Räume, Grenzen, Übergänge: Akten des 5. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD) 9783515119955

Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes geben einen Einblick in die Erfassung und Problematisierung von Sprach- und Dia

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English, German Pages 408 [410] Year 2018

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Table of contents :
INHALTSVERZEICHNIS
(Helen Christen / Peter Gilles / Christoph Purschke) Geleitwort
(Marco Angster / Silvia Dal Negro)
Linguistische Distanz einschätzen: der Fall von Walserdeutsch im
Licht von lexikalischen Daten und soziolinguistischen Parametern
(Peter Auer / Julia Breuninger / Martin Pfeiffer) Neuere Entwicklungen des Alemannischen an der französisch-deutschen Sprachgrenze im Oberrheingebiet
(Lars Bülow / Kees de Bot / Nanna Hilton)
Zum Nutzen der Complex Dynamic Systems Theory (CDST) für die
Erforschung von Sprachvariation und Sprachwandel
(Leonie Cornips / Ad Knotter) Inventing Limburg (The Netherlands): Territory, history, language, and identity
(Antje Dammel / Markus Denkler)
Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker in
westfälischen Dialekten und im Luxemburgischen am Beispiel
des er-Plurals
(Maike Edelhoff)
Scheefcher vs. Scheewercher: Morphologische Isoglossenbildung
im moselfränkisch-luxemburgischen Grenzgebiet
(Jürg Fleischer)
Syntax und Arealität: Methoden und Resultate eines syntaktischen
Wenker-Atlas
(Elvira Glaser)
Wie sind die deutschen Dialekte in syntaktischer Hinsicht
gegliedert?
(Simon Kasper / Christoph Purschke) Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff
(Péter Maitz) Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch
(Jeffrey Pheiff)
Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten: Eine
Auswertung von Wenkersätzen
(Simon Pickl)
Wann ist eine Grenze eine Grenze? Zur theoretischen Fundierung
von Dialektgrenzen und ihrer statistischen Validierung
(Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli)
Räume, Grenzen und Übergänge: Subjektrealisierung im
Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch
(Alexandra Rehn)
Zur Steuerung der Adjektivflexion im Alemannischen und
Standarddeutschen
(Alexandra Schiesser)
Authentizität durch Sprache. Soziosymbolisch relevante Merkmale
als Fundus stilistischer Variation
(Evelyn Ziegler / Ulrich Schmitz / Heinz Eickmans)
Innere Mehrsprachigkeit in der linguistic landscape der Metropole
Ruhr
FARBABBILDUNGSTEIL
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Räume, Grenzen, Übergänge: Akten des 5. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD)
 9783515119955

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Helen Christen / Peter Gilles / Christoph Purschke (Hg.) Räume, Grenzen, Übergänge

zeitschrift für dialektologie und linguistik beihefte In Verbindung mit Michael Elmentaler und Jürg Fleischer herausgegeben von Jürgen Erich Schmidt

band 171

Helen Christen / Peter Gilles / Christoph Purschke (Hg.)

Räume, Grenzen, Übergänge Akten des 5. Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD)

Franz Steiner Verlag

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2017 Druck: Hubert & Co., Göttingen Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-11995-5 (Print) ISBN 978-3-515-11999-3 (E-Book)

INHALTSVERZEICHNIS Helen Christen / Peter Gilles / Christoph Purschke Geleitwort ..................................................................................................... 7 Marco Angster / Silvia Dal Negro Linguistische Distanz einschätzen: der Fall von Walserdeutsch im Licht von lexikalischen Daten und soziolinguistischen Parametern ............ 9 Peter Auer / Julia Breuninger / Martin Pfeiffer Neuere Entwicklungen des Alemannischen an der französischdeutschen Sprachgrenze im Oberrheingebiet ............................................. 27 Lars Bülow / Kees de Bot / Nanna Hilton Zum Nutzen der Complex Dynamic Systems Theory (CDST) für die Erforschung von Sprachvariation und Sprachwandel ................................ 45 Leonie Cornips / Ad Knotter Inventing Limburg (The Netherlands): Territory, history, language, and identity ................................................................................................. 71 Antje Dammel / Markus Denkler Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker in westfälischen Dialekten und im Luxemburgischen am Beispiel des er-Plurals. ............................................................................................. 93 Maike Edelhoff Scheefcher vs. Scheewercher: Morphologische Isoglossenbildung im moselfränkisch-luxemburgischen Grenzgebiet ................................... 113 Jürg Fleischer Syntax und Arealität: Methoden und Resultate eines syntaktischen Wenker-Atlas ........................................................................................... 137 Elvira Glaser Wie sind die deutschen Dialekte in syntaktischer Hinsicht gegliedert? ................................................................................................ 165 Simon Kasper / Christoph Purschke Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff .................. 185

6

Inhalt

Péter Maitz Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch ...................................... 215

Jeffrey Pheiff Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten: Eine Auswertung von Wenkersätzen................................................................ 243 Simon Pickl Wann ist eine Grenze eine Grenze? Zur theoretischen Fundierung von Dialektgrenzen und ihrer statistischen Validierung .......................... 259 Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli Räume, Grenzen und Übergänge: Subjektrealisierung im Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch .................................................. 283 Alexandra Rehn Zur Steuerung der Adjektivflexion im Alemannischen und Standarddeutschen.................................................................................... 305 Alexandra Schiesser Authentizität durch Sprache. Soziosymbolisch relevante Merkmale als Fundus stilistischer Variation ............................................................. 325 Evelyn Ziegler / Ulrich Schmitz / Heinz Eickmans Innere Mehrsprachigkeit in der linguistic landscape der Metropole Ruhr .......................................................................................................... 347 Farbabbildungsteil .................................................................................... 375

GELEITWORT Die Beiträge des vorliegenden Sammelbandes repräsentieren einen Querschnitt durch die aktuelle dialektologische und variationslinguistische Forschung im deutschsprachigen Raum. Alle 16 Beiträge wurden im Rahmen des fünften Kongresses der Internationalen Gesellschaft für Dialektologie des Deutschen (IGDD), der vom 10. bis 12. September 2015 an der Universität Luxemburg stattfand, als Vorträge präsentiert. Thematisch spannen die hier versammelten Beiträge einen breiten Fächer auf und reichen von der Problematisierung von Dialekt- und Sprachgrenzen in struktureller wie attitudinaler Hinsicht über kernlinguistische Fragestellungen aus Morphologie, Phonologie und Syntax bis hin zu wissenschaftstheoretischen Überlegungen oder der Erforschung visueller Mehrsprachigkeit in urbanen Räumen. Damit dokumentieren die Beiträge sowohl die thematische Vielfalt der gegenwärtigen deutschsprachigen Variationslinguistik als auch die Qualität der Vorträge auf dem Luxemburger Kongress. Alle Beiträge wurden einem externen Begutachtungsverfahren durch Fachkolleg*innen unterzogen, denen wir für ihre Mühe und wertvollen Hinweise ausdrücklich danken möchten. Ebenso bedanken wir uns bei den Herausgebern für die Aufnahme des Bandes in die Beiheft-Reihe der „Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik“, bei der Redaktion der ZDL für die ebenso freundliche wie professionelle Betreuung des Bandes sowie bei unseren Mitarbeiterinnen MELANIE BÖSIGER und MARIE SATTLER für die Unterstützung bei der Einrichtung des Manuskripts. Helen Christen / Peter Gilles / Christoph Purschke Freiburg i. Ü. / Luxemburg im Oktober 2017

LINGUISTISCHE DISTANZ EINSCHÄTZEN: DER FALL VON WALSERDEUTSCH IM LICHT VON LEXIKALISCHEN DATEN UND SOZIOLINGUISTISCHEN PARAMETERN Marco Angster / Silvia Dal Negro 1 EINLEITUNG In diesem Beitrag werden wir das Thema der inneren Gliederung des Dialekts einer kleinen und verstreuten deutschen Minderheit behandeln.1 Die Walser Minderheit in Italien spricht einen höchstalemannischen Dialekt, den im Mittelalter Bauernfamilien aus dem Oberwallis im Zuge ihrer Auswanderung in Hochtäler des Piemont und des Aostatals gebracht haben. Mit dieser Arbeit erforschen wir die Möglichkeit, die relative Distanz zwischen acht solcher Dialekte durch lexikalische Daten zu bestimmen und mit externen Faktoren in Zusammenhang zu bringen. Es handelt sich um die Dialekte der Walsersiedlungen von Formazza (FO), Salecchio (SA), Macugnaga (MA), Alagna (AL) und Rimella (RI) (Piemont), Gressoney (GR) und Issime (IS) (Aostatal) und Bosco Gurin (BG) (Kanton Tessin, Schweiz).2 Die Datenquelle, auf die wir uns stützen, ist ein kleiner Sprachatlas, PALWaM (vgl. ANTONIETTI / VALENTI / ANGSTER 2015; siehe auch ANGSTER / DAL NEGRO 2015), in dem das lexikalische Erbe der Südwalser (im Sinne von ZINSLI 1968) in ausgewählten Bereichen gesammelt, kommentiert und kartographisch dargestellt wird. Für die vorliegende Arbeit haben wir 82 unter den vielen verfügbaren Karten in Betracht gezogen, die die lexikalische Realisierung der entsprechenden Begriffe an den acht Aufnahmeorten darstellen. Es handelt sich um Begriffe, die den Alltag betreffen3 und die uns zeigen können, wie Walserdialekte im Verlauf der Zeit auf die romanische Umgebung und auf ein diskontinuierliches Siedlungsmuster reagiert haben.

1 2 3

Obwohl beide Autoren den allgemeinen Aufbau und Inhalt dieser Arbeit entwickelt und die Datenanalyse durchgeführt haben, haben MARCO ANGSTER die Abschnitte 3, 4 und 5 und SILVIA DAL NEGRO die Abschnitte 1, 2 und 6 geschrieben. Außer in Salecchio sind die behandelten Dialekte noch lebendig, aber stark bedroht, da sie nur noch von einem kleinen Teil der Bevölkerung gesprochen werden. Der PALWaM knüpft an die Tradition der sogenannten „Wörter und Sachen“-Sprachatlanten an, wenn auch mit neuen Methoden und Perspektiven. Vgl. dazu DAL NEGRO / IANNÀCCARO (2015). In diesem Zusammenhang sind (berg)bäuerliche Begriffe mit Konzepten des zeitgenössischen Lebens ergänzt worden.

10

Marco Angster / Silvia Dal Negro

Abb. 1: Die Walserkolonien in Italien und im Kanton Tessin

2 AUSSERLINGUISTISCHE PARAMETER Die acht Südwalserdialekte, die hier betrachtet werden, können nach verschiedenen (außerlinguistischen) Parametern unterteilt werden. In der hier abgedruckten Karte (Abbildung 1), die die geographische Verteilung der Walser Gemeinden darstellt, sind etliche Unterteilungen vorgenommen worden, die sich auf drei außerlinguistische Kriterien stützen. Die Kriterien wurden unter vielen anderen auf der Basis der mutmaßlichen Auswirkungen im Rahmen des Sprachwandels und des Sprachersatzes ausgewählt: administrative Zugehörigkeit, Orographie und Isolierung. Ein weiteres Kriterium, das sich aber geographisch schwer darstellen lässt, ist die absolute Sprecherzahl.

Linguistische Distanz einschätzen

11

Nach der administrativen Unterteilung lassen sich drei Hauptgruppen erkennen: die Siedlungen des Aostatals (Gressoney und Issime), die piemontesischen Siedlungen (Rimella, Alagna, Macugnaga, Formazza und Salecchio) und die Tessiner Siedlung (Bosco Gurin). Für die Frage des Spracherhalts (bzw. Sprachersatzes) und des Sprachwandels durch Kontakt sind die sprachpolitischen Umstände auch von Bedeutung. Die Tatsache, dass Deutsch in der Schweiz die wichtigste Landessprache ist, dürfte nicht ohne Auswirkungen auf den Erhalt des Walserdeutschen in Bosco Gurin sein. Ähnlich ist die sprachpolitische Autonomie der Region Aosta ein bedeutsamer Faktor für den Erhalt lokaler Sprachen, obwohl Walserdeutsch selbst als Minderheit innerhalb der frankophonen Minderheit betrachtet werden muss. Dagegen sind die sprachpolitischen Gegebenheiten im Piemont ungünstiger als im Aostatal, weil das Piemont eine Region mit Normalstatut ist. Anhand der Orographie lassen sich grob zwei Gruppen bilden: Ein westliches „Monte Rosa“-Gebiet und ein östliches „Gotthard“-Gebiet. Die geographische Unterteilung widerspiegelt die Routen der Hauptauswanderungen der Walser Kolonisten, deren Herkunft und weiteren Wanderungen im Mittelalter. Es handelt sich daher um einen historischen-geographischen Parameter. Obwohl die meisten Walserorte gemessen an den heutigen Verhältnissen des Straßennetzes weit getrennt voneinander erscheinen, sind die Walserorte der „Monte Rosa“-Gruppe bzw. der „Gotthard“-Gruppe (zu Fuß) durch begehbare Bergpässe relativ leicht erreichbar. Was die Isolierung betrifft, lassen sich diese acht Gemeinschaften in zwei Hauptgruppen einteilen. Als groben (aber operationalen) Parameter berücksichtigen wir die territorialen Grenzen der Gemeinden und unterscheiden zwischen Inseln, die nur romanische Nachbarn haben (Issime und Rimella), und Halbinseln. Alle Gemeinschaften, außer Issime und Rimella, haben zumindest einen zu Fuß direkt erreichbaren Walser oder Walliser Nachbarn: Gressoney und Alagna sowie Alagna und Macugnaga sind durch gangbare Pässe verbunden, Formazza grenzt an das Oberwallis und an Bosco Gurin. Als Letztes kommt noch ein demographischer Parameter hinzu, der, wie gesagt, in Abbildung 1 nicht kartographiert werden konnte. Tabelle 1 fasst offizielle demographische Daten (aus dem Italienischen Institut für Statistik ISTAT4) mit den Ergebnissen zweier Forschungsprojekte5 über den Sprachgebrauch im Aostatal und bei den Walsern im Piemont zusammen. Aus diesem sehr reichhaltigen Material haben wir die Antwort auf nur eine einzige Frage ausgenützt, und zwar: Welche Sprachen bzw. Dialekte kennst Du? Da beide Forschungsprojekte nur einen statistisch signifikanten Anteil der ansässigen Bevölkerung befragten, haben wir diesen Prozentsatz auf die Anzahl der Einwohner im selben Jahr (2001) hoch4 5

Siehe ; Stand: 31.10.2017; für die Schweiz (Bosco Gurin) siehe Webseite des Bundesamtes für Statistik ; Stand: 31.10.2017. Über die Untersuchungen „Plurilinguismo amministrativo e scolastico in Valle d’Aosta (PASVA)“ und „Walser in Piemonte. Un’indagine sociolinguistica“, die das CELE – Centre d’Études Linguistiques pour l’Europe – ausgeführt hat, siehe IANNÀCCARO / DELL’AQUILA (2003) beziehungsweise DAL NEGRO / DELL’AQUILA / IANNÀCCARO (2004).

12

Marco Angster / Silvia Dal Negro

gerechnet, um eine Idee der absoluten Größe der Sprachgemeinschaft zu bekommen.6 ISTAT (2001) CELE (2002) % CELE/ISTAT 5

Gressoney Saint Jean

789

80.0

5

Gressoney La Trinité

297

68.3

4

Macugnaga

651

56.7

369

8

Issime

403

79.8

322

1

Formazza

448

70.3

315

7

Rimella

142

90.8

129

6

Alagna

457

23.9

109

2

Bosco Gurin*

53

~ 100.0

~ 50

3

Salecchio*

ausgestorben



2

MEDIAN

834

221,9

Tab. 1: Demographie der Südwalser

Für zwei Walserorte, die in der Tabelle mit Sternchen gekennzeichnet sind, liegen keine demographischen Daten vor: Bosco Gurin und Salecchio. Über die Sprachkenntnisse in Bosco Gurin haben wir keine vergleichbaren Daten: Es ist aber aus der Literatur bekannt (vgl. u. a. RUSS 2002), dass die Bevölkerung, die im Dorf ansässig ist, mit der Zahl der Deutschsprachigen nahezu übereinstimmt. Salecchio hingegen existiert aufgrund der schwierigen Lebensbedingungen seit den siebziger Jahren nicht mehr: Für unsere Forschung haben wir nur noch die letzten zwei Sprecher dieser Varietät aufnehmen können. Nimmt man den Median der Sprecherzahl (221,9), kann man noch eine weitere Unterteilung der Südwalser vornehmen: die (relativ) größeren Sprachgemeinschaften auf der einen Seite und die (relativ) kleineren Sprachgemeinschaften auf der anderen Seite. 3 DIE BEWERTUNG DES MATERIALS Nun wenden wir uns den Daten zu, die aus dem PALWaM herausgezogen wurden, und der Identifizierung und Klassifizierung der verschiedenen Lexotypen. In unserer Arbeit betrachten wir die Karten als onomasiologische Kategorien, die von jeder Walser Varietät mit verschiedenen Lexotypen realisiert werden können. 6

Wir sind uns natürlich der Tatsache bewusst, dass solche Werte zum Teil arbiträr sind, unter anderem weil viele Sprecher nicht direkt in den Walsergemeinden ansässig sind, sondern in Nachbardörfern oder Städten; sie bleiben aber in engem Kontakt mit der Gemeinschaft und der lokalen Sprache.

13

Linguistische Distanz einschätzen

Wählt man beispielsweise die Karte „Kuh“ aus (siehe Tabelle 2), erhält man an allen Orten einheitliche Angaben, zumindest was die Lexotypen betrifft: Für die vorliegende Arbeit bleiben nämlich die lautlichen und morphologischen (Flexion) Varianten eines Lexotyps außer Betracht, während die lexikalische Varianz im Fokus steht. Im Gegensatz zu „Kuh“ weisen die Karten „Gras“ und „Stuhl“ je eine Dreigliederung auf. „Kuh“

„Gras“

„Stuhl“

1

Formazza

Chöö

mhd.

Gras

mhd.

Sässäl

mhd.

2

Bosco Gurin

Chüa

mhd.

Gras

mhd.

Schtüal

mhd.

3

Salecchio

Chue

mhd.

Chrüt

mhd.

Sassel

mhd.

4

Macugnaga

Chöö

mhd.

Chrüt

mhd.

Setzal

mhd.

5

Gressoney

Chue

mhd.

Gras

mhd.

Karió

rom.

6

Alagna

Chua

mhd.

Chrud

mhd.

Kariga

rom.

7

Rimella

Chiö

mhd.

Chrüt

mhd.

Kedrigu

rom.

8

Issime

Chu

mhd.

Weidu

mhd.

Kariu

rom.

Tab. 2: Identifizierung der Lexotypen und Klassifizierung nach sprachhistorischer Schicht

Wenn man das ganze Korpus von 82 Karten betrachtet, kann man feststellen, dass eine Karte bis zu sieben Lexotypen aufweisen kann. Das ist der Fall für die Karte „Arznei“: a. FO Dokchteri und BG Dokchtarij,7 b. SA Artznei und AL Arzne, c. MA Meditschina, d. GR Meditzin, e. AL Meisina, f. RI Schpettzjer, g. IS Remmidi. Ähnlich (aber anders verteilt) zeigt die Karte „Balkon“ sechs Lexotypen: a. FO Forlöiba, b. BG Löibu und MA Loubu, c. SA Schopf, GR Schof, AL Schopf, RI Schof und IS Schopf, d. SA Balka, e. RI Láttu, f. RI Punteng.8 Die meisten Karten (62,5%) weisen jedoch zwischen einem und drei Lexotypen auf: Wie sich die Varianz unter den acht Dialekten verteilt und nach welchen Kriterien und Mustern sie verteilt ist, ist die Hauptfrage der vorliegenden Arbeit. Wie auch in Tabelle 2 dargestellt, werden die Daten weiter nach der sprachhistorischen Schicht bewertet. Unter sprachhistorischer Schicht versteht man hier ein Teil des Lexikons, das alle Lexeme mit gleicher Herkunft umfasst. Die Südwalser Varietäten teilen mit allen anderen deutschen Dialekten eine Schicht, die sich auf den mittelhochdeutschen Erbwortschatz stützt. Diesen mittelhochdeutschen Wortschatz haben die Südwalser durch zahlreiche Neubildungen weiter7 8

Für die Verschriftung der Walser Ortsdialekte haben wir die gemeinsame Orthographie verwendet, die in ANTONIETTI (2010) beschrieben und im PALWaM gebraucht wird. Trotz ihrem gemeinsamen Ursprung nach Lateinisch MEDICINA werden MA Meditschina, GR Meditzin, AL Meisina als drei Lexotypen gezählt, weil sie als Entlehnungen aus dem Italienischen, dem (Standard-)Deutschen beziehungsweise Piemontesischen zu betrachten sind. Ebenso als zwei Lexotypen werden einerseits FO Forlöiba und andererseits BG Löibu und MA Loubu aufgrund der verschiedenen morphologischen Komplexität betrachtet.

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Marco Angster / Silvia Dal Negro

entwickelt. Eine Reihe dieser lexikalischen Weiterentwicklungen ist auch bei den oberdeutschen (insbesondere schweizerischen) Dialekten feststellbar. Einzelne dieser Lexeme dürften aus der deutschen Standardsprache entlehnt sein. Weitere Entlehnungen stammen aus dem Italienischen oder anderen romanischen Varietäten – sei es aus Standardsprachen wie dem Französischen, sei es aus Dialekten wie dem Piemontesischen. Diese sprachhistorische Gliederung des Lexikons der Südwalser ist in Abbildung 2 schematisch dargestellt, wo die mittelhochdeutsche Schicht hervorgehoben ist.

Abb. 2: Mittelhochdeutscher Wortschatz als sprachhistorische Schicht des Lexikons der Südwalser

Anhand einiger Beispiele wird nachfolgend die sprachhistorische Klassifizierung der Lexotypen, die in den Karten belegt sind, erläutert. Im Fall von „Gras“ gibt es zum Beispiel keine weitere Unterteilung, da alle drei erhobenen Lexotypen auf den mittelhochdeutschen Erbwortschatz zurückzuführen sind. Was dagegen „Stuhl“ betrifft, werden die drei Lexotypen auf zwei sprachliche Schichten zurückgeführt: Ein Teil (der Typ STUHL und der Typ SESSEL) gehört zum Mittelhochdeutschen und ein Teil (der Typ CATHEDRA) ist eine Entlehnung aus romanischen Varietäten. Diese Annotation ist aufgrund der vielfältigen Überlagerungen der romanischen und deutschen Schichten im Alpenraum nicht ganz unproblematisch. Die ererbte mittelhochdeutsche Schicht enthält zum Beispiel Lexotypen, die ältere lateinische Entlehnungen sind, so unter anderem Chäs ‘Käse’ aus dem Lateinischen CASEUS oder Chäller ‘Keller’ aus dem Lateinischen CELLARIU(M). Operativ haben wir eine graduelle Prozedur entwickelt, die Optionen (Germanisch vs. Romanisch; Italienisch vs. andere romanische Sprachen bzw. Dialekte; Erbwortschatz vs. Weiterentwicklungen vs. Entlehnungen von der Standardsprache) stufenweise ausschließt. Das größte Problem besteht darin, dass komplexe Bildungen, die als solche nicht auf die mittelhochdeutsche Schicht zurückzuführen sind, eigentlich auf einem Kontinuum innerhalb der deutschen Schicht anzuordnen sind. Dieses Kontinuum erstreckt sich von lokalen Neubildungen (Chlai-

Linguistische Distanz einschätzen

15

derhoku ‘Kleiderhaken’, Fiirhüs ‘Feuerhaus, Küche’, Miŝchublattu9 ‘Mäuseplatte’) über gemeinhochalemannische (u. a. schweizerdeutsche) Lexotypen (Chuntschtofä ‘Kunstofen, Kochherd’, Zikerlji ‘Zuckerl, Bonbon’, Dokchteri ‘Arznei’) bis zu gemeinsamen neuhochdeutschen Typen (Begälisä ‘Bügeleisen’, Zittóng ‘Zeitung’, Wäschmaschina ‘Waschmaschine’). 4 METHODE DER AUSWERTUNG UND KODIERUNG DER DATEN In der Biologie werden oft Methoden verwendet, mit denen man aufgrund von genetischen bzw. phänotypischen Merkmalen tierische oder pflanzliche Taxa vergleichen kann. Diese Methoden haben auch Linguisten besonders im Bereich der historischen Sprachwissenschaft angewandt, um das Verhältnis zwischen unterschiedlichen, aber verwandten Sprachen (z. B. den indogermanischen Sprachen) anhand von lexikalischen Daten darzustellen. Die traditionelle Darstellung dieser Verhältnisse (sowohl in der Biologie als auch in der Sprachwissenschaft) ist der genetische Stammbaum. Stammbaum-Darstellungen weisen jedoch den Nachteil auf, dass sie keine Wiedergabe von kontaktinduziertem Wandel erlauben, was irreführend ist, wenn man es mit Phänomenen mit starker linguistischer Interferenz zu tun hat (vgl. MCMAHON / MCMAHON 2006, 139–140). Da die Südwalser Varietäten eng verwandt sind, ist für unsere Arbeit ein genetischer Stammbaum von geringem Interesse. Wir sind dagegen an einer zuverlässigen Darstellung der Kontakte zwischen möglichst vielen Varietäten interessiert. Mit „NeighbourNet“ (vgl. BRYANT / MOULTON 2004) kann man die relative Distanz zwischen Taxa (oder linguistischen Varietäten) graphisch aufzeichnen, ohne gleichzeitig Vermutungen über phylogenetische Verhältnisse anzustellen.10 Es handelt sich um eine phänotypische, merkmalbasierte Methode, die sich auf die „externen“ – nicht genetischen – Ähnlichkeiten unter Taxa stützt.11 Die erhobenen und annotierten Lexotypen konstituieren eine Datenbank, die unseres Erachtens für eine „SplitsTree“-Analyse geeignet ist. Die aufbereiteten Daten stellen acht horizontale Listen dar (eine Liste für jede Varietät), die uns erlauben, die lokalen Bezeichnungen für einen Begriff – d. h. eine onomasiologische Kategorie – direkt miteinander zu vergleichen. Auf diese Weise kann man jede Liste von lokalen Bezeichnungen als eine geordnete Menge von Merkmalen betrachten, während die acht dialektalen Varietäten den (biologischen) Taxa entsprechen. Listen von Merkmalen werden in der Biologie gebraucht, um den (ge-

9 10 11

In der Orthographie der Walser Dialekte, die für die Südwalser entwickelt worden ist (vgl. ANTONIETTI 2010), entspricht dem Laut [ʒ]. Die Graphen und die Rechnungen in dieser Arbeit wurden mit dem Programm „SplitsTree4“ (; Stand: 31.10.2017) erzeugt; vgl. HUSON / BRYANT (2006). In VON WALDENFELS (2012) lässt sich eine Anwendung von „NeighborNet“ auf linguistische Daten finden. Diese Arbeit über Aspekt in den slawischen Sprachen stützt sich auf ein paralleles Korpus, „ParaSol“, das 11 verschiedene Übersetzungen von „Meister und Margarita“ von MICHAIL BULGAKOV enthält.

16

Marco Angster / Silvia Dal Negro

netischen oder phänotypischen) Abstand von Taxa zu errechnen und ihn graphisch darzustellen (vgl. HUSON / BRYANT 2006). Die Kodierung für eine „SplitsTree“-Analyse funktioniert wie folgt: Jedes Merkmal, etwa die Karten bzw. onomasiologische Kategorien „Kuh“, „Gras“ oder „Stuhl“, darf nur zwei Werte haben (1 oder 0) und dadurch wird jedes Taxon (d. h. jede Walser Varietät) zu einer geordneten Liste von 1 und 0, die sich quer durch alle Taxa auf die entsprechenden Merkmale bezieht. Die Anwesenheit eines Merkmals entspricht einer 1, seine Abwesenheit einer 0. Selbstverständlich muss man einen höheren Abstraktionsgrad verwenden, um diese Methode auf linguistische Daten anzuwenden, so dass viele Einzelheiten (in diesem Fall lautliche Merkmale) unberücksichtigt bleiben müssen. Der sich ergebende Graph macht die Ähnlichkeiten der verschiedenen Taxa konkret sichtbar – das ist eben der größte Vorteil dieser Methode –, zeigt also, wie diese Ähnlichkeit zustande gekommen ist, etwa infolge von gemeinsamen (Sprachwandel)entwicklungen oder horizontalen Kontakten. Um zu verstehen, wie das Programm funktioniert, kann man sich zwei extreme, fiktive Beispiele vorstellen. Wenn es keine Variation der Merkmale unter den Taxa gibt, d. h. alle Varietäten genau dieselben Werte von 1 und 0 für jede onomasiologische Kategorie aufweisen – zum Beispiel, wenn alle Karten wie die Karte „Kuh“ wären –, dann ergeben sich im Programm keine Spaltungen. Wenn die Variation dagegen gleichmäßig verteilt ist – wenn es in jedem Taxon beispielsweise nur einen Wert 1 gibt, es aber einem anderen Merkmal in jedem Taxon entspricht –, erzeugt das Programm eine Spaltung je Taxon und das Ergebnis ist eine Art Stern, dessen Strahlen radialsymmetrisch sind. 5 ANALYSE DER LEXIKALISCHEN DATEN Unsere Daten haben wir mit der oben ausgeführten Methode im Hinblick auf die lexikalische Übereinstimmung und die sprachhistorischen Schichten analysiert. Zunächst werden die lexikalischen Übereinstimmungen in den Blick genommen (vgl. Kodierung der Übereinstimmung in Tabelle 3). In den Fällen von „Alm“ und „Salz“, wo die Varianten von allen Varietäten einem und demselben Lexotyp entsprechen, bezeichnen wir alle Dialekte mit dem Wert 1 als „übereinstimmend“. Im Gegensatz dazu zeigen andere Karten eine Auffächerung, wie z. B. die Karte „Kissen“, die zwei mittelhochdeutsche Lexotypen aufweist. Aus mhd. pfulwe entstehen die Lexotypen, die für alle fünf Varietäten der „Monte Rosa“Gruppe belegt sind; dagegen stammen die Lexotypen der Varietäten der „Gotthard“-Gruppe aus mhd. küsse. Da der Lexotyp PFULWE vorherrscht, betrachten wir dann die fünf entsprechenden Varietäten als übereinstimmend und kennzeichnen sie mit einer 1; die anderen drei Varietäten bekommen dagegen für die onomasiologische Kategorie „Kissen“ eine 0.

17

„Milchgefäß“

„Molke“

„Keller“

„Nagel“

„Gabel“

„Zettel“

„Alm“

„Salz“



1-FO

0

0

1

1

1

1

1

1

1

1

1



2-BG

0

0

1

1

1

1

1

0

0

1

1



3-SA

0

0

1

1

1

1

1

1

1

1

1



4-MA

1

1

0

0

1

1

1

0

0

1

1



5-GR

1

1

0

0

1

1

1

0

1

1

1



6-AL

1

1

0

0

1

1

1

1

1

1

1



7-RI

1

1

0

0

0

0

0

0

0

1

1



8-IS

1

1

0

0

0

0

0

0

0

1

1



„Kissen“

„Hocker“

„Kissenbezug“

Linguistische Distanz einschätzen

Tab. 3: Auszug der Kodierung von lexikalischer Übereinstimmung: Übereinstimmende Varianten (mit Wert 1) in grau

Oft können jedoch auch komplexere Fälle vorkommen, bei denen übereinstimmende Varietäten eigentlich nur die relative Mehrheit darstellen. Das ist z. B. bei der Karte „Milchgefäß“ der Fall, die fünf verschiedene Lexotypen aufweist, aber nur einer (mit mhd. gebiza verwandt) kommt in drei Varietäten vor, während die anderen Lexotypen nur einmal vorkommen. In diesem Fall bekommen die Varietäten der relativen Mehrheit eine 1, die anderen eine 0. Dies lässt sich so umdeuten, dass innerhalb einer onomasiologischen Kategorie eine starke Familie von ähnlichen Varietäten, die denselben Lexotyp teilen, von einer relativ großen Menge von deutlich differenzierten Varietäten, die je einen Lexotyp aufweisen, umgeben ist. Man muss sich vorstellen, dass sich der Graph aus der Überarbeitung der 0/1-Werte ergibt, die sich aus den einzelnen in einer Karte porträtierten onomasiologischen Kategorien herausziehen lassen. Die Matrix in Tabelle 3 spiegelt eine vereinfachte Form der Verteilung von Lexotypen unter den Walser Varietäten wider. Aufgrund des oben dargestellten Verfahrens entsteht eine Distanz-Matrix (siehe ein Beispiel unten in Tabelle 4), worauf sich „NeighborNet“ stützt, um den Graphen zu zeichnen (vgl. Abbildung 3). Der Auszug in Tabelle 3 erlaubt schon erste Feststellungen: In allen Karten stimmen die Werte von Issime und Rimella immer überein, sowohl wenn sie 1 als auch wenn sie 0 sind. In der Tat sind die Übereinstimmungen mit beiden Werten (1 und 0) zu finden: Zwei Varietäten stehen enger beisammen, auch wenn sie für dieselben onomasiologische Kategorien unterschiedliche Lexotypen vorweisen. Ferner wirken auch Karten wie „Kissenbezug“ oder „Zettel“ mit, die die Ähnlichkeit von zwei Varietäten quantitativ hervorheben, auch wenn in ihnen die Verteilung der ähnlichen Varianten eines Lexotyps nicht der geographischen Nähe der entsprechenden Walser-Kolonien entspricht. Offensichtlich heben die Daten dieser Karten noch einmal die Ähnlichkeit von Issime und Rimella hervor, aber auch

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Marco Angster / Silvia Dal Negro

z. B. jene von Formazza und Salecchio. Gleichzeitig wirken die identischen Werte von Alagna, Formazza und Salecchio einerseits und von Macugnaga und Rimella andererseits dahingehend, die Varietäten von Alagna und Macugnaga voneinander zu entfernen. Wenn wir für jede Varietät die Karten zählen, in der sie den mehrheitlichen Lexotyp aufweist, zeigt sich, dass die meisten Varietäten in der Mehrheit der onomasiologischen Kategorien übereinstimmen: Zum Beispiel weist Formazza in 60 von 82 Karten einen Lexotyp auf, der auch die relative Mehrheit der anderen Varietäten teilt, während die Anteile für Bosco Gurin 49/82, für Salecchio 55/82, für Macugnaga 51/82, für Gressoney 51/82 und Alagna 53/82 betragen. Es ist jedoch anzumerken, dass Rimella und Issime mit 36 übereinstimmenden Karten außerhalb des Spannungsfelds der Standardabweichung (48,9 ± 8,6 S. D.) liegen, d. h. in 46 Karten gehören sie zu den nicht-übereinstimmenden Varietäten. Dieses Ergebnis, so interessant es scheinen mag, spiegelt jedoch kaum die komplexen Gegebenheiten der Verteilung von übereinstimmenden und nicht-übereinstimmenden Varietäten wider. Die Bearbeitung der ganzen Matrix von 0- und 1-Werten der lexikalischen Übereinstimmung mit „NeighborNet“ ergibt den nachfolgenden Graphen (Abbildung 3), der die Spaltungen und die relative Distanz unter den Dialekten darstellt und uns damit eine adäquatere Interpretation der Daten erlaubt. 0.1

5-GR 6-AL

2-BG

4-MA

3-SA

1-FO

7-RI

8-IS

Abb. 3: Lexikalische Übereinstimmung: Graph

19

Linguistische Distanz einschätzen

Die zwei Sprachinseln, Rimella und Issime, liegen im unteren Bereich des Graphen und teilen sich eine Abzweigung, d. h. sie stimmen oft darin überein, dass sie von den anderen Varietäten abweichen. Was die anderen Dialekte angeht, so entspricht im Graphen der topographische Abstand der westlichen „Monte Rosa“Gruppe von der östlichen „Gotthard“-Gruppe dem sprachlichen Unterschied: Die Inseln sind sehr nah beieinander (.23), aber weit von den anderen Varietäten entfernt, z. B. hat die nächstliegende von allen, Macugnaga, einen Abstand von .33 von Rimella und von .37 von Issime. Der Graph zeigt auch, dass die Varietäten der östlichen Kolonien sowohl von den anderen Walser Varietäten weit entfernt als auch sehr nah beieinander sind: Besonders nah sind sich Formazza und Salecchio (.097), aber auch die Varietät von Bosco Gurin (.26 zu Formazza, .21 zu Salecchio), die mit den zwei anderen Varietäten der „Gotthard“-Gruppe die rechte Seite des Graphen teilt. Dagegen ist eine echte „Monte Rosa“-Gruppe in diesen Daten kaum zu finden, denn außer der relativen Nähe von Gressoney und Alagna (.26) ist Macugnaga von diesen Varietäten genauso weit entfernt (.33 beziehungsweise .35) wie von den zwei Inseln. Die schon erwähnten Abstandswerte gehen aus der Distanz-Matrix hervor, die vom quantitativen Vergleich der Reihen von 0 und 1 von jedem Paar der acht Varietäten entsteht. Die Distanz-Matrix selbst kann uns ein besseres Verständnis der lexikalischen Ähnlichkeiten zwischen den Südwalser Varietäten geben. Um solche Ähnlichkeiten ferner zu untersuchen, berücksichtigen wir jetzt die sprachhistorische Schichtung des Lexikons der jeweiligen Varietäten. Es geht hier darum festzustellen, inwiefern jede Südwalser Varietät Gemeinsamkeiten und Unterschiede in Bezug auf die lexikalische Herkunft der einzelnen Lexotypen mit den anderen Varietäten vorweist. 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1-FO

2-BG

3-SA

4-MA

5-GR

6-AL

7-RI

8-IS

Abb. 4: Sprachhistorische Schichtung: Anzahl der Lexotypen deutscher Herkunft im deutschromanischen Gegensatz

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Marco Angster / Silvia Dal Negro

Wir betrachten zuerst allgemein den deutsch-romanischen Gegensatz (siehe oben in Kapitel 3 eine Diskussion der sprachhistorischen Schichten). Mehr als die Hälfte der Karten weist einen deutschen Lexotyp – entweder vom Erbwortschatz, von den Weiterentwicklungen oder von den neuhochdeutschen Entlehnungen – auf, was nicht unbedingt zu erwarten war, da diese Dialekte seit 800 Jahren im Kontakt mit dem Romanischen stehen. Auch in diesem Fall liegen die Werte (graue Balken) der zwei Inseln Rimella und Issime unter dem Spannungsfeld der Standardabweichung (siehe die Werte in Abbildung 4). In Abbildung 4 stimmt die schwarze Linie mit der Kartenzahl (82) überein, während die punktierte Linie dem Mittelwert (63,75 Karten) entspricht und die gestrichelten Linien das Spannungsfeld der Standardabweichung (63,75 ± 10,2) begrenzen. Wiederum liegen sowohl Issime als auch Rimella unterhalb der (niedrigen) Linie der Standardabweichung. Die anderen Varietäten zeigen dagegen höhere und gleiche Werte, die innerhalb des Spannungsfeldes der Standardabweichung liegen. Sprachhist. Schichtung

1-FO

2-BG

3-SA

4-MA

5-GR

6-AL

7-RI

8-IS

1-FO

0

.15

.06

.13

.13

.22

.25

.37

2-BG

.15

0

.10

.14

.16

.24

.29

.40

3-SA

.06

.10

0

.10

.12

.23

.24

.37

4-MA

.13

.14

.10

0

.13

.17

.25

.36

5-GR

.13

.16

.12

.13

0

.16

.21

.33

6-AL

.22

.24

.23

.17

.16

0

.21

.36

7-RI

.25

.29

.24

.25

.21

.21

0

.23

8-IS

.37

.40

.37

.36

.33

.36

.23

0

Tab. 4: Sprachhistorische Schichtung: Distanz-Matrix

Die Distanz-Matrix in Tabelle 4 erlaubt eine weitere Einsicht: Die höchsten Distanzwerte weist Issime auf. Das bedeutet, dass sich Issime am stärksten von allen anderen Varietäten (außer Rimella) unterscheidet. Obwohl beide Inseln einen ähnlichen Anteil von Lexotypen vorweisen, die deutscher Herkunft sind (Rimella 51 und Issime 45), unterscheidet sich Rimella weniger als Issime von den (östlichen) „Gotthard“-Varietäten, nämlich Formazza, Bosco Gurin und Salecchio. Darüber hinaus sind die Distanz-Werte von Rimella von den „Gotthard“-Varietäten den Werten von Alagna ähnlich, obwohl Alagna eine größere Anzahl von deutschstämmigen Lexotypen als Rimella aufzeigt (68). Das bedeutet, dass die deutschen Lexotypen von Alagna und Rimella bei weniger onomasiologischen Kategorien als Macugnaga bzw. Gressoney, aber bei mehr Kategorien als Issime mit den „Gotthard“-Varietäten übereinstimmen. Gleichzeitig wird auch gezeigt, dass die Gruppierung bzw. relative Distanz von den Varietäten nicht direkt von der

21

Linguistische Distanz einschätzen

schlichten Anzahl von Lehnwörtern (oder umgekehrt von deutschstämmigen Lexotypen) abhängt, sondern von der Anzahl der einzelnen Korrespondenzen. Die Tatsache, dass Issime und Rimella sich beachtlich von den restlichen Südwalsern unterscheiden, wird im Graphen in Abbildung 5 dargestellt. Insbesondere entspricht die Länge der Issimer Abzweigung der großen Anzahl von Romanismen in Fällen, in denen andere Dialekte ein deutsches Wort aufweisen. Sieht man von den Daten der zwei Inseln ab, bekommt man wieder die „Monte Rosa“/„Gotthard“-Polarisierung, wenn auch mit interessanten Abweichungen (wie der relativen Distanz von Alagna), die weiter zu klären wären. 0.1

1-FO 3-SA 2-BG

5-GR

4-MA

6-AL

7-RI

8-IS

Abb. 5: Sprachhistorische Schichtung: Graph

22

Marco Angster / Silvia Dal Negro

Nachfolgend richtet sich der Fokus der Analyse auf das ererbte mittelhochdeutsche Lexikon (siehe oben Abbildung 2). In Abbildung 6 kann man sehen, wie viele onomasiologische Kategorien je dialektaler Varietät einen mittelhochdeutschen Lexotyp aufweisen. Der mittelhochdeutsche Erbwortschatz betrifft knapp die Hälfte der betrachteten Lexotypen mit keinem großen Unterschied zwischen den Dialekten, was der einheitlichen Herkunft zugeschrieben werden kann. 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0

1-FO

2-BG

3-SA

4-MA

5-GR

6-AL

7-RI

8-IS

Abb. 6: Anzahl der Lexotypen der ererbten mittelhochdeutschen Schicht

Wie in Abbildung 4 steht auch hier die schwarze Linie für die Kartenzahl (82), die punktierte Linie für den Mittelwert (39,5), während die gestrichelten Linien das Spannungsfeld der Standardabweichung (39,5 ± 5.1) begrenzen. Wieder weisen Rimella und Issime die niedrigsten Werte auf, die unter dem Spannungsfeld der Standardabweichung bleiben. Wenn man den „NeighborNet“-Graphen in Abbildung 7 betrachtet, kann man wieder das Paar Issime-Rimella aussondern, weil die zwei Inseln am nächsten beieinander liegen und gleichzeitig am weitesten von den anderen Walserorten entfernt sind. Wieder sind die „Gotthard“-Varietäten sehr nahe beieinander. Die geographische Dimension spiegelt sich hier im Graphen wider. Interessanterweise liegen Bosco Gurin und Issime an den extremen Polen des Graphen, was auch ihrer West-Ost-Lage entspricht. Schwieriger hingegen ist die Verteilung der übrigen „Monte Rosa“-Varietäten (Macugnaga, Gressoney und Alagna) zu erklären. Trotz der geographischen Nähe sind sie im Graphen einigermaßen weit voneinander – mindestens anhand der lexikalischen Daten, die wir betrachtet haben – und gleichzeitig aber auch von den anderen Varietäten entfernt: Die Verteilung der Varietäten ähnelt dem sternförmigen, radialsymmetrischen Graphen der gleichmäßigen Variation (siehe oben Abschnitt 4).

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Linguistische Distanz einschätzen 0.01

2-BG 3-SA

5-GR

1-FO

8-IS

4-MA

7-RI

6-AL

Abb. 7: Mittelhochdeutsche Schicht: Graph

6 FAZIT Kehren wir nun zu den außerlinguistischen Parametern, die am Anfang dieses Aufsatzes vorgestellt worden sind, zurück, um zu sehen, ob die außerlinguistische Gliederung der Gemeinschaften derjenigen, die aus dem lexikalischen Vergleich stammt, ganz oder teilweise entspricht. Wenn man die „SplitsTree“-Darstellung der drei linguistischen Parameter nimmt, die wir hier ausgewählt haben (lexikalische Übereinstimmung, deutsche vs. romanische Schicht, mittelhochdeutsche Schicht), kann man sehen, dass sowohl die administrative Gliederung (Italien im Gegensatz zur Schweiz, Piemont im Gegensatz zum Aostatal) als auch die demographischen Kriterien (kleinere Sprachgemeinschaften im Gegensatz zu größeren) kaum eine Rolle in der Verteilung der gegenseitigen Abstände im Lexikon spielen, d. h. in keinem Fall ist eine Distribution der dialektalen Varietäten zu finden, die den schweizerischen Walserort Bosco Gurin allen anderen Varietäten entgegenstellt oder die die Issimer und

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Marco Angster / Silvia Dal Negro

Gressoneyer Varietäten absondert. Dasselbe gilt für die demographische Variable: Die Dialekte von Salecchio, Bosco Gurin, Alagna und Rimella bilden keine Untergruppe, was das Lexikon betrifft, d. h. die Größe der Sprechergemeinschaft erweist sich nicht als relevant. Was jedoch die Graphen kenntlich machen, ist eine klare Absonderung der (vom deutschsprachigen Raum) isolierten Dialekte von Rimella und Issime bei allen drei linguistischen Parametern. Da sowohl Rimella als auch Issime zur „Monte Rosa“-Gruppe gehören, darf man die geographische Anordnung (und die entsprechende Besiedlungsgeschichte) als erklärenden Faktor nicht ganz ausschließen: In diesem Fall scheinen sich beide Faktoren gegenseitig zu verstärken. Somit bestätigt unsere Arbeit die Hauptrolle der Räumlichkeit in der Staffelung des Lexikons, selbst im Fall von diskontinuierlichen, geographisch verstreuten Sprachvarietäten. Was die angewandte Methodik anbelangt, hat die „SplitsTree“-Analyse uns erlaubt, die Daten nicht nur auf einer rein quantitativen Basis abzuschätzen (unter anderem im Sinne des Anteils von Lehnwörtern), sondern auch zu berücksichtigen, welche Muster von Ähnlichkeiten und Abständen die Varietäten aufweisen. Zum Beispiel verfügen Issime und Rimella, wie die anderen Walser Varietäten, über einen bedeutenden Anteil an deutschen (u. a. mittelhochdeutschen) Lexotypen. Was sie aber stark von den anderen Varietäten unterscheidet, ist die Verteilung solcher Lexotypen: Und das ergibt ihren beträchtlichen Abstand von den anderen Südwalsern im Hinblick auf die berücksichtigten onomasiologischen Kategorien. Eine andere Untergruppe zeichnet sich mittels der „SplitsTree“-Analyse ab, und zwar die sogenannte „Gotthard“-Gruppe, die die östlichen Gemeinschaften (Formazza, Salecchio und Bosco Gurin) vereinigt. Die Varietäten der „Gotthard“Gruppe weisen eigentlich einen geringen lexikalischen Abstand voneinander auf, der sich aus der engen historisch-geographischen Verwandtschaft erklärt. Diese Untergruppe liegt aber zentraler in den Graphen als die zwei Sprachinseln (Issime und Rimella), die eher durch den Abstand als durch die gegenseitigen Ähnlichkeiten gekennzeichnet sind. Schließlich bleiben noch drei Walser Varietäten übrig: Diejenigen von Gressoney, Alagna und Macugnaga. Ihre zentrale Lage in allen Graphen, aber besonders im sprachhistorischen Bereich, weist sie e x n e g a t i v o als die neutrale, unmarkierte Südwalser Sprachgruppe aus. Die „SplitsTree“-Analyse hat uns erlaubt, qualitative Betrachtungen über die Besonderheit einiger Walser Varietäten (insbesondere derjenigen von Issime und Rimella) als Distanz quantitativ darzustellen. Ferner kann diese Methodik sowohl mit lexikalischen Daten aus anderen Dialekten als auch mit phonologischen und morphosyntaktischen Daten derselben Dialekte wiederholt werden. Die Möglichkeit des quantitativen Vergleiches mit anderen sprachlichen Varietäten bietet zukünftige Forschungsperspektiven wie die Berechnung der sprachlichen Distanz der Südwalser Varietäten von schweizerdeutschen Dialekten bzw. von der Standardsprache.

Linguistische Distanz einschätzen

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LITERATURVERZEICHNIS ANGSTER, MARCO / SILVIA DAL NEGRO (2015): Il PALWaM tra documentazione dialettologica, lavoro sul territorio e ricerca linguistica. In: CUGNO, FEDERICA / LAURA MANTOVANI / RIVOIRA MATTEO (eds.): Lingue e culture delle Alpi. Bollettino dell’Atlante Linguistico Italiano (III serie) 39. Torino: Istituto dell’Atlante Linguistico Italiano, 125–146. ANTONIETTI, FEDERICA (ed.) (2010): Scrivere tra i Walser: per un’ortografia delle parlate alemanniche in Italia. Borgomanero: Associazione Walser Formazza. ANTONIETTI, FEDERICA / MONICA VALENTI / MARCO ANGSTER (eds.) (2015): Piccolo atlante linguistico dei Walser meridionali. Aosta: Tipografia Valdostana. BRYANT, DAVID / VINCENT MOULTON (2004): Neighbor-Net: An Agglomerative Method for the Construction of Phylogenetic Networks. In: Molecular Biology and Evolution 21(2), 255– 265. DAL NEGRO, SILVIA / VITTORIO DELL’AQUILA / GABRIELE IANNÀCCARO (2004): Walser in Piemonte. Un’indagine sociolinguistica. Milano: Centre d’Études Linguistiques pour l’Europe. DAL NEGRO, SILVIA / GABRIELE IANNÀCCARO (2015): Il significato del progetto. In: ANTONIETTI / VALENTI / ANGSTER (2015), 14–23. HUSON, DANIEL / DAVID BRYANT (2006): Application of Phylogenetic Networks in Evolutionary Studies. In: Molecular Biology and Evolution 23(2), 254–267. IANNÀCCARO, GABRIELE / VITTORIO DELL’AQUILA (2003): Investigare la Valle d'Aosta: metodologia di raccolta e analisi dei dati. In: CAPRINI, RITA (ed.): Parole romanze. Scritti per MICHEL CONTINI. Alessandria: Dell’Orso, 205–228. MCMAHON, APRIL / ROBERT MCMAHON (2006): Language Classification by Numbers. Oxford: Oxford University Press. RUSS, CHARLES (2002): Die Mundart von Bosco Gurin. Eine synchronische und diachronische Untersuchung. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 120). VON WALDENFELS, RUPRECHT (2012): Aspect in the imperative across Slavic. A corpus driven pilot study. In: Oslo Studies in Language 4(1), 141–154. ZINSLI, PAUL (1968): Walser Volkstum in der Schweiz, in Vorarlberg, Liechtenstein und Italien. Frauenfeld: Huber.



NEUERE ENTWICKLUNGEN DES ALEMANNISCHEN AN DER FRANZÖSISCH-DEUTSCHEN SPRACHGRENZE IM OBERRHEINGEBIET Peter Auer / Julia Breuninger / Martin Pfeiffer 1 EINLEITUNG Im Zuge der Diskussion über die Veränderung der sozialen, politischen und wirtschaftlichen Verhältnisse in einer postindustrialisierten, globalisierten Welt ist in den Sozialwissenschaften in den vergangenen zwei Jahrzehnten intensiv über die Neubewertung der Staatsgrenzen diskutiert worden. Begriffe wie border regions oder contact zones suggerieren die tendenzielle Auflösung der Bedeutung politischer Grenzen, die mit einer Schwächung der Nationalstaaten und der Erstarkung über-nationaler Strukturen (wie etwa der Europäischen Union) Hand in Hand gehen. Das Projekt FLARS, über das wir hier berichten,1 hat sich vor diesem Hintergrund die Aufgabe gestellt zu untersuchen, ob und ggfs. wie sich die – materiell nicht mehr vorhandene – deutsch-französische Staatsgrenze am Oberrhein auf die Entwicklung des alten Dialektkontinuums zwischen Elsass und Baden auswirkt. Nach den Befunden der traditionellen Sprachgeografie verlaufen die wesentlichen sprachlichen Isoglossen meist nicht entlang des Rheins, sondern in Nord-SüdStaffelung. Dies sollten ideale Voraussetzungen für die Entwicklung eines gemeinsamen, grenzüberschreitenden Sprachraums, also für sprachliche Konvergenz sein. Im vorliegenden Beitrag werden wir zwei Szenarios für die Beziehung zwischen Staatsgrenze und Dialektgrenze untersuchen, die dieser Annahme eines grenzüberschreitenden Dialektraums widersprechen und vielmehr andauernde oder sogar zunehmende sprachliche Divergenz belegen:

1

FLARS = „Frontière Linguistique au Rhin Supérieur“, gefördert seit 2012 von der DFG und der ANR (Projektleiter P. AUER und D. HUCK). Der vorliegende Beitrag geht auf die Arbeiten der deutschen Seite zurück. Wir danken unseren elsässischen Kollegen, insbesondere PASCALE ERHARD, für die Durchführung der Datenerhebung im Elsass sowie die Transkription der Aufnahmen. Die Datenerhebung auf deutscher Seite wurde von JULIA BREUNINGER und MARTIN PFEIFFER durchgeführt. Die Datenauswertung zur R-Realisierung stammt von PETER AUER, zur b-Frikativierung und zur û-Palatalisierung von JULIA BREUNINGER. Der vorliegende Text wurde vom Erstautor geschrieben.

28 –



Peter Auer / Julia Breuninger / Martin Pfeiffer

1. Szenario: Das sprachliche Merkmal war in jüngerer Zeit (d. h. mindestens den letzten 100 Jahren) immer schon ein an der (existierenden oder nicht mehr/schon wieder existierenden) Staatsgrenze am Rhein trennscharfes Unterscheidungsmerkmal, wurde aber von den Dialektologen mehr oder weniger vollständig ignoriert. Wir zeigen anhand des Beispiels der R-Realisierung in der Silbenkoda, dass sich in diesem Fall auch in der jüngeren Zeit kein Wandel ergibt, d. h. die mit der politischen übereinstimmende sprachliche Grenze wird nicht überwunden. 2. Szenario: Die geografische Verteilung des sprachlichen Merkmals stimmt traditionellerweise nicht mit der Rheingrenze überein, weil die westliche Form über den Rhein nach Osten hin verbreitet war. Hier beobachten wir rechtsrheinisch einen Abbau des Merkmals und dadurch eine stärkere Profilierung der Staatsgrenze als Sprachgrenze. Wir zeigen dies anhand der Frikativierung von intervokalischem /b/ und anhand der Palatalisierung von mhd. û.

Grundlage sind Erhebungen in 43 Untersuchungsorten entlang der Staatsgrenze (die auch im SSA bzw. ALA erfasst wurden); in jedem Erhebungsort wurden bis zu 8 Gewährspersonen befragt (soweit dies im Elsass noch möglich war), stratifiziert nach Alter (60–70; 25–35), beruflichem Milieu (Handwerk/bäuerlich vs. kommunikationsorientiert, nach MATTHEIER 1994) und Geschlecht. Die Erhebung umfasste die Abfrage von Übersetzungssätzen sowie ein interviewartiges Gespräch auf der Grundlage eines Interviewleitfadens, das auch eine ethnodialektale Abfrage einschloss (weitere Details finden sich in AUER et al. 2015). 2 HINTERGRUND Die französisch-deutsche Grenze im Oberrheingebiet unterscheidet sich von den anderen westgermanischen Dialektkontinua über politische Grenzen hinweg in einem wesentlichen Punkt: Anders als etwa zwischen Bayern und Österreich, Baden-Württemberg und der Schweiz oder Bayern und Thüringen ist die geschriebene und gesprochene Standard-Varietät links und rechts des Rheins heute nicht dieselbe; die beiden Standard-Varietäten – Deutsch und Französisch – sind nicht einmal eng miteinander verwandt (wie zwischen den Niederlanden und dem niederdeutschen Sprachgebiet). Wir haben es vielmehr im Elsass und in Baden mit zwei sehr unterschiedlichen Repertoiretypen zu tun. Das Französische beeinflusst den elsässischen Dialekt durch lexikalische Entlehnungen, strukturelle Einflüsse (vor allem in der Morphosyntax und Syntax; vgl. BOTHOREL-WITZ / HUCK 2000; 2001) sowie indirekt durch Code-Switching und Mixing (vgl. GARDNER-CHLOROS 1991). Auf der deutschen Seite sind diaglossische Repertoires entstanden, in denen die alten Grunddialekte in regionaldialektale Sprechweisen übergehen (vgl. STRECK 2012; SCHWARZ 2014). Dialektologische Untersuchungen zu den Auswirkungen dieser unterschiedlichen Repertoiretypen auf die Dialekte im oberrheinischen Gesamtgebiet gibt es allerdings bisher nicht. Für die Zeit des späten 19. und des frühen 20. Jahrhun-

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29

derts, als die deutsche Standardvarietät auch im Elsass noch den Status einer überdachenden H-Varietät hatte, gilt immer noch die Arbeit von MAURER (1942) als maßgeblich, die von einer dialektalen Einheit des Gebiets ausgeht und die rheinische „Staffellandschaft“ vor allem auf Verkehrsbewegungen auf dem und entlang des Rhein(s) zurückführt. In der Nachkriegszeit wurden kaum mehr grenzüberschreitende Erhebungen durchgeführt. Zu den wenigen Ausnahmen gehört BEYERS Arbeit über die Palatalisierung im Vokalsystem (BEYER 1964). Allerdings wurden in den 1950er bis 1970er Jahren für die beiden Gebiete getrennt Regionalatlanten erstellt – der „Atlas linguistique et éthnographique de l’Alsace“ (ALA) sowie der „Südwestdeutsche Sprachatlas“ (SSA), beide auf Grundlage von Elizitationsdaten von Informanten, die meist noch vor 1900 geboren waren. Auch sie zeigen noch eine gut intakte gemeinsame Dialektstruktur, die trotz verschiedener Ost-West-Unterschiede in erster Linie in Süd/Nord-Richtung gestaffelt ist.2 Für die Untersuchung einer Grenzregion sind jedoch nicht nur die strukturellen Veränderungen innerhalb eines Repertoires wichtig, sondern auch die ideologischen und attitudinalen Grundlagen der heutigen Dialektstruktur, Dialektgeografie und Dialektverwendung im Gesamtoberrheingebiet. BISTER-BROOSEN hat (mit Daten aus den späten 1970er Jahren, veröffentlicht erst 1998) auf der Basis einer Fragebogenenquête die Einstellungen von Jugendlichen auf beiden Seiten der Grenze zu den in ihrem Repertoire vorhandenen Varietäten vergleichend behandelt. Sie fand weitgehende Unkenntnis und Desinteresse auf beiden Seiten des Rheins über die Situation im anderen Land. Unterschiedliche Ideologien zum sprachlichen Repertoire scheinen in ihrer Untersuchung u. a. in dem Ergebnis auf, dass die deutschen Jugendlichen zwar die Notwendigkeit des eigenen Französisch-Erwerbs für äußerst gering halten, umgekehrt aber erwarten, dass sie sich im Elsass auf (Hoch-)Deutsch verständigen können. 3 ALTE ÜBEREINSTIMMUNGEN VON SPRACHGRENZE UND POLITISCHER GRENZE: DIE REALISIERUNG DES CODA-/R/ Das in der älteren deutschen Dialektologie verbreitete Bild von einer oberrheinischen Staffellandschaft, die ausschließlich durch quer zum Rhein, nie aber entlang der deutsch-französischen Grenze (also entlang des Rheins) verlaufende Isoglossen gekennzeichnet ist, wurde besonders von MAURER propagiert: „Daß die Lande rechts und links des Rheins sprachlich aufs engste zusammengehören, daß die Menschen zu beiden Seiten des Stroms die gleichen Mundarten sprechen, das wird besonders an dem Bild der R h e i n s t a f f e l n deutlich […]. Die Sprachgrenzen verlaufen quer zum Strom“ (MAURER 1942, 271–272; Auszeichnung im Original). 2

Zusammenfassende und interpretierende Arbeiten zur Gesamtsituation des Oberrheingebiets auf diesem empirischen Stand sind bei KLAUSMANN (1990; 2000) und SCHRAMBKE (1981) zu finden.

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Peter Auer / Julia Breuninger / Martin Pfeiffer

Abb. 1: MAURERS Darstellung der „Rheinstaffel“ (aus MAURER 1942). Die gewählten Merkmale trennen in erster Linie nördliche von südlichen Gebieten ab. Allerdings zeigt sich selbst bei diesen Dialektmerkmalen, dass der Rhein in Teilen des Gebiets die Dialektgrenze ist: die Isoglossen verlaufen in vielen Fällen im links- und rechtsrheinischen Gebiet unterschiedlich weit nach Süden verschoben.

„So spielt der O b e r r h e i n i m g a n z e n gesehen k e i n e R o l l e a l s S p r a c h g r e n z e ; die Lande an seinen beiden Ufern gehören heute wie früher aufs engste zusammen“ (MAURER 1942, 284; Auszeichnungen im Original). Es bedarf kaum der Erwähnung, dass diese Einschätzung in einem 1942 erschienenen Buch, das

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„unseren Kameraden an der Front und bei der Wehrmacht“ gewidmet war, auch ein politisches Statement war. MAURERS Darstellung der „Rheinstaffeln“ (vgl. Abbildung 1) ist nicht zuletzt durch die geschickte Wahl der Merkmale bedingt. Einerseits kann kein ernsthafter Zweifel daran bestehen, dass viele Dialektgrenzen im Oberrheingebiet durch aus dem Norden vordringende Innovationen bedingt sind, die oft im linksrheinischen Gebiet schneller voranschritten. Andererseits gab es auch schon zu MAURERS Zeiten Gegenbeispiele, also sprachliche Merkmale, die eine eindeutige, mit dem Rhein übereinstimmende Ost-West-Gliederung implizieren. In Teilen des untersuchten Gebiets gilt das für alle Merkmale, die hier besprochen werden. Auf seiner gesamten Erstreckung gilt es für die Realisierung des silbenauslautenden /R/. Während im Elsass das Coda-/R/ zumindest in der Vollsilbe durchweg als uvularer (meist stimmhafter) Frikativ realisiert wird, findet man im deutschen Gebiet überall Vokalisierung, bestenfalls Approximantrealisierung. Dabei handelt es sich nach Ausweis der älteren dialektologischen Untersuchungen zum Elsässischen keineswegs um eine rezente Divergenz (die etwa durch den verstärkten Einfluss des Französischen in der Nachkriegszeit bedingt wäre: denn offensichtlich ist die Frikativrealisierung dem Französischen viel näher als die Vokalisierung). Vielmehr schreibt bereits HENRY (1900, 49) über den Dialekt von Colmar um die Zeit von 1870: „Mhd r se maintien toujours“; „[il est] franchement uvulaire, très peu roulé, mais un peu plus à l’initiale que partout ailleur.“ Nur in Reduktionssilben werde /er/ „en voyelle“ realisiert.3 Im rechtsrheinischen Gebiet gibt es keine Aussagen aus derselben Zeit; zumindest für die Gewährspersonen des SSA (die in der Regel noch im 19. Jahrhundert oder kurz nach der Jahrhundertwende geboren sind) gilt aber ausweislich der Tonaufnahmen Vokalisierung. Die Realisierung des auslautenden /R/ in unseren Abfrage-Daten ist in den Abbildungen 2 und 3 zu sehen. Abbildung 2 zeigt die geografische Verteilung von R-Vokalisierung (schwarz) und R-Realisierung als Frikativ (rot) im Abfragewort Garten (Prozentwerte).4 Abgesehen von einem einzigen Beleg in Meißenheim bei Offenburg finden sich im deutschen Alemannischen ausschließlich Vokalisierungen. Im Elsass überwiegen hingegen die Frikativrealisierungen – abgesehen von den beiden nördlichsten, noch südfränkischen Erhebungsorten Scheibenhard und Mothern – bei weitem. Zwar kommen in vielen Erhebungsorten auch manchmal Vokalisierungen vor, die als Resultat eines natürlicher Schwächungsprozesses zu erklären sind; sie sind aber mit Ausnahme von zwei Orten immer sehr deutlich in der Minderzahl. Dasselbe gilt für die R-Vokalisierung (schwarz) vs. R-Realisierung als Frikativ (rot) im Abfragewort mir ‘wir’ (Abbildung 3, Beispielsatz: wir 3 4

Die Realisierung in der Reduktionssilbe ist in unseren Daten variabel; oft wird auch hier ein Frikativ realisiert. Approximanten, die gelegentlich im rechtsrheinischen Gebiet vorkommen, wurden mit 0,5 Punkten gezählt. Die Variation zwischen Kurz- und Langvokal im rechtsrheinischen Untersuchungsgebiet wurde nicht kartiert. Pro Ort gibt es 4–8 Belege.

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sehen noch ganz gut ohne Brille, Prozentwerte). Der Unterschied zwischen Inhalts- und Funktionswort scheint keinen Effekt zu haben.

Abb. 2: Realisierung des Coda-/R/ im Abfragewort Garten, FLARS-Daten

Abb. 3: Realisierung des Coda-/R/ im Abfragewort wir im Satz wir sehen noch ganz gut ohne Brille, FLARS-Daten

Die strikte Teilung des Gebiets an der Rheingrenze gilt unterschiedslos für Sprecher/innen der verschiedenen Alters- und Milieugruppen, für die Spontansprache genauso wie für die Abfragedaten, unabhängig vom lexikalischen Kontext. Aufgrund der relativen hohen Frequenz von Wörtern mit Coda-R ist dessen Realisierung vielleicht das wichtigste Merkmal, um Elsässer Sprecher schon nach dem oberflächlichen Höreindruck zu erkennen. Die rechtsrheinischen Befragten nehmen diesen Unterschied auch wahr, obwohl sie ihn explizit nie als Stereotyp des Elsässischen benennen; wenn sie jedoch das Elsässische imitieren, realisieren sie teils das auslautende /r/, anders als in ihrer eigenen Sprache, als uvularen Frikativ (so in den ethnodialektologischen Interviews in Meißenheim 1, GP1_1398; Plittersdorf 6, GP1_1421 und Auenheim 8, GP1_1325).

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4 ABBAU GRENZÜBERSCHREITENDER DIALEKTMERKMALE IM RECHTSRHEINISCHEN GEBIET 4.1 Frikativierung des intervokalischen /b/ Unter den Beispielen für dialektale Merkmale, deren traditionelle Isoglossen nicht – oder jedenfalls nicht im gesamten Untersuchungsgebiet – der Rheingrenze folgen, betrachten wir zunächst die Schwächung (Frikativierung) des zwischenvokalischen /b/, etwa in Wörtern wie Gabel, Hobel, geblieben, bleiben, Tauben, Grieben, Buben. Abbildung 4 zeigt den Verlauf nach der Erhebung des SSA.5 Die Isoglosse verläuft zwar teils entlang des Rheins, die von Norden kommende Frikativierung ist aber im Elsass deutlich weiter in den Süden vorgedrungen als im badischen Teil des Untersuchungsgebiets. Der Vergleich der SSA-Isoglosse mit den spontansprachlichen Daten aus derselben Zeit und von ähnlichen Gewährspersonen zeigt nach STRECK (2012) im alten Frikativierungsgebiet in Deutschland ebenfalls nur wenig Plosivrealisierungen, allerdings überall im SSA-Gebiet gelegentliche spontane Frikativierungen. Sie dürften einer allgemeinen phonetischen Lenisierungstendenz geschuldet sein. Vergleicht man nun die Abfragedaten des SSA mit unserer Erhebung (also dem Stand zu Beginn der 2010er Jahre), so ergibt sich – zunächst über alle Gewährspersonen gemittelt – das Bild in Abbildung 5. Im traditionellen Frikativierungsgebiet hat sich im Elsass nichts verändert: Der Anteil der Frikativierungen liegt bei 98,3 %, d. h. die Frikativierung ist praktisch obligatorisch. Im westlichen, deutschen Teil hat jedoch eine massive Angleichung an die standardsprachliche (und regionaldialektale) Plosivrealisierung stattgefunden: Nur noch 40,5 % der Belege im Lenisierungsgebiet des SSA werden als Frikativ realisiert. Der Unterschied zwischen Elsass und Baden ist dabei höchst signifikant (χ² [1] = 325,989; p < 0,000**; Cramer-V = 0,616). Der sprachliche Wandel im rechtsrheinischen Gebiet zeigt sich noch deutlicher, wenn man die FLARS-Abfragedaten für die beiden untersuchten Altersgruppen getrennt auswertet (vgl. die Karten in Abbildung 6 aus BREUNINGER 2015). In diesen Karten sind die Daten lediglich danach kategorisiert, ob in den Erhebungsorten durchgängig die eine oder andere Realisierung auftritt oder Variation beobachtet wurde. Es zeigt sich, dass rechtsrheinisch in allen Erhebungsorten im alten Frikativierungsgebiet entweder Variation auftritt oder – zunehmend in der jüngeren Generation – nur noch die Plosivrealisierung zu beobachten ist. Tabelle 1 (aus BREUNINGER 2015) differenziert die quantitativen Ergebnisse nach den Parametern Alter, Milieu und Geschlecht. Es zeigen sich keinerlei Unterschiede im Elsass, während die Frikativierungen von der älteren zur jüngeren Sprechergruppe in Baden höchst signifikant von ca. 60 % auf ca. 20 % zurückgehen (χ² [1] = 77,971; p < 0,000**; Cramer-V = 0,414). Der Unterschied zwischen 5

Eine detaillierte Diskussion des Isoglossenverlaufs in den Erhebungen von OCHS, BOHNENBERGER, HAAG sowie WENKER findet sich bei STRECK (2012, Kap. 6).

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den beiden Milieugruppen ist im badischen Teil des Gebiets zwar ebenfalls hypothesenkonform, erreicht aber kein signifikantes Niveau: In der handwerklich-landwirtschaftlichen Milieugruppe sind die Frikativierungswerte etwas höher als in der kommunikationsorientierten.

Alter Berufliches Milieu Geschlecht

60–70 Jahre

Baden

Elsass

59,4 %

98,2 %

25–35 Jahre

19,2 %

97,7 %

handwerklich/landwirtschaftlich

44,6 %

97,7 %

kommunikationsorientiert

34,4 %

98,3 %

männlich

41,8 %

97,5 %

weiblich

37,2 %

98,7 %

Tab. 1: Prozentualer Anteil der Frikativierung von intervokalisch /b/ in den FLARS-Abfragedaten in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Milieu und Region

Die Auswertung des spontansprachlichen Materials (Tabelle 2, beruhend auf 2336 Belegen, aus BREUNINGER 2015), bestätigt dieses Bild. Die Werte für die Frikativrealisierung liegen zwar im Elsass minimal niedriger als in den Abfragedaten, bleiben aber mit um die 90 % extrem hoch. Keine der externen Variablen hat einen signifikanten Effekt. Ganz anders im rechtsrheinischen Gebiet: Die Werte für die Frikativierung liegen etwas höher als in der Abfrage, was in erster Linie durch spontane Frikativierungen bedingt ist, alle Sozialparameter haben jedoch einen höchst signifikanten, hypothesenkonformen Effekt. Die Frikativierung geht in der jüngeren Sprechergruppe von 65,5 % auf 39,2 % zurück (χ² [1] = 200,521; p < 0,000**; Cramer-V = 0,262), bei den kommunikationsorientierten Sprechern ist sie 9 % seltener als bei den Sprechern aus dem handwerklich-landwirtschaftlichen Milieu (χ² [1] = 21,836; p < 0,000**; Cramer-V = 0,086), und Frauen haben etwa um 12 % höhere Werte für die standardnähere Realisierung (χ² [1] = 45,727; p < 0,000**; Cramer-V = 0,125).6 Es kann also kein Zweifel bestehen, dass die Frikativrealisierung in Deutschland im Abbau begriffen ist, während sie im Elsass stabil bleibt. Daraus ergibt sich, dass die Staatsgrenze auch im nördlichen Untersuchungsgebiet, wo traditionellerweise die links- wie rechtsrheinischen Dialekte durch Frikativierung von intervokalischem /b/ gekennzeichnet waren, immer mehr zu einer Sprachgrenze wird. Grund dafür ist der Wandel im deutschen Sprachgebiet, der in Richtung auf die standardsprachlichere Realisierung voranschreitet. 6

Geschlechtsunterschiede ergeben sich in den südwestdeutschen Dialektdaten nur selten. Dass sie in diesem Fall nachweisbar sind, könnte mit der Tatsache zu tun haben, dass die Frikativierung von /b/ ein nicht-salientes Phänomen ist, also im Sinne der LABOV’schen Soziolinguistik ein „marker“.

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Abb. 4: Frikativierung von inlautend /b/ nach den Abfrage-Daten des SSA (Karte II/109.00) in Gabel, Hobel, geblieben, bleiben, Tauben, Grieben, Buben u. a. und des ALA (Karte II/292) in Nebel). Die Punktsymbole zeigen den damaligen Zustand in unseren Erhebungsorten.

Die b-Frikativierung wird von den deutschen Gewährspersonen (noch) nicht als typisches Merkmal des Elsass angesehen. Sie scheint nicht salient zu sein und wird von keiner Gewährsperson als Unterscheidungsmerkmal genannt. Ihr Abbau ist also keinesfalls im Sinne einer aktiven Abgrenzung gegen das Elsass zu verstehen; sie ist vielmehr eine von der Grenzsituation insgesamt völlig unbeeinflusste Entwicklung, die dem allgemein vorherrschenden südwestdeutschen Muster entspricht.

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Abb. 5: Realisierung des intervokalischen /b/ in den Wörtern bleiben, geschrieben, sieben, Leber laut FLARS-Abfragedaten (alle Gewährspersonen, grau = Anteil der Plosive, schwarz = Anteil der Frikative in Prozent) im traditionellen Frikativierungsgebiet. Die durchgezogenen Linien entsprechen den traditionellen Isoglossenverläufen laut SSA und ALA. Es liegen 587 Belege zugrunde. Spontansprache linksrheinisch

Spontansprache rechtsrheinisch

60–70

89,2 % (545)

65,5 % (1099)

25–35

92,6 % (200)

39,2 % (492)

handwerklich/landwirtschaftlich

87,2 % (335)

58,5 % (871)

kommunikationsorientiert

92,6 % (410)

49,9 % (720)

männlich

88,6 % (359)

60,3 % (910)

weiblich

91,5 % (386)

47,9 % (681)

Alter Berufliches Milieu Geschlecht

Tab. 2: Prozentualer Anteil der Frikativierung von intervokalisch /b/ in den spontansprachlichen FLARS-Daten in Abhängigkeit von Alter, Geschlecht, Milieu und Region

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Abb. 6: Verbreitung der Frikativierung von intervokalisch /b/ in den FLARS-Abfragedaten anhand der Belege für Leber, bleiben, sieben und geschrieben. Links die Sprecher der Altersgruppe 60–70 Jahre, rechts die Sprecher der Altersgruppe 25–35 Jahre. Die graue Linie entspricht der ALA/ SSA-Isoglosse.

4.2 Die Palatalisierung von mhd. û Als zweites Beispiel für eine phonologische Isoglosse, deren Verlauf traditionell nicht mit der Staatsgrenze übereinstimmt, betrachten wir die Palatalisierung der /u/-Laute und beschränken uns dabei auf die Realisierung von mhd. û. Die Palatalisierung ist eine westliche (elsässische) Innovation, die aber in den traditionellen Dialekten nicht am Rhein haltmacht, sondern in einem Teil des Untersuchungsgebiets weiter nach Osten ausgreift. Als Beispiel ist in Abbildung 7 das Wort Maus (Sg.) kartiert. (Die Palatalisierung erfasst auch mhd. u, ou und uo, wo der Kartenverlauf jeweils anders ist. Eine genaue Darstellung der historischen Verhältnisse gibt BEYER 1964.) Die Palatalisierungsgrenze fällt im Norden mit der Grenze zum Südfränkischen zusammen; abgesehen davon wird im Elsass durchweg die palatalisierte Form (/my:s/ oder Varianten) genannt. Im rechtsrheinischen Gebiet gilt prinzipiell die ungerundete Form, aber in zwei kleineren, grenznahen Räumen – einem größeren um unsere Erhebungsorte Jechtingen, Endingen, Herbolzheim und Kappel-Grafenhausen, d. h. im Bereich des Kaiserstuhls und nördlich davon, und

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einem kleineren, etwas südlicheren um Neuenburg am Rhein – hat sich die Palatalisierung auch in den badischen Orten verbreitet. In den FLARS-Abfragedaten ergibt sich das in Abbildung 8 kartierte Bild. Die Situation im Elsass ist stabil (97,3 % palatalisierte Formen von abgefragtem Maus, Schaufel, brauchen); nur selten treten (in der jüngeren Generation) nichtpalatalisierte Formen auf. Im rechtsrheinischen Raum deutet sich in den südlichen Erhebungsorten eine wohl horizontale Anpassung an die umgebenden Dialekte an (nicht an den Standard-Diphthong!); im Wesentlichen ist die Palatalisierung im alten rechtsrheinischen Palatalisierungsgebiet aber ein noch recht gut bekanntes Dialektmerkmal (69,6 % Nennungen bei den Belegwörtern; vgl. Tabelle 3). Ein deutlicher Rückgang (auf 36 % vs. gleichbleibenden 98,3 % im Elsass) ergibt sich in Deutschland erst in der Spontansprache (Abbildung 9). Verantwortlich sind dafür die jüngeren und die kommunikationsorientierten Gewährspersonen, wie Tabelle 3 zeigt. Die Verwendung der Palatalvokale geht in der Generation der 2535-jährigen Sprecher und Sprecherinnen auf 22,4 % zurück, in der Gruppe aus dem kommunikationsorientierten beruflichen Milieu auf 23,4 %; beide Veränderungen sind höchst signifikant (χ² (1) = 27,535; p < 0,000**; Cramer-V = 0,221 und (χ² (1) = 51,574; p < 0,000**; Cramer-V = 0,302). Die Palatalisierung wird also in der Spontansprache der heutigen Gewährspersonen seltener, als Bestandteil des Dialektwissens ist sie aber zumindest im Gebiet nördlich des Kaiserstuhls noch vergleichsweise stabil. Die Staatsgrenze wird erst langsam auch zur Dialektgrenze. Die û-Palatalisierung ist ein Dialektstereotyp des Elsass. Sie wird von den Badener Gewährspersonen außerhalb des traditionellen Palatalisierungsgebiets in Deutschland immer wieder als typisch elsässisch genannt („mir gehen trepp nuf, stehn uf, und die gehen nüf und die gehen raus – nüs (.) und mir gehen nus“, Au am Rhein 3, 10:07; „also wenn jetzt irgendwas abe plumpst oder ab abe abe fallt, dann sage die immer p plümps, also immer irgendwie so n (-) mehr mehr s ü als s u “, Holzen 3, 19:26). Trotzdem scheint dieses Stereotyp die Gewährspersonen im Gebiet nördlich des Kaiserstuhls nicht motiviert zu haben, das Merkmal schnell aufzugeben. Der allmähliche, teils horizontal gesteuerte Übergang zum großräumigeren /u:/ oder gar /au/ ist nicht darauf zurückzuführen, dass man nicht elsässisch klingen will; vielmehr ist er – wie auch die b-Frikativierung, aber im Vergleich zu diesem nicht salienten Merkmal sogar verlangsamt – dem allgemeinen Abbau kleinräumiger dialektaler Formen im deutschen Südwesten zuzuschreiben. Der Vergleich zwischen b-Frikativierung und û-Palatalisierung zeigt, dass saliente Merkmale nicht immer schneller abgebaut werden, wenn sich Dialekte in Richtung auf standardnähere, weniger kleinräumige Sprechweisen verändern. Gerade ein kleinräumiges, salientes Merkmal kann für die Sprecher regionale und lokale Zugehörigkeit signalisieren und aus diesem Grund erhalten bleiben (vgl. AUER 2014 zum Salienzbegriff in der Sprachwandelforschung).

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Abb. 7: Palatalisierung von mhd. û in den traditionellen Dialekten nach den Abfrage-Daten des SSA (Karte II.27.00) und des ALA (Karte II.230) im Wort Maus. Die Punktsymbole zeigen den damaligen Zustand in unseren Erhebungsorten.

