrainischen Bevölkerung, in ihrer heimischen Sprache öffentlich zu reden8) und zu drucken". -) S. 186. a) Die Slawen und der Weltkrieg (Tübingen 1916), S. 98f. 3) Vergleichende slawische Grammatik I (1906), S. 7.

4) a. a. O. ®) Hruschewski, Oöerk S. 502 f. — Auszüge daraus ebenda S. 477, 480, 482 f. und Ukrainische Rundschau VI (1908) im Artikel von Kuschnir, „Abg. Markow

und die Petersburger Akademie der Wissenschaften über die ukrainische Frage". Eine vollständige deutsche Übersetzung findet sich in der Ruthenischen Revue III, 1905. •) Nowoje Wremja 9./22. III. 1914.

’) Hruschewski S. 503. ®) Deshalb kann ich sehr wohl vom „vollständigen Verbot des Gebrauches des Ukrainischen" reden, was Haller (S.16) als Unsinn bezeichnet. — Auch das Akademie­ gutachten (a. a. O. S. 506) drückt sich ähnlich aus.

UI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

47

Die Frage bleibt also auch in bezug auf die Sprache wissenschaftlich unentschieden. Aus persönlicher Erfahrung kann ich nur sagen, daß das

Kleinrussische dem Ausländer, wenn er sich an die dumpfe Aussprache -es o, an das polnische Sprachgut und die phonetische Orthographie

-es Kleinrussischen, die den Unterschied beider Idiome als unberechtigt groß erscheinen läßt, gewöhnt hat, doch wie ein russischer Dialekt vor­

kommt.

Auch das Erlernen des Kleinrussischen hat mir dies Urteil nicht

verschoben; wer Polnisch und Russisch kann, möge die Probe machen, ob er das Kleinrussische als selbständige Sprache zwischen beiden oder nicht vielmehr als an die Seite des Russischen gehörend empfindet. Und dieses empirische Urteil wird durch die Tatsache bestätigt, daß sich Groß-

und Kleinrussen leichter verständigen können als Polen und Russen: „die Vorstellung von der Schwierigkeit, auf die der russische Leser beim Lesen von Büchern in ukrainischer Sprache stoße, ist gewaltig über­

trieben" !). Von dieser Lage mußte mein Buch dem Leser eine Vor­ stellung geben, die zu dem Schluß kommt, daß2) „weder die Ethno­ graphie noch die Linguistik erlaube, die „Ukrainer" als eine eigene Nation -en Polen und „Moskowitern" gegenüberzustellen". An die Frage nach Volkstum und Sprache schließt sich die nach dem Staate, seiner Geschichte, seiner Tradition, die unlöslich mit der andem

verbunden ist: ist Moskau die Fortsetzung von Kiew Haller sagt (S. 16 f.):

oder nicht?

„Die offizielle russische Legende, in den Schulen gelehrt, vom Durchschnitts, gebildeten geglaubt, läßt den russischen Staat in Kiew im 9. Jahrhundert gegründet werden und später nach Moskau übersiedeln. Sie geht also von der Voraussetzung aus,

daß die Ukrainer von Kiew und die Russen von Moskau im Grunde dasselbe seien. Das sind sie aber, für wie nah oder fern man ihre Verwandtschaft halten mag, unter keinen Umständen. Es handelt sich um zwei verschiedene Staatswesen, und Moskau

ist nicht die Fortsetzung von Kiew, sondern etwas Neues."

Er bekämpft daher auch den Vergleich zwischen Moskau und Preußen, durch den ich2) diesen Werdegang anschaulich zu machen suche, als „durchaus schief" und sagt: *) Prösnjakov in der Besprechung von Hruschewskis Kiewskaja Rus’ Sb.I,

in: Nachrichten der Abteilung der russischen Sprache und Literatur der Petersburger

Akademie der Wissenschaften XVII, 1 (1912), S. 1. ') R2 S. 23. ') B S. 21.

HI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

48

„Moskau aber war und ist in allen Dingen nicht dasselbe, was Kiew war, eher

sogar das Gegenteil, und seine Herrschaft über das frühere Mutterland ist darum nicht eine Aufrichtung des zerfallenen Nationalstaates, sondern eine neue, gewaltsam aufgezwungene Fremdherrschaft. Aus der Erhebung Preußens zum führenden deut­

schen Staate konnte darum der deutsche Nationalstaat hervorgehen; dagegen aus der Erhebung Moskaus zum Herrn über die westlichen Nachbarvölker, was entstand daraus?"

Er antwortet: ein Eroberungs staat. Mit „den westlichen Nachbarvölkern", wobei an Litauen, Polen, Ostseeprovinzen gedacht ist, verschiebt Haller das Thema probandi. Es

handelt sich nur um die Frage, ob Moskau in der Weise Fortsetzung von Kiew ist, wie Preußen Fortsetzung des „auf mutterländischem Boden zerfallenden Staates".

Daß Preußen die andern deutschen Staaten

nicht unterworfen habe, wie Moskau die Weißrussen und Ukrainer **), schließt die Anwendbarkeit des Vergleiches nicht aus. Wohl aber wäre das der Fall, wenn Haller recht hat, daß Preußen „selbst von jeher ein

ebensolcher deutscher Staat wie Bayern oder Württemberg ist, wenn auch mit nicht rein deutscher Bevölkerung(I). Denn seine Ge­ sellschaftsordnung, seine Staatsverfassung, sein Recht, seine Bildung sind von Anfang an deutsch", auf Moskau aber diese Gemeinsamkeiten nicht zuträfen, über die vier letzten Punkte ist in einem besonderen Kapitel zu sprechen.

In bezug auf das Volkstum gibt Haller mit den soeben

zitierten und vor mir gesperrten Worten bereits mir recht, der Vergleich zwischen Moskau und Preußen kann also nicht „durchaus schief" sein.

Und er sagt weiter S. 17: „Moskau ist nicht die Fortsetzung von Kiew, sondern etwas Neues. Es ist eine Kolonie der Ukraine, die sich zunächst unabhängig macht, dann die Herrschaft an sich reißt. Schon seit frühester Zeit wandern ukrainische *) Slawen in das heutige, damals von finnischen Völkern bewohnte Mittelrußland aus. Die Ansiedler bilden durch Ver­

mischung mit den Voreinwohnern den sogenannten „großrussischen" Stamm und

werden von Kiew und Nowgorod aus unterworfen."

Wir stellen zunächst fest: auch Haller erklärt die Entstehung des

großrussischen Volkstums durch Vermischung von Slawen und Finnen2), die sich bei der Auswanderung der elfteren nach dem heutigen Zentrum vollzieht. Was im Süden zurückblieb wurde, wie gesagt, das heute *) Haller S. 20. *) Wie sich damit die Ansicht vom „tatarischen" Moskau verträgt, darüber

später.

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

49

kleinrussisch genannte Element des russischen Volkstums. Nun sollen „die Kolonialstaaten, die im 14. Jahrhundert zum Großfürstentum Moskau zusammenwachsen, mit dem Stammlande, der Ukraine, bis nach der Mitte des 17. Jahrhunderts nichts weiter als die Kirche und

ihre Hierarchie gemein haben1)".

Abgesehen davon, daß die Gemein­

samkeit der Kirche schon recht viel bedeutet — sie ist hier, genau wie in Polen, während der Teilfürstentümerzeit das zusammenhaltende Band

gewesen —, braucht denn hier Haller nicht genau dieselben Begriffe wie ich, nämlich Stammland und Kolonialstaat? Ich denke, nach ihm ist Moskau2) „in allen diesen Dingen — auch der Bevölkerung — nicht dasselbe, was Kiew war, eher sogar das Gegenteil?" Bitte nicht, wie er tut, nach Belieben Volkstum und Staat durcheinanderwerfen. Die „Kolonialstaaten, die zu Moskau zusammenwachsen", haben also auch nach Hallers Ausdruck mit dem Stammlande zunächst die Grundlage des ostflawischen Volkstums gemein und sind zunächst in dieser Be­ ziehung eine Fortsetzung von Kiew. Haller hätte hier zuerst zu beweisen,

daß die Vermischung mit finnischen Elementen das ostflawische Volks­ tum so grundlegend verändert hat, daß es besser finnisch als flämisch oder russisch genannt würde. Ich finde von dieser Frage, auf die zuerst alles ankommt, bei ihm kein Wort; meine Stellungnahme ist oben be­ zeichnet 3).

Gegen meinen Satz4): „Ein ostslawisches Volkstum war in der Bil­ dung begriffen, als die Fortexistenz des Kiewer Staates aus inneren und äußeren Gründen unmöglich wurde, und flutete nach dem Norden ab." sagt Haller: „Lassen wir die unverständliche Umschreibung „unmöglich gewordene Fort­ existenz" für ^Zerstörung" aus sich beruhen, so ist doch das Übrige einfach falsch. Einmal der Zeitansatz: die Besiedlung der Waldregion hatte längst stattgefunden, ganze Fürsten­

tümer waren dort entstanden, als die Ukraine von den Mongolen vernichtet wurde.

Natürlich wa: es auch nicht das „eben entstehende Voltztum", das von diesem Schlage

x) S. 17. -) S. w.

•) Ich verweise Haller noch aus Schiemanns wohlabgewogenen Satz (Deutsch­ land und die große Politik anno 1914, S. 294): „Das Fürstengeschlecht errichtete auf

ursprünglich finnischem Boden, den Einwanderer aus dem slawischen Süden und Westen kolonisiert haben, jenes Großsürstentum Moskau." 4) K £ 5.

Hoetzsch,Russische Probleme.

4

50

HI. Die Grundlagen der ukrainische» Frage; Kiew und Moskau. I.

betroffen wurde, denn das ukrainische Reich bestand schon seit rund 2% Jahrhunderten, als die Mongolen darüber herfielen; sein „Volkstum" hatte also reichlich Zeit gehabt, zu entstehenl)."

Syenit man, wie hier Haller, für einen ihm unverständlichen Ausdruck einen andern, keineswegs synonymen setzt, so ist es nicht schwer,

„nicht mehr und nicht weniger als alles an dieser Darstellung falsch" zu erklären (S. 18). Das Fazit des oben Gesagten muß hier nochmals erwähnt werden, um zu zeigen, wie Haller polemisiert. Erobert wurde Kiew 1169 durch Andrej Bogoljubskij, seitdem war seine alte Bedeutung

dahin, von den Mongolen zerstört wurde es 1240. („Vernichtet", wie Haller sagt, konnte die Ukraine von den Mongolen nicht gut werden2), weil dieser Name nicht einen Staat, sondern einen unbestimmten geo­ graphischen Begriff bezeichnet.) Aber auch das Großfürstentum Kiew ist nicht erst von den Mongolen vernichtet worden. Der Niedergang des Großfürstentums Kiew beginnt bereits unter den Söhnen Jaroslaws des Großen, der 1054 starb. Die inneren Gründe, die die Fortexistenz

Kiews seitdem unmöglich machten, sind, wie erwähnt, die Teilungen und das Seniorat, die Kiew ruinierten, die äußeren die Anstürme jener asiatischen Völker, gegen die die Steppe keinen natürlichen Schutz bot, wie das Waldgebiet. In dieses flutet daher das „aus verschiedenen Stämmen des Dnöprtales und seiner Nebenflüsse eben entstehende Volkstum ab". Und diese eigentliche Kolonisation beginnt, wie erwähnt, Mitte des 12. Jahrhunderts. Weil Haller diese Zusammenhänge Nicht kennt2), ist vielmehr der „Zeitansatz" seiner Polemik „einfach falsch"^). Und der Kiewer Staat konnte sehr wohl bestehen, ohne daß der Prozeß der Verschmelzung der Stämme des Dnöprtales und seiner Nebenflüsse

schon fertig war.

Haller fährt dann6) fort:

') S. 17 f. — „Volkstum" setzt Haller selbst zweimal in Striche, ein Zeichen, wie unklar ihm die Begriffe sind, die hier auseinanderzuhalten sind. *) Auf derselben S. 17 oben braucht Haller auch den korrekten Ausdruck: Staat Don Kiew. ’) Obwohl er sie schon bei Brückner, Geschichte Rußlands (Gotha 1896), welches Werk Haller nach S. 28 bekannt ist, S. 475 angedeutet gefunden hätte. *) Gegen ihn sei noch Kostomarow angeführt a.a.O. S.47: „Im ^.Jahr­ hundert zeigt sie (die nordrussische slawisch-russische Nationalität) ihre Existenz durch einige hervorstechende Züge." Und S. 50: „Im 12. Jahrhundert, in der Zeit der Kindheit Großrußlands." Die Moskauer Zeit bezeichnet K. dann als die „Jugend". •) S. 18.

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew «nd Moskau. I.

51

„Bon einem „Abfluten" nach dem Nordosten dürste man auch nur reden, wenn eine allgemeine Auswandemng stattgefunden hätte, wovon man bis jetzt nichts gewußt hat. Und endlich liegt in dem Ausdmck „Verschiebung" genau das, was nicht der Fall war: die Vorstellung der offiziellen Legende, daß der Kiewer Staat seine Fortsetzung in Moskau gesunden habe. Es ist also nicht mehr und nicht weniger als alles an dieser Darstellung falsch."