Alter Berufliches Milieu Geschlecht

spontansprachlich

Abfrage

60–70

44,3 %

70,7 %

25–35

22,4 %

68,5 %

handwerklich/landwirtschaftlich

52,7 %

64,1 %

kommunikationsorientiert

23,4 %

75 %

männlich

33,9 %

66,3 %

weiblich

38,5 %

72,8 %

Tab. 3: Prozentualer Anteil der Palatalisierung in den traditionellen rechtsrheinischen Palatalisierungsorten in den Abfrage- vs. Spontandaten

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Abb. 8: û-Palatalisierung in den FLARSAbfragedaten (n = 551) im traditionellen Palatalisierungsgebiet, beruhend auf den Belegwörtern Maus, Schaufel, brauchen

Abb. 9: û-Palatalisierung in den FLARSSpontandaten (n = 769) im traditionellen Palatalisierungsgebiet

5 ABSCHLIEẞENDE BEMERKUNGEN Nach den bisherigen Ergebnissen des Projekts wird die deutsch-französische Staatsgrenze im Oberrheingebiet immer mehr auch eine Sprach- und Dialektgrenze. Im Elsass haben die noch verbliebenen Elsässischsprecher ihren Dialekt kaum abgebaut. Im deutschen Teil des Untersuchungsgebiets sind dort, wo sie üblich waren, die alten, mit dem Elsass konvergierenden Lautmerkmale trotz leichter Abbauerscheinungen und Unsicherheiten noch bewusst; sie werden aber, der Tendenz zum diaglossisch strukturierten Dialektabbau in Südwestdeutschland folgend, immer weniger verwendet und zugunsten regionaldialektaler Strukturen abgebaut. Dieser Abbau erfolgt innerhalb der nationalen Grenzen, wo eine starke überdachende Standardsprache in die traditionellen Domänen des Dialekts eindringt und die alten Dialekte mehr und mehr durch Regiolekte ersetzt werden. Die Dynamik ist eine, die auf die Grenzen des Nationalstaats eingeschränkt ist, ohne allerdings die nationalstaatliche Ideologie des 19. und frühen 20. Jahrhunderts zu benötigen: Der Standard ist nicht nationales Symbol, um das gekämpft werden muss, sondern unbestrittene Normalität (vgl. AUER, 2017; AUER / SPIEKERMANN

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2011). Dasselbe gilt für den Abbau des elsässischen Dialekts als Alltagssprache zugunsten des Französischen: Auch diese Standardsprache ist selbstverständlicher Besitz aller Sprecher. Es sind eher die Elsässisch-Kompetenzen, die mit aktiver Bemühung um den Spracherhalt verbunden sind. Die grenzübergreifende Dynamik in der Oberrheinregion ist – diesem Bild entsprechend – weder durch aktive Abgrenzung noch durch aktive Identifizierung mit einem gesamtalemannischen Raum gekennzeichnet. Vielmehr ist zumindest im Bewusstsein der jüngeren Generation auf beiden Rheinseiten die grenznahe Region im Nachbarland zunehmend nicht mehr präsent. Eine durch Sprache und kulturelle Geschichte geprägte gemeinsame Identität fehlt bei ihnen. An ihre Stelle treten Stereotypen über die nationale Identität der ‚Anderen‘, die oft auf nationaler, nicht auf regionaler Ebene operieren (‚die Franzosen‘, ‚die Deutschen‘). Was bedeuten unsere Ergebnisse für die alte junggrammatische These, dass sprachliche Divergenz und Konvergenz Resultat fehlender oder starker Kommunikationsfrequenz sind?7 Die Gleichsetzung von politischen Grenzen und Verkehrsschranken ist selbst problematisch und hält einer genaueren Überprüfung nicht stand. Die kommunikationsbehindernde Kraft der politischen Grenzen in Europa war mindestens bis in die Mitte des 19. Jahrhunderts eher gering und der kleinräumige Austausch in der Grenzregion – bei weitläufiger Zweisprachigkeit – oft intensiv, und zwar unabhängig von der jeweiligen politischen Zugehörigkeit (vgl. etwa für Lothringen: SCHLESIER 2007). Die politische Verschiebung einer Grenze bedeutete noch nicht notwendigerweise eine kulturelle, teils noch nicht einmal eine wirtschaftliche Reorientierung der Bewohner des jeweiligen Gebiets. Dazu bedurfte es der gesellschaftlichen Konstruktion der Grenze als Nationalgrenze, wie sie in der europäischen Moderne in der Regel erst im 19. Jahrhundert einsetzt (vgl. beispielhaft für das Elsass: RIEDERER 2004 für die Zeit nach 1870). Frühestens ab der Französischen Revolution wird die französische Sprache im Elsass für das Bürgertum als Abgrenzung gegen Deutschland relevant; erst ab etwa 1870 wird die (nun anders verlaufende) deutsche West- und französische Ost-Grenze ideologisch untermauert und auch faktisch zu einem Kommunikationshindernis. Die Unzulänglichkeiten einer rein auf „Verkehr“ als Explanandum für sprachliche Divergenzen aufbauenden linguistischen Theorie der Grenze zeigt sich umgekehrt auch daran, dass der Abbau der Staatsgrenzen als Kommunikationsgrenzen, wie er sich ab 1950 an den westlichen Außengrenzen Deutschlands und ab 1989 an den östlichen vollzieht, nach allen bisher vorliegenden Forschungsergebnissen nicht zur sprachlichen Konvergenz geführt hat – auch wenn die sprachstrukturellen Voraussetzungen dafür gegeben waren (vgl. AUER 2013). Auch in Grenzsituationen, in denen die Standardvarietät auf beiden Seiten der Grenze annähernd identisch ist (nämlich an der Grenze zwischen Deutschland und der Schweiz bzw. Österreich), belegen die verfügbaren Studien (SCHIFFERLE 1990 7

So schon PAUL (1898, Kapitel 2), SAUSSURE (1916, 4. Teil, Kapitel 4) sowie in der Dialektologie z. B. BACH (1969); vgl. die differenzierte Betrachtung bei HARNISCH (2010).

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und SEIDELMANN 1989 zur Rheingrenze bzw. SCHEURINGER 1990 zum Salzburger Raum) eine Divergenz der alten Dialekte an der Staatsgrenze in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die auf die Ausstrahlung regionaldialektaler Formen in Deutschland und Österreich sowie in der Schweiz auf die Beeinflussung der nördlichen Grenzkantone durch die städtische Varietät von Zürich zurückzuführen ist. Die dadurch entstehende Dynamik der Dialektveränderung bleibt jeweils an der Staatsgrenze stehen und erreicht das gegenüberliegende Staatsgebiet nicht. Dafür sind aber keineswegs mangelnder Kontakt oder Behinderungen des kommunikativen Austauschs verantwortlich, sondern attitudinale Faktoren (Prestige der jeweiligen innovativen Dialektgebiete; vgl. BOBERG 2000) sowie die mit ihnen korrelierenden unterschiedlichen Repertoirestrukturen (insbesondere der andere Status der deutschen Standardvarietät in der Schweiz und in Südwestdeutschland). LITERATURVERZEICHNIS AUER, PETER (2013): State borders and language change: the (non-)effects of political border permeability on language. In: GILLES, PETER / HARLAN KOFF / CARMEN MAGANDA / CHRISTIAN SCHULZ (eds.): Theorizing borders through analyses of power relationships. Brüssel: Peter Lang, 227–248. AUER, PETER (2014): Anmerkungen zum Salienzbegriff in der Soziolinguistik. In: CHRISTEN, HELEN / EVELYN ZIEGLER (Hg.): Die Vermessung der Salienz(forschung). Linguistik Online 66(4), 7–20. AUER, PETER (2017): Epilogue: The neo-standard of Italy and elsewhere in Europe. In: CERRUTI, MASSIMO / CLAUDIA CROCCO / STEFANIA MARZO (eds.): Towards a New Standard. Theoretical and Empirical Studies on the Restandardization of Italian. Boston/Berlin: De Gruyter, 365–374. AUER, PETER / JULIA BREUNINGER / DOMINIQUE HUCK / MARTIN PFEIFFER (2015): Auswirkungen der Staatsgrenze auf die Sprachsituation im Oberrheingebiet (Frontière linguistique au Rhin Supérieur, FLARS). In: KEHREIN, ROLAND / ALFRED LAMELI / STEFAN RABANUS (Hg.): Regionale Variation des Deutschen. Berlin/Boston: De Gruyter, 323–348. AUER, PETER / HELMUT SPIEKERMANN (2011): Demotisation of the standard variety or destandardisation? The changing status of German in late modernity (with special reference to southwestern Germany). In: KRISTIANSEN, TORE / NIKOLAS COUPLAND (eds.): Standard Languages and Language Standards in a Changing Europe. Oslo: Novus Press, 161–177. BACH, ADOLF (1969): Deutsche Mundartforschung. 3. Auflage. Heidelberg: Winter. BEYER, ERNEST (1964): La palatalisation spontanée de l’alsacien et du badois. Sa position dans l’évolution dialectale du germanique continental. Publications de la Société Savante d'Alsace et des Régions de l’Est (avec fascicule annexe de 49 p. de cartes et planches). Strasbourg: Section de dialectologie de la Faculté des Lettres et des Sciences Humaines. BISTER-BROOSEN, HELGA (1998): Sprachkontakte und Sprachattitüden Jugendlicher im Elsaß und in Baden. Vergleichende soziolinguistische Untersuchungen in Colmar (Frankreich) und in Freiburg und Müllheim (Deutschland). Frankfurt am Main: Peter Lang. BOBERG, CHARLES (2000): Geolinguistic diffusion and the U.S.-Canada border. In: Language Variation and Change 12(1), 1–24. BOTHOREL-WITZ, ARLETTE / DOMINIQUE HUCK (2000): Die Dialekte im Elsass zwischen Tradition und Modernität. In: STELLMACHER, DIETER (Hg.): Dialektologie zwischen Tradition und Neuansätzen. Stuttgart: Steiner (Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik. Beihefte. 109), 143–155.

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ZUM NUTZEN DER COMPLEX DYNAMIC SYSTEMS THEORY (CDST) FÜR DIE ERFORSCHUNG VON SPRACHVARIATION UND SPRACHWANDEL Lars Bülow / Kees de Bot / Nanna Hilton 1 EINLEITUNG1 Sowohl Linguisten als auch linguistische Laien grenzen mit dem Terminus Dialekt den Sprachgebrauch von verschiedenen (sozialen) Gruppen, die in verschiedenen geografischen Regionen leben, gegeneinander ab. Sie extrapolieren Beobachtungen und verdichten diese zu Kategorien und Wahrnehmungsschemata. In der traditionellen Dialektologie erfolgt die Zuschreibung von Dialekträumen in Abhängigkeit von der gewählten Granularität. Je näher die Dialektologen an den tatsächlichen Sprachgebrauch heranzoomen, desto mehr Variabilität und Dynamik finden sie in den Daten. Selbst intraindividuelle Variation lässt sich auf allen Ebenen des Sprachgebrauchs feststellen (vgl. KALLENBORN 2016). Mit dieser Feststellung geht einher, dass die Vorstellung von Dialekten als geschlossene und relativ homogene Systeme (oder als relativ stabile Ortsdialekte) infrage gestellt wird. Weiterhin resultiert daraus das Bedürfnis, neue theoretische und empirische Zugangsweisen zu erschließen. In den letzten Jahren ist in diese Richtung viel passiert. Die Vorstellung, dass Varietäten wie Dialekte statische, hypostasierte Systeme sind, ist längst überwunden (SCHMIDT / HERRGEN 2011; WOOLARD / SCHIEFFELIN 1994; SILVERSTEIN 1979). Seitdem wird u. a. versucht, zu einer adäquateren – d. h. dynamischeren und komplexeren – Auffassung des Untersuchungsgegenstandes zu gelangen, ohne das Systemverständnis von Sprache völlig aufzugeben (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011; LANWER 2015). Der Begriff System meint hier „any collection of identifiable elements – abstract or concrete – that are somehow related to one another in a way that is relevant to the dynamics we wish to describe“ (VAN GEERT 2008, 180).2 Ein vielversprechender Denkwandel vollzieht sich auch in Teilen der Angewandten Linguistik, die Annahmen der Complex Dynamic Systems Theory (CDST) für sich nutzbar macht. Die CDST ist ein Theoriengeflecht, das bisher 1 2



Für hilfreiche Hinweise möchten wir uns bei RÜDIGER HARNISCH, CHRISTOPH PURSCHKE, SIMON PICKL, STEPHAN ELSPASS und zwei anonymen Gutachtern herzlich bedanken. Das Systemverständnis von Sprache ist nicht unumstritten. Es ist unseres Erachtens aber hilfreich, die Wechselwirkungen der sprachlichen Elemente sowohl untereinander als auch mit sprachexternen Einflussfaktoren zu beschreiben. Des Weiteren dient der Systembegriff als Stütze im Umgang mit der Komplexität und Nicht-Linearität von Wandelprozessen.

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vorrangig in der Physik, Mathematik und Entwicklungspsychologie Anwendung findet. Die Angewandte Linguistik modelliert in diesem Kontext das Sprachwissen des individuellen Lerners unter Berücksichtigung verschiedener zeitlicher Horizonte als hochgradig variables und anpassungsfähiges System (vgl. LARSENFREEMAN 1997; DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007; DÖRNYEI / MACINTYRE / HENRY 2014). DE BOT (2015) spricht für die Angewandte Linguistik bereits von einem „dynamic turn“. Dieser „fills the gap left by formal linguistic models, the disembodied psycholinguistic approach and various theories that either look exclusively at the psycholinguistic side or at the sociolinguistic and sociocultural side only“ (DE BOT 2015, 87). Der folgende Beitrag diskutiert nun die Frage, ob die Sprachvariations- und Sprachwandelforschung unter besonderer Berücksichtigung der Dialektologie ebenfalls von der CDST profitieren kann. Es werden hilfreiche theoretische, empirische und methodische Implikationen aufgezeigt. An dieser Stelle ist allerdings zu betonen, dass die CDST zwar eine neue Perspektive bietet, das Rad aber nicht neu erfindet. Deshalb verweisen wir im Zuge des Beitrags auch auf aktuelle Entwicklungstendenzen innerhalb der Sozio- und Varietätenlinguistik, die mit den wesentlichen Prinzipien der CDST konform gehen. Wir argumentieren im Folgenden dafür, dass eine Synthese aus CDST-perspektivierter Forschung mit aktuellen soziolinguistischen Erkenntnisinteressen auch zu einem besseren Verständnis von Sprachvariation und Sprachwandel in der Dialektologie führen kann. Dazu legen wir zunächst die zentralen Prinzipien der CDST dar (Abschnitt 2.1), bevor deren Nutzbarmachung durch die Angewandte Linguistik an Beispielen erläutert wird (Abschnitt 2.2). Des Weiteren zeigen wir anhand von soziolinguistischen Forschungsergebnissen, dass die traditionellen dialektologischen und variationslinguistischen Variablen ebenfalls dynamisch und in permanenten Wechselwirkungen miteinander gedacht werden müssen (Abschnitt 3). Anschließend diskutieren wir, wie die Sprachvariations- und Sprachwandelforschung unter besonderer Berücksichtigung der Dialektologie von den Prämissen der CDST profitieren kann (Abschnitt 4). Dazu gehören beispielsweise eine stärkere Berücksichtigung der intraindividuellen Variation, des Faktors Zeit, die notwendige Bezugnahme auf kognitive Faktoren sowie innovative methodische Ansätze. Bevor wir ein kurzes Fazit ziehen, gleichen wir die Prämissen der CDST mit aktuellen Forschungstendenzen der deutschsprachigen Dialektologie ab (Abschnitt 5). 2 GRUNDZÜGE DER COMPLEX DYNAMIC SYSTEMS THEORY Die CDST ist ein interdisziplinäres Theoriegeflecht,3 das den Wandel und die Interaktion von komplexen Systemen unter besonderer Berücksichtigung des Fak-

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Es ist umstritten, ob die CDST als eigenständige Theorie aufgefasst werden kann. VAN GEERT (2008, 183) versteht sie vielmehr als eine generelle Sichtweise auf Wandel. Sie ist „not a specific theory but […] a general view on change, change in complex system, in particular“.

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tors Zeit erfasst.4 „Complex systems are systems with many components that interact, meaning that they codetermine each other’s time evolution.“ (VAN GEERT 2008, 181). Die CDST stammt ursprünglich aus der Mathematik, wo sie zunächst unter der Bezeichnung Dynamic Systems Theory (DST) bekannt wurde, bevor sich im wissenschaftlichen Diskurs der Angewandten Linguistik die Bezeichnung Complex Dynamic Systems Theory (CDST) durchgesetzt hat. Mitte der 1990er Jahre entdeckt die Linguistik das Potential der DST. Eine Vorreiterrolle nimmt die Angewandte Linguistik ein, wegweisend sind insbesondere die Arbeiten von LARSEN-FREEMAN (1997), HERDINA / JESSNER (2002) und DE BOT / LOWIE / VERSPOOR (2007; 2005). Sie lenken die Aufmerksamkeit auf die nicht-linearen Entwicklungskurven individueller Sprachlernprozesse wie dem Spracherwerb (acquisition) oder dem Sprachverlust (attrition). Entwicklungsprozesse sind das zentrale Paradigma der CDST. Im Folgenden werden zunächst die wesentlichen Charakteristika komplexer dynamischer Systeme erörtert, bevor ein kurzer Überblick darüber erfolgt, wie die Prinzipien der CDST in der Angewandten Linguistik bereits methodisch und forschungspraktisch umgesetzt werden. 2.1 Leitgedanken Komplexe dynamische Systeme zeichnen sich insbesondere durch ihre nichtlinearen, relativ chaotischen und kaum prognostizierbaren Entwicklungskurven aus. Sie sind für Feedback empfänglich und anpassungsfähig. Komplexe dynamische Systeme verändern sich unter dem Einfluss vielfältiger Faktoren über die Zeit, was mit folgender Formel beschrieben wird: St+1 = f(St) (S = System, f(S) = alle Faktoren, die auf das System einwirken). Entwicklungen sind das Ergebnis von Interaktionen des Systems mit der Systemumwelt und daraus resultierenden internen (selbstorganisierenden) Restrukturierungsprozessen.5 2.1.1 Nicht-Linearität Komplexe dynamische Systeme zeichnen sich dadurch aus, dass sie aus einer großen Anzahl von interagierenden Elementen (components oder agents) bestehen 4 5



Die CDST weist große Überschneidungsmengen mit der Chaostheorie (LARSEN-FREEMANN 1997), der Komplexitätstheorie (LARSEN-FREEMAN / CAMERON 2008) und der Theorie komplexer adaptiver Systeme (GELL-MANN 1994; LEE et al. 2009) auf. Getreu des thermodynamischen und damit probabilistischen Ordnungsbegriffs: „Das, was sich in einem System zu einem System zusammenstellt […], greift aus dem System heraus, um innerhalb des Systems eine Ordnung aufrechtzuerhalten oder herzustellen“ (BAECKER 2016, 46–47). Das physische System des Körpers braucht beispielsweise von außen zugeführte Nahrung, um zu wachsen und zu funktionieren; das Gehirn muss durchblutet werden, um als System arbeiten zu können.

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(VAN GEERT 1993, 268). „The behavior of complex systems arises from the interaction of its components or agents“ (LARSEN-FREEMAN 1997, 143). Das menschliche Gehirn – ein prototypisches Beispiel für ein adaptives, komplexes und dynamisches System – verfügt über Billionen von Neuronen, die miteinander verknüpft sind, aber auch funktionelle Bereiche ausbilden. (Sub)Systeme sind immer Teil eines übergeordneten Systems und damit „nested within other systems, ranging in levels from sub-molecular particles to the universe“ (DE BOT 2015, 89). Der Idiolekt ist ins kognitive System eingebettet, dieses wiederum ins physische System des Körpers, der in seiner Ganzheit und Selbstbewusstheit wiederum in soziale Zusammenhänge integriert ist.6 Varietäten sind wiederum in ein größeres Kommunikationssystem eingebunden, das mündliche wie schriftliche Kodes umfasst, die wiederum aus Subsystemen bestehen, z. B. dem grammatischen System, dem lexikalischen System oder dem artikulatorischen System. Das grammatische und das lexikalische System werden durch die Musterhaftigkeit der Anwendungsbedingungen sowie durch die Normierungs- und Normabweichungsbestrebungen der Sprachhandelnden deutlich. Das auch die Artikulation in gewisser Hinsicht als System beschrieben werden kann, verdeutlichen kombinatorische Lautwandelprozesse wie die Herausbildung des Umlauts. Die oben genannten sprachstrukturellen (Sub)Systeme interagieren permanent, sie existieren nicht unabhängig voneinander, wie beispielsweise die Morphophonologisierung des Umlauts im Mittelhochdeutschen zeigt. Abstrakt lässt sich sagen, dass sich sprachliche Strukturprozesse durch folgenden Parameter erklären lassen: a) b) c) d)

das sozio-symbolische Potential, die Gebrauchsbedingungen, die kognitiven Voraussetzungen und die soziale Einbettung der Sprecher.

Da einerseits die einzelnen Faktoren der Parameter selbst dynamisch sind und miteinander interagieren (das soziosymbolische Potential der Sprachstruktur ist sicherlich in Wechselwirkung mit der sozialen Einbettung der Sprecher zu sehen) und andererseits die einzelnen sprachstrukturellen Subysteme immer in Wechselwirkung mit ihrer Umwelt stehen, verläuft ihr Wandel nicht-linear und kann deshalb auch nicht mit Sicherheit über längere Zeiträume prognostiziert werden (vgl. WALDROP 1992, 145). Die Nicht-Linearität des Wandels drückt sich darin aus, dass kleinste Ausgangsunterschiede große Auswirkungen für die langfristige Entwicklung von Systemen zeitigen können. Bezogen auf das adaptive, komplexe und dynamische System Idiolekt heißt das, dass zwei Lerner/innen mit unterschiedlichen Ausgangsbedingungen, die allerdings den gleichen Input zur gleichen Zeit erhalten, unterschiedliche Lern- und Entwicklungskurven zeigen, deren präzises Verhalten nicht vorhersagbar ist (vgl. LARSEN-FREEMANN 2006a). Die eingeschränkte Prognose 6

Die CDST teilt die Auffassung, dass die Kognition embodied ist.

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fähigkeit der CDST ist allerdings nicht schlechten oder falschen Messinstrumenten geschuldet, sondern beruht darin, dass sich die Systeme, die Subsysteme und die Umwelt gleichzeitig und in Abhängigkeit voneinander wandeln (DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2005, 116). Wandel lässt sich demnach erst aus der Retrospektive erklären.7 Diesen Umstand fassen WEINREICH / LABOV / HERZOG (1975, 101) für die Sprachwandelforschung bereits als actuation- und transition-Problem. Dabei handelt es sich um die grundlegenden Fragen, warum und wie neue sprachliche Varianten entstehen und wie sich diese verbreiten – und wie es kommt, dass es einmal zur Entstehung und Verbreitung von Varianten kommen kann, ein andermal unter vergleichbaren Bedingungen aber nicht. Im Gegensatz zur CDST erhebt die Sprachvariations- und Sprachwandelforschung häufig den Anspruch, mit Hilfe von linearen Wahrscheinlichkeitsmodellen Sprachwandel auch über längere Zeithorizonte voraussagen zu können (vgl. ALTMANN 1985; BEST / KOHL8 HASE 1983; LÜDTKE 1980). 2.1.2 Feedbacksensibilität und Anpassungsfähigkeit Komplexe dynamische Systeme wie Neuronale Netzwerke sind hochgradig adaptiv (vgl. LARSEN-FREEMAN 2006a, 590). Sie reagieren auf Feedback, was die Ausbildung von Schemata zur Folge hat, die ein Ausdruck von selbstorganisierenden Prozessen sind. Die Schemata sind eine direkte Konsequenz der Anpassung und der Systemdynamik. „We might call it self-organization, which amounts to the spontaneous formation of patterns. Self-organization is a characteristic property of (complex) dynamic systems. […] Self-organization, the spontaneous occurrence of patterns due to dynamics itself, is a particular form of emergence.“ (VAN GEERT 2008, 182). Die adaptive Funktionsweise eines komplexen und dynamischen Systems lässt sich in Anlehnung an GELL-MANN (1994; 1995) und BÜLOW (2017) folgendermaßen modellieren.9

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„Because of this non-linearity, development trajectories may not be predictable, although they should be explicable retrospectively“ (DE BOT 2015, 88). Die CDST geht allerdings von der Annahme aus, dass auf der Prozessebene die gleichen Wandelmechanismen sowohl für „the grand sweep“ als auch die „nitty-gritty details“ LARSEN-FREEMAN (2006b) gelten. Auch weite Teile der Grammatikalisierungsforschung verstehen Sprachwandel im Sinne des Unidirektionalitätspostulats als linearen Wandel, bei dem Form und Bedeutung im Grammatikalisierungsprozess abgebaut werden (vgl. LEHMANN 2004, 178; HASPELMATH 1999). Gegen das Unidirektionalitätspostulat sprechen allerdings Prozesse, die als Degrammatikalisierung (vgl. NORDE 2009; HARNISCH 2004) oder Pragmatikalisierung (vgl. MROCZYNSKI 2013) gefasst werden. Die Natürlichkeitstheorie erhebt ebenfalls den Anspruch, Sprachwandel zu prognostizieren. Variabilität und Iterationen als Grundlage für Systementwicklung zu betrachten, stimmt mit Darwins Verständnis von Evolution überein (vgl. BÜLOW 2017; THELEN / SMITH 1994, 144). Variabilität ist aus evolutionstheoretischer Perspektive deshalb sinnvoll, weil sie einem System ermöglicht, sich leichter an neue Umweltbedingungen anzupassen (vgl. CASPI 2010, 18).

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Abb. 1: Die adaptive Funktionsweise komplexer dynamischer Systeme

Komplexe und dynamische Systeme wie das menschliche Gehirn und seine neuronalen Netze sind in der Lage zu lernen.10 „The process of learning – testing a model [= Schema; LB] against reality and then modifying it to suit – occurs at different time scales.“ (BERREBY 1994, 26). Diesem Lernprozess wohnt eine evolutionäre Charakteristik inne, ihm liegen Prozesse der Replikation, Variation und Selektion zu Grunde. Entscheidend ist allerdings, dass die CDST zwischen short-term-Dynamik und long-term-Dynamik unterscheidet. Die short-term-Dynamik menschlichen Handelns ist – wie KELLER (2003) dies auch für sein Sprachwandelmodell der Unsichtbaren Hand annimmt – häufig interessengeleitet. „The short-term dynamics of language use and understanding is an example of the short-term dynamics of human action and communication, and its understanding requires an understanding of intentionality (goal-directedness, the interest-driven nature of action), and embodiment and embeddedness in the context)“ (VAN GEERT 2008, 184). Die long-term-Dynamik von Wandelprozessen zeigt sich häufig in Form von spontanen Ordnungen, die das Ergebnis aus dem Zusammenspiel von sich wiederholender short-term-Dynamik, constraints und selbstorganisierenden Prozessen sind. 10



Lernen wird hier als ein Prozess (intentional und/oder implizit) der Veränderung des Handelns, Verhaltens, Denkens oder Fühlens aufgrund von Wahrnehmungen und Erfahrungen aufgefasst. Systemveränderungen durch Reize von außen und selbstorganisierende Prozesse sind demnach Formen des Lernens.

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Von besonderer Bedeutung sind Variationen, die eine Grundbedingung für Wandel darstellen. Stetiger Wandel ist gleichzeitig eine Bedingung für Variation und Ausdifferenzierungsprozesse. Variationen wiederum sind eine notwendige, aber keine hinreichende Bedingung für (Sprach-)Wandel (vgl. SCHEUTZ 1988). VAN GEERT (1995) macht weiterhin deutlich, dass jegliche Art von Wachstum oder Komplexitätssteigerung von Ressourcen abhängig ist.11 „How a system can grow depends largely on the available resources. Each person has his or her own particular cognitive ecosystem consisting of internal as well as external or environmental aspects“ (VAN GEERT 1995, 314). Bezogen auf das Lernen von Sprache nennt VAN GEERT (1995, 314–316) u. a. folgende Ressourcen: a) Gedächtnisleistungen, b) Zeit zum Lernen, c) Informationen bzw. sprachlichen Input und d) Energie für kognitive Prozesse sowie Motivation. 2.1.3 Attraktorzustände Komplexe dynamische Systeme lassen sich durch ihre Attraktorzustände kennzeichnen. „Each System has its own attractor and repeller states; however, variation is inherent to a dynamic system, and the degree of variation is greatest when a (sub) system moves from one attractor state to the other“ (DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007, 14). NEWMAN (2009, 4632) definiert Attraktorzustände wie folgt: „a critical value, pattern, solution or outcome towards which a system settles down or approaches over time.“ HIVER (2015, 21) unterbreitet folgenden Vorschlag: „A patterned outcome of self-organisation […] represents a pocket of stability for the dynamic system, and it can emerge without anyone purposely directing or engineering it into existence.“ Wandel tritt u. a. ein, wenn relativ stabile Strukturen unter dem Einfluss sich wandelnder (Umwelt-)Bedingungen wie beispielsweise Sprachkontakt instabil werden.12 Durch Selbstorganisation und Iterationen beginnen sich (neue) Strukturen zu stabilisieren, die einen neuen Attraktorzustand bzw. ein dynamisches Gleichgewicht anstreben. Um Attraktor- und Repellorzustände auf sprachlicher Ebene zu beschreiben, eignet sich das Feature-Pool-Modell von MUFWENE (2008; 2001), das in erster Linie sprachkontaktinduzierten Wandel erfasst und dabei insbesondere soziolinguistische Faktoren berücksichtigt. Sein Ansatz ist hochgradig sprecherzentriert. Sprachwandel geht in diesem Modell grundsätzlich von Individuen und ihren 11

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Hier zieht VAN GEERT eine Analogie zum 2. Hauptsatz der Thermodynamik, wonach (geschlossene) Systeme zur Entropie neigen. Dieser Entropie begegnen offene Systeme mit Energie- bzw. Informationszufuhr, die Ordnung(en) und Komplexitätssteigerungen ermöglichen (vgl. Fußnote 4). „Sprachwandel kann aus empirischer Sicht nur dann angenommen werden, wenn sich die Verteilungen der Varianten einer Variablen in signifikanter Weise verschieben, d. h. wenn sich die Werte der Stichproben (= der beobachteten Realisationen) so ändern, dass man nicht mehr davon ausgehen kann, dass sie Stichproben aus derselben Wahrscheinlichkeitsverteilung sind; dies kann mit statistischen Tests bekräftigt, jedoch nicht endgültig entschieden werden“ (PICKL 2013, 42).

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kommunikativen Bedürfnissen aus.13 Die verschiedenen Idiolekte können als die Individuen der Population einer Spezies gesehen werden, wobei die Sprecher ihr Sprachwissen permanent synchronisieren. Ein Idiolekt „is to a language what an individual is to a species in population genetics“ (MUFWENE 2001, 2). Die Annahme einer übergeordneten Sprache rechtfertigt MUFWENE (2001, 2) wie folgt: „[W]e cannot speak of language change or evolution, which is identified at the population level, without accepting the existence of a communal language“. MUFWENE (2001, 148) verweist dabei auf die Bedeutung von Systemen: „Systems are needed by individuals, and in idiolects for consistency in individual behaviors. It is all right when they are translated into the communal system, but it is not necessary that they do.“ Da Idiolekte per Definition nie vollständig deckungsgleich sein können, kommt es in der Interaktion zu permanenten Anpassungs- bzw. Synchronisierungsprozessen, die MUFWENE (2001, 4‒6) mit seinem Feature-PoolModell beschreibt.

Abb. 2: Feature-Pool-Modell nach MUFWENE (2001, 4; Abbildung aus BÜLOW 2017)

Einerseits bringen die Sprecher eines Kommunikationsraums Merkmale ihres Idiolekts in den Feature Pool ein, andererseits übernehmen sie Merkmale von anderen Sprechern. Sie synchronisieren ihre Idiolekte folglich permanent. In Kontaktsituationen, in denen sich noch keine Routinen etabliert haben, kann man davon ausgehen, dass sich die Idiolekte und Varietäten in einem instabilen Repellorzustand befinden. Erst mit der Zeit bilden sich unter den Sprechern gemeinsame Strategien heraus, die den Idiolekt und die gemeinsame Verkehrsvarietät in einen stabileren Attraktorzustand überführen.14 13 14



MUFWENE (2008, 131; 2001, 157) versteht Idiolekte als komplexe adaptive Systeme. Die Gründe für die Selektion von Varianten sind vielfältig und verändern sich mit der Zeit. Hier spielen beispielsweise soziale Hierarchien, soziale Netzwerke und (verdecktes) Prestige eine Rolle.

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VAN GEERT (2008, 183) fasst die Wesensmerkmale komplexer adaptiver und dynamischer Systeme wie folgt zusammen: „[I]ts time evolution will depend on particular constraints and parameters; it will move toward particular attractor states and be affected by perturbations; it will be characterized by self-organization and emergence of a characteristic structure; its change will depend, in a nonlinear fashion, on particular driving forces; its stability, in the form of its attractors, will be as dynamic as its actual change; and finally, it will be characterized by different, interacting timescales“. Im Folgenden wird dargelegt, wie die CDST in Forschungsarbeiten der Angewandten Linguistik integriert ist, um eine Idee davon zu vermitteln, wie dieser Ansatz eine neue Perspektive auf Sprachwandelprozesse geben kann. SCHUMANN (2015, I) stellt für die Angewandte Linguistik fest: „The adoption of dynamic systems theory […] allows, indeed compels, us to eschew notions of single causes, linear causality, immutable categories and highly specified endpoints“.

2.2 Die Anwendung der CDST in der Angewandten Linguistik Die CDST-basierte Forschung innerhalb der Angewandten Linguistik beschäftigt sich bisher insbesondere mit individuellen Sprachentwicklungsprozessen in Mehrsprachigkeitskontexten (vgl. STEENBEEK / VAN GEERT 2007; DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007; VERSPOOR / DE BOT / LOWIE 2011; HERDINA / JESSNER 2002). Die Anwendungsgebiete reichen allerdings darüber hinaus, wie SEGALOWITZ (2010, 17) zusammenfasst: „Many of the main tenets of a dynamical systems approach to applied linguistics are compatible with ideas in cognitive linguistics […], with the Competition Model […], with Emergentism […], and other approaches to L2 acquisition.“ Der Fokus dieser Forschung liegt zwar bisher klar auf den individuellen Sprachentwicklungskurven, mit Hilfe der CDSTPerspektive können aber auch Sprachentwicklungen innerhalb einer größeren sozialen Gruppe erfasst werden. Mit ihr lassen sich die intra- und interindividuellen sprachlichen Variationen unter Berücksichtigung verschiedener Zeithorizonte untersuchen. Die bisherige Forschung der Angewandten Linguistik zielt in erster Linie auf die interindividuelle Variation, z. B. innerhalb einer Gruppe von Lernern einer Fremdsprache oder von Dialektsprechern aus verschiedenen Orten. Während traditionelle Forschungsansätze also zum Ziel haben, auf der Grundlage von Stichproben generalisierende Aussagen für die gesamte Population zu treffen, konzentriert sich die CDST-perspektivierte Angewandte Linguistik primär auf die individuellen Entwicklungsmuster, d. h. auf die Entwicklung des idiolektalen Systems bzw. seiner interagierenden Subsysteme (z. B. die Entwicklung morphosyntaktischen Wissens). Sie kritisiert, dass oft die zeitabhängige intraindividuelle Variation der einzelnen Sprecher vernachlässigt wird. Mit MOLENAAR / CAMPBELL (2009) muss man völlig zu Recht fragen: „Can results obtained in analyses of inter-individual variation be validly generalized to the subject-specific level of intra-individual variation (and vice versa)?“ Diese Frage ist auch deshalb wichtig

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und berechtigt, weil individuelle Sprachentwicklungsprozesse nicht-ergodisch15 sind, d. h. dass interindividuelle und intraindividuelle sprachliche Variationen nicht äquivalent sind. „Hence, for the class of nonergodic processes (which include all developmental processes, learning processes, adaptive processes, and many more), explicit analyses of IAV [= intraindividual variation; LB / KB / NH] for their own sakes are required to obtain valid results concerning individual development, learning performance, and so forth“ (MOLENAAR 2004, 202). Dies trifft zum Beispiel auch für neurolinguistische Daten zu. Da sich beispielsweise die neuronalen Netzwerke der Gehirne von Individuum zu Individuum und wiederum von Zeitpunkt zu Zeitpunkt unterscheiden, sollte entwicklungsbezogene Forschung auf intraindividuellen und nicht auf Gruppendaten basieren (vgl. NELSON / DE HAAN / THOMAS 2006; SPORNS 2010). Die CDST-basierte Forschung setzt in erster Linie auf Langzeitstudien mit denselben Individuen, in denen möglichst viele Erhebungszeitpunkte relativ eng aufeinander folgen, um das Zusammenspiel aus short-term- und long-term-Dynamik besser zu verstehen.16 Die methodische Umsetzung reicht von Reaktionszeittests und psycholinguistischen Experimenten bis hin zu quantitativen und qualitativen Sprachstrukturanalysen. Mit der Fokussierung der intraindividuellen Variation über die Zeit weicht der CDST-Ansatz hier vom traditionellen Vorgehen in den Sozialwissenschaften und der Soziolinguistik ab. Mit der Herausbildung der qualitativ ausgerichteten Interaktionalen Soziolinguistik in den 1970er und 1980er Jahren als Reaktion auf die dominierende quantitative Soziolinguistik LABOV’scher Prägung, die soziale Kategorien und sprachstrukturelle Ausprägungen in Korrelationen zueinander setzt, wird die intraindividuelle Variation zwar wichtiger (vgl. HYMES 1962; GUMPERZ / TANNEN 1979; GUMPERZ 1982), allerdings vornehmlich im Kontext der shortterm-Dynamik. Der Interaktionalen Soziolinguistik geht es insbesondere auch darum, dass die Sprachstruktur nicht eine Funktion sozialer Verhältnisse ist, sondern diese sozialen Verhältnisse erst entscheidend mitprägt. Weiterhin wird das Form-FunktionsVerhältnis des Sprachgebrauchs als ein dynamisches Verhältnis gedacht, das in Abhängigkeit von Ausgangsbedingungen in der Interaktion verhandelbar ist. Strukturalistische Ansätze, wonach die verfügbaren Variationen mehr oder weniger vom überindividuellen Sprachsystem vorgegeben sind (vgl. EROMS 2008, 23), müssen damit als überholt gelten. Auch aus der CDST-Perspektive wird das Verhältnis von Form und Funktion dynamisch gedacht. Die im Sprachgebrauch genutzte Variation ist ein Ausdruck von Akkommodations- bzw. Synchronisierungsprozessen sowie der Sprachsozialisation des Individuums.

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„Ergodizität“ ist ein Begriff aus der Stochastik, der sich auf das durchschnittliche Verhalten eines dynamischen Systems bezieht (vgl. MOLENAAR 2004, 202–203; MOLENAAR 2008). „The key to the dedicated study of structures of IAV is (replicated) time series analysis“ (MOLENAAR 2004, 215).

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2.2.1 Interagierende Komponenten Es ist allgemeiner Konsens in der Angewandten Linguistik, dass das Vorhandensein bestimmter sprachlicher Komponenten (Strukturen) die Entwicklung anderer Komponenten befördern oder auch behindern kann. Dies zeigt sich im L1-Erwerb beispielsweise im Zusammenspiel zwischen Grammatik und Lexikon. Grammatische Strukturen können sich erst auf der Basis eines ausreichenden lexikalischen Grundstocks herausbilden. Daraus lässt sich für die Phase des L1-Erwerbs schlussfolgern, dass die Entwicklung der Lexik die Entwicklung der Syntax befördert. Da die kognitiven Kapazitäten allerdings begrenzt sind, reichen diese unter Umständen nicht aus, damit sich die syntaktischen und lexikalischen Strukturen über den gleichen Zeithorizont gleichermaßen voll entwickeln können. Anstatt sich gegenseitig zu befördern, können sie sogar in Konkurrenz zueinander treten. Die Arbeiten von PENRIS / VERSPOOR (2017) und STEENBEEK / VAN GEERT (2007) verdeutlichen, dass sich das Verhältnis der einzelnen Komponenten zueinander schnell ändern kann. Komponenten, die sich zunächst gegenseitig positiv beeinflussen, haben später einen negativen Effekt aufeinander und vice versa. Die CDST betont die Tatsache, dass sich komplexe dynamische Systeme wie der Idiolekt aus miteinander interagierenden Komponenten zusammensetzen, die wiederum mit verschiedenen Einflussfaktoren interagieren, die ihrerseits nicht statisch, sondern dynamisch sind. Ein gut untersuchtes Beispiel aus dem L2Erwerb ist der Einfluss des Faktors „Motivation“. Wie die Studie von DÖRNYEI / MACINTYRE / HENRY (2014) eindrucksvoll nachweist, ist Motivation keine stabile Einflussvariable. Bedingt durch die Interaktionen und Wechselwirkungen mit anderen Variablen kann ihre Ausprägung sehr stark variieren. Zum einen wird Lernerfolg maßgeblich durch die Motivation beeinflusst, zum anderen ist sie aber auch an den Lernerfolg selbst gekoppelt. Daher genügt es in der Regel nicht, die Motivation innerhalb einer Gruppe nur einmal im Lernprozess zu messen und dann davon auszugehen, dass diese Variable eine stabile Einflussgröße für alle Beteiligten bleibt. Um den Einfluss der Motivation im Lernprozess adäquat analysieren zu können, ist es daher nötig, diese unter Berücksichtigung verschiedener Zeitintervalle und intraindividueller Variationen zu messen (vgl. WANINGE / DÖRNYEI / DE BOT 2014).17 Motivation ist aber nur eine von vielen dynamischen Variablen, die miteinander interagieren. 2.2.2 Variation unter Berücksichtigung verschiedener Zeithorizonte Auch wenn die meisten CDST-Studien intraindividuelle Variationen über längere Zeiträume betrachten, lohnt es sich, diese im Millisekundenbereich zu untersu17



Forschungspraktisch ist es allerdings nicht immer möglich, jede Variable in jedem Zeitintervall zu erheben: Würde man Lerner/innen beispielsweise jede Minute nach ihrer Motivation fragen, würde dies sicher zu Irritationen führen, die gleichzeitig die Motivation reduzieren, sich an der Befragung zu beteiligen.

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chen. LOWIE / PLAT / DE BOT (2014) haben beispielsweise mit Hilfe einer Wortbenennungsaufgabe Reaktionszeitmessungen bei einer einzigen Person über fast fünf Jahre durchgeführt. Die L1 der Testperson war Niederländisch, die L2 Englisch. Das gleiche Stimuliset wurde in allen 27 Sitzungen verwendet, die jedoch in unterschiedlichen Zeitabständen am Morgen und am späten Nachmittag desselben Tages stattfanden. Die Daten erlauben sowohl einen Blick auf den Zeithorizont von Millisekunden (short-term-Dynamik) als auch auf den von Monaten und Jahren (long-term-Dynamik). Das bemerkenswerteste Ergebnis besteht eigentlich darin, dass kaum Korrelationen zwischen den einzelnen Erhebungszeitpunkten festgestellt wurden. Die Reaktionszeiten bei den verschiedenen Aufnahmen variieren zu stark. Latenzen für ein bestimmtes Wort konnten am Morgen schnell und am späten Nachmittag langsam sein sowie vice versa.18 Auch die Korrelationen über längere Zeiträume hinweg waren sehr niedrig. Die Testperson war lediglich in ihrer L1 fast immer schneller als in ihrer L2. Die Gebrauchsfrequenz beider Sprachen im Alltag scheint dabei einen Einfluss auf die Latenzzeiten zu haben. Die Ergebnisse stellen u. a. die Vorstellung infrage, dass wir über stabile lexikalische Repräsentationen verfügen. Daraus schlussfolgern die Autoren, dass lexikalische Verarbeitung innerhalb eines dynamischen Gleichgewichts zwischen Zufälligkeiten und Kontrolle geschieht. Dabei kommt der vielleicht wichtigste Befund zum Tragen: Sprachliche Variation ist nicht nur Rauschen in den Daten, sondern eine wichtige Informationsquelle. Variation ist das Ergebnis der Interaktion verschiedener Faktoren über einen bestimmten Zeitraum hinweg. Insbesondere diesem Punkt wird in der Variations- und Sprachwandelforschung bisher zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt. 2.2.3 Nähe zu gebrauchsbasierten Lern- und Sprachverarbeitungsmodellen Die CDST-basierte Angewandte Linguistik zeigt aufgrund des holistischen Grundverständnisses große Sympathien für einen interaktionistischen usagebased-Ansatz, der eine angeborene Grammatik und modulare Verarbeitung von Sprache ablehnt (vgl. DE BOT et al. 2013, 208–209; SPIVEY 2007). Die Betrachtung des idiolektalen Sprachwissens in seiner sozialen Einbettung ist dabei ein wesentlicher Punkt, der die CDST-perspektivierte Angewandte Linguistik von traditionellen Ansätzen abhebt. LARSEN-FREEMAN (2002, 42) argumentiert beispielsweise: „Grammar is regarded as epiphenomenal, a by-product of a communication process. It is not a collection of rules and target forms to be acquired by language learners. Language, or grammar, is not about having; it is about doing; participating in social experiences“. Deshalb muss die CDST auch keine angeborenen Regeln voraussetzen. Auch universelle grammatische Strukturen können mit Hilfe dieses Ansatzes gebrauchsbasiert und durch Wiederholungen erklärt 18



Die Reaktionszeiten waren allerdings am Morgen tendenziell kürzer als am späten Nachmittag, was darauf schließen lässt, dass die Versuchsperson eher dem frühen Chronotyp zugerechnet werden muss.

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werden: „[U]niversals […] emerge from processes of repeated language acquisition and use“ (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 500). Auf das Prinzip der Wiederholung stützt sich auch der CDST-basierte Erklärungsansatz: „A DST approach does not require innate linguistic properties as a necessary condition for language acquisition because in DST complexity and therefore creativity emerges from the iterations“ (DE BOT / LOWIE / VERSPOOR 2007, 10). Insbesondere Computersimulationen zeigen, dass Komplexitätssteigerungen sprachlicher Strukturen emergente Phänomene sind, die durch die wiederholten Durchführungen bzw. Anwendungen von Systemprozessen entstehen (vgl. CORNISH / TAMARIZ / KIRBY 2009; KE / HOLLAND 2006, 695), d. h. zum Beispiel durch den konkreten Sprachgebrauch (CHRISTIANSEN / CHATER 2008, 500; KIRBY / CORNISH / SMITH 2008). 2.2.4 Methodische Implikationen Da Variation eine zentrale Voraussetzung für neue Systemzustände ist, bieten auf Variation fokussierte Analysen entscheidende Informationen, inter- und intraindividuelle Entwicklungsprozesse besser zu verstehen und zu erklären. „[I]t may be precisely this variability that holds the key to how learning happens.“ (THELEN / SMITH 1994, 40). Variation in den Daten bzw. im Sprachgebrauch ist mehr als nur Rauschen. Ihr sollte vielmehr eine zentrale Bedeutung für die Erklärung von Wandel zugesprochen werden. Die CDST fordert im Sinne der Nicht-Ergodizität von komplexen dynamischen Systemen, den Fokus von der interindividuellen auf die intraindividuelle Variation zu verschieben, ohne die erstere zu vernachlässigen. Dabei ist zu beachten, dass die gewählten Zeitintervalle die Ergebnisse maßgeblich beeinflussen. Darüber hinaus ist Zeit selbst relativ und ein dynamischer Faktor. Kein Zeitintervall ist als absolut zu sehen. Zeit erlaubt im Grunde keine stabile Referenz, was sich schon in der subjektiven Wahrnehmung von Zeit widerspiegelt. Die schwierige Aufgabe der Forscher ist es, Lerneffekte, Feedbackschleifen, Interaktionen zwischen Faktoren und die Zeitdimension methodisch zu berücksichtigen. Entscheidend ist aber auch, wie man mit den Daten bei der Auswertung umgeht. Die CDST-basierte Angewandte Linguistik setzt dabei auf Statistik, die nicht-lineare Prozesse erfasst und intraindividuelle Variationen adäquat berücksichtigt. Nachdem nun exemplarisch dargelegt wurde, wie die Angewandte Linguistik die CDST für sich nutzbar macht, möchten wir im Folgenden den möglichen Mehrwert der CDST für die Variations- und Sprachwandelforschung detaillierter diskutieren.

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3 ZUM UMGANG MIT SPRACHVARIATION UND SPRACHWANDEL IN DER SOZIOLINGUISTIK In der modernen Soziolinguistik und Sprachkontaktforschung lässt sich in den letzten Jahrzehnten – wie in Abschnitt 2 schon angeklungen ist – ebenfalls ein Trend zur dynamischen Modellierung von Wandelprozessen beobachten. Da einige dieser Ansätze bereits ähnliche Standpunkte wie die CDST einnehmen, werden wir im Folgenden kurz auf ausgewählte Beispiele eingehen. Zunächst muss hervorgehoben werden, dass der individuelle Sprachgebrauch – sowohl unter synchronen als auch diachronen Gesichtspunkten (Wandel in real time) – schon immer ein Thema der Soziolinguistik war. Die synchrone individuelle Sprachvariation ist im Kontext des soziolinguistischen Stilbegriffes zu sehen. LABOVS (1966) wegweisende „Lower East Side“-Studie war einer der ersten systematischen Versuche, stilistische Variation aus soziolinguistischer Perspektive in Hinblick auf Sprachwandel zu erfassen. Er hat gezeigt, dass dieselbe Person eine phonologische Variante in einem sozialen Kontext überhaupt nicht benutzt, in anderen Kontexten dafür auffällig häufig. An diesen Befund anschließende Forschung hat gezeigt, dass die Verteilung solcher Variation nicht zufällig ist und mit dem sozialen Bezugssystem und mit den darin möglichen Varianten korreliert (vgl. CHAMBERS 1995, 21). Die Wahl von sprachlichen Varianten ist in der Folge als ein komplexer Vorgang beschrieben worden, der von dynamischen und interagierenden Variablen abhängig ist (vgl. COUPLAND 1984). Die spezielle Dynamik, die solchen Phänomenen zugrunde liegt, versucht die interaktional ausgerichtete sogenannte Dritte Welle der Soziolinguistik für die sprachliche Identitätskonstruktion zu erfassen, die von intensiven Wechselwirkungs- und Konstruktionsprozessen innerhalb einer community of practice ausgeht (vgl. hierzu ECKERT 2000; 2001; 2012; BUCHOLTZ 1999) und vor allem an der short-term-Dynamik des Sprachgebrauchs interessiert ist. Sie untersucht insbesondere, wie sich die soziale Bedeutung sprachlicher Varianten im Konstruktionsprozess verändert (vgl. COUPLAND 2007). Dieser Ansatz berücksichtigt zwar in besonderer Weise die sozio-symbolische und indexikalische Funktion von Sprache, vernachlässigt allerdings die kognitive Dimension des Sprachgebrauchs. Von der CDST werden theoretisch beide Seiten des Variations- und Sprachwandels abgedeckt. Die Soziolinguistik hat auch Langzeitstudien zum individuellen Sprachgebrauch durchgeführt. Diese haben bisher aber keine klaren Resultate gezeigt. LABOVS (1994, 98–112) Ergebnisse lassen darauf schließen, dass individuelle phonologische Sprachproduktionsmuster über die Lebensdauer hinweg stabil bleiben. Jüngere Studien wie die von HARRINGTON / PALETHORPE / WATSON (2000) zeigen allerdings, dass Individuen über einen längeren Zeitraum betrachtet sehr stark in ihren phonologischen Sprachgebrauchsmustern schwanken können. Zu diesem Ergebnis kommt auch die Studie von SANKOFF (2006). Nichtsdestoweniger ist die Datenbasis bisher relativ gering und erfasst schwerpunktmäßig monolinguale Sprecher in eher einsprachigen Glossotopen. Unter den Bedingungen des aktuellen Gesellschaftswandels, der den Faktor Sprachkontakt immer deutlicher hervortreten lässt (vgl. HINRICHS 2013; KREFELD 2004), stehen weitere Langzeitstudien

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allerdings noch aus. Insbesondere CDST-perspektivierte Sprachkontaktforschung könnte hier zu neuen und interessanten Erkenntnissen führen. Auch wenn die Soziolinguistik den Sprachgebrauch des Individuums über einen längeren Zeitraum grundsätzlich im Blick hat und Variation seit jeher als integralen Bestandteil der individuellen Sprecherkompetenz und der Sprachproduktion betrachtet, vernachlässigt sie doch in der Regel die dynamische und komplexe Interaktion der Einflussfaktoren (eine Ausnahme bildet hier sicherlich die Interaktionale Soziolinguistik).19 Sie erklärt Variation meist mit Rückgriff auf relativ feste „außersprachliche“ Variablen wie z. B. Raum, soziale Klasse, Geschlecht, Alter und Ethnizität (vgl. CROFT 2000, 54) sowie sogenannten Domänen des Sprachgebrauchs wie Familie, Arbeitsplatz etc. Der Faktor Zeit (diachrone Perspektive) spielt zwar eine Rolle, er wird bisher aber maximal semi-dynamisch gedacht. Der CDST-Ansatz geht darüber hinaus, indem er das Zusammenspiel der Faktoren unter Berücksichtigung der Zeit konsequent dynamisch und nicht-linear denkt. Im Gegensatz zu traditionellen variationslinguistischen Analysen, in denen insbesondere der Einfluss bestimmter Faktoren auf die abhängige Variable Sprachverwendung untersucht wird, versucht die CDST-basierte Forschung insbesondere die Interaktion der verschiedenen Faktoren zu erfassen. Anstatt sich eine spezielle phonologische Realisierung und deren Variation in Abhängigkeit von Alter, Gender oder dem sozioökonomischen Status zu einem Zeitpunkt anzusehen, beobachtet die CDST-inspirierte Forschung die intraindividuellen Variationen über einen Zeitraum hinweg und berücksichtigt dabei die Interaktionen zwischen den sogenannten unabhängigen und abhängigen Variablen. In der Spracherwerbs- und Mehrsprachigkeitsforschung sind dies vor allem Begabung, Intelligenz, Gedächtnisleistung, Alter, Spracheinstellung, Lernpräferenz sowie der Chronotyp.20 Diese Variablen sind in der Angewandten Linguistik häufig Prädiktoren, um die individuellen Unterschiede im Lernverhalten und den Entwicklungskurven zu erklären. Die CDST-basierte Forschung macht allerdings darauf aufmerksam, dass alle diese Variablen im Grunde dynamisch gedacht werden müssen. Sie versucht dies zu berücksichtigen, indem sie die individuellen Variationsmuster ins Verhältnis zu den jeweiligen Variablen setzt (vgl. PENRIS / VERSPOOR 2017). Die quantitative Soziolinguistik LABOV’scher Prägung legt den Schwerpunkt natürlich auf andere Faktoren, um Sprachwandel und Sprachvariation zu erklären. Dies sind beispielsweise die soziale Schichtung, der Migrationshintergrund, die Zugehörigkeit zu einer bestimmten Gruppe, das Leseverhalten, der Wohnort 19

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Die Interaktionale Soziolinguistik in der Tradition von GUMPERZ oder ECKERT beachtet einen Großteil dieser Faktoren und deren Dynamik sehr wohl, ist in der Regel aber ausschließlich qualitativen Forschungsdesigns verpflichtet. Interaktion hat immer auch eine zeitliche Dimension. Als Chronotypen werden verschiedene Kategorien von Menschen erfasst, die aufgrund der unterschiedlich ausgeprägten inneren biologischen Uhr physische sowie psychische Charakteristika etwa im Hormonspiegel, der Körpertemperatur oder den Schlaf- und Wachphasen aufweisen. Diese Faktoren können einen Einfluss auf das Leistungsvermögen von Menschen zu unterschiedlichen Tageszeiten haben.

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(Großstadt vs. Stadt vs. Land) oder das Pendelverhalten. Die Zusammenführung von Variablen bzw. Faktoren in ein gemeinsames Modell könnte das Erklärungsbild inter- und intraindividueller sprachlicher Variation vervollständigen.21 Die Sprachvariations- und Sprachwandelforschung kann unseres Erachtens insbesondere dann von der CDST profitieren, wenn sie beginnt, ihren Fokus auf die intraindividuelle Variation zu verlagern sowie ihre Variablen über die Zeit als dynamisch und interagierend zu betrachten. Da auch die traditionelle Sichtweise auf Variablen der Variations- und Sprachwandelforschung unter besonderer Berücksichtigung der Dialektologie aus CDST-Perspektive infrage gestellt werden muss, tragen wir im folgenden Abschnitt Argumente zusammen, die unseres Erachtens für einen Perspektivenwechsel sprechen. 4 DISKUSSION: WIE KANN DIE MODERNE VARIATIONS- UND WANDELFORSCHUNG VON DER CDST PROFITIEREN? In der Dialektologie wird sehr häufig auf die Einflussgrößen Geschlecht, StadtLand-Unterscheidung, Mobilität, Alter, Beruf sowie Ethnizität Bezug genommen.22 Die statische Sichtweise auf diese Faktoren wird dadurch deutlich, dass in der klassischen Dialektologie noch immer vorzugsweise die sogenannten NORMs (Non-mobile Old Rural Male Speakers) nach ihrem Dialektwissen befragt werden. Diese NORMs stellen in der Regel eine Selektion der Untersuchungspersonen nach Mobilität, Alter, Geschlecht, Autochthonie (und damit auch Ethnizität) und Beruf dar. Insbesondere für das Geschlecht einer Person argumentiert die Genderforschung, dass diese Kategorie keine biologische Tatsache sei, sondern sozial konstruiert werde (vgl. BUTLER 2012a; 2012b). Unter dieser Perspektive ist Geschlecht oder besser Gender vielmehr eine zeitabhängige, dynamische und komplexe Zuschreibungskategorie, die oftmals erst in der konkreten Interaktion erzeugt wird. Trotz der berechtigten konstruktivistischen Kritik an der Dichotomisierung von Geschlecht sind die Ausprägungen weiblich und männlich in der Lebenswelt vieler Menschen sehr stabile, praktische und lebensweltlich fest verankerte Kategorien. Auch die traditionelle Stadt-Land-Unterscheidung ist keine stabile und zeitunabhängige Variable. Demografische und sozioökonomische Entwicklungen haben die Sichtweise auf diese Differenzierung verändert. Insbesondere die Mobili 21

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Die kognitive Soziolinguistik, die auf der Prototypentheorie aufbaut, ist ein gutes Beispiel für den Versuch der Zusammenführung klassischer Variablen mit kognitiven Faktoren. CAMPBELL-KIBLER (2012) argumentiert, dass diese Faktoren auch für die Sprachvariations- und Sprachwandelforschung relevant sind. Weitere, allerdings nicht Sprecher/innen-bezogene Variablen der Dialektologie sind Gesellschaftsschichtung, Siedlungsgeschichte, politische Territorialräume, konfessionelle bzw. religiöse Ausdifferenzierungen, Verkehrsverhältnisse sowie naturräumliche Gegebenheiten (vgl. WIESINGER 2004, 46).

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tät interagiert mit diesem Einflussfaktor. Viele Personen pendeln nicht nur täglich zwischen ländlichen und städtischen Räumen, sondern auch über politische Grenzen hinweg. Die Grenzen zwischen ländlicher und städtischer sprachlicher Sozialisation verschwimmen zunehmend. Außerdem sind dynamisierte Erwerbsbiografien zu berücksichtigen. Die meisten Menschen arbeiten nicht an dem Ort, an dem sie zur Schule gegangen sind. Arbeitsplatzwechsel und damit verbundene Umzüge werden immer häufiger. Damit geht ebenfalls einher, dass sich immer mehr Menschen in verschiedenen Regionen synchronisieren. Die Prämissen der CDST legen nahe, dass dies einen entscheidenden Einfluss auf die Entwicklung sowohl der Idiolekte als auch der dominierenden Varietäten in einem Sozialraum nimmt. Eine dynamische Sichtweise ist auch für die traditionelle Variable Alter angebracht. Die Vorstellung, dass bestimmte Altersgruppen in ihrer Sprachstrukturwahl uniform agieren, muss deutlich infrage gestellt werden. Alter ist eine Variable, die stark mit physiologischen und sozio-psychologischen Faktoren wie sozioökonomischem Status, Bildung, Mobilität und Lebensbedingungen interagiert. Die Redensart „Man ist nur so alt, wie man sich fühlt“ trifft heute mehr denn je zu. Auch die ethnische Zugehörigkeit ist eine sehr dynamische und komplexe Zuschreibungskategorie. Ethnizität und Identität sind eng miteinander verwoben und kaum voneinander zu trennen. Ethnische Zugehörigkeit kann sprachlich markiert oder ausgeblendet werden. Sprecher, die über das entsprechende Sprachwissen verfügen, können diese Strukturen pragmastilistisch und sozio-symbolisch zur Identitätskonstruktion einsetzen (vgl. ANDROUTSOPOULOS 2015; ECKERT 2008; KEIM 2008). Auch wenn hier nur für einige der klassischen Variablen der Sprachvariations- und Sprachwandelforschung gezeigt wurde, dass sie dynamisch sind und in Interaktion miteinander stehen, lässt sich verallgemeinern, dass Modelle notwendig sind, die diesen Umständen Rechnung tragen und die Faktor Zeit und intraindividuelle Variation integrieren. Im Folgenden möchten wir einige ausgewählte Ansätze innerhalb der Sprachvariations- und Sprachwandelforschung unter besonderer Berücksichtigung der Dialektologie diskutieren. Diese lassen sich – grob gesagt – dadurch kennzeichnen, dass sie bereits versuchen, Sprachvariation dynamisch zu denken. 5 AKTUELLE ENTWICKLUNGEN IN DER DIALEKTOLOGIE DES DEUTSCHEN VOR DEM HINTERGRUND DER CDST In der Sprachvariations- und Sprachwandelforschung unter besonderer Berücksichtigung der Dialektologie ist – wie auch in der Angewandten Linguistik und Soziolinguistik – ein Trend zu dynamischen Modellierungen von Wandelprozessen zu verzeichnen. SCHMIDT / HERRGEN (2011) führen in ihrem Konzept der Sprachdynamik interaktionale und kognitive Mechanismen zusammen. Sie bezeichnen den „permanenten Abgleich von Kompetenzdifferenzen im Performanzakt mit der Folge einer Stabilisierung und/oder Modifizierung der beteiligten akti-

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ven und passiven Kompetenzen“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 28) daher als „Synchronisierung“. Dabei kann der Begriff der Synchronisierung gleichermaßen auf verschiedene Ebenen der Interaktion verweisen, weshalb SCHMIDT / HERRGEN zwischen Mikro-, Meso- und Makrosynchronisierungsprozessen unterscheiden. PURSCHKE (2011; 2014) und LANWER (2015, 50) erweitern den Ansatz um eine sozio-semiotische Komponente. Während Ersterer subjektive Hörerurteile in das Synchronisierungskonzept einbindet, betont Letzterer die Bedeutung der Interaktion innerhalb einer community of practice für die Sprachentwicklung auf der Meso- und Mikroebene. Im Sinne der Einbeziehung der sozio-symbolischen Komponente argumentiert LANWER (2015, 48) vielmehr, dass auch die Akkommodationstheorie „einen adäquaten theoretischen Rahmen hinsichtlich der Integration der Ebene der sozialen Interaktion“ liefert.23 Betrachtet man die einzelnen Arten der Synchronisierung genauer, so wird die Mikrosynchronisierung als „punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29) verstanden. Dieser Synchronisierungstyp ist insbesondere im Bereich des ungesteuerten Spracherwerbs entscheidend. Die Makrosynchronisierungsprozesse spielen eine große Rolle in schulisch gesteuerten Sprachlernprozessen, die in der Regel an Normen orientiert sind. Unter Makrosynchronisierungen werden diejenigen Synchronisierungsakte verstanden, mit denen sich die Mitglieder einer Sprachgemeinschaft an gemeinsamen Normen ausrichten, ohne dabei persönlichen Kontakt untereinander haben zu müssen (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32). Die Dialektologie richtet ihren Fokus aber eher auf die Mesosynchronisierungsprozesse. Diese resultieren aus gleichgerichteten Synchronisierungsakten, die „Individuen in Situationen personellen Kontaktes vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führt“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31). Die Mesosynchronisierungen führen letztlich zur Herausbildung von regelmäßig wiederkehrenden sprachlichen Strukturen, die sowohl von den Linguisten als auch den Laien als Dialekte (re-)konstruiert werden. Die Rolle der Laien und deren Wahrnehmung sowie Bewertung von sprachlichen Strukturen spielen in der Sprachvariations- und Sprachwandelforschung grundsätzlich eine immer wichtigere Rolle. Subjektive Hörerurteile sind etwa bei der Selektion von sprachstrukturellen Merkmalen entscheidend (PURSCHKE 2011). Um diese entsprechend zu erfassen, unterscheidet PURSCHKE (2014, 33) zwischen „Salienz“24 und „Pertinenz“. Die Pertinenz verdeutlicht die Dynamik dieses Zuschreibungsprozesses. Sie „ist die Bestimmung der subjektiven Bedeutung solcher Auffälligkeiten [der salienten Merkmale; LB / KB / NH] in der Interaktion“. Hörerurteile verlaufen nach folgendem Schema: a) Salienz [+auffällig / –auffällig] > b) Pertinenz [+relevant / –relevant] > c) Modifikation oder Stabilisierung sprach23 24



PURSCHKE / KASPER (in diesem Band) argumentieren, dass Systemtheorien wie die Sprachdynamiktheorie Handlungen nicht adäquat operationalisieren können. Salienzzuschreibung erfolgt sowohl stimulusinduziert (bottom-up) als auch erwartungsinduziert (top-down) (vgl. PURSCHKE 2014).

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lichen Wissens (PURSCHKE 2011, 308; 2014). PURSCHKE (i. Dr.) versteht das Ergebnis von Hörerurteilen als sozialen und interaktionalen Zeichengebungsprozess. Wie solche Zeichengebungsprozesse über verschiedene Zeithorizonte hinweg aussehen, wurde aber bisher nicht untersucht. Die dynamische Modellierung von Wandelprozessen motiviert auch einen dynamic turn mit Blick auf die Erhebungs- und Auswertungstechniken. Mittlerweile werden beispielsweise mit Hilfe neurowissenschaftlicher Methoden empirische Evidenzen für Mesosynchronisierungsprozesse generiert. So zeigen LANWERMEYER et al. (2016) anhand einer neurodialektologischen Perzeptionsstudie, dass durch dialektkontaktinduzierten phonologischen Wandel neuronale Prozesskosten reduziert werden. Dialektwandel im bairisch-alemannischen Übergangsgebiet kann damit als sprecherübergreifender Modifikationsprozess verstanden werden, der dazu führt, dass letztlich Missverständnisse in der Einzelinteraktion und erhöhte Sprachverarbeitungskosten vermieden werden. Letzteres „might be interpreted as the initial trigger for this particular phoneme change“ (LANWERMEYER et al. 2016, 1). PICKL (2013) und PRÖLL (2015) untersuchen im Zusammenhang des Forschungsprojektes „Neue Dialektometrie“ dialektale Variation mit Hilfe eines probabilistischen Modells.25 In der Sprachgeographie gewinnen (geo-)statistische Ansätze immer mehr an Bedeutung.26 „Dialectometric techniques analyze linguistic variation quantitatively, allowing one to aggregate over what are frequently rebarbative geographic patterns of individual linguistic variants […]. This leads to general formulations of the relation between linguistic variation and explanatory factors“ (NERBONNE / KRETZSCHMAR 2006, 387). Die „Neue Dialektometrie“ macht außerdem probabilistische Modelle aus der Soziolinguistik nutzbar. Dieser Ansatz kann zwar als bedeutende Weiterentwicklung innerhalb der Dialektologie betrachtet werden, er ist allerdings eher im Kontext des quantitative turns denn des dynamic turns zu sehen.27 Die Daten von PICKL (2013) und PRÖLL (2015) stammen aus den Erhebungen zum Sprachatlas von Bairisch-Schwaben.28 Sie bringen die Sprachentwicklung dabei mit innersprachlichen und außersprachlichen Variablen in kausale Verbindung. Komplexe Zusammenhänge zwischen den Variablen werden zwar berücksichtigt, die Variablen selbst werden aber als relativ stabil gedacht. Die zeitliche Dimension und die intraindividuelle Variation haben bei den Erhebungen und damit auch bei der Auswertung kaum eine Rolle gespielt. 25 26 27

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Dieses erlaubt ihnen scheinbar, Wandel „– zumindest teilweise – vorhersagbar“ (PICKL 2013, 24) zu machen. Wegweisend sind beispielsweise die Arbeiten von GOEBL (1984), NERBONNE (2009) und LAMELI (2013). PRÖLL (2015, 178) schlussfolgert im Sinne des quantitative turns: „Die aktuelle Sicht auf Sprache als komplexes System erfordert eine entsprechende, mehrdimensionale Perspektive auf geolinguistische Variation, die sowohl die individuelle als auch die populative Ebene mit einbezieht. Die traditionelle quantitative Dialektologie bzw. Dialektometrie kann – oder sollte – dazu sowohl in theoretischer als auch methodischer Hinsicht angepasst werden“. Die Aufnahmen können als Querschnittstudie charakterisiert werden. „Im Normalfall gab es ein bis zwei, in Ausnahmefällen bis zu sechs Informanten pro Ort“ (PICKL 2013, 72).

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Die oben genannten Arbeiten sind Beispiele, die unseres Erachtens den state of the art innerhalb der deutschsprachigen Dialektologie repräsentieren, zumindest was die Absicht betrifft, die Dynamik und Komplexität des Dialektwandels adäquat zu modellieren. Alle Ansätze erfassen das Problem, dass Sprachvariation und Sprachwandel dynamischer gedacht werden müssen, als dies bisher geschehen ist. Dazu setzen sie auf integrative Modelle und neue Methoden, die in die richtige Richtung weisen. Was die Studien allerdings noch nicht erfassen, ist intraindividuelle Variation unter Berücksichtigung verschiedener Zeithorizonte. Was fehlt, ist ein Modell, das die Interaktion soziolinguistischer, dialektologischer und kognitiver Variablen über die Zeit hinweg beschreibt. Hierfür kann die CDST den theoretischen Überbau liefern. Sie erfasst den Idiolekt und die Varietäten als dynamische und komplexe adaptive Systeme. Sie erklärt Dynamik, Stase und Variation sowie deren nicht-linearen Wandel. 6 FAZIT Sowohl die Sprachen und Varietäten, die wir permanent (re-)konstruieren, als auch unser individuelles Sprachwissen, auf denen unsere (Re-)Konstruk-tionsprozesse beruhen, sind dynamisch. Wenn man das individuelle Sprachwissen und die aus den Sprachhandlungen resultierenden Strukturen auf der Meso- und Makroebene als komplexe adaptive Systeme betrachtet (vgl. BÜLOW 2017; ELLIS 2011; BECKNER et al. 2009), kommt man nicht umhin, einen dynamischen und integrativen Ansatz zu wählen, um Variationsphänomene und Wandelprozesse adäquat zu erfassen. Die CDST bietet mit ihren Prinzipien einen guten theoretischen Überbau, um der Dynamik des Sprachgebrauchs gerecht zu werden. In der CDSTbasierten Angewandten Linguistik hat man dieses Potential bereits erkannt, dabei aber in der Praxis die Modellierung der sozialen Interaktion sowie die soziopolitischen und sozio-semiotischen Faktoren vernachlässigt. Ihr Fokus liegt auf der Einflussnahme und Interaktion der kognitiven Faktoren beim Sprachlernen (in mehrsprachigen Kontexten) unter Berücksichtigung verschiedener Zeithorizonte. Die moderne Sprachvariations- und Sprachwandelforschung kann mit Hilfe der CDST zum einen die kognitiven und soziolinguistischen Variablen in einem Modell zusammenführen, zum anderen kann sie den dynamic turn vollziehen, indem sie die intraindividuelle Variation unter Berücksichtigung der verschiedenen Zeithorizonte in ihre Forschung einbindet und dabei die permanente Interaktion der Faktoren berücksichtigt.

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INVENTING LIMBURG (THE NETHERLANDS): TERRITORY, HISTORY, LANGUAGE, AND IDENTITY Leonie Cornips / Ad Knotter Around 900,000 people or 75 % of the inhabitants in Limburg claim to speak a dialect (DRIESSEN 2006, 103) in addition to standard Dutch.

1 INTRODUCING DUTCH LIMBURG1 (Dutch) Limburg is a province of the Netherlands in the southeast of the country. At one side, it is situated at the German border, at the other it is stretching into Belgium along the river Meuse in a strange, elongated form. Most of its borders are with Germany and Belgium (212 and 139 kilometres, respectively), while its borders with other Dutch provinces (North-Brabant and Guelders) are only 113 kilometres. Maastricht, at the southern end, is its capital. In the Dutch context, Limburg is (or used to be) peculiar for being homogeneously Catholic. In 2011 the province counted some 1,200,000 inhabitants on a surface of 2,200 square kilometres. Limburg in its present territorial form has only been in existence since 1839. It had never been a territorial unity prior. Between 1815 and 1839 it was part of a larger territorial entity with the same name, which was divided in a western Belgian and an eastern Dutch part after the Belgian Revolt (1830–1839), separating the United Kingdom of the Netherlands (since 1815) into Belgium and the Netherlands. Since then there have been two provinces called Limburg, one in Belgium and one in the Netherlands. This paper only concerns Dutch Limburg. Looking at the territorial history of the area it would be very hard to claim a special ‘Limburg’ regional character, culture, language, or even ethnos, originating in the past before there was a province of that name, i.e., before 1839 or 1815. Nevertheless, before World War II serious ethnologists thought so, or were looking for it. Many Dutch inhabitants and Limburgers still believe in it. A strong sense of regional identity, attached to this territory, is expressed by its inhabitants day by day, and is reflected in language and culture and reproduced through various media. The question we will address in this paper is: How can we explain this extraordinary feeling of otherness? How can we explain the construction of strong

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AD KNOTTER is the author of section 1 and 2, LEONIE CORNIPS of section 3. The authors would like to thank JEFFREY PHEIFF for proofreading the manuscript on behalf of the ZDL editorial board.

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Limburgian identity through language and cultural practices even though a territory of that name is only quite recent? In this paper we will argue that the idea and the expression of a regional identity, attached to the province, was produced by the progressive integration of Limburg into the Dutch nation state during the nineteenth and twentieth century (cf. KNOTTER 2009a). In this process, Limburgers became aware of certain commonalities as deviations from the national norm, and started to look for its origins in the past. Ethnologists developed ideas about a specific ‘Limburg’ regional character as a cultural reflection of the (supposed) ethnic composition of its population; regional historians constructed a common cultural past of the region in spite of its territorial fragmentation; dialectologists, linguists and interested laypeople were looking for linguistic phenomena that were commonplace for the province of Limburg only, reflecting its territorial borders. This paper is organized as follows. Section 2 elaborates on how to define regions and the construction of a regional identity. It discusses the territorial history of the Dutch province of Limburg (Section 2.1), Limburg as a social space (Section 2.2), the Catholic church as a regional unifier (Section 2.3), origins and rise of a militant regionalism (Section 2.4), and the quest for a regional character (Section 2.5). Section 3 discusses in detail how the province of Limburg is perceived and experienced as a linguistic space at multiple levels. Limburg is an interesting case for examining a linguistic construction of a region since its national and provincial borders crosscut a traditional dialect continuum. Limburgian dialects fall under the ‘South Low Frankish’ dialect group; these dialects are spoken in Germany and Belgium as well. Section 4 concludes the paper. 2 REGIONS AND REGIONAL IDENTITY When we try to define regional identity, space is of course a crucial aspect. Surprisingly, in many studies of regional identity the regional aspect is considered self-evident, and authors do not dedicate as much space defining this part of the phrase, in contrast to the identity part. However, defining the concept of region is as essential as that of identity. Apart from territorial or administrative criteria to define regions, spatial deliminations may be found in cultural, linguistic, social, and psychological spheres. Regions can be defined by cultural and linguistic behaviour, social interaction, and discursive practice, which are to be found in various spaces (cf. BLOTEVOGEL 1996): – – –

Cultural space is formed by recognizable social habits and commonalities of daily life; Linguistic space is formed by how people perceive and experience a certain spatial domain as one linguistic unit (see Section 3); Action or social space is determined by the spatial range of personal (inter)actions;

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– –

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Cognition space is based on the lived experience of a certain spatial domain, coming along with Affection space, that refers to the identification with the spatial environment, and comes close to regional identity.

These spaces mutually influence on each other; their nature and components determine the character and the coherence of a region. These forms of spatiality (based on culture, language, interaction, cognition, and affection) should not be confused with territoriality, which is the outcome and expression of power structures, and result in administrative, institutional borders to define the place where territorial power ends (cf. MAIER 2006). Territories are not identical with the spatial forms mentioned above, of which the borders are less clear (cf. PRIES 2008). One of the important issues in the study of regional identities, in general, but especially in the case of Dutch Limburg, is how social, cultural, linguistic and cognition/affection spaces relate to territorial spaces, and how territorial borders become borders of social, linguistic and cultural behaviour and of cognition and affection as well. To understand regional identity, we have to relate it to the territorial, social, and cognition/affection spaces of the region concerned. When it comes to a definition of identity in the regional context, we suppose that personal experiences are shared with others living in or coming from a certain area, and that these shared experiences are interpreted collectively. A person recognizes certain characteristics of individuals from a region, ascribes these to the community or provenance of the regional group, and in this way identifies this group as his or her own. For a long time, historians and ethnologists have been searching for common, inborn characteristics of people living in the same area to be able to define their regional character.2 Today, this idea to equate regional identity with regional character is no longer accepted in historical, sociological, and anthropological thinking. It is disqualified as ‘essentialist’. Common characteristics are not objectively ‘given’, but can only become markers of identity if they are ascribed as such to the group concerned, both by the group themselves and by outsiders (cf. ALLEN et al. 1998; HERB 1999). These attributions are often based on, or develop into stereotypes, be it by ‘auto-stereotyping’ (by the inhabitants themselves), or ‘hetero-stereotyping’ (by outsiders) (cf. DUIJKER / FRIJDA 1960). Identities are not inherited and passed on; they are collectively constructed as a result of social interaction, mediatization, and communication. This way of thinking is called ‘constructivist’, and is now dominant in identity discourse. Collective identities are constructions in which people believe, simultaneously based on the recognition of those to which they feel connected and of those who they consider strangers. Identity always implies a contrast; it is about ‘us’ and ‘them’ (cf. BARTH 1967). As far as this contrast, in terms of daily experiences and subjec

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A characteristic Dutch example: MEERTENS / DE VRIES (1938); see also EICKHOFF / HENKES / VAN VREE (2000).

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tive feelings, is interwoven with the space people are living in, or coming from, identity can take a spatial form. A negative sentiment is always part of a regional identity, or at least a feeling of being different from with people from other areas. 2.1 A territory constructed out of the blue The area of today’s Limburg has been a border area since Carolingian times.3 In the Middle Ages rival territories of the German Empire collided here (see map CORNIPS / KNOTTER-1 in the section of color illustrations). After the Treaty of Westphalia of 1648, when the territorial state system of early modern Europe was more or less put on the map until the period of the French Revolution, the area continued to be a typical border area, fragmented into an array of small territories and enclaves.4 There was a duchy of Limburg, but its territory had no relationship with today’s provinces of that name in Belgium and the Netherlands. It was situated between Verviers and Aachen, south of today’s Dutch Limburg. The occupation of these territories in 1794 during the French revolution abolished all remnants of feudal territorial fragmentation, and imposed a uniform set of départments, as in France itself named after rivers. Most of modern Belgian and Dutch Limburg were united in the “département de la Meuse inférieure”, with Maastricht as its capital. After the French had left in 1813, a United Kingdom was formed under King William of Orange, combining the territories of the former Dutch Republic, the former Austrian Netherlands, and the Prince-Bishopric of Liège. William, although keen on restoration, based the formation of the new province of Limburg on the French administrative territory “département de la Meuse inférieure” with some additions. He decided to name this province after the old duchy of Limburg, which, as we have seen above, had been situated south of present day Limburg, and bore no relationship whatsoever with this newly formed territory (ALBERTS 1972/1974, 155; LEMMENS 2004, 40). After the Belgian Revolt of 1830, the whole of Limburg except the fortress of Maastricht became part of the new state of Belgium, until 1839, when the European powers, at a conference in London, decided to split up the province in a Belgian western and a Dutch eastern part, roughly divided along the river Meuse. This should compensate King William (who was grand duke of Luxembourg as well), and also the German League, for the loss of the western part of Luxembourg, which had become a province of Belgium. Part of the deal was that Dutch Limburg (now being called a ‘duchy’) became a member of the German League, while simultaneously belonging to the Netherlands. This lasted until 1867, when for the first time Dutch Limburg became a regular province of the Netherlands

3 4

The Limburg region was in fact part of a much larger contested border area at the western frontier of the German Empire, stretching from Münster to Mulhouse. See in a different context LORIAUX (2008). The historical fragmentation of today’s Limburg is a common theme in various handbooks on the region’s history; for instance ALBERTS (1972/1974) or UBACHS (2000).

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(the eleventh). As this overview shows, Limburg was a purely artificial territorial construction, based on arbitrary considerations of the great European powers, and the dynastic interests of the House of Orange.

Map 2: The situation of the Belgian (light grey) and Dutch (darker grey) provinces of Limburg, the medieval Earldom of Loon and Duchy of Limburg

Being simultaneously part of the Netherlands and a member of the German League (until 1867), in today’s terminology Limburg can be considered a kind of

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geopolitical anomaly.5 Because of its s t a t u s a p a r t e and its peculiar history, there were many doubts if Limburg really belonged to the Dutch nation state. These doubts were expressed by both opinion leaders in Holland and in Limburg itself. In the 1840s secessionism became a force to be reckoned with (cf. KNOTTER 2012; LEMMENS 2004, 119–179). In the end nothing came of it, and Limburg and Holland were forced to coexist politically, more or less against their will. After the dissolution of the German League in 1867, however, national integration became increasingly more accepted (cf. OP DEN CAMP 1993; KNIPPENBERG 1999; ORBONS / SPRONCK 2009). In the nineteenth and twentieth century, integration progressed, as the Netherlands (including Limburg) became more politically, economically, linguistically, and culturally united. 2.2 Social spaces and the north-south divide It would be a mistake to suppose that the inhabitants of this geopolitical anomaly were, or are, interacting and communicating with each other on a regular basis, thus constructing Limburg as a ‘social space’, in spite of its artificial nature as a territory. In the agrarian society of the nineteenth century, common people were oriented towards the local environment, around the daily and seasonal routine of farm work (cf. EKAMPER / VAN POPPEL 2012). As far as Limburg was industrialized, industries were dispersed in isolated outposts and based on local labor. As a consequence, identities were only expressed locally. Then and now, the elongated form of Dutch Limburg – the distance from north to south is about 140 kilometres – hampers regular social interaction between the inhabitants in the northern and southern parts of the province. The spatial distance reflects a structural dichotomy in Limburg’s social and cultural space: the north-south divide. In the perception of its inhabitants the northern and southern parts of Limburg are not only divided socially because of the distance, but also culturally. North and south are perceived as differing in language, mentality, and attitudes. The northerners are considered thrifty, stubborn, serious, the southerners as whimsical, impulsive, and changeable. From the bipolar definitions of these contrasting identities we may suspect that these are constructed stereotypes; in regionalist discourse, however, these are related to different agricultural systems, based on the soil (sandy in the north; fertile in the south), and – for what it is worth – even different tribal origins (Saxons origins in the north; Franks mixed with Alpine origins in the south (cf. ROUKENS 1938; KNOTTER 2009c, 269–270).



5

The concept of ‘geopolitical anomalies’ to describe ambivalent sovereignties is derived from international relations theory. See MCCONNELL (2010).