Die Sicherheit der Behauptung macht nicht allein die Polemik;

sie muß auch richtig sein. Ich verweise Haller zunächst in betreff des „Abflutens nach dem Nordosten" — was ja längst nicht eine allgemeine Auswanderung zu sein braucht — auf die oben gegebenen Zitate über

die Kolonisation des Nordostens. Er weiß ja auch nicht, daß Kljuöevskij, den manche den russischen Ranke genannt haben, mit seiner Ansicht von der „Verödung" Kiews allerdings an eine allgemeine Auswandemng denken läßt. Und was wird „verschoben"? Daß sich das selbständige nationale, kulturelle, politische Leben der Oststawen vom Dnöpr nach der Waldregion verschob, wird auch Haller nicht bestreiten; das sage ich S. 5. Und was blieb amDnöpr zurück? Doch nicht derKiewer(Staat, sondern ein Haufen von Trümmem, die ein Spielball der litauischen, polnischen, moskauischen Kämpfe wurden. Hat der Kiewer Staat über­ haupt eine Fortsetzung gefunden, so hat er sie nur in Moskau gehabt. Wenn ich mit dem Ausdruck „Verschiebung" „die offizielle Legende, daß der Kiewer Staat seine Fortsetzung in Moskau gefunden habe" — etwas, was ich S. 5 noch gar nicht sage, auch nicht „im Ausdmck liegen lasse" —, meinen soll, so meint Haller offenbar, daß der Moskauer Staat absolut aus wilder Wurzel entstanden sei. Dabei entgeht ihm, daß er mit seinen eigenen Ausdrücken: Stammlandx) und Kolonialstaaten selber schon noch eine wichtige Gmndlage mir als gemeinsam zu­ gesteht 2): nämlich die der Nationalität — freilich paßt das zu seiner Auf­ fassung vom selbständigen ukrainischen Volke nicht. Aber an meiner Darstellung ist „nicht mehr und nicht weniger als alles falsch". Weiter ist zum Punkt Kiew-Moskau im nächsten Kapitel zu handeln. Bevor die ukrainische Frage zu Ende geführt wird, ist noch zu Hallers Seite 18 f., 21 und 23 Stellung zu nehmen.

Die beiden ersten be-

*) „Früheres Mutterland" sagt er S. 20. *) Die zweite: die Kirche nennt er selbst, die dritte, die Dynastie der RurikS hat er S. 17 vergessen.

62

HI. Di« Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

schuftigen sich mit meinen Sätzen RS. 4 unten. Haller vermißt darin die

Erwähnung der Waräger, die ich mit einem Nebensatz in der 2. Auf­ lage x) gegeben habe: „der von den germanischen Warägern geschaffene" Kiewer Staat. Wenn ich so meine Stellung zu dem Problem bezeichne, so lege ich der Frage der Waräger gleichwohl — daher die Weglassung in der 1. Auflage — nicht die große Bedeutung bei, wie Haller mit seinem hier gar nicht mitsprechenden nationalen Gesichtspunkt: „ein deutscher Historiker hätte es erst recht nicht mit Schweigen übergehen dürfen".

Denn mit dem Hinweis hat die sogenannte antinormannische Theorie*2) zweifellos recht, daß diese germanischen Eroberer schnell slawisiert worden sind. Auch nur an eine „Überschüttung", wie die der Bewohner der nordöstlichen Balkanhalbinsel durch die turanischen Bulgaren und an ähnlicheFolgen, ist nicht entfernt zu denken. Man wirft der anti­ normannischen Theorie oft mit Recht nationalistische Befangenheit vor; desselben Fehlers macht sich Haller mit seiner Vorhaltung an mich

schuldig. Er will weiter meinen Satz, daß „mit dem Worte Ruä, der. Staatsbildung Wladimirs, die politische Idee des ostslawischen Volks­ tums bezeichnet war", nicht verstehen: „ein Satz, dessen tiefen Sinn zu verstehen nicht jedem gegeben ist"3).4 * Die Anleitung dazu findet er

zunächst bei Nestor: „und von diesen Warägern wurde das russische Land

benannt"*). Die Bezeichnung Ruä, über die mich Haller belehrt6), geht über auf die Gesamtheit der ostflawischen Stämme, die von den Warägern zusammengefaßt wurden, und auf das Land3)—im Vertrag Olegs mit *) S. 24. *) Auf die neue Arbeit von Hanisch: „Eine neue Hypothese über die Herkunft der Chronikerzählung vom Anfänge Rußlands", Archiv für slawische Philologie 1916,

S. 524 ff., sei hingewiesen. ') S. 19.

4) Zu 862, Handausgabe von Glazunov lPetersburg 1903), S. 8. •) a. a. O.

•) Solowjew I, 10: „Von Mitte des 10-Jahrh. bis zu den vierziger Jahren des 13. existiert kein entschiedenes Übergewicht weder auf Seite der Nomaden, noch

der slawischen Stämme, die unter dem Namen RuS vereinigt waren."

Und Kostomarow, Naialo edinoderiavija v drevnej Rusi (Werke, Petersburg 1905, V, S. 7): „In bekannteren Zeiten treffen wir das Wort RoL als lokales Zubehör des Landes der Poljanen. Aber das Wort hatte damals auch eine weitere Bedeutung,

in. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

53

Byzanzx) ist Rus die Gesamtheit der von Oleg unterworfenen Terri­ Im Vertrag Igors von 9452) erscheint synonym damit „russkaja zemlja“; beide Begriffe haben auch diese geographische Bedeutung, die im 11. und 12. Jahrhundert als politischer Begriff feststeht: das den

torien.

russischen Fürsten unterstehende Gebiet ostslawischer Bevölkerung2).

Beziehung eines bestimmten Volkstums auf eine bestimmte, von ihm okkupierte Fläche und seine politische Organisierung, gleichgültig, ob das schon zu politischem Bewußtsein gekommen war — so ist Rus politische Idee des oststawischen Volkstums. Vom DnSprtal wird sie nach Moskau übertragen; schon im 14. Jahrhundert, seit JwanKalita, nennen sich die Moskauer Großfürsten, obwohl ihr Herrschaftsgebiet sich noch nicht auf

das ganze alte Gebiet erstreckte, Großfürsten „vseja Rusi“, ebenso später die Zaren und die Metropoliten. „Vsja Ruä“ wurde von den Moskauer Großfürsten so wieder „gesammelt"; von „svataja RuS“ und „matuSka RuS“ spricht man heute noch in dem Sinne, wie er zur Zeit Wladimirs I. schon feststand4). Und den Inhalt dieser Idee, deren „tiefen Sinn" Haller nicht versteht, bezeichne ich ihm mit einer sehr prägnanten Formulierung Schiemanns2): „Der Kampf um jene

Stromgebiete bildet den Inhalt der russischen Geschichte in ihrem äußeren Gang, die Einigung der slawischen Stämme des Landes zu einem Ganzen und die Slawisierung der eroberten Landstriche zeichnet den Weg ihrer inneren Entwicklung." Dazu noch eine etwas altmodisch,

etwa an Herder anklingende Formel: „Die wandelbare Natm der

indem es überhaupt alle slawischen Stämme des jetzigen russischen Landeumfaßte." S. auch Solowjew l, S. 93. *) Christomatija po ist. russk. prava. Her. von Vladimirskij-Budanov (Peters­ burg 1887), I, S. 1. ’) ebenda S. 11. *) Adam von Bremen sagt (II, 19): „ascendes ad Ostrogard Ruzziae, cuius metropolis civitas est Chive“. — S. auch Dorn, Caspia (Petersburg 1875), S. 394 f. die genealogische Tabelle des Namens RuS: „Geschlecht Ruriks, dann Land. In Moskau schuf man sich dann mit lateinisch-griechischer Endung: Rusija (zuerst 14. Jahrhundert), an dessen Stelle unter Mexej Michajlowitsch die rein griechische Form „Rossija“ mit ausländischer Endung und Betonung rückt." 4) Wieder ein zufälliger Beleg: Moskowskija Vödomosti 15./28. VI. 1917: „Unter dem Banner der Moskauer Fürsten wurde gesammelt vsja RuS." ') o. a. D. 1, 25.

54

HI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

, die barbarischen Gelüste der wüsten Haufen und ihrer wilden Gebiete konnten nur durch einen mächtigen zivilisierten Staat, der aus dem Innern des Erdteils herabdringt nach Süden, über­ wunden .... werden Rußland steht jetzt als Grenzwächter und Vermittler zwischen Asien und Europa da. Die Slawen haben durch Steppen

ihre Weltstellung einerseits die Bestimmung, den Westen vor jeder neuen Überschwemmung der östlichen Barbaren zu schützen, und ander­ seits die östlichen Horden selbst zur Menschlichkeit und Sittlichkeit, zur Wissenschaft und Geistesbildung emporzubilden *)." Wem das Schicksal

im Weltkriege die Aufgabe gestellt hat, Hiswriker und Politiker zugleich zu sein, der muß nach beidem streben: der Geistesfreiheit, so im Herderschen und Rankeschen Sinne die russische Entwicklung zu betrachten, und der politischen Klarheit und Energie, an seinem Teile den deutschen Kampf gegen russische Eroberungssucht unbeirrt mitzuführen.

Ruä ist also der Ausdruck für die politische Organisation des Ost­ slawentums, zuerst in einer extensiven Staatenbildung, und bleibt auch nach deren Zerfall als politische Idee einer solchen Organisation lebendig, bis sie in anderer Weise und Form wieder verwirklicht wird. Die Paral­ lelität zu der deutschen und polnischen Entwicklung habe ich früher2)

in Anwendung von Gedanken Hintzes und Ratzels auf die siawische Ge­ schichte hervorgehoben: Reich Karls des Großen (daß mit ihm eine ähnliche politische Idee gegeben war, wird Haller nicht bestreiten) — Reich Boleslaws I. Chrobry (992—1025 — sogenannte piastische Idee

der Zusammenfassung der Westsiawen zu einem christlichen KönigreichesReich Wladimirs I. (980—1015 — politische Idee Ru68)). Diese politi­

schen Ideen stehen für die drei Völker im 9., spätestens 10. Jahrhundert dauernd fest, wie der Kampf um sie in ihrer weiteren Geschichte zeigt. In diesem Kampfe, sage ich, ist das Oststawentum in der ungünstigsten Lage: am weitesten von Europa und seinem damaligen Kulturzentrum nach Osten gerückt und in seinem Mittelalter noch weiter nach Osten

geworfen.

Haller bestreitet das:

*) K. F. Neumann, „Die Völker des südlichen Rußlands in ihrer geschicht­

lichen Entwicklung".

Leipzig 1847.

S. 153.

*) Zeitschrift für osteuropäische Geschichte I, S. 365 f.

•) S. des. S. 366 meiner Arbeit.

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

55

„Ich weiß nicht, an welches „Kulturzentrum" von „Europa" Hoetzsch dabei gedacht hat. Im Abendlande gibt es im 9. und 10. Jahrhundert keinen einheitlichen Mittel»

punkt der Gesittung, da Rom diese Stellung, abgesehen von der Religion, verloren und Paris sie noch nicht erworben hat.

Dagegen hat der Osten ein Zentrum ersten

Ranges, das sogar damals und später an Bedeutung alles überragt, was der Westen

aufweisen kann: Konstantinopel. Dorthin aber war der Weg von Kiew näher als von

den meisten Ländern Westeuropas."

Abgesehen von der Religion — das ist doch die Hauptsache im Frühmittelalter, die allerdings Rom „zum Kulturzentrum" machte,

und der Ton des Satzes liegt auf Europa, auf der Verbindung mit

ihm, die das peripherische Byzanz nicht herstellte und die über dieses nicht hergestellt werden konnte. Denn was Haller über Byzanz sagt, erweckt eine falsche Vorstellung. Die Kiewer Fürsten haben allerdings den Weg dahin manches Mal eingeschlagen, und was die byzantinischen Kulturelemente für Kiew und Rußland bedeuten, braucht mir Haller nicht zu sagen, das geht aus meinen späteren Ausführungen zur Genüge hervor x). Aber wenn jene so rasch erstarrten, so war daran schuld, daß diese Verbindung nicht lange und nicht stark genug war, weil Kiew mit

den aus Asien einströmenden andersrassigen Stämmen zu kämpfen hatte — damit sind die Polowzer usw., wie Haller richtig annimmt, gemeint—und weil die aus Asien einströmenden andersrassigen Stämme später allerdings den Weg nach Byzanz usw. jahrhundertelang ver­ sperrten — damit sind die Turkotataren gemeint, weshalb ich mit Absicht den von Haller willkürlich gedeuteten allgemeinen Ausdruck nahm?). *) R2, S. 28, 38. •) Nebenbei sein Hinweis S. 20: „Schon standen sie (die Kiewer) südlich der

Donau, da trat ihnen nicht ein „von Osten, aus Asien, einströmendes andersrassiges", sondern ein anderes slawisches Volk entgegen und warf sie hinaus: die Bulgaren. Wohlbemerkt: wir sprechen vom 11. Jahrhundert, nicht vom Jahre 1916!" Das ist,

sowohl auf die Kriegszüge Swjatoslaws gegen die Bulgaren 967 und 969/71, wie den Wladimir Jaroslawitschs 1043 bezogen, total falsch. In beiden Fällen wurden die Russen von den Byzantinern geschlagen; die Bulgaren haben dabei keine Verdienste. Und sie waren damals gewiß nicht „ein anderes slawisches Volk", sondern das damalige

sogenannte erste bulgarische Reich ist noch ein Staat der über Slawen herrschenden turanischen Bulgaren,

also

doch

eines

die Sprache und Religion der Unterworfenen annahmen,

„von

Asien

eingeströmten,

andersrassigen

Volkstums".