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2.3 The Catholic church as a regional unifier There was one institution, however, which overcame all these differences by organizing social interaction within the territorial confines of Limburg: the Roman Catholic Church (cf. NISSEN 2009). The diocese of Roermond in Limburg is the only one in the Netherlands that coincides with a provincial territory. The social and institutional effects were really important for the identity formation of its inhabitants, because the great majority are, or at least were, Catholics (in 1900 even 98 percent). Social interaction in the Limburg diocese was first established by the clergy itself; there was a large supply of clergymen originating from the province, who were distributed among the parishes along Limburg who spoke more or less similar dialect varieties, held meetings, and exchanged experiences. They acted as a kind of mediator to ‘implant’ the feeling of belonging into the Limburg population. Church life and all kinds of events to meet each other were organized on a provincial basis. Even more important was the formation of an array of Catholic social organizations in Limburg from the beginning of the twentieth century onwards: trade unions, employers’, farmers’ and other professional organizations, youth clubs, and many others. All were organized and coordinated by the diocese, with the full participation of the Limburg clergy. In this way spatial interaction within the Limburg diocese, c . q . province, was based on the institutional format of the church and of ecclesiastical or church led organizations. The role of the Catholic church and the clergy was not confined to institutionalizing the social space of the Limburg population, however. They also stressed the need to unite ideologically against the threats of modern thinking and modern life, both as Catholics and Limburgers (cf. NISSEN 1996). Limburg identity was very much based on the idea that Limburg ‘traditions’ in (religious) culture and folklore were under threat by all kinds of outside dangers, against which the ‘Limburg’ way of life had to be defended. Most of these encroaching ‘dangers’ were considered to come from ‘Holland’, meaning the rest of the Netherlands. Today, while even in Limburg, Catholicism has become less dominant, a kind of cultural Catholicism remains a sustainable part of provincial particularism. Taking part in Catholic rites de passage (baptism, first communion, marriage, burial), processions and associated festivities, celebrating carnival, and the like, and especially speaking dialect, are all presented as typical manifestations of regional identity (cf. CORNIPS 2013; CORNIPS / DE ROOIJ 2015; WIJERS 2009). However, while defending a specific Limburg Catholicism, the opinion leaders in the church and in confessional organizations also regarded themselves as being a part of a broader Dutch movement of catholic social and political emancipation, thereby contributing to the integration of Limburg into the Dutch state.

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2.4 Origins and rise of a militant regionalism On different occasions in the nineteenth century Limburg landed class and industrial elites identified their specific interests in economic policy and taxation with the province of Limburg as a territorial unity. These elite groups easily mixed class interests with provincial interests, while expecting the Dutch state to act on their behalf. Nineteenth-century nobility as well as industrialists tried to mobilize ‘Limburg’ against ‘Holland’ (cf. LEMMENS 2004). In the beginning of the twentieth century the Maastricht industrialists accused the Dutch government of neglecting ‘Limburg’ interests by postponing the canalization of the Meuse river, and tried to mobilize the population in the province as a whole against this supposed neglect of ‘Limburg’ interests (cf. BOSCH 2008). The movement for canalization of the Meuse in the first years of the twentieth century can be considered one of the first manifestations of a militant Limburg regionalism, which developed in the beginning of the twentieth century and in the interwar years. Its rise paralleled the growing economic integration of Limburg into the Dutch state, especially after the development of a state-owned coal industry in the south of the province. Migrants from other parts of the country poured in, especially in the higher echelons of industry and public administration. Militant regionalists considered them a colonizing force, denying chances to the rise of an autochthonous Limburg middle class, and endangering the ‘Limburg’ way of life. In the 1920s militant regionalism found an institutional expression in what was called “Limburgsche Liga” (‘Limburg League’, established in 1925). In its opinion, the catholic religion, the traditions, manners, habits, and tongue of the Limburgers were all under threat from the growing Dutch influence in Limburg. The Limburg League would work “to defend all the good things of Limburg and fight for a new future for the children of its own country” (GOLDSTEIN 1986, 59). It is hard to assess how strongly the “Limburgsche Liga” influenced public opinion in the 1920s, but it is perhaps a sign of the times that Catholic opinion leaders in Limburg’s confessional organizations, while opposed to the radicalism of its ideas, expressed an analogous regionalism. They had to balance Catholic regionalism with national Catholicism (cf. KNOTTER 2008). 2.5 Looking for a regional character From the beginning of the twentieth century, the idea of a specific ‘Limburg’ regional character was developed by ethnologists, inside and outside academic discourse. It is highly significant that in their observations characteristics of the ‘Limburgers’ were defined in opposition to those of the Dutch in the north of the country. Read, for instance, how in 1913 one of the founders of Dutch ethnology, the Jesuit VAN GINNIKEN, used ‘Holland’ as a point of reference: “The Limburgers are the Italians of our country […]. They are more light-hearted and cheerful, more volatile, more variable, but also more spiritual than the Hollanders […]

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They usually are much more acute and humorous than their northern brothers of the same language” (VAN GINNEKEN 1913, cited in PERRY 2009, 197). As an academic VAN GINNIKEN had an enormous influence in journalism and public writing in Limburg. His metaphor of Limburgers as the Dutch ‘Italians’ was – and is – repeated over and over again (PERRY 2009, 198, 200, 202). In the 1920s and 1930s regionalists even discovered a Limburg ‘soul’, formed from a mix of tribal descent (both Celtic and German) and Catholicism (PERRY 2009, 202–203). Again, this ‘soul’ was defined in contrast to Holland, for instance by the regionalist writer MATTHIAS KEMP: “The noisy, lively, festive and satirical character of the Limburger is in stark contrast to the average character in the north” (PERRY 2009, 216). The search for a ‘Limburg’ regional character found an intellectual climax in the work of WINAND ROUKENS, whose publications in the 1930s and 1940s were based on contemporary German ethnology. He defined a separate Limburg regional ‘psyche’, formed by a mixture of the German (Frankish) and an older socalled Alpine race, in contrast to the Hollanders, whose character was formed by their supposedly Saxon and Frisian racial background. Alpine racial influences accounted for the ‘impulsivity’, the ‘rich fantasy and imagination’, the ‘lively temperament’, and ‘dynamic spirit’, which distinguished Limburgers from the inhabitants of the rest of the Netherlands, and were also reflected in their artistry, their musicality, and their tuneful language (cf. PERRY 2009, 204–208; KNOTTER 2009b, 12–14; KNOTTER 2009c, 268–270).6 Thus, a specific ethnicity was defined for the population of a region that had started as nothing more than an accidental territory and a geopolitical anomaly. 3 THE LINGUISTIC CONSTRUCTION OF LIMBURGIAN BORDERS AND BOUNDARIES AT MULTIPLE LEVELS The historical perspective in the previous section has already shown that borders are socially produced and reproduced, and are thus always susceptible to being modified, transformed, erased, recreated, reimagined, and transgressed (cf. SOJA 2005, 33). Linguistic borders are constructs and processes as well and spatial deliminations may be found in linguistic spheres (see for example AUER 2013; BAEL 2010). Regions can be defined by language (use): a linguistic space is formed by how various actors perceive and experience a certain spatial domain as one (homogeneous and bounded) linguistic unit (see Section 2.1). We will show in the next sections how the Limburgian linguistic space is carved up in multiple scales depending on the actors and the socio-historical contexts involved. This linguistic construction of borders takes place, from less to

6

The idea that so called Alpine racial influences determined individual psychology and that a mix of ‘Nordic’ and ‘Alpine’ races favored creativity and artistry were derived from contemporary German racial theorists like W. F. GÜNTHER and W. RAUSCHENBERGER (cf. MOK 2000).

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more local, at multiple scales i.e., the scale of a border-crossing area into Belgium and Germany in which ‘East Low Frankish’ is spoken (Section 3.1, Section 3.2), at the level of the province (Section 3.1), at the level of clusters of dialects based on major isoglosses (Section 3.2), and at the level of localities (Sections 3.1, 3.3). The linguistic construction of the province of Limburg started with the activities of both the urban bourgeoisie and the rural clergy in villages in Limburg. At the end of the 19th century, they initiated codifying and promoting dialects as the foundation of authentic local culture and identity. These efforts allowed a far stronger social and cultural position of dialects than anywhere else in the Netherlands, which continues to the present day (cf. CORNIPS 2013). The interest in dialect consolidated itself at a time when speaking the national language, Dutch, was far from obvious, and was challenged by the use of German (along the Eastern frontier) or French (mainly in the regional capital Maastricht, cf. KESSELS-VAN DER HEIJDE 2002). Two examples of the activities by the urban bourgeoisie are the foundation of the “Société Dramatique de Ruremonde” (‘The Drama Society of Roermond’) in Roermond in 1838 and the “Society Momus” in Maastricht in 1840 (WOLTERS 2016, 21). The linguistic construction of the province of Limburg was taken up further in 1926 when a society with local networks throughout the province was established, named “Veldeke” (in the beginning the acronym V.E.L.D.E.K.E – “Voor Elk Limburgs Dialect Een Krachtige Eenheid” (‘For Every Dialect A Powerful Unity’). Veldeke’s aim was “to promote and develop further the Limburgian language and the Limburgian folk culture”.7 Its chair VAN WESSEM expressed it as follows: “Limbörgs dinke – Limbörgs spreke – Limbörgs blieve” (‘To think in Limburgish, to talk Limburgish and to remain a Limburger’). Veldeke aimed and still aims at striking a balance between emphasizing the existence of Limburgian and stressing the importance of the coexistence of different dialects, all equally important for establishing a local identity, that is, the ideal of “unity in linguistic diversity” (CORNIPS et al. 2016). 3.1 Evaluative judgments of respondents in Limburg between 1885 and 1939 We first present two dialect studies of nonspecialist beliefs about (dis)similarities of surrounding dialects (cf. PRESTON 2011) in geographical space between 1885 and 1939. These studies reveal how the Limburgian provincial and national borders have gradually turned into linguistic borders. The first study is the one by the linguist and philologist PIETER WILLEMS who examined to which degree speakers of dialect varieties ascribe linguistic similarities or differences to neighboring dialects as more similar of more different than theirs.8 WILLEMS sent out written questionnaires to various locations in the south of the Netherlands including Limburg, the surrounding area in Germany, and a part of Flanders (Belgium) in 1885,

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just two decades after Limburg became part of the Netherlands (Section 2.1). He asked respondents, who were most often speakers of dialect varieties to answer the question as to which dialects in the surrounding locations resembled their own dialect. Map 3 presents the evaluative judgments of respondents concerning the degree of similarity of the dialect varieties around the speaker's home area in Limburg: if respondent A considered the speech of B similar to his, then a straight arrow is placed pointing from A to B (method undertaken by GOEMAN 1989). Consequently, the arrows represent clusters of localities in which the respondents’ evaluations ‘they speak like us’ become visible. Empty spaces reveal the geographical range of the knowledge or awareness of the speaker with respect to surrounding dialects or it reveals that respondents did not answer this specific question in the questionnaire. The dotted line in Map 3 shows the contour of the province of Limburg.

Map 3: Speakers’ evaluations of similarity between dialects in Limburg in 1885 (detail taken from GOEMAN 1989)

Map 3 shows that in 1885, the knowledge or awareness of the speaker with respect to the surrounding dialect varieties covered approximately an area of five or six kilometers, the distance that can be crossed in an hour by foot. As mentioned above (see Section 2.2), in the agrarian society of the nineteenth century people were oriented towards the local environment. Map 3 shows that this localism is

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also reflected in evaluations about dialect varieties in neighboring villages since the geographical coverage visualized by the clusters of arrows is quite small. Importantly, Map 3 also shows that in 1885 the national and provincial borders of Limburg were not linguistic borders since many arrows run across into Belgian and German space.

Map 4: Awareness of similarity between the dialects in Limburg in 1939 (taken from WEIJNEN 1947, 72).

WILLEMS’ method was taken up some fifty years later in 1939 by the dialectologist WEIJNEN (1947, 72). He asked respondents living in Limburg which dialects in the surrounding locations resembled their own dialect. Similar to Map 3, Map 4 reveals clusters of localities visualizing the attitudes of respondents concerning the degree of similarity of the dialects around the speaker’s home area in 1939.

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Note that WEIJNEN, unlike WILLEMS, restricted himself to respondents in the province of Limburg; that is, respondents in the surrounding border areas in Germany and Belgium were not questioned. Map 4 reveals a different pattern than Map 3: the geographical coverage visualized by the clusters of arrows picturing the perception range of awareness of the respondents has expanded considerably to about 14 to 18 kilometers. Naturally, this is due to the increased mobility of the speakers as a result of large-scale technical, industrial, and economic developments since the beginning of the 20th century. In addition, Map 4 reveals that the clusters of arrows are now connected to each other and form ‘chains’ following the strange, elongated form of Limburg and remain within its provincial/national borders. Thus, Map 4 shows that in 1939 respondents were able to evaluate other dialects and/or dialect speakers beyond their immediate locality. Both maps reveal a development through time: the provincial and national borders of Limburg have been gradually perceived and evaluated as linguistic borders from the moment that Limburg became a Dutch province. 3.2 Limburg defined at the scale of clusters of dialects (isoglosses) The river Meuse (which has marked the border between the Dutch and Belgian provinces of Limburg since 1830) has had dialect-geographical effects in phonology, but the territorial and administrative borders that constitute the provinces of Limburg do not correspond with linguistically bound entities (cf. CORNIPS 2013; HERMANS 2013). Historical dialectological research categorized the Limburg dialects as ‘South Low Frankish’ (Südniederfränkisch) or ‘East Low Frankish’ (Oostnederfrankisch in the Dutch tradition). These dialects are spoken between the isoglosses the Benrath Line and the Uerdingen Line, which both delineate the Second Consonant Shift (see HERMANS 2013 for an extensive discussion).9 If Limburgish is defined as South Low Frankish, it is a border-crossing variety that stretches out in a circle roughly from Venlo (north) to Maastricht in the Netherlands to Eupen in Belgium (south) and from Solingen (east) in Germany towards Tienen in Belgium (west) (cf. HERMANS 2013). On the other hand, if Limburgish is defined according to where it is spoken in Dutch Limburg then it does not coincide with the provincial and/or the national borders. In fact, three dialect areas in Dutch Limburg can be distinguished in terms of being east-bound and west-bound on the basis of the Benrath and Uerdingen Line (cf. HERMANS 2013): 1) a transitional area between the Ripuarian dialects and the Limburg dialects; 2) East Limburg dialects, and 3) Central Limburg dialects. The dialect area in the north of the province finds itself too far north of the Uerdingen Line and belongs to the so-called Kleverland dialect varieties; it has been argued that they have too much Brabantic flavor to categorize it as Limburgish (cf. HERMANS 2013). The dialect area in the south-eastern

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This section is primarily based on HERMANS (2013).

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part of Limburg, where the Ripuarian dialect varieties are spoken finds itself east of the Benrath Line and these dialect varieties are considered to be a branch of High German (cf. HERMANS 2013). Historically, speakers of Limburgish in the meaning of ‘South Low Frankish’ have been influenced, in varying degrees, by speakers in the east (the Ripuarian dialects) and by speakers in the west (the Brabant dialect varieties) while being more separated from the north (Uerdingen line) and south. According to HERMANS (2013), there are two phenomena that may be called ‘Limburg phenomena par excellence’ since they occur in most Limburg dialect varieties and are not found anywhere else, namely lengthening before voiceless consonants in closed syllables, and the preservation of Accent2 before intervocalic voiced consonants. Almost all Limburg and Ripuarian dialects have a contrast between two tonal accents: Accent1 and Accent2. Phonetically, the two accents are distinguished as a timing difference. In words with Accent1 (denoted by the superscript 1) the pitch switches of the intonational melodies are realized early in the stressed syllable; in words with Accent2 they are realized much later (cf. HERMANS 2013). An example of the former, taken from HERMANS (2013), is [kɑf] ‘chaff’ in the dialect variety spoken in Kerkrade (Ripuarian dialect) whereas [ka:1f] is pronounced in Hasselt (west Limburg dialect; Belgium); an example from the latter from east (Germany) to west (Belgium) is the verb ‘to write’ in Cologne with Accent1 [∫ri:1və] but with Accent2 in Kerkrade [∫ri:2və], just like Maasbracht [∫ri:2və] and Hasselt [sxre:2və]. Other phenomena characteristic for Dutch Limburg are the occurrence of doen ‘do’ as a habitual auxiliary, s-plurals, the diminutive suffix –(ə)ke, a three-way gender system, participial gerunds, and a beneficiary NP (DE SCHUTTER / HERMANS 2013, 374), and in the eastern part the occurrence of the reflexive zich in middle and consumptive dative constructions (CORNIPS 1994). However, the dialect varieties spoken in Dutch Limburg are naturally heterogeneous systems and although they are very similar they also reveal distinctive grammatical properties (CORNIPS 2013). Taken together, from a linguistic perspective, dialect varieties in Limburg categorized as South Low Frankish do not coincide with the provincial/national borders of Limburg since South Low Frankish can be found in Germany and Belgium as well. On the other hand, what is called Limburgish excludes the dialects belonging to Kleverlands (north in the province of Limburg) and Ripuarian (southeast in the province). The traditional dialectological categorization for Limburgish (South Low Frankish) reveals a geographical scale with linguistic borders that is fixed and predetermined. Linguistic features are assumed to be representative for or reflections of geographical place. This perspective abstracts away from the role of the speaker as agentive and non-mobile (cf. AUER 2013, 8). Dialect speakers move, new speakers come in, and speakers have a choice of which dialect features to select in situationally conditioned contexts. The dialectological perspective that ‘space’ exists in an independent way as some kind of a container, or at least as something (substantially) existing previous to social practices has become unrealistic. WERLEN argues: “This was never the case. And now there is less and less evidence for such a construction” (WERLEN 2005, 43). According to PAASI (2005)

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isogloss-drawing as boundary-drawing practices are always part of a broader social action and have typically been based on the processes of ‘Othering’, i.e., the construction of symbolic/cultural boundaries between ‘us’ and ‘the Other’. According to him, “what is needed is a deeper scrutiny of the social practices and discourses in which boundaries are produced and reproduced” (PAASI 2005, 18). 3.3 Limburg defined at the scale of localities As should be evident from our discussion above, the linguistic space of Limburg is represented as a political and ideological demarcation. The linguistic reality, however, does not exhibit such clear-cut borders. Laypeople, however, may search for linguistic phenomena that are considered unique for one’s locality (village or city) and/or the entire province of Limburg and which have become enregistered as Limburgish. This search for linguistic phenomena constitutes a process of locality-production since the local should not be thought of as being ‘just there’, thus as the natural outcome of a direct connection between a certain place and the people that live there, but needs, ‘to be produced’ (cf. APPADURAI 1996) through linguistic place-making activities (cf. AUER 2013; QUIST 2010). In this case, people do not claim to be a Limburger but make claims about what a Limburger is and is not (cf. JOHNSTONE 2004; ECKERT 2012). A type of linguisticmaking activity par excellence is the creation of dictionaries and grammars. Codification products that appeared early in Limburg, thus with Limburg’s integration into the Dutch nation-state, were the dictionaries for the dialect variety of villages in Limburg, namely Heerlen (1884), Roermond (1889), and Maastricht (1905) (see GOOSSENS / VAN KEYMEULEN 2006). At the end of the 20th century dialect amateurs took a renewed interest in dialect varieties witnessed by a ‘revival’ of the procution and publication of 42 new dialect dictionaries after a period of inactivity that had lasted sixty years. Dialect dictionaries of the following localities have been published: Arcen (1989), Baarlo (2005), Beek (1982), Beesel (2003), Brunssum (2006), Echt (1988, 2008), Elsloo (2000), Gennep (1993; 2005), Geulle (1992; 1995), Groenstraat (1981), Gronsveld (1979; 2000), Grevenbricht (2011), Heel (2003), Heer (1990), Heerlen (1884; 2000), Helden (2009), Herten (1973), Horst (1989), Kerkrade (1987; 1997; 2001; 2003), Maasbree (2007), Maastricht (1851–1852; 1905; 1914; 1955; 1995; 1986; 1996; 2004; 2005), Meerlo (1973), Meijel (1991), Montfort (2007), Nieuwstadt (2014), Nuth (2002), Posterholt (2005), Roermond (1985; 2003), Schinveld (1995), Sevenum (2010), Simpelveld (1994; 2005), Sittard (1927; 1979; 1973; 2005; 2010), Stamproy (1989), Susteren (2000), Swalmen (2005; 2011), Tegelen (1968; 2006), Thorn (2011), Tungelroy (1985), Valkenburg (1917–1918; 1928; 1994; 2012), Venlo (1992; 1993; 2009), Venray (1991; 1998; 2009; 2010), Weert (1983; 1994; 1998; 2009).10 A recent development is the publication of online dictionaries and grammars such as the 10

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ones for Maastricht, Gronsveld, and Thorn.11 The latter even combines its online dictionary with sound files. Like dialect amateurs, linguists are involved in place-making through their research practices. Many dissertations have appeared focusing solely on one location in Limburg: MÜNSTERMANN examined functional and structural dialect loss in the dialect of Maastricht (1986), GIESBERS examined code-switching in the dialect of Ottersum (1989), STIJNEN / VALLEN examined dialect interference in spoken Dutch among pupils of primary school in Kerkrade (1989), HINSKENS examined the process of dialect leveling in the spoken dialect of Rimburg (1993), BAKKES examined phonological and morphosyntactic dialect loss in the spoken dialect of Montfort (1994), and CORNIPS examined syntactic variation in the spoken regional Dutch in Heerlen. Linguists also create dictionaries, the most famous and largest one is the “Woordenboek van de Limburgse Dialecten”, ‘Dictionary of the Limburgian Dialects’ which contains data collected between 1880 and 1980 and was published between 1983 and 2008.12 This dictionary contains 1,277,247 reports of nouns for 7,016 concepts. Together these dictionaries and grammars (re)produce Limburg as a particularity, which serves as the basis for the experience of Limburgerness (cf. CORNIPS et al. 2016). This does not hold for the phonological, morphological, and syntactic atlases of the Dutch dialect varieties that have been published in the last two decades (BARBIERS / GOEMAN 2013) since the geographical distribution of linguistic phenomena is not restricted to provincial borders. However, for these atlases it still holds that ‘space’ is a geographical container in which distributions are considered as stable independent of speaker’ social practices. 3.4 The linguistic construction of Limburg A crucial instrument used to consolidate the province of Limburg into a linguistic space was the “European Charter for Regional and Minority Languages” (ECRML). The dialect varieties of Limburg were extended minor recognition under the label ‘Limburgish’ by The Netherlands in 1997, a signatory of the ECRML in 1992. Minor recognition under ECRML necessitates the Dutch state to formally recognize the status of Limburgish as a separate variety without, however, being obliged to take relevant measures such as financial support (cf. SWANENBERG 2014). Actors who were active in this process of recognition were political, namely the political party “Nieuw Limburg” (‘New Limburg’) asked MARTIN EURLINGS (States Deputed of the Provincial Government of Limburg) during a provincial meeting in 1995 whether recognition of the dialect varieties in Limburg would be achievable (cf. BELEMANS 2009, 127). Actors were the dialect associa

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For Maastricht see ; accessed: 31.10.2017; for Gronsveld see ; accessed: 31.10.2017; and for Thorn see ; accessed: 31.10.2017. See ; accessed: 31.10.2017.

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tion “Veldeke” (see Section 3) that was assigned by EURLINGS on behalf of the Provincial Government to submit an official request (cf. BELEMANS 2009, 127) and the “Stichting Dialect- en Cultuuronderwijs” (DOL) (‘Association Dialect and Cultural Education’) whose secretary sent a letter on 2 November 1995 to the Dutch national State Secretary to recognize the dialects in Limburg. These initiatives resulted in the foundation of the “Werkgroep Erkenning Limburgs als Streektaal” (‘Working Group Recognition Limburgish as Regional Language’) on 1 December 1995 (cf. BELEMANS 2009, 132). In compliance with this minor recognition, the “Raod veur ’t Limburgs” (‘Council for Limburgish’) was installed by the province together with a language policy officer. The Raod serves as an advisory committee of the Provincial Council and its most important aim is to “take care of Limburgish”13 and to design a language policy for the dialect varieties in Limburg and to study the effects of the minor recognition. Since then, all dialect varieties spoken in the province of Limburg have been categorized and labelled ‘Limburgish (regional language)’. Since its recognition, people can say that they speak ‘Limburgian’ or ‘Limburgish’, even the people who speak the Ripuarian and more Brabantic dialect varieties that do not belong to ‘South Low Frankish’ (see Section 3.2; SWANENBERG 2015). Since then, public funds have been made available for promoting its use, as well as protecting the language rights of its speakers. The ECRML recognition obviously gave meaning and form to the construction of the province of Limburg as a linguistic space (CORNIPS in print) even though from a dialectological perspective, the dialects spoken in Limburg do not form a homogenous unit (see Section 3.2). 4 CONCLUSION: READING HISTORY BACKWARDS If we follow the Dutch philosopher of history PIET BLAAS, the writing of history implies looking forward from a past position (cf. BLAAS 2001). Until quite recently, most regional historians in Limburg did not keep to this principle, but instead projected cultural and other characteristics ascribed to the province, backwards in time, be it in the context of the nation, the Meuse-Rhine area, or Limburg itself. In this way, they constructed an unchanging identity based on history and heritage. They could not imagine a specific Limburg identity unless it was rooted in the past. If the famous phrase by ERIC HOBSBAWM about ‘the invention of tradition’ can be applied anywhere, it is on this unhistorical conception and perception of Dutch Limburg. According to HOBSBAWM the “invention” of traditions is an “attempt to establish continuity with a suitable historic past” and “to structure [...] parts of social life [...] as unchanging”, in contrast to “the constant change and innovation of the modern world” (HOBSBAWM 1983, 1–2). Constant change is not a privilege of modern times, however; it is the very foundation of history, even under the guise of continuity. A telling example is the way how Catholicism in

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Limburg, while invoking its age-old traditions, was in fact moulded into a regionalist discourse. If a regional identity of Limburg cannot be based on history and heritage, how can we explain the strong identification of its inhabitants with their province? Originally a geopolitical anomaly without a common history, Limburg became a province with a strong regional identity by recognizing itself as a deviation from the national norm. During the 19th and 20th century, Limburg defined its common economic interests, religion, habits, character, and culture in opposition to a perceived outsider, generally designated as ‘Holland’. In particular, language, that is, the speaking of dialects and using dialect features was and still is a crucial practice in the construction of a Limburgian identity that is mediated and reproduced in popular culture as well. National integration and regional identification were two sides of the same coin. In this dialectical process, the Limburgers became aware of certain commonalities, and started to think and behave in this way. The construction of a regional identity in Limburg can be considered a case of negative integration: as a regional Limburg identity was constructed in opposition to ‘Holland’ (= the rest of the Netherlands), it could only develop because Limburg became a part of that country. From the viewpoint of the historical participants, this may appear to be a matter of differentiation, but from the viewpoint of the observer, it can be recognized as a form of integration. While becoming Dutchmen, the Limburgers simultaneously discovered that they were a group of people with a character and a language of their own. BIBLIOGRAPHY ALBERTS, W. JAPPE (1972/1974): De geschiedenis van de beide Limburgen. Beknopte geschiedenis van het gebied omvattende de tegenwoordige Nederlandse en Belgische provincies Limburg. 2 volumes. Assen: Van Gorcum. ALLEN, JOHN / DOREEN MASSEY / ALLAN COCHRANE (1998): Rethinking the Region. London/New York: Routledge. APPADURAI, ARJUN (1996): Modernity at large. Cultural Dimensions of Globalization. Minneapolis, MN: University of Minnesota Press. AUER, PETER (2013): The geography of language: Steps towards a new approach. In: Freiburger Arbeitspapiere zur Germanistischen Linguistik (FRAGL) 16(8). URL: ; accessed: 31.10.2017. BAEL, JOAN (2010): Shifting borders and shifting regional identities. In: LLAMAS, CARMEN / DOMINIC WATT (eds.): Language and identities. Edinburgh: Edinburgh University Press, 217–226. BARBIERS, SJEF / TON GOEMAN (2013): Research results from on-line dialect databases and dynamic dialect maps. In: HINSKENS / TAELDEMAN (2013), 646–663. BARTH, FREDRIK (1967): Ethnic Groups and Boundaries. The Social Organization of Cultural Difference. Bergen: Waveland Press. BELEMANS, ROB (2009): Taal of tongval? De gespleten Limburgse kus, oraal erfgoed en taalpolitiek. Brussels: Pharo Publishing. BLAAS, PIET (2001): Vorm geven aan de tijd. Over periodiseren. In: GREVER, MARIA / HARRY JANSEN (eds.): De ongrijpbare tijd. Temporaliteit en de constructie van het verleden. Hilversum: Verloren, 35–47.

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ZUR REORGANISATION MODULATIVER UND ADDITIVER PLURALMARKER IN WESTFÄLISCHEN DIALEKTEN UND IM LUXEMBURGISCHEN AM BEISPIEL DES ER-PLURALS Antje Dammel / Markus Denkler 1 EINLEITUNG Die Pluralsysteme deutscher Dialekte und des Luxemburgischen weisen sowohl modulative als auch additive Marker auf, die auf Stammbildungselemente, Vokalassimilationen (v. a. bei den i-Stämmen) und analogische Ausweitungsprozesse zurückgehen. Der er-Plural ist ein besonders interessanter Fall, da er auf eine sehr kleine Deklinationsklasse (s-Stämme) zurückgeht, bei der die Verbindung von Addition und Modulation nur regional besteht und die diachron in verschiedenen Dialektregionen eine sehr unterschiedlich starke Ausweitung erfahren hat (vgl. z. B. SCHIRMUNSKI [1962] 2010, 477). Letzteres lässt sich unter anderem auf die unterschiedliche Stellung von -er in den regionalen Pluralsystemen zurückführen, die hier beispielhaft für das Westfälische und das Luxemburgische untersucht werden soll. Dabei kann die dialektgeographische Verteilung der Typen mit erPlural Aufschluss über diachrone Verbreitungsschritte geben. Die beiden Regionen wurden gewählt, weil sie in Bezug auf den er-Plural eine historische Gemeinsamkeit, darüber hinaus aber sehr unterschiedliche Voraussetzungen für eine Generalisierung des er-Plurals aufweisen: Beide Regionen haben gemeinsam, dass für ursprüngliche Mitglieder des er-Plurals (z. B. KALB, LAMM) umlautlose Pluralvarianten belegt sind; sie unterscheiden sich unter anderem darin, dass im Westfälischen der e-Plural noch eine Alternative ist, im Luxemburgischen bedingt durch die Schwa-Apokope dagegen keine Rolle mehr spielt. Wie sich zeigen wird, gibt es auch deutliche Unterschiede, was die realisierte Produktivität (Typenfrequenz) des er-Plurals angeht. Im Luxemburgischen hat sich -er als regulärer Pluralmarker für Neutra und Maskulina etabliert, wobei die Bedingung der Modulation aufgegeben wurde, im Westfälischen bleibt er stark eingeschränkt. Es soll untersucht werden, wodurch diese Unterschiede bedingt sind; dabei soll vor allem die Rolle der Schwa-Apokope überprüft werden. Zunächst wird auf das Westfälische eingegangen (Abschnitte 2 und 3), dann auf das Luxemburgische (Abschnitt 4). Als „Umlaut“ werden hier alle konkomitanten oder für sich stehenden Vokalalternanzen in der Pluralbildung bezeichnet, auch wenn sich diese bedingt durch kombinatorischen Lautwandel weit von der Palatalisierungsalternation, die dem Umlaut ursprünglich zugrunde lag, entfernt haben, z. B. südwestfälisch (Soester

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Antje Dammel / Markus Denkler

Börde) Bäom – Boime, Mius – Muise und luxemburgisch Bam – Beem, Maus – Mais, die standarddeutsch Baum – Bäume und Maus – Mäuse entsprechen. Ein weiterer Grund dafür, sich hier auf den er-Plural zu konzentrieren, ist sein umstrittener Status im System. So findet man zur Kombination aus Modulation und Addition (Konkatenation) Aussagen wie die von SHANNON (1989, 404), die Anstoß an deren Redundanz nehmen: „[T]he symbolization is non-optimal because it contains unnecessary double marking, which might represent an added burden both for memory and processing.“ KÖPCKE (1987) begründet die heutige Unproduktivität von -er im Standarddeutschen mit dessen schlechter Signalstärke, da -er polyfunktional (z. B. für nomina agentis) eingesetzt wird und Modulation als zusätzliche Komplikation hinzukommt. BYBEE / SLOBIN (1982) sehen keinen grundsätzlichen Nachteil für Modulation gegenüber Konkatenation und führen Lernschwierigkeiten auf die mit Modulation meist zusammen auftretende Irregularität zurück. Sie äußern sich aber nicht zur Kombination beider Verfahren. Die Frage, wie Konkatenation und Modulation reorganisiert werden, ist aber gerade für die Analyse der Pluralsysteme deutscher Dialekte und des Luxemburgischen zentral. 2 WESTFÄLISCH Zur Analyse des er-Plurals in den westfälischen Dialekten wird auf bislang nicht ausgewertetes Fragebogenmaterial vom Anfang des 20. Jahrhunderts zurückgegriffen. Grundlage ist der „Fragebogen I des Westfälischen Wörterbuchs“, den THEODOR BAADER entworfen und im Jahr 1922 verschickt hat.1 Im Archiv des Westfälischen Wörterbuchs in Münster liegen 238 ausgefüllte Exemplare (in Kopie) vor; sie stammen aus dem damals anvisierten Bearbeitungsgebiet des Westfälischen Wörterbuchs (vgl. WORTMANN 1969, 16). Abgefragt wurden 500 Items, darunter zahlreiche Pluralformen. Die Pluralbildung der westfälischen Dialekte zeichnet sich durch zwei Merkmale aus, die für die hier behandelte Fragestellung von Bedeutung sind: – –

Alte Umlautlosigkeit bei frühen Mitgliedern des er-Plural; frequenter e- und e+Umlaut-Plural bei den Neutra, der gebietsweise die Ausbreitung des er-Plurals hemmte.

Im westfälischen Dialektraum ist ein rein additiver er-Plural verbreitet (vgl. DENKLER 2009). Betroffen ist zunächst eine kleine Lexemgruppe, deren Mitglieder bereits im Frühmittelalter den er-Plural aufwiesen: HUHN, LAMM, KALB, RIND, EI und nur wenige mehr. Es handelt sich bei diesen Lexemen um sStämme, deren Stammbildungselement als Pluralsuffix reanalysiert wurde (vgl. 1

Der Dialektologe THEODOR BAADER war seit 1921 und bis zu seiner Berufung an die Katholieke Universiteit Nijmegen, jetzt Radboud Universiteit, damit betraut, in Münster ein Archiv für das Westfälische Wörterbuch aufzubauen.

Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker

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WEGENER 2005, 87–89; WURZEL 1992, 282–285). Die Lexeme weisen starke formale und semantische Gemeinsamkeiten auf: Sie sind einsilbig, Neutra und Bezeichnungen für (meist kleinere oder jüngere) Haustiere (sogenannte „Hühnerhofdeklination“, WEGENER 2002, 265). Die „alte Umlautlosigkeit“ beim Plural in dieser Gruppe wird von FOERSTE (1957, 1811) auf das Westniederdeutsche eingegrenzt. KLEIN (2013, 179) erklärt sie mit dem Hinweis darauf, dass vor dem u im Nom./Akk. Pl. der s-Stämme die ansonsten frequente Hebung von unbetontem e zu i im Altsächsischen ausgeblieben ist und somit keine Umlautung eintreten konnte. Die räumliche Verbreitung der Umlautkonkomitanz beim er-Plural sowie deren Ausbleiben in den westfälischen Dialekten sei an einem Beispiel illustriert. Die Abbildung DAMMEL / DENKLER-1 im Farbabbildungsteil zeigt die dialektalen Übersetzungen von schriftdeutsch „Kälber“ in den westfälischen Dialekten. Zur Orientierung ist die Grenze des heutigen westfälisch-lippischen Landesteils von Nordrhein-Westfalen in die Karte eingezeichnet. Die roten Punkte stehen für umlautlose er-Pluralformen wie Kalwer oder Kalwere. Sie sind nicht in ganz Westfalen verbreitet, sondern vor allem in den westlichen zwei Dritteln. Die grünen Punkte stehen für den er+Umlaut-Plural, der vor allem im Osten sowie durchmischt auch südlich der Lippe vorkommt. Es zeigt sich also, dass nur ein Teil der rezenten westniederdeutschen Dialekte den er-Plural ohne Umlaut im Repertoire hat. Die umgelauteten Plurale stellen hier wohl eine Neuerung dar, die sich weseraufwärts und von da nach Westen ausbreitet, was einem gängigen Bild bei der geographischen Diffusion von Neuerungen im Westniederdeutschen entspricht (vgl. DENKLER 2009, 95–96). Die ältere Form ohne Umlaut im Westen gilt auch nördlich und südlich des in Abbildung 1 erfassten Raums, offenbar von Ostfriesland im Norden bis etwa zur Mosel im Süden. Genaue Angaben, auch darüber, wie kontinuierlich diese Pluralformen am Westrand auftreten, lassen sich nicht machen (vgl. auch KLEIN 2013, 175– 176). Das Gebiet ohne Umlaut beim er-Plural setzt sich auch in den ostniederländischen Dialekten fort. Ebenso lässt sich dort auch ein kleines Gebiet mit Umlaut erkennen, das Anschluss an die entsprechenden Punkte im Nordwesten unseres Kartenausschnitts hat (vgl. MAND 1, 29). Bei der Frage nach der Ausbreitung bzw. Übertragung des er-Plurals auf andere Lexeme sind vorrangig andere einsilbige Neutra in Betracht zu ziehen. Relativ ausführlich geht beispielsweise CHRISTIAN SARAUW (1924, 33–35, 43–44) in seiner mittelniederdeutschen Grammatik auf diese Übertragungen ein, die insgesamt allerdings seltener sind als im Mittel- und Frühneuhochdeutschen. Zu beachten ist zunächst, dass im Mittelniederdeutschen nur bei einem Teil der neutralen a-Stämme Singular und Plural im Nominativ und Akkusativ undifferenziert sind, also kein sehr großer „Reparaturbedarf“ im Hinblick auf eine Numerusunterscheidung besteht: Bei den kurzsilbigen a-Stämmen (beispielsweise blad, glas, schip, slot) erscheint das Suffix -e im Nom./Akk. Pl., das aus as. -u entstanden ist. Bei den langsilbigen a-Stämmen (z. B. bôk, dorp, hûs, wîf) sind Nom./Akk. Pl. dagegen endungslos. Ab dem 13. Jahrhundert wird hier teilweise der e-Plural, meist

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Antje Dammel / Markus Denkler

mit Umlaut, übernommen; ab dem 15. Jahrhundert erscheint in einzelnen Fällen auch der er-Plural, ebenfalls mit Umlaut (vgl. auch LASCH 1914, § 373). Abbildung DAMMEL / DENKLER-2 im Farbabbildungsteil zeigt die Dialektübersetzungen von standardsprachlich „Dörfer“, einem langsilbigen Neutrum. Die grünen Symbole stehen für den er-Plural, die roten Symbole für den e-Plural bzw. den durch Schwa-Apokope entstandenen Null-Plural. Deutlich ist, dass der erPlural überwiegt und dass er immer mit Umlaut auftritt: Dorp – Dörper. Ausnahmen – in der Karte symbolisiert durch grüne Quadrate – ergeben sich durch die Palatalisierung von o vor Dental auch im Singular (vgl. hierzu NÖRRENBERG 1932/1969) am Ostrand des westfälischen Dialektraums: Dörp – Dörper. Hier sorgt also der Lautkontext dafür, dass keine Vokalalternanz eintritt, also ein rein additiver Plural besteht. Der e-Plural sowie der Null-Plural im bekannten münsterländischen Apokopierungsgebiet (vgl. etwa DENKLER 2011) kommen im Nordwesten Westfalens vor, vor allem im Münsterländischen. Im Plural erscheint immer der Umlaut: Dorp – Dörpe/Dörp. Das Format er+Umlaut wurde somit übertragen (einige weitere einsilbige neutrale a-Stämme, vgl. auch DiWA, Karte 466 (Häus)er), das Format er-Plural ohne Umlaut dagegen nicht. Im Kalwer-Gebiet wird größtenteils die Alternative e-Plural verwendet. Hier ist der er-Plural somit nicht sehr stark im Lexikon verbreitet. Dieses neuerungsunfreudige Gebiet hat sowohl mit Kalwer als auch mit Dörpe ältere Formen beibehalten, wobei allerdings daran zu erinnern ist, dass auch Dörpe eine Übernahme eines Pluralbildungsverfahrens von einer anderen Substantivklasse darstellt (den maskulinen i-Stämmen). Der Plural Dörpe liegt also offensichtlich näher als ein Plural Dorper nach dem Vorbild Kalwer. Die Schwa-Apokope in der Pluralform Dörp ist erst in der Neuzeit eingetreten. Als zweites Beispiel sei GLÄSER herangezogen (vgl. Abbildung DAMMEL / DENKLER-3 im Farbabbildungsteil). Insgesamt zeigt sich ein ähnliches Bild wie bei DÖRFER: Der er-Plural ist vorrangig im Osten und Süden des westfälischen Dialektraums verbreitet. Kurz- und langsilbige Neutra verhalten sich also nicht grundsätzlich anders in Bezug auf die Übernahme des er-Plurals. Wohl aber zeigt sich, dass beim e- und entsprechend auch beim Null-Plural die Umlautkonkomitanz durch die Silbenstruktur gesteuert ist: Zumeist ohne Umlaut (24 vs. 13 Belege) ist der e-Plural bei den kurzsilbigen Stämmen, hier also Glase, Glaas. Auch hier liegt alte Umlautlosigkeit vor, denn der e-Plural ohne Umlaut ist bei den Kurzssilblern ja schon im Frühmittelniederdeutschen üblich. Bei den langsilbigen Stämmen wird dagegen durchgängig der e-Plural mit konkomitantem Umlaut übernommen. Auch bei GLÄSER tritt der er-Plural fast immer mit Umlaut auf (zumeist Gliäser). Belege ohne Umlaut (Glaser) sind eine Randerscheinung (8), auch im geographischen Sinne: Sie bilden kein Gebiet, sondern erscheinen verstreut, vornehmlich in der Kontaktzone von Glase/Glaas und Gliäser. Somit dürfte es sich bei Glaser um eine Kontakterscheinung bzw. Kompromissbildung handeln. Umlautlose er-Plurale außerhalb der Kleintierbezeichnungen treten also nur auf, wenn auch umlautlose e-Plurale in der Nachbarschaft vorkommen. Dazu könnte dann aber auch der Einfluss eben jener Kleintierbezeichnungen eine Rolle spielen, denn

Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker

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fast alle Belege für Glaser (7) kommen aus Orten, wo auch Kalwer gemeldet wird. Wie man sieht, wird der er-Plural ohne Umlaut selbst dort, wo er als Prototyp zur Verfügung steht, nicht oder so gut wie nicht übertragen. Ist also eigentlich der umlautlose er-Plural der nicht optimale Plural? KASTOVSKY (1995) behandelt den er-Plural ohne Vokalmodulation vor dem Hintergrund der Entwicklung im Altenglischen, wo anders als im Althochdeutschen und Altsächsischen keine Etablierung eines er-Plurals erfolgt ist. Er ist der Meinung, dass unter anderem die frühe Phonemisierung des Umlauts und die frühe Nebensilbenabschwächung im Altenglischen die Funktionalisierung des Stammbildungselements zum Pluralmarker verhinderten. Daher kommt er zu dem Schluss, dass der konkomitante Umlaut eine große Rolle bei der Etablierung einer unabhängigen morphologischen Kategorie Plural und bei der Reanalyse von -er als Pluralmarker im Deutschen gespielt hat. KLEIN (2013, 184) führt zwar Gegenbeispiele aus den niederländischen Dialekten an, wo sich der er-Plural ohne Umlaut etabliert hat, aber dennoch scheint im Deutschen der Umlaut eine große Rolle in der Entwicklung der Substantivdeklination zu spielen, und zwar als übergreifender Index für Plural (-e und -er). In den westfälischen Dialekten waren Lammer, Hôner usw. jedenfalls nicht beispielhaft, es erfolgte eine Übernahme entweder von er+Umlaut (Hüser, Dörper) oder von e+Umlaut (Hüse, Dörpe). Ein Merkmal des zwischenzeitlichen Erfolgs des er-Plurals ist seine Übertragung auf Maskulina. Inwieweit diese Übertragung in den westfälischen Dialekten stattgefunden hat, sei am Beispiel von STEINE untersucht. Abbildung DAMMEL / DENKLER-4 im Farbabbildungsteil zeigt zwar weit überwiegend den e-Plural bzw. Null-Plural. Aber nicht unerheblich sind die 17 Belege für er-Plural, die in zwei kleineren Gebieten vorkommen: An der Nordostspitze Westfalens – leider lässt sich hier nichts über die Verbreitung in den angrenzenden nordniedersächsischen und ostfälischen Dialekten sagen – und im nördlichen Hochsauerland. Für das Steiner-Gebiet im Norden des Kartenausschnitts liegt die Ortsgrammatik von SCHMEDING (1937, §§ 103, 106, 107) für Lavelsloh (heute im Landkreis Nienburg/Weser) vor. Nach seinen Angaben bilden dort die Maskulina stein, stok, stoul (a-Stämme), balx, bant, vöarm (i-Stämme), valt und šilt (u-Stämme) ihren Plural mit dem er-Suffix (zu den Neutra vgl. SCHMEDING 1937, §§ 109– 110). Die Übertragung geschah also im Rahmen bereits beschriebener formaler und semantischer Pfade (vgl. KLEIN 2013, 183; POITOU 2004, 85–86; NÜBLING i. Dr.): Sie betraf einsilbige Wörter, die den semantischen Bereichen Natur und Artefakte zugerechnet werden können. Innerhalb Westfalens lassen sich also zwar größere Unterschiede bei der Verbreitung des er-Plurals erkennen, insgesamt bewegen sich die er-Plurale aber auf einem niedrigen Niveau. Dieses Suffix ist nirgends der große Problemlöser, seine Übertragung geschieht stets im Rahmen deutlicher phonologischer und semantischer Gemeinsamkeiten. Um den er-Plural im Gesamtsystem der Pluralallomorphie verorten zu können, sei ein Blick auf Wörterbuchdaten geworfen. Zugrunde gelegt wurde das „Wörterbuch der Soester Börde“ (SCHMOECKEL / BLESKEN 1952). 860 Belege für Plurale aus dem gesamten Wörterbuch werden hier berücksichtigt. Komposita und

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Antje Dammel / Markus Denkler

Suffigierungen wurden nicht aufgenommen, bei Genus- und Pluralvarianz wurde doppelt gezählt. Die Soester Börde liegt in der Nähe des relativ starken erGebietes im nördlichen Sauerland (vgl. außerdem HOLTHAUSEN 1886, § 379). Im Wörterbuch findet man entsprechend auch bei den Maskulina Stöcker und Stoiner neben Stöcke und Stoine, oder auch die mehrsilbigen Neutra Gesichte, Stücke mit er-Plural. Fem. n=402

Mask. n=364

Neut. n=126

-e

7

63

36

-e Uml.

17

100

13

-er



3

20

-er Uml.



5

9

-er-s





1

-(e)n

353

71

15

-(e)n Uml.

4





-n-s

1

4

2

NULL

3

24

5

NULL Uml.

1

3



-s

12

85

18

-s Uml.

2

4

5

Suppl.

2

2

2

Tab. 1: Verteilung der Pluralallomorphe auf die drei Genera in den Dialekten der Soester Börde (nach SCHMOECKEL / BLESKEN 1952)

Folgende Besonderheiten lassen sich registrieren: Der s-Plural ist bei allen Genera vertreten, er tritt vor allem bei den Maskulina auf. Dort haben ihn 24 %, und zwar Konkreta auf -el, -en, -er sowie Verwandtschaftsbezeichnungen (vgl. hierzu auch KÜRSCHNER 2008, 151–152). Die starke phonologische Konditionierung des sPlurals (Zweisilber auf -el, -en, -er) wird durch bestimmte Lautentwicklungen aufgeweicht: Bei Buil (ʻBeutelʼ) und Flǖl (ʻDreschflegelʼ) hat der Ausfall der intervokalen Lenes -d- und -g- beispielsweise dazu geführt, dass nun einsilbige Wörter auf Liquid vorliegen, die den s-Plural selegieren.2 Umlautkonkomitanz ist allomorphübergreifend relativ hoch, sie kommt beispielsweise auch bei -(e)n (Dännen, Pächen, Füören, Huiken) und -s vor (Görens, Plösters, Moiers). 2

Solche durch Konsonantenausfall entstandenen Formen schlagen die Brücke zu einsilbigen Neutra und Maskulina, die mit Liquid oder Nasal enden. So kommt im Münsterländischen und im Minden-Ravensbergischen Stiëls (‘Stiele’) vor, im Ostwestfälischen auch Häörns (‘Hörner’) und Käörns (‘Körner’). Somit ist der s-Plural mancherorts auch ein Konkurrent des er-Plurals bei einsilbigen Neutra.

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Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker

3 ZWISCHENFAZIT Die Umlautlosigkeit beim er-Plural ist in den westfälischen Dialekten bei den ursprünglichen s-Stämmen teilweise erhalten geblieben (Kalwer, Lammer), und zwar im Westen. Diese Bildungsweise wird kein Vorbild für andere Lexeme, es gibt so gut wie keine Übertragungen des rein additiven er-Plurals. Der er+Umlaut-Plural wird generell vergleichsweise wenig übertragen. Dabei gibt es innerhalb Westfalen-Lippes deutliche regionale Unterschiede. Dies ist darin begründet, dass der e-Plural dort sehr bedeutsam ist, vor allem im Münsterländischen. Dort ist der e-Plural bei kurzsilbigen neutralen a-Stämmen erhalten geblieben, bei langsilbigen ist er gemeinsam mit dem Umlaut übernommen worden. Das kleine Schwa-Apokope-Gebiet zwischen der Lippe und der Ems hat sich erst relativ spät ausgebildet. Viele vokalische Alternanzen waren beim Eintritt der Apokope bereits vorhanden (Düörp, Glaas, Wiäch). Übertragungen des er-Plurals auf andere Neutra und auch auf Maskulina kommen durchaus vor, auch bei Lexemen, die in der Schriftsprache den e-Plural aufweisen (Bröder, Stener, Stöler). Dies geschieht allerdings in engen Grenzen: Bestimmend sind nach wie vor das formale Schema (Einsilbigkeit, Neutra und Maskulina) und semantische Eigenschaften (Natur und Artefakte) der Kandidaten. Die genannten Beispiele gelten nur in kleineren Gebieten in Ost- und Südwestfalen. In starker Vereinfachung lassen sich demnach drei regional verteilte Ausbaustufen des er-Plurals dingfest machen (siehe Tabelle 2): Das Münsterland gehört zu den Regionen, in denen umlautlose er-Plurale wie Honer oder Lammer erhalten geblieben sind. Den er+Umlaut-Plural gibt es hier auch darüber hinaus, beispielsweise bei Wichter oder Kinner, insgesamt ist namentlich bei den neutralen a-Stämmen allerdings der e-Plural verbreiteter, wie etwa Böke oder Glase. Lexeme

Münsterland

Süd- und Ostwestfalen

gebietsweise in Süd- und Ostwestfalen

Ei, Hôn, Kalf, Lamm, Rind Beld, Bred, Graf, Holt, Kind, Klêd, Land, Lecht, Lîf, Lock, Rîs, Wîf, Wicht – Mask.: Mann Blad, Bôk, Dack, Dorp, Fat, Glas, Hûs, Lid, Rad – Mask.: Band, Dôk Brôd, Schlot – Mask.: Stên, Stock, Stôl, Worm

er-Plural

er+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

e-Plural / e+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

e+Umlaut-Plural

e+Umlaut-Plural

er+Umlaut-Plural

Tab. 2: Regionale Staffelung des er+Umlaut-Plurals in den westfälischen Dialekten

In großen Teilen Süd- und vor allem Ostwestfalens tritt der Umlaut grundsätzlich als Begleiterscheinung des er-Plurals auf. Der er+Umlaut-Plural ist bei einsilbigen Neutra und auch einigen Maskulina etabliert. In einigen Gegenden Ost- und Süd-

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Antje Dammel / Markus Denkler

westfalens wird darüber hinaus bei einsilbigen Wörtern, die in der Schriftsprache den e-Plural selegieren, der Plural mit er- und Umlaut gebildet, darunter auch bei einigen Maskulina: Bröder, Stener. Ob sich die angeführten Beispiele allesamt auf die in Karte 4 umrissenen er-Plural-Areale eingrenzen lassen, müsste noch gesondert untersucht werden. 4 LUXEMBURGISCH Die Pluralbildung des Luxemburgischen zeichnet sich durch drei Merkmale aus, die für die hier verfolgte Fragestellung von Bedeutung sind: – – –

Schwa-Apokope; relikthaft alte Umlautlosigkeit bei frühen Mitgliedern des er-Plurals; eine hohe Produktivität des er-Plurals bei Neutra und Maskulina, teilweise unter Aufgabe der Vokalalternation.

Letzteres wird im Zentrum dieses Abschnitts stehen, doch zunächst werden kurz die ersten beiden Punkte behandelt und auf die Verhältnisse im Westfälischen bezogen. Mit der Schwa-Apokope fügt sich das Luxemburgische in die großräumig apokopierenden Gebiete des Ober- und Westmitteldeutschen ein. Sie gilt gesamtluxemburgisch und bedingt, dass e-Plurale keine Option mehr im System sind. Die Schwa-Apokope steht schon lange im Verdacht, für eine erhöhte Produktivität des er-Plurals verantwortlich zu sein, vgl. z. B. WEGENER (2002, 265): Die Herausbildung und vor allem die Ausbreitung des er-Plurals im Fnhd wird erklärlich vor dem Hintergrund einer generellen Schwa-Apokope. Wenn das finale Schwa aber nicht artikuliert wird, dann sind reine e-Plurale nicht wahrnehmbar, Pluralformen fallen mit Singularformen zusammen, so wie heute z. B. im Schwäbischen: die Hund-*e.

Dieser Verdacht wird in der Diskussion am Ende des Beitrags wieder aufgegriffen und eingehender diskutiert. Nun zur alten Umlautlosigkeit, die das Gebiet des heutigen Luxemburgischen mit dem Westfälischen gemeinsam hat und die als Variante neben Umlaut bei einigen Gründungsmitgliedern der er-Pluralklasse belegt ist. So sind für die Lemmata KALB und LAMM im „Luxemburger Wörterbuch“ umlautlose Pluralvarianten belegt: Sg. Kallef (Westen: /kO:ləf /kA:uləf) versus Pl. Kaalwer/Kälwer (Bd. 2, 1955/62, Sp. 270a–271b) und Sg. Lam/Lamm/ Lamp versus Pl. Lamer/Lämmer (Bd. 3, 1965–70, Sp. 10a–11a). Bei HUHN, das im Westfälischen ebenfalls eine umlautlose Variante aufweist, verzeichnet das Luxemburger Wörterbuch nur umlauthaltige Formen: Sg. Hong/Hung – Pl. Hénger/Hinger (Bd. 2, 1955/62, Sp. 173a–175a). Die Umlautlosigkeit gilt großräumiger auch im Nieder- und Moselfränkischen auf deutscher Seite, die umlautlosen er-Pluralformen sind bei KÄLBER fast für

Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker

101

den gesamten moselfränkischen Raum belegt.3 Damit bildet die westmitteldeutsche Umlautlosigkeit bei Lexemen der „Hühnerhofdeklination“ ein großräumiges Areal zusammen mit dem im letzten Abschnitt beschriebenen westniederdeutschen Gebiet. Mit der Variantenauswahl Kallef (Sg.) – Kaalwer (Pl.) im „Lëtzebuerger Online Dictionnaire“, dem vom Ministère de la Culture herausgegebenen Wörterbuch des Luxemburgischen, geht Umlautlosigkeit bei KALB auch in den Standard ein, in diesem Fall allerdings mit einer quantitativen Vokalalternation mit Kurzvokal im Singular und Langvokal im Plural. Der „Luxemburgische Sprachatlas“ (LSA), der auf Erhebungen von 1935–39 und 1946/47 basiert, kartiert leider keines dieser frühesten Mitglieder der „Hühnerhofdeklination“, dokumentiert aber für die späteren Neuzugänge zum erPlural, BLATT und HAUS,4 dass nur ganz im Norden und hier eher östlich ebenfalls Umlautlosigkeit auftritt. Ein Abgleich der LSA-Daten mit den WenkerErhebungen von 1888 (Abbildungen DAMMEL / DENKLER-5 und 6 im Farbabbildungsteil; eigene Ergänzung der LSA-Karten, rote Kreise markieren umlautlose Belege)5 zeigt Variation und einen allenfalls geringen Rückgang der lokalen umlautlosen Variante. Kommen wir nun zum dritten Punkt, der hohen Produktivität des er-Plurals im Luxemburgischen auch bei Maskulina. Hierzu sei zunächst mit BERG ein dialektgeographisch untermauertes Beispiel gezeigt. Dafür wurden alle im REDEPortal zur Verfügung gestellten luxemburgischen Wenkerbögen für Wenkersatz 29 ausgewertet (Unsere Berge sind nicht so (sehr) hoch, die euren sind viel höher). BERG ist ein maskuliner a-Stamm, dessen Plural im Luxemburgischen der Schwa-Apokope unterlag. Abbildung DAMMEL / DENKLER-7 im Farbabbildungsteil zeigt, dass Formen mit er-Plural (grüne Quader) großräumig dominieren und die einzige konkurrierende Variante Null-Plural (rote Kreise) ist, wie auch schon im Luxemburger Wörterbuch verzeichnet: „Sg. Bierg (bi:ərç, b'i·əreç), Pl. Bierger (bisw. Bierg)“ (Bd. 1, 1950/54, Sp. 108b–109b). Darüber hinaus sind nur ganz vereinzelt en- und e-Plurale belegt (Schrägstriche). Der er-Plural dominiert also klar, Null-Plural ist im Süden und am Ostrand des Staatsgebiets konzentriert und setzt sich im Moselfränkischen auf deutscher Seite fort (DiWA-Karte 406 Berge). Im Gebiet des endungslosen Plurals kommen zweisilbige Formen wie Biereg selten und ohne klare Konzentration vor (Kreise mit fetter Umrandung). Ob hier eventuell eine prosodische Numerusdistinktion besteht, ist ohne Kenntnis der Singularformen nicht erschließbar.

3 4 5

Siehe z. B. die Dialektgrammatik von WELTER (1933) für Montzen (Ostbelgien) sowie MRhSA Bd. 5 (2002), Karte 558 Kälber. Vgl. für den Schwerpunkt umlautloser Formen im Niederfränkischen auch die DiWA-Karten 465 Häus(er) und 466 (Häus)er. Dazu wurden die luxemburgischen Wenkerbögen, die über ein Tool im REDE-Portal zugänglich sind, ausgewertet.

102

Antje Dammel / Markus Denkler

Das klare Raumbild zugunsten des er-Plurals und eine Korrektur im Wenkerbogen von Gostingen (Gouschténg) am südöstlichen Rand der Karte (eingekreist und in Abbildung 8 gezeigt) deuten auf eine Expansion des er-Plurals im Vollzug hin. Im „Lëtzebuerger Online Dictionnaire“ ist der Null-Plural dementsprechend auch nicht mehr verzeichnet.

Abb. 8: Korrektur im Wenkerbogen von Gostingen (Gouschténg)

Um ein umfassenderes quantitatives Bild der luxemburgischen Pluralallomorphie zu erhalten, wurde ein Wörterbuch für Luxemburgisch-Lerner (ZIMMER 2000) vollständig ausgewertet.6 In den Ergebnissen sind Simplizia des Grundwortschatzes überrepräsentiert, denn Suffix-Derivate wurden nur einmal pro Suffix gezählt und Komposita nur dann aufgenommen, wenn das Zweitglied nicht als Simplex verzeichnet ist. Dabei wurde grob nach den häufigsten übergreifenden Verfahren der luxemburgischen Pluralbildung kategorisiert. ‚Modulativ‘7 steht hier für reine Modulation (z. B. Maus – Mais ʻMaus – Mäuse’). Wo Modulation zusammen mit Suffixen auftritt, wurde das Lexem dem betreffenden Suffix zugeschlagen. Dabei ist -er häufiger, -e(n)8 nur äußerst selten konkomitant mit Modulation (außer es handelt sich um allgemeine phonologische Regeln wie die Inlautsonorisierung). Abbildung 9 zeigt die absoluten Zahlen und ihre Verteilung über Verfahren und Genera. In Abbildung 9 werden einige interessante Unterschiede zum Standarddeutschen deutlich (vgl. auch DAMMEL / KÜRSCHNER / NÜBLING 2010 und DAMMEL i. Dr.): -e(n) ist zwar auch im Luxemburgischen das typische Allomorph für Feminina, doch haben auch die Maskulina einen großen Anteil daran. Dieses Allomorph hat kaum Input-Beschränkungen und erfüllt auch Funktionen, die im Deutschen der s-Plural innehat (Auto – Autoen). Die Maskulina streuen über alle Verfahren und sind bei Modulation (ohne Suffix) fast alleinherrschend. Der er-Plural schließt wie im Deutschen Feminina so gut wie aus und ist stark mit dem Neutrum assoziiert, aus dem er stammt. Allerdings haben im Luxemburgischen die Maskulina die Neutra inzwischen überholt, während sie im Deutschen die Ausnahme geblieben sind. Den Null-Plural teilen sich v. a. einige trochäische Maskulina auf 6 7 8

Zu qualitativen Arbeiten zum luxemburgischen Pluralsystem siehe NÜBLING (2006) und SCHANEN (2008), die unterschiedliche Schwerpunkte im Einbezug irregulärer Verfahren setzen. Wie in der Einleitung schon angedeutet, kann man im Luxemburgischen synchron nicht mehr von Umlautvarianten sprechen, da die Vokalwechsel durch kontextabhängigen Lautwandel arbiträr geworden sind (vgl. NÜBLING 2006). Beim en-Plural unterliegt das auslautende n der Tilgung, wenn nicht d, t, s, n oder Vokal im nächsten Anlaut folgt oder das betroffene Wort am Ende einer Intonationseinheit steht. Genaueres bei GILLES (2006) oder SCHANEN / ZIMMER (2006, Bd. 3, 86–90).

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-er und einsilbige Neutra, die semantisch kollektive Konzepte repräsentieren (z. B. Puer ʻPaar(e)’). Im Vergleich der Genera fällt generell auf, dass das Neutrum im Vergleich zu den anderen beiden Genera eine sehr niedrige Type-Anzahl aufweist. Dies liegt vor allem daran, dass Entlehnungen die Genera Maskulinum und Femininum präferieren, vgl. z. B. Telefon m., Fënschter ‘Fenster’ f.

Abb. 9: Pluralbildungsverfahren im Luxemburgischen nach Genera (Auswertung des Wörterbuchs von ZIMMER 2000)

Im Folgenden werden die er-Plurale des Luxemburgischen in ihrer Zusammensetzung näher betrachtet. Die Wörter werden zu Gruppen zusammengefasst und die beobachteten Gruppen in eine Reihenfolge gebracht, die ein mögliches Ausbreitungsszenario des er-Plurals spiegelt. Für einsilbige Neutra (historisch neutrale (j)a-Stämme) ist -er der Regelplural, vgl. z. B. Kräiz, -er ‘Kreuz’, Netz, -er, Boot, -er u. v. a. Dem haben sich zahlreiche einsilbige Maskulina (oft historische a-Stämme wie Bierg) angeschlossen. An dieser Gruppe fällt auf, dass es sich gerade um solche Stämme handelt, deren Stammvokal nicht umlautbar ist, denen das modulative Verfahren also verschlossen bleibt. Ein Beispiel wurde bereits mit Bierg – Bierger kartiert, weitere sind Dësch ‘Tisch’, Film, Grëff ‘Griff’, Pilz, Präis ‘Preis’, Reiz, Reim, Sëtz ‘Sitz’, u. v. a. Umlautbare Maskulina haben dagegen eher den Weg der Modulation eingeschlagen (z. B. Wuerm – Wierm ‘Wurm’). Es zeichnet sich also eine Arbeitsteilung zwischen Modulation und Suffigierung ab. Der er-Plural bei nicht umlautfähigen maskulinen Einsilblern steht heute allerdings in Konkurrenz zu dem extrem produktiven en-Plural, was sich z. B. in Varianten wie Witz, -en/-er manifestiert.

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Von den Einsilblern ausgehend war der er-Plural auch produktiv für prosodisch und derivationell komplexe Bildungen, und zwar bevorzugt für Einheiten mit Finalbetonung (x’X, Jamben). Dieses Akzentmuster ist untypisch für das Luxemburgische, das Paenultimaakzent präferiert (vgl. z. B. lux. Iddi [ˈidiː] vs. dt. Idee [ʔɪˈdeː]). Das Einfallstor für diesen Zuwachs waren wahrscheinlich Bildungen mit dem leichten Präfix Ge-’X (n., [m.]), die historisch den ja-Stämmen angehören und unter denen zahlreiche Kollektivbildungen zu finden sind (GÜRTLER 1912/13, 532). Auch in deutschen Quellen des 18. Jahrhunderts sind diese Kollektivbildungen recht stark mit er-Plural belegt (siehe z. B. NÜBLING i. Dr.). Beispiele aus dem Luxemburgischen sind Gebëss – Gebësser n., Geschäft – Geschäfter n., Gebrauch – Gebräicher m. Diese Gruppe, der vor allem Neutra, aber auch Maskulina angehören, kann das Vorbild für die analogische Ausweitung auf weitere präfigierte Wortbildungsmuster im Luxemburgischen abgegeben haben, bei denen die Maskulina überwiegen und unter denen sich viele Entlehnungen mit geschlossener Endsilbe finden: – – – – – –

Ver-’X: Verdéngscht – Verdéngschter m., Veräin – Veräiner m., Verlag – Verlagen/Verlager m.; Be-’X: Betrib – Betriber m., Beruff – Beruffer m.; (x)(x)x-’ment (meist n.): Medikament – Medikamenter n., Ament – Amenter m. ‘Moment’; Pro-’X: Profit – Profitter m., Produkt – Produkter n., Programm – Programmen/Programmer m., Prospekt – Prospekter m., Prozent – Prozent/Prozenter m.; X-’at: Resultat – Resultater, Sekretariat – Sekretariater (beide n.); weitere Entlehnungen passender prosodischer Struktur wie Kontakt m., Dialog – Dialogen/Dialoger m., Kamäin m., Kompromëss m., Rabatt m.

Eine Ultimabetonung bei Präfigierung ist damit zusammen mit konsonantischem Stammauslaut und neutraler oder maskuliner Genusspezifikation ein recht guter Indikator für er-Plural. Die Produktivität des er-Plurals ist mit den vielen maskulinen und entlehnten Neuzugängen erwiesen, wobei -er sich gerade auf die nichtumlautfähigen Stämme spezialisiert hat. Konkurrenz mit -en besteht offensichtlich zunehmend bei Maskulina: Belebte Maskulina wie Pilot und Affekot ‘Anwalt’ nehmen trotz phonologischer Eignung den en-Plural, nicht selten treten auch sonst Schwankungen zwischen -er und -en auf, zum Beispiel bei Programm, Dialog und Verlag. Prosodisch komplexe Entlehnungen, die mit Erstbetonung integriert wurden und die häufig einen vokalischen oder sonoren Stammauslaut haben (z. B. Filet, Niveau, Decolleteé, Telefon, vgl. GILLES 2010), präferieren den en-Plural. Es deutet sich damit eine Arbeitsteilung zwischen -en und -er an, indem der erPlural primär für konsonantisch geschlossene Stämme, die mit einer Ultimabetonung prosodisch vom nativen Wortschatz abweichen, produktiv ist. In ganz geringem Umfang findet sich -er auch bei paenultimabetonten Maskulina und Neutra, die morphologisch komplex waren oder es noch sind und die als Besonderheit

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eine schwere Endsilbe aufweisen, die einen eigenen schwachen Fuß bildet. Das ist z. B. der Fall bei: – – –

(x)’X-nes (n.): Bestietnes, -nesser n. ‘Heirat’, Begriefnes n. ‘Begräbnis’, Gläichnes n.; -eg: Käfeg m. ‘Käfig’, -(d)eg: z. B. Dënschdeg m. ‘Dienstag’, Mëtteg m. ‘Mittag’; bei Entlehnungen wie Kostüm [ˈkosty:m] m., Problem [ˈpʀobleːm] m. und Fazit [ˈfa:tsit] m. Hier ist wie oben gezeigt er-Plural selten, meist gilt -en, so schwankt zum Beispiel Fazit.

Kurz sei noch ergänzt, dass der er-Plural auch der Regelplural für Diminutive ist, wobei das Diminutivsuffix modifiziert wird (-chen > cher; z. B. Basis Mauer: Sg. Maier-chen > Pl. Maier-cher). Eine unter mehreren Besonderheiten der luxemburgischen Diminution besteht darin, dass bei einsilbigen Basen im Plural ein komplexes Diminutivsuffix -ercher antritt (Haus: Hais-chen > Pl. Hais-ercher), so dass der Plural von Diminutiven immer daktylische Struktur hat (vgl. dazu EDELHOFF in diesem Band; GILLES 2015). Weil bei Diminutiven meist schon im Singular Umlaut zur Basis gilt, ist auch hier der er-Plural nicht konkomitant mit einer Vokalalternation. An der hohen Produktivität des er-Plurals im Luxemburgischen ist besonders bemerkenswert, dass die ehemals konkomitante Modulation bei vielen Neuzugängen fehlt. Während im Deutschen -er und Umlaut automatisch gekoppelt sind, finden sich im Luxemburgischen verschiedene Indizien für eine Loslösung des Suffixes von der Modulation. So wurde beim er-Plural etwa bei gesenktem mhd. i > lux. a keine analogische Vokalalternanz übernommen, vgl. Kand – Kanner ‘Kind – Kinder’ (zu erwarten wäre sonst *Kënner), was beim rein modulativen Plural (Rass – Rëss ‘Riss – Risse’) und bei der 2./3. P. Sg. starker Verben (sangen – du séngs, si séngt ‘singen, du singst, sie singt’ durchaus gegriffen hat. Deutlich wird die Trennung von -er und Modulation auch an neueren Entlehnungen, deren Stammvokal umlautbar wäre, wie Beruff – Beruffer (*Beriffer) und Boot – Booter (*Beeter). Wenn es darum geht, mögliche Ursachen für diese Loslösung des Suffixes von der Bedingung einer Vokalalternation zu identifizieren, wäre die historische Umlautlosigkeit im mittelfränkischen Gebiet ein möglicher Kandidat. Allerdings wurde oben schon gezeigt, dass diese Umlautlosigkeit gesamtluxemburgisch nur bei KALB (Kallef – Kaalwer) erhalten ist; bei allen anderen Fällen hat sich dagegen eine im Sprachgebiet ebenfalls vorhandene modulative Variante durchgesetzt, z. B. Hong – Hénger ‘Huhn’. Im Gegenteil lässt sich nachweisen, dass der Umlaut historisch mit dem er-Plural durchaus produktiv war, wie etwa Neuzugänge aus den neutralen a-Stämmen und Wurzelnomina zeigen, z. B. Blat – Blieder ‘Blatt’, Haus – Haiser, Wuert – Wierder ‘Wort’, Glas – Glieser, Mann – Männer, Gebrauch – Gebräicher, u. v. a. Die Sachlage spricht damit für eine spätere Loslösung des er-Plurals vom Umlaut im Zuge seiner gesteigerten Produktivität für maskuline Einsilbler sowie

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derivationell und prosodisch komplexe Bildungen. Diese Loslösung geschieht auf zwei Wegen: zum einen über selektive Produktivität gerade für nicht umlautbare Stämme, zum anderen über die Blockierung von Modulation durch morphologische Komplexität. –



Selektion: Bei maskulinen Einsilblern, denen der e-Plural durch SchwaApokope abhandengekommen war, wurde für umlautbare Stämme der rein modulative Plural bevorzugt (Wuerm – Wierm), der er-Plural spezialisierte sich dagegen auf die nicht-umlautbaren Stämme und garantierte hier eine materielle Numerusanzeige. Eine Umlaut-Blockierung kann angenommen werden bei den derivationell komplexen Bildungen mit leichtem Präfix, die damit auch prosodisch komplex sind und mit ihrer Ultimabetonung vom übrigen nativen Wortschatz abweichen. Die Modulation kann zum einen durch die zusätzlichen morphologischen Grenzen, die derivationell komplexe Wörter aufweisen, gehemmt werden. Dieses Lokalitätsprinzip (vgl. WIESE 1987) für Umlautmodulation ist in Abbildung 10 am Beispiel Verlag, das neben en- auch eine er-Pluralvariante hat, illustriert. Zum anderen gibt es bei prosodisch auffälligen Wörtern ein besonders hohes Bedürfnis nach Strukturbewahrung (vgl. z. B. WEGENER 2003, 132). Bei Diminutiva und Ge-Bildungen kommt noch hinzu, dass hier durch alten i-Umlaut schon der Singular umgelautet ist, weil ahd. i-haltige Endungen vorlagen (Ge-X und -chen < ahd. ga-X-i, -chīn). Diese beiden Gruppen fallen also auch mit unter den ersten Punkt, die Selektion nicht-umlautbarer Einheiten.

Abb. 10: Morphologische Komplexität als Umlauthemmnis am Beispiel Verlag

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Aus diesen Überlegungen lässt sich das folgende Entwicklungsszenario ableiten: In einer Frühphase stand die Kombination von Suffigierung und Modulation als Variante neben alleiniger Suffigierung (letztes Relikt Kaalwer); die Produktivität des er-Plurals war ähnlich gering und semantisch gesteuert wie im Westfälischen. Als die Schwa-Apokope einen starken Zuwachs an Null-Pluralen bei den maskulinen a-Stämmen verursachte, kam es bei den von alters her nullmarkierten Neutra und den Maskulina der a-Klasse zu einem Produktivitätsschub von Endungen mit -er+Umlaut.9 Das Numerusflexiv -er+Umlaut bot sich als salienter, kombinierter Pluralmarker für Neutra (wie Wuert) der historischen a-Deklination an. Maskulina, die der e-Apokope unterlagen, differenzieren sich aus. Umlautfähige Maskulina bleiben suffixlos und nutzen das rein modulative Verfahren (wie Wuerm), das der historischen Klasse der mask. i-Stämme entstammt. Nichtumlautfähige Maskulina (wie Bierg) und Neutra (wie Kräiz) hatten diese Option nicht. Für sie war nach der Apokope der er-Plural am besten geeignet, um eine Numerusmarkierung aufzubauen.10 Die vielen nicht-alternierenden Neuzugänge bilden die kritische Masse für eine Reanalyse als reines Suffix. Hinzu kommt die Arbitrarisierung des Umlauts durch kombinatorischen Lautwandel (vgl. NÜBLING 2006). Beides zusammen führt zur Unvorhersagbarkeit der Konkomitanz von Umlaut mit -er und letztlich zu ihrem Abbau. Abbildung 11 fasst diesen Prozess mit Beispielen aus dem Text und in der Darstellung angelehnt an ein Schema-Modell wie das von BYBEE (2001) zusammen. Die unterschiedlichen Strichstärken deuten unterschiedliche Assoziationsstärken an. Von Stufe I zu II nimmt mit steigender Typenfrequenz nicht-umlautender Mitglieder die Assoziationsstärke von Umlaut und Suffix ab. Bei Stufe III hat sich das affigierende Muster ganz verselbstständigt.

Abb. 11: Etappen der Dissoziation von -er und Umlaut im Luxemburgischen

9

10

Wann dieser Schub stattgefunden hat, ist bei sehr geringer schriftlicher Überlieferung für ältere Perioden des Mittelfränkischen nicht sicher festzulegen, wahrscheinlich ist aber eine Integration in die Entwicklung, wie sie GÜRTLER (1912/13, § 29) beschreibt. Dann wäre das 14. Jahrhundert eine Phase mit großem Zuwachs nach der Apokope. Parallele Reorganisationen (umlautbar > modulativ, nicht-umlautbar > -er) sind auch in bairischen Dialekten zu beobachten, siehe WEGENER 2003, 121; DAMMEL i. Dr.).

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5 FAZIT Unsere Fallstudien zum Westfälischen und Luxemburgischen haben gezeigt, dass der er-Plural in Produktivität und Umlaut-Konkomitanz stark geographisch differenziert ist und dass für ein tieferes Verständnis der historischen Entwicklung von Pluralsystemen systematische dialektgeographische Analysen nützlich sind (hier waren nur Stichproben möglich). Eine konsequente e-Apokope, wie sie im Luxemburgischen stattgefunden hat, ist eine notwendige Bedingung für höchste er-Produktivität. Dass sie keine hinreichende Bedingung ist, konnten wir hier nicht diskutieren, darauf deuten aber die Verhältnisse in alemannischen Dialekten wie dem Baseldeutschen hin, wo sich bei Neutra und Maskulina der historischen a-Klasse der Null-Plural gut gehalten hat (vgl. dazu DAMMEL i. Dr.; KOPF 2014). Die Produktivitätsunterschiede im Varietätenvergleich legen folgendes Ausbreitungsszenario nahe: Die westfälischen Dialekte spiegeln für den er-Plural Ansätze semantisch/analogisch gesteuerter Produktivität, letztlich wurden aber andere Allomorphe als der er-Plural (-s und -e) ausgebaut. Luxemburgisch steht dagegen für die Anwendung sehr offener, rein formal gesteuerter Schemata bei einer sehr hohen realisierten Produktivität des er-Plurals. Inwieweit dort derzeit der enPlural in Domänen des er-Plurals übergreift, wäre genauer zu untersuchen. Die Umlaut-Konkomitanz des er-Plurals war im frühen Stadium produktivitätsfördernd, was den eingangs skizzierten Annahmen der Natürlichkeitsmorphologie entgegensteht. Dies zeigt sich besonders im Westfälischen, wo in Gebieten mit alter Umlautlosigkeit eine geringere analogische Ausweitung des -er-Plurals zu beobachten ist. Nur dort im Westfälischen, wo der er-Plural bei den frühen Mitgliedern mit Umlaut belegt ist, ist der er-Plural produktiv, und dies immer mit Umlaut. Bei höchster Produktivität und gleichzeitigem Ausbau reiner Modulation ist dagegen – dies zeigt das Luxemburgische – eine Reanalyse des er-Plurals als additiver Marker ohne Modulation möglich. LITERATURVERZEICHNIS BYBEE, JOAN L. (2001): Phonology and language use. Cambridge: Cambridge University Press. BYBEE, JOAN L. / DAN I. SLOBIN (1982): Rules and Schemas in the Development and Use of the English Past Tense. In: Language 58, 265–289. DAMMEL, ANTJE (i. Dr.): Warum eigentlich nicht Worter? Ein Beitrag zur Ökumene des Umlauts. In: KAZZAZI et al. (i. Dr.). DAMMEL, ANTJE / SEBASTIAN KÜRSCHNER / DAMARIS NÜBLING (2010): Pluralallomorphie in zehn germanischen Sprachen. Konvergenzen und Divergenzen in Ausdrucksverfahren und Konditionierung. In: DAMMEL, ANTJE / SEBASTIAN KÜRSCHNER / DAMARIS NÜBLING (Hg.): Kontrastive Germanistische Linguistik. Bd. 2. Hildesheim [u. a.]: Olms (Germanistische Linguistik. 2016–209), 473–522. DENKLER, MARKUS (2009): Zur Konkomitanz des Umlauts beim -er-Plural in den westfälischen Dialekten. In: Niederdeutsches Wort 49, 91–101. DENKLER, MARKUS (2011): Schwa-Apokope und Zentralisierung. Zum Wandel des Nebensilbenvokalismus im Münsterländischen. In: Niederdeutsches Wort 52, 45–57.

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SCHEEFCHER VS. SCHEEWERCHER: MORPHOLOGISCHE ISOGLOSSENBILDUNG IM MOSELFRÄNKISCHLUXEMBURGISCHEN GRENZGEBIET Maike Edelhoff Borders often have an effect on change, leading mainly to dd [= dialect divergence; ME] between dialects on either side of the border, and simultaneously dc [= dialect convergence; ME] between dialects on the same side. (HINSKENS / AUER / KERSWILL 2005, 29)

1 EINLEITUNG Das Resultat des Eingangszitats wird gemeinhin für eng verwandte Varietäten an politischen Grenzen bestätigt: Ehemals grenzüberschreitende Dialektkontinua werden an der Grenze durch Isoglossen oder Isoglossenbündel unterbrochen und die vormals durchlässige Grenze wird zur Sprachgrenze. Berichte von dieser Art der Entwicklung gibt es von vielen europäischen Grenzen, sowohl in Mitteleuropa – dort z. B. von der deutsch-niederländischen Grenze (vgl. u. a. NIEBAUM 1990; KREMER 1990; SMITS 2011), von der deutsch-belgisch-niederländischen (u. a. GERRITSEN 1999, für einen Überblick siehe AUER 2004) – als auch an anderen Orten, wie z. B. an der polnisch-weißrussischen Grenze (vgl. WOOLHISER 2005). Häufig stehen für solche Untersuchungen zwischen den Grenzvarietäten phonologische oder lexikalische Vergleichspunkte im Mittelpunkt. Deutlich seltener stehen morphologische Phänomene im Vordergrund (z. B. bei SMITS 2011, am Rande auch bei NIEBAUM 1990 und KREMER 1990), was an ihrer deutlich schlechteren Zugänglichkeit liegt. Auch für die luxemburgisch-deutsche Grenze existieren bislang vor allem phonologische (vgl. GILLES 1998; 1999) und lexikalische (vgl. BRUCH 1958; CAJOT 1989) Grenzuntersuchungen, mit der Ausnahme einer prosodisch orientierten Arbeit (vgl. GILLES 2015a). Dieser Beitrag ergänzt diese Grenzbetrachtungen nun um die Ebene der Morphologie. Gerade morphologische Betrachtungen können für die Grenzbeschreibung einen großen Beitrag leisten: Morphologische Wandelprozesse werden selten durch Sprachkontakt ausgelöst, sie zeigen stattdessen, dass tiefschürfende sprachinterne Veränderungen am System einer Varietät stattgefunden haben. Eine morphologische Grenzziehung kann also ein Indikator

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für eine grundlegende Neuausrichtung einer der angrenzenden Varietäten sein (ähnlich auch NIEBAUM 1990, 53 zur Relevanz von Systemunterschieden). Für die morphologische Ebene sind Diminutive ein dankbarer Ansatzpunkt: Sie sind quasi reihenbildend und semantisch (im Regelfall) transparent. Darüber hinaus ist die Datenlage für Diminutive auch für die Dialekte gut: Ihre Besonderheiten sind häufig Teil dialektologischer Betrachtungen, sei es in Ortsgrammatiken, Ortswörterbüchern, Sprachatlanten oder Lautlehren. Auch für die luxemburgisch-deutsche Grenze ist die Ausgangssituation vielversprechend. Nimmt man Stichproben an zwei benachbarten Grenzorten und vergleicht dort die Diminutivbildungen, bekommt man einen interessanten ersten Eindruck. Im Norden liegen sich Vianden (L) und Roth an der Our (D) in ca. 3 km Entfernung gegenüber: In den Übersetzungen der Wenkersätze (Erhebungszeitraum: Deutschland 1872 und Luxemburg 1888 durch JOHN MEIER) grasen im Satz 37 sowohl auf luxemburgischer wie auch auf deutscher Grenzseite Scheewercher ‘Schäfchen’ auf Flächen, auf denen im Satz 26 Äppelbämercher ‘Apfelbäumchen’ stehen. 50 km weiter südlich dem Grenzverlauf nach befinden sich die Orte Grevenmacher (L) und Wellen (D) in 2,1 km Entfernung voneinander. Hier wird auf luxemburgischer Seite die Wiese wiederum von den bekannten Scheewercher bevölkert, auf deutscher Seite findet man allerdings Schefcher – ohne eingeschobenes -er-. Ähnliches gilt auch für die Apfelbäumchen (Satz 26): In Luxemburg wachsen sie als Épelbémercher, während sie auf deutscher Seite als Epelbämcher zu finden sind. In einem Fall scheint die Grenze also keinerlei Einfluss zu haben, im anderen schon. Damit werfen diese beiden Stichproben mehr Fragen auf, als sie beantworten. Dieser Beitrag versucht Antworten auf diese Fragen zu finden und bezieht dafür neben der Forschungsliteratur auch Sprachdaten von indirekten Befragungen mit ein, einmal die Wenker-Erhebung im 19. Jahrhundert und im Kontrast eine neue Fragebogenstudie von 2015/2016. In Abschnitt 2 werden die Voraussetzungen an der Grenze kurz skizziert: Wie ist sie politisch, soziolinguistisch und in Bezug auf andere linguistische Phänomene gegliedert? Dabei geht es vorrangig um die historische und aktuelle soziolinguistische Situation, aber auch um erste Eindrücke aus anderen strukturlinguistischen Analysen. Abschnitt 3 „Diminutiv(plural-)bildung“ thematisiert das Phänomen Diminutivplurale selbst: Zunächst unter der Fragestellung, wie die luxemburgischen und moselfränkischen Diminutive in der Forschungsliteratur besprochen werden, anschließend in Bezug auf ihre areale Ausbreitung anhand der Wenkerbögen und einer eigens für die Untersuchung von Diminutiven ausgeführten Fragebogenerhebung1 im erweiterten Grenzgebiet. Die alles entscheidende Frage, ob sich an der Staatsgrenze eine Sprachgrenze oder zumindest parallel laufende Isoglossen entwickelt haben, ist das Thema in Abschnitt 4 „Staatsgrenze = Sprachgrenze?“. Dort findet die zentra1

Dieser Beitrag ist in den weiteren Kontext des Promotionsvorhabens „Form und Funktion des Diminutivs im luxemburgisch-moselfränkischen Übergangsgebiet“ an der Université du Luxembourg und der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, unterstützt vom „Fonds national de la Recherche“, Luxembourg, eingebettet.