Um der Pointe: „Wir sprechen vom 11. Jahrhundert, nicht vom Jahre 1916" willen,

die gar keinen Sinn hat, hat Haller einen Satz geschrieben, in dem fast jedes Wort falsch ist.

56

DI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

Diesen Ausführungen gehen, durch Absatz getrennt — was Hallers

Zitat anzugeben unterläßt — zuvor die Sätze über den Gegensatz der Deutschen, Polen und Russen im Verhältnis zur Ostseeküste. Seine Polemik macht sich Haller möglich, indem er die Jahrhundertangaben

des späteren Absatzes in den vorhergehenden, in dem sie weder stehen, noch in den sie gehören, hereinzieht. Wer beide Absätze unbefangen liest, kann sie gar nicht so mißverstehen; Hallers Hinweise auf mittlere

Elbe und Livland rennen offene Türen ein. Nach dem Gegensatz in Volkstum und Sprache ist der der Geschichte und des Staates zu erörtern. Nach Haller ist „Moskaus Herrschaft über dys.frühere. MutterlandL) nicht.eine Aufrichtung des zerfallenen Nationalstaates, sondem eine neue, gewaltsam aufgezwungene Fremd­ herrschaft" 2). Von diesem Satze aus wird gegen meine Charakteristik der Verbindung der Ukraine mit Moskau polemisiert3). In dieser These widerspricht sich „früheres Mutterland und Fremdherrschaft", andrer­ seits kann theoretisch die Aufrichtung eines zerfallenen Nationalstaates sehr wohl eine aufgezwungene Gewaltherrschaft eines Teiles über die andern sein. Wir erinnern nochmals daran: 1169 Erstürmung Kiews durch Andrej Bogoljubskij, 1240 seine Zerstörung durch die Tataren. Selbständige Nachfolger Kiews im Süden wurden im 12. Jahrhundert in der westlichen Ukraine die Fürstentümer Halitsch und Wladimir, unter den Romanowitschi, einer Linie des Rurikgeschlechts. Im Anfang der 1320er Jahre starben die letzten Vertreter dieser galizisch-wolhynischen Dynastie. Im Kampfe um diese Gebiete errang Polen Halitsch und Litauen Wladimir (Wolhynien); so einigten sich beide 1352. Kiew kam endgültig unter litauische Gewalt etwa 1360 unter Gedymins Sohn Olgerd. Von zwei Stellen wurde also der Prozeß des„Sammelns" der auseinanderfallenden west- und süd- (oder weiß- und kleinrussischen) Territorien rivalisierend begonnen, von Moskau und Polen-Litauen. Schon Boleslaw Chrobry hatte den polnischen Machtehrgeiz auf das soge­

nannte Rotrußland gelenkt, Kasimir der Große eroberte Halitsch und 1386 werden alle diese russischen Fürstentümer Teile des polnisch-litauischen Staates. Seit Beginn des 14. Jahrhunderts hatte die Expansion des litau*) Meder der Ausdruck! ») S. 20. ’) S. 22, 23.

III. Die Grundlagen der ukrainische« Frage; Kiew und Moskau. I.

57

ischen Zwischenstaates begonnen, der weite Teile des alten Kiewer Staates an sich zog, damit aber sein Volkstum unter den Kultureinfluß des höher­ stehenden Nachbarn stelltex). Bis zum Zusammenbruch des polnischen Staates stehen so West- und Südteile des Kiewer Reiches zweifellos

unter „gewaltsam aufgezwungener Fremdherrschaft". Das „Sammeln" der (alt-)russischen Gebiete wird weiter vom Norden begonnen. Hier

ist die Kontinuität der Dynastie mindestens vorhanden: die jüngere Linie der Monomachowitschi in Susdal und die Danilovitschi in Moskau setzen die Tradition der Ruriks fort. Zum Gebiete der Ruriks gehören ja,

seit sie überhaupt in Kiew herrschen, von vornherein weite Strecken des später so genannten groß- wie weißrussischen Gebietes. Die Konti­ nuität des Volkstums wird von Haller geleugnet, ist jedenfalls durch jene Assimilierung finnischer Bestandteile verändert. Aber sie ist zwischen Nord und Süd unflaglich stärker als der Volkszusammen­ hang des Südens mit Polen oder gar Litauen,

ebenso wie der Kulturzusammenhang der „Litowskaja Ro§“ mit Moskau stärker ist als der mit dem litauischen Staat. In der Rivalität beider Mächte, Moskaus und Litauen-Polens?), in der Ivan III. 1493 anfängt, den Titel „Car vseja Rusi“ in klar erkennbarer Bedeutung und Absicht zu brauchen, ist die Ukraine nur Spielball. Sie hat seit Mitte des 13. Jahrhunderts — mit jener vorübergehenden Ausnahme des WladimirHalitscher Staates — keine selbständige Geschichte mehr gehabt. Auch das Kosakentum schafft eine solche nicht, das, im 15. Jahr­ hundert 3) erstanden und in den Kämpfen mit den Tataren gestählt. x) S. Ljubavski, Oßerk litovsko-rnssk. gosudarstva (Moskau 1910), S. 1.