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le Diskussion der Ergebnisse mit anschließender Suche nach den Gründen für die Grenzentstehung statt: sowohl auf systemlinguistischer wie auch auf soziolinguistischer Ebene. Das Fazit in Abschnitt 5 rundet den Beitrag ab. 2 GRENZSITUATION IM UNTERSUCHUNGSGEBIET Welche Grenzsituation liegt nun an der deutsch-luxemburgischen Staatsgrenze vor? Auf diese Frage gibt es mehrere Antworten: historische, politische, soziolinguistische und schließlich strukturlinguistische. Die (neuere) Geschichte der Grenze soll an dieser Stelle nur soweit angerissen werden, wie sie der weiteren Argumentation nützt. Die deutsch-luxemburgische Staatsgrenze in ihrer heutigen Gestalt existiert erst seit dem Londoner Vertrag 1839. Bis zum Wiener Kongress gehörten große Teile des heutigen Saarlands und der Eifel zu Luxemburg (vgl. PAULY 2011). Mit dem Londoner Vertrag wurde Luxemburg schlussendlich zum unabhängigen und neutralen Nationalstaat (vgl. KHAN 2004, 474). Auch wenn Luxemburg zur Zeit der Weltkriege eingenommen wurde, geschah die anschließende Grenzziehung wieder an den Grenzen vom Wiener Vertrag (vgl. KHAN 2004, 474). Diese Grenze verläuft (mit Ausnahme eines 7 km langen Stücks über Land) entlang der Flüsse Mosel, Sauer und Our, wobei keiner dieser Flüsse als tatsächliches Kommunikationshindernis gelten kann. Interaktionen über die Flüsse hinweg (wie z. B. Brückenbau, Handel) sind spätestens seit dem 18. Jahrhundert belegt (z. B. durch die FERRARIS-Karten im „Atlas der Großregion SaarLorLux“; vgl. HELFER 20082). Seit Öffnung der Grenzen durch das Schengen-Abkommen vergrößerte sich die Intensität der Interaktionen weiter: Eine Vielzahl von Grenzgängern aus Deutschland (wie aus den beiden anderen Nachbarstaaten Belgien und Frankreich) pendelt täglich zur Arbeit nach Luxemburg, der Tanktourismus in Luxemburg aus den Nachbarländern ist zu einer wichtigen Einnahmequelle geworden und die Zahl „atypischer“ Grenzgänger, also Luxemburger mit Wohnsitz in Deutschland, ist ebenfalls angestiegen (vgl. Wille 2008). Die Sprachsituation des Landes Luxemburg ist durch Mehrsprachigkeit geprägt: Französisch, Deutsch und Luxemburgisch sind im Sprachengesetz von 1984 als die Sprachen des Landes festgelegt worden; die einzige Nationalsprache allerdings ist Luxemburgisch (vgl. Legilux). Das Luxemburgische wird als Ausbausprache auf Grundlage eines westmoselfränkischen Dialekts charakterisiert, der nicht von der deutschen Standardsprache überdacht wird (vgl. KLOSS 1978, 113): Es war ursprünglich Teil des grenzüberschreitenden moselfränkischen Dialektkontinuums (vgl. SIEBURG / WEIMANN 2014, 347). Allerdings unterscheidet sich seine soziolinguistische Situation deutlich von der eines Dialekts. Ursprünglich (dialekttypisch) nur in der konzeptionell und medial mündlichen Sprache verortet, vergrößert das Luxemburgische seinen Einfluss in der konzeptionell und 2

Beim „Atlas der Großregion SaarLorLux“ handelt es sich um ein multidisziplinäres, interaktives Online-Tool der Université du Luxembourg, in dem historische, politische, gesellschaftliche, soziolinguistische und naturräumliche Phänomene der Großregion kartiert werden.

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medial schriftlichen Domäne, die zuvor zwischen dem Deutschen und dem Französischen aufgeteilt war (vgl. GILLES 2011). Sein Status macht einen der großen Gegensätze zwischen dem Luxemburgischen und den angrenzenden moselfränkischen Dialekten aus. Sämtliche Varietäten entlang der Grenze auf deutscher Seite sind Dialekte im klassischen Sinne: Sie haben eine geringe kommunikative Reichweite, niedriges Prestige und finden nur in der medial und konzeptionell mündlichen Domäne Verwendung (vgl. SIEBURG / WEIMANN 2014, 347). Wie die meisten deutschen Dialekte sind auch die moselfränkischen vom Standarddeutschen überdacht und stark beeinflusst, sowie teils von Dialektabbau betroffen (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989): Zum einen sinkt die Dialektalität der Basisdialekte, sogar in früheren Reliktgebieten, und zum anderen nimmt auch die Zahl der Basisdialektsprecher/innen stetig ab. Vergleicht man nun die sehr unterschiedlichen soziolinguistischen Szenarien für beide Varietätengruppen, lässt sich sagen, dass aufgrund der politischen Unterteilung an der Staatsgrenze eine Sprachgebrauchsgrenze entstanden ist (vgl. GILLES 2015a, 148; SIEBURG / WEIMANN 2014, 347). Diese sehr unterschiedlichen Ausgangssituationen für die Grenzvarietäten schlagen sich auch in der Spracheinstellung nieder. Die Sprecher/innen beider Seiten sind sich dieser Unterschiede durchaus bewusst (vgl. SIEBURG / WEIMANN 2014, 350), ziehen aber aus den Unterschieden oft voneinander abweichende Konsequenzen. Die Mehrheit der Moselfränkisch-Sprecher/innen wählt im Gespräch mit Luxemburgern zwar die deutsche Standardsprache, eine nicht geringe Zahl benutzt aber auch den eigenen Dialekt als Kommunikationsmedium auf der anderen Grenzseite (vgl. SIEBURG / WEIMANN 2014, 349). Diese Varietätenwahl wird von den Luxemburgisch-Sprecher/innen jedoch mehrheitlich als nicht angemessen bewertet (vgl. SIEBURG / WEIMANN 2014, 351). Sie akzeptieren eher das Standarddeutsche oder auch eine Mischung aus Dialekt und Luxemburgisch. Ein hauptsächlicher Grund ist laut SIEBURG / WEIMANN (2014, 361–362): [Luxemburgisch; ME] hat für seine Sprecher/-innen einen hohen kommunikativen wie symbolischen Wert, was dazu führt, dass das Sprechen eines deutschen Dialekts in Luxemburg wegen der geringeren kommunikativen Reichweite und des niedrigeren Status nicht von allen Sprecher/-innen als adäquat angesehen wird.

Nicht nur der Sprachgebrauch verursacht einen Bruch an der Grenze. Auch auf sprachstruktureller Ebene konnten die ersten Risse im einstigen Kontinuum beobachtet werden. Anhand mehrerer phonologischer Phänomene kann GILLES (1998; 1999) belegen, dass das Dialektkontinuum die Grenze nicht mehr gänzlich unbeschadet überschreitet, sondern an der Staatsgrenze klare Divergenzen entstanden sind (vgl. GILLES 1998). Auf luxemburgischer Seite stellt er fest, dass ein Dialektausgleich zugunsten der zentralluxemburgischen Varietät im Gange ist, was zum einen eine homogenere Sprachlandschaft nach sich zieht und zum anderen den Abstand zwischen den moselfränkischen Dialekten und dem Luxemburgischen erhöht (vgl. GILLES 1998, 35): Der ostluxemburgische Dialekt an der Mosel geht als Bindeglied im Kontinuum verloren, die Grenze wird somit stärker definiert (vgl. GILLES 1998, 35). Ganz ähnliche Beobachtungen kann er auch für die

Morphologische Isoglossenbildung

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Intonation der beiden Grenzseiten machen: Er beschreibt Konvergenz der moselfränkischen Dialekte mit dem Standarddeutschen und starke Unterschiede zum Luxemburgischen. Auch CAJOT (2000, 106) und schon vor ihm BRUCH (1958) konnten zum einen starke Veränderungen an der Grenze ausmachen und zum anderen Advergenz der Grenzdialekte zum Standarddeutschen verzeichnen. Was hier im Luxemburgischen zu geschehen scheint, hat AUER (2004) in seinem Überblick über die sprachliche Grenzsituation an den deutschen Außengrenzen mit den germanisch-sprachigen Nachbarn für andere Varietäten (und in Ansätzen auch für das Luxemburgische) erklärt. Auch wenn die Grenzsituationen unterschiedlich sind, gilt für alle Übergangsgebiete ein ähnliches Fazit wie im Eingangszitat zusammengefasst: Alte Dialektkontinua sind dabei sich aufzulösen und werden von deutlichen Sprachgrenzen ersetzt. Für alle Grenzräume kann die Nationalsprache verantwortlich für diese Entwicklung gemacht werden: Die Ideologie des Nationalstaates selbst hat zwar an politischer Brisanz verloren, nicht aber ihren Einfluss auf die Grenzentwicklung (vgl. AUER 2004, 177). Demzufolge entstehen Sprachgrenzen also nicht aufgrund räumlicher Barrieren oder Verkehrshindernissen (wie Flüssen oder Gebirgen), sondern durch die „Vorstellung vom sprachlichen Raum“ (AUER 2004, 177). Mit dem Ende eines Staatsgebietes endet auch die Ideologie der Nationalsprache und verursacht so potentiell eine Sprachgrenze in einem eigentlichen Dialektkontinuum, das Staatsgrenzen überschritt (vgl. AUER 2004, 177). Eigentlich scheint also an dieser Stelle schon das meiste gesagt zu sein. Allerdings wird mit der morphologischen Analyse eine neue Schicht der Varianz eröffnet: Mit zunehmenden morphologischen Unterschieden vergrößert sich auch der sprachliche Abstand zwischen den Varietäten. Die hier beobachteten Differenzen betreffen die Ebene der Sprachstruktur und eröffnen fundamentale Unterschiede. 3 DIMINUTIV(PLURAL)BILDUNG IN DEN VARIETÄTEN Wie auch das Standarddeutsche kennen die moselfränkischen Dialekte und das Luxemburgische Diminutive. Hier werden unter dem Begriff Diminutiv nur solche Wortbildungsprodukte gefasst, die durch Suffigierung mit dem Suffix -chen und seinen Allomorphen entstanden sind. Dabei liegt der Fokus auf der Frage, ob die verschiedenen formalen Besonderheiten der Diminutivbildung arealbildend sind und sich Isoglossen ausmachen lassen. 3.1 Literaturüberblick Auch wenn die Diminutivbildung traditionell zum Feld der Wortbildung gehört, so findet sie sich trotzdem häufig in Grammatiken, wohl aufgrund ihrer relativ regelmäßigen reihenbildenden Anwendung. Um die Referenz auf die Diminuierungsmuster zu vereinfachen, sind die Muster jeweils mit einer Kennzahl (S1 oder S2 für den Singular und P1 oder P2 für den Plural) und einem Namen mit einem

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Maike Edelhoff

prototypischen Beispiel-Diminutiv versehen. In der Spalte „Basis“ ist die InputAnforderung für das jeweilige Suffix formuliert, gefolgt von den Spalten mit dem jeweiligen moselfränkischen und luxemburgischen Suffix und Belegen. Sowohl die Bildung des Diminutiv Singulars als auch die des Plurals erfolgt nach phonologisch und prosodisch motivierten Regeln. Im Singular (dargestellt in Tabelle 1) ist die Suffixzuweisung auf beiden Grenzseiten allein vom Auslaut der Basis abhängig. Im Plural (Tabelle 2) greifen über die phonologische Regel hinaus auf luxemburgischer Seite auch noch prosodische Beschränkungen. Der Ausgangspunkt im Singular ist in der Theorie also für beide Grenzseiten der gleiche, im Plural kommt es allerdings zur Aufspaltung. Muster

Basis

Moselfränkisch

Luxemburgisch

S1 Dëschelchen-Muster

Auslaut /ɕ, χ, ʃ/ manchmal /k, ŋ, ks, ts/

-elchen

-elchen

z. B. Deschelchen ‘Tischlein’

z. B. Dëschelchen ‘Tischlein’

S2 Beemchen-Muster

manchmal /k, ŋ, ks, ts/ alle anderen Auslaute

-chen

-chen

z. B. Bäämchen ‘Bäumchen’

z. B. Beemchen ‘Bäumchen’

Tab. 1: Diminutiv-Singular-Paradigma in den Varietäten (Luxemburgisch nach BRUCH 1949; 1973 und SCHANEN / ZIMMER 2005; Moselfränkisch nach PEETZ 1989; 1995 zu Beuren; REUTER 1989 zu Horath und WREDE 1908)

Für die Suffixe im Diminutiv Singular ist nach der Literatur keine Isoglossenbildung zu erwarten. Beide Grenzseiten wenden die gleichen Regeln mit den gleichen Ausnahmen an. Einzig die Genuszuweisung bricht diese Regel: In den moselfränkischen Dialekten weist das Suffix das Genus Neutrum zu, im Luxemburgischen behält der Diminutiv das Genus seines Stammes bei (vgl. GILLES 2015b). Die zur Verfügung stehenden Suffixe sind das auch im Standarddeutschen gebräuchliche Suffix -chen (Beemchen-Muster S2) und das komplexe Suffix -elchen (Dëschelchen-Muster S1), das aus einer Verknüpfung des DiminutivSuffixes -el mit dem Suffix -chen entstanden ist (zur Verteilung der Diminutivsuffixe im mitteldeutschen Raum vgl. TIEFENBACH 1987). Die beiden Suffixe (in Muster S1 und S2) sind als semantisch äquivalent zu betrachten: Das komplexe Suffix -elchen ist nicht als „Doppeldiminutiv“ zu verstehen, sondern als rein phonologisch evoziertes Allomorph, das ein semantisch verblasstes altes Suffix -el inkorporiert hat (vgl. BRUCH 1949, 172–173). Der einzige Bereich mit Potential für areallinguistische Varianz sind die Auslaute /k, ŋ, ks, ts/, bei denen Schwankungen zwischen den beiden Diminutiv-Singular-Suffixen auftreten. Diese treten in beiden Gebieten auf und variieren je nach Sprecher/in und je nach Lexem. Ein Einfluss des Raumes ist nicht auszumachen, zudem sind die genauen Gründe für diese Varianz sind bisher unerforscht.

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Morphologische Isoglossenbildung

Areallinguistisch aufschlussreicher ist die Pluralbildung. Grundsätzlich gilt, dass Singulare aus dem Muster S1 dem Pluralmuster P1 zugeordnet werden können und Singulare in S2 den Muster P2a und P2b entsprechen. In Muster P2 finden alle Auslaute, die nicht vom Muster P1, der Dëschelcher-Gruppe, abgedeckt werden, ihren Platz. Die bereits im Singular für die Auslaute /k, ŋ, ks, ts/ beschriebene Schwankung, lässt sich auch im Plural beobachten. Interessant ist hierbei, dass die Wahl des Suffixes im Singular nicht zwangsläufig die Wahl des Suffixes im Plural vorbestimmt: Auch solche Singulare mit dem Singular-Suffix -chen (z. B. Stéckchen) können bei o. g. Auslauten im Plural das Suffix -elcher zuweisen (z. B. Stéckelcher). Was diese Schwankung auslöst und wie sie strukturiert ist, bedarf weiterer Forschung. Muster

Basis

Moselfränkisch

Luxemburgisch

P1 Dëschelcher-Muster

Auslaut /ɕ, χ, ʃ/ manchmal /k, ŋ, ks, ts/

-elcher

-elcher

z. B. Bichelcher ‘Büchlein’

z. B. Bichelcher ‘Büchlein’

manchmal /k, ŋ, ks, ts/ andere Auslaute Betonung auf Ultima

-cher

-ercher3

P2a Bäämcher/BeemercherMuster

P2 P2b Källefcher-Muster

manchmal /k, ŋ, ks, ts/ andere Auslaute Betonung auf Pänultima

z. B. Bäämcher ‘Bäumchen’ z. B. Kaneincher ‘Kaninchen’ z. B. Källefcher ‘Kälbchen’

z. B. Beemercher ‘Bäumchen’ z. B. Kanengercher ‘Kaninchen’ -cher z. B. Källefcher ‘Kälbchen’

Tab. 2: Diminutivplural-Paradigma in den Varietäten (Lb. nach BRUCH 1973 und SCHANEN / ZIM2005 und Msfrk. nach PEETZ 1989; 1995 zu Beuren, REUTER 1989 zu Horath und WREDE 1908)

MER

Die moselfränkischen Dialekte treffen in der Restegruppe P2 keine weitere Unterscheidung. Für sie werden Gruppe P2a und P2b gleichermaßen durch das Pluraldiminutivsuffix -cher wie in Bäämcher, Kaneincher oder Äpelcher abgedeckt (vgl. TIEFENBACH 1987, 10; WREDE 1908, 103–105). Die Literatur zum Luxemburgischen verzeichnet eine weitere Unterteilung, die aber nicht alle Belege zufriedenstellend erklären kann (vgl. SCHANEN / ZIMMER 2005, Band 2; BRUCH 1949, 176–177). Vergleicht man die Belege, kristallisiert sich das Betonungsmus3

BRUCH (1949, 177) erwähnt für den Westen das komplexe Suffix -erchen anstelle des Suffixes -ercher in gleicher Funktion wie letzteres.

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Maike Edelhoff

ter als Unterscheidungskriterium heraus: Alle Basen, deren Betonung auf der Ultima liegt, bilden ihre Diminutivplurale mit dem zweisilbigen Suffix -ercher wie in Beemercher oder Kanengercher. All diejenigen Basen mit Betonung auf der Pänultima fordern dagegen das einsilbige Suffix -cher, wie beim Beispiel Källefcher. Bei letzterem scheint es im Gegensatz zur Erklärung in der Literatur unerheblich, ob die Basis eine Reduktionssilbe auf , , oder (vgl. BRUCH 1949, 177; GILLES 2015b, 264) aufweist. Alle Basen mit Pänultima, egal mit welcher unbetonten Silbe, zählen gleichermaßen in Muster P2b. Eine Ausnahme vermerkt BRUCH (1949, 177) für den Westen des luxemburgischen Sprachgebiets: Bei einigen Pänultima-betonten Basen mit den Reduktionssilben und wird entgegen der allgemeinen Regel das zweisilbige Suffix -erchen genutzt (BRUCH nennt Äppelerchen ‘Apfel.DIM.PL’ und Fiedemerchen ‘Faden.DIM.PL’). Lässt man diese Ausnahme außen vor, gilt für den Großteil Luxemburgs als wichtigster Grundsatz für den Diminutivplural die Bedingung, dass Diminutive im Plural eine daktylische Struktur aufweisen müssen (vgl. GILLES 2015b, 264), während für den moselfränkischen Diminutiv keine vergleichbare Bedingung für den Diminutivplural zu existieren scheint. Schon die Grammatiken bzw. Ortsmonographien beider Seiten sagen also die Existenz einer Isoglosse voraus, wenn auch nur für eine bestimmte Basis-Art. Zu erwarten ist also auf areallinguistischer Ebene, dass sich die Basen aus dem Dëschelcher-Muster P1 und dem Källefcher-Muster P2b weitestgehend gleich verhalten und dort alle Varianten auf interspeaker- und intraspeaker-Varianz zurückgehen und nur im Fall des Bäämcher/Beemercher-Musters P2a eine Isoglosse auftreten wird. 3.2 Wenkerbögen Diese in der Literatur angedeuteten arealen Tendenzen finden ihre generelle Bestätigung in den Karten auf Basis der Wenkerbögen auf deutscher Grenzseite um 1879 und der Befragung von JOHN MEIER (auf Grundlage der 40 Wenkersätze) auf luxemburgischem Boden um 1888. Für den Vergleich standen ausgefüllte Bögen von 841 Orten im Untersuchungsgebiet zur Verfügung: 516 aus dem heutigen Deutschland und 325 aus Luxemburg. Das Untersuchungsgebiet ist aus dem Grund größer als die eigentliche Grenzregion gewählt, dass nicht nur die möglichen Divergenzen an der Grenze beschrieben, sondern auch Aussagen über die Homogenität der jeweiligen Grenzseite gemacht werden können. Das Untersuchungsgebiet umfasst dementsprechend das gesamte heutige Staatsgebiet Luxemburgs und eine gleich große Fläche (ca. 75 km Nord-Süd-Ausdehnung x 55 km Ost-West-Ausdehnung) auf deutscher Seite. Damit ist auf beiden Grenzseiten das Untersuchungsgebiet in etwa gleich groß. Auf deutscher Grenzseite bilden alle Wenkerbögen, die in den alten Kreisen Bernkastel, Bitburg, Merzig, Prüm, Saarburg, Trier und Wittlich im Regierungsbezirk Trier entstanden sind, die Datengrundlage.

Morphologische Isoglossenbildung

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Den Karten liegen zwei Sätze mit Diminutivpluralen zugrunde, nämlich zwei Diminutive im Satz 26. Hinter unserm Hause stehen drei A p f e l b ä u m c h e n mit roten Ä p f e l c h e n .

und einer im Satz 37. Die Bauern hatten fünf Ochsen und neun Kühe und zwölf S c h ä f c h e n vor das Dorf gebracht, die wollten sie verkaufen.

Ein dritter Diminutiv im Plural in Satz 36 „Was sitzen da für V ö g e l c h e n oben auf dem Mäuerchen?“ musste ausgelassen werden, da hier bereits die Basis zwischen den Belegorten variiert (teils zweisilbig Vigel- oder einsilbig Vill-) und damit eine valide Aussage über die Suffixwahl nicht möglich ist. Die Lexeme aus den Wenkerbögen lassen sich dem Beemcher/Beemercher-Muster P2a und dem Källefcher-Muster P2b zuordnen, Lexeme für das Dëschelcher-Muster P1 sind nicht enthalten. In den folgenden Karten gilt als Faustregel: In schwarz sind alle standardnahen, nicht-dialektalen Formen aufgenommen mit dem Suffix -chen (wie in Apelbeemchen oder Scheefchen). Alle Gelbtöne entsprechen einsilbigen Suffixen wie -cher (wie in Apelbeemcher und Scheefcher) oder -che (wie in Apelbeemche und Scheefche), alle Rottöne zweisilbigen Suffixen wie -ercher (wie in Apelbeemercher und Scheewercher) oder -erchen (wie in Apelbeemerchen und Scheewerchen). Die Karten zu den Lexemen Apfelbäumchen und Schäfchen (Abbildungen EDELHOFF-1 und 2 im Farbabbildungsteil) entsprechen grob dem erwartbaren Bild: Die komplexen zweisilbigen Suffixe wie in Beemercher oder Scheewercher treten in Luxemburg auf, die einsilbigen Suffixe wie in Bäämcher und Scheefcher auf deutscher Seite. Zwischen den beiden Formen liegt eine klare Grenze, die mit der Staatsgrenze grundsätzlich übereinstimmt. Die wenigen Grenzüberschreitungen sind vor allem im Norden, in der Eifel und im Ösling, zu beobachten (vgl. auch BRUCH 1949, 177). Einige vereinzelte Formen des Typs Scheefcher oder Bäämcher mit einsilbigem Suffix -cher sind auch im Süden Luxemburgs zu finden, allerdings nicht in einem zusammenhängenden Areal. Für die Homogenität auf der jeweiligen Grenzseite lässt sich festhalten, dass für die moselfränkischen Wenkerbögen nur wenige Abweichungen vom Suffix -cher zu beobachten sind: Ganz am östlichen Rand des Untersuchungsgebietes sind im Norden und Süden jeweils Suffixe ohne abschließendes belegt. Es lässt sich aus den vorliegenden Daten aber nicht ablesen, ob es sich tatsächlich um eine Suffixvariante, den Übergang in ein weiter östlich liegendes -che-Gebiet oder eine abweichende Schreibung für den gleichen Laut wie in den umliegenden Gebieten handelt. Um die Homogenität auf luxemburgischer Seite ist es anders bestellt: Hier lassen sich drei unterschiedliche, wenn auch allesamt komplexe Suffixe ausmachen. Die Schreiber nutzen, wie erwartet, am häufigsten das Suffix -ercher wie in Beemercher (38,5 %) oder Scheewercher (45,8 %). Im Südwesten des Landes tritt das Suffix -erche (wie in Beemerche oder Scheewerche) in einem zusammenhängenden Gebiet auf und im Nordwesten das Suffix -erchen (z. B. Beemerchen und Scheewerchen). Gerade das Suffix -erche wirft allerdings einige

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Maike Edelhoff

Fragen auf: Als Variante mit mobilem -n (vgl. zur n-Regel GILLES 2006a) zum Suffix -erchen kann es nicht gezählt werden – der Kontext fordert keinen nAusfall. Plausibler wäre die Hypothese, dass es sich bei diesem Suffix um das gleiche Suffix wie -ercher mit leicht anderer Tiefschwa-Realisierung handelt. Diese These wird aber von den weiteren er-Auslauten in den Wenkersätzen ebenso nicht gestützt. Aufgrund dieser unklaren Herkunft wird es an dieser Stelle als eigenständiges Suffix behandelt. Interessanterweise entsprechen die Areale, die die Varianten eröffnen, nicht denjenigen, die GILLES (1998; 2006b) für die Phonologie beobachtet. Die erche-Belege fallen sowohl in den Dialektbereich Süden, wie auch ins Zentrum und die erchen-Belege in das Zentrum und den Norden. Die morphologischen Isoglossen scheinen sich also nicht allgemein mit den phonologischen zu decken. Wie aus der Literatur bereits zu erwarten war, begründet die Verteilung für das Källefcher-Muster P2b beim Lexem Äppelcher keine Isoglosse an der Staatsgrenze. Dazu passt auch die Karte in Abbildung EDELHOFF-3 im Farbabbildungsteil für das Lexem Äppelcher: Es liegt keine Isoglosse an der Staatsgrenze vor. BRUCHS Beobachtung, dass das zweisilbige Suffix -erchen wie bei Äppelerchen im „gesamten Westen [Luxemburgs]“ (BRUCH 1949, 177) trotz der phonotaktischen Regel überwiegt, muss allerdings relativiert werden. Auch im Westen des Landes ist hauptsächlich das einsilbige Suffix -cher wie in Äppelcher belegt. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass hier entgegen der phonotaktischen Regel auch zweisilbige Suffixe auftreten. Trotzdem ist die These, dass die luxemburgischen Diminutivplurale der o. g. Bedingung Daktylus unterliegen, nicht vollständig zurückzuweisen. In 10 der 70 Orte mit komplexem Suffix verzeichneten die Gewährspersonen eine Auslassung des Schwa in der BasisReduktionssilbe (siehe Abbildung 4). Diese Funde werfen die Frage auf, ob wirklich die Reduktionssilbe bei zweisilbigem Suffix gesprochen wird oder ob sie auch in anderen Orten eine Kürzung erfährt. Diese Synkopierung wäre wieder der Bedingung Daktylus im Plural zuträglich, da damit die Betonung wiederum auf der Ultima läge.

Abb. 4: Belege aus den Wenkerbögen der Orte Eischen (links, Bogen 42302) und Eschweiler (rechts, Bogen 42187) mit Basisreduktion

Schon im 19. Jahrhundert zeigt sich also ein ziemlich klares Bild an der Grenze: Lexeme im Bäämcher/Beemercher-Muster P2a bilden eine relativ klare Isoglosse an der Staatsgrenze mit einigen wenigen Grenzüberschreitungen. Allerdings ist auf luxemburgischem Gebiet noch eine Vielfalt an zweisilbigen Suffixen vorhanden. Diese bilden zwar relativ klar abgegrenzte Areale, die allerdings immer durch das häufigste Suffix -ercher unterbrochen werden. Für Belege im Källefcher-

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Muster P2b, in dem das einsilbige Suffix -cher vorgesehen ist, ist der Befund noch einmal unklarer. Zwar bildet dieses Suffix, wie erwartet, keine Isoglosse an der Staatsgrenze, allerdings findet sich hier gerade im Westen des Landes Luxemburg ebenfalls noch Variation mit zweisilbigen Suffixen. 3.3 Fragebogenstudie zu aktuellen Tendenzen Ziel der vorliegenden Fragebogenstudie ist es, die Verbreitung der Suffixe in den jeweiligen Mustern noch einmal für die Gegenwart abzubilden (dies gilt für P2) und auch solche Muster anzuschauen, die von den Wenkerbögen nicht abgedeckt wurden (hier vor allem P1). Die Erwartung ist, vor allem im Hinblick auf die Voraussage im eingangs genannten Zitat von HINSKENS / AUER / KERSWILL (2005, 29), dass die jeweiligen Grenzseiten homogener geworden sind und die Grenze schärfer definiert sichtbar ist. 3.3.1 Methodik Ergebnisse für diese Fragebogenstudie liegen von 110 Gewährspersonen aus 60 verschiedenen Ortschaften vor. Alle Ortschaften wurden nach dem Grundsatz ausgesucht, dass ein Wenkerbogen vorliegen soll, um die Vergleichbarkeit zwischen den Ergebnissen zu gewährleisten. Die direkte Auswahl der Orte geschah über ein Raster, damit eine gleichmäßige Verteilung über das Untersuchungsgebiet sichergestellt werden konnte. Im Hinblick auf das originale Ortsnetz wurde das Ortsnetz auf deutscher Grenzseite deutlich verkleinert. Hier wurden nur noch Belegorte hinzugenommen, die in maximal 20 km Entfernung zur Staatsgrenze liegen, da die Kartierung der Wenkerbögen eine gewisse Homogenität der deutschen Grenzseite nahelegte. Kam aus einem Ort keine Rückmeldung, wurde auf Gewährspersonen aus einem Nachbarort zurückgegriffen. Die Gewährspersonen unterteilen sich in zwei Gruppen: Unter 45-Jährige und über 50-Jährige. Anhand dieser Unterteilung wurden, wenn möglich, für alle Orte je ein/e Sprecher/in pro Gruppe verlangt. Für einige Ortschaften konnten allerdings keine jüngeren Sprecher/innen rekrutiert werden, weshalb manche Orte nur von einem/r Sprecher/in vertreten werden. Die Teilnehmer/innen sollten darüber hinaus in zweiter Generation ortsfest sein und keine Ortswechsel von mehr als 10 km vollzogen haben. Teilnehmer/innen, die in Nachbargemeinden unter 10 km Entfernung umgezogen waren, wurden akzeptiert: Diese Teilnehmer/innen gelten in der Studie als ortsfest. Der Fragebogen bestand aus vier Teilen, denen verschiedene Aufgabentypen zugeordnet waren. Für diesen Beitrag wurde nur die Listenaufgabe ausgewertet: Diese Aufgabe ist die einzige, in denen Formen für alle Muster von den Teilnehmer/innen frei produziert werden mussten. In den Listen selbst war ein regionalisiertes Simplex vorgegeben, bei dem die Aufgabe darin bestand, dazu den Diminutiv in Singular und Plural zu bilden (siehe Abbildung 5). Die Regionalisierung

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erfolgte nach größeren Regionen: In Luxemburg wurde eine „Standardvariante“4 und eine nordluxemburgische Regionalisierung benutzt und in Deutschland eine saarländische, eine Mosel- und eine Eifel-zentrierte Regionalisierung angefertigt. 2. Hier sehen Sie eine Liste mit Wörtern. Auch wenn es teilweise unüblich ist, diese Wörter zu verkleinern - wie würden Sie es in Ihrem Platt/Dialekt trotzdem machen? Bitte versuchen Sie, zu jedem Wort eine Verkleinerungsform in der Einzahl und in der Mehrzahl zu schreiben. Verkleinerung-Einzahl

Verkleinerung-Mehrzahl

e Boom

Beemchen e __________________

dräi __________________ Beemcher

en Banaan

e __________________

dräi __________________

Abb. 5: Listenaufgabe mit Aufgabenstellung bei moselfränkischen Fragebögen, hier in der Regionalisierung „Eifel“

Vorteil hierbei war, dass die Gewährspersonen auf ihre aktiven Sprach- bzw. Dialektkenntnisse zurückgreifen mussten und die Form damit belastbarer ist als in einer Auswahlaufgabe mit mehreren Vorgaben. Ein entscheidender Nachteil war allerdings, dass verschiedene Teilnehmer/innen die Formen allesamt parallel bildeten (d. h. in jede Reihe das gleiche Suffix schrieben und dann die Basis anhängten). Trotz einiger Probleme ergab sich aus dieser Aufgabe ein gut auszuwertendes Bild für die Pluralisierungsmuster. Für diesen Beitrag wurden allerdings nur die prototypischen, „gut diminuierbaren“ Substantive ausgewertet, um Sonderentwicklungen auszuschließen.5 3.3.2 Analyse Insgesamt liegen aus der Erhebung sechs diminuierte Lexeme vor: Das Dëschelcher-Muster P1 wird vertreten von zwei Basen mit Schwankungsfällen (/ŋ/ in Jong ‘Junge’ und /k/ in Stéck ‘Stück’), für das Bäämcher/Beemercher-Muster P2a liegen drei Basen vor (eine einsilbige native Basis Këscht ‘Kiste’, eine einsilbige entlehnte Basis Club ‘Club’ und eine zweisilbige jambische Basis Banann ‘Banane’) und ein Lexem (Besem ‘Besen’) kann zum Källefcher-Muster P2b gezählt 4 5

Der Begriff Standard muss für das Luxemburgische mit Vorsicht benutzt werden. Die Standardisierung im luxemburgischen Raum gilt derzeit als noch nicht abgeschlossen (zur Standardisierung siehe u. a. GILLES 2000). Nicht ausgewertet wurden die Lexeme Kuh, Schwein, Hose und Witz, da sie entweder nicht „gut diminuierbar“ sind und als wug-Wörter verwendet wurden (wie Kuh), Homonymie mit einem anderen Diminutiv aufwiesen (Witz(el)chen zu lb. Wutz ‘Zopf’ oder lb. Witz ‘Witz’), auf den jeweiligen Grenzseiten zu unterschiedliche Basen ausbilden (Schwäin vs. Schweng ‘Schwein’) oder Konsonantencluster haben, deren Status bei der Diminution unklar ist (wie /ks/ in Box ‘Hose’).

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werden. Das Lexem Besem wurde vor allem deshalb ausgewählt, da hier Resilbifizierungen mit Basisreduktion (wie bei Äppelcher) unwahrscheinlich sind. Die Farbauswahl der Legende entspricht derjenigen der Wenkerbögen. Neben den Gelbtönen für die einsilbigen Suffixe und den Rottönen für die zweisilbigen, kommen hier noch Blautöne für l-haltige Suffixe (wie -elcher in Dëschelcher) und Mischfarben für jeweils zwei Varianten vor (unentschiedene Sprecher/innen entschieden sich teilweise für eine Einklammerung bei komplexen Suffixen oder schrieben zwei Varianten für ein Lexem). Die Karten zu den Schwankungsfällen Jong ‘Junge’ und Stéck ‘Stück’ (Abbildungen EDELHOFF-6 und 7 im Farbabbildungsteil) können zwei unterschiedliche Fragen beantworten: Zum einen zeigt sich, dass beim Gebrauch von lhaltigem Suffix -elcher (wie in Jéngelcher und Stéckelcher) gegenüber dem Gebrauch der Suffixe -ercher (wie in Jéngercher und Stéckercher) und -cher (wie in Jéngcher und Stéckcher) kein Unterschied zwischen den beiden Grenzseiten vorliegt. Beide Seiten gebrauchen beide Formen, die Präferenz ist abhängig vom jeweiligen Lexem: Stéck wurde von deutlich weniger Teilnehmer/innen in das Dëschelcher-Muster P1 eingeordnet als Jong, bei dem die l-haltige Form Jéngelcher überwiegt (siehe Abbildungen EDELHOFF-6 und 7). Der zweite Erkenntnisgewinn liegt bei der Benutzung der komplexen Suffixe gegenüber den einsilbigen, wenn sich Teilnehmer/innen für eine Pluralisierung nach dem Bäämcher/ Beemercher-Muster P2a entschieden. Hier zeigt sich einmal mehr, dass die Suffixwahl im Bäämcher/Beemercher-Muster P2a deutlich abhängig von der Grenzseite ist. Während das Dëschelcher-Muster P1 keine Isoglossenbildung nach sich zieht, tut das Muster P2a es, wie erwartet, auch bei den Schwankungsfällen. Neben den beiden großen Schwankungen zwischen den Allomorphen der Muster P1 und P2 findet sich ein einziger Beleg für einen „Ausweg“ aus dem Suffix-Dilemma im Zentrum Luxemburgs beim Lexem Jong: Hier hat eine Gewährsperson den i-Diminutiv Jëngien verwendet. Der i-Diminutiv wurde bisher für das Luxemburgische nicht eingehend betrachtet, gilt aber als stilistisch stark markiert und für die an Kinder gerichtete Sprache typisch (vgl. BRUCH 1949, 173–174). BRUCH beobachtet ihn zudem außerhalb vom an Kinder gerichteten Kontext an der belgisch-luxemburgischen Sprachgrenze und in den Kantonen Redingen und Kapellen (vgl. BRUCH 1949, 174). Da dieser Beleg im vorliegenden Teil der Erhebung der einzige mit i-Diminutiv ist und auch in keinem der von BRUCH angegebenen Gebiete gehört, findet an dieser Stelle keine weitere Analyse für die Nutzung des i-Suffixes statt. Die drei Lexeme aus dem Bäämcher/Beemercher-Muster P2a bestätigen noch einmal den Eindruck aus den Wenkerbögen. Die Isoglosse liegt deutlich auf der Staatsgrenze und das sowohl für heimisch einsilbige (Këscht ‘Kiste’ in Abbildung EDELHOFF-8 im Farbabbildungsteil) und mehrsilbige (Banann ‘Banane’ in Abbildung EDELHOFF-10) als auch entlehnte Basen (Club ‘Club’ in Abbildung EDELHOFF-9). Wie bei den Karten anhand der Wenkerbögen (Abbildungen EDELHOFF1–3 im Farbabbildungsteil) sind Grenzüberschreitungen eher die Ausnahme und beschränken sich auf die bereits im 19. Jahrhundert ausgemachten Gebiete in der Westeifel und im Ösling im Norden Luxemburgs.

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Bemerkenswerter dagegen ist die Beobachtung, dass auf luxemburgischer Seite ein starker Rückgang an Suffix-Varianten zu verzeichnen ist. Das Suffix -erche, das im 19. Jahrhundert noch im Südwesten vertreten war, ist für die heutige Zeit gar nicht mehr belegt. Für das Suffix -erchen ist mit Këschterchen und Clibberchen in der Gemeinde Winseler ein einziger Belegort zu verzeichnen. Bei Banann entschied sich die Gewährsperson aber ebenso für das Suffix -ercher. Für die Diminutivplural -Suffixe auf luxemburgischer Seite lässt sich also Advergenz zur zentralluxemburgischen Varietät feststellen – der Standardisierungsprozess ist auch auf morphologischer Ebene in vollem Gange. Ein weiterer bemerkenswerter Unterschied zu den Karten aus dem 19. Jahrhundert betrifft einen neuen „Mitspieler“ auf dem luxemburgischen Territorium: das l-haltige Suffix des Dëschelcher-Musters P1. Obwohl keines der hier abgefragten Lexeme einen Auslaut aufweisen kann, der sie in Muster P1 einordnen würde, ist das Suffix -elcher bei allen drei Lexemen mehr oder weniger stark vertreten. Auffällig ist dabei außerdem, dass sich einige Gewährspersonen im Zentrum eher auf -elcher eingestellt haben, wobei das Suffix nicht auf das Zentrum beschränkt ist. Auf der moselfränkisch-sprechenden Grenzseite hat das Suffix dagegen keinen Einzug gehalten. Es könnte sich also um eine luxemburgische Neuerung handeln. Was die Gewährspersonen dazu bewegt dieses Suffix anstatt der regulären Suffixe aus dem Bäämcher/Beemercher-Muster P2a zu benutzen, bedarf weiterführender Forschung. Das Lexem Besem (Abbildung EDELHOFF-11 im Farbabbildungsteil) für das Källefcher-Muster P2b zog größtenteils die erwartete Suffixwahl nach sich. Die meisten Gewährspersonen auf beiden Grenzseiten entschieden sich für das einsilbige Suffix -cher wie in Biesemcher. Die zweisilbigen Suffixe sind deutlich seltener vertreten, aber bemerkenswerterweise in andere Regionen als dies nach Analyse der Wenkerdaten zu erwarten gewesen wäre. Beim Lexem Äppelcher in Abbildung EDELHOFF-3 im Farbabbildungsteil verteilten sich die Gewährspersonen mit zweisilbigen Suffixen auf den westlichen Rand Luxemburgs, während sie in der vorliegenden Karte eher im (nord-) östlichen und südlichen Grenzbereich zu finden sind. Die Frage, ob es sich hier um einen Zufall handelt oder ob eine neue strukturierte Entwicklung dahintersteckt, muss anhand weiterer Lexeme und ihrer Suffixe geklärt werden. Wie bei den Wenkerdaten für Äppelcher finden sich auch beim Beispiel Biesem ‘Besen’ Basisveränderungen in der Reduktionssilbe, wenn Gewährspersonen ein zweisilbiges Suffix wählten. Vier der neun Gewährspersonen, die sich für ein zweisilbiges Suffix entschieden, kürzten die Basis um ihre Reduktionssilbe zu Biesercher, selbst wenn sie im Diminutiv Singular die Form Biesemchen wählten. Die hier vorgenommene Tilgung der Silbe -em folgt keiner phonologischen oder morphologischen Regel: Es wirkt, als falle diese Silbe nur im Zusammenhang mit der Diminutivpluralbildung aus, dies um die Applizierung des zweisilbigen Diminutivpluralallomorphs zu ermöglichen und gleichzeitig die phonotaktische Beschränkung „daktylischer Diminutivplural“ einzuhalten.

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4 STAATSGRENZE = SPRACHGRENZE? Sowohl in der Literatur als auch in den beiden Erhebungen bestätigen sich die Befunde. Eine mit der Staatsgrenze zusammenfallende Isoglosse hat sich für die Diminutivplurale des Bäämcher/Beemercher-Musters P2a herausgebildet, während dies für die anderen beiden Gruppen, das Dëschelcher-Muster P1 und das Källefcher-Muster P2b, nicht zu beobachten ist.6 Diese Isoglosse übertritt im 19. Jahrhundert nur kurz an wenigen Stellen die Grenze auf die „falsche“ Grenzseite: In der Westeifel und im Luxemburger Ösling waren Formen der jeweils anderen Seite zu finden. Diese Grenzüberschreitungen sind mit der luxemburgischdeutschen Grenzgeschichte erklärbar. Der nordluxemburgische Dialekt des Öslings hat viele Gemeinsamkeiten mit den Dialekten auf der deutschen Seite und bildet nördlich der Ardennen einen Reliktraum (vgl. BRUCH 1952, 19). Auch in der Westeifel befindet sich im Bereich der „luxemburgischen“ Formen ein Reliktgebiet (vgl. HERRGEN / SCHMIDT 1989, 322). Beide Teile unterscheiden sich von den umliegenden Gebieten der eigenen Grenzseite, der Öslinger Dialekt vor allem durch ripuarische Einflüsse und der Dialekt der Westeifel wegen seiner Nähe zu den luxemburgischen Dialekten. Heute sind diese Grenzüberschreitungen aber größtenteils verschwunden – nur einige ältere Dialektsprecher/innen wählen noch die ursprünglichen Formen. Die jüngeren passen sich derweil eher dem umliegenden Gebiet an und vergrößern so abermals den Abstand auf die andere Seite der Grenze. Über die klare Isoglosse hinaus sind im Luxemburgischen weitere Entwicklungen zu beobachten, die so nicht von den moselfränkischen Dialekten geteilt werden. Auch wenn für diese Phänomene wie das nicht-regelkonforme Auftreten des l-haltigen Suffixes -elcher wie in Këschtelcher oder die unregelmäßigen Kürzungen in der Reduktionssilbe von Basen wie in Biesemchen – Biesercher (noch) keine direkte Isoglossenbildung zu beobachten ist, sind dennoch Tendenzen für weitere Divergenzen an der Sprachgrenze nicht von der Hand zu weisen. Dies führt wiederum zurück auf das anfängliche Zitat: Ebenso wie für andere Staatsgrenzen beobachtet, stehen sich an der deutsch-luxemburgischen Grenze morphologisch divergierende Formen gegenüber, während die jeweilige Grenzseite sprachlich homogener ist/wird. In den moselfränkischen Dialekten ist diese (relative) Homogenität bereits im 19. Jahrhundert festzustellen. Im Luxemburgischen verschwanden die im 19. Jahrhundert noch bestehenden Varianzen zugunsten einer standardluxemburgischen Form. Auf dieser Grenzseite hat man es allerdings nicht mit Konvergenz gegenüber einer überdachenden Standardsprache, sondern Advergenz zugunsten eines prestigeträchtigen Dialekts, also mit Dialektausgleich und anhaltender Standardisierung zu tun (vgl. AUER 2004, 170; GILLES 1998; 1999).

6

Getestet an den Basen lb./msfrk. Schaf und Baum (in den Wenkerbögen), Kiste, Club und Banane (in der neuen Erhebung).

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Die allgemeinen soziolinguistischen, historischen, kulturellen und politischen Realitäten, die einer sprachlichen Grenzbildung zugrunde liegen und eine solche Entwicklung auslösen oder verschärfen, wurden schon für viele Grenzen diskutiert und verifiziert (vgl. in Auswahl AUER 2004; AUER / HINSKENS / KERSWILL 2005; WOOLHISER 2005). Auch wenn die Grundvoraussetzungen für die Bildung einer Sprachgrenze somit weitestgehend ähnlich sind, existieren für jedes betrachtete Phänomen und jede (politische) Grenzsituation spezifische Eigenarten, die an anderen Grenzen nicht zu beobachten sind. Für die Isoglossenentstehung im Zusammenhang mit den Diminutivpluralen an der deutsch-luxemburgischen Staatsgrenze können sowohl intrasystemische, als auch soziolinguistische Wandelprozesse verantwortlich gemacht werden. 4.1 Intrasystemische Wandelprozesse Um der Prävalenz des zweisilbigen Suffixes -ercher wie in Beemercher im Luxemburgischen auf die Spur zu kommen, ist es nötig, die Entstehungsgeschichte des Suffixes anzusehen. Es ist auffällig, dass das Suffix nirgendwo im moselfränkischen Sprachgebiet als Pluralisierungsmuster genutzt wird, wohl aber im rheinfränkischen (vgl. SEEBOLD 1983; TIEFENBACH 1987, 8). Dort tritt dieses Pluralisierungsmuster allerdings in den meisten Dialekten nur bei solchen Basen auf, die zur er-Pluralklasse gehören (vgl. JAKOB 1926/27, 27; TARRAL 1903, 91) oder gehört haben (vgl. zu Aufbau und Niedergang der er-Pluralklasse und ihrer Mitglieder NÜBLING i. Dr.; DAMMEL i. Dr.). Diese Beobachtung verleitet die Forschung dazu anzunehmen, dass „das Diminutivsuffix an den Plural des Grundwortes gehängt [wird] (Typ Lämmerchen), teilweise wird der Plural an Grundwort und Suffix markiert (Typ Lämmercher)“ (SEEBOLD 1983, 1253). Diese Annahme mag als Ausgangspunkt für die Pluralisierung mit -ercher gedient haben, die Situation gestaltet sich aber komplexer. Für die synchrone Diminutivpluralmarkierung im Luxemburgischen ist diese „Doppelpluralisierung“ als Erklärung nicht ausreichend. Anders als in den meisten rheinfränkischen Dialekten ist das Suffix weder an die er-Pluralklasse noch an ein bestimmtes Genus gebunden.7 Die Tatsache, dass er-haltige (wie in Beemercher) und nicht er-haltige (wie in Jéngelcher oder Biesemøcher) Suffixe nebeneinander existieren und nur aufgrund o. g. phonologischer bzw. phonotaktischer Charakteristika der Basis zugewiesen werden, widerspricht der Doppelpluralisierungsthese noch einmal mehr: Es ist kaum plausibel anzunehmen, dass bestimmte Lexeme einen Doppelplural erlauben bzw. verlangen, andere aber aufgrund phonotaktischer Merkmale eben dieses Suffix blockieren. Auch semantisch lässt sich keine Evidenz für einen Doppelplural finden: Plurale mit dem Suffix 7

Die genauen Regeln für diese Art der Pluralisierung sind aus den Ortsmonographien für die rheinfränkischen Dialekte nicht abzulesen, da es weder Informationen dazu gibt, ob ein genanntes Lexem zur er-Pluralklasse zu rechnen ist, noch welchem Genus das Basissubstantiv im Dialekt angehört.

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-elcher wie Jéngelcher sind nicht weniger pluralmarkiert als solche mit dem Suffix -ercher. Man sollte also davon ausgehen, dass das Suffix keine synchrone Doppelpluralisierung darstellt, sondern durch Reanalyse entstanden ist (vgl. EDELHOFF 2016 für die Abläufe). Dabei wurde der eigentliche er-Plural der Basis als Teil des Suffixes reanalysiert (vgl. SCHUDT 1927, 24) und breitete sich analog auf andere Basen aus, unabhängig von der Pluralklasse. In den moselfränkischen Dialekten hatte diese Art der Pluralisierung keine Durchschlagskraft. Die Pluralisierung mit einsilbigem Pluralsuffix -cher reichte in diesen Dialekten aus. Zwar finden sich genau wie im Standarddeutschen einige wenige Relikte komplexer Suffixe bei Lexemen mit er-Plural, wie das vieldiskutierte nhd. Kinderchen bzw. msfrk. Kennercher, das Suffix lässt sich aber nicht produktiv zur Pluralisierung bei Diminutiven einsetzen. Auch wenn die Entstehung einen ersten Anhaltspunkt liefert, wie das Suffix zu analysieren ist, erklärt sie nicht den durchschlagenden Erfolg des Suffixes für die luxemburgische Seite und den Misserfolg des Suffixes auf der moselfränkischen Seite. Für die Durchsetzung im Luxemburgischen sind einige innersprachliche Besonderheiten auf mehreren sprachlichen Ebenen verantwortlich. Ein Argument für die begünstigte Suffixdurchsetzung liegt in der Silbenstruktur. Während das Standarddeutsche (und mit Abstrichen auch die moselfränkischen Dialekte) kaum bzw. keine silbenoptimierenden Prozesse kennt, sind sie im Luxemburgischen deutlich häufiger (vgl. SZCZEPANIAK 2010). Von daher ist es nachvollziehbar, dass ein vokalisch anlautendes Suffix, das die Silbenstruktur verbessert (vgl. lb. Bee.mer.cher [CV.CV.CV] vs. msfrk. Beem.cher [CVC.CV]), in einer Sprache wie dem Luxemburgischen Aussicht auf Erfolg hat (vgl. EDELHOFF 2016). Auch im Betonungsmuster liegt ein möglicher unterstützender Faktor: Dem Luxemburgischen sind Daktylen im Plural nicht fremd (vgl. DAMMEL / DENKLER in diesem Band), dem Standarddeutschen und den moselfränkischen Dialekten eher; in beiden Varietäten werden Trochäen bevorzugt oder im Standarddeutschen sogar forciert (NÜBLING i. Dr.). Die Einführung einer Outputbedingung für Daktylen im Diminutivplural ist also für das Luxemburgische nur eine Konsequenz aus seiner Pluralbildung, die nicht auf Trochäen fixiert ist (vgl. EDELHOFF 2016). Ein weiterer, wahrscheinlich entscheidender Faktor liegt im Aufbau der luxemburgischen Nominalphrase, in der eine starke Pluralmarkierung am Substantiv eine höhere Relevanz besitzt als in den anderen Varietäten (vgl. zur Pluralmarkierung NÜBLING 2006, 123). Während im Standarddeutschen und in den moselfränkischen Dialekten der Numerus einer Diminutivbildung problemlos über den Artikel zu erkennen ist, ist dies für das Luxemburgische nicht im gleichen Ausmaß möglich. Das hängt mit mehreren Charakteristika zusammen: Zum einen ist der Diminutiv im Luxemburgischen durchgängig genuskonstant. Das heißt, dass Diminutive grundsätzlich das Genus ihrer Basis beibehalten – anders als im Standarddeutschen und den moselfränkischen Dialekten, bei denen mit Diminuierung ein Genuswechsel hin zum Neutrum stattfindet. Zum anderen verfügt das luxemburgische Artikel-Paradigma über eine Vielzahl an Synkretismen (siehe Tabelle 3; vgl. BRAUN et al. 2005; SCHANEN / ZIMMER 2005).

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Diese beiden Faktoren zusammengenommen zeigen den Bedarf an einer Pluralmarkierung am Substantiv auf. Im Luxemburgischen sind Diminutive aller Genera vertreten: Im Paradigma fällt der Ausdruck von Neutrum und Femininum im Nominativ/Akkusativ (nämlich d’) mit dem Nominativ/Akkusativ Plural-Ausdruck (d’) zusammen, ebenso wie der Nominativ/Akkusativ Maskulinum (den) mit dem Dativ Plural (den). Ohne klare nominale Pluralmarkierung ist hier eine Numerusunterscheidung nicht möglich. In den moselfränkischen Dialekten sind alle Diminutive Neutra. Hier existieren keinerlei Synkretismen zwischen den Definitartikeln im Singular Neutrum und im Plural. Die Pluralmarkierung muss hier nicht in gleichem Maße überbetont werden, wie im Luxemburgischen: Auch ohne Markierung am Substantiv wäre hier eine Unterscheidung anhand der Determinierer möglich. Definitartikel

Luxemburgisch Singular

Moselfränkisch

Plural

Singular N

Plural

M

N

F

Nominativ / Akkusativ

den

d’ (dat)

d’ (déi)

d’ (déi)

et/’t (dat)

di (déi)

Dativ

dem

dem

der

den

dem

den

Tab. 3: Schwaches Definitartikel-Paradigma im Luxemburgischen und Moselfränkischen (vereinfacht) (Lb. nach SCHANEN /ZIMMER 2005, BRAUN et. al 2005; Msfrk. nach PEETZ 1989, REUTER 1989)

Die Diminutivpluralmarkierung entwickelte sich in beiden Varietäten unterschiedlich, weil sie auf unterschiedliche sprachliche Grundvoraussetzungen traf: Auf der Ebene der Phonologie und der Betonungsmuster weicht das Luxemburgische bereits von den anderen moselfränkischen Dialekten so weit ab, dass die morphologische Entwicklung dem folgt und sich die Diskrepanzen von den angrenzenden Varietäten weiter verstärken. Ein Unterschied auf phonologischer Ebene (in diesem Fall: höhere Silbensprachlichkeit und keine trochäische Beschränkung für Plurale, sowie Synkretismen im Artikelparadigma) löst also einen Wandelprozess auf morphologischer Ebene (in diesem Fall: Notwendigkeit einer starken nominalen Pluralmarkierung) aus, der wiederum zu einer morphologischen Isoglosse (zweisilbige, „überspezifische“ Pluralmarkierung in Luxemburg und einsilbige, wenig überspezifizierte Markierung in den moselfränkischen Dialekten) führt. Hier hat die Morphologie auf einen phonologisch verursachten Zusammenfall im Paradigma reagiert und erhält die Unterscheidbarkeit aufrecht.

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4.2 Soziolinguistischer Wandel Neben den unterschiedlichen linguistischen Voraussetzungen, die die Isoglossenbildung begünstigt haben, muss auch die Kontaktsituation zwischen den Varietäten als wichtiger Aspekt einbezogen werden. Die bereits in Abschnitt 2 kurz umrissene soziolinguistische Situation auf den beiden Grenzseiten hat unterschiedliche Auswirkungen auf die jeweilige Grenzseite. Die moselfränkischen Dialekte gleichen sich immer stärker ihrer Dachsprache, dem Standarddeutschen an (vgl. AUER 2004). Wie in vielen anderen deutschen Dialektlandschaften (vgl. für einen Überblick NIEBAUM / MACHA 2006) nimmt auch im moselfränkischen Raum die Dialektalität ab und die früheren kleinräumigen Ortsdialekte werden endgültig durch eine moselfränkische Regionalsprache ersetzt (vgl. ähnlich HERRGEN / SCHMIDT 1989, 335; LENZ 2003 für Wittlich). Übertragen auf die vorliegende Situation bedeutet das: Mit Ausnahme der Pluralmarkierung am Diminutivsuffix entspricht die Mehrheit der Regeln zur Diminuierung in den moselfränkischen Dialekten denen im Standarddeutschen. Eine stark von den standarddeutschen Regeln abweichende Neuerung (wie in diesem Fall die zweisilbigen Diminutivpluralsuffixe) hätte also keine reelle Chance sich durchzusetzen. Das Luxemburgische dagegen wird nicht vom Standarddeutschen überdacht und gleicht sich ihm nicht an. Hier können sich stark abweichende Entwicklungen ohne Probleme durchsetzen. Darüber hinaus ist auch der Einfluss der Standardisierung im Luxemburgischen nicht zu unterschätzen: Das Zentralluxemburgische wird zur leitenden, prestigeträchtigen Variante, die kleinräumige Dialekte ablöst – beinahe wie das Standarddeutsche auf deutscher Grenzseite. Wie in den Karten zu sehen war, hat sich das zentralluxemburgische Diminutivpluralsuffix gegen die anderen Varianten durchgesetzt, die im Folgenden beseitigt wurden. Es ist also auf luxemburgischem Staatsgebiet zu erkennen, dass die dialektale Aufteilung zugunsten der Varietät der Hauptstadt aufgegeben wird. 5 FAZIT UND DESIDERATE Was in vielen Sprachen zu beobachten war, ist auch im Luxemburgischen zu erkennen: Trotz regem Sprachkontakt führt divergierender Sprachwandel zur Grenzbildung. Diese These hat sich für das morphologische Phänomen der Diminutivplurale weitestgehend bestätigt. Selbst wenn nur für ein Teilphänomen tatsächlich Divergenz zwischen den Varietäten und eine wachsende sprachliche Homogenität auf der jeweiligen Grenzseite zu beobachten war und nur hier eine eindeutige Isoglosse an der Staatsgrenze entstanden ist, legen die Analyseergebnisse nahe, dass auch bei anderen Teilphänomenen areale Unterschiede entstehen, die sich bis dato nicht deutlich an der Staatsgrenze abbilden. Sowohl intrasystemische Besonderheiten der beiden Varietäten als auch die unterschiedlichen soziolinguistischen Konstellationen fördern linguistische Divergenz-Prozesse: Die bereits bestehenden Unterschiede setzen neue, unterschied-

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liche Prozesse in Gang, die die Differenzen weiter vertiefen. Auch wenn die beiden Varietäten nah nebeneinander liegen, ist ihr Einfluss aufeinander inzwischen eher gering. Die Dialekte an der Grenze werden von der Nationalsprache des jeweiligen Landes beeinflusst, die ihren Einfluss nicht über die politische Grenze hinweg ausüben kann (vgl. AUER 2004, 177). Die jeweilige Advergenzsituation zu den Nationalsprachen zerstört somit das einstige Dialektkontinuum und sorgt für schärfere Abgrenzungen. Für den Fall der deutsch-luxemburgischen Grenze steht diese Entwicklung noch relativ am Anfang: Die luxemburgische Sprache hat sich aus dem Einflussbereich der deutschen Standardsprache gelöst und ist heute eine sehr junge Ausbausprache, die mitten im Standardisierungsprozess steckt. Die moselfränkischen Dialekte dagegen verlieren immer stärker an Fundament und werden entweder durch eine moselfränkische Regionalsprache oder den Standard selbst ersetzt. Inwieweit tiefgreifende strukturelle Veränderungen für die gesamte Diminutivbildung von diesen Entwicklungen ausgelöst werden, gilt es tiefergehend zu untersuchen. Betrachtet man sämtliche genannten gegenläufigen Entwicklungen auf den beiden Grenzseiten, käme in Zukunft eine noch schärfere Profilierung der Grenze also nicht unverhofft. LITERATURVERZEICHNIS AUER, PETER (2004): Sprache, Grenze, Raum. In: Zeitschrift für Sprachwissenschaft 23, 149–179. BRAUN, JOSY / MARIANNE JOHANNS-SCHLECHTER / JOSÉE KAUFFMANN-FRANTZ / HENRI LOSCH / GENEVIÈVE MAGNETTE-BARTHEL (2005): Grammaire de la langue luxembourgeoise. Luxemburg: Ministère de l’Éducation nationale et de la Formation professionnelle. BRUCH, ROBERT (1949): Zur Diminutivbildung im Luxemburgischen. In: Revue trimestrielle d’études linguistiques, folkloriques et toponymiques 31/32, 169–179, 2 Karten. BRUCH, ROBERT (1952): Die Mundart des Nordöslings. In: Jahrbuch der luxemburgischen Sprachgesellschaft, 1–50. BRUCH, ROBERT (1958): „Hol iwer!“ Sprachgrenzen und Mundartbrücken zwischen Eifel, Saargau, Lothringen und Luxemburg. In: HOFFMANN, FERNAND / CARLO HURY (Hg.): Robert Bruch. Gesammelte Aufsätze. Luxemburg: BNL, 169–187. BRUCH, ROBERT (1973): Précis populaire de Grammaire Luxembourgeoise. Luxemburger Grammatik in volkstümlichem Abriss. 3. Auflage. Luxembourg: Editions de la Section de Linguistique de l'Institut grand-ducale (Beiträge zur luxemburgischen Sprach- und Volkskunde. 10). CAJOT, JOSÉ (1989): Neue Sprachschranken im „Land ohne Grenzen“? Zum Einfluß politischer Grenzen auf die germanischen Mundarten in der belgisch-niederländisch-deutsch-luxemburgischen Euregion. Köln: Böhlau. CAJOT, JOSÉ (2000): Die luxemburgische Sprachlandschaft zwischen Belgien und Deutschland. Ein lexikalischer Vergleich von vier Arealen. In: NEWTON, GERALD (ed.): Essays on politics, language and society in Luxembourg. Lewiston: Edwin Mellen Press, 91–112. DAMMEL, ANTJE (i. Dr.): Warum eigentlich nicht Worter? Ein Beitrag zur Ökumene des Umlauts“. In: KAZZAZI / LUTTERMANN / WAHL / FRITZ (i. Dr.). DAMMEL, ANTJE / MARKUS DENKLER (in diesem Band): Zur Reorganisation modulativer und additiver Pluralmarker in westfälischen Dialekten und im Luxemburgischen am Beispiel des er-Plurals.

Morphologische Isoglossenbildung

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SYNTAX UND AREALITÄT: METHODEN UND RESULTATE EINES SYNTAKTISCHEN WENKER-ATLAS Jürg Fleischer 1 EINLEITUNG*

Zwischen 1879 und 1888 verschickte GEORG WENKER (1852–1911) zur Erhebung dialektaler Daten 40 später nach ihm benannte Sätze an die Volksschulen im gesamten damaligen Deutschen Reich. Diese Sätze hatte WENKER in erster Linie im Hinblick auf Phänomene des Lautwandels und der Morphologie zusammengestellt. Er macht dazu in der 1889 verfassten Einleitung zum „Sprachatlas des Deutschen Reichs“1 die folgenden Angaben: Jedes Wort wurde reiflich überlegt, möglichst alle Pronomina, wichtige Zahlwörter, die Hülfszeitwörter, die wesentlichsten Flexionsformen wurden berücksichtigt, für jede Vokalund Consonanten-Entwicklung Beispiele eingefügt und das Ganze in 40 einfache Sätzchen zusammengefaßt. (WENKER [1889] 2013, 1)

Dass sich WENKERS Erkenntnisinteresse bei der Abfassung seiner Sätze nicht auf die Syntax (und auch nicht auf den Wortschatz) bezog, wurde unter anderem von WENKERS Nachfolger FERDINAND WREDE (1863–1934) betont. In der Einleitung zur ersten Lieferung des „Deutschen Sprachatlas“ (DSA), die nach langen Vorarbeiten 1926 erscheinen konnte, heißt es dazu: *

1

Der vorliegende Artikel ist im Rahmen des Projekts „Syntax der deutschen Dialekte: eine arealtypologische Untersuchung anhand der Wenker-Materialien“ entstanden, das von der VolkswagenStiftung gefördert wurde (Opus magnum-Stipendium 87 234). Dafür sei hiermit herzlich gedankt. Für den Zugang zu den belgischen und niederländischen WenkerMaterialien bedanke ich mich bei JAN GOOSSENS und NICOLINE VAN DER SIJS, für ihre genaue Arbeit bei den Transliterationen der hier analysierten Wenkersätze bei MIRIAM HAAG, JASMIN PASTUSCHEK, JEFFREY PHEIFF, STEPHANIE WINTER und KATHRIN WOLLENSCHLÄGER, für die Erstellung der Karten bei STEPHANIE LESER-CRONAU. Für Diskussionen und Anregungen zum vorliegenden Artikel danke ich MAGNUS BREDER BIRKENES, ELVIRA GLASER, OLIVER SCHALLERT, MONIKA SCHÖTSCHEL, CANAN SERTKAYA und zwei anonymen GutachterInnen. Alle verbleibenden Fehler stehen in meiner Verantwortung. Im Folgenden zitiere ich WENKERS zwischen 1889 und 1911 datierte handschriftliche Texte zum „Sprachatlas des Deutschen Reichs“, die durch die Edition von ALFRED LAMELI allgemein zugänglich und damit überhaupt erst wieder bekannt geworden sind (WENKER 2013), nach der Seitenzahl in LAMELIS Edition, ergänze jedoch in eckigen Klammern das von WENKER angegebene Datum, um die zeitliche Orientierung zu erleichtern. Bei den ebenfalls in LAMELIS Edition wiedergegebenen Druckschriften zitiere ich dagegen das Original, verweise jedoch danach, durch „=“ eingeleitet, auf die Seiten in der Edition LAMELIS. Entsprechend wird mit WREDES „Kleinen Schriften“ (WREDE 1963) verfahren.

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Jürg Fleischer Was sich auf den Karten […] für syntaktische und wortgeographische Fragen [ergab], das hat unbeabsichtigt die Fügung der Sätze ergeben […]. (WREDE 1926, 7)

Obwohl die durch WENKERS Daten in mehreren Fällen geleistete Abdeckung syntaktischer Phänomene „unbeabsichtigt“ war, wäre es jedoch nicht richtig zu behaupten, dass WENKER der Syntax keine Aufmerksamkeit schenkte: Immerhin verwendete er zur Erhebung sprachlicher Phänomene ja Sätze. Dass er sich für dieses Vorgehen entschied, hat methodische Gründe. Im Text zum „Sprachatlas von Nord- und Mitteldeutschland“, WENKERS erstem Versuch, Resultate seiner Erhebungen der 40 Sätze zu publizieren, heißt es dazu: Der anfänglich gehegte Plan, eine Liste einzelner Wörter, in denen sich die lautlichen und flexivischen Eigenthümlichkeiten der Mundart ausprägen mussten, von den Lehrern in den Dialect mir übertragen zu lassen, wurde aufgegeben, da es, wie jeder Kundige weiss, einige Uebung erfordert, mundartliche Wörter vom Satzzusammenhang losgerissen mit Sicherheit zu erfassen. Es wurde vielmehr aus jenen Wörtern eine Anzahl kurzer, ganz populär gehaltener Sätzchen gebildet, die sogar jeder Schüler leicht in seine Mundart übertragen konnte, da sie nur alltägliche Wendungen enthielten. (WENKER 1881, VII–VIII = 2013, 918)

Nach WENKERS Auffassung ist die Aufgabe, eine dialektale Übersetzung zu erstellen, also leichter zu bewältigen, wenn die interessierenden Lexeme in einen Satzzusammenhang eingebettet sind. Die in den Sätzen enthaltenen bzw. die sich in den dialektalen Übersetzungen manifestierenden syntaktischen Phänomene bilden aber erklärtermaßen nicht sein Forschungsziel. Wenn spezifisch syntaktische Auswertungen der Wenker-Materialien durchgeführt werden, so handelt es sich um in der ursprünglichen Konzeption der Erhebung nicht intendierte Sekundär-Auswertungen. Basierend auf Ergebnissen der bisherigen Arbeiten, die derartige SekundärAnalysen vornehmen, aber auch aufgrund der Resultate weiterer eigener Auswertungen scheint es durchaus möglich, anhand der Wenker-Materialien einen Atlas zu syntaktischen Phänomenen zu erstellen. Methoden und Resultate eines solchen Atlas sollen im Folgenden exemplarisch anhand zweier Analysen vorgestellt und diskutiert werden. In den Karten des geplanten Atlas soll das durch die Wenker-Materialien abgedeckte Areal, das fast das gesamte kontinentalwestgermanische Gebiet umfasst, vollständig repräsentiert sein. Neben der für viele Gebiete ersten sprachgeographischen Dokumentation syntaktischer Erscheinungen überhaupt (soweit sie in den Wenkersätzen repräsentiert sind) erscheint vor allem die areale Abdeckung attraktiv: Durch die Wenker-Materialien werden direkte Vergleiche anhand einer einheitlichen Datengrundlage für ein sehr großes Gebiet im nördlichen Zentraleuropa ermöglicht. Dabei werden die lange Zeit wenig beachteten nicht-deutschen Daten, die die Wenker-Materialien bieten, in der Konzeption der Auswertungen als integraler Bestandteil mitberücksichtigt. Dies ermöglicht Untersuchungen zur Frage der (Nicht-)Korrelation von sprachlichen und typologischen Grenzen, mithin also der Arealbildung über Sprachgrenzen hinweg. Im Folgenden gebe ich zunächst einen kurzen Überblick zu den bestehenden syntaktischen Auswertungen (Abschnitt 2), bevor in der Literatur zu findende

Syntax und Arealität

139

Kritik, soweit sie sich auf syntaktische Aspekte der Wenker-Daten erstreckt, diskutiert und eingeordnet wird (Abschnitt 3). Darauf aufbauend wird kurz die Methode syntaktischer Auswertungen vorgestellt (Abschnitt 4), die Wenkersätze werden als mehrsprachiges „Parallelkorpus“ charakterisiert (Abschnitt 5) und das verwendete Sample wird präsentiert (Abschnitt 6). Danach illustrieren zwei Analysen zum prospektiven Infinitiv und zur Realisierung des negativen Indefinitums nichts das Potential, aber auch die Beschränkungen des Materials (Abschnitt 7), bevor ein kurzer Ausblick gegeben wird (Abschnitt 8). 2 BISHERIGE SYNTAKTISCHE AUSWERTUNGEN In einem Abriss zu bestehenden syntaktischen Auswertungen der Wenker-Materialien ist zuerst darauf hinzuweisen, dass bereits WENKERS handschriftliche Kommentare und die Originalkarten bisweilen syntaktische Informationen enthalten. Dies zeigt sich beispielsweise, wenn bei der Behandlung der verschiedenen dialektalen Entsprechungen von bin aus WS 40 auch Formen des Auxiliars haben zur Sprache kommen (vgl. WENKER [1900/1902] 2013, 586, 588) oder wenn, wie FISCHER (2015, 111–112) aufzeigt, bei den zahlreichen Fällen, in denen einem Präteritum der Vorlage ein südliches Perfekt entspricht, Daten zur oberdeutschen Perfekt-Ausdehnung zusammengestellt werden (vgl. z. B. WENKER [1901/1903] 2013, 698–699 zu war [WS 6]; WENKER [1900/1905] 2013, 660 zu tat [WS 20] oder WENKER [1903] 2013, 733 zu kam [WS 34]). Auch in Bezug auf das in moderner Terminologie als „Negationskongruenz“ bezeichnete Phänomen finden sich bereits bei WENKER einige wenige Angaben (vgl. 7.2). In ähnlicher Weise gilt dies für WREDES zwischen 1892 und 1902 erschienene „Berichte über G. Wenkers Sprachatlas des Deutschen Reichs“ (vgl. WREDE 1963, 9–228) und später für den DSA. Die syntaktischen Bemerkungen und Beobachtungen sind jedoch in der Regel sehr knapp gehalten und finden sich verstreut zwischen Angaben, die sich ansonsten mit vornehmlich lautlichen oder morphologischen Fragen auseinandersetzen. Sie bilden nie den Schwerpunkt der Kommentare. Dass sich höchst ergiebige Auswertungen der Wenker-Materialien auch gezielt auf syntaktische Phänomene richten können, zeigte zuerst MAURER (1926) in seiner bekannten Untersuchung zur Verbstellung, die auch eine Auswertung des ersten Teils von WS 24 (Als wir gestern Abend zurück kamen, …) enthält (vgl. besonders MAURER 1926, 19–34 und 70–71; MAURERS Arbeit enthält außerdem eine Karte, die auf einer nicht paginierten Seite auf das mit Seite XI endende Inhaltsverzeichnis folgt). MAURERS Auswertung ist auf den Süden des durch den „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ abgedeckten Gebiets, bzw. konkret: auf das Gebiet südlich der Präteritalgrenze, beschränkt, weil dort das Präteritum der Vorlage (kamen) in der Regel in ein Perfekt aufgelöst wird. Dadurch ergeben sich verschiedene Stellungsvarianten von Auxiliar, Partizip und den dialektalen Übersetzungen von zurück, die den Gegenstand von MAURERS Untersuchung bilden. Nach MAURERS Pionierleistung dauerte es Jahrzehnte, bis innerhalb der deutschsprachigen Dialektologie weitere syntaktische Auswertungen des Wenker-

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Jürg Fleischer

Materials unternommen wurden. Dies liegt wohl weniger daran, dass sich MAUselbst skeptisch zur Verwertbarkeit der Wenkersätze für weitere Fragen der Wortstellung äußert.2 Vielmehr interessierte sich die deutschsprachige Dialektologie vor den 1990er Jahren kaum für syntaxgeographische Fragestellungen. Seit den 2000er Jahren sind verschiedene Arbeiten zu syntaktischen Phänomenen aufgrund von Analysen der Wenker-Materialien erschienen. Den Anfang machte hierbei die Petersburger Germanistin NADJA KAKHRO, die im Rahmen einer Dissertation, die in Zürich von ELVIRA GLASER mitbetreut wurde, verschiedene syntaktische Phänomene der Wenkersätze aus der deutschsprachigen Schweiz untersuchte (vgl. KAKHRO 2005; 2006). Nach KAKHRO sind weitere Arbeiten zu syntaktischen Phänomenen der Wenkersätze erschienen, wobei hierfür entscheidend war, dass in der Zwischenzeit die originalen Fragebogen, mit denen die Daten erhoben wurden, im Rahmen von DiWA bzw. REDE als elektronische Abbildungen publiziert worden waren.3 Viele Neuauswertungen beziehen sich, wie KAKHRO, auf relativ kleine Gebiete: KOLMER (2010) untersucht Infinitivstrukturen in Niederbayern, DEMSKE (2011, 40–42) bietet kurze Angaben zu Infinitivstrukturen im Saarland (und benachbarten Gebieten), FLEISCHER (2012) befasst sich mit der Realisierung und Abfolge pronominaler Objekte im Nordwesten des durch die Erhebungen im Deutschen Reich abgedeckten Gebiets, SCHALLERT (2013a) untersucht die Abfolge der verbalen Teile in Österreich und Liechtenstein und FLEISCHER (2014) die (Nicht-)Flexion des prädikativen Adjektivs in einem südlichen alemannischen Gebiet (mit einigen östlich angrenzenden bairischen Belegorten). Der besondere Reiz der Wenker-Materialien liegt jedoch in ihrer weiten arealen Abdeckung (vgl. Abschnitt 5). Bisher habe ich zwei Auswertungen vorgelegt, die versuchen, im Rahmen unterschiedlicher Samples, die anhand der in Marburg archivierten Materialien gebildet wurden, einen Überblick über ein größeres geographisches Gebiet zu vermitteln, und zwar in Bezug auf die Realisierung und Abfolge der pronominalen Objekte in WS 9 (FLEISCHER 2011) und in Bezug auf die Realisierung des pronominalen Subjekts in WS 12 (FLEISCHER 2015). Die bisher vorliegenden Resultate erweisen sich als durchweg interessant und motivieren dazu, syntaktische Sekundär-Auswertungen in einem größeren und systematischeren Umfang zu erstellen und zu präsentieren. RER

3 WENKERSÄTZE UND IHRE ERHEBUNG: KRITIK DER KRITIK Die Kritik an WENKERS Erhebung und an der Qualität der daraus hervorgegangenen Daten beginnt schon im 19. Jahrhundert. Ihre Geschichte soll hier nicht nachgezeichnet werden. Die Frage nach der Qualität der Daten ist aber natürlich zent

2 3

„Außer dem Satz 24 könnte man noch den einen oder anderen Wenkerschen Satz für Wortstellungsuntersuchungen benutzen: Satz 21 und 37 etwa; im Übrigen ist für die Wortstellung nicht viel aus Wenkers 40 Sätzen herauszuholen.“ (MAURER 1926, 19) Vgl. ; Stand: 31.10.2017.