An die Bedeutung der Dienstfürsten für den Kampf zwischen Litauen und Moskau sei

auch erinnert. *) Bedeutung des Kampfes um Smolensk! •) Vom Ende des 15. Jahrhunderts — 1470, 1492, 1499 — sind die ersten Nach­ richten; Hruschewski, Oöerk S. 217. — Haller definiert den Hetman der Kosaken als

ukrainischen Hochmeister des Ritterordens, der zugleich Oberhaupt der

ukrainischen

Republik war. Die erste Hälfte (Hallers Quelle ist Donzow a. a. O. S. 12 und 13,

Anm.) ist richtig, wenn sie auch eine viel zu hohe Vorstellung vom Niveau des Kosaken-

tums erweckt. Gewiß gehört zum Untergrund des Kosakentums der Kampf gegen die „Ungläubigen" und der kirchliche Gegensatz gegen Polen (der die Kosaken zu Moskau

zog). Aber den religiösen Idealismus der Ritterorden in ihrer guten Zeit darf man in der Kosakenromantik nicht suchen. Die zweite Hälfte von Hallers Satz ist falsch:

68

DI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

1591 zum ersten Male gegen Polen die Waffen erhebt. Aufstände folgen

einander: der Aufstand Chmelnickyjs 1648, dessen Vertrag von Perejaslawl 1654mit Alexej Michajlowitsch von Moskau, weitere Selbständigkeits­ bestrebungen unter denHetmanenWychowski und Doroschenko, derFriede

von Andrussow 1667, in dem die Ukraine zwischen Moskau und Polen auf Zeit geteilt wurde, der von Moskau 1686, in dem die linksufrige Ukraine und Kiew auf immer an Moskau abgetreten wurden. 1685 erkannte auch der Metropolit von Kiew die Oberhoheit des Moskauer Patriarchen an, was der vonKonstantinopel 1687 bestätigte. Damit beginnt die Verbin­

dung des Nordens und Südens von neuem, durch die Moskau den ersten Schritt zum Großstaate tat und die 1793 (zweite Teilung Polens, durch die die Ukraine rechts des Dnjepr an Rußland kam) vollendet wurde. Für die Beurteilung der ukrainischen Frage und der historischen Argumente, die für sie verwendet werden, liefert die Geschichte also die Tatsachen, 1. daß seit dem 13., spätestens.14. Jahrhundert von einem selbständigen politischen Leben der Ukraine nicht zu reden ist, daß 2. die Ansprüche darauf dann nur von dem Kosakentum **) getragen wurden, daß diese 3. nicht durchgesetzt werden konnten, daß aber 4. die Selb­ ständigkeit des Südens groß genug war, um von Moskau auch nach der

Vereinigung zunächst noch anerkannt zu werden. Die Bedeutung der Tatsache, daß Moskau erst durch die Vereini­ gung (nicht Eroberung) mit der Ukraine zum Großstaat wurde, den tief wurzelnden Dualismus zwischen Norden und Süden, der durch diese Vereinigung keineswegs überwunden war, habe ich immer, und so auch in meinem Buche, besonders scharf betont. Der damit bezeichnete Widerspruch (etwa im Sinne Kostomarows gegen Karamsin) gegen die großrussische Geschichtsbetrachtung hätte also eigentlich Hallers Bei­

fall finden müssen. Aber seine Polemik wird so wenig von sach­ lichen Gesichtspunkten geleitet, daß er das Gemeinsame unserer Aufdie Ukraine war kein freier Staat, sondern das Kosakentum kämpfte im Aufstand

gegen Polen. — Eine Monographie über das Kosakentum in Geschichte und Gegen­ wart wäre sehr erwünscht. *) Es ist kein Zufall, wenn die späteren Bände des großen Hruschewskischen

Werkes — der letzte 8. Band reicht bisher bis 1648 und ist mir nur aus Referaten bekannt — trotz ihrer Vorzüge etwas versanden: die kosakisch-tatarisch-polnischen

Kämpfe haben zu wenig weltgeschichtlichen Hintergrund.

HI. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

69

fassung — im Entscheidenden ist sie gemeinsam, vor dem Kriege aber hat kaum jemand mit gleichem Nachdruck auf diesen Punkt hin­ gewiesen wie ich — zurückschiebt. Immer wieder betone ich, wie Moskau

zum Weltreich durch Angliederung und Unterwerfung anderer Volkstümer wurde, deren „politische Ideen es stark genug war, zu zerbrechen, ohne sie überall ertöten zu sönnen"1), und daß diese Tatsache mit dem

Eindringen liberaler Ideen eine ungeheure Bedeutung gewinnt.

Mr

um polemisieren zu können, klammert sich Haller an den Ausdruck „födera­ tiv", den ich zu kurzer Bezeichnung dieses Verhältnisses (nachKostomarow) brauche, und verwendet von den zwei Seiten dieser Kritik eine volle

Seite auf den Beweis, daß Moskau diese andern Reichsteile „nicht inner­

lich überwinden, sondern nur äußerlich beherrschen konnte" — was ich fast wörtlich genau so öfter sage. Dazu macht er sich wieder die Begriffe zurecht: ich spreche vom „föderativen Charakter Rußlands", nach seiner Behauptung2) erkläre ich also Mßland — zum Bundesstaat.

In der ersten Auflage kam es mir darauf an, diesen Punkt, den die großrussische Geschichtschreibung gern verschleiert, scharf zu betonen. Seitdem habe ich mich bemüht, ihn historisch tiefer zu fassen, was Haller mit seiner Auseinandersetzung über die „Verträge" S. 22 nicht gelingt. Was ist für die Erfassung der russischen Staatsgeschichte gewonnen, wenn Haller sagt, daß der russische Staat nur Gewaltherrschaft sei und unter den „Mitteln hochentwickelter staatlicher Organisation"3) an Knute, Galgen, Sibirien erinnert? Kann oder will Haller nicht den methodi­ schen Fehler bemerken, den er hier wie überall begeht, daß er mit der Gefühlsabneigung gegen Rußland und dem moralischen Maßstabe des Gut und Böse das objektive Urteil über einen Vorgang der Staatsbildung sprechen will? In der 2. Auflage fasse ich den Prozeß des „Sammelns" von Terri­ torien durch Moskau in kriegerischer Unterwerfung und Angliederung, das zunächst die innere Selbständigkeit, die Autonomie des angeglieder­ ten Teiles bestehen läßt, so, wie die entsprechende Entwicklung eines ') R S. 27. ') S. 22. •) mit denen die Verbindung der Teile aufrechterhalten wird, wie ich sage; ich denke natürlich an Heer und Beamtentum, Wirtschaftspolitik und Verkehrs­

mittel usw.

60

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

sonst in Europa entstehenden Gesamtstaates. Ich setze die entsprechende Partie ganz hierher **): „Die Ukraine, die Ostseeprovinzen, Finnland, im gewissen Sinne auch Beßarabien und Polen treten zu dem von Moskau gesammelten Staat prinzipiell ebenso, wie etwa Preußen oder Cleve zu Brandenburg. des

Herrschers

und

Huldigung

der

Durch Rezeß und Privileg, Gnadenbrief

Unterworfenen

wird

hier

die

Unter­

ordnung unter den entstehenden Gesamtstaat geradeso begründet, die innere Freiheit

der neuen Staatsglieder ebenso garantiert wie in gleichen Prozessen des Westens. Für die Ostseeprovinzen (Privilegien von 1710, 1712, 1731, 1801) liegt das ebenso aus der Hand wie für Finnland (1809 Manifest von BorgL), für das aber die Verhält­

nisse anders werden, als (1869) sein Landtag zum modernen Parlament wird, als sein Verhältnis als ständischer Staat zum absoluten Herrscher auf die Grundlage deS

Gesetzes, der VolEvertretung gestellt wird.

Auch die Ukraine ist so zu Moskau ge­

kommen *)."

Haller wird vermutlich auch diese Gesamtauffassung bekämpfen. Der Unbefangene wird ihr zugestehen, daß sie sich leidenschaftslos um das Verstehen eines russischen Hauptproblems müht und daß sie vielleicht wissenschaftlich fruchtbare und weiter zu entwickelnde Gesichtspunkte des Problems aufstellt. Wie ich als sittlich urteilender Mensch zum Bruch

der Verträge und zu den Methoden der Russifizierung stehe und wie ich als deutscher Politiker über die Stellung Deutschlands zu der so er­

faßten russischen Staatsbildung urteile und was ich dann gegen letztere will oder wollen soll — das sind völlig andere Gebiete. Indem sie Haller zusammenwirft, erhöht er wohl die Wirkung seines Angriffes aus den ungeschulten Leser, aber der Pflicht des wissenschaftlichen Forschers dient er damit nicht. Für die Ukraine wird das so bezeichnete Verhältnis mit den Ab­ machungen von Perejaslawl begründet; die beste Analyse des so ent­

standenen Rechtsverhältnisses, das bis 1764 (Aufhebung des Hetmanats und Begründung des lleinrussischen Kollegiums)3) bestand, gibt Noldes *) R2 s. 25. *) Ich wende so Terminologie und Gedanken meiner Habilitationsvorlesung

(Berlin 1906): „Die Gesamtstaatsidee in Brandenburg und Hannover, Bayern und Österreich", auf Moskau an und verweise dazu auf die ausgezeichnete Arbeit von Baron B. Nolde, „Einheit und Unteilbarkeit Rußlands" in seinen: OCerH rossk.

gosudarstv. prava (Petersburg 1911), S. 223—554; der auf die Ukraine bezügliche

TeU (S. 287—331) ist ins Französische übersetzt (L'Ukraine sous le protectorat rasse, Paris 1915) und wurde von der ukrainischen Bewegung verbreitet.

•) Nicht 1784, wie Haller schreibt; der UkaS ist vom 10. November 1764.

m. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

61

zitierte Arbeit. Die Frage, ob es eine Real- oder Personalunion war, ist müßig, weil sie unhistorisch von modemen Begriffen ausgeht. Zu­

nächst war es eine Einigung mit dem Fürsten von Moskau, der im ganzen nicht mehr als eine — sehr weitgreifende — innere Autonomie ge­ währte **). Das Kosakentum, das freiwillig2) dieses Protektorat einging, hat damit und später eigene Politik als souveräner Staat mit Polen, der Türkei, Schweden machen wollen; die Erhebung Mazeppas

wird nach dieser Rechtslage Rußland gegenüber entweder als Befreiungskampf oder als Verrat aufgesaßt. Der russische Absolutismus war der stärkere und zerstörte auch, nivellierend und unterdrückend, alle Besonder­ heiten der Ukraine rücksichtslos und barbarisch3). Sie hat dagegen nur sehr schwach reagiert; in der losen und undisziplinierten Kosakengemein­ schaft lag keine staatliche Kraft gegen den petrinischen Absolutismus. Heute

wird der Vertrag von Perejasiawl fiir die Ansprüche der Ukrainer wieder hervorgeholt; geschichtlich und rechtlich hat das keinen andem Wert, als wenn man heute etwa die Rezesse zwischen dem Großen Kurfürsten und den ostpreußischen Ständen hervorholen wollte. Die Behauptung6), der Vertrag von 1654 „stipuliere die Anerkennung der Ukraine mit staatlichen Eigenrechten ein für allemal und habe formelles, bis heute nicht erlosche­ nes Recht für die Ukrainer geschaffen", an das die Zentralmächte an­ knüpfen könnten, ist historisch in beiden Hälften falsch; auch Nolde hat das nicht, wie Rohrbach sagt, erklärt. Daß sich der Vertrag „auf den Teil der Ukraine rechts des Dnöpr bezog"6), habe ich nicht behauptet, daß er „1667 bestätigt worden fei"6), desgleichen nicht. Ich muß Haller schon bitten, genau zu lesen, was ich schreibe. Dafür trifft nicht zu, was er sagt, daß der Vertrag von 16541667 „aufgehoben" worden sei. Erstere Abmachung wurde zwischen den Kosaken und Moskau, letztere zwischen

Moskau und Polen über die Teilung zwischen beiden getroffen, und die erstere bestand, wie gesagt, in dem zu Moskau gekommenen Teile ja fort. *) Der entscheidende Punkt ist Artikel 5 der Moskauer Artikel, in dem der Zar

dem Hetman und den Kosaken die gewünschte eigene auswärtige Politik versagt; Poln. Sobr. Z. I, Nr. 119, S. 323. *) Die gesperrten Worte bezeichnen den Gegensatz der Faktoren in diesem

Bertragsverhältnis: Gnadenbries und Rezeß. •) S. R2, S. 398. *) Rohrbachs, z. B. Breslauer Generalanzeiger 5. August 1917.

•) Haller S. 22.

62

in. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

Wir sehen also, was von Hallers Behauptung von der „aufgezwungenenFremdherrschast" zu halten ist. Wenn heute die „ukrainische Staats­

idee" in Gegensatz zur Moskauer gesetzt wird, so ist das, als wollten sich Bayern und Preußen gegenseitig das Königtum der Karolinger streitig machen, und den ersten Schritt zur „Unterwerfung" haben im 17. Jahr­

hundert die Kosaken selbst getan. Aufgezwungen ist allerdings dann der Moskauer und petrinische Absolutismus worden. Und er übte seine Herrschaft in so brutaler Weise, daß er das Bewußtsein der Besonderheit in den Unterdrückten mit Gewalt Hervortrieb1). Er ver­ mochte nicht, sie, obwohl sie ihm sprachlich, ethnisch, konfejsionellnahe» standen, innerlich zu einer höheren Einheit zu gewinnen. Und er be­

trachtete die seit Ende des 18. Jahrhunderts2) einsetzende Renaissance des Kleinrussentums, die auf dem in den polnischen Teilungen Österreich zugefallenen Stücke Galizien den Nährboden am ruthenisch-polnischen Gegensatz3) fand, mit Sorge und verfolgte auch sie weiter mit barbari­ scher Unterdrückung. So stellte er selbst den Zusammenhang der klein­ russischen Reaktionsbewegung, des sogenannten Mazeppismus4), mit den revolutionären Strömungen seines Reiches her.