Syntax und Arealität

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ral, weshalb hier einige Kritikpunkte, die sich in erster Linie auf syntaktische Aspekte beziehen, diskutiert werden. Dass ich mich dabei vor allem auf ältere Literatur stütze, liegt daran, dass in jüngeren Untersuchungen in syntaktischer Hinsicht kaum mehr eine methodische Auseinandersetzung mit den Wenkersätzen stattfindet, die über allgemeine Gesichtspunkte der Vor- und Nachteile der direkten und indirekten Methode hinausgeht. WENKER stellte seinen Gewährspersonen mit den 40 Sätzen eine Übersetzungsaufgabe. Anders als bei den in jüngeren dialektsyntaktischen Projekten mehrheitlich verwendeten Bewertungsaufgaben, bei denen – in der Regel durch einfaches Ankreuzen – angegeben wird, ob eine bestimmte Konstruktion im Dialekt möglich ist und ob sie gegenüber anderen Alternativen präferiert wird (vgl. FLEISCHER / KASPER / LENZ 2012, 13–17), müssen die Gewährspersonen hier einen vorgegebenen standardsprachlichen Satz in ihr dialektales System übersetzen. Damit ist die Aufgabe für die Gewährspersonen nicht nur mit einigem Schreibaufwand verbunden (der deutlich höher liegt als bei Bewertungsaufgaben), sondern es wird von ihnen auch eine bestimmte kognitive Leistung verlangt, eben das Übersetzen oder Transponieren eines Satzes vom einen in ein anderes sprachliches System. Gerade in Bezug auf diesen Aspekt werden negative Erfahrungen berichtet, etwa von KLOEKE, der dann in der Folge darauf verzichtete, in den Niederlanden mit den Wenkersätzen zu arbeiten: Ik heb dat in het Oosten van ons land gedaan en kreeg telkens weer te hooren: ‘dat kunnen we zoo niet uitdrukken’, ‘dat moeten we geheel omzetten’, ‘dat zijn voor ons onmogelijke begrippen’. Hierbij bemerkt men eerst hoe v a s t (zoo men wil: beperkt) het idioom van g o e d e dialectsprekers is. (KLOEKE 1922, 232; Sperrungen im Original)

Jahrzehnte später äußert sich RUOFF, einer der profiliertesten Kritiker der Wenkersätze, sehr ähnlich: Auch ein begabter Sprecher ist einfach nicht fähig, die Satzvorlagen in seine Mundart zu transponieren, vor allem wenn es in dieser jene Sätze gar nicht geben kann. (RUOFF 1965, 102)

Zu einer völlig anderen Beurteilung kommt dagegen MAURER (1926), dessen Arbeit in Abschnitt 2 kurz charakterisiert wurde. MAURER vergleicht seine aus dem Sprachatlas-Material gewonnenen Daten sorgfältig mit Materialien aus anderen Quellen (im Wesentlichen Angaben aus der grammatischen Literatur und TextAuswertungen). Zu einem Zeitpunkt, als die Skepsis gegenüber dem WenkerMaterial insgesamt wohl eher überwog, sind MAURERS Aussagen zur Validität des Materials in syntaktischer Hinsicht von besonderem Interesse: Bis in die Einzelheiten […] stimmen die zwei auf so verschiedene Art entstandenen Bilder — das aus den Sprachatlasfragebogen und das aus den übrigen Maa.-Quellen gewonnene — völlig überein. Das bedeutet vor allem auch für den Sprachatlas einen Triumph […]. (MAURER 1926, 70)

Die unterschiedlichen Bewertungen von KLOEKE und RUOFF auf der einen und MAURER auf der anderen Seite können teilweise dadurch erklärt werden, dass sie sich zwar auf „Wenkersätze“ beziehen, diese aber methodisch sehr unterschiedlich

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Jürg Fleischer

zustande gekommen sind. Während sich MAURER auf das von GEORG WENKER Ende des 19. Jahrhunderts gesammelte schriftliche (also durch die „indirekte Methode“ erhobene) Fragebogen-Material stützt, beziehen sich KLOEKE und RUOFF auf direkte Erhebungen: Die Wenkersätze wurden hier von einem linguistisch ausgebildeten Explorator präsentiert und in deren Gegenwart übersetzt, wobei die Gewährspersonen wie bei so vielen dialektologischen Erhebungen als NORMs („non-mobile old rural males“; vgl. z. B. CHAMBERS / TRUDGILL 1998, 29) bzw. allenfalls als NORFs („non-mobile old rural females“) charakterisiert werden können. WENKER hatte seine Sätze jedoch für eine gänzlich andere Situation konzipiert (und an Zehntausenden von Orten auch mit scheinbar besserem Erfolg erhoben), nämlich für eine schriftliche Fragebogen-Erhebung, bei der die Volksschullehrer entweder, falls sie im entsprechenden Ort geboren waren, aufgrund ihrer eigenen Kompetenz oder mit Hilfe ihrer Schüler die Sätze übersetzten, wobei der Lehrer auch in diesem Fall als „Zwischenexplorator“ bzw. „Filter“ fungierte (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 100). Ziel war bei WENKER also gerade nicht die Sprache von NORMs und NORFs, sondern im Gegenteil die der ganz jungen (im Fall der Schulkinder) oder zumindest der noch im Arbeitsprozess stehenden Generation (im Fall der Lehrer). Die Volksschullehrer waren außerdem, anders als die Gewährspersonen, von denen KLOEKE oder RUOFF berichten, für genau die Aufgabe, die ihnen gestellt wurde, wohl ziemlich gut geeignet (wiewohl sie natürlich nicht über die Ausbildung eines Explorators in einem modernen Atlas-Projekt verfügten): Die Lebensaufgabe eines Volksschullehrers im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts war es, Dialekt sprechenden Kindern die hochdeutsche Schriftsprache zu vermitteln. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 100)

SCHMIDT / HERRGEN (2011, 100) denken in erster Linie an die lautliche Ebene (nach dem zitierten Satz wird ausgeführt: „Die Kenntnis der Relation zwischen Dialektlautung und Standardgraphie bildete den Kern ihres Berufswissens.“), doch die Vermittlungsaufgabe gilt natürlich auch für Phänomene anderer sprachlicher Ebenen. Dass eine generelle Vertrautheit mit zwei linguistischen Systemen und ein explizites, abrufbares Wissen um sprachliche Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen diesen bei „guten“ Dialektsprechern (zu deren Profil es konstitutiv gehört, möglichst „standardfern“ zu sein), in der Regel gerade nicht vorhanden sind, dürfte den Kern der Probleme ausmachen, über die KLOEKE und RUOFF berichten. Im Kontext der deutschen Volksschule des späten 19. Jahrhunderts muss die Tätigkeit des „Übersetzens“ zwischen Dialekt und Schriftsprache eine wesentliche Rolle gespielt haben. Dagegen gehört das Vermitteln zwischen Dialekt und Standard viel weniger zur Lebenswirklichkeit von NORMs und NORFs. Gerade in Bezug auf den Punkt des Übersetzens konstatiert RUOFF für seine Gewährspersonen eine deutliche Überforderung, die sich vor allem im syntaktischen Bereich äußert: Wenn dem Sprecher die Übersetzung im lautlichen oder sogar im lexikalischen Bereich noch gelingt, dann doch gewiß nicht mehr im syntaktischen oder stilistischen: da kann er es nicht

Syntax und Arealität

143

und wagt es auch nicht, weil er oft viel zu weit von der Vorlage abweichen müßte. (RUOFF 1965, 102)

Allerdings werden durchaus auch positivere Erfahrungen berichtet, als sie KLOEund RUOFF gemacht haben. Besonders interessant sind in diesem Zusammenhang die Angaben, die FRINGS (1921) in Bezug auf direkte Erhebungen der Wenkersätze bei niederländischsprachigen Kriegsgefangenen macht. Die Erhebungssituation beschreibt er folgendermaßen:

KE

Nur ausnahmsweise wurde das deutsche Original oder die niederländische Übersetzung der Wenkerschen Sätze dem Sprecher vor die Augen gelegt; selten habe ich selbst die Sätze vorgesprochen, meistens haben meine Helfer die mundartliche Formulierung herausgelockt, und dann nach kurzer Zeit schon mit grossem Geschick. Sie stellten den unbedingt nötigen seelischen Contact mit dem Sprecher her; sie beschrieben breit und mundartlich die Situation, die das jeweilige Wenkersche Sätzchen voraussetzt, liessen die Situation mundartlich erzählen und destillierten schliesslich einen Kernsatz heraus, der dem Wortlaut des deutschen oder niederländischen Originals möglichst nahe kam. So musste vor allem bei ungebildeten Sprechern verfahren werden, zumal bei den vielen Analphabeten, die nichts als ihre Mundart kennen, mit denen am schwersten Contact zu gewinnen ist, und die am ehesten geneigt sind Schriftformen aufzugreifen und einzumischen. Dialektsichern Gebildeten kann man ohne weiteres die Originale in die Hand geben. Sie sind überhaupt die besten Beobachtungs- und Untersuchungsobjecte; sie distancieren sich bewusst und gewissenhaft von der Schriftsprache, und ihre eigne geschärfte Beobachtungsgabe gibt wertvolle Auskunft über Articulationsstellen und -gewohnheiten. (FRINGS 1921, IX–X)

FRINGS bilanziert also, dass die Aufgabe des Übersetzens von ungebildeten Gewährspersonen kaum, von Gebildeten jedoch ohne Weiteres zu bewältigen ist. Wenn die Wenkersätze bei ungebildeten Gewährspersonen direkt erhoben werden sollen, bedarf es dazu besonderer Anstrengungen seitens des Explorators. Schon vor FRINGS rekrutierte in Österreich SEEMÜLLER, der „im Interesse des Zusammenhanges unserer Dialektforschungen mit den reichsdeutschen“ (SEEMÜLLER 1908, 3) bei den ersten Tonaufnahmen deutscher Dialekte neben freieren Materialien jeweils die Wenkersätze aufzeichnete, als Gewährspersonen meist Mitglieder des germanistischen Seminars, die von Kind auf die Mundart sprachen, auch während ihrer Studienjahre ihren Gebrauch sich lebendig erhalten und durch immer wiederkehrenden Aufenthalt in der Heimat aufgefrischt haben. (SEEMÜLLER 1908, 2)

SEEMÜLLERS Gewährspersonen dürften den von FRINGS (1921, X) als ideal angesehenen „[d]ialektsichern Gebildeten“ exakt entsprechen. Zum bisher Ausgeführten passt auch, dass die Wenkersätze vom 1909 nach Wiener Vorbild gegründeten Zürcher Phonogrammarchiv nach 1910 nicht mehr verwendet wurden – damit korreliert, dass man sich gerade zu diesem Zeitpunkt dazu entschloss, vermehrt Leute „aus dem Volke“ aufzuzeichnen (vgl. FLEISCHER / GADMER 2002, 48). RUOFFS (1965, 100–101) Erkenntnis, dass die Wenkersätze bzw. die damit verbundene Aufgabenstellung für „naive Sprecher“ (in einer direkten Erhebungssituation, also bei andauernder Präsenz eines Explorators) nicht geeignet seien, ist angesichts der bisher angestellten Überlegungen wenig erstaunlich. RUOFF (1965, 100) konzediert durchaus, dass sich seine Kritik nicht dagegen richte, „solche Wortketten als Basis indirekter schriftlicher Erhebungen zu verwenden“, wobei

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dann allerdings in der mäandernden Darstellung auch immer wieder der eine oder andere generelle Einwand gegen die Sätze an sich und gegen WENKERS Fragebogen-Erhebungen fällt. Bei RUOFF wird allerdings kaum darauf eingegangen, dass WENKER gerade nicht mit „naiven Sprechern“, sondern mit „gebildeten Schreibern“ arbeitete und dass er seine Erhebung auf diese soziale Gruppe ausrichtete. Als Extremfall kann hier auf die analphabetischen Gewährspersonen, über die FRINGS berichtet, verwiesen werden: Diese wären für WENKERS FragebogenErhebungen offensichtlich nicht als (alleinige) Informanten in Frage gekommen. Dass die Methode und das Informantenprofil die Qualität der erhobenen Daten unmittelbar beeinflussen können, soll an WS 3 illustriert werden, dessen Vorlage lautet: Thu Kohlen in den Ofen, daß die Milch bald an zu kochen fängt. Darin manifestiert sich eine von SCHALLERT / SCHWALM (2015) als „Binnenspaltung“ bezeichnete Konstruktion, die etwa MITZKA (1952, 69) WENKERS rheinischem Dialekt zuschreibt. Aufgrund dessen, was zu ihrer arealen Verbreitung bisher bekannt ist, dürfte sie im Oberdeutschen, mit Ausnahme einiger ostfränkischer Dialekte, in der Regel nicht auftreten (vgl. SCHALLERT / SCHWALM 2015, 95–96). RUOFFS (1965, 105) Klage darüber, dass dies in seinen direkt erhobenen Tonaufnahmen der Wenkersätze dennoch der Fall ist – „Die syntaktische Linientreue zeigt sich in der Wendung ‚a z’kocha fangt‘!“ –, ist also prinzipiell berechtigt. Dass die in WENKERS Erhebungen involvierten Volksschullehrer des späten 19. Jahrhunderts, im Gegensatz zu RUOFFS Informanten, sich bei WS 3 gerade nicht durch „syntaktische Linientreue“ auszeichnen, bleibt bei RUOFF jedoch unerwähnt.4 Die beiden folgenden Übersetzungen aus WENKERS Erhebung illustrieren für zwei der drei von RUOFF (1965, 98)5 genannten Orte, dass in den Fragebogen die Binnenspaltung gerade nicht repliziert, sondern aufgelöst wird – wobei das finite Verb einmal vor, einmal nach dem von ihm abhängigen Infinitiv steht, die Spaltung des Präfixes vom Verb aber in beiden Fällen umgangen wird: (1)

daß d’ Milch z’ koche a̰ fängt (37044 St. Roman)6

(2)

daß d’ Milch bald an fangt z’ kocha (36276 Schönmünz; übergeschriebene Ergänzungen teilweise weggelassen)







4

5 6

Darauf hinzuweisen ist deshalb nicht unlauter, weil RUOFF (1965, 103) für ein anderes Phänomen die Daten seiner Tonaufnahmen mit „12 DSA-Formularen, die zum Vergleich herangezogen werden“, abgleicht (leider nennt RUOFF nicht die Orte der von ihm herangezogenen Formulare). In Bezug auf WS 3 erwähnt RUOFF die Daten der Formulare jedoch nicht. Der dritte von RUOFF (1965, 98) genannte Ort, Romishorn, ist in WENKERS Erhebungen nicht vertreten. Die Marburger Wenker-Formulare werden im Folgenden nicht nur über den Ortsnamen, sondern mit ihrer laufenden (meist fünfstelligen) Nummer zitiert. Nur die Nummer erlaubt eine eineindeutige Referenzierung, weil derselbe Ortsname mehrfach vorkommen kann (und häufig verschiedene Schreibungen oder Umbenennungen die Lage verkomplizieren). Im Gegenzug kann durch die laufende Nummer auf das Anführen alternativer Namen oder Schreibungen verzichtet werden.

Syntax und Arealität

145

Die in diesen beiden Formularen auftretenden Strukturen dürften für die Mehrheit der oberdeutschen Wenkerbogen repräsentativ sein. WENKERS Fragebogen-Daten aus dem 19. Jahrhundert sind RUOFFS Tonaufnahmen der Wenkersätze aus dem 20. Jahrhundert also qualitativ überlegen: Sie spiegeln die dialektalen Verhältnisse offensichtlich adäquater wider. Die Wenkersätze waren für eine schriftliche Fragebogen-Erhebung konzipiert worden, bei der eine homogene, nach den Standards des 19. Jahrhunderts gut gebildete soziale Gruppe, deren Beruf es war, Schulkindern mit überwiegend dialektalem Hintergrund Kenntnisse im Lesen und Schreiben des Hochdeutschen zu vermitteln, eine entscheidende Rolle als Informanten und/oder „Zwischenexploratoren“ spielte. Dass in anderen Erhebungssituationen und bei anderen sozialen Gruppen mit den Wenkersätzen schlechte Erfahrungen gemacht wurden, darf nicht unbesehen auf WENKERS originale Erhebungen übertragen werden. Dies gilt auch für die (fehlende) Plausibilität, die bei manchem Wenkersatz tatsächlich ins Auge sticht und die RUOFF (1965, 100) lebhaft und nicht ohne Sinn für Humor vor Augen führt.7 Auch hier führt die Berücksichtigung des originalen Erhebungskontexts zu einer etwas anderen Perspektivierung. WENKER (1881, VIII = 2013, 918) meint, dass „sogar jeder Schüler“ die Sätze übersetzen könne. WREDE (1926, 7) spricht noch etwas konkreter davon, dass es sich um „leichte und in jeder Dorfschule verständliche Fibelsätzchen“ handle. Ein Vergleich der Wenkersätze mit Unterrichtsmaterialien der deutschen Volksschulen des späten 19. Jahrhunderts steht zwar noch aus, doch dürfte die Annahme nicht unplausibel sein, dass im elementaren Schulunterricht des 19. Jahrhunderts immer wieder auch Sätze auftreten konnten, deren Sinn und Zweck nicht primär in der Übermittlung eines Inhalts, sondern im banalen Einüben des Lesens und Schreibens lag. Die Volksschullehrer und ihre Schulkinder waren in ihrem Alltag mit „sinnlosen“ Sätzen vielleicht wesentlich häufiger konfrontiert, als man sich dies heute vorstellt. Sie hatten damit offensichtlich auch weniger Probleme als die älteren „naiven Sprecher“, auf die sich RUOFF bezieht. 4 SYNTAKTISCHE AUSWERTUNGEN: METHODE Wiewohl manche Kritik an den Wenkersätzen in Anbetracht der Erhebungssituation, für die sie ursprünglich vorgesehen waren, überzogen ist, dürfen die von den Gewährspersonen produzierten schriftlichen Übersetzungen, auf die sich meine Auswertungen beziehen, natürlich auch nicht kritiklos als getreues Abbild für „den“ entsprechenden Ortsdialekt angesehen werden. Bei den schriftlich festge

7

„Es erfordert Mühe, sich reale Gesprächssituationen vorzustellen, in denen der Satz 20 vorkommen könnte, und eine so gesuchte Satzfügung wie im Satz 9 ist aus dem Munde eines naiven Sprechers niemals zu erwarten. Ganz unverständlich und zudem rechtlich unmöglich ist zudem Satz 33: „Sein Bruder will sich in eurem Garten …“! Mag der Reiter auf dem Bodensee noch literarisch erfühlt werden (Satz 4), so stellen sich dem Bauern doch Bedenken ein, wenn er sein Kind vor dem Todesbiss der Gänse warnen soll (Satz 14).“ (RUOFF 1965, 100; Unterstreichungen im Original).

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haltenen Wenkersätzen, die die Grundlage für den „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ und den „Deutschen Sprachatlas“ bilden, handelt es sich um Ergebnisse von Übersetzungsaufgaben. Der Schlüssel für eine adäquate Beurteilung dieser Daten liegt bei syntaktischen Phänomenen darin, dass die mögliche Abhängigkeit von der Vorlage integrierter Bestandteil der Analyse sein muss. In Bezug auf das Beurteilen von Abhängigkeiten bei Übersetzungen existiert eine Jahrhunderte alte Expertise in Gestalt der Textkritik, über die gerade die deutsche Philologie des 19. Jahrhunderts in ausgeprägtem Maß verfügte. Die vor allem in den Schriften WREDES8 immer wieder auftretenden Hinweise auf die notwendige „philologische“ Behandlung der Fragebogen und der Vergleich mit mittelalterlichen Handschriften geben einen methodisch wichtigen Hinweis. Zitiert sei hier nur eine besonders prominente Stelle aus WREDES Text zur ersten DSA-Lieferung: Die SA-Formulare und die aus ihnen gewonnenen Karten dürfen eben nicht als phonetische Aufzeichnungen angesehen, sie wollen lediglich philologisch erfasst werden genau wie die alten Codices früherer Jahrhunderte. (WREDE 1926, 9)

Die richtige Beobachtung, dass sich in den Übersetzungen der Wenkersätze „Echo-Formen“ (so u. a. RUOFF 1965, 102) finden können, muss unbedingt ernst genommen werden. Im Rahmen einer philologisch orientierten Herangehensweise können jedoch die daraus erwachsenden Schwierigkeiten überwunden werden. Eine hohe Zeugniskraft kommt primär nur Belegen zu, bei denen gegenüber der Vorlage Abweichungen auftreten (wie dies beim oben diskutierten Beispiel zu WS 3 im Fragebogenmaterial, nicht aber in RUOFFS Tonaufnahmen, der Fall ist). Wenn eine dialektale Version eines Wenkersatzes in Bezug auf ein bestimmtes syntaktisches Merkmal der Vorlage entspricht, kann zunächst einmal nicht entschieden werden, ob sich dies so verhält, weil die entsprechende Konstruktion im entsprechenden Dialekt tatsächlich in dieser Art und Weise verankert ist oder weil die Struktur der Vorlage unreflektiert übernommen wurde. Bei Abweichungen besteht dieses Problem dagegen nicht. In der Textphilologie ist dieses Verfahren der „lectio difficilior“ etabliert und etwa aus einer methodenbewussten historischen Syntax-Forschung, soweit sie sich mit nicht-originalen Texten befasst, nicht wegzudenken (beispielsweise bei der gotischen Bibel oder beim althochdeutschen Tatian, die beide starke Abhängigkeiten von ihren jeweiligen nicht-germanischen Vorlagen aufweisen). Wie bei Belegen aus dem althochdeutschen Tatian „Differenzbelege“, die Abweichungen vom lateinischen Text zeigen, besonders bedeutsam sind (vgl. FLEISCHER / SCHALLERT 2011, 44), ist es sinnvoll, die Wenker-Daten bei syntaktischen Auswertungen daraufhin zu befragen, ob sie mit der Vorlage übereinstimmen oder davon abweichen. Primär werden Abweichungen von der Vorlage interpretiert,

8

Bereits WENKER (1881, IX = 2013, 919) stellt für seine Materialien einen Vergleich mit der Untersuchung einer alten Handschrift her, doch finden sich später vor allem bei WREDE immer wieder entsprechende Überlegungen.

Syntax und Arealität

147

weil es sich dabei um eindeutige, positive Evidenz handelt.9 Kartierungstechnisch ergibt sich aus der primären Interpretation der Abweichungen die Konsequenz, dass Entsprechungen zur Vorlage am besten mit möglichst unauffälligen Farben und Symbolen wiedergegeben werden, wogegen auffälligere Kodierungen Abweichungen von der Vorlage vorbehalten bleiben. 5 DIE WENKERSÄTZE ALS (MEHRSPRACHIGES) PARALLELKORPUS Aus korpustheoretischer Sicht bilden die verschiedenen Übersetzungen der Wenkersätze ein „Parallelkorpus“: Das gleiche sprachliche Material, eben GEORG WENKERS 40 Sätze, liegt in über 50.000 unterschiedlichen Versionen vor. Sowohl in der Sprachtypologie (vgl. z. B. CYSOUW / WÄLCHLI 2007) als auch in der historisch orientierten Syntax-Forschung (vgl. z. B. FLEISCHER 2013) sind Paralleltexte in jüngerer Zeit als interessante Datenquelle (wieder-)entdeckt worden, die es erlaubt, typologische oder historische Unterschiede besonders gut zu fassen: Da der „Text“ (beispielsweise Bibel-Übersetzungen) identisch ist, erscheinen Unterschiede im Vergleich verschiedener Versionen besonders scharf konturiert. Diese Erkenntnis wird auch in syntaktischen Auswertungen der Wenker-Daten nutzbar gemacht: Wenn sich zwischen verschiedenen Wenker-Formularen bei identischer Erhebungssituation Unterschiede ergeben, müssen diese in irgendeiner Art und Weise die sprachlichen Strukturen der dokumentierten Varietäten reflektieren. Sie können – aufgrund der identischen Erhebungssituation – nicht anders erklärt werden. Gerade mit Blick auf sprachtypologische Arbeiten, die Paralleltexte zur Untersuchung sprachlicher Diversität nutzen, ist es bedeutsam, dass ein lange Zeit von der germanistischen Forschung vernachlässigter Aspekt der Wenker-Materialien ihre Mehrsprachigkeit ist. WENKERS „Sprachatlas des Deutschen Reichs“ ist, wie der Name sagt, durch administrative Grenzen definiert. Die im Deutschen Reich zu findenden Sprachminderheiten hat WENKER schon in der Anlage seiner Erhebungen berücksichtigt und sie nehmen auf den Karten und in WENKERS Kommentaren vielfach einen breiten Raum ein. Die nach WENKER durchgeführten „Nacherhebungen“, die dann vor allem von WREDE im Hinblick auf den „Deutschen Sprachatlas“ initiiert wurden, berücksichtigen in ihrer Anlage andere Sprachen meist nicht explizit, dennoch sind auch hier, neben den beiden Erhebungen, die speziell auf das Niederländische ausgerichtet waren (vgl. Abschnitt 6), über das Deutsche bzw. Niederländische hinaus Daten aus weiteren Sprachen erhoben worden. Für areallinguistische Untersuchungen, die nicht an Grenzen einer Sprache Halt machen wollen, bieten die Wenker-Materialien damit eine interessante,

9

Aus diesem Grund empfiehlt es sich auch, bei den (insgesamt nicht sehr zahlreichen, aber existierenden) Fällen, in denen eine Gewährsperson neben der der Vorlage entsprechenden auch eine davon abweichende Variante notiert, die abweichende Variante stärker zu gewichten (vgl. Fußnote 15 für ein entsprechendes Beispiel).

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bisher kaum genutzte Datengrundlage. Es liegt deshalb nahe, bei Neuauswertungen den Mehrsprachigkeits-Charakter der Daten einzubeziehen. 6 SAMPLE Nach Abschluss seiner Erhebungen im Deutschen Reich lagen WENKER 48.505 Formulare vor, von denen 46.011 „verarbeitet“ und 2.494 als „unbrauchbar“ angesehen wurden (vgl. WENKER [1889] 2013, 2). Später wurden, meist auf Anregung WREDES im Hinblick auf die DSA-Publikation, die möglichst umfassend über die deutschen bzw. kontinentalwestgermanischen Mundarten informieren sollte, in weiteren Gebieten „Nacherhebungen“ der Wenkersätze durchgeführt (unter anderem in den deutschsprachigen Gebieten der Tschechoslowakei, in Österreich, in der deutschsprachigen Schweiz und in Südtirol). Nach Abschluss auch dieser Erhebungen beziffert der DSA (1) die Anzahl an „Antworten“ auf 51.480, von denen 49.363 auf „deutschsprachige Orte“ entfallen (vgl. auch MITZKA 1952, 12). In dieser Zahl nicht eingeschlossen sind die Erhebungen von GROOTAERS in Belgien (vgl. GROOTAERS 1923), die bis in die Mitte der 1930er Jahre Übersetzungen aus 381 Orten erbracht hatten (vgl. GROOTAERS 1935, 62, Fußnote 5), und von MEERTENS in den Niederlanden (vgl. MEERTENS 1936), aus denen 2.305 Formulare hervorgingen (vgl. DAAN / MEERTENS 1963, XXVIII). Formulare aus Belgien und den Niederlanden gelangten – im Gegensatz zu denen der „Nacherhebungen“, über die der DSA (1) Rechenschaft ablegt – nie in größerem Umfang nach Marburg, obwohl ein Austausch ursprünglich zumindest von Marburger Seite aus intendiert war.10 Wenn die Zahlen der drei hier genannten Sammlungen addiert werden (was methodisch allerdings problematisch ist),11 ergibt sich die Summe von (mindestens; vgl. Fußnote 11) 54.166 Formularen. Die Anzahl an vorhandenen Wenker-Formularen ist immens. Eine Gesamtauswertung aller weit über 50.000 Formulare ist arbeitspraktisch zur Zeit, da zu den allermeisten Formularen (noch?) keine maschinenlesbaren Transliterationen12

10

11

12

Allerdings existieren in Marburg einige Abschriften von Übersetzungen, die auf die Erhebung von GROOTAERS zurückgehen (Formulare 55002–55046). Da im DSA (1) explizit von „Orten“ die Rede ist, scheinen „Doubletten“, d. h. Formulare, die den gleichen Ort mehrfach abdecken, in diesen Zahlen nicht berücksichtigt zu sein. In WENKERS ([1889] 2013, 2) 46.011 Formularen, die die „Summe der verarbeiteten Übersetzungen“ ausmachen, sind dagegen 3.515 Doubletten enthalten. Auch GROOTAERS (1935, 62, Fußnote 5) weist „ingevulde plaatsen“ nach; es scheint also, dass für den gleichen Ort existierende, jedoch auf unterschiedliche Personen zurückgehende Übersetzungen, wie sie in seiner Sammlung durchaus zu finden sind, in dieser Zahl nicht berücksichtigt sind und die Anzahl an Formularen höher ist. Dagegen nennen DAAN / MEERTENS (1963, XXVIII) „[h]et aantal ingevulde dialectlijsten“, diese Zahl sollte also auch Doubletten umfassen. Die im Text genannte Zahl 54.166 könnte also (für bestimmte Gebiete) nur die Anzahl erfasster Orte bezeichnen, die tatsächliche Anzahl an vorhandenen Formularen (die teilweise die gleichen Orte abdecken) dürfte dagegen noch höher sein. Die Amsterdamer Formulare werden zur Zeit unter der Leitung von NICOLINE VAN DER SIJS transliteriert. Es ist geplant, dass nach Abschluss dieser Arbeiten die Transliterationen und

Syntax und Arealität

149

existieren, nicht zu leisten. Darum wird im Folgenden mit einem Sample gearbeitet, das sich auf im Rahmen von Fragebogen-Erhebungen entstandene Versionen der Wenkersätze bezieht und dessen Eigenschaften hier kurz besprochen werden. Bei der Erstellung des Samples wurde folgendermaßen vorgegangen: – Das gesamte Gebiet wurde mit einem Quadrantennetz überdeckt, wobei die Seitenlänge des einzelnen Quadranten jeweils 18 km beträgt (jeder Quadrant deckt also ein Gebiet von 324 km2 ab). – Aus jedem Quadranten, für den schriftliche Übersetzungen der Wenkersätze existieren, wurde ein Bogen ins Sample genommen, und zwar im Prinzip derjenige, der am nächsten beim Zentrum des Quadranten liegt. Das verwendete Sample ist anhand ähnlicher Kriterien erstellt worden wie dasjenige, das in FLEISCHER (2015) verwendet wurde, und ist mit diesem zu einem großen Teil ko-extensiv. Allerdings wurde gegenüber diesem Sample eine Erweiterung (von etwas mehr als 2.300 auf fast 2.500 Ortspunkte) vorgenommen, was zu einem großen Teil auf die zusätzliche Erfassung der Materialien aus Belgien und den Niederlanden zurückgeht. Außerdem wurden gegenüber dem in FLEISCHER (2015) beschriebenen Sample gewisse Formulare aufgrund bestimmter Kriterien ersetzt. Abbildung FLEISCHER-1 im Farbabbildungsteil zeigt die geographische Verteilung der Belegorte und weist deren sprachliche Zugehörigkeit nach. Durch die Sampling-Prozedur werden weniger dicht besiedelte Gebiete generell besser repräsentiert, da die reine Fläche zum Ausgangspunkt genommen wird. Ein Quadrant in einem wenig besiedelten Gebiet, der nur ein einziges Formular enthält (etwa bei alpinen Regionen oder Inseln), wird im Sample genau gleich repräsentiert wie ein Quadrant aus einem urbanen Ballungsgebiet, für den Dutzende von Formularen vorhanden sind, nämlich durch jeweils ein Formular. Auf diese Weise werden periphere Gebiete besonders gut erfasst. Dies zeigt sich gerade auch in Bezug auf die im Sample vertretenen Sprachen: Das Sample umfasst 2.498 Orte, die sich auf insgesamt dreizehn Sprachen verteilen, wobei die überwiegende Mehrheit der Orte auf das Deutsche entfällt (2.128 Orte = 85,2 %), gefolgt vom Niederländischen (155 = 6,2 %) und Polnischen (133 = 5,3 %). Von den überhaupt in den Wenker-Materialien vorhandenen Sprachen sind nur zwei im Sample gar nicht repräsentiert, nämlich Lettisch, für das nur ein einziger Bogen existiert (30084 Nidden), und Ungarisch, zu dem zwei Versionen vorhanden sind (Formulare 42737 Oberpullendorf und 43695 Unterwart). Angesichts der Tatsache, dass das Sample weniger als 5 % des Gesamtmaterials umfasst (wenn die oben angeführte Summe von 54.166 zur Berechnung

Abbildungen der Formulare elektronisch veröffentlicht werden. In Zürich sind unter der Leitung von ELVIRA GLASER bisher ca. 600 Fragebogen aus der deutschsprachigen Schweiz transliteriert worden. In Marburg entstanden und entstehen, nicht nur im Rahmen der hier vorgestellten syntaktischen Auswertungen, ebenfalls Transliterationen. Derzeit werden erste Überlegungen zu einer möglichen elektronischen Publikation dieser Materialien im Rahmen der REDE-Plattform angestellt.

150

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herangezogen wird, entsprechen 2.498 Formulare 4,6 % der Gesamtmenge), ist dies bemerkenswert. Durch die Sampling-Prozedur werden die in der Grundgesamtheit quantitativ weniger gut vertretenen Sprachen in manchen Fällen sogar bevorzugt. Beispielsweise sind mit 5 von 81 immerhin 6,0 % aller sorbischen Formulare und mit 7 von 84 sogar 8,3 % aller kaschubischen Formulare im Sample repräsentiert, was in beiden Fällen über dem Durchschnittswert von 4,6 % liegt.13 Diese „privilegierte“ Stellung der Minderheitensprachen ergibt sich aus der Tatsache, dass im Sample periphere und weniger dicht besiedelte Gebiete generell besser vertreten sind: Viele Minderheitensprachen sind gerade in solchen Gebieten beheimatet. Die gute Repräsentation peripherer Gebiete und möglichst vieler Sprachen im Sample ist erwünscht: Gerade an Rändern von Sprachräumen ist in verstärktem Maß mit Übergängen und Kontakterscheinungen zu rechnen. Für Untersuchungen zur Arealität und zu möglichen Effekten von Sprachkontakt ist diese Eigenschaft des Samples günstig. Dennoch ist im Sample das (Kontinentalwest-)Germanische klar dominant: Fast gesamthaft erfasst sind neben dem Deutschen das Niederländische und das Friesische (das auch in der Grundgesamtheit kaum vertretene Jiddische ist dagegen weniger gut repräsentiert) sowie, mit den dänischsprachigen Belegorten, die südlichsten Ausläufer des Nordgermanischen. 7 BEISPIEL-ANALYSEN Im Folgenden sollen anhand des in Abschnitt 6 vorgestellten Samples zwei Auswertungen, die sich auf das gesamte von den Wenker-Daten erfasste Gebiet beziehen, vorgestellt und die verwendete Kartierungstechnik illustriert werden. Dabei werden zwei Phänomene herangezogen, die unterschiedliche Resultate hervorbringen. Zur leichteren Orientierung werden in den Karten nicht-germanische Ortspunkte durch ein kleines schwarzes Dreieck im Symbol gekennzeichnet, nichtdeutsche bzw. nicht-niederländische germanische Ortspunkte durch einen entsprechenden schwarzen Kreis. Bei den Typisierungen werden gewisse generelle Zuordnungen über die verschiedenen Einzelanalysen hinweg in gleicher Weise vorgenommen: Weiße Symbole stehen für Orte, in denen die Interpretation unklar ist (Fünfeck), keine Zielkonstruktion gewählt wurde (Sechseck) oder keine Daten vorliegen (Kreis).



13

Bei den Zahlen zum Sorbischen und Kaschubischen beziehe ich mich auf STONE (2003) bzw. POPOWSKA-TABORSKA / RZETELSKA-FELESZKO (2009). Die dort angegebenen Zahlen unterscheiden sich im Fall des Sorbischen leicht von denen WENKERS ([1889] 2013, 2), der 79 „wendische“ Formulare verzeichnet. Dagegen zählt WENKER Kaschubisch zum Polnischen und führt darum keine spezifisch auf das Kaschubische bezogenen Zahlen an.

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7.1 Prospektiver Infinitivanschluss: die Entsprechungen von um (… zu) (WS 16) In der deutschen Vorlage von WS 16 tritt ein durch um eingeleiteter prospektiver Infinitivanschluss auf, in dem ein direktes Objekt vom Infinitiv abhängt und unmittelbar vor dem Infinitiv die Partikel zu steht: Du bist noch nicht groß genug, um eine Flasche Wein auszutrinken […]. In den niederländischen Vorlagen von GROOTAERS und MEERTENS finden sich strukturell identische Konstruktionen: om een flesch wijn uit te drinken bzw. om een flesch wijn leeg te drinken. Dass diese Infinitiv-Konstruktion im Wenker-Material areal unterschiedliche Realisierungen hervorgerufen hat, wurde bereits mehrfach festgestellt. Als Erster scheint CARROLL E. REED die Marburger Wenker-Daten diesbezüglich analysiert zu haben, wenn er „the files of the German Sprachatlas at the University of Marburg“ (REED 1958, 99, Fußnote 1) zitiert. Allerdings scheint (über die knappen Angaben in REED 1958 hinaus) keine entsprechende Arbeit publiziert worden zu sein. In Bezug auf die Wenker-Daten aus der deutschsprachigen Schweiz hat KAKHRO (2005; 2006) zu diesem Phänomen Auswertungen vorgelegt. Auf ein sehr kleines Gebiet bezieht sich DEMSKE (2011, 40–42). SCHALLERT (2013b, 105–106) gibt einige Informationen zu den auftretenden dialektalen Konstruktionen, die auf einer älteren Auswertung (und einem noch nicht erweiterten Sample) von mir beruhen. Typen

Beispiele

um

omm enn Flasch Wein aus ze tränke (25824 Stromberg; Deutsch) om n fles wien leeg te drinkn (C165p Bellingwolde; Niederländisch)

zu

za a Flåschn Wei ausztrinkn (43427 Oberweißburg; Deutsch)

zu + neutr. Art.

zan a Flaschn Wei austringa (43850 Klostermarienberg; Deutsch)

zu + fem. Art.

zuara Flasch’ Wai ausz’drenka (38482 Kleinvillars; Deutsch)

zu + at

te aa drik en Flask Wiin (46958 Neder Jerstal; Dänisch)

at für

Ø

a drik en Bottel Wiin uer (46905 Westre; Dänisch) fürr eing’ Fläsch Weng auszudronken (10335 Espeler; Deutsch) veu ’n flĕs woaen oaet te drinke (K332p Onze Lieve Vrouw Waver; Niederländisch) po boër eune boteille de vin (30361 Orny; Französisch) Ø ä Flasch Wei auszetrinken (13054 Rittersgrün; Deutsch) Ø wiena Butelke Wyna iszgerti (30068 Kinten; Litauisch) Ø jadnu Flaschu Wina hupisch (56471 Merzdorf; Sorbisch) Ø butelkię wina wypić (53656 Bartosze; Polnisch)

Konj. + Inf.

aby butelkę wina wypić (53710 Boleszyn; Polnisch)

Konj. + fin. Verb

daß a Flaschn Wei austrinka kunst (39398 Gauting; Deutsch) abys butelkie wina wypił (57298 Zastruzne; Polnisch)

Tab. 1: Prospektiver Infinitivanschluss (WS 16): Typen

152

Jürg Fleischer

In der Typisierung der Belege wird ausschließlich die Einleitung der Konstruktion reflektiert, unabhängig davon, ob vor dem eigentlichen Infinitiv eine InfinitivPartikel auftritt oder nicht (eine Berücksichtigung auch dieses Faktors würde zu einer großen Typenvielfalt führen, die kartographisch schwer darstellbar wäre). Dabei wird zwischen Typen differenziert, die sich auf zwei Gruppen von Konstruktionen verteilen: Infinitiv-Konstruktionen, die durch ein auf eine Präposition zurückgehendes Element eingeleitet sind oder keine overte Einleitung aufweisen, und Konstruktionen, die durch Konjunktionen (die nicht auf eine Präposition zurückgehen) eröffnet werden. Zu der ersten Gruppe gehören die Einleitungen um, zu (bei welchem auch klitische Artikel in unterschiedlichen Genera sowie die Kombination mit at auftreten), das nordgermanische at, für und nicht eingeleitete Konstruktionen (im Überblick durch ‚Ø‘ symbolisiert). Bei der zweiten („konjunktionalen“) Gruppe wird unterschieden, ob die Konjunktionen mit einem Infinitiv oder mit finiten Verben auftreten. Im zweiten Fall liegt eine Wiedergabe der Infinitiv-Konstruktion durch einen finiten Nebensatz vor. Der Überblick in Tabelle 1 illustriert diese Typen für mehrere der in den Daten belegten Sprachen. Die areale Verbreitung dieser Typen wird in Abbildung FLEISCHER-2 im Farbabbildungsteil illustriert. Während der durch graue Kreise symbolisierte umTyp keine besonders charakteristische areale Verbreitung aufweist, zeigt zu (inklusive der Varianten mit klitischem neutralem bzw. femininem Artikel; dafür werden auf der Karte verschiedene rote Symbole verwendet) ein gewisses Schwergewicht im östlichen Alemannischen, Schwäbischen und westlichen Bairischen, wobei sich allerdings Streubelege auch in weit davon entfernten Gebieten finden. Die alleinige Einleitung durch die nordgermanische Präposition at ist nur in einem einzigen südlichen dänischen Ortspunkt belegt (durch einen gelben Kreis symbolisiert), die Kombination mit zu (bzw. der kognaten Form te; durch einen orangen Kreis wiedergegeben) ist typisch für die dänischen Orte des Samples. Der blau kartierte für-Typ findet sich vor allem im westlichen Alemannischen, Moselfränkischen (u. a. besonders konsistent in Luxemburg) und in den südöstlichen niederländischen Dialekten, darüber hinaus auch in den französischen Orten des Samples. Die mit grünen Kreisen wiedergegebenen nicht eingeleiteten Infinitivkonstruktionen zeigen, abgesehen von ihrem vollständigen Fehlen im Niederländischen, keine charakteristische areale Verbreitung, allerdings treten sie in Südtirol besonders häufig auf. Die durch eine Konjunktion, die nicht auf eine Präposition zurückgeht, eingeleiteten Infinitive (hellbraune Symbole) erweisen sich als selten: Sie sind auf polnische Orte (vor allem im Gebiet des Großpolnischen und Schlesischen, weniger im Masurischen, wo sie nur in einigen westlichen Orten belegt sind) beschränkt. Sehr charakteristisch ist dagegen die durch dunkelbraune Kreise symbolisierte Konstruktion, bei der eine Konjunktion einen eindeutigen Nebensatz mit finitem Verb einleitet: Abgesehen von auch in anderen Gebieten auftretenden vereinzelten Belegen (etwa im Alemannischen, aber auch im Nordniederdeutschen) erweist sich diese Variante als besonders charakteristisch für das östliche Bairisch und für die slavischen Orte des Samples.

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Die Ergebnisse entsprechen in vielen Fällen bekannten Befunden: Zunächst kann in diachroner Hinsicht darauf hingewiesen werden, dass der um-Typ zuerst im niederländischen und niederdeutschen Gebiet belegt ist, erst später im hochdeutschen (vgl. z. B. REED 1958, 102). Dazu passt, dass die historisch ältere Konstruktion, der nicht eingeleitete Infinitiv, in den deutschen Dialekten noch residual (und mit wenig charakteristischer Verbreitung) auftritt, nicht jedoch im Niederländischen.14 Was den für-Typ betrifft, so korreliert die aus der Auswertung von WS 16 hervorgehende areale Verbreitung mit den jüngeren SADS-Materialien aus der deutschen Schweiz (vgl. SEILER 2005, 321–323). Für das Elsass fehlt zwar eine sprachgeographische Darstellung, doch wird die Konstruktion in der grammatischen Literatur erwähnt (vgl. z. B. HENRY 1900, 109; MULLER 1983, 45; JENNY / RICHERT 1984, 35). Das gilt auch für das Moselfränkische (vgl. z. B. LABOUVIE 1938, 162–163; GROSS 1990, 201; BRUCH 1973, 103). Für das niederländische Sprachgebiet zeigen Auswertungen zu Aufgaben der „Reeks Nederlandse Dialectatlassen“ (RND) sehr ähnliche areale Verbreitungen (vgl. RYCKEBOER 1983, besonders 84, mit zwei Karten). Insbesondere zeigt sich bei den RND- wie bei den Wenker-Daten, dass der voor-Typ in erster Linie in den südöstlichen niederländischen Dialekten auftritt, jedoch wesentlich weniger im Südwesten, wo stattdessen der om-Typ verbreitet ist (vgl. RYCKEBOER 1983, 84). Auch nach SAND (1, Karte 18a) erscheint der voor-Typ vor allem im Süden, allerdings ergibt sich dort eine etwas weitere Verbreitung auch im Südwesten (mit Ausnahme nur ganz weniger Belegorte im äußersten Westen, die nur den om-Typ zeigen; in der Mehrzahl der südlichen Belegorte sind dagegen beide Konstruktionen nebeneinander belegt). Der Unterschied zwischen den RND- und Wenker-Daten einerseits und den SAND-Daten andererseits geht wahrscheinlich nicht auf eine tatsächliche Ausbreitung der voor-Konstruktion zurück, sondern dürfte methodisch bedingt sein: Bei SAND wurde den Gewährspersonen der Satz Heb je genoeg mensen om hooi van het land te halen? zur Übersetzung vorgelegt, „waarbij expliciet is doorgevraagd naar alternatieven voor het voegwoord om“ (SAND 1, 14). Anders als bei den Wenker-Daten wurde also die voor-Konstruktion auch suggeriert, wodurch sich die scheinbar weitere areale Verbreitung ergibt (vgl. 7.3). Der (zum für-Typ oft areal komplementäre) zu-Typ ist für das Gebiet der (östlichen) deutschsprachigen Schweiz in den SADS-Materialien in ähnlicher arealer Verteilung zu finden wie in den Wenker-Materialien (vgl. SEILER 2005, 322–323) und wird auch für bestimmte bairische Dialekte beschrieben (vgl. z. B. WEISS 1998, 236–237). Dies stimmt mit den Wenker-Daten überein. Für die Auflösung der Infinitivkonstruktion in einen finiten Nebensatz, die vor allem im Bairischen auftritt, kann ebenfalls auf bereits bestehende Beobachtungen verwiesen werden. Immer wieder wird gerade das Bairische als besonders

14

Hier muss allerdings auch in Betracht gezogen werden, dass die niederländischen Daten ca. zwei Generationen jünger sind als die östlich angrenzenden deutschen. Dennoch passt der areale Befund zur generellen Beobachtung, dass das niederländische om … te umfassender verwendet wird als das deutsche um … zu (vgl. z. B. REED 1958, 99, Fußnote 1).

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„infinitivfeindlich“ charakterisiert (vgl. z. B. SCHALLERT 2013b, 105 und die dort zitierte Literatur). Das Resultat dieser Auswertung ist also, um MAURER (1926, 70) zu paraphrasieren, ein erneuter „Triumph für den Sprachatlas“. Es bestätigt und ergänzt bestimmte in der Literatur vorzufindende Beobachtungen, erlaubt nun aber umfassende Aussagen zu einem wesentlich größeren Raum. Allerdings muss hervorgehoben werden, dass sich die getroffenen Aussagen ausschließlich auf den sprachlichen Kontext von WS 16 beziehen und darüber hinaus nicht unbesehen verallgemeinert werden dürfen. Dies ist etwa für die für-Konstruktion wichtig: Wie sich aus den SADS-Daten ergibt, tritt die für-Konstruktion viel häufiger auf, wenn ein direktes Objekt vom Infinitiv abhängig ist; ist dies nicht der Fall, sind die zu-Konstruktionen häufiger (vgl. SEILER 2005, 325–326). Der sprachliche Kontext von WS 16 ist also „besonders günstig“ für das Auftreten der fürKonstruktion. Trotz des insgesamt guten Ergebnisses und der relativ klaren arealen Bilder, die sich bei manchen Typen ergeben, sind am einen oder anderen Datenpunkt durchaus Zweifel angebracht. Dass sein Material Fehler enthalten kann, konzediert bereits WENKER ([1889] 2013, 19), der in erster Linie lautliche Phänomene vor Augen hat. Ein mögliches Beispiel zeigen etwa in der deutschen Schweiz manche Punkte, an denen die um-Konstruktion auftritt. Diese wird in den Dialektgrammatiken in der Regel als unüblich zurückgewiesen (was meiner eigenen Intuition durchaus, meinen eigenen Beobachtungen allerdings nicht zu hundert Prozent entspricht), vgl. etwa WEBER (1964, 302). In diesem Fall kann anhand der Wenker-Materialien nicht entschieden werden, ob hier jeweils die Struktur der Vorlage (gegen den üblichen Gebrauch) repliziert wird oder ob die Struktur tatsächlich dialektal verankert ist. Hier stoßen die Wenker-Daten, wie oben diskutiert, an ihre Grenzen. Bedeutsam scheint allerdings, dass gerade dieser in der Deutschschweiz wohl nicht wirklich dialektal verwurzelte Typus keine erkennbare areale Struktur zeigt, was sich bei für und zum im gleichen Gebiet ganz anders verhält. Auch in Bezug auf diese Struktur kann übrigens darauf verwiesen werden, dass sich im SADS (bei einer Übersetzungsfrage) der gleiche Befund ergibt (vgl. SEILER 2005, 329–330, mit Karte 8). Die sich aus der Auswertung ergebenden arealen Verteilungen erlauben interessante Aussagen zur Arealität über Sprachgrenzen hinweg. So spricht die areale Verbreitung des für-Typs in den westgermanischen Dialekten des Samples dafür, dass es sich hierbei, wie etwa bereits von REED (1958, 103), RYCKEBOER (1983, 86, 88) und GLASER (2008, 100) angenommen, um ein Kontaktphänomen handelt: Die entsprechenden Belege finden sich immer in arealer Nähe zum französischen Sprachgebiet. Dabei ist es ein Plus des Wenker-Materials, dass die französischen Datenpunkte bei Malmedy, in Lothringen und im Elsass genau die den angrenzenden deutschen Dialekten entsprechende Struktur zeigen. Damit wird das sich über die Sprachgrenze hinaus erstreckende Areal auf der Karte teilweise auch unmittelbar fassbar. Außerdem zeigt sich, dass die bairische Vermeidung infiniter Strukturen areal nicht isoliert ist: Dieses Merkmal lässt sich ebenso in den slavischen Orten des Samples feststellen. Ein immenser methodischer Vorteil der

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Wenker-Daten ist dabei, dass die „Infinitivfeindlichkeit“ – im Gegensatz zu nur auf das Bairische bezogenen, nicht selten eher impressionistischen Beschreibungen – genau eingegrenzt werden kann: Im Vergleich etwa zu den westlich anschließenden alemannischen Dialekten neigt das Bairische wesentlich weniger dazu, infinite Strukturen zu verwenden. Die „Infinitivfeindlichkeit“ des Bairischen zeigt sich im Kontrast zu den „infinitivfreundlichen“ Gebieten, bei denen die Erhebungssituation und der sprachliche Stimulus ja identisch waren, besonders klar. 7.2 Negatives Indefinitum: die Entsprechungen von nichts (WS 39) In WS 39 tritt das negative Indefinitum nichts auf: Geh nur, der braune Hund thut Dir nichts. Die von GROOTAERS bzw. MEERTENS verwendeten niederländischen Versionen entsprechen der deutschen strukturell: de bruine hond doet u/je niets. Bereits in seinem Originalkommentar zum Lemma nichts (WENKER [1890] 2013, 134–138), der die entsprechende Karte (WA 537) begleitet und in dem es in erster Linie um die verschiedenen lautlichen Realisierungen dieses Indefinitums geht, weist WENKER mit Bezug auf die litauischen und slavischen Daten darauf hin, dass das negative Indefinitum meist mit der Negationspartikel verbunden wird. Für andere Sprachen (etwa die germanischen Daten, aber auch für das Französische) fehlen entsprechende Hinweise. Jedoch vermerkt WENKER ([1890] 2013, 134) in Bezug auf die dänischen Orte, dass dort häufig ein positives Indefinitum (dann ergänzt durch eine Negationspartikel) auftritt. Diese Information gibt auch WREDE (1893, 208 = 1963, 42), der jedoch im Unterschied zu WENKER die nichtgermanischen Materialien nicht diskutiert. Auch die Übersicht zu nichts von LOUIS (1917, 47–56) beschränkt sich auf die deutschen Materialien und enthält keine syntaktischen Informationen. Eine Um- bzw. – in Bezug auf die nach WENKER neu hinzugekommenen Gebiete – Neukartierung bietet der DSA (Karte 73). Darin werden die nicht-germanischen Materialien nicht berücksichtigt, jedoch wird hier im Kommentar für die deutschen Mundarten auch kurz auf eine Konstruktion eingegangen, die mit einer modernen Terminologie als „Negationskongruenz“ bezeichnet werden kann: Einige doppelte Verneinungen, die als nischt ne, nischt ni, nix ne in Oberschlesien und Nordostböhmen gemeldet werden, sind auf der Karte nicht berücksichtigt. (MITZKA / MARTIN 1951, 303 = DSA 31)

Im Folgenden soll aufgezeigt werden, welche Entsprechungen des negativen Indefinitums sich in den Übersetzungen des Samples finden. Der Überblick zeigt die drei von mir grundsätzlich unterschiedenen Typen: Neben dem einfachen negativen Indefinitum, das der Vorlage entspricht, findet sich in den Materialien Negationskongruenz, d. h. das gemeinsame Auftreten des negativen Indefinitums zusammen mit der Negationspartikel (dies entspricht strukturell der „doppelten Verneinung“, die der DSA erwähnt), sowie, wie bereits WENKER und WREDE berich-

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ten, die Auflösung des negativen in ein positives Indefinitum, wobei dann zum positiven Indefinitum eine Negationspartikel hinzutritt: Typen

neg. Ind.

neg. Ind. + Neg.-Part. (Neg.-Kongr.)

pos. Ind. + Neg.-Part.

Beispiele

der braun Hund duht der nix (32053 Alsenborn; Deutsch) de bruine hond doe je niks (K012p Ouderkerk aan den IJssel; Niederländisch) le’ chie’ te ferai rin (30285 Lommerange; Fanzösisch) ten pies bronatni cie nic uciny (57321 Prawdziska; Polnisch) der braune Hund thut dir nischt nich (08972 Cantdorf; Deutsch) dien breun’n ’ont en doe ui niet (O182p Anzegem; Niederländisch) le tschin brun ne te veut ran fêre (30421 Montreux-Vieux; Französisch) ten bruni pjas tebe niz nezini (56471 Merzdorf; Sorbisch) ten bronatny pies ci nic niezrobi (57298 Zastruzne; Polnisch) rudasis Szunis taw nieko nedaro (30078 Rudienen; Litauisch) dei briue Hund […] det di ni wat (01315 Kamien; Deutsch)15 den brun Hund gör de ent naur (47006 List; Dänisch)

Tab. 2: Negatives Indefinitum (WS 39): Typen

Die areale Verteilung dieser Typen im Sample wird in Abbildung FLEISCHER-3 im Farbabbildungsteil illustriert. Dabei zeigen sich areale Bilder, die meist mit Sprachgrenzen korrelieren: Das einfache negative Indefinitum, das der Vorlage entspricht, dominiert in den westgermanischen Ortspunkten. Negationskongruenz findet sich auf der germanischen Seite in einigen ost- und westflämischen und zwei östlichen (in unmittelbarer Nachbarschaft zum sorbischen bzw. polnischen Gebiet liegenden) deutschen Ortspunkten,16 ist ansonsten aber typisch für die französischen, litauischen und slavischen Daten. Das positive Indefinitum findet sich dagegen – neben einem isolierten deutschen Ort, der im ostpommerschen Dialektverband lokalisiert ist und in dem das positive Indefinitum als Alternative angegeben wird (vgl. Fußnote 15) – nur im Dänischen, macht innerhalb der dänischen Orte aber die Mehrheit aus.

15

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In Formular 01315 Kamien steht: „Ga ma, dei briue Hund det di nuscht (oder: det di ni wat)“, das heißt, der Informant hat hier die der Vorlage entsprechende Variante wiedergegeben, daneben aber das positive Indefinitum als mögliche Variante notiert. Aufgrund des in Fußnote 9 diskutierten Prinzips wird hier die von der Vorlage abweichende Struktur gewertet und kartiert. Die areale Verbreitung dieses Typs in meinem Sample stimmt irritierenderweise nicht mit den Angaben des DSA (31) überein, wonach die „doppelte Negation“ in Nordostböhmen und Oberschlesien belegt sei: In meinem Sample finden sich die entsprechenden Belege in der Lausitz bzw. im Warthe-Gebiet. Während es nicht erstaunlich ist, dass sich in meinem weniger als 5% des Gesamtmaterials umfassenden Sample keine Belege für Nordostböhmen und Oberschlesien finden, ist es umgekehrt bedenklich, dass im eigentlich exhaustiven DSA von den beiden Gebieten, für die ich aus meinem Sample positive Belege anführen kann, nicht die Rede ist. Hier scheint der DSA fehlerhaft zu sein, was auch bei einem anderen Phänomen der Fall ist (vgl. FLEISCHER 2014, 155).

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In den Sprachen, in denen die Negationskongruenz insgesamt dominiert, treten alternative Konstruktionen nur selten auf: Unter den französischen Orten fehlt die Negationspartikel nur in einem Ort, womit diese Übersetzung strukturell der deutschen Vorlage entspricht. In den litauischen und slavischen Materialien, für die WENKER ([1890] 2013, 136) vom gelegentlichen Wegfall der Negationspartikel berichtet, ist dies in meinem Sample nur ein einziges Mal bei einem polnischen Ort im östlichen Masuren der Fall. Für die germanischen Daten gilt, dass Orte mit Negationskongruenz in arealer Nachbarschaft zum Französischen (Ost- und Westflämisch) bzw. Slavischen (die beiden deutschen Orte) liegen. Dass Negationskongruenz im Ost- und Westflämischen (bis in die jüngste Zeit hinein) verbreitet ist, kann durch andere Daten bestätigt werden (vgl. z. B. SAND 2, Karte 48b, wo für einen deklarativen Hauptsatz die Verbreitung von en … niet aufgezeigt wird). Bemerkenswert an den ost- und westflämischen Daten ist, dass hier eine präverbale Negationspartikel auftritt. Diese ist historisch älter als die postverbale Negation und war, was die Geschichte des Deutschen betrifft, im Althochdeutschen zunächst die einzige Form der Negation, ist dann aber in der weiteren Entwicklung verschwunden (vgl. z. B. FLEISCHER / SCHALLERT 2011, 230). Allerdings lassen sich letzte Reflexe noch in westmitteldeutschen Dialekten des 19. Jahrhunderts belegen (vgl. Fußnote 17). Passend zum Befund aus meiner Auswertung wird Negationskongruenz als besonders typisch für die deutschen Varietäten der Lausitz beschrieben: Nich steht auch nach verneinenden Pronomen und Adverbien […] ohne die erste Negation zu negiren […]. (BRONISCH 1862, 142; Kursivierung J. F.)

Als ein Beispiel, das ebenfalls das negative Indefinitum nichts enthält, kann der folgende Satz angeführt werden: (3)

wer’t ihr goar nischt nich antwortin? (nach BRONISCH 1862, 137)

(4)

daß koa Mensch ned kema is (WEISS 1998, 202)

Dennoch scheint das Resultat in Bezug auf die deutschen Daten auf den ersten Blick etwas enttäuschend, ist doch bekannt, dass außer den beiden Belegpunkten in meinem Sample zahlreiche weitere deutsche Dialekte Negationskongruenz kennen. Dies gilt etwa für das Bairische, wo unter anderem das negative Indefinitpronomen kein und die Negationspartikel nicht zusammen auftreten können:

Hier muss nun allerdings, wie in Abschnitt 3 diskutiert, bedacht werden, dass die Wenker-Daten nur die Negationskongruenz unter bestimmten methodischen Bedingungen bei jüngeren Informanten zeigen, außerdem in einem ganz bestimmten sprachlichen Kontext. In Varietäten mit einer freien Negationspartikel bedingt WS 39, dass das negative Indefinitum und die Negationspartikel unmittelbar hintereinander auftreten müssten (wie das im Überblick angeführte niederländische Beispiel zeigt, gilt dies dort nicht, eben weil die ost- und westflämischen Dialekte

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noch über eine präverbal-proklitische Negationspartikel verfügen),17 wobei die Negationspartikel und das negative Indefinitum außerdem in vielen Dialekten lautlich ähnlich oder (nahezu) identisch sind (bei anderen Indefinita, besonders bei kein, ist dies dagegen nicht der Fall). Für eine nordbairische Mundart beobachtet SCHIEPEK (1908, 497), dass bei gemeinsamem Auftreten das negative Indefinitum und die Negationspartikel in der Regel nicht adjazent stehen („Besonders beliebt ist hiebei Anfangs- und Endstellung von kein (nichts) und nicht […]“), wobei dazu ausgeführt wird: Die Trennung von nichts und nicht ist hiebei jetzt die Regel […]. (SCHIEPEK 1908, 497, Fußnote 4)

Die sprachlichen Bedingungen für das Auftreten der Negationskongruenz im Kontext von WS 39 sind also (wo die dialektalen Systeme nicht über präverbale Negationspartikeln verfügen) besonders ungünstig. Hinzu kommt, dass es sich bei der „doppelten Negation“ für das Deutsche um eine stark stigmatisierte Konstruktion handelt (vgl. z. B. FLEISCHER / SCHALLERT 2011, 249–250). Dies könnte sich ebenfalls dahingehend ausgewirkt haben, dass sie im deutschsprachigen Gebiet kaum produziert wurde. Die beiden deutschen Punkte dürfen also keinesfalls als „die einzigen deutschen Dialekte mit Negationskongruenz“ angesehen werden. Aber sie zeigen, im Vergleich mit den anderen deutschen Ortspunkten des Samples, eine besonders starke Tendenz zur Realisierung der Negationskongruenz, die sich sogar unter den „ungünstigen“ Bedingungen von WS 39 manifestiert. Dass im Sample alle germanischen Fälle von Negationskongruenz in arealer Nähe zu Sprachen, in denen Negationskongruenz wesentlich weiter verbreitet ist (Französisch, Sorbisch bzw.

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Die Art der Negationspartikel gibt Anlass zu folgender Anmerkung: Für westmitteldeutsche Mundarten ist außerhalb des Wenker-Materials die präverbale Negationspartikel en, die durchweg mit anderen negativen Elementen aufzutreten scheint, noch belegbar (vgl. MÜNCH 1904, 92; Rheinisches Wörterbuch 2, 120; 6, 183). Nach den Angaben des Rheinischen Wörterbuchs (2, 120) war die proklitische Negation, deren Rückgang konstatiert wird („heute schwindend“), in den 1880er Jahren noch „voll lebendig“. Dies geht allerdings aus WENKERS Fragebogen nicht hervor (wie etwa, in Bezug auf Sätze ohne Indefinita, Sample-Analysen von anderen Wenkersätzen zeigen). Offensichtlich führte die Fragebogen-Erhebung bei einer relativ jungen Generation in den 1880er Jahren nicht mehr dazu, dass die entsprechende Form noch aktiv produziert wurde. Dass dies aber im Erhebungskontext nicht grundsätzlich ausgeschlossen ist, zeigt das Beispiel der ost- und westflämischen Belegorte: Dort wurde die entsprechende Struktur, die auch noch in wesentlich jüngerer Zeit dokumentiert werden kann, durchaus notiert. Aus einer solchen vergleichenden Interpretation ergibt sich, dass die Doppelnegation im Westmitteldeutschen offensichtlich schon wesentlich stärker beschränkt war, als sie es im Ost- und Westflämischen war und ist. Die (westmitteldeutschen) Wenker-Daten erweisen sich in diesem Sinn vielleicht als „progressiver“ als die Angaben aus dem Rheinischen Wörterbuch und der Beschreibung von MÜNCH (1904). Aus der Kongruenz mit dem Original, die in den deutschen Daten überwiegend zu konstatieren ist, darf also nicht geschlossen werden, dass die Negationskongruenz zum Zeitpunkt von WENKERS Erhebung „gar nicht mehr existierte“. Aber bei der Erhebung bei einer jungen Generation trat sie offensichtlich nicht mehr in Erscheinung.

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Polnisch), auftreten, zeigt, dass auch bei diesem Phänomen Sprachkontakt eine Rolle spielen kann. 18 7.3 Diskussion Die beiden Analysen zeigen auf den ersten Blick durchaus unterschiedliche Resultate: Während sich beim prospektiven Infinitiv aufgrund der bisherigen Literatur erwartete areale Verbreitungen zeigen, ist dies bei der Negationskongruenz weniger der Fall. Hierfür können, wie bei den beiden Phänomenen diskutiert worden ist, sprachliche und methodische Gründe angeführt werden. In jüngeren dialektsyntaktischen Projekten hat sich wiederholt gezeigt, dass die Hürde für die Produktion einer nicht dem Standard entsprechenden Konstruktion bei einer Übersetzungsaufgabe höher ist als bei einer Bewertungsaufgabe, in der die entsprechende Konstruktion suggeriert wird (vgl. FLEISCHER / KASPER / LENZ 2012, 22–23, 29); die in Abschnitt 7.1 diskutierten Unterschiede zwischen den Wenker- und den SAND-Daten dürften auf diesen Unterschied zurückgehen. Wenn in den Wenker-Materialien eine ansonsten bezeugte dialektale Struktur nicht oder nicht im erwarteten Umfang auftritt, heißt dies keinesfalls, dass die Konstruktion im entsprechenden Dialekt „nicht vorkommt“: Die dialektalen Übersetzungen der Wenkersätze stellen ja keine grammatische Beschreibung dar, sondern sie zeigen nur die Reaktion von Gewährspersonen auf einen bestimmten Stimulus. Dies darf den Wenker-Materialien aber nicht zum Vorwurf gemacht werden: Dass sich in anderen Daten-Typen (etwa in freien Texten oder bei Bewertungsaufgaben) und bei anderen Informanten-Populationen die „richtigen“ dialek18 Während es für die slavischen Sprachen unbestritten sein dürfte, dass Negationskongruenz die praktisch einzig mögliche Konstruktion in Sätzen mit Indefinita darstellt, stellt sich die Lage im Fall des Französischen etwas komplizierter dar, wird doch – für das moderne gesprochene Französisch – immer wieder berichtet, dass die präverbale Negationspartikel ne wegfallen kann, was zunächst die Doppelnegation (ne … pas), aber auch Sätze mit negativen Indefinita (ne … rien) betrifft. Zumindest in Bezug auf Sätze ohne Indefinita ist allerdings bezeugt, dass die französischen Dialekte in der Nähe des germanischen Gebiets die konservativere Doppelnegation verwenden. Dies zeigen etwa die (zu WENKER fast zeitgleichen) ALFKarten 897 (j’ai cru qu’ils ne viendraient pas) und 1082 (je ne peux pas perdre, ça c’est sûr), in denen die nördlichen und nordöstlichen Ortspunkte im Gegensatz zu anderen Gebieten fast ausschließlich Doppelnegation zeigen. Auch grammatische Beschreibungen nordostfranzösischer Dialekte legen dies nahe (vgl. THIS 1887, 72; HORNING 1887, 85). Für einen wallonischen Dialekt, der nur wenig westlich der beiden in meinem Sample vertretenen Ortspunkte bei Malmedy liegt, schließt REMACLE (1956, 264) den Wegfall von ne explizit aus („L’omission de « ne » qu’on a dans le fr[ançais] pop[ulaire] on peut pas, il a pas de parents […] ne se produit pas en w[allon]“). Bei rin ‘nichts’ zeigen die Beispiele in REMACLE (1952, 328–329) ebenfalls Kombination mit ne, allerdings wird hier der eventuelle Wegfall von ne nicht thematisiert. Obwohl sich die zitierten Karten und Beschreibungen (mit Ausnahme von REMACLE 1952) nicht auf Sätze mit einem negativen Indefinitum beziehen, legen sie dennoch nahe, dass die präverbale Partikel ne in den für uns relevanten nördlichen und nordöstlichen französischen Dialekten erhalten ist – wie im schriftsprachlichen Standardfranzösisch, aber anders als in der modernen Umgangssprache.

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talen Strukturen finden, hängt wesentlich von der Methode ab. Zwar zeigen, wie sich bei der Diskussion der Negationskongruenz herausgestellt hat, die WenkerDaten nicht unbedingt die weiteste mögliche Verbreitung eines Phänomens, sie zeigen aber immer dann, wenn sich in ihnen Variation feststellen lässt, dass bestimmte Ortspunkte im Vergleich zu anderen eine besonders starke Neigung haben, von einer bestimmten Konstruktion abzuweichen. In dieser Beziehung ist das Wenker-Material vor allem im sprachgeographischen Vergleich interessant. Dass solche Vergleiche auch unter „ungünstigen“ sprachlichen Bedingungen aussagekräftige Beobachtungen erlauben, zeigen die oben angestellten Überlegungen zu WS 39. 8 AUSBLICK Zur Zeit werden anhand des vorgestellten Samples Auswertungen zu vielen weiteren syntaktisch relevanten Phänomenen, die sich in den Wenker-Daten finden, erstellt (etwa zu Wortfolge- und Kongruenz-Phänomenen, zur Realisierung von Subjekten, Objekten und Artikeln, zu verbalen Periphrasen etc.). Die entsprechenden Karten sollen über die REDE-Plattform digital veröffentlicht werden. Angaben zur Typisierung, eine basale Validierung und erste Interpretationsansätze und Diskussionen soll eine begleitende Monographie bieten. Auf diese Weise entstehen erstmals Karten, die die Verbreitung syntaktischer Phänomene für fast das gesamte kontinentalwestgermanische Dialektgebiet mittels einer einheitlichen Erhebungs-Methode und mit Bezug auf direkt vergleichbares Material nachzuvollziehen erlauben. Dabei werden die nicht-westgermanischen Daten, die die Wenker-Materialien bieten, angemessen berücksichtigt. Dass auf dieser Datengrundlage, und bei Berücksichtigung der methodischen Charakteristika der Daten, höchst aussagekräftige Kartenbilder entstehen, die in Bezug auf die Arealität syntaktischer Phänomene und die Effekte von Sprachkontakt interessante Befunde erbringen, steht außer Zweifel. Ein Wenker-Atlas zu syntaktischen Phänomenen kann hier einen Überblick bieten und Grundlagen für DetailUntersuchungen schaffen. LITERATURVERZEICHNIS ALF = Atlas linguistique de la France (1902–1910). Publié par JULES GILLÉRON et EDMOND EDMONT. Paris: Champion. [Neun Bände.] BRONISCH, CHRISTIAN WILHELM (1862): Grundzüge der deutschen Mundart, welche inmitten der sorbischen Bevölkerung und Sprache in der Niederlausitz und in den nördlichen Theilen der Oberlausitz gesprochen wird. In: Neues Lausitzer Magazin 39, 108–195. BRUCH, ROBERT (1973): Précis populaire de grammaire luxemburgeoise / Luxemburger Grammatik in volkstümlichem Abriss. Troisième édition revue par LÉON SENNINGER. Luxembourg: Section de Linguistique de l’Institut grand-ducal (Beiträge zur Luxemburgischen Sprach- und Volkskunde. 10). [1. Auflage 1955].

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Jürg Fleischer

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WIE SIND DIE DEUTSCHEN DIALEKTE IN SYNTAKTISCHER HINSICHT GEGLIEDERT? Elvira Glaser 1 DIE FORSCHUNGSLAGE Mit dem vorliegenden Beitrag werden Überlegungen zur Bandbreite und zu typischen Bereichen der Variation in der (Morpho-)Syntax deutscher Dialekte wieder aufgenommen, die ich an verschiedener Stelle vor mehr als zehn Jahren vorgestellt habe.1 Meine damalige Behauptung, „daß eine [...] vorbereitende Gesamtübersicht dringend nötig ist, weil nämlich die syntaxgeographischen Variablen noch lange nicht alle bekannt sind“ (GLASER 2000, 270), hat sich insofern bestätigt, als mittlerweile eine ganze Reihe syntaktische Varianten herausgearbeitet wurde, die vorher tatsächlich nicht oder nur punktuell im Blickfeld dialektologischer Forschung waren. Dazu haben u. a. die jüngsten bayerischen Atlasprojekte beigetragen,2 aber auch das seit einigen Jahren von JÜRG FLEISCHER verfolgte Projekt einer syntaktischen Auswertung der Wenkersätze (vgl. FLEISCHER 2011; 2012; 2014; 2015) sowie vereinzelte grössere Einzelstudien, wie SCHALLERT (2014), SCHALLERT / SCHWALM (2015) oder WEISS (2015). Zu einem Überblick über das deutschsprachige Gesamtgebiet, wie er mittlerweile für das Niederländische im belgisch-niederländischen SAND (BARBIERS et al. 2005; 2008) vorliegt, ist es aber noch nicht gekommen. Nach einigen Jahren der Konzentration auf die Dialektsyntax eines ‚Kleinraums‘, der deutschsprachigen Schweiz, möchte ich nun erneut dieses übergreifende Anliegen zur Sprache bringen. Wie schon bei ABRAHAM / BAYER (1993, 7) soll Syntax hier „im weiten Sinne verstanden werden, d. h. unter Einschluß der Morphosyntax und von Fragen der satzsemantischen Repräsentation.“ Der erste Versuch eines Überblicks über die syntaktischen Verhältnisse in den deutschen Dialekten stammt meines Wissens von OSKAR WEISE vor gut hundert

1

2

Einige dieser das gesamte deutsche Sprachgebiet betreffenden Vorüberlegungen sind in GLASER (2000; 2006; 2008) festgehalten. Die Weiterarbeit erfolgte im Rahmen der Nationalfonds-Projekte „SynMod“ (Nr. CR12I1_140716) und „SynMod+“ (Nr. CR12I1_162760/1) sowie des Universitären Forschungsschwerpunkts „Sprache und Raum (SpuR)“ der Universität Zürich. V. a. SNIB 1, in dem schwerpunktmässig die Syntax abgehandelt wird, aber auch kurze Abschnitte mit Karten zu (morpho-)syntaktischen Phänomenen in folgenden Einzelbänden: SUF 3; SMF 6, 7; SBS 6, 9.2; SNIB 5; SOB 3, 4. Die Bände VALTS 5 und SSA, Lieferung 3, haben nur vereinzelte syntaxrelevante Karten, etwa zum Infinitiv- und Gerundiumanschluss.

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Elvira Glaser

Jahren (1909).3 Zwar gab es davor bereits Einzeluntersuchungen zu syntaktischen Phänomenen eines einzelnen Dialektes, wie BINZ (1888), SCHIEPEK (1895; 1908) oder FREY 1906 (entgegen dem allgemeineren Titel), aber keinen systematischen Überblick über syntaktische Varianten in den deutschen Dialekten.4 Dass WEISE hier ein einsamer Pionier war, ersieht man auch daran, dass in der Bibliographie zur Grammatik der deutschen Dialekte (WIESINGER / RAFFIN 1982) das entsprechende Kapitel zur Dialektsyntax ausschliesslich sechs Artikel von WEISE nennt.5 Allerdings gibt WEISE keinen heutigen Ansprüchen auch nur annähernd genügenden systematischen Überblick, sondern eine heterogene Sammlung von Phänomenen, die aber durchaus eine Fundgrube darstellt. Neben Themen wie Wortstellung und Kasus behandelt er semasiologisch-funktionale Fragestellungen, wie die Erweiterung des Funktionsumfangs von Pronomen, etwa des Fragepronomens was, und bespricht „Wirkungen der Analogie“ (WEISE 1909, 739), worunter er die Reanalyse der Partikel eso (< alsô) als ein so bespricht, die dann als Modell zur Doppelsetzung des unbestimmten Artikels bei erweiterten Nominalphrasen geführt habe, also etwa „e recht e kleins Büchle“ (WEISE 1909, 740). Weitere Phänomene bespricht WEISE unter dem Gesichtspunkt der sprachgeographischen Verteilung, was er aber auch bei den zuvor genannten Beispielen in den Fussnoten erwähnt. Dabei kommt er auf mögliche Einflüsse von Sprachkontakt zu sprechen und stellt fest, dass „noch niemand eingehend untersucht“ habe, „inwieweit syntaktische Erscheinungen deutscher Mundarten mit denen fremder Sprachen übereinstimmen“ (WEISE 1909, 741–742). Dass sich das für einige mit dem Deutschen in Kontakt stehende Dialektregionen anhand der in den Wenkersätzen enthaltenen syntaktischen Phänomene durchführen lässt, ist erst durch die jüngste systematische Aufarbeitung durch JÜRG FLEISCHER allgemeiner bekannt geworden.6 Man wird hier aber auch an die Idee einer typologischen Einordnung dialektaler syntaktischer Erscheinungen erinnert, wie sie dann hundert Jahre später von BERND KORTMANN gefordert und anvisiert wurde.7 Weitere Überblicksdarstellungen sind in den 80er Jahren vorgelegt worden. In HENN (1983) wird auf der Basis der Durchsicht zahlreicher Dialektbeschreibungen vor allem e i n Phänomen im ganzen Sprachraum betrachtet, der adnominale possessive Dativ. HENN-MEMMESHEIMER (1986) ist auf die Nominalphrase beschränkt und fokussiert nicht speziell auf die Dialekte, sondern allgemeiner auf Substandard, bietet dabei aber reiches Material. Ein wirklicher Überblick über die syntaktische Variation in deutschen Dialekten steht also noch aus und kann auch hier nicht gegeben werden, wenn auch die Voraussetzungen für einen solchen Überblick, nach intensiven Forschungen in den letzten 20 Jahren, deutlich besser 3 4 5 6 7

Das Syntaxkapitel in WEISE (1910, 72–89) bringt nichts grundlegend Anderes. Aufgrund der notorischen Schwierigkeit, in der Syntax zu bestimmen, was eine Variable ist, halte ich mich weitgehend an den Terminus Variante, um mich auf die einzelnen Erscheinungen zu beziehen. WIESINGER / RAFFIN (1982, 24–25): WEISE (1906a; 1906b; 1907; 1911; 1916; 1918). Vgl. FLEISCHER (2012) sowie FLEISCHER (in diesem Band). Etwa mit der Tagung und dem Band „Typology meets Dialectology“ (KORTMANN 2004a), vgl. auch MURELLI / KORTMANN (2011).

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geworden sind. Neben den oben genannten Unternehmungen sind insbesondere die im Abschluss befindlichen, auf Syntax fokussierten Projekte SynAlm, SyHD und SADS zu nennen. Ich will auf diesem aktuellen Forschungsstand eine Zwischenbilanz ziehen und Forschungsdesiderata benennen.8 Dabei werde ich die sogenannten Sprachinseldialekte nicht einbeziehen, da in diesen mit zusätzlichen sprachkontaktinduzierten Varianten zu rechnen ist, die das Bild sehr komplex machen und im Hinblick auf die vorhandene Variationsbreite auch verunklaren könnten. In einem zweiten Schritt wird es dann aber gerade hochinteressant sein, die Abweichungen zu identifizieren, die in solchen Situationen des absoluten Sprachkontakts auftreten. 2 ERMITTLUNG UND KLASSIFIKATION DER SYNTAKTISCHEN VARIANTEN Als Vorarbeit für einen Überblick über die syntaktischen Variablen in deutschen Dialekten müssten, aufbauend auf dem bereits bei WEISE Erwähnten, die in der Sekundärliteratur behandelten Erscheinungen zusammengestellt und sortiert werden. Die unübersichtliche Zusammenstellung bei WEISE zeigt die Notwendigkeit einer Klassifikation. Eine solche kann entsprechend theoretisch vorgegebenen, im Fokus der Forschung stehenden Phänomenbereichen vorgenommen werden, wie etwa bei SAND (BARBIERS et al. 2005; 2008) oder im Projekt SynAlm (BRANDNER 2015, 293–297). Gerade wenn eine breite Palette an Phänomenen über einen grossen Sprachraum hinweg erfasst werden soll, die im einzelnen noch einer theoretischen Einordnung bedürfen oder bei denen eine solche umstritten ist, empfiehlt sich eine Orientierung an einer möglichst theorieneutralen gröberen Klassifikation. Für eine erste Orientierung zur Erfassung der (morphologischen und) syntaktischen Varianten wäre etwa das Raster geeignet, das bei der Darstellung der Variation im „Handbook of Varieties of English“ gewählt wurde (KORTMANN / SZMRECSANYI 2004), wenn man nicht in einem ersten Schritt mit der einfachen Dreiteilung in Verbalsyntax, Nominal- und Pronominalsyntax und Satzverknüpfung (vgl. FLEISCHER / LENZ / WEISS 2015, 268–269) operieren möchte. Die Orientierung an einer für andere Sprachen entwickelten Klassifikation hat zunächst rein heuristische Funktion, da im einzelnen natürlich mit nicht übertragbaren sprachspezifischen Besonderheiten zu rechnen ist, die Adaptionen erforderlich machen. Interessant kann dann aber ein Vergleich der Variationsbereiche sein, die sich sprachspezifisch bzw. sprachfamilienspezifisch ganz unterschiedlich gestalten, wie etwa das Genussystem, das im Deutschen im Vergleich zum Italie8

Erst nach Abschluss des Manuskripts gelangten Informationen an mich über den von HELMUT WEISS, THOMAS STROBEL und ISABELLA BOHN an der Tagung „Deutsch in Österreich“ (Wien, Juli 2016) gehaltenen Vortrag „Dialektale morphosyntaktische Variation innerhalb des deutschen Sprachraums“, in dem die Autoren offenbar ähnliche Überlegungen zu den vorhandenen Atlasdaten und Möglichkeiten einer Zusammenschau anstellten. Mein herzlicher Dank geht an THOMAS STROBEL für den Einblick in die Präsentation.

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nischen wesentlich weniger Variation aufweist (LOPORCARO i. Dr.). Umgekehrt kann das gehäufte Auftreten bestimmter Varianten als Ausgangspunkt für die Ermittlung von allein der mündlichen Echtzeitkommunikation geschuldeten Variablen gelten,9 wobei der Nachweis solcher „vernacular universals“ komplex ist (vgl. hierzu SZMRECSANYI / KORTMANN 2009). Die Zusammenstellung für die englischen Varietäten umfasst folgende Merkmalsgruppen („list of features“): pronouns, noun phrase, tense and aspect, modal verbs, verb morphology, adverbs, negation, agreement, relativization, complementation, discourse organization und word order,10 mit insgesamt 76 Merkmalen. Die Phänomene, die WEISE für die deutschen Dialekte benennt, lassen sich allerdings nicht immer ganz eindeutig den KORTMANNschen Kategorien zuordnen. Abgrenzungsprobleme gibt es auch in KORTMANNS Gliederung selbst, wenn man etwa bedenkt, dass resumptive pronouns nicht bei Pronomina, sondern bei relativization, also bei den Relativsätzen erscheinen. Dennoch könnte die am Englischen erprobte Merkmalliste als Ausgangspunkt für eine Sortierung der für das Deutsche genannten Phänomene dienen. Nimmt man zu WEISEs Angaben die in jüngerer Zeit zusammengestellten Erscheinungen (vgl. WERLEN 1994; ABRAHAM / BAYER 1993; GLASER 1997) hinzu, ergänzt Weiteres aus spezifisch dialektsyntaktischen Monographien und Sammelbänden (vgl. WEISS 1998; LANGHANKE et al. 2012) sowie die in jüngeren Sprachatlanten kartierten Phänomene, so ergibt sich eine umfangreiche Liste, die natürlich von terminologisch bedingten Doppelungen und sachlichen Überschneidungen bereinigt werden müsste, bevor an eine Klassifikation von Merkmalen zu denken wäre. Eine solche bereinigte Klassifikation kann hier nicht vorgelegt werden, es sollen aber Vorüberlegungen zu einer solchen Gesamtschau angestellt werden. Immerhin lässt sich schnell feststellen, dass bestimmte Phänomene und Phänomenbereiche mehrfach genannt werden und so einen Kernbereich der Variation darstellen. Dazu gehören: Kasussysteme, Nebensatzeinleitungen (v. a. mehrfach besetzte Komplementierer) einschliesslich Relativsatzanschluss, Wortstellung, insbesondere im Verbalcluster (sog. Verbraising und Verb projection raising), Pronominalklitika und Ausfall von Pronomina, Infinitivanschlüsse und verschiedene Verbalperiphrasen. All diese Bereiche, abgesehen von den Klitika, sind schon bei WEISE erwähnt. Durch eine weitere Untergliederung, die dann natürlich erneut Abgrenzungs- und Zuordnungsprobleme in sich birgt, ergibt sich das Material für einen Merkmalskatalog, wie ihn KORTMANN für das Englische aufgestellt hat. Die obigen Kernbereiche lassen sich auch grundsätzlich KORTMANNS Liste zuordnen. Zur Illustration greife ich die Untergliederung der Nominalphrase in sieben Untergruppen heraus, wie sie KORTMANN / SZMRECSANYI (2004, 1146) vornehmen: 9 10

Ein Gutachter hat auf die beschränkte Aussagekraft dieses Variantentypus für eine syntaktische Typologie hingewiesen, was aber meines Erachtens nicht schon bei der Zusammenstellung berücksichtigt werden kann. In der vierbändigen Ausgabe „Varieties of English“ findet sich diese list of features den jeweiligen Bänden vorangestellt, vgl. z. B. KORTMANN (2008, XXV–XXIX).

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Absence of plural marking after measure nouns (e. g., four pound, five year), Group plurals (e. g., That President has two Secretary of States), Group genitives (e. g., The man I met’s girlfriend is a real beauty), Irregular use of articles (e. g., Take them to market, I had nice garden, about a three fields, I had the toothache), Postnominal for-phrases to express possession (e. g., The house for me), Double comparatives and superlatives (e. g., That is so much more easier to follow), Regularized comparison strategies (e. g., He is the regularest kind a guy I know, in one of the most pretty sunsets).

Analog könnte eine erste solche Zusammenstellung für die Nominalphrase mit indikativen Beispielen für die deutschen Dialekte folgendermassen aussehen:11 – – – – – – – – – – – – –

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Abweichender Gebrauch des Definitartikels (z. B. Er hat den Schnupfen), Doppelte Definitartikelreihe (z. B. D’Frau vs. di Frau), Abweichender Gebrauch des Indefinitartikels (z. B. Ich habe einen Durst, Er ist ein Lehrer), Definitartikel bei Personennamen (z. B. die Maria, der Hans), Verdoppelung des Indefinitartikels in erweiterten NPs (z. B. eine ganz eine schöne Feier), Indefiniter Pluralartikel (z. B. Da sind eine Äpfel dran, Ich habe welche Kinder gefragt), Possessivkonstruktionen (z. B. Meinem Bruder/meines Bruders sein Haus; Meiner Mutter die Cousine), Partitivmarkierungen (z. B. Wir haben noch ders Fleisch, Hier legt man der kleiner Steine hin), Familien/Gruppenmarkierung (z. B. s Maiers, s Becke, d Maiers, s Nachbars, Von Huber, Beim Breu), (Nicht-)Zählbarkeitsmarkierung durch Artikelgenus (z. B. der Glas vs. das Glas), Präpositionale Dativmarkierung (z. B. Sag es in der Mutter), Kasuszusammenfall N-A, D-A (z. B. Ich sehe der Mann, Er hilft seinen Freund), Synkretismen (stark/schwach) beim attributiven Adjektiv (z. B. der grosser Frau).

Die Beispiele sind entsprechend KORTMANNS Verfahren soweit möglich in normalisiertneuhochdeutscher Form präsentiert. Sie sind z. T. bereits in GLASER (1997) bzw. in WEISES Abhandlungen erwähnt, vgl. ausserdem APPEL (2007), ELMENTALER (2012), WEISS (2014), DÖHMER (i. Dr.). Meine Aufstellung, für die auch die in den Syntaxkarten einiger Sprachatlanten verzeichneten Phänomene geprüft wurden, dürfte trotz aller Bemühungen einen süddeutschen/hochdeutschen Bias haben.

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Es handelt sich hier natürlich nur um vorläufige Klassifikationen, und einige der Punkte liessen sich nach steuernden Kategorien, z. B. Kasus, Numerus, Genus, noch weiter aufschlüsseln, wobei sich teilweise dann Verbindungen zu anderen Gruppen ergeben, wie etwa bei der Possessivkonstruktion und der Präpositionalen Dativmarkierung, die dann auch bei den Pronomina eine Rolle spielen (können) (z. B. Ihm sein Haus, Ich sage es an ihm) oder die Zählbarkeitsmarkierung (durch Genus) bei der Kongruenz (Agreement). Eventuell wären in diese Gruppe noch Besonderheiten der Präpositionalphrasenbildung aufzunehmen, die in der feature list des Englischen nicht enthalten sind,12 aber von mehreren Dialekt(syntax)-Projekten des Deutschen erhoben wurden, z. B. bei SyHD unter „Weiteres“, bei SynAlm unter „Präpositionalphrasen und Präpositionaladverbien“ (BRANDNER 2015, 297) und bei SMF 7 unter „Präpositionen aus Lage- und Richtungsadverbien“. Man könnte also noch den folgenden Punkt der obigen Merkmalliste hinzufügen: –

Bildungsbesonderheiten bei Präpositionalphrasen (z. B. Komm bei mich, im Kühlschrank drinnen, Ich gehe hinein der Stadt, hinein Eimer).

Die Zusammenstellung mundartlicher morphosyntaktischer Besonderheiten für die Nominalphrase hat also bereits eine umfangreiche feature list ergeben.13 Die Durchsicht der konsultierten Werke lässt darauf schliessen, dass die Zahl insbesondere im Bereich der Verbalphrase (einschliesslich der zahlreichen Verbalperiphrasen) noch höher ist.14 Im Rückgriff auf verschiedene Quellen lässt sich so bereits ein umfänglicher Katalog an morphosyntaktischen Varianten erstellen. Die Prüfung der genannten Varianten in den einzelnen Dialektregionen ist damit aber noch nicht geleistet und damit auch kein systematischer Überblick über das Vorkommen oder Fehlen einzelner Varianten im gesamten Dialektraum. 3 FALLSTUDIE RELATIVSÄTZE Zu den Variablen, die nicht zuletzt aufgrund ihres Einbezugs für die Definition des Standard Average European (SAE) von besonderem Interesse sind (vgl. HASPELMATH 2001), gehört sicherlich der Anschluss von Relativsätzen. Es geht hier 12 13 14

KORTMANN (2004b, 1099) erwähnt jedoch in seiner Einzelsynopse zur Morphosyntax der Britischen Inseln verschiedene auffällige Verwendungen von Präpositionen in einem Kapitel Adverbs and prepositions. HENN-MEMMESHEIMER (1986, 371–375) enthält weitere Substandard-Konstruktionen aus dem Substantiv- und Pronominalbereich, mit denen sich die Liste noch ausdifferenzieren liesse. Hier sind verschiedene Verben mit Infinitivanschlüssen oder Partizip sowie semantische Kategorien, wie Futur, Passiv, Progressiv, Nezessitativ, Direktiv (‚kommen-Konstruktion‘), zusammen mit den Anschlusstypen auf zu, zum, mit, und, bei, am oder 0-Anschluss zu berücksichtigen, ebenso wie das Vorkommen von Verben als reflexive oder labile Verben sowie das Auftreten eines Ersatzinfinitivs.

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vor allem um die Gegenüberstellung der beiden grundlegenden Relativierungsstrategien mit einem flektierten Pronomen oder mit einer Relativpartikel, wobei das Deutsche zur ersten Kategorie zählt. Da sich in den Wenkersätzen kein Relativsatz findet, sind wir, wie auch bei vielen anderen nicht in den Wenkersätzen abgedeckten Phänomenen, vorderhand auf die Auswertung der vorhandenen Atlanten und Einzelstudien angewiesen, was leider kein flächendeckendes Bild ergibt. Glücklicherweise kann man sich hier auf verschiedene Vorarbeiten abstützen. FLEISCHER hat mehrfach (z. B. FLEISCHER 2004; 2005) einen auf Handbüchern und Sekundärliteratur basierenden Überblick über das dialektale Vorkommen der verschiedenen Typen von Relativsatzanschlüssen in den einzelnen syntaktischen Positionen gegeben (vgl. vor allem FLEISCHER 2004, 227, Tabelle 2). Seine Untersuchung hat gezeigt, dass die Relativpartikel-Strategie mit wo bei Präpositionalphrasen praktisch überall in Varietäten des Deutschen verwendet wird (abgesehen von den Sprachinseln und dem Jiddischen). In der Subjekts- und Objektsposition kann er es – in seinem eingeschränkten Sample15 – im Alemannischen, Ostfränkischen und Moselfränkischen nachweisen. Nimmt man die Angaben aus den verschiedenen bei RUSS (1990) charakterisierten Dialekten hinzu, so lassen sich für die wo-Partikel-Strategie in der Subjektsposition folgende Gebiete ergänzen: Westoberdeutsch, südliches Westmitteldeutsch, westliches Mittelbairisch, Nordbairisch, Ostfränkisch, Südostthüringisch. Auch das Schwäbische, zu dem bei RUSS (1990) keine Angaben vorliegen, lässt sich dazustellen (FISCHER / PFLEIDERER 1924, 912–913), wobei in den meisten Dialekten, ausser – weitestgehend – dem Hochalemannischen, Variation zwischen der reinen Partikel und einer Kombination aus Relativpronomen mit Partikel vorliegt.16 Das östliche Mittelbairische und das Südbairische gehören dagegen basisdialektal nicht zum ursprünglichen wo-Partikel-Gebiet. Unterschiedliche Angaben etwa bei FLEISCHER (2004) und RUSS (1990) zum Nordbairischen beziehen sich auf verschiedene Gebiete, was deutlich macht, dass die Relativsatzanschlüsse noch genauerer Beschreibung in kleinräumig-regionaler Hinsicht bedürfen, ganz abgesehen von der nötigen Aufgliederung nach syntaktischen Positionen, die vielfach nicht berücksichtigt wird. Da die Relativsatzbildung in einigen jüngeren Atlasprojekten erfasst ist, kann man die obigen Angaben noch weiter untermauern und ergänzen. Für das Niederbairische gibt es eine Reihe von Karten, die die Existenz der wo-Strategie (neben anderen) bestätigt (vgl. SNIB 1, Relativsätze; zum Hessischen vgl. FLEISCHER 2016 mitsamt Karte; zum Ostfränkischen SMF 7, 445–446, ohne Karte; zum Alemannischen BRANDNER / BRÄUNING 2013; zum Schweizerdeutschen GLASER i. V.). Zusätzlich erscheint im Niederbairischen aber auch noch eine weitere Vari15

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Bei der Interpretation seiner Daten ist zu bedenken, dass FLEISCHER (2004) seine Auswahl an der Verfügbarkeit von Daten in den verschiedenen syntaktischen Positionen ausgerichtet hat, dass also Quellen, die z. B. nur Beispiele für den Gebrauch im Subjekt bieten, ausgeschieden wurden. Zu den mit wo kombinierten Relativsatzeinleitungen vgl. auch die Nachweise bei HENNMEMMESHEIMER (1986, 324–325).

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ante, die bei FLEISCHER nicht erwähnt wird, nämlich Relativierung mit der Partikel wie (auch zusammen mit Relativpronomen).17 Daraus ergibt sich die folgende der anglistischen feature list unter Relativization entsprechende Auflistung für das Deutsche:18 1. Relativpartikel wo (z. B. Das isch e Fisch, wò fliegt), 2. Relativpronomen der, die, das (z. B. Dat Peerd, dat ik köfft heb), 3. Relativpronomen welcher, welche, welches (z. B. Dat Teeken, well he maolt harr), 4. Relativpartikel wer (z. B. De Fru, we he ’n Teeken gaff), 5. Relativpartikel was (z. B. [Das Geld] wos i verdien), 6. Relativpartikel/Konjunktion dass (z. B. Der Mann, ass der Schtorkipper is), 7. Null-Relativierung (z. B. De schöne, warme Rägen, wi harren vörgestern), 8. Relativpartikel wie (z. B. [Das Geld], wie i verdien), 9. Relativpartikel mit Resumptivpronomen (z. B. Dä Ma, woni im s Mässer gä ha), 10. Kombinierte Relativsatzanschlüsse (z. B. Der wo, der was, der wie, der da). Die Relativpartikel wo, teilweise ergänzt durch das Pronomen, scheint zur Relativierung von Subjekt und direktem Objekt in der westlichen Hälfte des hochdeutschen Raums am besten verankert zu sein.19 Der Raum reicht bis in das südliche Thüringische hinein (vgl. Thüringisches Wörterbuch 6, 1054). Im übrigen Gebiet, d. h. insbesondere im Niederdeutschen, sind Relativierungen von Subjekt und direktem Objekt mit wo nicht belegt oder werden als selten bezeichnet,20 anders als bei der Relativierung von Präpositionalphrasen, die weit herum mit wo-Relativ belegt sind, wie FLEISCHER (2004) gezeigt hat. Aus der sprachgeographischen Situation lassen sich kaum unmittelbar sprachgeschichtliche Schlüsse ziehen, insbesondere weil unklar ist, inwieweit die pronominale Strategie jeweils eine ältere Strategie fortsetzt oder auf Einfluss aus der Standardsprache zurückzuführen ist, worauf ältere wo-Belege (z. B. HENNIG / MEIER 2006, 832; WOSSIDLO / TEUCHERT 1992, 1581; MENSING 1935, 676–677) oder Angaben über veralteten Gebrauch (vgl. GOLTZ 2000, 738) deuten könnten.21 Im Hinblick auf die Zugehörigkeit zum SAE muss die Charakterisierung komplex ausfallen. Erstens kann die Strategie nicht pauschal angegeben werden, da sie von der syntaktischen Position abhängt, 17 18 19 20 21

Vgl. SNIB 1 (Relativsätze, Karten 2, 6, 8, 12, 14, 18), dazu auch EROMS (2005, Karte 4). Relativierung mit wie ist auch für den Spreewald belegt (vgl. BRETSCHNEIDER / ISING / WIESE 2001, 802). Die Beispiele sind, ausser 5. und 8., die aus SNIB 1, 314 stammen, FLEISCHER (2005) entnommen. Das entspricht einer nicht weiter ausgeführten Bemerkung bei BEHAGHEL (1928, 736): „In den Mundarten der südwestlichen Gebiete ist für das Relativpronomen das Adverb wo eingetreten“. So sind wohl auch die Ausführungen bei APPEL (2007, 119–121) zu verstehen. Zur generellen Überlegungen über die Herausbildung des wo-Relativums vgl. BRANDNER / BRÄUNING (2013), die aber keine sprachgeographischen Betrachtungen anstellen.

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wie schon FLEISCHER (2004) festgehalten hat. Was die Relativierung von Präpositionalphrasen betrifft, wird in den Dialekten weit überwiegend auf die Partikelstrategie zurückgegriffen, wohingegen bei Subjekt- und Objektrelativierung das vornehmlich für hochdeutsche Dialekte gilt, bei denen die wo-Partikel aber nur eine unter verschiedenen Möglichkeiten darstellt. Insbesondere wird die Kombination aus Partikel und Relativpronomen immer wieder als Variante genannt, wobei die genauen Gebrauchsbedingungen weitgehend noch zu untersuchen sind.22 Der kurze Überblick über Variation in den Relativsatzanschlüssen hat gezeigt, dass trotz bereits vorhandener Einzelstudien die nötigen Informationen für eine grossräumige Beschreibung noch nicht vorhanden sind bzw. die vorliegenden Informationen teilweise nicht einfach zu interpretieren sind, wenn nicht explizit auf die Fragestellung eingegangen wird. Um die Datenlage zu verbessern, dürfte zumindest für die nicht von den Wenkersätzen abgedeckten Phänomene eine koordinierte Erhebungsinitiative mit einer von Dialektsyntaxexperten gemeinsam getroffenen Auswahl an Varianten der beste Weg sein.23 4 MORPHOSYNTAKTISCHE RÄUME In einem letzten Abschnitt sollen nun noch generellere Fragen der Verteilung morphosyntaktischer Varianten angeschnitten werden, soweit wir das auf der Basis des momentanen Wissens beurteilen können. Das betrifft zum einen sprachgeographische Konstellationen, also gewissermassen dialektsyntaktische Räume, und zum anderen die Art und Beschaffenheit der Geltungsräume morphosyntaktischer Varianten. In GLASER (2008) habe ich einige sprachgeographische Konstellationen herausgegriffen, von denen ich annahm, dass sie wiederkehrende Muster vertreten. Beim ersten Typ grenzt sich das Ostoberdeutsche, d. h. das Mittelbairische mit eventuell angrenzenden Gebieten, vom Rest ab, wie es etwa bei der Verwendung des Indefinitartikels bei Massennomina der Fall ist. Die in GLASER (2008, Karte 1) dargestellte sprachgeographische Verbreitung hat sich grundsätzlich bei der Auswertung von Wenkersatz 23 (Wir sind müde und haben Durst) bestätigt (vgl. Abbildung GLASER-1 im Farbabbildungsteil)24, insofern sich ein bairisch-österreichisches Kernareal zeigt, das allerdings weniger weit im Westen bezeugt ist, als das GLASER (1996) nachweisen konnte. Es ist anzunehmen, dass sich weitere Varianten diesem Verteilungsmuster zuordnen lassen, das auch als Variante einer

22 23 24

Analysen in natürlichen Korpora sind aufgrund der geringen Häufigkeit der Konstruktion zeitraubend, vgl. FLEISCHER (2004, 216). Zu den Ergebnissen der Untersuchung von Wenkersätzen vgl. die Ausführungen JÜRG FLEISCHERS im vorliegenden Band sowie jüngst WEISS (2015). Ich danke JÜRG FLEISCHER und STEFANIE LESER-CRONAU (Marburg) sehr herzlich für die Erstellung und Überlassung der auf einer vorläufigen Auswertung beruhenden Karte für die vorliegende Publikation.

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allgemeineren Ost-West-Gliederung angesehen werden könnte.25 Eine andere Variante der Ost-West-Gliederung ergibt sich durch die Distribution des fürAnschlusses bei finalen Infinitivsätzen, die sich, wie FLEISCHER (in diesem Band) mit Karte 2 („Prospektiver Infinitiv-Anschluss“) zeigt, auf eine westliche Randzone eingrenzen lässt, was die Vermutung in GLASER (2008, 99–100) bestätigt. Dass auch der am-Progressiv dialektal eine West-Ost-Verteilung aufweist, ist weiterhin eine gut begründete Vermutung, allerdings fehlen hier eben noch die nötigen grossräumigen Untersuchungen. Auch kann auf die grundsätzlich erkennbare Aufteilung in eine westliche Gruppe mit Nominativ-Akkusativ-Zusammenfall und eine östliche Gruppe eher mit Schwächung der Dativ-Akkusativ-Opposition hingewiesen werden, wenn auch die Sachlage hinsichtlich der betroffenen Kategorien wesentlich komplexer ist. Ein weiterer Distributionstyp ist die klassische Nord-Südgliederung, die in GLASER (2008) an der Artikelverwendung bei Eigennamen illustriert wurde und sowohl in der bekannten Präteritalgrenze wiederzufinden ist als auch im Ausfall des Subjektspronomens der 2. Person Singular, wie die Auswertung von Wenkersatz 12 (Wo gehst Du hin?) zeigt (FLEISCHER 2015). Eine ähnliche Nord-Südgliederung weisen auch die Pronominaladverbien bezüglich ihrer Spaltungstypen auf (vgl. FLEISCHER 2003), und sie gilt wohl auch für das Vorkommen des kriegen-Resultativs (vgl. GLASER / CLEMENT 2014, 200–202; LENZ 2013, 164, 215, 294). Die Auswertung von Wenkersatz 9 hinsichtlich der Stellung der ObjektPronomina es ihr oder ihr es (FLEISCHER 2011, 97, Karte 4) deutet ebenfalls auf eine grundsätzliche Nord-Südgliederung hin, die allerdings in der Mitte eine deutliche Einbuchtung nach Süden aufweist und insgesamt weniger klar ist. Ein bedeutender Bereich syntaktischer Variation, der über den deutschen Sprachraum hinaus die verwandten westgermanischen Nachbarsprachen Niederländisch sowie Friesisch (Nord- und Westfriesisch) betrifft, besteht ausserdem in der Serialisierung im Verbalkomplex, zu dem in den letzten Jahren verschiedene Einzelanalysen durchgeführt wurden, ohne dass aber bisher ein über PATOCKA (1998) hinausgehender umfassender sprachgeographischer Überblick schon möglich wäre, auch wenn DUBENION-SMITH (2013) die Verhältnisse im Westmitteldeutschen bedeutend erhellt hat. Für eine Bestätigung der vorgeschlagenen sprachgeographischen Grossräume sind weitere Erhebungen nötig, die die bald zu erwartende Wenkersatz-Auswer25

Allerdings lassen sich nicht alle aus dem Westmittelbairischen bekannten syntaktischen Besonderheiten mit diesem Raumbild identifizieren, so etwa die mittlerweile mehrfach behandelte emphatische Topikalisierung in Nebensätzen des Typs der wenn kommt, die jedoch in weiten Teilen Österreichs nicht möglich ist. Meine eigene Beobachtung wird bestätigt durch FRANZ PATOCKA (Wien) (E-Mail 13.7.2016) und STEPHAN GAISBAUER (Sprachatlas von Oberösterreich, Linz, SAO) (E-Mail 18.10.2016), der die vor allem im Mühlviertel und südlichen Innviertel an der Atlasposition Nr.1938 „Wenn ich du wäre, ginge ich nicht hin“ aufgetretenen Frontierungen für wenig zuverlässig hält. Beiden Kollegen danke ich herzlich für die Auskünfte. Da emphatische Konstruktionen schwer erhebbar sind, ist es nicht erstaunlich, dass die vorgesehene Atlasfrage Nr.1938 keine guten Ergebnisse erbrachte. KALLULLI (2014) erwähnt dagegen keine geographische Beschränkung für die emphatische Topikalisierung.

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tung ergänzen können. Die Erstellung einer Dialektsyntaxgeographie des Deutschen muss daher auf einen späteren Zeitpunkt verschoben werden. Der dritte in GLASER (2008) angeführte Verteilungstyp, der durch verschiedene Neuerungen neben archaischen Randformen bei den Ausdrucksformen des Partitivs vertreten war, führt bereits hinüber zur zweiten Frage nach den Arten syntaktischer Distributionen. Neben den erkennbaren dialektsyntaktischen Grossarealen lassen sich zahlreiche unterschiedliche kleinere Geltungsräume von Varianten erkennen. Diese Beobachtung, die sich beim Vergleich bisher publizierter Karten ergibt, entspricht derjenigen, die wir im Kleinraum des Schweizerdeutschen gemacht haben (GLASER 2014). In vielen Fällen ist bei den kleinräumig registrierten Varianten unklar, inwiefern sie auch in anderen Regionen auftreten, wie es sich beim fehlenden Indefinitgebrauch des Fragepronomens was sowohl im Schweizerdeutschen als auch im Luxemburgischen feststellen lässt (vgl. GLASER 2006). Teilweise dürften sich darunter aber auch die echten Rara der deutschen Morphosyntax befinden. Dazu zähle ich vorerst z. B. das Auftreten eines obligatorischen expletiven es beim impersonalen Passiv in einer Kleinregion des Schweizerdeutschen (GLASER 2014, 37, Karte 15 do wird’s gwärchet), das „schieb-helf-Phänomen“ in Teilgebieten des Ostfränkischen (SMF 7, 439–440, 486–489, Karte 134; SUF 3, 614–615, Karte 192), die inkorporierte Negation in Modalverbkomplexen in Teilen des Ostschwäbischen (SBS 9.2, Karte 391: ich habe dürfen nicht kommen) sowie Passivsätze mit erhaltenem Objekt (SMF 7, 442: Wenn die Schafe geschert worden ist). Die Einordnung dieser Varianten in einen grösseren Zusammenhang steht noch aus. In jedem Fall ist aber klar, dass es sowohl relativ kleinräumig auftretende syntaktische Varianten als auch grossräumig den gesamten Sprachraum gliedernde gibt. Im Hinblick auf die dialektale Gliederung des Gebiets sind dann zweifellos die grossräumigen Varianten von grösserer Bedeutung, hinsichtlich typologischer Gesichtspunkte kann aber das Auftreten von Rara von grösster Bedeutung sein. In diesem Kontext ist es dann ebenso bedeutsam festzustellen, welche Bereiche gerade nicht von Variation betroffen sind – zumindest soweit man die Kontaktvarietäten in Sprachinseln ausschliesst – wie die V2-Stellung im Hauptsatz, die prinzipielle Verbendstellung im Nebensatz, die pränominale Stellung der Adjektive, die Setzung von Subjektpronomina (ausser der 2. Person Singular) und Inversion bei Ja-nein-Fragesätzen. Trotz des Ergebnisses, dass hinsichtlich des Umfangs syntaktischer Areale keine Beschränkungen bestehen, scheint sich dennoch die Vermutung zu bestätigen, dass Syntax eher grossräumig strukturiert ist. Das ist in dem Sinne zu verstehen, dass es zwar kleinräumig auftretende syntaktische Varianten gibt, dass es aber praktisch nicht vorkommt, dass sich das Gesamtgebiet bezüglich einer Variable in viele kleinräumige Varianten aufteilen lässt, wie man das v. a. aus der Lexik kennt, aber manchmal auch im Bereich der Lautlehre beobachten kann, wenn man von den grossen Dichotomien Diphthongierung, Monophthongierung, Entrundung u. ä. absieht. Auch wenn hierzu v. a. wegen der fehlenden syntaktischen Untersuchungen noch kaum Beschreibungen vorhanden sind, lassen sich zumindest aus dialektometrischen Analysen im Bereich des Schweizerdeutschen einige

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Hypothesen ableiten. SCHERRER / STÖCKLE (2016) zeigen in ihrem Vergleich von Laut- und Wortkarten sowie morphologischen Karten aus dem SDS einerseits und syntaktischen Karten aus dem SADS andererseits mithilfe einer Clusteranalyse, dass syntaktische Areale in verschiedenen Punkten abweichen, vgl. dazu die Karten in Abbildung GLASER-2 im Farbabbildungsteil (= SCHERRER / STÖCKLE 2016, Fig. 3). Einerseits dominieren hier drei grosse Areale bildende Cluster in der Nordhälfte im Gegensatz zu mehreren kleineren v. a. in der Lexik und Phonologie, und andererseits gibt es einige substantielle Abweichungen darin, dass in der Syntax der Nordwesten um Basel kein eigenes Cluster bildet, während dies der Kanton Freiburg – im Gegensatz zur Laut- und Wortschatzeinteilung – syntaktisch tut. Die Analyse der Korrelation der Ebenen untereinander und mit der Gesamtheit der Daten zeigt ausserdem, dass die syntaktische Ebene die niedrigsten Korrelationen aufweist (SCHERRER / STÖCKLE 2016). Die syntaktischen Daten weisen auch die geringste innere Heterogenität im Gebiet nördlich der Alpen auf (SCHERRER / STÖCKLE 2016, 118). Die starken Abweichungen, die sich momentan zwischen den Ergebnissen vergleichbarer Korrelationsanalysen mit verschiedenen Dialektdaten (z. B. Niederländisch, Italienisch) erkennen lassen, mahnen hier allerdings zu einer vorsichtigen Interpretation der Daten, da möglicherweise weitere Faktoren eine Rolle spielen, die noch nicht genügend kontrolliert wurden. Die grossräumigere Organisation syntaktischer Variation dürfte aber auch für den gesamtdeutschen Zur konkreten Übereinstimmung einzelner dialektsyntaktischer Areale mit solchen der lautlichen, lexikalischen oder morphologischen Ebene, oder anders gesagt, zur Frage, inwiefern sich syntaktische Areale mit traditionellen Dialektlandschaften decken, ist in Ermangelung von Vorarbeiten nicht viel zu bemerken. Wie wir seit langem wissen, ist ein übereinstimmender Verlauf von Isoglossen ohnehin kaum je vorzufinden, insofern ist eine auffällige Übereinstimmung syntaktischer Isoglossen mit bestimmten lautlichen oder morphologischen Isoglossen nicht zu erwarten. Die oben erwähnten Nord-Süd-Distributionen liegen aber auch nicht völlig quer zur traditionellen Dialekteinteilung. Auch mit Blick auf das Schweizerdeutsche, wo sich ebenfalls die traditionelle West-Ost- und Nord-SüdEinteilung in der Syntax bestätigt hat (vgl. GLASER 2014), sind für die generelle Distribution syntaktischer Varianten keine Überraschungen zu erwarten. Die Untersuchung in der Schweiz hat aber gezeigt, dass es bei den kleinräumigeren Phänomenen Verteilungen gibt, die nicht mit sonst bekannten räumlichen Distributionen sprachlicher Merkmale übereinstimmen, wie etwa das oben als Rarum erwähnte expletive es beim impersonalen Passiv im südlichen Aargau und nördlichen Kanton Luzern (vgl. GLASER 2014, Karte 15). Möglicherweise würde aber ein intensiver Blick auf lautliche Variation abseits der bekannten Lautwandelerscheinungen ebenfalls solche auffälligen Verteilungen zutage fördern. Bezüglich der Verteilung kleinräumiger syntaktischer Varianten besteht zweifellos weiterer Forschungsbedarf. Bei einer anderen Beobachtung im Bereich syntaktischer Variation könnte es sich tatsächlich um ein Spezifikum handeln. Sieht man sich nämlich die Verbreitung syntaktischer Varianten etwas genauer an, so stellt man fest, dass es in vielen

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Fällen keine homogenen Räume sind, in denen die Varianten gelten. Das mag wohl mit daran schuld sein, dass man teilweise davon ausgegangen ist, dass sich für syntaktische Phänomene keine Isoglossen bestimmen lassen, und es sich um überall mehr oder weniger verbreitete Varianten handele. Da auch hierzu noch zu wenig Daten für den Gesamtraum des Deutschen vorhanden sind, stütze ich mich wiederum auf die Auswertung der schweizerdeutschen Daten. Hier konnten verschiedene Typen der Distribution von Varianten herausgearbeitet werden, wobei in den allermeisten Fällen gilt, dass es eine Zone gibt, in der zwei oder mehr Varianten gelten, wie etwa bei den von SEILER analysierten finalen Infinitivanschlüssen (2005) und Zweiverb-Clustern (2004). Auf der Basis der Infinitivanschlüsse hat SEILER (2005) das Modell der ‚schiefen Ebene‘ vorgeschlagen, nach dem die eine Variante nicht abrupt durch eine andere abgelöst wird, sondern kontinuierlich seltener wird, d. h. an den Einzelorten an Quantität verliert und an weniger Orten auftritt.26 Die dadurch definierte Variationszone kann von ganz unterschiedlichem Umfang sein. Sie kann sehr umfangreich sein, und das Gebiet, in dem nur eine Variante gilt, kann dann sehr klein sein, wie etwa beim Finalsatz Ich habe mich gerade hingesetzt, um zu lesen, wo die für zu-Variante nur am südlichen und südwestlichen Rand des Dialektgebietes allein gilt (vgl. GLASER 2014, Karte 11). Eine deutliche Übergangszone mit grossen Gebieten, in denen jeweils eine der beiden Varianten dominiert, lässt sich bei der Serialisierung der Verbalgruppe liegen lassen feststellen (vgl. GLASER 2014, Karte 7). In vielen Fällen ist aber das Gebiet, in dem nur eine Variante gilt, grossräumig und nur in einem kleinen Areal gibt es eine zweite Variante, die aber möglicherweise an keinem Ort allein oder auch nur mehrheitlich gilt, wie etwa das expletive es beim impersonalen Passiv, dem im Restgebiet die Struktur des Standarddeutschen gegenübersteht, bei der es positionell beschränkt ist (da wird *es gearbeitet).27 Es geht hier nicht darum, alle Konstellationen zu besprechen, sondern v. a. darum zu zeigen, dass in den schweizerdeutschen Daten Variationsräume für syntaktische Variation typisch sind, die, wie bei GLASER (2014) ausgeführt, in den meisten Fällen nicht Folgen aktuellen Sprachwandels darstellen, sondern langfristige stabile Variation aufweisen. Die Erhebungen zur hessischen Dialektsyntax scheinen das zu bestätigen (siehe SyHD). LESER (2012) hat am Beispiel der hessischen Spaltungskonstruktion herausgearbeitet, dass es neben den kontinuierlichen Übergängen, wie sie SEILER (2005) in den Blick genommen hat, auch noch das Szenario der gestuften Übergänge gibt, die sich durch relativ abrupte, deutliche Frequenzunterschiede der betroffenen Varianten charakterisieren lassen. Auch hier liegen jedenfalls Variationsräume vor. Es ist anzunehmen, dass mit dem Fortschreiten syntaxgeographischer Forschung weitere Differenzierungen erkennbar werden.

26 27

Die ‚schiefe Ebene‘ weist weitere Merkmale auf, die hier nicht zentral sind und daher nicht diskutiert werden können (vgl. dazu SEILER 2005, 332). Zu weiteren Beispielen der Variantendistribution vgl. GLASER (2014).

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5 SCHLUSSBEMERKUNG Im vorliegenden Beitrag wurde versucht, eine Zusammenschau der dialektsyntaktischen Forschungen der letzten beiden Jahrzehnte unter dem Gesichtspunkt einer Sprachgeographie der deutschen Dialekte vorzunehmen. Dabei konnte es nicht darum gehen, die zahlreichen Arbeiten zu würdigen oder sachlich einzubeziehen. Trotz der mittlerweile grossen Zahl an Einzelstudien und trotz der in einigen Dialektatlanten enthaltenen syntaktischen Karten ist im Moment eine wirkliche Antwort auf die im Titel gestellte Frage noch nicht möglich. In Anknüpfung an frühere Arbeiten habe ich allerdings Vorschläge für eine grundsätzliche Gliederung gemacht und festgehalten, wo Forschungsbedarf besteht. Zweifellos wird die Auswertung der Wenkersätze eine bedeutende Etappe im Entwurf einer Syntaxgeographie der deutschen Dialekte darstellen. Als nächsten Schritt zur Füllung der dennoch weiterhin bestehenden Lücken in unserem Wissen über die Distribution syntaktischer Varianten habe ich die Erstellung eines durch die anglistische Variationsforschung inspirierten Variantenkatalogs vorgeschlagen, an dem sich die weitere Forschung orientieren könnte. Angesichts der Heterogenität des Grossraums könnte eine systematische Erhebung meines Erachtens allerdings nur von einer Gruppe von Dialektexperten unternommen werden, die sich dann auch über eine sinnvolle Auswahl an zu untersuchenden Varianten verständigen müsste. Es liegen mittlerweile dafür genügend Hinweise auf ertragreiche Variationsbereiche und auch genügend methodische Expertise vor, um eine solche Aufgabe anzugehen. Neben dem Aspekt der dialektgeographischen Gliederung habe ich im letzten Abschnitt einige Fragen der Charakterisierung dialektsyntaktischer Räume, wie Umfang und innere Homogenität, angeschnitten und insbesondere mit Blick auf die bisherige Erforschung der Dialektsyntax der deutschen Schweiz beantwortet. Auch wenn weitere Forschungen dazu sicher im Einzelnen Korrekturen bringen werden, so scheint mir doch das Fazit möglich, dass es ein Charakteristikum der Distribution syntaktischer Varianten ist, dass die Geltungsräume spezifischer Varianten häufig gleichzeitig stabile Variationsräume darstellen. ABKÜRZUNGEN/ATLANTEN SADS = GLASER (Hg.) (i. V.); siehe auch GLASER / BART (2015) SBS 6 = KÖNIG (Hg.) (1998), SBS 9.2 = KÖNIG (Hg.) (2003) SMF 6 = MANG (2004), SMF 7 = HEYSE et al. (2007) SNIB 1 = EROMS et al. (2006), SNIB 5 = KOCH (2007) SOB 3 = MAIWALD (2008), SOB 4 = LAU (2008) SSA = STEGER / SCHUPP / GABRIEL (1994) SUF 3 = BAYER-WEGHAKE / SIMON / HERBST (2008) SyHD = FLEISCHER / LENZ / WEISS (Hg.) (2016) SynAlm = URL: ; Stand: 31.10.2017; siehe auch BRANDNER (2015) VALTS 5 = GABRIEL (2001–2006)

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REFLEXIONEN ZUM VARIATIONSLINGUISTISCHEN ERKLÄRUNGSBEGRIFF Simon Kasper / Christoph Purschke Peter Janich zugeeignet († 4. September 2016)

1 GEGENSTAND UND ZIELSETZUNG „Sprachwissenschaft ist Kultur- und Kognitionswissenschaft.“ (SCHMIDT / HERR2011, 13). Was auf den ersten Blick wie ein Gemeinplatz unseres wissenschaftlichen Selbstverständnisses als (Variations-)Linguisten anmutet, entpuppt sich im Verbund mit dem Erklärungsanspruch variationslinguistischer Theorien als handfestes Grundlagenproblem unserer Disziplin. In Bezug auf den Erklärungsanspruch ist nämlich zu fragen, welchen speziell wissenschaftlichen Kriterien eine variationslinguistische Erklärung entsprechen muss, um als erfolgreich zu gelten. Das Problem des Geltungsbereichs wissenschaftlicher Erklärungen ist keineswegs neu; es ist als Streit um einen Methodenmonismus gegenüber einem Methodendualismus oder, benannt nach einem Aspekt der Diskussion, als Erklären-Verstehen-Debatte Teil der Geistesgeschichte des späten 19. und des 20. Jahrhunderts. Die „Frontlinie“ verläuft grob gesprochen zwischen den im Eingangszitat genannten Disziplinen, folglich also quer durch die Variationslinguistik. Was in dieser Debatte zur Disposition gestanden hat – sie scheint erledigt, aber nicht geklärt –, ist nicht weniger als der Status der Wissenschaftlichkeit variationslinguistischer Erklärungen überhaupt. Die Debatte ist aktuell von höchster Relevanz. Lange Zeit haben sich Variationslinguisten weitgehend darauf beschränkt, über Systeme, Varianten, Variablen, Strukturen, Formen und Funktionen zu sprechen. Das ist heute, da nicht mehr nur Systeme verglichen werden, sondern die Rolle der Sprachnutzer.innen in der Einzelinteraktion für den Sprachwandel geklärt werden soll, nicht mehr der Fall (vgl. KEHREIN / LAMELI / RABANUS 2015, V). Die Variationslinguistik, die – in einem zunächst alltagssprachlichen Sinne – erklären möchte, welcher Zusammenhang zwischen dem individuellen Sprechen in der Einzelinteraktion (im Folgenden: Mikroebene) und dem überindividuellen Phänomen besteht, das wir beispielsweise als Dialekt, Varietät oder bloß Sprache bezeichnen (im Folgenden: Makroebene), begnügt sich nicht mehr mit traditionellen, meist strukturalistischen BegrifGEN

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Simon Kasper / Christoph Purschke

fen. In der Folge einer Perspektivenerweiterung1 in den letzten Jahrzehnten wird in der Disziplin mit ähnlicher Selbstverständlichkeit auch, d. h. zusätzlich, über Wahrnehmung, Wissen, Salienz, Pertinenz, Handlungen, Motive, Einstellungen, Identität usw. gesprochen.2 Zum einen lädt bereits der letztgenannte Umstand für sich betrachtet zu einer methodologischen Selbstvergewisserung der Disziplin ein, und zwar aus folgendem Grund: Das Resultat der variationslinguistischen Perspektivenerweiterung ist ein zwar vielfältiges Beschreibungsinstrumentarium, das derselben Rechnung tragen soll, aber auch ein solches, das aus Konzepten sehr verschiedener wissenschaftshistorischer und -theoretischer Herkunft zusammengesetzt ist. Dieses Beschreibungsinstrumentarium ist ein historisch gewachsenes Konglomerat an Begriffen verschiedener inner- und außerlinguistischer Forschungsparadigmen oder -programme. Es besteht hier somit die Gefahr, dass Begriffe verschiedener Provenienz hinsichtlich ihrer Hintergrundannahmen miteinander unverträglich sind. Ein Ziel des vorliegenden Aufsatzes ist es zu zeigen, dass diese Gefahr keine abstrakte ist: Mit variationslinguistischen Beschreibungen, die mit Begriffen verschiedener Herkunft operieren, geht die Einebnung bestimmter methodologisch relevanter Unterscheidungen einher, von denen diejenige zwischen Handeln und „bloßem“ Verhalten nur die wichtigste ist. Diese Einebnung läuft dem jeweiligen Erklärungsanspruch variationslinguistischer Theorien zuwider. Zum anderen halten wir es für angemessen, diesen wissenschaftstheoretischen Nachweis vor dem Hintergrund der eingangs erwähnten Debatte zu erbringen, denn obwohl der Methodenstreit sich ab einem bestimmten Zeitpunkt so aufgefächert hat, dass er nun nahezu unsichtbar ist, sind daraus doch einige, wenn nicht Lösungs-, so doch Klärungsversuche hervorgegangen, an die anzuschließen uns lohnenswert erscheint. Im folgenden Abschnitt werden wir die Erklärungsansprüche aktueller variationslinguistischer Theorien belegen und nachzuvollziehen versuchen. In Abschnitt 3 skizzieren wir die Rolle des Erklärungsbegriffs im oben genannten Methodenstreit und evaluieren die variationslinguistischen Theorien und ihre Erklärungsbegriffe in Bezug darauf. Dabei werden wir auf einige Probleme aufmerksam machen, die sich sowohl aus dem Methodenstreit als auch aus der Verfasstheit der Variationslinguistik ergeben. Diese Probleme machen es nötig, dass wir uns in Abschnitt 4 darüber verständigen, was die Variationslinguistik leisten will und kann. Da wir weder beanspruchen können noch wollen, für alle Variationslinguist.innen zu sprechen, werden wir einen Weg skizzieren, der uns gangbar erscheint. Von ihm machen wir abhängig, welche die nächsten Aufgabengebiete variationslinguistischer Forschung sein können und welchen Herausforderungen diese sich aus unserer Perspektive zu stellen hat. Wir würden uns wünschen, damit eine überfällige Diskussion in Gang zu setzen.

1 2

Vgl. z. B. die Arbeiten von GUMPERZ (1982). So zum Beispiel in den Theorien, die im Folgenden diskutiert werden.

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

187

2 DER ERKLÄRUNGSANSPRUCH VARIATIONSLINGUISTISCHER THEORIEBILDUNG Einschlägige Sprachwandeltheorien, seien es die Synchronisierungs- und Akkommodationstheorie oder evolutions- und systemtheoretische Entwürfe, behandeln den Zusammenhang zwischen Sprechen als individuellem, performanz- oder kompetenzbezogenem Phänomen auf der einen Seite und Sprache als kollektivem oder abstraktem Phänomen auf der anderen Seite. Sie unterscheiden sich dabei zwar hinsichtlich einiger Grundannahmen,3 letztlich aber vereint sie das Interesse an einer Erklärung der Beziehung zwischen der sprachlichen Mikro- und Makroebene und ihrem Zusammenhang mit Variation und Wandel. So ist es das Ziel der Sprachdynamikforschung, in der die Theorie der Synchronisierung zentral steht, (1a)

in exakter, intersubjektiv kontrollierbarer Weise die Veränderungsprozesse der sich ständig wandelnden komplexen Sprache zu e r k l ä r e n . (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 69; unsere Hervorhebung; siehe auch SCHMIDT / HERRGEN 2011, 15, 77, 83–87).

Die folgenden Setzungen im Umkreis des Synchronisierungsbegriffs liefern der Sprachdynamiktheorie das handlungstheoretische Rüstzeug, um Konstanz und Wandel in der Sprache zu „erklären“ (vgl. SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31). (1b) (1c)

(1d) (1e)

3

Unter Mikrosynchronisierung verstehen wir eine punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29) Eine […] Folge von gleichgerichteten Synchronisierungsakten, die Individuen in Situationen personellen Kontakts vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führt, nennen wir Mesosynchronisierung. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31) Unter Makrosynchronisierungen verstehen wir Synchronisierungsakte, mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32) Die Dynamik der einzelnen Interaktion ergibt sich im Wesentlichen aus der „Rückkopplung“ durch den Partner. […] Die jeweilige Art der Rückkopplung bewirkt eine Modifikation oder Stabilisierung der angewendeten Sprachproduktionsstrategie. […] Ob solche Modifikationen und Stabilisierungen temporär bleiben oder ob sie tiefer greifende kognitive Reflexe bewirken […], hängt von der Bewertung der Interaktion, des Interaktionspartners und der Interaktionssituation ab. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 26) Diese Grundannahmen bewegen sich in einem Spannungsfeld von Extrempositionen, die sich erstaunlich wenig von denen unterscheiden, die GIDDENS (1984) für die Sozialwissenschaften ausmacht, und die „functionalism (including systems theory) and structuralism on the one hand from hermeneutics and the other forms of ‘interpretive sociology’ on the other“ trennen (GIDDENS 1984, 1). Die beiden Denktraditionen, die hier großzügig in zwei Gruppen zusammengefasst werden, weisen dabei natürlich auch markante Unterschiede in ihren jeweiligen Annahmen auf. Was Erstere jedoch vereint, ist GIDDENS zufolge die Annahme der „preeminence of the social whole over its individual parts (i.e., its constituent actors, human subjects)“ (GIDDENS 1984, 1). Die Letztere ist in der Annahme geeint, dass Subjektivität das „preconstituted centre of the experience of culture and history“ (GIDDENS 1984, 1–2) sei und dass ihr demnach das Primat über die objektive Welt der Strukturen zustehe.

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Simon Kasper / Christoph Purschke

Ähnlich äußert sich TRUDGILL in Bezug auf die Akkommodationstheorie, wenn er feststellt, dass sie (2a)

focuses on speech, and discusses and attempts to e x p l a i n why speakers modify their language in the presence of others in the way and to the extent that they do. It also examines the effects and costs of this type of modification. (TRUDGILL 1986, 2; unsere Hervorhebung)

Zu diesen Effekten gehört der Sprachwandel auf der Makroebene. Die genannte Modifikation (oder Aufrechterhaltung, s. u.) der Sprechweise kann in Abhängigkeit von bestimmten Faktoren unterschiedliche Gestalten annehmen:

(2b)

Convergence is defined as a strategy through which individuals adapt their communicative behavior in such a way as to become more similar to their interlocutor’s behavior. Conversely, the strategy of divergence leads to an accentuation of differences between self and other. A strategy similar to divergence is maintenance, in which a person persists in his or her original style, regardless of the communication behavior of the interlocutor. Central in the theory is the idea that speakers adjust (or accommodate) their speech styles in order to create and maintain positive personal and social identities. (GALLOIS / OGAY / GILES 2005, 123; Hervorhebungen im Original)4

Da es sich bei Akkommodation höchstwahrscheinlich um „a universal characteristic of human behavior“ handele, betont TRUDGILL, dass „[t]hese processes of convergence and divergence [and maintenance; SK / CP] can clearly also take place at the grammatical and lexical levels“ (TRUDGILL 1986, 2). Als evolutionären Prozess beschreibt beispielsweise KELLER den Sprachwandel und fordert dabei: (3a)

Wenn man am Faktum des Sprachwandels interessiert ist und an dessen E r k l ä r u n g , so ist es angemessen, eine natürliche Sprache unter dem Aspekt zu betrachten, ein Phänomen der dritten Art zu sein. (KELLER 2003, 209; unsere Hervorhebung)

KELLER ist bekanntlich daran interessiert und behauptet weiter, (3b)

daß die E r k l ä r u n g mittels der unsichtbaren Hand der diesem Typus von Phänomenen einzig adäquate Erklärungsmodus sei. (KELLER 2003, 208; unsere Hervorhebung)

Eine solche Erklärung habe, „wie jede Erklärung“ (KELLER 2003, 101), die folgenden Bestandteile: (3c)

4

1. Formulierungen der Prämissen, der Antezedenzbedingungen; 2. Allgemeine Gesetze; 3. Beschreibung bzw. Benennung des zu erklärenden Phänomens.

TRUDGILL (1986, 2) bezieht sich bei der Charakterisierung von Konvergenz und Divergenz auf GILES (1973). Wir führen hier diejenige von GALLOIS / OGAY / GILES (2005) an, da sie auch maintenance aufzählt und handlungstheoretisch expliziter ist.

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

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1. und 2. zusammengenommen bilden das Explanans; 3. ist das Explanandum. Bei einem Phänomen der dritten Art kommt aufgrund der Antezedenzbedingungen, die [auch die für uns relevanten sprachlichen; SK / CP] Handlungen von Individuen enthalten, kraft allgemeiner Gesetze ein Prozeß in Gang, der sogenannte Invisible-hand-Prozeß, an dessen Ende das zu erklärende Phänomen steht. (KELLER 2003, 101)

(Intentionale) Handlungen von Individuen, also solche, die mit Sicht auf die Realisierung bestimmter Zwecke ausgeführt werden, sind dabei nicht verursacht im strengen Sinne. Doch die Ergebnisse dieser Handlungen (3d)

kumulieren unter bestimmten Bedingungen und lassen Strukturen entstehen, die nicht im Bereich der Finalität [= der bezweckten Folgen; SK / CP] der einzelnen Handlungen der Individuen liegen. Die Kumulation ist ein kausales Phänomen. (KELLER 2003, 113)

Strukturen, die nicht bezweckte Folgen von vielen individuellen Handlungen sind, werden auch spontane Ordnungen genannt. Sie konstituieren sich auf der bzw. als Makroebene. Die bisherigen Ausführungen KELLERS lassen sich evolutionstheoretisch „wenden“: Indem Sprachwandelprozesse „nicht im Bereich der Finalität“ (3d) liegen, kumulativ sind (3d) und Variation und Selektion („soziale“ und „linguistische Selektion“, KELLER 2003, 204–206) unterliegen, lassen sie sich als evolutionäre Prozesse begreifen. BÜLOW (2017) verbindet einen evolutionstheoretischen Zugang im Stile KELLERS und den Synchronisierungsansatz von SCHMIDT und HERRGEN mit einem systemtheoretischen Ansatz (im Sinne komplexer adaptiver Systeme) und expliziert den Anspruch des ersteren: (4a)

Dabei erheben evolutionstheoretische Ansätze den Anspruch, wenn auch nicht prognostisch, so doch e r k l ä r e n d für Wandelprozesse zu sein. Weiterhin versprechen evolutionstheoretische E r k l ä r u n g e n von Sprachwandel Erklärungen mit Hilfe allgemeinster Prinzipien des Wandels zu sein, die sowohl innersystemische Voraussetzungen als auch Umweltbedingungen mit einbeziehen. (BÜLOW 2017, 14; unsere Hervorhebungen)

Er konstatiert, dass in der Sprache lamarckistischer Wandel (vgl. BÜLOW 2017, 300–301) seinen Platz hat, aber betont vor allem, dass (4b)

und (4c)



[n]eben den allgemeinen Prinzipien Replikation, Variation und Selektion […] aber auch tiefergehende Isomorphismen zwischen biologischen Evolutionsprozessen und Sprachwandel für die Erklärung von Sprachwandel gewinnbringend [sind]. Ein wesentlicher Isomorphismus, der in dieser Arbeit herausgearbeitet wurde, besteht darin, dass Idiolekte die Individuen einer Population einer Spezies sind […]. (BÜLOW 2017, 299)

dass sich die sprachliche Struktur in Folge sprachlicher Interaktion an die kognitiven Verarbeitungsmechanismen anpasst […]. (BÜLOW 2017, 300)

190

Simon Kasper / Christoph Purschke

Während sprachliche Strukturen also den Phänotyp darstellen, entsprechen „neuronale Repräsentationen“ (BÜLOW 2017, 300) dem Genotyp. Diese Repräsentationen werden dynamisch im Sinne komplexer adaptiver Systeme gedacht und entsprechen wiederum dem individuellen Sprachwissen. In Bezug auf komplexe adaptive Systeme gilt, dass sie (4d)

durch die Interaktion mit der Umwelt über ein dynamisches und anpassungsfähiges Modell (Theorie) ihrer Umwelt [verfügen]. Dieses Modell hat eine neuronale Basis und operiert nur teilweise auf der Bewusstseinsebene. Letztlich sind es in Bezug auf die Individuen die Neuronen und neuronalen Netzwerke, die lernen […]. (BÜLOW 2017, 173)

An dieser Stelle greift die Synchronisierungstheorie. Lernen (und damit die Stabilisierung oder Modifikation von Sprachwissen) wird also nicht durch menschliches Handeln gesteuert, sondern (4e)



(4f)

[a]s far as the internal organisation of a CAS [complex adaptive system; LB] is concerned, it is assumed that the ‘learning behaviour’ which such a system displays on the macro-level is not governed by a central agent (such as the ‘self’ in the case of human cognitive development and learning, or ‘God’ in the case of life on earth) but emerges in complex ways from massively parallel activities and the interactions of many simpler constituents, or agents (neurons in learning, or genes in biological evolution) (RITT, zit. in BÜLOW 2017, 173).5 Der Selektionsprozess der sprachstrukturellen Varianten erfolgt auf der Grundlage der aktuellen Strukturbedingungen in folgendem Spannungsdreieck: – nach innersystemischen Zusammenhängen (das Verhältnis der sprachlichen Subsysteme zueinander), – nach Faktoren der kognitionspsychologischen Sprachverarbeitung und – nach Faktoren des sozialen Erfolgs. (BÜLOW 2017, 301)

In Punkt (c) (wie in dem gesamten evolutionstheoretischen Ansinnen, d. h. der Anwendung von Replikation, Mutation und Selektion) schließt sich BÜLOW KELLER an, der in seinem o. g. Ansatz bei den Selektionsmechanismen auf GRICE’ Maximen zurückgreift und die Hypermaxime formuliert: (4g)

Rede so, daß Du sozial erfolgreich bist. (KELLER 2003, 142)

In Anbetracht dieser expliziten Erklärungsansprüche ist es nun umso erstaunlicher, dass die Erklärungsbegriffe dabei – KELLER und BÜLOW, der ihm folgt, sind Ausnahmen – kaum reflektiert werden, und das, obwohl es einen langen und umfangreichen wissenschaftshistorischen Methodenstreit gegeben hat, in dessen Rahmen u. a. der Erklärungsbegriff für die sog. „Geistes-“ und „Naturwissenschaften“ diskutiert worden ist, der aber unseres Wissens zu keiner abschließenden Klärung geführt hat. So bleibt im Zusammenhang der Sprachdynamiktheorie, der Akkommodationstheorie, der evolutionstheoretischen und der systemtheoreti5

BÜLOW weist hier auf die Nähe dieser Position zum Eliminativen Materialismus hin.

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

191

schen Herangehensweise unklar, was eine variationslinguistische Erklärung leisten muss, d. h. welche Kriterien eine Erklärung als erfolgreich erweisen. 3 ZUM STATUS VARIATIONSLINGUISTISCHER ERKLÄRUNGEN Im Folgenden werden wir versuchen, die obigen Erklärungsansprüche variationslinguistischer Erklärungen vor dem Hintergrund des Methodenstreits zu kontextualisieren. Zunächst werden wir die Position eines Methodenmonismus kurz skizzieren und überprüfen, ob die genannten variationslinguistischen Erklärungen dieser Position entsprechen können. Im darauf folgenden Teilabschnitt werden wir Grenzen des Methodenmonismus skizzieren und die Implikationen für variationslinguistische Erklärungsansprüche herausarbeiten.6 3.1 Methodenmonismus als Norm variationslinguistischer Erklärungen? Vertreter des Methodenmonismus gehen davon aus, dass sowohl die Kultur- als auch die Naturwissenschaften in ihrer Erkenntnismethode nomothetisch verfahren müssen, um ihre Erklärungen als wissenschaftlich zu qualifizieren. Der vielleicht einflussreichste Vertreter dieser Position war CARL GUSTAV HEMPEL, der sein deduktiv-nomologisches (und in späterer Ausarbeitung sein induktiv-statistisches) Modell für die „physical sciences“ (HEMPEL 1942, 35) auch als notwendige Erklärungsform für „history“ (oder „any other branch of empirical science“, HEMPEL 1942, 39) propagierte. Darunter fällt natürlich auch die Variationslinguistik. Nach HEMPEL (1942, 36) besteht die (einzige, oder e c h t ) wissenschaftliche Erklärung eines Ereignisses E (für effect) aus (5)

6

(1) a set of statements asserting the occurrence of certain events C1, … Cn [für „cause“; SK / CP] at certain times and places, (2) a set of universal hypotheses, such that (a) the statements of both groups are reasonably well confirmed by empirical evidence,

Die Ausführungen zum fragmentierten und facettenreichen Methodenstreit müssen dabei notwendigerweise kursorisch ausfallen. Eine erschöpfende Zusammenfassung dieser Debatte, die vielleicht als erledigt, aber nicht als geklärt bezeichnet werden kann, soll hier nicht gegeben werden; dergleichen würde vielmehr eines eigenen Forschungsprojekts bedürfen, da sie die Wissenschaftstheorie als Ganze betrifft. Wichtige Beteiligte an der genannten Debatte waren (neben vielen anderen) HANS ALBERT, KARL-OTTO APEL, WILLIAM DRAY, HANS-GEORG GADAMER, JÜRGEN HABERMAS, CARL GUSTAV HEMPEL, KARL POPPER, WOLFGANG STEGMÜLLER und GEORG HENRIK VON WRIGHT. Heute ist die Debatte zum einen in vielen kaum überschaubaren Einzeldiskussionen aufgegangen; zum anderen scheint uns der Methodenmonismus als faktischer Sieger aus der Debatte hervorgegangen zu sein, zum Teil begünstigt durch die Anwendung von Evolutionstheorien auf weitere, oft kultürliche Phänomenbereiche und die öffentliche Wirksamkeit evolutionstheoretischer, neuro- und biowissenschaftlicher E r k l ä r u n g e n für lebensweltliche Zusammenhänge.

192

Simon Kasper / Christoph Purschke (b) from the two groups of statements the sentence asserting the occurrence of event E can be logically deduced.7

Der Ausdruck „universal hypotheses“ in (5-2) kann dabei auch durch „general laws“ (bzw. „probability hypotheses“) ersetzt werden (vgl. HEMPEL 1942, 35 bzw. 41). Die Aussagen in (5-1) können auch als Antezedensbedingungen bezeichnet werden. Bei der obigen Erklärungsform ist dreierlei zu beachten: (i) Die Symbole C und E stehen für Ereignist y p e n , nicht für individuelle Ereignisse. (ii) Die Konklusion (d. h. die Aussage über das Auftreten von E) folgt l o g i s c h aus der Form von Aussagen („statements“, „hypotheses“, „sentence“), d. h. aus der logischbegrifflichen Form der Prämissen (5-1) und (5-2) sowie der Konklusion. (iii) Die allgemeinen Gesetze enthalten keine physikalischen Kausalannahmen, sondern Kovariationsverhältnisse der Form „Immer wenn A(x), dann B(x)“. HEMPEL (1942, 36) illustriert das Funktionieren des Schemas an folgendem Beispiel: Let the event to be explained consist in the cracking of an automobile radiator during a cold night. The sentences of group (1) may state the following initial and boundary conditions: The car was left in the street all night. Its radiator, which consists of iron, was completely filled with water, and the lid was screwed on tightly. The temperature during the night dropped from 39° F[ahrenheit; SK / CP]. in the evening to 25° F. in the morning; the air pressure was normal. The bursting pressure of the radiator material is so and so much. – Group (2) would contain empirical laws such as the following: Below 32° F., under normal atmospheric pressure, water freezes. Below 39.2° F., the pressure of a mass of water increases with decreasing temperature, if the volume remains constant or decreases; when the water freezes, the pressure again increases. Finally, this group would have to include a quantitative law concerning the change of pressure of water as a function of its temperature and volume. From statements of these two kinds, the conclusion that the radiator cracked during the night can be deduced by logical reasoning; an explanation of the considered event has been established.

Indem er das obige Schema auf zukünftige Ereignisse anwendet, leitet HEMPEL auch den Begriff der Prädiktion ab. Dabei wird eine Aussage über ein zukünftiges Ereignis E (z. B. das Platzen des Kühlers) aus bekannten Aussagen im Sinne von (5-1) und geeigneten allgemeinen Gesetzen (5-2) deduziert. Nun ist es HEMPEL zufolge so, dass historiographische (oder für unsere Belange etwa den Sprachwandel betreffende) Erklärungen oft unvollständig sind, weil – wie auch oft im Alltag – das allgemeine Gesetz (oder die probabilistische Hypothese) in dem Argument ausgelassen wird (z. B. Er ist stehen geblieben [= E], weil die Ampel rot war [= (5-1)]). Dies geschehe, obwohl das allgemeine Gesetz – anders als im Alltag – keineswegs immer als bekannt vorausgesetzt werden kann (z. B. Menschen bleiben vor roten Ampeln stehen [= (5-2)]). 7

Vergleicht man HEMPELS Darstellung mit derjenigen KELLERS (siehe Abschnitt 2), ist leicht zu erkennen, dass Letzterer sich wissenschaftstheoretisch stark an Ideen von Ersterem orientiert hat. Allerdings verzichtet KELLER nicht auf empirisch basierte Verursachungsrelationen, d. h. er beschränkt sich nicht auf logisch-begriffliche Zusammenhänge. Diese Kausalrelationen vermitteln bei KELLER die Mikro- mit der Makroebene. Diese hat HEMPEL bei der Formulierung von (5) nicht im Blick gehabt.

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

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Ein vorstellbares linguistisches Beispiel wäre: Die attributive von-Phrase (z. B. der Hut vom Vater) ist im Deutschen entstanden, weil Sprachbenutzer in einer linearen Sequenz {V} (…) NP PPvon (…) {V} die eigentlich vom Verb abhängige PPvon in geeigneten Kontexten als auf die NP bezogen reanalysiert haben (Sus sprach der künec von Brandigân, Parzival, 215, 15). Für HEMPEL stellt dies bestenfalls einen „explanation sketch“ (HEMPEL 1942, 42) dar, aber auch nur dann, wenn darauf hingewiesen wird, wie das ausgelassene allgemeine Gesetz gefunden („to be found“) werden kann. Andernfalls handele es sich um eine bloße Pseudoerklärung, da die Aussage des zu erklärenden Ereignisses nicht aus den Prämissen folgt und nicht bekannt ist, wie die Prämissen (genauer: Gesetzesaussagen) aussehen müssten, damit die Konklusion gültig ist. Die „physical sciences“ dienen HEMPEL somit als Modell und als Maßstab an Wissenschaftlichkeit, an dem sich auch die Geschichts- und andere empirische Wissenschaften messen lassen müssen. Den methodologischen „Druck“ auf die letztgenannten Wissenschaften erzeugt er argumentativ, indem er nachzuweisen versucht, dass sie – im möglichen Gegensatz zu Selbstbekundungen ihrer Vertreter – in ihren „explanations, predictions, interpretations, judgments of relevance, etc.“ (HEMPEL 1942, 47) mindestens implizit ebenfalls Gebrauch von allgemeinen Gesetzen machen. Dass die gängigen variationslinguistischen Theorien vom Erklärungsbegriff Gebrauch machen, wurde in den einschlägigen Zitaten in (1a)–(4a) bereits gezeigt. Lassen sich diese Erklärungen in die Form des deduktiv-nomologischen Modells in (5) bringen? Aus Platzgründen können wir dies hier nicht im Einzelnen nachweisen. Für die Synchronisierungs- und Akkommodationstheorie scheint es aber möglich zu sein. Gehen wir vereinfachend, aber salva veritate davon aus, dass eine Makrostruktur (z. B. die beobachtete Stabilität der wat/was-Grenze zwischen dem Mosel- und Rheinfränkischen; SCHMIDT / HERRGEN 2011, 167–174) als E gemäß (5) zu erklären ist. Was wir für die Erklärung benötigen, ist zum einen ein „set of statements asserting the occurrence of certain events C1, … Cn at certain times and places“ (HEMPEL 1942, 36). Darunter fallen die Aussagen, dass Sprecher der beiden Varietäten tatsächlich in zahlreichen sprachlichen Interaktionen aufeinandertreffen (s. [1b]) und Aussagen zum Zustand der Strukturgrenze in der Vergangenheit. Zum anderen benötigen wir ein Set an allgemeinen Gesetzen (oder Wahrscheinlichkeitshypothesen). Dazu – und dies ist in (1e) nur angedeutet – zählen „allgemeine Gesetze“ zum Zusammenhang von Bewertungen der Interaktionssituation und der sprachlichen Varianten durch die Sprecher auf der einen Seite und die Auswirkungen dieser Bewertungen auf die Modifizierung oder Stabilisierung der beteiligten Sprecherkompetenzen auf der anderen Seite (zur Explikation dieses Zusammenhangs vgl. PURSCHKE 2011; 2014a; 2014b; 2014c; 2015). Damit aus den Einzelinteraktionen und den darin vorgenommen Bewertungen sowie ihren Effekten auf die Kompetenz der Beteiligten aber die Makrostruktur der stabilen Grenze zwischen den Varietäten erklärt werden kann, fehlt aber noch ein weiteres allgemeines Gesetz. Es verbirgt sich im Begriff der Gleichgerichtetheit in den Definitionen der Meso- bzw. Makrosynchronisierung (siehe [1c]) und [1d]) und

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Simon Kasper / Christoph Purschke

könnte etwa so formuliert werden: „Immer wenn Sprechergruppen gleichgerichtete Mikrosynchronisierungen vornehmen, konstituiert sich eine Makrostruktur.“ (Dahinter verbirgt sich die gleiche Art eines kausalen Kumulationsprozesses wie bei KELLER.) Aus den Formulierungen zur Akkommodationstheorie geht hervor, dass Akkommodationen in ihren Ausprägungen das Erklärungsbedürftige sind (s. [2a]) und dass Menschen, wenn sie (sprachlich) miteinander interagieren, versuchen „to create and maintain positive personal and social identities“ (GALLOIS / OGAY / GILES 2005, 123; siehe [2b]). Allgemeinen Gesetzen kämen also generelle Aussagen zum Zusammenhang zwischen („creation“ und „maintenance“ von) Identität und Akkommodationsergebnissen am nächsten. Komplizierter gestaltet sich die Frage, ob evolutionstheoretische „Erklärungen“ prinzipiell dem Typus in (5) entsprechen können. Wir werden uns daher auf den Versuch beschränken, dies zunächst im Zusammenhang mit KELLERS Ansatz zu beantworten (vgl. aber ILLIES 2010). Wir verstehen KELLER so, dass „die“ Evolutionstheorie bzw. diejenige, auf die er sich stützt, selbst keinen spezifischen Erklärungstyp impliziert, dass aber der deduktiv-nomologische Typ – bei KELLER durch den kumulativen Charakter von Handlungsergebnissen [s. 3d]) zur Invisible hand-Erklärung erweitert (s. [3c]) – im evolutionstheoretischen Rahmen angewendet werden kann. In diesem Fall „läuft“ die Erklärung über ein(e Art) allgemeines Gesetz, in dem das Zutreffen des Immer wenn-Glieds in (5-2) invariabel mit dem Zutreffen einer Selektionsaussage im dann-Glied verbunden ist (zur Rolle der Selektion vgl. KELLER 2003, 196–206), wie in KELLERS Beispiel des Galanteriespiels. KELLER liefert dabei eine Erklärung für die Beobachtung, dass „Ausdrücke, die dazu dienen, auf Frauen zu referieren, immer wieder der Pejorisierung [unterliegen]“ (KELLER 2003, 107). Dies sei auf ein Galanterieverhalten (präziser: -handeln) zurückzuführen, das der Maxime „praise her“ folge (KELLER 2003, 108). Man wähle „Frauen gegenüber oder beim Reden über Frauen Ausdrücke […], die eher einer höheren Stil- oder Sozialebene angehören als einer niedrigeren“. Nun kommt dadurch ein kausaler Prozess zustande: „Das führt mit der Zeit dazu, daß immer tendenziell das ‚nächsthöhere‘ Wort zum unmarkierten Normalausdruck wird, während das ehedem normale pejorisiert wird.“ (KELLER 2003, 108). Dies ist leicht in die Gesetzesform nach dem Schema „Immer wenn… (bzw. „Meistens wenn“), dann…“ zu überführen. 3.2 Allgemeine Gesetze menschlichen Handelns? D i e Position der Kritiker des Methodenmonismus gibt es nicht. Am ehesten ist er durch die Zurückweisung der a l l e i n i g e n Relevanz deduktiv-nomologischer (und induktiv-statistischer) Erklärungen für bestimmte Teilbereiche der sog. Kulturwissenschaften auf einen Nenner zu bringen. Das für unsere Belange wichtigste Argument gegen die alleinige Relevanz von Erklärungen, die allgemeine Gesetze enthalten, ist dasjenige, das die Möglichkeit zur Formulierung solcher Gesetze für

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Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

menschliche Handlungen in Abrede stellt (vgl. den Überblick in SALMON 1989).8 Handlungen beinhalten immer als Mittel die Relation zu einem Zweck, sie können gelingen oder misslingen und erfolgreich oder erfolglos hinsichtlich des Zwecks sein. Eine Handlung bringt ein (für die Identität der Handlung notwendiges) Ergebnis hervor – wie das Offensein eines Fensters nach der Handlung des Öffnens), aber auch kontingente Handlungsfolgen, die meistens mit dem Zweck korrespondieren – wie das Einströmen frischer Luft –, und kontingenten unbeabsichtigten Nebenfolgen – wie das Erkalten des Raums. Handlungen können zudem unterlassen werden. All dies unterscheidet sie von bloßem Verhalten, das uns widerfährt, für das wir also „nichts können“ und das auch nicht unterlassen werden kann (vgl. HARTMANN 1996; JANICH 2001; 2014; SCHÜTZ / LUCKMANN 2003). Die primäre Autorität, die darüber entscheidet, ob es sich bei einer Aktivität um eine Handlung handelt oder nicht, ist die erste Person (vgl. JANICH 2014; SCHÜTZ / LUCKMANN 2003).

Abb. 1: Struktur eines Handlungsschemas



Demnach lässt sich menschliches Handeln nicht durch Verlaufsgesetze fassen: Bezüglich Handeln (gegenüber b l o ß e m Verhalten) sind Aussagen der Form „Immer wenn A(x), dann B(x)“ nie ausnahmslos, also zu stark (vgl. DRAY 1957; HARTMANN 1993). Auch die Anwendung der induktiv-statistischen Form bleibt zuletzt ungeklärt: In wieviel Prozent der Fälle, in denen A(x) der Fall ist, muss B(x) zutreffen, damit ein Ereignis als erklärt im Sinne von (5) gelten kann (vgl. SCHURZ 2004; für weitere Argumente vgl. HABERMAS 1973)? Ob diese Kritik einschlägig ist, hängt nun davon ab, an welcher Stelle in der deduktiv-nomologischen Erklärung (5) Aussagen über menschliches Handeln auftreten, in den Antezedensbedingungen oder in einem oder mehreren allgemeinen Gesetzen. In KELLERS Galanteriebeispiel tauchen diese Aussagen als Antezedensbedingungen auf: Sprachnutzer handelten nach der Maxime „praise her“ (Antezedensbedingung). Sprachnutzer wählten Ausdrücke für Frauen, die einer (zu) ho8

Das gilt unter anderem für Zusammenhänge zwischen Handlungen und anderen Handlungen, zwischen Dispositionen und der Aktualisierung von Handlungen und zwischen Annahmen/ Motiven und der Aktualisierung von Handlungen.

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hen Stilebene angehörten (Antezedensbedingung). Der kausale Prozess kam kraft des allgemeinen Pejorisierungsgesetzes zustande, das keine Aussagen über Gründe oder Zwecke des Handelns von Sprachnutzern mehr enthält, sondern die Folge gleichgerichteter Nebenfolgen von Handlungen beschreibt und damit die Mikroebene individueller Handlungen mit der Makroebene der „Sprache“ verbindet. Diese Erklärung ist damit unberührt von der obigen Argumentation und sie ist ferner wahr, f a l l s die Antezedensbedingungen wahr sind und das allgemeine Gesetz wahr ist. Allerdings beschränken sich Methodenmonisten faktisch nicht darauf, Aussagen über menschliches Handeln nur in den Antezendensbedingungen zu formulieren. HEMPEL selbst überträgt (5) auf die Erklärung rationalen Handelns: Ein Handelnder A befand sich in einer Situation des Typs C (Antezedensbedingung). A war zu rationalem Handeln disponiert (Antezedensbedingung). Immer wenn eine Person in Situationen des Typs C zu rationalem Handeln disponiert ist, wird sie (mit hoher Wahrscheinlichkeit) X tun (allgemeines Gesetz). Also tut A X (Konklusion) (vgl. HEMPEL 1962, 27; zur Kritik an diesem Argument vgl. SCHURZ 2004). Auch KELLER beschränkt sich bei der Formulierung allgemeiner Gesetze nicht auf „bloß“ kausale Relationen der Art, wie er sie im Galanteriebeispiel nennt, d. h. er formuliert allgemeine Gesetze über menschliches Handeln. In seiner Rekonstruktion einer Erklärung von LASS (1980) nennt er folgendes „Gesetz“: „Natürlicherweise wählen Menschen unter den sich ihnen bietenden Handlungsalternativen diejenige aus, die den höchsten subjektiven Nettonutzen verspricht.“ (KELLER 2003, 163). In HEMPELS und KELLERS Aussagen weisen schon die Einschränkungen „mit hoher Wahrscheinlichkeit“ und „natürlicherweise“ auf die Nichtausnahmslosigkeit der jeweiligen „Gesetzes“aussage hin, die sich somit nicht als Gesetz im strengen Sinne verstehen lässt, sondern als so etwas wie eine Normalfallaussage.9 Im Gegensatz zu „echten“ allgemeinen Gesetzen ist diese nicht nur nicht ausnahmslos wahr, sondern auch nicht falsifizierbar, da ihre Geltung Gegenbeispielen nicht preisgegeben wird (vgl. ALBERT 1957; DRAY 1957, 131–137). KELLER bezeichnet das Argument, das er aus LASS’ Ausführungen konstruiert, dennoch als Invisible-hand-Erklärung, das zumindest einen Trend erkläre (vgl. KELLER 2003, 164), weil die Konklusion keine Allaussage mehr enthalten kann. Im vorangegangenen Abschnitt haben wir angedeutet, wie synchronisierungsund akkommodationstheoretische Erklärungen in die Form von (5) gebracht werden k ö n n e n . Um dies zu tun, haben wir bezüglich der Synchronisierungstheorie zwei mögliche „allgemeine Gesetze“ identifiziert und eines davon betrifft den Zusammenhang von Bewertungen von sprachlichen Interaktionen und ihren Effekten auf die Kompetenz von Sprechern. Im Falle der Akkommodationstheorie würden „allgemeine Gesetze“ den Zusammenhang zwischen Akkommodationsaktivitäten und Identitätserwägungen herstellen. Wir meinen, dass in beiden Theo9

Überdies verpflichtet sich KELLER hier Grundannahmen der Rational Choice-Theorie. Zur Kritik an solchen Ansätzen vgl. ETZRODT (2003, 54–58, 152–155).

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

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rien solche „Immer wenn A(x), dann B(x)“-Aussagen unmöglich immer zutreffen können und dass sie maximal als Normalfallaussagen akzeptabel sein können („Wenn A[x], dann normalerweise B[x].“). Wo nämlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass sich hinter A(x) zweckrationale Handlungen verbergen und demnach das Zutreffen von B(x) im Handlungsspielraum von Personen nur e i n e Alternative darstellt, können die Aussagen keine „echten“ Gesetze darstellen. Als Zwischenfazit können wir festhalten: Variationslinguistische Theorien haben explizite Erklärungsansprüche. HEMPEL hat die sogenannten Kulturwissenschaften vor die Herausforderung eines Erklärungsbegriffs gestellt, der an allgemeine Gesetzesaussagen gebunden ist. Gesetzesaussagen sind für menschliche Handlungen nicht möglich, sondern allenfalls Normalfallaussagen. Variationslinguistische Erklärungen im Sinne von (5) sind möglich, wenn Aussagen über menschliche Handlungen in den Antezedensbedingungen vorkommen, aber nicht, wenn sie die Rolle allgemeiner Gesetze einnehmen. W e n n man die methodenmonistische Position akzeptiert, dann können lediglich (manche, siehe oben) „Erklärungen“ im Stile RUDI KELLERS als wissenschaftliche Erklärungen gelten; die anderen variationslinguistischen „Erklärungen“ wären bestenfalls Erklärungsskizzen, nämlich wenn sie die allgemeinen Gesetze implizit lassen (wie im Falle der Synchronisierungs- und Akkommodationstheorien) oder aber Pseudoerklärungen: sowohl dann, wenn sie Gesetzesaussagen über menschliche Handlungen tätigen (unmöglich), als auch dann, wenn sie Gesetzesaussagen durch Normalfallaussagen ersetzen (aus der keine Erklärung mit Allaussage gefolgert werden kann). 4 ZU DEN MÖGLICHKEITEN VARIATIONSLINGUISTISCHER FORSCHUNG Wenn man geneigt ist, könnte man die Diskussion hier einfach abbrechen, indem man den Erklärungsbegriff in (5) bzw. (3b)–(3d) in seiner Geltung (und unter Angabe von Gründen) nicht anerkennt und einen anderen ansetzt, der die variationslinguistischen Erklärungsversuche subsumiert. Die Variationslinguistik ist einen solchen Erklärungsbegriff aber bisher schuldig geblieben. Auch dort, wo sie Modelle überprüft, validiert oder falsifiziert, bleibt sie die Antworten darauf schuldig, wie die Modelle mit ihren Abstraktionen und Idealisierungen sich zu den Beobachtungen verhalten, auf deren Basis sie konstruiert worden sind. Wir möchten stattdessen die obige Diagnose aufnehmen und daraus Konsequenzen ziehen, die sich unseres Erachtens auch für die Vertreter der Variationslinguistik als nützlich erweisen können, die den deduktiv-nomologischen Erklärungsbegriff ablehnen. Wir halten es an dieser Stelle für relevant, auf die wissenschaftlichen Leistungen hinzuweisen, die der Formulierung einer Erklärung der Form in (5) bzw. (3b)– (3d) v o r a n g e h e n müssen. Zu diesem Zweck folgen im ersten Teilabschnitt einige Reflexionen zur Typik des Erklärens spezifisch lebensweltlicher Phänomene wie dem Sprechen. Vor dem Hintergrund der obigen Diagnose und den nachfolgenden Reflexionen schlagen wir der Variationslinguistik in den weiteren Teilab-

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Simon Kasper / Christoph Purschke

schnitten dieses Abschnitts ein spezifisches Aufgabenfeld vor und diskutieren die damit verbundenen Herausforderungen. 4.1 Zur Typik des Erklärens lebensweltlicher Phänomene im Kontext wissenschaftlicher Aktivitäten Wissenschaftliches Erklären steht natürlich nicht unabhängig von anderen Aktivitäten, die Teil der Praxis wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Lebenswelt sind. Jede dieser Aktivitäten, die nachfolgend in Bezug auf ihren Zusammenhang mit dem Erklären problematisiert werden soll, lässt sich dabei in doppelter Weise charakterisieren: inhärent durch für diese Aktivität spezifische, häufig implizite (bzw. nicht explizierte) Voraussetzungen sowie typologisch hinsichtlich ihres Verhältnisses zu den anderen Arten wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit lebensweltlichen Phänomenen. Zudem lassen sich diese auf die Lebenswelt zielenden wissenschaftlichen Aktivitäten in eine methodische Reihenfolge bringen, wobei jeder methodische Schritt mit einem bestimmten Grad an Abstraktion und Idealisierung in Bezug auf das jeweilige Phänomen einhergeht. Damit ist in erster Linie die fortschreitende Homogenisierung und Umfangsbegrenzung des behandelten Gegenstandes im Spannungsverhältnis seiner phänomenalen Komplexität in der Lebenswelt sowie seiner komplexitätsreduzierenden Einpassung in die entsprechende wissenschaftliche Tätigkeit gemeint. Es soll aus der folgenden methodischen Reihung der Aktivitäten keine Hierarchie des Werts wissenschaftlicher Tätigkeiten abgeleitet werden. Dennoch lässt sich zu Zwecken der Analyse annehmen, dass auf Erklären als wissenschaftliche Aktivität im Sinne einer implikativen Reihung auch alle Voraussetzungen zutreffen müssen, die zuvor für die anderen Aktivitäten anzusetzen sind. Aus unserer Sicht lassen sich hierbei die folgenden wissenschaftlichen Handlungstypen unterscheiden, für die natürlich kein Anspruch auf Vollständigkeit erhoben wird: – Beobachten von Phänomenen in der Lebenswelt; – Beschreiben von Beobachtungen mit Hilfe symbolischer Ordnungen (Termini, Kategorien); – Ableiten von Strukturen (Regeln, Prozesse) aus Beschreibungen; – Verstehen/Deuten von Strukturen (sowie den darin enthaltenen Phänomenen) mit Hilfe von Modellen (Systemen, Theorien); – Erklären von Modellen (sowie den darin enthaltenen Phänomenen und Strukturen) in Aussagen. Genau genommen lässt sich diese Reihung sogar umkehren, etwa in Teildisziplinen der Linguistik, deren Tätigkeit maßgeblich von theoretischen Setzungen ausgeht und diese erst in einem zweiten Schritt auf in der Lebenswelt vorfindliche Phänomene überträgt. Da aber die Variationslinguistik erklärtermaßen eine empirische Wissenschaft ist (vgl. die Zitate in Abschnitt 2), können wir für das Vorlie-

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

199

gende davon ausgehen, dass die Reihung für diese weitgehend zutreffend sein sollte. Demnach gilt für wissenschaftliches Erklären, dass es in Bezug auf seinen (wissenschaftstheoretischen wie -praktischen) Geltungsanspruch einer Reihe von Voraussetzungen unterliegt, die für die anderen Aktivitäten gelten, auf die Erklärungen für lebensweltliche Phänomene in einer empirischen Wissenschaft aufbauen müssen. Diese Abhängigkeiten werden in der Variationslinguistik selten, die darin enthaltenen Voraussetzungen so gut wie nie thematisiert. Für die Aktivität des Beobachtens von Phänomenen in der Lebenswelt als Akt der zielgerichteten, aufmerksamen Wahrnehmung gilt dabei zunächst, dass es – neben vielen erkenntnistheoretischen Implikationen, die hier nicht vertieft werden können10 – im Kontext wissenschaftlicher Aktivitäten (mindestens) den Bedingungen der Perspektivierung und Involviertheit unterliegt. So ist es nicht möglich, ein Phänomen in der Lebenswelt zu beobachten, ohne dass diesem Akt des aufmerksamkeitsgeleiteten Wahrnehmens nicht bereits ein Tun, also die (willentliche oder verursachte) Konzentration auf einen spezifischen Ausschnitt der Wirklichkeit, eingeschrieben wäre: „Nicht das bloße Betrachten, sondern das Tun bildet vielmehr den Mittelpunkt, von dem für den Menschen die geistige Organisation der Wirklichkeit ihren Ausgang nimmt“ (CASSIRER 2010 [1923–29], II, 187). Folgt man dieser Setzung, die CASSIRER in seiner „Philosophie der symbolischen Formen“ entfaltet,11 so ist demnach die zielgerichtete (ggf. von technischen Hilfsmitteln unterstützte) Aktivität des Beobachtens zwangsläufig eine (zunächst nur) subjektive Perspektivierung eines definierten Phänomenbereichs in der Lebenswelt vor dem Hintergrund eines spezifischen Erkenntnisinteresses.12 Damit einher geht, dass sich der Beobachter – auch wenn CASSIRER selbst an manchen Stellen seiner Argumentation den Eindruck erweckt – nicht unabhängig von seinem Beobachtungsgegenstand stellen kann, vor allem, wenn Aussagen über den Beobachtungsgegenstand getroffen werden sollen: Beobachten heißt in Interaktion mit dem zu beobachtenden Ausschnitt der Lebenswelt zu treten und diesen beobachtend mit zu konstruieren, nämlich z. B. als Gegenstand wissenschaftlicher Erkenntnis.13 Das heißt praktisch zweierlei: Einerseits beeinflusst der Beobachter als solcher durch die Art und Weise der Beobachtung (z. B. eine Messanordnung) den Gegenstand der Beobachtung in Bezug auf die beobachtbaren Eigenschaften. Diese Involviertheit des Beobachters in seine Beobachtung ist in der Variationsund Soziolinguistik ein seit langem bekannter Topos (vgl. ENGEL 1954 oder LA10 11 12 13

Vgl. hierzu etwa die Sammlung theoretischer Konzeptionen in WIESING (2002) oder zusammenfassend SCHMIDT, S. (2010, 17–22). Vgl. zum Begriff der Perspektivierung als Modalität der Symbolisierung auch PANOWSKY (1927). Sofern technische Hilfsmittel verwendet werden und von Forschern als funktionstüchtig und zweckdienlich anerkannt worden sind, sind damit getätigte gelungene Beobachtungen in bestimmten Hinsichten schon nicht mehr nur subjektiv. Dem zugrunde liegt die ursprünglich von HEISENBERG (1927) in seiner Abhandlung „Über den anschaulichen Inhalt der quantentheoretischen Kinematik und Mechanik“ getroffene Annahme, dass es nicht möglich sei, eine spezifische Eigenschaft eines Phänomens in der Lebenswelt messend (bzw. beobachtend) zu fokussieren, ohne es damit (etwa in Bezug auf andere beobachtbare Eigenschaften desselben) zu verändern.