Haller wird diese Auffassung im ganzen ja ablehnen. Er erwartet erhebliches von der ukrainischen Frage im Stiege und sagt kurzerhand6): „Es kommt hier gar nicht auf den Entscheid philologischer Autoritäten, überhaupt nicht auf die Philologie an, sondern auf das Bewußtsein der Menschen, um die es sjch handelt. Haben sie das Bewußtsein und den Willen, eine eigene Nation zu sein, so sind sie eine, auch wenn alle Philologen der Welt ihnen bescheinigten, daß ihre Sprache nur eine Mundart sei. Politische Fragen werden nicht nach der Grammatik entschieden, sondern durch den Willen und die Tat. Die Holländer sind eine eigene Nation ge­ worden, obwohl ihre Sprache zweifellos nur eine deutsche Mundart ist, weil sie sich

*) Hier ist der Punkt, wo die Parallele der Entwicklung zwischen Ost und West, wie ich sie zog, aufzuhören hat. S. R 2, S. 26. *) 1798 erscheint die Travestie der Äneis von Kotljarewskyj.

*) In ihm und in der galizisch-ruthenischen Bewegung liegt auch Kem und eigent­ licher Rückhalt der ukrainischen Frage. *) S. LLegolev, Ukrainskoje dvizSnie kak sovremenny etap juino-russk. separatizma. Kiew 1913 (vom russisch-nationalistischen Standpunkt). — Auf Dragomanow muß hier für das demokratisch-söderalistische Programm einer modemen mssischen Staatsform besonders hingewiesen werden. •) S. 14.

III. Die Grundlagen der ukrainischen Frage; Kiew und Moskau. I.

63

vom deutschen Gesamtvolk trennten und eine Nation sein wollten. Die Ukrainer, falls sie heute noch keine Nation sein sollten, könnten es doch werden, wenn sie es wollen und das Schicksal ihnen günstig ist.

Die große Frage ist also nicht, ob sie es nach dem

Grad ihrer Verwandtschaft mit den Russen sein dürfen, sondern ob sie es wirllich

wollen, ob ein nationaler Sonderwille bei ihnen vorhanden und stark genug ist, sich durchzusetzen."

Die Bemerkungen, die er daran über das,,Nationalbewußtsein" der Ukrainer schließt und bei mir vermißt — obwohl sie sich in Kap. 11, 3 finden — zeigen noch deutlicher, daß er sich damit nicht mehr auf dem

Boden der Tatsachen bewegt *). Weder Haller noch sonst jemand weiß, wie stark das nationale Wollen der Ukrainer in Rußland ist, das mit dem der ukrainischen Emigranten ja nicht identisch ist, um so mehr, als sich der Haß der Ukrainer gegen den Zarismus, nicht gegen das Großrussentum richtet. Im russischen Süden mögen wohl die Elemente zu einem selbständigen Staate vorhanden sein, die Geschichte lehrt aber nicht, daß

„die Ukrainer zweifellos die Befähigung zu eigenem staatlichen Leben erwiesen haben"2), und daß „nach den Lehren der Geschichte nicht daran zu zweifeln sei, daß ein solcher großer westrussischer Staat möglich sei"2).

Die Geschichte lehrt das Gegenteil. Ob diese Lehre für die Zukunft recht behält, darüber hatte mein Buch nicht zu urteilen. Es konnte nur das Trennende und Zusammenhaltende, wie es R 2, S. 23 und 403 geschieht, hervorheben und S. 403 das schon erwähnte Fazit ziehen: „Erst eine neue große Erschütterung des Staates würde zeigen, ob der Gegensatz von Groß- und Kleinrussentum mehr ist als der zwischen Nord und Süd oder zwischen Kolonialland und Mutterland." M Das erkennt man namentlich, wenn man diese seine Bemerkungen S. 14 und die über die Ukraine und ihre Selbständigkertsbestrebungen S. 74 zusammenstellt. Auf die evidenten Widersprüche, in die sich Haller so verwickelt, weist ihn Kranold, Soz.

Monatshefte 1917, Heft 8, S. 410 f. sehr treffend hin. ') Arldt, Die Völker Mitteleuropas. S. 132 u. 135.

IV. Kiew und Moskau. II.

64

IV.

Uiero und Moskau. IL Die Frage, inwieweit Moskau die Fortsetzung von Kiew sei, ist bisher nut zu einem Teile beantwortet. Moskau

ist „nach

Bevölkerung,

Haller verneint sie ganz und gar: Staatsversassung,

Gesellschaftsordnung,

Recht, Bildung nicht dasselbe, was Kiew war, eher sogar das Gegenteil"').

Bezüglich der Bevölkemng habe ich meinen Standpunkt mit der

heute möglichen Klarheit ausgesprochen; Haller läßt den seinigen in der Schwebe. Was nun der moskauische Staat als Gegenteil von Kiew sei,

sagt er mit einem Wort: tatarisch, „die Fortsetzung der Goldenen Horde, ihr Erbe"2). Haller spricht nur vom Staat Moskau, fügt aber hinzu3), das „nicht wenige Tataren im Lande blieben, und ihre Nachkommen gingen im russischen Volke auf, wo man ihren Typus sogar in den Reihen des Adels, noch mehr unter den Kaufleuten antrifft". Tatarischer Eroberungsstaat, tatarischer Staat, tatarische Fremd­

herrschaft, tatarisches Wesen, tatarisches Blut — wir stellen dazu eine Reihe Fragen: 1. Jnwiefem kann von Tatarisiemng des russischen Volkes infolge des Tatarenjochs — die Barbarei, die Greuel z. B. im Anfang des jetzigenFeldzuges wurden auf dies Konto gesetzt—gesprochen werden, da keine'^Ansicht behauptet, daß das russische Volk dadurch eine starke Blutzufuhr erfahren habe? 2. Wenn darin eine Verwechselung mit

jener finnischen Blutzufuhr liegen sollte, von der wir sprachen, so führt diese ins Leere, da wir bei den Finnen des Großfürstentums und den Eschen keinen Anhalt zu Urteilen wie den Hallerschen über das „tatarische Moskau" finden. 3. In Rußland gibt es heute zwischen 17 und 18 Millionen Turko-Tataren; rechtfertigen sie, insonderheit die 3,7 Millionen

reiner Tataren4), die Begründung der von Haller hervorgehobenen Züge mit tatarischem Wesen? 4. Zu den Turko-Tataren (Altaiern) im Gegen*) S. 20. •) a. a. O. S. 26. So auch in seiner Besprechung meiner Broschüre „Rußland

als

Gegner Deutschlands" (Leipzig 1915): „Asiatisch-tatarischer Ursprung

moSkowitischen Staates". •) S. 27.

«) R 2