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1970). Selten allerdings geht die Beschäftigung mit diesem grundlegenden Problem wissenschaftlicher Auseinandersetzung mit der Lebenswelt über Reflexzitate hinaus, obwohl darin weitreichende Konsequenzen für die Möglichkeiten und Geltungsansprüche wissenschaftlicher Erklärungen aufgehoben sind. Andererseits bedeutet es aber (zumindest dort, wo Aussagen über menschliches Handeln getroffen werden sollen) auch, dass Beobachter beim Beobachten zugleich selbst Exemplare des Beobachtungsgegenstands sind (also etwa selbst Sprecher sind, indem sie Aussagen über das sprachliche Handeln von beobachteten Sprechern treffen). Dieser Aspekt der Involviertheit in die Beobachtung wird in der Variationslinguistik wiederum kaum reflektiert. Ähnliches gilt für das Beschreiben von Beobachtungen mit Hilfe symbolischer Ordnungen, womit im Falle wissenschaftlicher Auseinandersetzung vorrangig die Verwendung eines definierten Inventars an Termini gemeint ist, die Begriffe der zu beschreibenden Phänomene auf einer abstrakten und oder ideal(isiert)en Ebene liefern. Darunter fällt jede Art der – vom Erkenntnisinteresse abhängigen – Beschreibung von Beobachtungen, etwa die Zusammenfassung verschiedener Ausdrucksbewegungen („Laute“) in Äußerungen als Vertreter einer analytischen Kategorie („Phonem“). Letztlich ist die Verwendung (bzw. die Konstruktion) eines symbolischen Instrumentariums zur Beschreibung von Phänomenen, also die Zuschreibung der Phänomene als Vertreter einer Kategorie, selbst ein Symbolisierungsakt, für den SCHÜTZ (1972, 68) den Terminus „Konstruktionen zweiten Grades“ einführt, „das heißt Konstruktionen von Konstruktionen jener Handelnden im Sozialfeld, deren Verhalten der Sozialwissenschaftler beobachten und erklären muß“. Der (wissenschaftliche) „Sinn“ dieser Konstruktionen aber ist dem Phänomen nicht an sich gegeben, er wird durch interessegeleitete Beobachtung und (symbolisierende) Beschreibung zugeschrieben, indem Phänomene im Sinne WITTGENSTEINS (1984) a l s Vertreter von Kategorien g e s e h e n werden.14 Der symbolisierende Charakter von Kategorisierungen gilt natürlich in gleicher Weise für das Ableiten von Strukturen aus Beschreibungen, also für die Zuschreibung von (prozessualen oder funktionalen) Zusammenhängen zwischen Phänomenen als Vertretern von Kategorien zu Strukturen, ebenso wie das Verstehen von Strukturen mit Hilfe von Modellen. Beide Aktivitäten sind konstruktive Tätigkeiten, die Sinnzusammenhänge zwischen Phänomenen und diesen zugeschriebenen Bedeutungen stiften und diese in abstrahierter Form anschaulich machen. Wesentliche Grundlage der Modellbildung ist dabei, die Zusammenhänge zwischen den Kategorienvertretern in ihrer lebensweltlichen Verflechtung auf eine begrenzte Menge typischer Prozesse und Funktionen zurückzuführen (vgl. SCHÜTZ / LUCKMANN 2003, 313–328), die im Modell stellvertretend für das Gesamt an praktischen Zusammenhängen stehen, ohne dass wesentliche (in Bezug auf das Erkenntnisinteresse) Charakteristika des zu modellierenden Ausschnitts BOV

14

Ein anschauliches Beispiel für die Differenzen unterschiedlicher fachwissenschaftlicher Perspektivierungen in Bezug auf das Wahrnehmen der semiotischen Komplexität von Stadträumen liefert HOROWITZ (2013).

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

201

der Lebenswelt unterschlagen werden (was insbesondere für die terminologischen Folgen der in Abschnitt 1 genannten Perspektivenerweiterung relevant ist; vgl. insbesondere Abschnitt 4.3). Diese Typisierung von Sinnzusammenhängen bildet die Grundlage für den wissenschaftlichen Zweck von Modellen, nämlich „soziales Handeln deutend [zu] verstehen und dadurch in seinem Ablauf und seinen Wirkungen ursächlich [zu] erklären“ (WEBER 1985, 542). Die Ableitungen, die wir in Bezug auf die Zusammenhänge zwischen Vertretern von Kategorien vornehmen, leisten im Kontext wissenschaftlicher Aktivitäten nach WEBER also einem doppelten Zweck: einerseits mittels der Modellierung von typisierten Sinnzusammenhängen den Sinn sozialer Handlungen als Teil der lebensweltlichen Praxis zu verstehen, andererseits die erklärende Rückführung dieser typisierten (oder idealisierten) Sinnzusammenhänge auf Ursachen in der Praxis. Sobald aber der Gegenstand der Erklärung menschliches Handeln betrifft, stehen damit der Wissenschaft – und damit in diesem Falle der Variationslinguistik – naturwissenschaftliche Kausalerklärungen nur bedingt zur Verfügung (vgl. unten Abschnitt 4.2, 4.3 und 4.4). In vielen Fällen arbeiten Modelle zur Erklärung typisierter Sinnzusammenhänge zudem mit Bildverweisen zur Veranschaulichung der darin symbolisierten Elemente und zugeschriebenen Zusammenhänge zwischen diesen, wobei stets angenommen (aber selten problematisiert) wird, dass die gewählte Metapher dazu eignet, die abgeleiteten Spezifika der darzustellenden Strukturen ausreichend genau (und ohne unbeabsichtigte Nebenbedeutungen) zu spiegeln, um als Mittel zur Erklärung und Veranschaulichung zu dienen.15 Für die Frage danach, was eine variationslinguistische Erklärung leisten muss, um als erfolgreich zu gelten, müssen damit eine Reihe von Bedingungen angesetzt werden, anhand derer sich Erklären als spezifische wissenschaftliche Aktivität der Deutung lebensweltlicher Phänomene problematisieren und in Bezug auf seinen Geltungsanspruch überprüfen lässt:16 (6a)

(6b)

(6c)

15 16

Perspektivierungsbedingung: Erklärungen sind von einem Erkenntnisinteresse geleitete Perspektivierungen definierter Ausschnitte der lebensweltlichen Praxis. Folglich lassen sich Erfolg und Geltungsansprüche von Erklärungen hinsichtlich ihrer spezifischen Perspektivierung eines Ausschnitts der Wirklichkeit hinterfragen. Symbolisierungsbedingung: Erklärungen sind symbolisch vermittelte Konstruktionen zweiten Grades in Bezug auf die zu erklärenden Phänomene. Dementsprechend lassen sie sich in Bezug auf die in ihnen vorgenommenen symbolischen Sinnzuschreibungen hin überprüfen. Typisierungsbedingung: Erklärungen arbeiten mit Typisierungen von lebensweltlichen Phänomenen und Zusammenhängen zwischen diesen. Sie lassen sich also dahingehend problematisieren, auf Basis welcher Kriterien und zu welchen Zwecken die Gegenstände Vgl. in diesem Zusammenhang etwa die Analyse der Organismus-Metapher in der Soziologie bei SCHLECHTRIEMEN (2010) oder die Problematisierung von Metaphern als unterstützende Denkformen bei BURRI (1995). Wir sprechen hier von Deutung, da Handlungsbeurteilungen in der Variationslinguistik fast ausschließlich asymmetrisch als Argumentationen über (vergangene) Handlungen von Dritten (die Sprachbenutzer) erfolgen und nicht symmetrisch im kooperativen Wechselspiel zwischen Handelnden, durch das Verstehen und Begreifen im engeren Sinne gewährleistet werden können.

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(6d) (6e)

Simon Kasper / Christoph Purschke der Erklärung zu Kategorien und Sinnzusammenhängen zwischen diesen zugeschrieben werden. Reifikationsbedingung: Erklärungen bedienen sich (häufig) Metaphorisierungen für Elemente und Zusammenhänge in Modellen. Sie lassen sich also in Bezug auf die Adäquatheit und strukturelle Konsistenz der gewählten Bildverweise hinterfragen. Kausalitätsbedingung: Erklärungen sind formalisierte Verfahren zur Bestimmung von Zusammenhängen zwischen Phänomenen als Funktion der Zeit vermittels (symbolisch konstruierter) Sinnzusammenhänge. Dementsprechend lassen sie sich in Bezug darauf hinterfragen, welchen Status sie für erklärte Phänomene beanspruchen, ob also die Gegenstände der Erklärung und ihre Zusammenhänge als durch kausale (d. h. gesetzmäßige) Relationen bedingt verstanden werden oder nicht (vgl. die Rekonstruktion in Abschnitt 3.2).

4.2 Handeln und Verhalten als Aufgabenfeld der Variationslinguistik Die genannten Bedingungen verweisen auf wissenschaftliche Handlungen, die bereits erfolgreich durchgeführt worden sein müssen, b e v o r eine Erklärung im Sinne von (5) und (3b)–(3d) überhaupt möglich wird. Die (böswillige) Schlussfolgerung aus der Diagnose in Abschnitt 3, derzufolge die Variationslinguistik (und die Kulturwissenschaften) gescheiterte Naturwissenschaften sind, ist also verfehlt. Das ergibt sich einerseits aus der Tatsache, dass die Bedingungen in (6a)–(6e) nicht nur in Bezug auf die sog. Kulturwissenschaften, sondern in ähnlicher Form auch in Bezug auf die sog. Naturwissenschaften geklärt sein müssen und die Klärung offensichtlich selbst keine naturwissenschaftlich verfahrende ist. Es folgt andererseits aus dem Gegenstandsbereich der Lebenswelt, zu dem menschliches Handeln gehört.17 Die Diagnose in Abschnitt 3 und die Reflexion in Abschnitt 4.1 fordern aber zu einer Klärung der möglicherweise spezifischen Zwecke auf, zu denen wir variationslinguistische Forschung betreiben und die im vorigen Abschnitt als Erkenntnisinteressen bezeichnet wurden. Dazu sagt HANS ALBERT (1957, 60–61): Man kann die Wissenschaften als „Sprachspiele“ ansehen, die wir konstruieren, um uns in der Wirklichkeit besser zurechtzufinden, als wir es aufgrund unserer Alltagserfahrung zu tun vermögen – Sprachspiele also, die der Weltorientierung dienen. Fragen der Methodologie richten sich darauf, wie solche Sprachspiele beschaffen sein müssen, um für ihren Zweck brauchbar zu sein. […] Nun ist die Lösung des Konstruktionsproblems offenbar davon abhängig, was man unter „Orientierung“ versteht, was man also als den genauen Zweck wissenschaftlicher Theorien betrachtet. […] Die Vertreter des positivistischen Wissenschaftsideals pflegen die Aufgabe einer Wissenschaft in der Beschreibung des Verhaltens der Gegenstände ihres Objektbereichs und in dessen Erklärung Prognose zu sehen […]. In dieser Zielsetzung kommt die Handlungsbezogenheit wissenschaftlicher Theorien zum Ausdruck; denn ihre prognostische Verwendung ist die Grundlage erfolgreichen Handelns. Weltorientierung heisst in diesem Falle also nichts anderes als Klärung von Handlungsalternativen, Analyse menschlicher Aktionsmöglichkeiten oder, genauer ausgedrückt, Aufstellung von Alternativprognosen

17

Auch die Naturwissenschaften scheitern aus prinzipiellen Gründen an Kausalerklärungen menschlicher Handlungen (vgl. HARTMANN 1993, 87; HARTMANN 1998, 44–46; JANICH 2001, 56).

Reflexionen zum variationslinguistischen Erklärungsbegriff

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für verschiedene Verhaltensweisen, um eine Grundlage für die Entscheidung zwischen ihnen zu schaffen.

Sprachvariation und Sprachwandel besitzen lebenspraktische Relevanz. Dies zeigt sich in sprachpolitischen Entscheidungen durch Institutionen genauso wie in der sprachlich begründeten Ein- und Ausgrenzung von Menschen durch Menschen. Eine Wissenschaft, die in Bezug auf Variation und Wandel „Orientierung“ leistet, die sich wiederum in umsichtige(re)s Handeln durch Institutionen, Gruppen und Einzelpersonen fortsetzt, besitzt dadurch, dass sie so die Alltagspraxis stützt, zweifellos moralische Legitimation und sie ist für diese Leistung nicht auf Prognosen angewiesen. Was bedeutet das für variationslinguistische Erklärungsversuche? Als e i n gangbarer Weg, um variationslinguistische Erklärungen mit der Form genuin naturwissenschaftlicher Erklärungen der Form in (5) in Einklang zu bringen, hat sich der Typ von KELLERS Invisible hand-Erklärung in (3b)–(3d) erwiesen, der auf allgemeine Gesetze menschlichen Handelns verzichtet. Dies hat einerseits zur Folge, dass solche Erklärungen v e r m u t e n d e E r k l ä r u n g e n sind, da schlicht davon ausgegangen wird, dass die Antezedensbedingungen zugetroffen haben, ohne dass dies überprüft werden könnte. Aussagen über menschliches Handeln können in den Antezedensbedingungen auftauchen. Die betreffenden Handlungen auf der Mikroebene sind zweckgerichtet (intentional) und, wenn sie die Handlungen Vieler sind und ihre unbeabsichtigten Nebenfolgen ähnlich gelagert sind, setzen sie einen kausalen Prozess in Gang, der in einer spontanen Ordnung als Makrostruktur resultiert, die das nicht intendierte Resultat von vielen intentionalen Handlungen darstellt. Uns scheint die Orientierungsleistung, die die Variationslinguistik erbringen kann, nicht zuerst darin zu bestehen, dass sie die allgemeinen Gesetze identifiziert, die Makrostrukturen hervorbringen, sondern darin, zunächst einmal zu klären, ob die Antezedensbedingungen zutreffen können und wie sie – im Sinne von (6b)–(6d) oben – beschaffen/formuliert sein müssen, damit sie zutreffen k ö n n e n . Wir möchten dabei zwei Aspekte hervorheben. (7)

Invisible hand-Erklärungen sind gut, wenn die Antezedensbedingungen plausibel und allgemeine Gesetze wirksam sind (vgl. KELLER 2003, 164). Unter welchen Bedingungen die Antezedensbedingungen (= Es ist der Fall, dass viele intentionale Handlungen ähnlich gelagerte unbeabsichtigte Nebenfolgen haben) plausibel sind, müssen Kriterien erarbeitet werden. (Zur Erinnerung: N u r w e n n die Antezedensbedingungen erfüllt sind, werden z w a n g s l ä u f i g kausale Prozesse in Gang gesetzt.)

(8)

Die Anwendung von Invisible hand-Erklärungen ist problematisch, wenn unklar ist, ob man es auf der Mikroebene mit Handlungen zu tun hat oder nicht, d. h. mit bezweckten oder unbeabsichtigten Nebenfolgen von Handlungen. Makrostrukturen können auch das Resultat gleichgerichteter bezweckter Folgen von Handlungen sein (siehe Abbildung 1), also gewissermaßen „unspontane“ Ordnungen. Wir brauchen Kriterien, um spontane von unspontanen oder bezweckten Ordnungen zu unterscheiden, denn nur Erstere sind auf die unsichtbare Hand zurückzuführen, während in Letzteren eine „sichtbare“ Hand anzusetzen ist.



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Die beiden Teilaufgaben laufen auf dasselbe hinaus: Variationslinguistische Theorien müssen bei den Aussagen auf der Mikroebene handlungstheoretisch so spezifisch wie möglich sein, d. h. angeben, ob es sich bei dem, was Sprecher tun, um Handlungen oder Verhalten, und bei den Handlungsfolgen um bezweckte oder nicht bezweckte Folgen handelt. Wo sie dies nicht können, muss auf lange Sicht eine empirische Annäherung an die Faktoren erfolgen, die daran beteiligt sind. Dabei müsste systematisch erforscht werden, welche sprachbezogenen Aktivitäten der Kontrolle von Sprechern unterliegen (können) und welche sich unter welchen Bedingungen invariabel ihrer Kontrolle entziehen. Generalisierungen über den ersteren Typ an Aktivitäten würden dann maximal die Formulierung von Normalfallaussagen erlauben, Generalisierungen über die Letzteren würden prinzipiell auch die Formulierung von allgemeinen Gesetzen erlauben. Eine Leistung der Variationslinguistik wäre dann die Unterscheidung von Ereignistypen mit menschlicher Beteiligung, für die Normalfallaussagen oder allgemeine Gesetze formuliert werden können. Sie würde damit Bedingungen der Möglichkeit von Erklärungen im Sinne von (5) liefern.

Abb. 2: Ähnlich gelagerte Nebenfolgen von intentionalen Handlungen



4.3 Methodologische Hürden Wir haben es im letzten Abschnitt als eine aus unserer Sicht lohnenswerte Aufgabe der Variationslinguistik identifiziert, dass ihre Aussagen auf der Mikroebene handlungstheoretisch so spezifisch wie möglich sein sollen (siehe [7] und [8]). Unseres Erachtens steht variationslinguistischen Theorien dabei ihr eigener Sprachgebrauch im Weg, der handlungstheoretisch mindestens unterspezifiziert ist. Die meisten Ausdrücke, anhand deren Tätigkeiten bezeichnet werden, sind

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nämlich ambig zwischen einer Handlungs- und einer Verhaltenslesart. Dies lässt sich paradigmatisch an zentralen Aussagen der Synchronisierungs-, Akkommodations- und systemtheoretischen Sprachwandeltheorie (1), (2) und (4) illustrieren, die wir hier wieder aufgreifen und mit Hervorhebungen versehen. Unterstrichene Ausdrücke sind deverbale Ausdrücke, die von der Realisierung ihres logischen Subjekts entbinden und dadurch einerseits offen lassen, wer das Subjekt der Tätigkeit ist, und andererseits sind viele dieser Ausdrücke ambig hinsichtlich einer Handlungs- und einer Verhaltenslesart (z. B. „Synchronisierung“, „modification“). Fett gesetzte Ausdrücke sind solche, die handlungstheoretisch eindeutig sind oder andere Ausdrücke handlungstheoretisch eindeutig machen (z. B. „Synchronisierungsakte“, „strategy“, „emerge“, „Prozess“). Kursiv gesetzte Ausdrücke sind Verben, die ambig zwischen einer Handlungs- und einer Verhaltenslesart sind (z. B. „vornehmen“, „ausrichten“). (1b) (1c)

(1d) (1e)

(2a)

(2b)

(4c) (4d)

Unter Mikrosynchronisierung verstehen wir eine punktuelle, in der Einzelinteraktion begründete Modifizierung und zugleich Stabilisierung des individuellen sprachlichen Wissens. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 29) Eine […] Folge von gleichgerichteten Synchronisierungsakten, die Individuen in Situationen personellen Kontakts vornehmen und die zu einer Ausbildung von gemeinsamem situationsspezifischem sprachlichem Wissen führt, nennen wir Mesosynchronisierung. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 31) Unter Makrosynchronisierungen verstehen wir Synchronisierungsakte, mit denen Mitglieder einer Sprachgemeinschaft sich an einer gemeinsamen Norm ausrichten. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 32) Die Dynamik der einzelnen Interaktion ergibt sich im Wesentlichen aus der „Rückkopplung“ durch den Partner. […] Die jeweilige Art der Rückkopplung bewirkt eine Modifikation oder Stabilisierung der angewendeten Sprachproduktionsstrategie. […] Ob solche Modifikationen und Stabilisierungen temporär bleiben oder ob sie tiefer greifende kognitive Reflexe bewirken […], hängt von der Bewertung der Interaktion, des Interaktionspartners und der Interaktionssituation ab. (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 26)

[Accommodation theory; SK / CP] focuses on speech, and discusses and attempts to explain why speakers modify their language in the presence of others in the way and to the extent that they do. It also examines the effects and costs of this type of modification. (TRUDGILL 1986, 2) Convergence is defined as a strategy through which individuals adapt their communicative behavior in such a way as to become more similar to their interlocutor’s behavior. Conversely, the strategy of divergence leads to an accentuation of differences between self and other. A strategy similar to divergence is maintenance, in which a person persists in his or her original style, regardless of the communication behavior of the interlocutor. Central in the theory is the idea that speakers adjust (or accommodate) their speech styles in order to create and maintain positive personal and social identities. (GALLOIS / OGAY / GILES 2005, 123) [D]ie sprachliche Struktur [passt sich] in Folge sprachlicher Interaktion an die kognitiven Verarbeitungsmechanismen an[…]. (BÜLOW 2017, 300) Komplexe adaptive Systeme verfügen durch die Interaktion mit der Umwelt über ein dynamisches und anpassungsfähiges Modell (Theorie) ihrer Umwelt. Dieses Modell hat eine neuronale Basis und operiert nur teilweise auf der Bewusstseinsebene. Letztlich sind es in Bezug auf die Individuen die Neuronen und neuronalen Netzwerke, die lernen […]. (BÜLOW 2017, 173).

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Lernen (und damit die Stabilisierung oder Modifikation von Sprachwissen) wird also nicht durch menschliches Handeln gesteuert, sondern (4e)

(4f)

As far as the internal organisation of a CAS [complex adaptive system; LB] is concerned, it is assumed that the ‘learning behaviour’ which such a system displays on the macrolevel is not governed by a central agent (such as the ‘self’ in the case of human cognitive development and learning, or ‘God’ in the case of life on earth) but emerges in complex ways from massively parallel activities and the interactions of many simpler constituents, or agents (neurones in learning, or genes in biological evolution). (RITT, zit. in BÜLOW 2017, 173) Der Selektionsprozess der sprachstrukturellen Varianten erfolgt auf der Grundlage der aktuellen Strukturbedingungen in folgendem Spannungsdreieck: a) nach innersystemischen Zusammenhängen (das Verhältnis der sprachlichen Subsysteme zueinander), b) nach Faktoren der kognitionspsychologischen Sprachverarbeitung und c) nach Faktoren des sozialen Erfolgs. (BÜLOW 2017, 301)

Wir können hier drei Arten identifizieren, wie in den entsprechenden Theorien mit der Handlung–Verhalten-Unterscheidung (H–V-Unterscheidung) umgegangen wird: – Indifferenz, – Verabsolutierung des Handelns, – Verabsolutierung des Verhaltens. In der Synchronisierungstheorie in (1) sind die Aussagen durch die verwendeten Ausdrücke weitgehend indifferent gegenüber der H–V-Unterscheidung. Andererseits werden die Synchronisierungsaktivitäten als „Akte“, also Handlungen bezeichnet. Reflexe sind p e r d e f i n i t i o n e m eine Unterart des Verhaltens, Bewerten ist ein Handlungsschema. Konvergenz, Divergenz und „maintenance“ werden in (2b) als Strategien bezeichnet, die als Mittel zur Erreichung von Zwecken eingesetzt werden („as to become more similar…“, „in order to create…“). Hier werden also Akkommodationsaktivitäten als Handlungen verabsolutiert. In BÜLOWS systemtheoretisch-evolutionärem Ansatz gibt es nach (4) keine Handlungen. Alle relevanten Vorgänge werden einerseits an metaphorische „agents“ delegiert (Neuronen, Gene), die modellieren, theoretisieren und interagieren, sowie andererseits als Prozesse (Emergenz, Selektion) behandelt, die unabhängig von menschlichem Handeln ablaufen. Hier haben wir es entweder mit der Verabsolutierung von Verhalten zu tun oder, was auch möglich erscheint, mit einem Beschreibungsinstrumentarium, das Handeln auf Verhalten reduziert. Eine inhaltliche Vermittlung dieses Konzepts von Sprachwandel mit einem handlungstheoretisch fundierten, das BÜLOW ebenfalls anpeilt (vgl. BÜLOW 2017, 44–82), bleibt aus und kann unseres Erachtens nicht gelingen, solange Ersteres Letzteres programmatisch hintergeht. Wenn Ausdrücke, die hinsichtlich der H–V-Unterscheidung problematisch sind, in den Antezedensaussagen einer Erklärung der Form in (5) oder (3b)–(3d)

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auftauchen, ist das angenommene Zutreffen dieser Antezedensaussagen, das für den Erfolg der Erklärung essentiell ist, eben auch dadurch erkauft, dass die H–VUnterscheidung derart durch Indifferenz und Verabsolutierungen umgangen wird. Im Falle der Akkommodationstheorie läuft dies darauf hinaus, dass Akkommodationsresultate n u r n o c h unter Bezug auf die Motive und Gründe von Sprachbenutzern „erklärt“ werden können. Das ist aber – um nur ein Beispiel zu nennen – unverträglich mit Studien, die gezeigt haben, dass ein guter Prädiktor für Akkommodation Priming ist, also die Rezenz eines Elements oder einer Struktur im Input der Wahrnehmung (vgl. AUER / HINSKENS 2005). Sprecher wissen aber meistens nichts davon, dass sie geprimt waren. Das heißt offenbar, dass es uns auch widerfahren kann, dass wir uns sprachlich anpassen, und dies ist unverträglich mit einem Akkomodationsbegriff, bei dem Akkommodation verabsolutierend als strategisches Handeln aus um… zu-Motiven begriffen wird. Im systemtheoretisch-evolutionären Ansatz können Kompetenzveränderungen n u r n o c h unter Bezug auf physiologische oder genetische Prozesse naturalistisch „erklärt“ werden. Dies ist vollkommen unverträglich mit unserer Alltagserfahrung, in der wir Handeln und Verhalten selbstverständlich unterscheiden und in der z. B. Lernen auch als das Resultat von absichtlichem Bemühen und Üben auftritt (für Argumente gegen die Naturalisierung des Menschen vgl. JANICH 2009; 2010; 2014). Die Synchronisierungstheorie lässt offenbar Handeln und Verhalten zu, gibt aber keine Kriterien an, unter welchen Umständen womit zu rechnen ist. 4.4 Empirische Hürden Wenn unsere Theorien also handlungstheoretisch präziser werden sollen, liegt eine besondere Herausforderung für sie in dem Umstand, dass eine beobachtbare sprachbezogene Aktivität (z. B. die Produktion einer bestimmten sprachlichen Variante) äußerlich keinen Aufschluss darüber gibt, ob es sich bei ihrer Hervorbringung um Handeln oder Verhalten gehandelt hat (vgl. KASPER 2014; 2015; 2017). Dies lässt sich noch einmal an dem o. g. Gegensatz zwischen dem Moselund Rheinfränkischen illustrieren. An example is southern was versus northern wat (‘what’) in West Middle German. This seems easy to explain with existing language change theories. The theoretical challenge first becomes clear when closer examination of an actual case reveals (1) that all speakers in areas A and B have active mastery of both variants (a is also the Standard German variant, b the dialectal variant), (2) that no barriers to intercourse (Verkehrsgrenzen) or other external distinctions currently separate language areas A and B, and (3) that a and b are linguistically marginal (single-word) opposites, completely detached from the phonological structure of the dialects in A and B. (SCHMIDT, J. 2010, 207–208; Auszeichnungen im Original).

Die Zuschreibung, dass ein Sprecher eine wat-Variante handelnd hervorgebracht hat, kann in einer Situation zutreffen, in einer anderen aber nicht zutreffend sein. Entscheidend dafür ist die Frage, ob der Sprecher anstatt der wat-Variante auch eine andere hätte äußern können oder sie hätte unterlassen können (Definitions-

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merkmale einer Handlung). „Dieselbe“ Aktivität kann in unterschiedlichen Situationen einmal als Handeln und einmal als Verhalten auftreten (die wat-Variante ist dem Sprecher „passiert“ oder „unterlaufen“). Erschwerend kommt hinzu, dass Routinehandlungen kaum von automatischem Verhalten zu unterscheiden sind. Demnach können Routinehandlungen ohne Aufmerksamkeit ausgeführt werden, während eine andere Handlung aufmerksam ausgeführt wird (z. B. ein Auto steuern, während man sich unterhält). Ist es erforderlich, kann ein Brems-, Schaltoder Kuppelvorgang z. B. immer noch abgebrochen werden. Dies ist bei automatischem Verhalten nicht der Fall. Sich zu erschrecken, nach dem Stolpern zu fallen oder krank zu werden können weder unterlassen noch abgebrochen werden. Während ich mich darauf konzentriere, wie ich spreche, kann ich die Verwendung des possessiven Dativs im Smalltalk vermeiden (= Unterlassenshandlung), während mir die Konstruktion in einem wissenschaftlichen Vortrag, dessen Inhalt meine Konzentration bindet, unterläuft. KAHNEMAN (2012, 20–21) unterscheidet in diesem Zusammenhang ein System 1 von einem System 2. System 1 operates automatically and quickly, with little or no effort and no sense of voluntary control. System 2 allocates attention to the effortful mental activities that demand it, including complex computations. The operations of System 2 are often associated with the subjective experience of agency, choice, and concentration.

Einige von KAHNEMANS Beispielen für Aktivitäten, die von System 1 „gesteuert“ werden, sind, ein angewidertes Gesicht auf ein ekliges Bild hin zu machen, Feindseligkeit in jemandes Stimme zu entdecken oder ein Auto auf einer langen, leeren Straße zu steuern. System 2 „übernimmt“, wenn man jemandem seine Telefonnummer diktiert, nach einer weißhaarigen Frau sucht oder sein eigenes Benehmen in einer sozial relevanten Situation überwacht. Es „überwacht“ und „kontrolliert“ – mit stark begrenzten Kapazitäten – die Gedanken und Aktivitäten, die System 1 „suggeriert“ (vgl. KAHNEMAN 2012, 44). Das Problem mit sprachbezogenen Aktivitäten ist, dass System 2 eben nicht immer übernehmen kann und wir die Bedingungen identifizieren müssen, unter denen dies möglich ist. Natürlich wählt KAHNEMAN hier auch eine metaphorische Redeweise für seinen Gegenstand (und er ist sich dessen bewusst, vgl. KAHNEMAN 2012, 28–30). Sie ist allerdings handlungstheoretisch explizierbar: Während wir mit einiger Sicherheit sagen können, dass System 2-Aktivitäten Handlungen sind, ist KAHNEMANS Aussage, System 1 arbeite automatisch, im oben erwähnten Sinn zu stark: Das Auto zu steuern ist Routinehandeln. Das heißt, die handlungstheoretische Grenze zwischen (Routine-)Handlung und (automatischem) Verhalten verläuft quer durch KAHNEMANS System 1.

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5 FAZIT UND AUSBLICK Legt man als Maßstab einer variationslinguistischen Erklärung einen „strengen“ Erklärungsbegriff wie denjenigen in (5) bzw. (3b)–(3d) an, wie wir dies zu illustrativen Zwecken getan haben, so zeigt sich, dass die meisten erklärten Erklärungen (synchronisierungs-, akkommodations-, system-, und manche evolutionstheoretische im Sinne KELLERS) ihm nicht gerecht werden. Als Ursachen haben wir angeführt, (i) dass allgemeine Gesetze, die Teil strenger Erklärungen sind, für menschliches Handeln nicht existieren, sondern dahingehend allenfalls Normalfallaussagen möglich sind, die nicht der Falsifikation preisgegeben werden, und (ii) dass die Plausibilität der Erklärung dort leidet, wo Aussagen zu menschlichen Aktivitäten in die Antezedensaussagen gesetzt werden, deren Zutreffen im Stile einer conjectural history für die Deduktion vermutet oder vorausgesetzt wird. Die Plausibilitätseinbußen sind die Folge davon, dass die entsprechenden Aussagen handlungstheoretisch mindestens unterspezifiziert sind. Vage (weil ambige) oder metaphorische Aussagen sind schwer zu falsifizieren. Hinter den handlungstheoretisch ambigen und den metaphorischen Aussagen, die handlungstheoretische Unterscheidungen einebnen, verstecken sich Idealisierungen und Homogenisierungen des Gegenstandsbereichs, die denjenigen, die Variationslinguisten einigen Kollegen aus der Grammatiktheorie gern vorwerfen, gar nicht so unähnlich sind. Die Variationslinguistik braucht ihre Erklärungsambitionen deswegen nicht aus den Augen zu verlieren. Unsere Forschungen können lebensweltliche Orientierung und lebenspraktische Verbesserungen leisten. Dafür sind strenge Erklärungen nicht unverzichtbar. Die lebensweltliche Orientierung kann geleistet werden, wenn wir mit einem Seitenblick auf das Fernziel strenger Erklärungen zunächst einmal die Bedingungen erforschen, unter denen unsere variationslinguistischen Aussagen zu menschlichen Kompetenzen und Aktivitäten zutreffen. Dies impliziert eine große praktische und eine große theoretische Aufgabe. Die praktische Aufgabe betrifft die empirische Erforschung der Bedingungen, unter denen Menschen in Bezug auf sprachliche Aktivitäten handeln oder nicht handeln. Dass dies keine einfache Aufgabe ist, folgt aus dem Gesagten und hier scheint uns die auf diesen Punkt fokussierte gemeinsame empirische Forschung mit Nachbardisziplinen angesagt, die sich ebenfalls (und seit Langem) mit Fragen der Handlungstheorie beschäftigen, z. B. die Soziologie, Ökonomie, Neuro- und Kognitionswissenschaften. Die theoretische Aufgabe betrifft die variationslinguistischen Beschreibungsmittel. Variationslinguistische Theorien integrieren heute verstärkt die Rolle der Sprachbenutzer und machen Aussagen über deren Kompetenz, Handeln und Verhalten. Da sie Sprachwandel erklären möchten und dieser Versuch jeweils über die Vermittlung von Mikro- und Makroebene läuft, müssen sie ein Beschreibungsinstrumentarium zur Hand haben, das sowohl für die Eigenschaften der Ersteren als auch für die Eigenschaften der Letzteren geeignet ist. Dieser Sachverhalt ist eine Konsequenz der eingangs genannten Perspektivenerweiterung der Variationslinguistik. Hinsichtlich der Mikroebene kann nämlich auf handlungstheoretische Begriffe natürlich nicht verzichtet werden, zumal dabei physische und kogni-

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tive Aspekte von Relevanz sind. Bei der Beschreibung der Makroebene wird aus offensichtlichen Gründen auf von den Sprachnutzern abstrahierte Beschreibungen zurückgegriffen, und zwar meist auf strukturbezogene, die in der Disziplin geläufig und bewährt sind, was sich beispielsweise in ihrer Omnipräsenz in Lehrbüchern widerspiegelt (d. h. phonetische, phonologische, morphologische und syntaktische Kategorien). Diese Beschreibungen sind nicht selten solche mit metaphorischen Agenten (ein Phonem u n t e r s c h e i d e t Bedeutungen?). Wenn variationslinguistische „Erklärungen“ lebensweltliche Orientierung leisten sollen, müssen sie an die Lebenswelt rückbindbar sein. Um Mikro- und Makroebene in diesem Sinne erklärend zu vermitteln, müssen die begrifflichen Unterscheidungen beider Ebenen zumindest teilweise handlungstheoretisch kohärent sein. Das sind sie im Moment nicht. Das theoretische Beschreibungsinstrumentarium der Variationslinguistik muss daher jederzeit auf basale lebensweltliche Unterscheidungen wie die von Handlung und Verhalten zurückführbar sein.18 Wir schlagen daher die folgende Maxime vor: (9) Wo immer wir theoretische Aussagen über menschliche Fähigkeiten oder Aktivitäten tätigen, explizieren wir, wie sie auf alltäglich praktizierte und alltagsprachlich kodifizierte Unterscheidungen zurückführbar sind.

Basale lebensweltliche Unterscheidungen wie diejenige von Handlung und Verhalten sind durch Theorien, die den Menschen zum Gegenstand haben, nur unter Aufgabe des Geltungsanspruchs für ihre Aussagen hintergehbar (vgl. JANICH 2001, 56). LITERATURVERZEICHNIS ALBERT, HANS (1957): Theorie und Prognose in den Sozialwissenschaften. In: Swiss Journal of Economics and Statistics 93(1), 60–76. AUER, PETER / FRANS HINSKENS (2005): The role of interpersonal accommodation in a theory of language change. In: AUER, PETER / FRANS HINSKENS / PAUL KERSWILL (eds.): Dialect change. Convergence and divergence in European languages. Cambridge: Cambridge University Press, 335–357.

18

Diese Forderung verweist auf die Differenzierung verschiedener Ebenen von „Beziehungen“ für die Strukturierung der (diskursiven) sozialen Praxis bei FOUCAULT (1981, 69; Auszeichnungen im Original): „System der primären oder wirklichen Beziehungen, System der sekundären oder reflexiven Beziehungen und System der Beziehungen, die man eigentlich diskursiv nennen kann. Das Problem besteht darin, die Spezifität dieser letzteren und ihr Zusammenspiel mit den beiden anderen deutlich werden zu lassen.“ Die Maxime (9) entspricht dieser Setzung, indem die Rückbindbarkeit der theoretischen (= „diskursiven“) auf lebensweltlich praktizierte (= „wirkliche“) Unterscheidungen gefordert wird; die in Abschnitt 4.1 diskutierte Typik wissenschaftlicher Aktivitäten kann demgegenüber als Operationalisierung der Zwischenebene „reflexiver Beziehungen“ gelesen werden. Folgen müsste einer solchen Parallelisierung natürlich eine gründliche Analyse der häufig etwas unscharfen Begriffe wie „System“ oder „Beziehung“ bei FOUCAULT, auf die wir an dieser Stelle jedoch verzichten möchten.

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DEKREOLISIERUNG UND VARIATION IN UNSERDEUTSCH Péter Maitz 1 PROBLEMSTELLUNG1 Im Rahmen eines internationalen, von der DFG geförderten Forschungsprojekts wird in Augsburg seit Ende 2015 an der Dokumentation von Unserdeutsch (Rabaul Creole German), der weltweit einzigen deutsch relexifizierten Kreolsprache, gearbeitet (vgl. MAITZ / KÖNIG / VOLKER 2016). Unserdeutsch wird heute höchstens noch von etwa hundert älteren Menschen, die – aus Papua-Neuguinea ausgewandert – zur weit überwiegenden Mehrheit entlang der Ostküste Australiens leben, als L1 gesprochen (vgl. MAITZ / VOLKER 2017). Das primäre Ziel des Augsburger Projekts besteht in der Sprachdokumentation, d. h. im Aufbau eines Unserdeutsch-Korpus, auf dessen Grundlage in einem nächsten Schritt die systematische Beschreibung der Sprachstruktur inklusive der Variation entlang des KreolKontinuums erfolgen kann. Im Rahmen des Projekts haben seit Ende 2014 mehrere Feldforschungsreisen nach Australien und Papua-Neuguinea stattgefunden. Während dieser Reisen ist mittlerweile der Großteil der Primärdaten, die ins Korpus einfließen sollen, erhoben worden. Zwar ist mit der korpuslinguistischen Aufbereitung und der linguistischen Auswertung dieser Daten erst Mitte 2016 begonnen worden, doch machen die Erfahrungen im Feld sowie die erste, wenn auch oberflächliche Analyse der Aufnahmen bereits einige relevante und neue, wenn auch zwangsläufig eher allgemeine und vorläufige Aussagen zu Dimensionen und Hintergründen der Sprachvariation in Unserdeutsch möglich. Diese sollen im Rahmen dieses Aufsatzes präsentiert und diskutiert werden, naturgemäß mit einem Ausblick auf in der Zukunft zu klärende, heute noch offene Forschungsfragen. Hintergründe und Dimensionen der Variation in Unserdeutsch können nur im Kontext der Geschichte und der Funktionen der Sprache verstanden und beschrieben werden. Daher wird im ersten Teil dieses Beitrags zunächst auf diese sprachhistorischen und makrosoziolinguistischen Hintergründe etwas näher eingegangen 1

Die Forschungen, die dem Aufsatz zugrunde liegen, werden von der Deutschen Forschungsgemeinschaft (MA 6769/1-1) gefördert. Für wertvolle Hinweise und Kommentare zu einer früheren Fassung dieses Textes danke ich CRAIG A. VOLKER (Cairns) und SIEGWALT LINDENFELSER (Augsburg). Für seine Hilfe bei den Korpusrecherchen bin ich SIEGWALT LINDENFELSER zu Dank verpflichtet. Alle verbliebenen Fehler und Mängel im Text muss ich, versteht sich, selbst verantworten.

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(Abschnitt 2). Im Anschluss daran werden die Dimensionen der Variation in Unserdeutsch beleuchtet, mit einem besonderen Fokus auf dem Kreol-Kontinuum (Abschnitt 3). In Abschnitt 4 werden schließlich manche der wichtigsten phonologischen, morphologischen und syntaktischen Variablen vorgestellt, deren Realisierungen das Kreol-Kontinuum in Unserdeutsch strukturieren. Es muss schließlich – noch einmal – betont werden, dass zum gegenwärtigen Zeitpunkt zwangsläufig nur erste, vorläufige Ergebnisse bzw. Erkenntnisse präsentiert werden können. Gerade und besonders die Sprachvariation ist im Zusammenhang mit Unserdeutsch bislang nie zum Gegenstand linguistischer Forschung gemacht worden (vgl. MAITZ 2016). Die einzige, umfangreichere linguistische Arbeit, die die grammatische Struktur von Unserdeutsch zum Gegenstand hat (vgl. VOLKER 1982 sowie darauf basierend VOLKER 1989a), thematisiert Variationsphänomene nur am Rande, die Struktur des Kreol-Kontinuums überhaupt nicht. Die nachfolgenden Erkenntnisse basieren folglich zwangsläufig allein auf der Analyse der zwischen 2014 und 2016 in Papua-Neuguinea und in Australien erhobenen Daten. Sie liefern erste variationslinguistische Einblicke ins Unserdeutsch der Gegenwart, die durch die spätere Forschung zu vertiefen und zu präzisieren sein werden. 2 DIE ONTOGENESE VON UNSERDEUTSCH Unserdeutsch ist um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert an der katholischen Missionsstation der Herz-Jesu-Missionare (MSC) in Vunapope, unweit von Rabaul im damals vom Deutschen Reich als Kolonie verwalteten BismarckArchipel, entstanden (vgl. Abbildung 1). Es gehört zu der eher kleinen Gruppe von Pidgin- und Kreolsprachen, die im schulischen Kontext, unter Kindern und Jugendlichen also, entstanden sind; ähnlich etwa zu Tayo in Neukaledonien (vgl. EHRHART 1993) oder Kriol in Nordaustralien (vgl. SCHULTZE-BERNDT / MEAKINS / ANGELO 2013), in mancher Hinsicht auch vergleichbar mit Camron Pidgin Englisch in Papua-Neuguinea (vgl. VOLKER 1989b). Seine Etablierung ist ein Phänomen der dritten Art (vgl. KELLER 2003), das sprachliche „Nebenprodukt“ eines vom zeitgenössischen kolonial-rassistischen Zeitgeist geprägten christlichen Erziehungsprojekts. Nach den Misserfolgen der Christianisierung unter den erwachsenen Eingeborenen, die 1904 schließlich in das „Baining-Massaker“ mündeten (vgl. GRÜNDER 2004, 117; STEFFEN 2001, 355–356), hatte der in Vunapope residierende Bischof von Neu-Pommern, LOUIS COUPPÉ MSC, eine neue Strategie beschlossen. Im Fokus der Missionsarbeit standen von nun an auch Kinder und Jugendliche, die nach europäisch-christlichen Maßstäben und Werten von und an der Mission selbst aufgezogen werden sollten (vgl. GRÜNDER 2004, 114; STEFFEN 2001, 349– 350). Das Zentrum dieses Projekts wurde die Missionsstation in Vunapope mit ihrem Waisenhaus, ihren Internaten und Schulen. Die Mission hatte hier mit der Erziehung von mixed-race Kindern aus der näheren und entfernteren Umgebung

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begonnen. Es handelte sich dabei um von der Mission adoptierte, oft verwaiste Kleinkinder, die aus Beziehungen zwischen europäischen, meist deutschen, oder aber asiatischen Männern und indigenen Frauen hervorgegangen sind. Die Kinder lebten in geografischer und sozialer Isolation an der Mission. Sie wurden meist schon im Vorschulalter an die Mission gebracht und die Kontaktpflege zu ihren indigenen Müttern war auch später nicht erlaubt. Dadurch sollte verhindert werden, dass sie „üble Gewohnheiten“ aus den indigenen Stammeskulturen mitbringen, „die nur schwer auszurotten sind“ (JANSSEN 1932, 150–151).

Abb. 1: Rabaul und Vunapope in Papua-Neuguinea

Die Erstsprache der meisten Kinder der ersten Generation war in der Regel Tok Pisin, das melanesische Pidgin-Englisch also, und/oder eventuell die jeweilige Stammessprache der Mutter (vgl. JANSSEN 1932). Darüber hinaus kamen auch immer mehr Kinder von asiatischen Immigranten aus der Gegend von Rabaul und Kokopo an die Mission, neben Tok Pisin auch mit Chinesisch, Japanisch, AmbonMalaiisch etc. als Erstsprache. An der Mission lernten die Kinder dann Deutsch als Zweit-, Kleinstkinder teilweise auch als Erstsprache durch sprachliche Immersion. Die Verwendung besonders von Tok Pisin als Sprache der „Kanaken“ war verboten, erwünscht und erlaubt war nur das Deutsche, das bis in die Zwischenkriegszeit hinein auch die Sprache des Schulunterrichts in Vunapope war. In diesem sozialen und sprachlichen Kontext entstand dann Unserdeutsch unter den mixed-race Kindern in Vunapope als pidginisierte Kontaktvarietät mit Tok Pisin Substrat und deutschem Superstrat; etwas vereinfacht ausgedrückt: als

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deutsch relexifiziertes Tok Pisin. Somit herrschte eine triglossische Mehrsprachigkeit innerhalb der kleinen mixed-race Gemeinschaft (vgl. VOLKER 1982, 13–15). Mit den Missionaren2 sprachen die Kinder das im Alltag ungesteuert und in der Schule auch institutionell erworbene Standarddeutsch; mit den außerhalb der Mission lebenden Eingeborenen und dem indigenen Dienstpersonal an der Mission sprachen sie Tok Pisin; und unter sich Unserdeutsch. Die Sprache hat sich anscheinend sehr schnell als informelle Alltagssprache innerhalb der Gruppe etabliert. Die Mitglieder der kleinen mixed-race Gemeinschaft sind, nachdem sie volljährig wurden, von der Mission unter sich (zwangs-)verheiratet worden, auch um Mischehen mit den Eingeborenen zu verhindern. Sie lebten weiterhin in und um Vunapope und arbeiteten auf den Pflanzungen, in der Verwaltung, den Werkstätten und sonstigen Einrichtungen der Mission. Hierzu der persönliche Bericht einer Sprecherin (geb. 1944, aufgezeichnet im Januar 2016): du bis (--) achtzehn neunzehn dann (-) mission wid sagen du bis zu (.) alt jetz zu bleib bei vunapope du muss jetz heiraten (--) orait3 un dann die sa orait diese mensch wid heiraten du (--) du will or du will ni (.) du hat nix su sagen (--) nix su sagen […] de frau kann sa i will nich abä d (-) mission sa du muss (.) heraus (-) heraus von vunapope jetz (--) du geht a (-) dein herrgemahl wid arbeit bei diese flanzung or (-) bei diese schiff or bei diese garage (-) ja (-) and du muss weg whether du will or du will ni (1.3) no choice Transkript 1: Heiratspolitik an der Mission (Sprecherin DK, geb. 1944)4

Durch diese – nicht zuletzt auch von der zeitgenössischen, gesetzlich verankerten Rassentrennung geförderte und geforderte – Endogamie und dieses enge Zusammenleben blieb die starke Gruppengrenze nach außen bzw. die starke interne Kohäsion der Gruppe weiterhin erhalten. Und dabei spielte – neben der Hautfarbe, d. h. der mixed-raceness – nicht zuletzt auch Unserdeutsch, die nunmehr etablierte gemeinsame Gruppensprache, eine tragende Rolle. So konnte es dann passieren, dass bereits die um den bzw. nach dem Ersten Weltkrieg geborenen Kinder dieser

2

3 4

Die Bezeichnung Missionar referiert im Text auf weibliche und männliche Ordensangehörige, d. h. auf Missionsschwestern, Patres und auch auf nicht zum Priester geweihte Ordensbrüder, die in Vunapope tätig waren. In ähnlicher Weise referieren im generischen Maskulinum verwendete Personenbezeichnungen im Text gleichermaßen auf Personen weiblichen und männlichen Geschlechts. Entlehnung von Tok Pisin orait – ‘so, also, okay’. Die Transkription von Wörtern oder Sequenzen aus bzw. in Tok Pisin oder Englisch erfolgt in der jeweiligen Standardorthografie. Die Transkripte folgen den Konventionen von GAT2 (Minimaltranskript).

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ersten Sprechergeneration mit Unserdeutsch als Erstsprache aufwuchsen. Unserdeutsch war damit nativisiert.5 Diese Entstehungsgeschichte weist mehrere für Kreolsprachen eher untypische Züge auf, in erster Linie gerade in Bezug auf die Funktionen von Unserdeutsch. Vor allem ist es auffallend, dass Unserdeutsch anscheinend nie als Mittel der vertikalen Outgroup-Kommunikation verwendet wurde. Die am Anfang des Spracherwerbsprozesses stehenden Lernervarietäten (interlanguages) bzw. Jargons als individuelle Lösungen von interlingualen Kommunikationsproblemen (vgl. MÜHLHÄUSLER 1997, 128) dürften kurze Zeit eventuell eine solche Lingua franca-Funktion zwischen den Kindern und den Missionaren erfüllt haben, solange die Kinder noch über keine ausreichende Standarddeutschkompetenz verfügten. Da diese aber durch die sprachliche Immersion sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen schnell ausgebaut wurde, wovon auch überlieferte Texte zeugen, war ein Pidgin als Lingua franca weder unter den – teilweise unterschiedliche Erstsprachen sprechenden – Kindern selbst noch zwischen ihnen und dem Missionspersonal notwendig. Alles deutet darauf hin, dass bis zum Ersten Weltkrieg, dem Ende der deutschen Kolonialzeit in Papua-Neuguinea also, alle alltäglichen kommunikativen Bedürfnisse in Vunapope mithilfe von Standarddeutsch und Tok Pisin befriedigt werden konnten: Tok Pisin war und blieb die stammesübergreifende Verkehrssprache mit der indigenen Bevölkerung, und an der Mission haben alle: Kinder, Missionare wie Angestellte Standarddeutsch gekonnt und gesprochen. Nach der Besetzung von Deutsch-Neuguinea durch Australien im Jahre 1914 wurde das Standarddeutsche auch an der Missionsstation in Vunapope sukzessive durch das Englische abgelöst, sowohl als Unterrichts- wie auch als Alltagssprache, sodass seit der Zwischenkriegszeit alle in Vunapope erzogenen mixed-race Kinder (mindestens) dreisprachig waren und sind: kompetent in Unserdeutsch, Tok Pisin und Englisch, die vor etwa 1930 geborenen auch noch in Standarddeutsch. Insgesamt deutet also alles darauf hin, dass Unserdeutsch im Gegensatz zu den allermeisten Pidginsprachen bzw. klassischen Pidgindefinitionen (vgl. ROMAINE 1988; TODD 1974) nicht aus kommunikativer Notwendigkeit heraus entstanden ist. Auch die von VOLKER (1989b) diskutierte und von manchen Sprechern ebenfalls vertretene These, Unserdeutsch sei von den mixed-race Kindern an der Mission als Geheimsprache kreiert worden, scheint linguistisch wenig plausibel. Um von den Deutsch sprechenden Missionaren bzw. Erziehern nicht verstanden zu werden, hätte das Lexikon von Unserdeutsch, das zum weit überwiegenden Teil deutsch ist, ausgetauscht und/oder semantisch umgedeutet werden müssen, was aber eindeutig und offensichtlich nicht passiert ist. Die Absicht oder der Wunsch der Kinder, eine Geheimsprache zu kreieren, mag eventuell tatsächlich vorhanden gewesen sein und sogar eine Rolle bei der Entstehung der Sprache 5

Zur weiteren Geschichte von Unserdeutsch und zur aktuellen Situation der Sprache und der Sprachgemeinschaft siehe VOLKER (1982; 1991) sowie jüngst MAITZ (2016) und MAITZ / VOLKER (2017).

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gespielt haben. Als Geheimsprache im eigentlichen Sinne hätte aber Unserdeutsch weder funktionieren noch überleben können. Alles in allem haben wir es also anscheinend mit dem auch evolutionslinguistisch interessanten Fall zu tun, dass bei der Sprachentstehung nicht die kommunikativen, sondern, wie es scheint, vielmehr die sozialen Funktionen von Sprache im Vordergrund standen. Bei den mixed-race Kindern der ersten Generation handelte es sich um in mehrfacher Hinsicht entwurzelte Kinder, die an der Mission in Vunapope in geografischer und auch sozialer Isolation lebten. In der sozialen Hierarchisierung im damaligen vom Deutschen Reich und später von Australien kolonisierten PapuaNeuguinea spielte die Hautfarbe bzw. die Rasse eine entscheidende Rolle. Die kleine mixed-race Gemeinschaft in Vunapope war allein schon wegen ihrer Hautfarbe, d. h. ihrer mixed-raceness, durch eine klare und starke Grenze sowohl von der schwarzen, indigenen als auch von der weißen (deutschen, später australischen) Bevölkerung getrennt und ausgegrenzt. Die Ausgrenzung seitens der weißen Australier reichte nach dem Ersten Weltkrieg bis in die 1970er Jahre hinein bis hin zu expliziter, apartheidartiger Diskriminierung. Hinzu kamen die zeitgenössischen Erziehungsmethoden an der Mission, die selbst zu den Missionaren eine soziale Distanz geschaffen hatten. Unter diesen Bedingungen scheint die Etablierung einer gruppeneigenen Sprache ihre wichtigste Motivation und Legitimation in ihrer Funktion als cant erhalten zu haben: als Solidaritäts- und Identitätsmarker, mit dessen Hilfe die Gruppenidentität bzw. Gruppenkohäsion gestärkt und eine Abgrenzung zu der (feindseligen) Außenwelt vorgenommen werden konnte (vgl. VOLKER 1989b).6 In einem Land wie Papua-Neuguinea, wo so gut wie jeder Stamm seine eigene Stammessprache (tok ples) hat und sich vor allem auch dadurch definiert, ist diese Funktion erst recht von entscheidender Bedeutung. Eigene Aussagen der Sprecher bestätigen dies: „We needed our own language“, meinte ein Sprecher noch in den späten 1970er Jahren, und auch ein anderer sah in Unserdeutsch „a fun language, something just for us“ (zitiert nach VOLKER 1989b, 22). Dies heißt aber auch, dass wir bei der Entstehung und ebenso bei der strukturellen Ausgestaltung von Unserdeutsch durchaus auch mit einem intentionalen, kreativen Moment rechnen müssen. Mit der Absicht nämlich, eine gruppeneigene Sprache zu schaffen, die sich gleichzeitig vom Standarddeutsch der Missionare unterscheidet und dadurch die Gruppengrenze markiert. Auf eine bewusste Distanzierung von der Lexifikatorsprache deuten auch zahlreiche strukturelle Merkmale in Unserdeutsch hin. Darunter vor allem auch die Tatsache, dass selbst höchstfrequente, strukturell einfache Konstruktionen, die die Sprecher im Standarddeutschen auch selbst beherrscht und verwendet haben, in Unserdeutsch sub 6

Diese Funktion scheint auch bei der Entstehung und Etablierung des niederländischbasierten Kreols Petjo in Indonesien im Vordergrund gestanden zu haben (vgl. RHEEDEN 1994). Nach LAYCOCK (1977) sind bzw. waren solche cants in mehreren melanesischen Gesellschaften in Gebrauch. Er selbst beschreibt eine solche Funktion im Falle des frühen Pitcairn-Norfolk Kreol (vgl. LAYCOCK 1989).

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stituiert worden sind; so etwa, um nur ein einziges Beispiel zu nennen, das standarddeutsche Interrogativum warum durch unserdeutsch fi was, in offensichtlicher formaler Anlehnung an die semantisch äquivalente Form in Tok Pisin bilong wanem (vgl. VOLKER 1982, 34–35). Das komplexe, für Kreolsprachen in mehrfacher Hinsicht untypische Sprachkontakt-, Spracherwerbs- und Sprachwandelszenario, das letztlich innerhalb von nur zwei Generationen zur Entstehung von Unserdeutsch als Kreolsprache geführt hat und maßgeblich auch die Variation in der Sprache bedingt, lässt sich im Sinne des Gesagten folgendermaßen modellieren (siehe Abbildung 2):

Substrat (L1) Tok Pisin (Tok Ples)

L2-Erwerb

Jargon

L2-Erwerb

Lernervarietäten

Superstrat (target) Standarddeutsch

Stabilisierung

Pidginoid Nativisierung: L1-Erwerb

Kreol Unserdeutsch

Abb. 2: Entstehungsmodell von Unserdeutsch

Am Anfang stehen demnach die unterschiedlichen indigenen und Immigrantensprachen,7 allen voran aber Tok Pisin, die die mixed-race Kinder, als sie an die Mission gebracht worden sind, bereits als L1 gesprochen haben. Die quantitative Dominanz von Tok Pisin unter diesen Erstsprachen zeigen nicht nur zeitgenössische Berichte (vgl. JANSSEN 1932), sondern auch zahlreiche fundamentale Strukturmerkmale von Unserdeutsch, die eindeutig auf strukturellen Transfer aus Tok Pisin zurückzuführen sind (vgl. MAITZ / LINDENFELSER i. Dr.). Auf der Basis dieses sprachlichen Substrats setzte dann der sowohl gesteuert als auch ungesteuert verlaufende, immersive Erwerb der target language, des gesprochenen und geschriebenen Standarddeutschen also, ein. Im Laufe dieses Zweitspracherwerbsprozesses entstanden zunächst individuelle, instabile Lernervarietäten bzw. Jargons. Diese werden wohl in den ersten Jahren die wichtigsten Kommunikationsmittel unter den Kindern gewesen sein, und zwar nicht nur mit den Missionaren, 7

Die Vernaculars der unterschiedlichen (autochthonen wie allochthonen) Stämme bzw. Ethnien in Papua-Neuguinea werden auf Tok Pisin unter der Bezeichnung tok ples zusammengefasst.

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sondern – da ihnen die Verwendung von Tok Pisin an der Mission untersagt war – auch unter sich, innerhalb der Gruppe. Diese anscheinend relativ früh fossilisierten, durch relativ umfangreichen negativen L1-Transfer aus Tok Pisin gekennzeichneten Lernervarietäten bzw. Jargons bildeten wohl die sprachliche Grundlage einer lexikalisch und grammatisch reduzierten Kontaktvarietät (vgl. SIEGEL 2008, 39–40), die sich unter den Kindern und Jugendlichen an der Mission als alltägliche Ingroup-Sprache etabliert hat. Sie hat sich anscheinend auch strukturell sehr schnell, innerhalb einer Generation, stabilisiert bzw. konventionalisiert. Die schnelle Stabilisierung war möglich bzw. begünstigt durch die relativ geringe Zahl der Sprecher, deren Isolation und enges Zusammenleben, durch die daraus resultierenden dichten sozialen Netzwerke, durch die alltägliche Verwendung sowie durch die identitätsstiftende Funktion. Die hier verwendete Bezeichnung Pidginoid für diese pidginisierte L2Varietät soll der Tatsache gerecht werden, dass es sich hier um eine Sprachvarietät handelt, die sich von ihrem strukturellen Profil her zwar allem Anschein nach schon, von ihren Funktionen her aber gewiss nicht als klassisches Pidgin einordnen lässt. Um ins Bild von klassischen Pidgins zu passen, hätte sie aus kommunikativer Not heraus zwischen zwei oder mehr Sprechergemeinschaften ohne gemeinsame Sprache verwendet werden müssen, und zwar tendenziell eher in nur eingeschränkten Kontexten (vgl. ROMAINE 1988, 24; THOMASON 2001, 159). Stattdessen war sie aber, wie wir oben gesehen haben, als alltäglich verwendete Ingroup-Sprache innerhalb der kleinen mixed-race Gemeinschaft im Gebrauch, die durch ihre Kompetenz in Tok Pisin und Standarddeutsch auf ein weiteres Pidgin als Ingroup-Sprache sicher nicht angewiesen war. Ein Pidgindeutsch war aber auch als Outgroup-Sprache nicht nötig, da das von den Kindern immersiv erlernte Standarddeutsch innerhalb und das von ihnen bereits beherrschte Tok Pisin außerhalb der Mission allen kommunikativen Bedürfnissen gerecht werden konnten. Insofern liefert der Fall des Unserdeutsch weitere empirische Evidenz für die gegenwärtig am prominentesten von MUFWENE (2001; 2009) – daneben aber auch von CHAUDENSON (2001) und anderen – vertretene These, dass Kreolsprachen keineswegs zwangsläufig und immer aus Pidgins entstehen müssen. Dies gilt trotz des Umstands, dass das von MUFWENE beschriebene Szenario für die Entstehung von Kreolsprachen (vgl. auch MUFWENE 2008) sich in mancher Hinsicht nicht mit den Entstehungsumständen von Unserdeutsch in Einklang bringen lässt, was aber an dieser Stelle nicht näher diskutiert werden kann. Dieses Pidginoid ist bereits in der nächsten, d. h. zweiten Sprechergeneration nativisiert worden: Die Kinder der ersten Sprechergeneration sind bereits mit Unserdeutsch als L1 aufgewachsen. Ermöglicht wurde diese schnelle, ja abrupte Nativisierung durch zwei Faktoren. Erstens durch die strikte Endogamie innerhalb der Gruppe und zweitens durch den Umstand, dass die Sprache sich bereits bei der ersten Sprechergeneration als familiäre Alltagssprache innerhalb der kleinen, geschlossen und isoliert lebenden mixed-race Gemeinschaft etablieren konnte. Aus der Alltagsverwendung folgt zugleich auch, dass dieses Pidginoid im Vergleich zu klassischen Pidgins der ersten Generation in seinen Funktionen bereits vor der Nativisierung erweitert gewesen sein muss, indem es sowohl als primäres Mittel

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der Ingroup-Kommunikation wie auch als Marker der Gruppenidentität gedient hat. Aus diesen Funktionen der Sprache sowie der immersiv erworbenen, erzwungenen Standarddeutschkompetenz der Sprecher ergibt sich andererseits, dass die Sprache – im Vergleich zu prototypischen Pidgins wiederum – allem Anschein nach schon in diesem Stadium durch einen relativ hohen Grad an struktureller und vor allem auch lexikalischer Elaboriertheit gekennzeichnet war. Der Fall von Unserdeutsch kann somit auch als ein Extrembeispiel dafür gelten, mit welcher Geschwindigkeit sich kontaktinduzierter Sprachwandel abspielen und wie weit er führen kann. Die um die Jahrhundertwende entstandene und zunächst als cant verwendete pidginisierte L2-Variertät hat sich innerhalb einer Generation stabilisiert und sie war bereits in der zweiten Generation, in der Zwischenkriegszeit also, nativisiert. Diese Geschwindigkeit des Sprachwandels und ganz besonders der Nativisierung fallen gerade auch im Vergleich zu Tok Pisin ins Auge. Obwohl die ersten Ansätze eines melanesischen Pidgin-Englisch bereits vor Beginn der deutschen Kolonialzeit belegt sind, ist Tok Pisin bis heute nur ansatzweise nativisiert: Die Sprache wird im heutigen Papua-Neuguinea neben etwa 4 Millionen L2-Sprechern lediglich von etwa 122.000 Menschen als L1 gesprochen (vgl. LEWIS / SIMONS / FENNIG 2014). Aus einer kreolistischen Perspektive wohl noch ungewöhnlicher ist die Tatsache, dass die Stabilisierung und die Nativisierung von Unserdeutsch nicht den Endpunkt des Spracherwerbsprozesses der mixed-race Kinder in Vunapope darstellen, genauer gesagt nicht den einzigen Endpunkt. Parallel zum Prozess der Entstehung von Unserdeutsch lief nämlich in der Missionsschule auch der (erzwungene) L2-Erwerb der Superstratsprache weiter, sodass bereits die erste Sprechergeneration neben Unserdeutsch auch Standarddeutsch erlernt und in Wort und Schrift beherrscht hat. Dass Unserdeutsch trotz des Erwerbs der Superstratsprache nicht untergegangen ist, sondern sich stattdessen stabilisieren und als gruppeninterne Alltagssprache durchsetzen konnte, zeigt wieder einmal, dass bei der Entstehung und Etablierung der Sprache nicht die kommunikative Funktion im Vordergrund stand. Diese Standardkompetenz war auch noch bei der zweiten Sprechergeneration vorhanden und ging erst bei der nach etwa 1930 geborenen Generation verloren. Um diese Zeit wurde Standarddeutsch aus dem Unterricht in der Missionsschule vollständig durch das Englische verdrängt. Nach dem Ersten Weltkrieg wurden die älteren deutschen und niederländischen Missionare in Vunapope, die gestorben oder im Alter wieder nach Europa zurückgekehrt sind, bereits durch australische und amerikanische Missionare ersetzt. Somit wurde Standarddeutsch auch als informelle Alltagssprache an der Missionsstation sukzessive durch das Englische abgelöst. 3 DEKREOLISIERUNG UND VARIATION IN UNSERDEUTSCH Die über Jahrzehnte hinweg gegebene Kopräsenz von Standarddeutsch und Unserdeutsch an der Missionsstation und die bivarietäre Kompetenz der Unserdeutsch sprechenden mixed-race Gemeinschaft hatten zwangsläufig einen Varietä-

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tenkontakt zur Folge. Dieser hatte in beide Richtungen, auf beide Sprachen seine Folgen und kann zugleich auch als die wichtigste Quelle der Variation in Unserdeutsch angesehen werden. Erstens hat das intendierte Standarddeutsch der Sprecher bestimmte Kreolmerkmale absorbiert, was eine Destandardisierung zur Folge hatte: Das intendierte Standarddeutsch der mixed-race Gemeinschaft von Vunapope weist somit, wie Tonaufnahmen und überlieferte Texte zeigen, nicht nur orthographische Auffälligkeiten, sondern – wenn auch in eher geringem Umfang – auch strukturelle Einflüsse aus Unserdeutsch auf. Dies ist u. a. auch am Textbeispiel in Abbildung 3 erkennbar.

Abb. 3: Textfragment eines Unserdeutschsprechers in (intendiertem) Standarddeutsch aus der Nachkriegszeit

Einerseits zeigt der Text – neben orthographischen Auffälligkeiten – einzelne, vom Standarddeutschen abweichende, in Unserdeutsch jedoch regelhaft vorkommende grammatische Merkmale (vgl. Transkripte): die Verwendung des in Unserdeutsch zum Attributivmarker reanalysierten, genus-, kasus- und numerusindifferenten Adjektivsuffixes -e bei attributiven Adjektiven (ein kalte S.P.8); die optionale, besonders in erweiterten Nominalphrasen oft fehlende nominale Pluralmarkierung (verschiedene Aufnahme); oder die Kasusabsenz (mit … sein kl. Sohn). Andererseits ist es aber trotz dieser Interferenzen deutlich erkennbar, dass wir es hier nicht mit Unserdeutsch, sondern mit (intendiertem) Standarddeutsch zu tun haben. Die Sprache des Textes zeigt einen im Vergleich zu basilektalem Unserdeutsch deutlich höheren Grad an struktureller Elaboriertheit, erkennbar vor allem an grammatischen Kategorien und Strukturen (wie z. B. synthetischer Konjunktiv:

8

SP ist eine papua-neuguineische Biersorte.

Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

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hätte, könnte; Präteritum jenseits von Auxiliar- und Modalverben: nahm, ging, stand), die in keinem Interview mit Sprechern, die nach 1930 geboren sind, auftauchen. Die Normorientierung zeigt nicht zuletzt auch die hyperkorrekte Form schonst für standarddt. sonst, die aus der Absenz des Phonems /ʃ/ in der Substratsprache Tok Pisin resultiert. Zweitens hat aber auch das Standarddeutsche seine Spuren in Unserdeutsch hinterlassen; es fand eine Dekreolisierung von Unserdeutsch statt. Der Sprachgebrauch der Sprecher von Unserdeutsch hat sich in unterschiedlichem Umfang an die Superstratsprache angenähert und es entstand ein Kreol-Kontinuum (vgl. Abbildung 4). Dieses Kontinuum gliedert sich, wie bei dekreolisierten Kreolsprachen üblich, in strukturell und lexikalisch unterschiedlich elaborierte Varietäten. Zwischen maximal simplifizierten basilektalen Varietäten einerseits und maximal elaborierten Varietäten in der Nähe des akrolektalen Pols andererseits befindet sich im mittleren Bereich ein recht breites Spektrum von mesolektalen Varietäten. Die Übergänge zwischen diesen Varietäten sind dabei selbstverständlich fließend.

Unserdeutsch Basilekt

intendiertes Standarddeutsch Mesolekt

Akrolekt

Abb. 4: Das Kreolkontinuum in Unserdeutsch

Üblicherweise findet diese Dekreolisierung, die eine partielle Restrukturierung des Kreols zur Folge hat, erst nach einer linguistisch autonomen Periode im Leben von Kreolsprachen statt (vgl. MÜHLHÄUSLER 1997, 211–212). Daher spricht man in diesem Fall meist auch von einem Postkreol bzw. einem Post-KreolKontinuum. Als wichtigste soziale Voraussetzungen für die Entstehung eines solchen Post-Kreol-Kontinuums werden in der kreolistischen Fachliteratur – neben anderen – vor allem zwei am häufigsten genannt: (a) der Zugang zum Unterricht in der dominanten, d. h. in der Lexifikatorsprache und (b) der offizielle Status dieser Lexifikatorsprache (vgl. z. B. O’DONNELL / TODD 1980, 52; DECAMP 1971, 351). Vor diesem Hintergrund ist der Sonderstatus von Unserdeutsch auch hinsichtlich der Dekreolisierung offensichtlich. Erstens war Standarddeutsch nie die faktische offizielle Verkehrssprache in Papua-Neuguinea, auch während der deutschen Kolonialzeit nicht (vgl. MÜHLHÄUSLER 2001; ROWLEY 1958, 251; VOESTE 2005), und schon gar nicht in der Zeit nach der Kreolisierung von Unserdeutsch, wo Papua-Neuguinea bereits von Australien besetzt war. Und zweitens ist das Standarddeutsche in der Missionsschule in Vunapope auch als Unterrichtssprache gerade etwa zeitgleich zur Kreolisierung vom Englischen abgelöst worden. Der bis dahin so gut wie uneingeschränkte Zugang zur Lexifikatorsprache an der Mission wurde also gerade nach der Nativisierung von Unserdeutsch sukzessive versperrt. Gegeben war er nur

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noch durch den persönlichen Kontakt zu den an der Mission gebliebenen deutschen Missionaren sowie durch die Standardkompetenz der ersten beiden Sprechergenerationen. Somit können wir davon ausgehen, dass die strukturelle Annäherung von Unserdeutsch an das Standarddeutsche im Vergleich zur Kreolisierung kein sekundärer Prozess war, der nach einer autonomen Kreolphase stattgefunden hat. Vielmehr wird diese Annäherung schon in der Pidginoidphase und parallel zur bzw. unmittelbar nach der Nativisierung stattgefunden haben. Nur diese ersten beiden Sprechergenerationen waren es nämlich, die von deutschen Missionaren in Standarddeutsch erzogen, ausgebildet und später auch angestellt wurden, in einem deutschsprachigen Umfeld lebten und auch selbst mehr oder minder kompetente Sprecher des Standarddeutschen waren. Alles in allem fand also die strukturelle Annäherung von Unserdeutsch an seine Lexifikatorsprache allem Anschein nach nicht nur bzw. nicht erst nach der Nativisierung, sondern zumindest teilweise bereits schon in der Pidginoidphase, im Rahmen einer Depidginisierung9 statt. Aus diesem Grund wird in der vorliegenden Studie im Zusammenhang mit Unserdeutsch bewusst nicht der Terminus Post-Kreol-Kontinuum, sondern Kreol-Kontinuum verwendet. Diese Konvergenz zwischen basilektalem Unserdeutsch und seiner Lexifikatorsprache stellt, wie gesagt, die wichtigste Quelle der Variation in der Sprache dar. Mit einer nennenswerten stilistischen bzw. Registervariation ist in Unserdeutsch allein schon deswegen nicht zu rechnen, weil die Sprache seit jeher ausschließlich in der informellen, gesprochenen Alltagskommunikation innerhalb der Gruppe verwendet wurde und wird. Ob die einzelnen Sprecher eine eher basi-, meso- oder akrolektale Varietät von Unserdeutsch sprechen, scheint – im Spiegel der im Feld geführten Interviews – vor allem von zwei sozialen Faktoren abzuhängen. Erstens von der individuellen Sprachbiographie, dabei vor allem vom Umfang des Kontaktes mit und der eigenen Verwendung von Standarddeutsch. Tendenziell gilt, dass die Familien bzw. die Sprecher, die direkt an der Missionsstation lebten, an der Mission selbst – etwa in der Administration, in der Druckerei, in den Werkstätten etc. – gearbeitet haben, somit regelmäßigen und intensiven Kontakt zu den Missionaren und teilweise auch zum geschriebenen Standarddeutschen hatten, eine Varietät von Unserdeutsch sprechen, die eher in der Nähe des akrolektalen Pols im KreolKontinuum anzusiedeln ist (vgl. Transkript 2). i hab ein großvater i hab getroffen (-) der heiß (.) hans schmidtburch (--) er kommt from hamburch (1.9) mein großmutter kommt von tabar island ich hab sie niemals getroffen (1.1) und (--) ein andre großvater is shared with eric´s great-grandfather (--) aubrey griffith (---) ja (.) der war ein (.) (welshman?)

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Unter ‚Depidginisierung‘ wird in der Fachliteratur gelegentlich auch die Kreolisierung eines Pidgins verstanden. Hier wird mit dem Terminus, wie gesagt, die strukturelle Annäherung eines Pidgins an seine Lexifikatorsprache bezeichnet.

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(1.6) un ein großmutter from new ireland […] ich hab ein bruder david […] david gestorben neunzehnhundertunneunzich […] er war fü (.) dreiunfünfzich jahre alt (---) un (-) der arme ge (-) aber (.) er war ein gute arbeiter (1.2) ich hab de ganze papiere da (-) von ihm was (-) er hat gemach (---) du weiß (.) in kopra […] david war gut well (.) er war auch ein engineer auf de schiff (--) ein engineer (-) du weiß in frühere zeiten (-) wenn dein papa war ein carpenter (-) dann die alle sach (.) was wirst du (-) och i wird ein carpenter (.) or dein papa war auf schiff (-) wird ein engineer (-) die wollte alles was (---) papa mach (-) ja (-) war so jetz (-) kinder haben so viele choices un die ma einige hat nik (--) nix öh gemach Transkript 2: Über die Familie (Sprecherin JE, geb. 1933)

Demgegenüber ist die Sprachvarietät derjenigen Familien bzw. Sprecher, die außerhalb der Mission, etwa auf den Pflanzungen der Mission oder gar in entfernteren Orten gearbeitet und/oder gelebt haben, somit wenig Kontakt zum Standarddeutschen, dafür aber mehr Kontakt zur indigenen Bevölkerung und damit zu Tok Pisin und Englisch hatten, eher in der Nähe des basilektalen Pols im Kontinuum zu lokalisieren (vgl. Transkript 3). i nur hören (-) oh so un so is hier jetz ah am leben in brisbane (-) oh okay […] die kommen die so (.) ferti schon von arbeit da (-) dann die komm hier su australia ja (-) dann die arbeit etwas und dann die retire […] i war am arbeiten (---) or (.) nachdem alle mei kinder (--) cause i hat vier mädhen (.) eins von mei erste herrgemahl (--) un dann i wollte nimmä kinder von er dann (.) von mei zweite herrgemahl i hat drei mädhen (---) so i (.) warten bis die etwas groß un dann i (.) i arbeit ja i arbeit in the city (-) ma rein alle office un (.) die sorte ja […] i arbeit (.) am aben (-) so am ta i bringen die su schule (-) kohen fi die am abend (-) un dann ts so fümf uhr (-) dann i fahren geht su arbeit in the city […] (-) arbeit fi vier stunde or fümf stunde (-) dann (-) komm surick Transkript 3: Lebensgeschichtliches (Sprecherin DK, geb. 1944)

Ein zweiter Steuerungsfaktor ist – in relativ engem Zusammenhang zum ersten – der sprachideologische Kontext und im Zusammenhang damit die Spracheinstellungen der Sprecher. Der Fall von Unserdeutsch scheint in dieser Hinsicht vergleichbar zu sein mit Krio etwa, einem englischbasierten Kreol in Sierra Leone (vgl. SPITZER 1966; JONES 1971): Durch die diglossische Kopräsenz des Kreols und seiner Lexifikatorsprache und infolge der Tatsache, dass die offiziellen, prestigeträchtigen Domänen durch die Lexifikatorsprache besetzt sind, entstehen bei den Sprechern negative Einstellungen zur Kreolsprache. Diese werden auch ge-

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Péter Maitz

speist bzw. verstärkt von der für koloniale Kontexte typischen, auch an der Mission in Vunapope verbreiteten Standardsprachenideologie, wonach die Pidgin- oder Kreolsprache eine verdorbene, verhunzte Form ihrer europäischen Lexifikatorsprache darstellt (vgl. MÜHLHÄUSLER 1996, 139–172). Im Fall von Unserdeutsch – ähnlich zu manch anderen Kreols und mixedlanguages (vgl. EHRHART / MAIR / MÜHLHÄUSLER 2006, 130) – sind diese negativen Einstellungen bereits an negativ wertenden emischen Sprachbezeichnungen wie Kaputte(ne) Deutsch, Falsche Deutsch und Verbrochene Deutsch erkennbar. Diese Einstellungen führten besonders bei den Familien, die mehr Kontakt zu den Missionaren hatten und in prestigereicheren, teilweise auch schriftorientierten Berufen an der Mission gearbeitet haben, auch zu einer stärkeren Orientierung an den Standardnormen selbst in der privaten Sphäre und somit auch bei der sprachlichen Sozialisation der Kinder. Akrolektales bzw. akrolektnäheres Sprechen wurde für sie somit zugleich auch ein Mittel der sozialen Positionierung innerhalb der Gruppe und auch Mittel des Aufstiegs in der sozialen Hierarchie an der Mission. Mehrere Sprecher haben selbst aus der heutigen, letzten Sprechergeneration darüber berichtet, dass sie in ihrer Kindheit von den Eltern korrigiert oder zum Gebrauch eines „richtigen Deutsch“ aufgefordert wurden, wenn sie Unserdeutsch gesprochen haben: (-) immä wi geht spielen mit alle (-) kindä fi die (.) die sa (--) in mein haus du sprechen deutsch (.) odä englisch (1.1) kein kaputte deutsch ((lacht)) Transkript 4: Sprachlicher Alltag an der Mission (Sprecherin ES, geb. 1939)

Dennoch hatten aber natürlich auch diese Familien mehr oder weniger enge Verwandtschafts- und/oder Freundschaftsbeziehungen mit den anderen Mitgliedern der Gruppe, was auf der anderen Seite eine allzu weite Entfernung von den subsistenten sprachlichen Normen der Gruppe verhindert hatte. MÜHLHÄUSLER (1997, 211) beschreibt das Profil von solchen dekreolisierten bzw. Postkreolvarietäten folgendermaßen: Whereas the grammatical structures of stabilized and expanded Pidgins and Creoles are widely acceptable, post-Pidgin and post-Creole varieties are often individual solutions, reflecting the speakers’ social mobility and social aspirations rather than shared social norms. (MÜHLHÄUSLER 1997, 211)

Diese Beschreibung suggeriert eine Destabilisierung bereits gefestigter Sprachgebrauchsnormen, eine Zersplitterung des Kreols in idiolektale Sprachformen und somit eine extensive, wenn nicht gar unüberschaubare Variation. Das beschriebene Szenario wird wohl auf zahlreiche dekreolisierte Kreolsprachen tatsächlich zutreffen. Die Stabilität bzw. die Konventionalisiertheit von Unserdeutsch ist jedoch im Spiegel jüngster Sprachaufnahmen selbst heute noch, trotz fortschreitenden Sprachwechsels und Sprachverlusts und zweifelsfrei vorhandener Variation, deutlich erkennbar. In diesem Fall sind es wohl vor allem (a) die kleine Größe der

Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

229

Sprachgemeinschaft, (b) die Endogamie mit den daraus resultierenden dichten sozialen Netzwerken innerhalb der Sprechergemeinschaft sowie (c) die primäre identitätsmarkierende Funktion der Sprache, die der Destabilisierung und somit der Variation in Unserdeutsch Grenzen gesetzt haben. Art und Umfang der Variation in Unserdeutsch lassen sich – aufgrund der jüngst erhobenen Primärdaten – mit der von AUER (2005; 2011) beschriebenen diaglossischen Dialekt-StandardKonstellation vergleichen, wie sie etwa auch in weiten Teilen Süddeutschlands und Österreichs beobachtet werden kann: Wir haben es mit einem Kontinuum mit zahlreichen Abstufungen und fließenden Übergängen zu tun, wobei der Elaboriertheitsgrad, d. h. die Nähe der von den einzelnen Sprechern gesprochenen Varietät zum basilektalen oder eben zum akrolektalen Pol im Kontinuum, vor allem von der sozialen Mobilität der Vorfahren und deren Kontakt zum Standarddeutschen abhängt. Insgesamt überwiegen allerdings unter den heute lebenden Sprechern basi- und mesolektale Varietäten, im Gegensatz etwa zur von VOLKER Ende der 1970er Jahre interviewten Sprechergeneration (vgl. VOLKER 1982), die an der Mission noch intensiven Kontakt zum Standarddeutschen hatte. Die jetzige, letzte, nach 1930 geborene Generation hat jedoch den Kontakt zum Standarddeutschen schon in ihren jungen Jahren verloren, erstens durch die Dominanz des Englischen an der Mission und zweitens durch die Auswanderung nach Australien im Zuge der Unabhängigkeit Papua-Neuguineas nach 1975 (vgl. VOLKER 1982; MAITZ 2016). Die Variation hat in Unserdeutsch neben der interpersonalen auch eine intrapersonale Dimension. Ein- und dieselbe abhängige Variable kann im Sprachgebrauch ein- und derselben Person unterschiedlich realisiert werden. Beispielsweise können Nominalphrasen bei ein- und demselben Sprecher mit oder ohne Genusmarkierung vorkommen: de kind / de gras / de stein vs. am namitta ‘am Nachmittag’. Ebenso können Verben bei Vergangenheitserzählungen temporal spezifiziert oder unspezifiziert sein. Solche und ähnliche Variationsphänomene dürften in bestimmten Fällen mit Attrition zu tun haben, oder aber, besonders bei eher akrolektalen und sprachbewussteren Sprechern, einem der Interviewsituation geschuldeten „Gleiten“ im Kreol-Kontinuum zu verdanken sein. In zahlreichen anderen Fällen handelt es sich jedoch eindeutig um Frequenzeffekte, d. h. um Fälle, wo die Realisierung einer Variable von der Type- oder Tokenfrequenz der Konstruktion abhängt. Tendenziell gilt, dass im Hoch- und Höchstfrequenzbereich selbst bei basilektalen Sprechern Reste von grammatischen Kategorien des Standarddeutschen vorkommen, die dem System von Unserdeutsch ansonsten fremd sind. Hierbei handelt es sich allerdings ganz offensichtlich um holistisch gespeicherte chunks, um die Replikation von vollkommen oder teils unanalysierten, „inselhaften“ Konstruktionen (vgl. TOMASELLO 1992) aus der target language, d. h. der Superstratsprache. Diese chunks können formelhafte Konstruktionen, aber auch komplexe Wörter und Wortkombinationen sein. So ist etwa der Konjunktiv I in Unserdeutsch nach heutigem Kenntnisstand – über auswendig gelernte Texte wie z. B. Lieder hinaus – ausschließlich in zwei höchst kontextspezifischen formelhaften Kontruktionen belegt, die zugleich auch Bände sprechen über den Entstehungskontext der Sprache: Gelobt sei Jesus Christus! und vor allem – Sei brav!

230

Péter Maitz

Tendenziell nur bei Hochfrequenzverben kommen die – in Unserdeutsch ansonsten absenten – Vergangenheitstempora Präteritum und Plusquamperfekt (!) vor: das Präteritum nur bei Auxiliar-, Kopula- und Modalverben, das Plusquamperfekt hingegen bei einzelnen Hochfrequenzverben wie kommen und gehen. Die oben bereits erwähnte, scheinbare nominale Genusdifferenzierung wiederum ist auf einzelne formelhafte und frequente Konstruktionen und auch dabei besonders auf die spezielle Präposition-Artikel-Enklise beschränkt wie etwa Gott im himmel, jeden tag, am morgen, am abend. Bei diesen Fällen handelt es sich allerdings offensichtlich und ausschließlich um unanalysierte Konstruktionseinheiten. Grundsätzlich gibt es in Unserdeutsch die grammatische Kategorie des nominalen Genus – wie auch den Kasus – nicht. Die Tatsache, dass die Zahl holistisch gespeicherter chunks in Unserdeutsch recht hoch ist, deutet auf eine recht frühe Fossilisierung beim Erwerb der Lexifikatorsprache hin, wo Strukturen noch nicht vernetzt waren bzw. Ähnlichkeitsbeziehungen zwischen Konstruktionen nicht entdeckt werden konnten, und daher auch eine Generalisierung des Wissens von bekannten Konstruktionen nur eingeschränkt oder gar nicht möglich war (vgl. TOMASELLO 1992; BEHRENS 2009). Grundsätzlich gilt (auch) für Unserdeutsch die Tendenz, dass basilektale Varietäten einen geringeren Grad an grammatischer Komplexität aufweisen als meso- und akrolektale. Die tendenziell geringere strukturelle Elaboriertheit des Basilekts resultiert aus zwei Faktoren. Erstens aus zweitspracherwerbsbedingten Simplifizierungen, d. h. aus der – im Fall von Unserdeutsch wohl eindeutig bewussten und funktionalen – Fossilisierung beim L2-Erwerb der Lexifikatorsprache, wodurch eine sprachliche Distanz zu den Missionaren und deren Sprache geschaffen werden wollte (siehe oben). Und zweitens aus L1-Transfer, d. h. aus der bewussten Anlehnung an die Substratsprache Tok Pisin, die von einzelnen Bereichen der Grammatik (wie z. B. Pronominalsystem) abgesehen von vornherein durch relative grammatische Simplizität gekennzeichnet ist (vgl. WURM / MÜHLHÄUSLER 1985), handelt es sich doch bei der Sprache um ein englischbasiertes Pidgin. In der unzweifelhaft starken strukturellen Anlehnung des Unserdeutsch an seine Substratsprache Tok Pisin scheint auch der foreigner talk, dessen Rolle bei der Entstehung von Pidginsprachen seit langem diskutiert wird (vgl. ROMAINE 1988, 72–84), eine entscheidende Rolle gespielt zu haben. Eigenartigerweise allerdings weniger zwischen den Missionaren und den mixed-race Kindern als vielmehr unter den Kindern selbst. Erzählungen der Sprecher zufolge begann nämlich die Geschichte von Unserdeutsch damit, dass in den Schlafsälen und Gemeinschaftsräumen die älteren Kinder den kleinen Neuankömmlingen gegenüber, welche noch kein Deutsch, dafür aber Tok Pisin gesprochen haben, angefangen haben, Tok Pisin Sätze deutsch zu relexifizieren (vgl. MAITZ 2016; VOLKER 1991, 146). Basilektale Varietäten von Unserdeutsch weisen nur in jenen wenigen Bereichen komplexere Strukturen als akro- und mesolektale auf, in denen die Substratsprache Tok Pisin größere Komplexität aufweist als die Lexifikatorsprache Standarddeutsch. Hierher gehört vor allem das System der Personalpronomen, wo Tok Pisin eine für Pidgin- und Kreolsprachen höchst auffallende Komplexität auf-

231

Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

weist, mit – wenn auch maximal ikonischen – Singular-, Plural-, Dual- und Trialformen sowie einer Exklusiv-inklusiv-Distinktion beim Pronomen in der 1. Person Plural (vgl. VERHAAR 1995, 18–20; WURM / MÜHLHÄUSLER 1985, 343). Das Pronominalsystem von Unserdeutsch ist zwar grundsätzlich an das des Standarddeutschen angelehnt, es ist jedoch im Vergleich zum Standarddeutschen um eine – wohl auf Tok Pisin zurückführbare, d. h. als Substrattransfer erklärbare – Exklusiv-inklusiv-Unterscheidung in der 1. Person Plural erweitert. Das exklusive Personalpronomen ist wi, das inklusive ist uns. VOLKER (1982, 31–32) weist – aufgrund der seinerzeit vorliegenden Daten – auf keine Einschränkung im distinktiven Gebrauch der beiden Formen hin. In den 2014–2016 erhobenen Daten erscheint hingegen diese Distinktion ausschließlich bei basilektalen Sprechern, so etwa in folgender Äußerung einer Gewährsperson gegenüber dem Interviewer bei einem jüngst geführten Interview: (1)



uns 1PL.INCL

beide both

am PROG

spreh-en10 talk-VERB

so so

schön […] lovely

uns 1PL.INCL

zwei both

am PROG

spreh-en unserdeutsch. talk-VERB Unserdeutsch ‘Wir beide unterhalten uns so schön … wir beide sprechen Unserdeutsch.’

Da hier der Interviewer mitgemeint ist, erscheint das inklusive Pronomen, wohingegen in exklusiver Bedeutung – wie in (2) – die Form wi verwendet wird: (2)

wi 1PL.EXCL

tanz-en dance-VERB

wenn when

wi 1PL.EXCL

hat have

musik; music

wi 1PL.EXCL

alle all

tanz-en, sauf-en, dann nächst-e ta wi kaputt. dance-VERB tipple-VERB then next-ATTR day 1PL.EXCL exhausted ‘Wir tanzen, wenn wir Musik haben; wir tanzen alle, wir saufen und am nächsten Tag sind wir dann erschöpft.’

Allerdings deuten die jüngst erhobenen Daten darauf hin, dass dieses Pronominalsystem – heute zumindest – selbst bei basilektalen Sprechern nicht (mehr) intakt ist. Die Verwendung der zwei Pronomen zeigt (auch) eine nicht funktionale, scheinbar freie Variation. Dies kann unter Umständen als Attritionserscheinung interpretiert werden, nicht auszuschließen ist aber auch der Substrateinfluss, da – einschlägigen metalinguistischen Aussagen zufolge – die pronominale Exklusiv 10

Verben enden in basilektalem Unserdeutsch – bis auf eine kleine Gruppe von Hochfrequenzverben – systematisch auf -en und flektieren grundsätzlich nicht nach Person und Numerus. Diese invarianten Verbformen sind auch temporal weitgehend unspezifiziert, indem sie gleichermaßen für Vergangenes, Gegenwärtiges oder Zukünftiges stehen können. In diesem Sinne scheint in {-en} ein wortartmarkierendes Suffix, ein Verbmarker also, vorzuliegen.

232

Péter Maitz

inklusiv-Distinktion für mehrere Sprecher auch im Tok Pisin nicht (mehr) bewusst ist. Ein zweites Beispiel für höhere Komplexität im Basilekt lässt sich in der Verwendung des am-Progressivs beobachten. Der am-Progressiv als grammatikalisiertes Mittel der Aspektmarkierung kann in Unserdeutsch, in ähnlicher, aber nicht identischer Weise wie im deutschen Gebrauchsstandard (vgl. GÁRGYÁN 2014), sowohl in progressiver – wie in (3) – als auch in habitueller Bedeutung – wie in (4) – auftreten; die Kopula sein kann dabei realisiert – vgl. (3) – oder aber auch gedroppt werden; vgl. (1) und (4). (3)

de

frau is am koh-en woman COP.3SG PROG cook-VERB ‘Die Frau kocht (gerade) für ihren Mann.’ ART.DEF

(4)

mein 1SG.POSS

vater father

war […] ein COP.PST ART.DEF

mechanic, mechanic

fi ihre for 3SG.F.POSS am HAB

arbeit-en work-VERB

herrgemahl husband fi for

de

mission. mission ‘Mein Vater war Mechaniker, er arbeitete für die Mission.’ ART.DEF

Die größere Komplexität im Basilekt besteht in diesem Fall darin, dass die Obligatorisierung des am-Progressivs im Basilekt deutlich weiter vorangeschritten zu sein scheint als im Sprachgebrauch von meso- und akrolektalen Sprechern – und auch deutlich weiter, als es selbst im heutigen Gebrauchsstandard in Deutschland der Fall ist. Die Gründe hierfür sind zunächst unklar. Der höhere Grammatikalisierungsgrad des am-Progressivs im Basilekt dürfte am ehesten auf einen sekundären Adstrateinfluss des Englischen zurückzuführen sein. Weniger plausibel erscheint die Annahme eines Substrateinflusses, da Tok Pisin zwar ebenfalls beide Aspekte markiert, dies aber nicht obligatorisch tut (vgl. WURM / MÜHLHÄUSLER 1985, 378–381). Nicht zuletzt ist auch eine autochthone, nicht kontaktinduzierte Entwicklung als mögliche Ursache für die Generalisierung der Konstruktion nicht auszuschließen. Nach diesen allgemeinen Ausführungen zu Hintergründen und Dimensionen der Variation sollen nun im Folgenden einige der – nach heutigem Kenntnisstand – wichtigsten abhängigen Variablen in Unserdeutsch vorgestellt und kurz diskutiert werden, ohne den geringsten Anspruch auf Vollständigkeit und Endgültigkeit. Quantitative Aussagen werden dabei zunächst zwangsläufig allgemein gehalten werden müssen, was durch den gegenwärtigen Stand der Dokumentationsbzw. Korpusarbeit bedingt ist. Unabhängig davon gilt, dass die nachfolgenden Aussagen zu bestimmten primären Variationsphänomenen und -tendenzen auf der Sichtung und der Analyse größerer Datenmengen beruhen. Variationsphänomene, zu denen im Augenblick keine belastbaren Aussagen möglich sind, werden bewusst nicht berücksichtigt.

Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

233

4 VARIABLE STRUKTUREN IM KREOL-KONTINUUM Die auch nach der Dekreolisierung erhalten gebliebene strukturelle Stabilität von Unserdeutsch ist deutlich erkennbar an der Tatsache, dass die Variabilität innerhalb der Sprache durchaus überschaubar ist und entlang eines begrenzten Variablensets stattfindet. Da die Beschreibung der Struktur des Kreol-Kontinuums gegenwärtig noch aussteht, kann eine systematische Darstellung dieses Variablensets und der damit verbundenen Sprachvariation an dieser Stelle nicht angestrebt werden. Daher werden im Folgenden nur einige der wohl prominentesten und/oder salientesten Variablen angesprochen, ganz besonders auch diejenigen, die von sprachtypologischer Relevanz sind (vgl. MAITZ / LINDENFELSER i. Dr.). 4.1 Phonologie Bevor in einem ersten Schritt auf lautliche Strukturen und Variationsphänomene in Unserdeutsch eingegangen wird, soll gleich vorausgeschickt werden: Eine systematische phonologische Analyse von Unserdeutsch steht noch weitgehend aus. Bereits die erste, nähere Auseinandersetzung mit den jüngst erhobenen Daten deutet darauf hin, dass VOLKERS phonologische Skizze (vgl. VOLKER 1982) nicht nur erweitert, sondern an mehreren Stellen, in erster Linie wohl in Bezug auf das Phoneminventar, auch präzisiert bzw. revidiert werden muss,11 was hier naturgemäß nicht geleistet werden kann. Aufgrund dieser Forschungssituation wird im Folgenden ausschließlich die phonische Ebene im Sprachgebrauch behandelt, ohne die Frage nach dem phonologischen Status der Sprachlaute klären zu wollen. Im Rahmen der phonologischen Typologie von Silben- und Wortsprachen (vgl. AUER 2001) lässt sich Unserdeutsch klar und eindeutig dem silbensprachlichen Pol zuordnen. Im Spiegel der Daten und deren Vergleich mit den vorliegenden Befunden zu anderen germanischen Sprachen und Varietäten (vgl. etwa NÜBLING / SCHRAMBKE 2004) springt der ausgeprägte silbensprachliche Charakter der Sprache besonders ins Auge, und unter den Varietäten des Deutschen dürfte Unserdeutsch zu denen gehören, die die markantesten silbensprachlichen Züge aufweisen. Dies scheint allerdings in diesem Fall ein kontaktinduziertes Phänomen, d. h. auf phonologischen Transfer aus der ebenfalls markante silbensprachliche Züge aufweisenden Substratsprache Tok Pisin zurückzuführen zu sein. Eine systematische phonologisch-typologische Analyse von Unserdeutsch ist hier nicht möglich. Daher sollen hier nur drei der auffallendsten silbensprachlichen Merkmale kurz angesprochen werden. Die variationslinguistische Relevanz dieser phonologisch-typologischen Variablen besteht darin, dass die Stärke der silbensprachlichen Züge – neben einer intrapersonalen Variation – in erster Linie von der Position der jeweiligen Varietät im Kreol-Kontinuum abhängt. Stärker an die Sub

11

Dies gilt naturgemäß auch für KLEIN (2004) und VELUPILLAI (2015), deren Aussagen über die Phonologie von Unserdeutsch auf VOLKER (1982) basieren.

234

Péter Maitz

stratsprache Tok Pisin angelehnte, basilektale Varietäten, sind deutlich stärker silbensprachlich geprägt, während meso- und vor allem akrolektale Varietäten mehr vom wortsprachlichen Charakter der Superstratsprache (vgl. SZCZEPANIAK 2007) bewahrt haben. Basilektale Varietäten sind erstens gekennzeichnet durch eine Präferenz von weniger komplexen Silbenkodas. Bei der Vereinfachung komplexer Silbenendränder der Lexifikatorsprache scheinen jedoch Vokalepenthesen – im Gegensatz zu Tok Pisin – keine Rolle zu spielen; stattdessen ist eine starke Tendenz zur Tilgung silbenfinaler Konsonanten erkennbar, die zu einer klaren Präferenz von CVC- und CV-Strukturen führt: [bis] ‘bist’, [ni] ‘nicht’, [ta] ‘Tag’, [filaɪ̯ ] ‘vielleicht’, [sa] ‘sagt’, [ma] ‘mache’ etc. Zweitens zeigt basilektales Unserdeutsch ein einheitliches Vokalsystem in Haupt- und Nebensilben; Reduktionsvokale gibt es keine, auch die unbetonten Silben weisen volle Vokale auf; das standarddeutsche Schwa wird durch [ɛ] ersetzt, [ɐ] ebenfalls durch [ɛ] oder [ɛr]; vgl. [mutɛr] ‘Mutter’, [abɛ] ‘aber’, [ɛrstɛ] ‘erste’, [hɛrgɛmal] ‘Ehemann’. Auch in Bezug auf die Vokalquantität sind die Unterschiede zwischen betonten und unbetonten Silben eingeebnet durch die klare Tendenz zum Abbau der vokalischen Quantitätsopposition. Die standarddeutschen Langvokale sind tendenziell zu Halblängen oder vollständig gekürzt, vgl. [mɛthɛn] ‘Mädchen’, [gros] ‘groß’, [ta] ‘Tag’, [ʃulɛ] ‘Schule’ etc. Somit sind es lediglich die nur in betonten Silben vorkommenden Diphthonge, aus denen sich ein gewisses akzentbedingtes Silbengewichtsgefälle ergibt. Ein zweites prägnantes phonologisches Merkmal von Unserdeutsch ist das im Vergleich zum Lautsystem der Lexifikatorsprache stark reduzierte Lautinventar, das sich als Anlehnung an das Lautsystem von Tok Pisin beschreiben und erklären lässt (vgl. WURM / MÜHLHÄUSLER 1985). Tendenziell gilt, dass cross-linguistisch markierte Konsonanten und Vokale der Lexifikatorsprache sowie solche, die dem Lautsystem von Tok Pisin fremd sind, substituiert werden. Somit ergibt sich letztlich ein Lautinventar in basilektalem Unserdeutsch, das mit dem von Tok Pisin weitgehend identisch ist. Dies betrifft erstens die oben bereits erwähnte Kürzung von lexifikatorsprachlichen Langvokalen. Zweitens sind die Umlautvokale tendenziell – jedoch nicht durchgehend – durch ihre illabialen Paare ersetzt; vgl. [grɛsɛrɛ] ‘größere’, [surik] ‘zurück’, [ʃitɛn] ‘schütten’ etc. Im Bereich des Konsonantismus sind es vor allem die im Tok Pisin nicht vorhandenen Konsonanten [ç], [χ] sowie die Affrikate [ts], die in basilektalem Unserdeutsch tendenziell ersetzt sind. [ç] und [χ] werden entweder – in wortmedialer Onsetposition – durch [h] substituiert; vgl. [mahɛn] ‘machen’, [mɛthɛn] ‘Mädchen’, [ʃprɛhɛn] ‘sprechen’ etc. In Kodaposition hingegen werden sie tendenziell ersatzlos getilgt: [i] ‘ich’, [ta] ‘Tag’, [ni] ‘nicht’, [firtsi] ‘vierzig’ etc. Die Affrikate [ts] wird vielfach auf ihr frikativisches Element reduziert: [susamɛn] ‘zusammen’, [su] ‘zu’ etc. Auch hier gilt, dass die genannten Substitutionen, dabei in erster Linie die von [ç] und [χ], desto charakteristischer sind, je weiter die jeweilige Varietät in der Nähe des basilektalen Pols im Kreol-Kontinuum anzusiedeln ist.

235

Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

4.2 Morphosyntax Im Vergleich zu seiner Lexifikatorsprache ist Unserdeutsch durch eine weitgehende Flexionsarmut gekennzeichnet und ist somit auch in dieser Hinsicht mit seiner Substratsprache Tok Pisin vergleichbar. Morphologische Kategorien bzw. synthetische grammatische Markierungen der Lexifikatorsprache sind – wie in Kreolsprachen üblich (vgl. VELUPILLAI 2015, 53) – in den meisten Fällen entweder abgebaut oder durch analytische ersetzt (vgl. VOLKER 1982). Im Bereich der Nominalflexion ist nicht nur die strukturelle Einfachheit, sondern auch die strukturelle Stabilität der Sprache besonders augenfällig. Die Absenz von Genus und Kasus sowie von unterschiedlichen Flexionsklassen ist in einem breiten Spektrum des Kreol-Kontinuums charakteristisch. Eine etwas auffälligere Variabilität zeigt sich vor allem in Bezug auf lediglich zwei abhängige Variablen. Erstens in der Pluralmarkierung, die in Unserdeutsch – wie in Tok Pisin auch (vgl. WURM / MÜHLHÄUSLER 1985) – grundsätzlich analytisch, durch einen pränominalen Pluralmarker, erfolgt. Dieser Pluralmarker ist das Morphem alle, das sowohl in seiner Form wie auch in seiner Funktion und Position an seine Äquivalente in Tok Pisin ol (vgl. ol meri ‘Frauen’) angelehnt ist; vgl. (5). (5)

alle

groß-e knabe, die sin mehr gierich big-ATTR boy 3PL COP.3PL more greedy 12 ‘Die großen Jungen waren gieriger als die kleinen.’ PL

als than

alle PL

klein-e small-ATTR

Reste der synthetischen Pluralmarkierung in der Lexifikatorsprache (vgl. de großkinder un de urgroßkinder) kommen vor allem nur in Varietäten vor, die dem akrolektalen Pol im Kontinuum näher sind sowie – teilweise auch bei basilektalen Sprechern – ganz besonders bei frequenten Substantiven. Die zweite Variable im Bereich der Nominalflexion, die eine auffallende Variation entlang des Kreol-Kontinuums zeigt, ist die in Abschnitt 3 bereits diskutierte Exklusiv-inklusiv-Distinktion beim Personalpronomen in der 1. Person Plural, worauf hier daher nicht weiter eingegangen werden soll. Die Verbalflexion zeigt in Unserdeutsch eine etwas größere strukturelle Elaboriertheit und auch einen höheren Grad an Variabilität. Von dieser Variation ist vor allem auch die Person- und Numerusmarkierung betroffen. Im Basilekt wird die Person- und Numerusmarkierung – wie in Tok Pisin – auf das Subjekt ausgelagert, wobei das Verb selbst unflektiert bleibt. Die invariante Verbform entspricht bei Hoch- und Höchstfrequenzverben der 3. Person Singular im Standarddeutschen (i/du/wir hat/will/kann/geht; vgl. [2] und [7]), bei einzelnen anderen Verben dem Verbstamm (z. B. arbeit, bleib; vgl. Transkript 1 und 3), ansonsten, im unmarkierten Regelfall, dem standarddeutschen Infinitiv wie in (6) oder (9). 12

Die Angabe der standarddeutschen Äquivalente richtet sich nach der aktuellen Bedeutung des Originals im gegebenen Äußerungskontext.

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Péter Maitz

(6)

mein oma immer lauf-en 1SG.POSS grandmother always walk-VERB ‘Meine Oma lief immer zurück zur Mission.’

(7)

wie viel du will fi dein how much 2SG want for 2SG.POSS ‘Wie viel willst du für dein Haus?’

zurück back

zu to

mission mission

haus? house

Vor allem in meso- und besonders in akrolektalen Varietäten kommen häufiger – jedoch keineswegs durchgehend – nach Person und Numerus flektierte Verben vor, sodass hier die Subjekt-Verb-Kongruenz, wie sie für die Lexifikatorsprache charakteristisch ist, erhalten bleibt; vgl. (8): (8)

a. viellei die könn-en du can-3PL 2SG maybe 3SG.PL ‘Vielleicht können sie dir mehr sagen.’ b. sie kann nich mehr 3SG.F can.3SG NEG more ‘Sie kann nicht mehr sprechen.’

mehr more

sag-en / say-INF

spreh-en speak-INF

Eine größere Variabilität zeigt sich darüber hinaus auch bei der in Abschnitt 3 bereits angesprochenen Tempusmarkierung im Bereich der Vergangenheitstempora. Die explizite, grammatische Tempusmarkierung ist in Unserdeutsch – ähnlich zu Tok Pisin (vgl. WURM / MÜHLHÄUSLER 1985) – optional; auch bei Vergangenheitserzählungen können Verben durchgängig unflektiert bleiben (vgl. Transkript 3). Ob und inwieweit eine explizite Vergangenheitsmarkierung erfolgt, scheint (u. a.) von zwei Faktoren abhängig zu sein. Erstens von der Verbfrequenz: Das Vorkommen von Präterital- und Plusquamperfektformen ist ausschließlich auf (hochfrequente) Hilfs-, Kopula- und Modalverben sowie auf einzelne frequente Vollverben beschränkt (siehe Abschnitt 3); diese kommen in der vollen Breite des Kreol-Kontinuums vor. Das Vorkommen von Perfektformen scheint hingegen primär von der Position der jeweiligen Varietät im Kreol-Kontinuum determiniert zu sein. Während das Perfekt im Basilekt nur sporadisch verwendet wird und Verben in den meisten Fällen – wie in (9) – vollständig unflektiert bleiben (vgl. auch Transkript 3), nimmt die Verwendung des Perfekts – wie in (10) – in Richtung des Akrolekts eindeutig zu (vgl. auch Transkript 2): (9)

dann i heirat-en then 1SG marry-VERB ‘Dann habe ich geheiratet.’

(10)

mama hat immer zwieback mother AUX.3SG always rusk ‘Mutter hat immer Zwieback gebacken.’

ge-back-en PTCP-bake-PTCP

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Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

4.3 Syntax In Bezug auf die Reihenfolge von Subjekt, Verb und Objekt zeigt Unserdeutsch keine Variation. Ähnlich zu seiner Substratsprache Tok Pisin und den allermeisten Kreolsprachen (vgl. MICHAELIS et al. 2013) ist Unserdeutsch eine klare SVOSprache (vgl. ausführlicher MAITZ / LINDENFELSER i. Dr.). Von dieser Wortstellung abweichende syntaktische Strukturen kommen in Deklarativsätzen nur vereinzelt vor; Verbletztsätze etwa sind in den Daten kaum belegt. Eine deutlich erkennbare Variabilität zeigt sich hingegen in Bezug auf Klammerstrukturen, deren eingehende syntaktische Analyse jedoch noch aussteht. In der Tendenz zeigt sich allerdings eindeutig, dass die für die Lexifikatorsprache typischen Klammerkonstruktionen im Basilekt kaum, in meso- und vor allem akrolektalen Varietäten jedoch deutlich häufiger auftreten. Dies gilt sowohl für analytische Tempusformen als auch für Modalverbkonstruktionen. Während diese Konstruktionen in elaborierteren, dem akrolektalen Pol des Kreol-Kontinuums näher stehenden Varietäten von Unserdeutsch – wie im Standarddeutschen auch – weit überwiegend klammerbildend sind (vgl. [13] und [14]), so sind sie es im Basilekt – soweit dort analytische Tempusformen überhaupt vorkommen – nicht (vgl. [11] und [12]). (11)

i war geboren 1SG COP.PST born ‘Ich bin anderswo geboren.’

in in

ein ART.INDF

andre other

(12)

sie will bleib da fi drei 3SG.F want stay there for three ‘Sie will für drei Wochen dort bleiben.’

(13)

dann sie war etwas spät zu then 3SG.F AUX.PST somewhat late to ‘Sie ist dann (erst) später in die Schule gegangen.’

(14)

ich will nich hier 1SG want.1SG NEG here ‘Ich will nicht hier bleiben.’

platz place

wohe week schule school

ge-gang-en13 PTCP-go\PST-VERB

bleib-en stay-INF

Eine signifikante Variation zeigt sich in Unserdeutsch nicht zuletzt auch in Bezug auf Kopulakonstruktionen. Im Gegensatz zu seiner Substratsprache Tok Pisin – und zahlreichen anderen Pidgin- und Kreolsprachen im Pazifik (vgl. MICHAELIS et al. 2013) – enthalten in Unserdeutsch Sätze mit prädikativen Adjektiven oder Nominalphrasen grundsätzlich ein Kopulaverb (vgl. VOLKER 1982, 36; MÜHL 13

Das Partizip Präteritum wird in basilektalem Unserdeutsch – als Ergebnis einer Reanalyse standarddeutscher Partizipialformen – nach dem Muster [ge- + unflektierte Grundform] gebildet, vgl. gemahen, geholen, gekrie. Davon abweichende, standardkonforme Bildungsweisen kommen lediglich bei einzelnen Hoch- und Höchstfrequenzverben bzw. bei meso- und vor allem akrolektalen Sprechern vor.

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HÄUSLER 1997, 201). Es ist das suppletive Verb sein, das sowohl nach Person und Numerus als auch nach Tempus flektiert wird. Solche Kopulaverbkonstruktionen kommen in der gesamten Breite des Kreol-Kontinuums vor. Ein scheinbar signifikanter Unterschied besteht jedoch hinsichtlich der Obligatorizität bzw. der Tilgung des Kopulaverbs in solchen Konstruktionen. Während im Basilekt das Kopulaverb in prädizierenden Kopulasätzen wie in (15) durchaus getilgt werden kann (vgl. auch [1] sowie Transkript 3), so ist das Kopulaverb in solchen Sätzen im Meso- und Akrolekt bis auf vereinzelt belegte Ausnahmen obligatorisch (vgl. [16]).

(15)

wenn du hambak14 un alle schwester seh-en du […] when 2SG naughty and PL sister see-VERB 2SG ‘Wenn du unartig warst und die (Missions-)Schwestern dich gesehen haben …’

(16)

die sin ni deutsch 3PL COP.3PL NEG German ‘Sie sind keine Deutschen.’

5 ZUSAMMENFASSUNG UND AUSBLICK Unserdeutsch ist, wie jede andere natürliche Sprache, durch eine interne Variabilität gekennzeichnet. Das Ausmaß dieser Variation dürfte allerdings im Fall von Unserdeutsch – im Vergleich zu manch anderer dekreolisierten Kreolsprache – als eher moderat bezeichnet werden. Warum dies so ist und welche Dimensionen die Variation in Unserdeutsch hat, konnte in diesem Aufsatz zwangsläufig nur ansatzweise aufgezeigt und beschrieben werden. Ebenfalls nur angedeutet und exemplarisch gezeigt werden konnte die Tatsache, dass die Variation auch in Unserdeutsch keineswegs willkürlich ist, sondern bestimmten klar erkennbaren Mustern bzw. Regeln folgt, und zwar in erster Linie entlang von zwei Variationsachsen. Erstens einer Frequenzachse, die zwischen niedrig- und höchstfrequenten Types bzw. Tokens verläuft. Zweitens – und vor allem – entlang der Achse des Kreol-Kontinuums, in Abhängigkeit von der strukturellen Nähe oder Distanz der jeweiligen Varietät zur Substrat- oder eben zur Lexifikatorsprache. Die genaue Erfassung dieser Variationsmuster und der Struktur des KreolKontinuums mithilfe einer Implikationsskala (vgl. DECAMP 1971) wird, sobald die Datenlage dies erlaubt, die Aufgabe der zukünftigen Forschung sein. Ebenfalls in der Zukunft wird – durch den Vergleich der alten, aus den 1970er und 80er Jahren erhalten gebliebenen Datenreste (vgl. MAITZ / KÖNIG / VOLKER 2016, 94) mit den jüngst erhobenen Daten – das Ausmaß des Wandels beschrieben werden können, der sich während des letzten Generationswechsels, seit der Auswanderung der Sprechergemeinschaft nach Australien, abgespielt hat, bedingt vor allem 14

Entlehnung von Tok Pisin hambak ‘unartig, frech’.

Dekreolisierung und Variation in Unserdeutsch

239

durch die Intensivierung des Sprachkontaktes zum Englischen und gleichzeitig durch dessen Abbruch zur Substratsprache Tok Pisin wie auch zur Lexifikatorsprache Standarddeutsch. Die Bewältigung dieser und vieler anderer Forschungsaufgaben wird jedoch erst dann möglich sein, wenn der Forschung die entsprechende Menge an entsprechend aufbereiteten Primärdaten zur Verfügung steht. Daher besteht die gegenwärtig wohl dringendste Aufgabe im Aufbau des im Rahmen des Augsburger Unserdeutsch-Projekts zum Ziel gesetzten und gegenwärtig entstehenden Unserdeutsch-Korpus. Nur auf dieser empirischen Grundlage ist eine systematische Beschreibung der Sprachstruktur vorstellbar, was durch die mehrfache Sonderstellung von Unserdeutsch unter den Kreolsprachen der Welt zahlreiche relevante und neuartige Erkenntnisse sowohl für die Kreolistik als auch für die Sprachtypologie und die evolutionäre Linguistik verspricht. Die dringende Notwendigkeit der systematischen Auseinandersetzung mit Unserdeutsch dürfte aber nicht zuletzt auch aus der Perspektive der germanistischen Linguistik außer Frage stehen. Letztlich geht es ja darum, die wohl jüngste und zugleich letzte noch unbeschriebene (zumindest halbwegs) germanische Sprache, die einzige deutschbasierte Kreolsprache der Welt, im letzten Augenblick vor ihrem Tod zu dokumentieren und zu beschreiben (vgl. MAITZ 2016, 227–230). VERWENDETE ABKÜRZUNGEN 1PL 1SG 2SG 3PL 3SG ART ATTR AUX COP DEF EXCL F

1. Person Plural 1. Person Singular 2. Person Singular 3. Person Plural 3. Person Singular Artikel Attributivmarker Auxiliar Kopula definit exklusiv feminin

HAB INCL INDF INF NEG PL POSS PROG PST PTCP VERB

habituell inklusiv indefinit Infinitiv Negation Plural Possessivum progressiv Vergangenheit Partizip Verbmarker

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DER DEFINITE NULLARTIKEL IN NIEDERSÄCHSISCHEN VARIETÄTEN: EINE AUSWERTUNG VON WENKERSÄTZEN Jeffrey Pheiff 1 EINLEITUNG1 Im Fokus des vorliegenden Beitrags steht der Artikelgebrauch in den niedersächsischen Varietäten, wie sie in den niederländischen Provinzen Groningen und Drente sowie der benachbarten Grenzregion in Deutschland gesprochen werden. Dabei liegt der Schwerpunkt auf Groningen. In den niedersächsischen Varietäten der Provinz Groningen kann eine definite Nominalphrase bzw. Determiniererphrase (NP / DP) ohne overten Definitartikel realisiert werden (BREE 2008, 100; TER LAAN 1953, 35; OOSTERHOF 2008; SCHURINGA 1923, § 178). Die folgenden Belege (1–4) stammen aus dem „Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten“ (SAND; BARBIERS et al. 2006) und dienen zur Illustrierung des Phänomens.2 In (1) und (2) fehlt der definite Artikel nach primären Präpositionen, in (3) und (4) hingegenwird der definite Artikel der im Vorfeld stehenden Subjekt-NP nicht realisiert. (1)

(2)

1

2

Dit glas brekt as y op Ø grond valt (Hoogezand C152p) Dieses Glas bricht als er auf Ø Grund fällt ‘Dieses Glas zerbricht, wenn es auf den Boden fällt’ Aal joaren leeft hai van Ø aarvenis van zien voader (Warffum C029p) Schon Jahre lebt er von Ø Erbe von seinem Vater ‘Seit Jahren lebt er vom Erbe seines Vaters’

Der vorliegende Beitrag stützt sich u. a. auf Daten, die im Rahmen eines Dissertationsprojekts an der Philipps-Universität Marburg transliteriert wurden. Es sei ausdrücklich betont, dass es sich bei der in diesem Aufsatz vorliegenden Darstellung lediglich um einen Ausschnitt der Gesamtdatenmenge eines laufenden Dissertationsprojekts handelt. Für hilfreiches Feedback bedanke ich mich bei MAGNUS BREDER BIRKENES, DAVID BOLTER, JÜRG FLEISCHER, TILLMANN PISTOR, LEA SCHÄFER und OLIVER SCHALLERT sowie zwei anonymen Gutachtern. Für Zugang zu den niederländischen Wenkerbogen sei NICOLINE VAN DER SIJS vom Meertens Instituut herzlich gedankt. Die Fragebogen werden derzeit von Freiwilligen digitalisiert, um sie für die Forschung zur Verfügung zu stellen. Für mehr Informationen siehe die ProjektWebseite, URL: ; Stand: 31.10.2017. In diesem Beitrag wird der fehlende Artikel in einem Beleg durch ein eingefügtes „Ø“ markiert; Belege werden folgendermaßen zitiert: (Ortsname Kloekecode). Bei einem Kloekecode handelt es sich um eine einmalige geographische Referenznummer. Unter dem folgenden Link lassen sich Kloekecodes im Internet abrufen: URL: ; Stand: 31.10.2017.

244 (3)

(4)

Jeffrey Pheiff Ø Kraant van guster ligt onder T.V. (Oudeschip C001p) Ø Zeitung von gestern liegt unter Fernseher ‘Die Zeitung von gestern liegt unter dem Fernseher’ Ø Timmerman har gain spiekers bie hom (Oudeschip C001p) Ø Zimmermann hatte keine Nägel bei ihm ‘Der Zimmermann hatte keine Nägel bei sich’

Die Beispiele in (1) bis (4) zeigen, dass der definite Nullartikel in den Dialekten Groningens eine andere Distribution als in der niederländischen Standardsprache aufweist: Er kann beispielsweise bei definiten Substantiven im Singular fehlen. Einem Überblick des Forschungsstands, in dem die bisher erschienene Literatur zum definiten Nullartikel in Groninger Dialekten, historische Belege für den Nullartikel sowie eine Besprechung relevanter Phänomene in den angrenzenden ostfriesischen niederdeutschen Dialekten besprochen werden, folgt eine Präsentation der Datengrundlage in Form von Wenkersätzen. Anhand der Daten werden nicht nur die dialektgeographischen Raumstrukturen ermittelt, sondern auch Hypothesen getestet, die aus der Besprechung der Literatur hervorgehen. Von besonderem Interesse ist dabei eine informationsstrukturelle Erklärung, wie sie von OOSTERHOF (2008) vorgeschlagen wurde. Vor dem Hintergrund von OOSTERHOFS Erklärung werden einige Ergebnisse diskutiert. Abschließend wird ein Fazit gezogen. 2 FORSCHUNGSSTAND Nach Forschungskonsens ging der definite Artikel aus dem Demonstrativum hervor, der im Altniederländischen oder möglicherweise sogar schon davor entstand (vgl. QUAK / VAN DER HORST 1997, 60). Für viele germanische (historische und areal definierte) Varietäten gilt, dass der definite Artikel weitere Entwicklungsstadien durchlaufen hat. In diesem Abschnitt wird die Artikelsetzung in Groningen skizziert. Dann erfolgt eine Diskussion der bisher vorgeschlagenen Erklärungen in der Literatur. Abschließend werden die angrenzenden Dialekte des ostfriesischen Niederdeutsch diskutiert. 2.1 Artikelrealisierung in den Dialekten Groningens Obwohl die Konstruktion spätestens seit WINKLER (1874, 413) wiederholt in der niederländischsprachigen Literatur erwähnt wird, fand die Erforschung artikelloser Nominalphrasen in den Lokaldialekten Groningens bisher wenig Beachtung. Zudem wird die Konstruktion in den (syntaktischen) Sprachatlanten des Niederländischen nicht behandelt (z. B. GERRITSEN 1991; BARBIERS et al. 2006). Es sind zwei Dialektgrammatiken aus Groningen vorhanden, in denen Angaben zur Artikelverwendung gemacht werden. Nach SCHURINGA (1923, 101) wird in den Veenkolonien der definite Artikel nach manchen Präpositionen im Gegen-

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

245

satz zum Standardniederländischen nicht realisiert, z. B. in toene ‘im Garten’ und op stoele ‘auf dem Stuhl’. In Fivelingo und Hunzingo kann der definite Nullartikel ohne die Begleitung einer Präposition auftreten. Nach TER LAAN (1953, 35– 36) wird er im Genus commune in den folgenden Regionen verwendet: im Wester Kwartier, auf dem Hogeland, im Wold und im Oldambt. Allerdings kommt er bei Substantiven im Neutrum nicht vor. Weitere Kontexte, in denen er nicht gesetzt werden muss, sind der Plural, Phraseologismen, der Superlativ sowie Straßennamen. Es fehlt jedoch eine genaue Angabe zur räumlichen Verteilung der definiten Nullartikel je nach Funktion. In einer Abschlussarbeit zeigte APOTHEKER (1980) mittels einer Befragung in Ulrum (B016p) und Loppersum (C075p), dass der definite Nullartikel auch beim Neutrum möglich ist. OOSTERHOF (2008) stellt eine weitere Untersuchung dar. Er wertet Daten der „Reeks Nederlandse Dialecten“ (RND) sowie Daten des SAND aus. In Bezug auf die Artikelsetzung stellt er fest, dass noch Mitte des 20. Jahrhunderts der definite Artikel bei neutralen Substantiven overt ist bzw. dass nur Substantive, die zum Genus commune gehören, mit einem definiten Nullartikel auftreten können. Erst Ende des 20. Jahrhunderts konnte er Evidenz für den Gebrauch des Nullartikels beim Neutrum finden, und zwar in den SAND-Daten. Dies gilt sowohl für zählbare Substantive im Singular und Plural als auch für nicht-zählbare. Darüber hinaus konnte er Unterschiede in der Artikelsetzung in Bezug auf die syntaktische Position bzw. Funktion der NP feststellen. Das heißt, der Artikel wird eher bei einem im Mittelfeld stehenden direkten Objekt als bei einem im Vorfeld stehenden Subjekt realisiert. Zur Erklärung des definiten Nullartikels schlägt OOSTERHOF (2008, 100–103) einen informationsstrukturellen Ansatz in Anlehnung an LEISS (2000) vor. In den Dialekten Groningens können nicht-zählbare und zählbare Nomina im Plural ohne Artikel definit oder indefinit interpretiert werden, was zu Ambiguität führt. Es stellt sich deshalb die Frage, wie Sprecher den Sätzen die „richtige“ Interpretation zuordnen. In Anlehnung an das informationsstrukturelle Prinzip, dass im Niederländischen der erste Teil eines Satzes als Thema und der Rest des Satzes als Rhema funktioniert, argumentiert er, dass die syntaktische Position bzw. Funktion eine wichtige Rolle bei der Setzung des definiten Artikels spielt. LEISS (2000, 8) folgend macht OOSTERHOF (2008, 104) die Annahme, dass eine Definitheitsmarkierung dann erforderlich ist, wenn die NP in rhematischer Umgebung vorkommt, d. h. wenn „ein solcher Inhalt nicht durch die grammatische Umwelt vorausgesetzt werden kann“. 2.2 Artikelsetzung im 19. Jahrhundert in Groningen Die ältesten Belege für artikellose NPs lassen sich nach meinem jetzigen Wissensstand erst ca. 1870 finden. Sie stammen aus dem „Algemeen Nederduitsch en Friesch Dialecticon“, einer Textsammlung von 182 Übersetzungen des „Gleichnisses vom verlorenen Sohn“ (LUKAS 15, 11–32) in friesischen, niederdeutschen

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und niederländischen Lokaldialekten (WINKLER 1874, V–VI).3 Die Übersetzung aus Ulrum (B016p) weist einige definite Nullartikel im Anschluss an eine Präposition auf (met ‘mit’, oet ‘aus’, om ‘um’, und op ‘auf’; vgl. 5–8), jedoch nicht an alle Präpositionen (9) und auch nicht in anderen syntaktischen Positionen (10). (5) (6) (7) (8) (9) (10)

[…] en dei stuurde hom op ziin lānd om op Ø zwiinen te pāssen ‘[…] und der schickte ihn auf sein Land, um auf die Schweine aufzupassen’ En hij wöl wel geern met Ø zwiinen oet Ø bak eten ‘Und er wollte schon gerne mit den Schweinen aus dem Trog essen’ […] kreeg bot medeliiden mit hom, luip op hom tou, völ hom om Ø hāls ‘[…] bekam starkes Mitleid mit ihm, lief auf ihn zu und fiel ihm um den Hals’ […] en ducht hom n ring om Ø vinger en skounen om Ø vouten ‘[…] und tat ihm einen Ring um den Finger und Schuhe um die Füße’ […] en vervougd er hom bi ain van de boeren van dei streek ‘[…] und erkundigte er sich bei einem von den Bauern von jener Gegend’ En de voader zee tegen ziin warkvolk […] ‘Und der Vater sagte zu seinen Bauernknechten […]’

Im Eintrag zum Definitartikel de bestätigt MOLEMA (1887, 67) die Daten aus WINKLER (1874): „In den Ommel[anden; JP] wird dieser Artikel häufig weggelassen, wobei man ihn in anderen Gebieten unserer Provinz immer sagen würde“ (Übersetzung: JP). In besagtem Beitrag findet sich eine Reihe von einschlägigen Beispielen, von denen ein paar im Folgenden angeführt werden (siehe dazu MOLEMA 1887, 67). Aus ihnen geht hervor, dass artikellose NPs zum einen in PPs vorkommen (ien Ø hoed ‘in Ø Hut’, noa Ø mart ‘nach Ø Markt’, bie Ø deur ‘bei Ø Tür’, op Ø wereld ‘auf Ø Welt’, van Ø deur ‘von Ø Tür’, mit Ø kop ‘mit Ø Kopf’, an Ø beun ‘an Ø Beinen’), wie es auch die Daten aus WINKLER (1874) erkennen lassen, und zum anderen auch in weiteren syntaktischen Positionen, beispielsweise im Mittelfeld (krig Ø zweep moar ‘Hol Ø Peitsche’, omdat Ø peeren […]‘weil Ø Birnen […]’). Dies betrifft zählbare und nicht-zählbare Substantive im Genus commune. Außerdem lässt sich beobachten, dass das Inventar an Präpositionen, bei denen der Artikel als eine Nullform realisiert wird, größer ist (ien ‘in’, van ‘von’, an, om ‘um’, mit, bie ‘bei’, noa ‘nach’). Es lässt sich festhalten, dass artikellose NPs bereits in der zweiten Hälfe des 19. Jahrhunderts verbreitet waren. Nach Maßgabe dieser beiden Quellen zeigt sich im 19. Jahrhundert in Groningen ein gewisses Spektrum an synchroner Variation. Es reicht von keinen artikellosen NPs über NPs mit reduzierten Artikeln über Nullartikel in NPs in

3

WINKLER ließ den Text in die Ortsdialekte übersetzen (WINKLER 1874, V–VII). Für die Provinz Groningen gilt, dass alle sieben Informanten männlichen Geschlechts waren und zum höheren gesellschaftlichen Stand gehörten (fünf Pfarrer [ndl.: predikant], ein Lehrer [ndl.: hoofdonderwijzer] und ein ehemaliger Notar [ndl: oud notaris]). Die Übersetzungen für Groningen entstanden zwischen 1870 und 1871.

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

247

Funktion eines Objekts einer Präposition bis zu artikellosen NPs in Subjekt- und Objektfunktion. Diachron wird der definite Nullartikel im Genus commune bisher als Resultat einer Tilgung des Artikels de nach Präpositionen verstanden. Nach WIERENGA (1984, 74–75) wurde der definite Artikel zunächst nach bestimmten Präpositionen nicht realisiert, bevor er auf dem Hogeland sogar vollständig verschwand. Zur Frage, nach welchen Präpositionen definite Nullartikel vorkommen und ab welchem Zeitpunkt die Weglassung von Artikeln begonnen haben soll, äußert sich WIERENGA (1984) allerdings nicht. Solche reduzierten Formen sind jedoch Anfang des 19. Jahrhunderts bei REIJNDERS (1828) mehrfach belegt. Eine ähnliche Erklärung für die Tilgung des neutralen Artikels t wird von HOPPENBROUWERS (1990, §6.4.1) vorgeschlagen. Ihm zufolge kommt der Gebrauch des Neutrums ins Wackeln durch Sätze wie Piet geft t bouk aan Marie ‘Piet gibt Marie das Buch’ und Piet gait mit t peerd noar t land ‘Piet geht mit dem Pferd ins Land’, in denen das Neutrum nach hochfrequenten Verbalendungen und Präpositionen steht, die auf einen Plosiv [t] auslauten. Dadurch wird der definite Nullartikel auf das Neutrum übergeneralisiert. 2.3 Artikelsetzung im ostfriesischen Niederdeutsch Das ostfriesische Niederdeutsch bildet ein Kontinuum zusammen mit den Dialekten der niederländischen Provinz Groningen. Belegt wird der definite Nullartikel in den sieben Belegorten in WINKLER (1874) nicht. Im „Niedersächsischen Wörterbuch“ (GONNSEN / SCHEUERMANN 1985) sowie in der „Einführung in das ostfriesische Niederdeutsch“ (WIESENHANN 1936) lassen sich ebenfalls keine Hinweise auf eine Nullform finden. Nach LINDOW et al. (1998, 274) wird der definite Artikel „[b]ei einem Sachverhalt, der von den Beteiligten eindeutig zugeordnet werden kann“, im Niederdeutschen nicht realisiert (11–13). Allerdings grenzen die Autoren das Gebiet nicht ein, in dem diese Regel gilt. (11) (12) (13)

Ø Döör is apen, Meister, man ümmer rin! ‘Die Tür ist offen, Meister, immer herein!’ Ø Sünn steiht al bannig hooch. ‘Die Sonne steht schon sehr hoch.’ Se gung na Ø Köök. ‘Sie ging in (nach) die Küche.’

Für das ostfriesische Niederdeutsch geht aus einem Sprachbeispiel in derselben Grammatik kein definiter Nullartikel hervor (vgl. LINDOW et al. 1998, 47–48). Demgegenüber enthält REERSHEMIUS’ (2004) grammatische Darstellung des ostfriesischen Niederdeutsch anhand des Ortsdialekts von Campen mehrere Belege für die Abwesenheit des definiten Artikels: Dåår zit Ø düwel in ‘Darin sitzt der Teufel’, Ø Mälkwågn kuam jə al um zeäs üür ‘Der Milchwagen kam ja schon um

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sechs Uhr’, Däi dürs nooit in Ø discou ‘Er traute sich nie in die Disco’. Es lässt sich also festhalten, dass der definite Nullartikel in älteren Beschreibungen nicht erwähnt wird und erst in jüngeren Quellen belegt wird. Die heutige Situation müsste in einer weiteren Untersuchung überprüft werden. 3 EMPIRISCHE UNTERSUCHUNG 3.1 Datengrundlage Als Korpus-Grundlage dienen die sog. Wenkersätze. Bekanntlich wurden die 40 Sätze Ende des 19. Jahrhunderts im ehemaligen Deutschen Reich und Luxemburg abgefragt. In den 1920er und 1930er Jahren wurden sie auch zur Erhebung dialektaler Sprechlagen in anderen europäischen Ländern herangezogen. Primär für die Ermittlung der räumlichen Verbreitung phonologischer und morphologischer Phänomene gedacht und an die in der Vorlage vorgegebenen Sätze gebunden, erwiesen sich die Sätze in jüngeren Arbeiten als eine interessante Quelle für syntaktische Untersuchungen (siehe FLEISCHER in diesem Band). Daran soll der vorliegende Aufsatz anknüpfen. Die Wenkersätze wurden ab 1935 in den Niederlanden per indirekter (schriftlicher) Methode im Rahmen einer jährlichen Erhebungsaktion (Vragenlijst 3) elizitiert.4 Ausgangspunkt für diese Initiative war wohl ein Besuch von P. J. MEERTENS bei FERDINAND WREDE in Marburg (MEERTENS 1936). Nach DAAN (1963, XXVIII) sind insgesamt 2305 Bogen in die Archive des damaligen „Centraal Bureau voor Nederlandsche en Friesche Dialecten“ eingegangen. Nach der Vorlage des ehemaligen „Centraal Bureau voor Nederlandsche en Friesche Dialecten“ bieten die Wenkersätze 29 NPs, in denen ein bestimmter Artikel in der standardniederländischen Vorlage vorkommt. Im vorliegenden Beitrag werden davon acht analysiert, die in (14) bis (20) in verkürzter Form in niederländischer und deutscher Fassung zu entnehmen sind. (14) (15) (16) (17) (18)

4

Doe kolen op de kachel dat de melk gauw gaat koken Tu Kohlen in den Ofen, dass die Milch bald an zu kochen fängt (WS 3) De koeken zijn van onderen helemaal zwart gebrand Die Kuchen sind unten ganz schwarz gebrannt (WS 6) Hij eet de eieren altijd zonder peper en zout Er isst die Eier immer ohne Salz und Pfeffer (WS 7) Mijn lieve kind, blijf hier beneden staan, de boze ganzen bijten je dood Mein liebes Kind, bleib hier unten stehen, die bösen Gänse beißen dich tot (WS 14) De sneeuw is vannacht bij ons blijven liggen Der Schnee ist diese Nacht bei uns liegen geblieben (WS 25)

Die Jahresangabe in MEERTENS (1936) und die Jahresangabe auf Vragenlijst 3 stimmen nicht überein: Auf Vragenlijst 3 ist die Jahresangabe 1934 zu lesen.

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

(19) (20)

249

Wat zijn daar voor vogeltjes boven op het muurtje Was sitzen da für Vögelchen oben auf dem Mäuerchen (WS 36) Ga maar, de bruine hond doet je niks Geh nur, der braune Hund tut dir nichts (WS 39)

Zur Untersuchung des fehlenden Artikels eignen sich die Wenker-Materialien aus einer methodologischen Perspektive, weil gleichförmige Sätze für das gesamte Sprachgebiet vorliegen, die unter den gleichen Erhebungsbedingungen zustande kamen. Wie bereits erwähnt ist die Auswahl an Sätzen für die Auswertung primär von der Vorlage abhängig. Wenn ein Kontext in den Sätzen fehlt, kann dieser Mangel im Nachhinein nicht mehr behoben werden. Für die vorliegende Auswertung erfolgte die Auswahl der Sätze nach zwei Kriterien, und zwar a) ob der Satz in Bezug auf einen bestimmten Faktor ergiebig sein könnte und b) ob sich ein Satz möglichst minimal von einem anderen Vorlage-Satz unterscheidet, um einen Vergleich mit einem anderen Kontext möglichst konstant zu halten. Dies hat den Effekt, dass mit zunehmender Sicherheit festgestellt werden kann, ob ein Faktor die Realisierung des Artikels bei der Konstant-Haltung aller anderen Faktoren bedingt. 3.2 Zur Auswertung der Wenkersätze Aus dem bisher Gesagten ergeben sich einige Hypothesen, die sich trotz der vorgegebenen Grenzen der Wenkersätze überprüfen lassen. Die Hypothesen lauten folgendermaßen: – – –

Subjekte im Vorfeld bekommen häufiger einen definiten Nullartikel als Objekte im Mittelfeld (vgl. OOSTERHOF 2008, 94, 101); bei Substantiven im Plural wird der definite Artikel häufiger nicht realisiert als bei Substantiven im Singular (vgl. TER LAAN 1953); der definite Nullartikel kommt im Neutrum in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts nicht vor (vgl. TER LAAN 1953; OOSTERHOF 2008, 93–94).

Für die vorliegende Untersuchung wurden alle Bogen aus den Provinzen Drente (n = 139) und Groningen (n = 274) sowie Bogen im angrenzenden ostfriesischen Niederdeutsch (n = 70) von WENKERS Erhebung aus Deutschland herangezogen.5 Dabei wurden 288 verschiedene Ortspunkte betrachtet. Als irrelevant eingestufte Belege werden bei der tabellarischen Auswertung nicht berücksichtigt. 5

Aufgrund des Transliterationsaufwandes beschränkt sich die Auswahl an ostfriesischen Daten auf diejenigen Bogen, die derzeit transliteriert vorliegen. Im Rahmen der Dissertation sollen weitere ostfriesische Wenkerbogen berücksichtigt werden.

250

Jeffrey Pheiff

3.2.1 Einfluss der syntaktischen Funktion bzw. Position auf die Artikelsetzung Der Einfluss der syntaktischen Funktion bzw. Position lässt sich anhand von WS 6 (die Kuchen) und WS 7 (die Eier) sowie WS 3 (der Schnee) und WS 25 (die Milch) untersuchen. Die NPs die Kuchen und die Eier teilen die semantischen Merkmale [+ZÄHLBAR, +PLURAL, −BELEBT]. Sie unterscheiden sich hinsichtlich der syntaktischen Funktion, weil die NP die Kuchen ein Subjekt im Vorfeld darstellt, während die Eier ein direktes Objekt im Mittelfeld ist. Tabelle 1 zeigt die Ergebnisse der Auswertung in Prozent. die Kuchen (WS 6)

die Eier (WS 7)

Artikel: de(n)

81,75 %

55,88 %

Null: Ø

15,98 %

18,02 %

Demonstrativum: die

2,29 %

0,81 %

0%

25,31 %

Possessivum: zijn

Tab. 1: Einflussfaktor „Syntaktische Funktion“: WS 6 und WS 7 im Vergleich

Es zeigt sich, dass es eine leichte Neigung zu definiten Nullartikeln beim direkten Objekt im Mittelfeld gibt (18,02 % beim direkten Objekt vs. 15,98 % beim Subjekt). Die hohe Anzahl von Possessiven bei der NP die Eier (und damit die niedrige Anzahl vom overten definiten Artikel de) ist methodisch bedingt und erklärt sich aus der Vorlage von WS 7, in der zijn ‘SEIN.3.SG.M.’ als Suggerierform in einer Fußnote6 verzeichnet steht. der Schnee (WS 25)

die Milch (WS 3)

Artikel: de(n)

76,32 %

79.58 %

Null: Ø

22,86 %

18,77 %

Demonstrativum: die

0,84 %

1,19 %

0%

0,48 %

Artikel: e

Tab. 2: Einflussfaktor „Syntaktische Position“: WS 25 und 3 im Vergleich

Der Faktor „Syntaktische Position“ lässt sich anhand von WS 3 (die Milch) und WS 25 (der Schnee) untersuchen. Wie im vorangehenden Beispiel wurde bei der Auswahl der Kontexte darauf geachtet, dass sich die Sätze möglichst in einem Merkmal unterscheiden. Die NPs die Milch und der Schnee teilen die semantischen Merkmale [−ZÄHLBAR, −BELEBT]. Außerdem sind sie im Genus commune. Des weiteren fungieren die NPs die Milch und der Schnee als syntaktisches Sub-

6

Im Formular lautet die Fußnote: „Of zegt men: zijn eieren?“ ‘Oder sagt man: seine Eier?’.

251

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

jekt. Sie sind jedoch topologisch unterschiedlich, denn die Milch steht im Mittelfeld und der Schnee steht im Vorfeld. Aus dem Vergleich ergibt sich, dass es eine leichte Präferenz für den definiten Nullartikel bei der im Vorfeld befindlichen NP der Schnee gegenüber der im Mittelfeld stehenden NP die Milch gibt (22,86 % bei der Schnee und 18,77 % bei die Milch). In zwei Fällen klitisiert der definite Artikel de zu e am nebensatzeinleitenden dat ‘dass’. Insgesamt überwiegen jedoch die realisierten Artikel in den zwei NPs. 3.2.2 Einfluss des Numerus auf die Artikelsetzung Anhand von WS 14 (die bösen Gänse) und WS 39 (der braune Hund) wird der Faktor „Numerus“ untersucht. Wie bereits ausgeführt wird nach TER LAAN (1953) der definite Artikel im Plural häufiger realisiert. In der Gegenüberstellung von WS 14 und WS 39 werden die semantischen Faktoren [+ZÄHLBAR, +BELEBT], die syntaktische Position und Funktion der zwei Konstituenten sowie die Anzahl der attributiven Adjektive der zwei Konstituenten konstant gehalten. Manipuliert wird dabei der Faktor „Numerus“, wobei die bösen Gänse [+PLURAL] und der braune Hund [−PLURAL] sind.

Artikel: de(n)

der braune Hund (WS 39)

die bösen Gänse (WS 14)

67,78 %

66,25 %

Null: Ø

5,83 %

5,53 %

Demonstrativum: die

26,41 %

28,24 %

Tab. 3: Einflussfaktor „Numerus“: WS 39 und 14 im Vergleich

Aus der Auswertung geht hervor, dass der definite Nullartikel bei den zwei Konstituenten in etwa gleich häufig vorkommt. Es zeigen sich keine Unterschiede im Gebrauch des Nullartikels im Singular und Plural. 3.2.3 Einfluss des Genus auf die Artikelsetzung Um den Einfluss des Faktors „Genus“ auf die Setzung des Artikels zu untersuchen, wurden WS 3 und 36 herangezogen. WS 3 op de kachel wird WS 36 op het muurtje gegenübergestellt. Sie ähneln sich syntaktisch darin, dass die NP in einer Präpositionalphrase nach der Präposition op ‘auf’ eingebettet ist. In semantischer Hinsicht teilen die NPs die Merkmale [+ZÄHLBAR, −PLURAL, −BELEBT]. Sie unterscheiden sich jedoch im grammatischen Genus: In WS3 liegt das Genus commune vor, in WS36 hingegen das Neutrum. Dies erlaubt es, den Faktor „Genus“ einzugrenzen. Tab. 4 zeigt die Verteilung der Ergebnisse in relativen Zahlen.

252

Jeffrey Pheiff den Ofen (WS 3)

dem Mäuerchen (WS 36)

Artikel: de(n)

58,59 %

75,4 %

Null: Ø

37,34 %

3,65 %

Demonstrativum: die/dat

0%

20,96 %

Artikel: e

3,22 %

0%

Artikel: n

0,86 %

0%

Tab. 4: Einflussfaktor „Genus“: WS 3 und 36 im Vergleich

Insgesamt zeigt sich, dass der definite Artikel viel eher beim Neutrum realisiert wird als beim Genus commune. In nur 3,65 % der Belege kommt ein definiter Nullartikel beim Neutrum vor, während er in 37,34 % der Belege beim Genus commune auftaucht. 4 DISKUSSION 4.1 Die Raumbildung Anfang des 20. Jahrhunderts Im Folgenden wird das räumliche Vorkommen des definiten Nullartikels in den acht ausgewerteten Sätzen genauer herausgearbeitet.7 Der definite Nullartikel ist weitgehend in der NP die Kuchen (Abbildung PHEIFF-1 im Farbabbildungsteil) im Norden Groningens belegt. Er taucht zudem sporadisch im Veenkoloniaals auf. Bei die Eier (Abbildung PHEIFF-2) kommt er hauptsächlich im OstfriesischenGronings vor. Auch tritt er im Zuid- und Noorddrents punktuell sowie sporadisch im Westerwolds und Veenkoloniaals auf. Bei der Schnee (Abbildung PHEIFF-3) und die Milch (Abbildung PHEIFF-4) weist der definite Nullartikel eine ähnliche räumliche Verbreitung auf, weil er hauptsächlich im Nordgronings und Veenkoloniaals belegt ist. Er kommt punktuell im Noorddrents vor. Bei der Schnee kommt er zudem im Westerwolds und Zuiddrents vor. Darüber hinaus ergibt sich ein Beleg dafür bei die Milch im ostfriesischen Niederdeutsch in Hinte. In den Kontexten der braune Hund (Abbildung PHEIFF-5) und die bösen Gänse (Abbildung PHEIFF-6) zeigt er ebenfalls eine ähnliche räumliche Verteilung. Er ist im Nordgronings bis an die Grenze des Veenkoloniaals verbreitet. Bei der braune Hund ist er punktuell im Noord- und Zuiddrents belegt. Bei in den Ofen (Abbildung PHEIFF-7) zeigt er seine weiteste geographische Ausbreitung, wohingegen er bei auf dem Mäuerchen (Abbildung PHEIFF-8) die kleinste zeigt. Bei Ersterem kommt er hauptsächlich im Gronings sowie Veenkoloniaals vor. Er wird punktu7

Die Karten wurden mittels der Plattform „Regionalsprache.de (REDE)“ erstellt. Die Karten finden sich im Anhang des Textes. Die Anzahl der Belege am Ortspunkt ergibt sich aus der Größe des Symbols; je größer ein Kreis am Ortspunkt ist, desto mehr Belege sind am Ortspunkt vorhanden. Die Angaben zu Dialektgebieten richten sich nach der Dialekteinteilung von HEEROMA (1964, 72).

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

253

ell im Westerwolds, Nord- und Zuiddrents belegt. Darüber hinaus tritt er in vier Belegen im angrenzenden ostfriesischen Niederdeutsch auf, und zwar in Hinte, Pilsum und Loquard bei Campen und einmal in Nüttermoor bei Leer. Im Gegensatz dazu ist er bei auf dem Mäuerchen weitgehend auf das Gebiet entlang der Küste in Groningen beschränkt, er tritt jedoch erstaunlicherweise insgesamt drei Mal im Veenkoloniaals auf. Die deutschen Daten zeigen fast keinerlei Hinweise auf einen definiten Nullartikel. Es finden sich vier Belege für in den Ofen und ein Beleg für die Milch. Seine Verteilung ist weitgehend auf die Niederlande beschränkt. Aus methodologischer Perspektive ist es jedoch von Belang, auf den Erhebungszeitraum hinzuweisen. WENKER ließ die Sätze Ende des 19. Jahrhunderts im damaligen Deutschen Reich übersetzen, wohingegen MEERTENS dies erst in den 1930ern in den Niederlanden tat. Dies führt zu einer zeitlichen Differenz von ca. 40 Jahren. Es besteht also ein gewisser diachroner Unterschied in den Daten. WINKLER (1874) liefert Evidenz dafür, dass die Konstruktion im 19. Jahrhundert in den Niederlanden zumindest vereinzelt vorkommt (vgl. Abschnitt 2.2) und keine Evidenz dafür, ob er in den angrenzenden deutschen Dialekten vorhanden war. Daher bleibt die Aussagekraft der deutschen Belege gering. Erst im 20. Jahrhundert scheint es bei dieser Konstruktion zu einem weiteren Grammatikalisierungsschritt in den Niederlanden gekommen zu sein. Die synchrone Variation, die sich je nach NPKontext zeigt, lässt darauf schließen, dass die Grammatikalisierung der Struktur stufenweise im Raum erfolgt ist. 4.2 Die Ergebnisse vor dem Hintergrund der Hypothesen Im Folgenden werden die in Abschnitt 3.2 präsentierten Hypothesen in umgekehrter Reihenfolge diskutiert. In Übereinstimmung mit TER LAAN (1953) stellt OOSTERHOF (2008, 93–94) fest, dass in den 1950er Jahren der definite Nullartikel im Neutrum nicht vorhanden war. Nach OOSTERHOF entstand er erst in der Zeit danach. Die vorliegende Analyse zeigt einen definiten Nullartikel im Neutrum in 3,65 % der betrachteten Belege. Das heißt, dass die Aussagen beider Autoren anhand der Daten in dieser Untersuchung nicht gestützt werden können. Darüber hinaus deuten die Daten auf eine Implikation hin: Wenn der definite Nullartikel im Neutrum vorhanden ist, dann ist der definite Nullartikel auch im Genus commune vorhanden. In nur einem einzigen Beleg (Stadskanaal C189p) wird der umgekehrte Fall beobachtet. Ein weiterer Befund der vorliegenden Auswertung ist, dass die Hypothese einer Neigung der Nullartikel bei Substantiven im Plural anhand der analysierten Daten nicht bestätigt werden kann (vgl. TER LAAN 1953, 35). In OOSTERHOF (2008, 100–103) wird die Hypothese aufgestellt, dass die Setzung des definiten Nullartikels anhand der Informationsstruktur des Satzes vorhersagbar ist. Aus der syntaktischen Position lässt sich ableiten, ob eine Konstituente definit oder indefinit ist. Objekte im Mittelfeld werden aus diesem Grund als Rhema betrachtet, wohingegen Subjekte im Vorfeld als Thema betrachtet wer-

254

Jeffrey Pheiff

den. Demnach sollen Konstituenten, die als Objekt fungieren, eher mit einem Artikel auftreten als solche, die die Subjekt-Funktion bekleiden. Die in der vorliegenden Auswertung präsentierten Daten stützen diese Hypothese nicht. Dies zeigt sich in der absoluten Anzahl der Belege, die die Auswertung von WS 6 (die Kuchen) und WS 7 (die Eier) zutage förderte. Nach der von OOSTERHOF (2008) aufgestellten Hypothese wird der definite Nullartikel eher bei solchen Konstituenten erwartet, die als Thema fungieren. In den 274 gesichteten Bogen lässt sich nur in einem einzigen Bogen belegen, dass die Kuchen mit definitem Nullartikel und die Eier mit overtem definitem Artikel realisiert wird. Was sich jedoch mehrfach belegen lässt, ist, dass die Kuchen als Thema mit Definitheitsmarkierung realisiert wird, wohingegen die Eier als Rhema mit definitem Nullartikel realisiert wird. Dieses Verhältnis wird in Tabelle 5 gezeigt. die Kuchen.SUBJ – die Eier.OBJ

absolut

relativ

Ø – de/dij

38

7,95 %

de/dij – Ø

2

0,4 %

Tab. 5: Gegenüberstellung von Artikelgebrauch in WS 6 und WS 7

Zusammenfassend kann festgehalten werden, dass die von OOSTERHOF vorgeschlagene Hypothese zur Eklärung der Artikellosigkeit nicht in der Form von diesen Daten gestützt werden kann, d. h. die Erklärungsmächtigkeit dieses Faktors erscheint zweifelhaft. Aus diesem Grund wird im Folgenden ein alternativer Lösungsvorschlag skizziert. 4.3 Eine Alternativlösung In der jüngeren Forschungsliteratur wird die Rolle der semantischen und pragmatischen Definitheit (vgl. HIMMELMANN 1997, 39) in Bezug auf den Artikelgebrauch in historischen und areal definierten Dialekten diskutiert. Verschiedene germanische Dialekte weisen zwei Artikelparadigmen mit unterschiedlicher Form und Funktion auf (siehe STUDLER 2011, 164–187 für eine Diskussion von deutschen und nordfriesischen Dialekten). Bei der Klitisierung des Definitartikels zur Präposition (z. B. zu + der > zur, in + dem > im) wird deren Rolle ebenfalls untersucht (CHRISTIANSEN 2016; NÜBLING 1998; 2005). In diesem Zusammenhang stellt sich dann die Frage, ob eine ähnliche Aufgabenverteilung beim definiten Nullartikel (im Gegensatz zum realisierten Determinator) festgestellt werden kann. Aus der Diskussion der Literatur in Abschnitt 2.1 zeigt sich, dass einige Beispiele, in denen der definite Nullartikel vorkommt, der Domäne der semantischen Definitheit angehören: Unika (Ø Zun schient ‘Die Sonne scheint’), Phraseologismen (Hai is aan Ø beurt ‘Er ist an der Reihe’), abstrakt-situative Verwendung

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

255

(noa Ø schoul ‘zur Schule’) und situative Verwendung (Dou Ø deur dicht ‘Mach die Tür zu’) (siehe HIMMELMANN 1997 für eine Diskussion der relevanten Kontexte). Es stellt sich somit die Frage, inwiefern der Gebrauch des definiten Nullartikels anhand von HIMMELMANNS Modell vorhergesagt werden kann. Die Wenkersätze weisen in dieser Hinsicht eine Schwachstelle auf, weil viele der erwähnten Typen in den Sätzen nicht enthalten sind. Für künftige Analysen müsste auf andere Datentypen (z. B. Korpus-Untersuchungen) ausgewichen werden. 5 FAZIT UND AUSBLICK Anhand der Wenker-Materialien lassen sich detaillierte Angaben zur räumlichen Verbreitung artikelloser NPs mit definiter Bedeutung machen. Die Anzahl der Kontexte, in denen Artikellosigkeit vorkommt, nimmt generell von Norden nach Süden ab. Zudem zeigt sich, dass Artikellosigkeit in Präpositionalphrasen weitaus häufiger vorkommt und räumlich weiter verbreitet ist, was eine frühere Entstehung innerhalb von PPs und die darauffolgende Ausbreitung auf andere syntaktische Umgebungen nahelegt. Hinzu kommt, dass Artikellosigkeit nicht gleich häufig und auch nicht mit der gleichen räumlichen Verteilung unter den hier untersuchten syntaktischen und semantischen Bedingungen vorkommt. Die Ergebnisse dieser Auswertung nuancieren insofern das räumliche Bild im Spiegel der vorhandenen Literatur, denn die Konstruktion kennt in ihrer Arealität unterschiedliche Verbreitungsgrade. In sein Konzept der „schiefen Ebene“ nimmt SEILER (2010, 330–332) nicht nur die Belegnetzdichte und Häufigkeit und Präferenz der Varianten als Dimensionen auf, sondern auch die Kontexte und Restriktionen. In der Diskussion der Raumbildung muss deshalb den unterschiedlichen NPKontexten Rechnung getragen werden. Die Wenkersätze stellen die Ergebnisse von Übersetzungsaufgaben dar. Der Aufgabentyp erfordert zumeist eine einzige Antwortangabe. Negative Evidenz ist nicht gegeben, außer in unsystematischen Fällen, in denen ein Informant eine zusätzliche Angabe macht. Der Aufgabentyp (Übersetzungsaufgabe) erschwert somit die Erforschung der idiolektalen Variabilität bei ein und derselben NP. Dies unterstreicht einmal mehr die Notwendigkeit weiterer methodischer Zugänge, die die Ergebnisse der Auswertung von Übersetzungen ergänzt. Denkbar wäre der Gebrauch von Akzeptabilitätsfragen, bei denen sich Informanten die Frage stellen müssten, ob sie eine bestimmte Konstruktion verwenden könnten. Dieser Aufgabentyp zielt auf eine andere Art Wissen als die Übersetzungsaufgabe ab (vgl. FLEISCHER / KASPER / LENZ 2012, 22). Anhand unterschiedlicher Abfragemethoden wäre der Zugang zu verschiedenen sprachlichen Wissensarten ermöglicht. Obwohl einige Hypothesen zur Artikelverwendung anhand von Wenkersätzen überprüft werden konnten (siehe Abschnitt 3.2), müssen andere Datentypen berücksichtigt werden. Darüber hinaus ist ein anderer methodischer Zugang notwendig, weil die Daten, die aus Wenkersätzen gewonnen werden, von vornherein festgelegt sind. Sie stellen Sekundärauswertungen von Fragebogen dar, die ursprünglich für die Abfrage anderer Phänomene konzipiert waren. Das heißt, dass

256

Jeffrey Pheiff

in Bezug auf den Nullartikel keine systematische Analyse mit den Wenkersätzen vorgesehen war. Solche Analysen könnten jedoch von Auswertungen bereits bestehender regionalsprachlicher Korpora profitieren (wie z. B. die RND-Erhebungen sowie die Daten aus BARBIERS et al. 2006).8 In weiteren Analysen müssten alle Kontexte vergleichend für verschiedene Ortspunkte ausgewertet werden, um Unterschiede in der Verwendung der definiten Artikel in den verschiedenen Lokalvarietäten Groningens zu ermitteln. Über die lokale Verwendung des definiten Nullartikels hinaus ist die intergenerationelle Variation in der Artikelverwendung zu untersuchen. Nach REKER (2008, 164) ist der definite Artikel – bedingt durch Einfluss des Standardniederländischen – in den Varietäten Groningens wieder auf dem Vormarsch. Um dieser Hypothese nachzugehen, könnten die Wenker-Daten mit RND- und mit SAND-Daten ortspunktgenau verglichen werden. LITERATURVERZEICHNIS APOTHEKER, ASTRID (1980): Met de of zonder de? Een onderzoek naar de-deletie in het Gronings. Rijksuniversiteit Leiden: Unveröffentlichte Abschlussarbeit. BARBIERS, SJEF et al. (2006): Dynamische Syntactische Atlas van de Nederlandse Dialecten (DynaSAND). Amsterdam: Meertens Instituut. URL: ; Stand: 31.10.2017. BREE, COR VAN (2008): Syntactische Configuraties in het Nederlandse Taalgebied. In: Neerlandica Wratislaviensia XVII, 95–118. CHRISTIANSEN, MADS (2016): Von der Phonologie in die Morphologie. Diachrone Studien zur Präposition-Artikel-Enklise im Deutschen. Hildesheim [u. a.]: Olms (Germanistische Linguistik. Monographien. 32). DAAN, JO (1963): Toelichting bij de taalatlas van Noord- en Zuid-Nederland. Amsterdam: N. V. Noord-Hollandsche Uitgevers Maatschappij. FLEISCHER, JÜRG (in diesem Band): Syntax und Arealität: Methoden und Resultate eines syntaktischen Wenker-Atlas. FLEISCHER, JÜRG / SIMON KASPER / ALEXANDRA LENZ (2012): Die Erhebung syntaktischer Phänomene durch die indirekte Methode: Ergebnisse und Erfahrungen aus dem Forschungsprojekt „Syntax hessischer Dialekte“ (SyHD). In: Zeitschrift für Dialektologie und Linguistik 79(1), 2–42. GERRITSEN, MARINEL (1991): Atlas van de Nederlandse Dialectsyntaxis. Amsterdam: Meertens Instituut. GONNSEN, JENS VOLKER / ULRICH SCHEUERMANN (1985): Niedersächsisches Wörterbuch. Herausgegeben von Dieter Stellmacher, Institut für Historische Landesforschung der Universität Göttingen. Abteilung Niedersächsisches Wörterbuch. Siebzehnte Lieferung (III, 1). Neumünster: Karl Wachholtz Verlag. HEEROMA, KLAAS (1964): De geografische indeling der oostnederlandse volkstaal. In: HEEROMA, KLAAS / JAN NAARDING (eds.): Oostnederlands Bijdragen tot de geschiedenis en de streektaalkunde van Oost-Nederland. ’s-Hertogenbosch: L. C. G. Malmberg, 70–76. HIMMELMANN, NIKOLAUS (1997): Deiktikon, Artikel, Nominalphrase. Tübingen: Niemeyer (Linguistische Arbeiten. 362). 8

Diese Aufgabe stellt ein wesentliches Ziel meiner in Vorbereitung befindlichen Dissertation dar.

Der definite Nullartikel in niedersächsischen Varietäten

257

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WANN IST EINE GRENZE EINE GRENZE? Zur theoretischen Fundierung von Dialektgrenzen und ihrer statistischen Validierung Simon Pickl 1 STUFEN IM KONTINUUM1 Mit „sprachliche Grenze“ kann aus etischer Perspektive zweierlei gemeint sein: entweder eine Isoglosse zwischen den Verbreitungsgebieten zweier sprachlicher Varianten (auf Variablenebene) oder eine Dialektgrenze zwischen den Gebieten verschiedener Dialekte, die dann aus mehreren Isoglossen besteht (auf Varietätenebene).2 Allen Konzepten sprachlicher Grenzen ist gemeinsam, dass sie Idealisierungen darstellen, die von der Wirklichkeit abstrahieren: Isoglossen, weil sich die räumliche Verteilung von sprachlichen Varianten nur selten in Form von Linien manifestiert (vgl. HÄNDLER / WIEGAND 1982; SCHNEIDER 1988, 177–179; PICKL 2013a, 95),3 und – in stärkerem Maße – Dialektgrenzen, da oft nur eine geringe Zahl von Isoglossen (deren individuelle Unschärfe die entsprechende Dialektgrenze von ihnen ‚erbt‘) so klar miteinander koinzidiert, dass sie eine eindeutige Trennungslinie auf Varietätenebene konstituieren (vgl. PICKL 2013a, 16–17).4

1 2

3

4

Für wertvolle Hinweise zu einer früheren Version dieses Beitrags möchte ich mich bei LARS BÜLOW, STEPHAN ELSPASS, WERNER KÖNIG und zwei anonymen GutachterInnen herzlich bedanken. Diesen beiden etischen (also wissenschaftlich-linguistischen) Grenzkonzepten sind emische (kognitiv-laienlinguistische) Grenzvorstellungen („Grenzen in den Köpfen“) gegenüberzustellen. Zur Dichotomie zwischen etischen und emischen Raumkonzepten s. auch PICKL (2013b, 6–7; 2016, 78). „Closer investigation would probably reveal that most speakers over the whole area know both words, and in some areas the two words are interchangeable, perhaps with a preference for one over the other […]. The isogloss, therefore, does not mark a sharp switch from one word to the other, but the center of a transitional area where one comes to be somewhat favored over the other.“ (FRANCIS 1983, 5). Für beide Arten von Grenzen, Isoglossen wie Dialektgrenzen, gilt, dass sie außerdem nur schwer objektivierbar sind, da es keine eindeutigen Kriterien für die Grenzziehung gibt (vgl. LEE / KRETZSCHMAR 1993, 543–544; MATHUSSEK 2014, 6–7; PICKL 2013a, 95); sie sind jedoch durchaus operationalisierbar (wobei dann jeweils ein bestimmter Grenzbegriff zugrunde liegt): siehe etwa HÄNDLER / NAUMANN (1976); HÄNDLER (1977); PICKL / RUMPF (2011); PICKL (2013a, 82–96) und PICKL et al. (2014) für Methoden zur automatisierten und reproduzierbaren Isoglossenziehung.

260

Simon Pickl

Dialektgrenzen stellen dennoch – oder gerade wegen ihres vereinfachenden, den Gegenstand reduzierenden Charakters – eine attraktive und leicht zugängliche Möglichkeit der Strukturierung der zunächst ungeordneten diatopischen Vielfalt dar, unter anderem da sie eine strukturelle Vergleichbarkeit mit anderen Organisationsformen des Raums suggerieren, so etwa mit der hierarchischen Aufteilung des Raums in Staatsgebiete und Verwaltungseinheiten mittels Begrenzungslinien. Auf sprachlicher (wie auch auf politischer) Ebene ist diese Art der Strukturierung jedoch nicht zwingend, historisch gesehen nicht einmal besonders naheliegend; AUER (2004) hat gezeigt, wie auf Grenzziehungen beruhende Raumgliederungen auf beiden Ebenen historisch mit der Idee des Nationalstaats zusammenhängen: Die (deutsche) Dialektologie entwickelte genauso wie der Nationalstaat im 19. Jahrhundert ein im historischen Kontext neues, also ganz und gar nicht selbstverständliches Interesse an Grenzen und Grenzziehungen. (AUER 2004, 151; Hervorhebungen im Original)

Der Vorstellung der durch Außengrenzen definierten Gebiete stellt AUER das historisch ältere Modell „vom Territorium eines Staats, der nach Zentrum (oder Zentren) und (unscharfer) Peripherie organisiert ist“ (AUER 2004, 151), gegenüber. Dieses ‚weichere‘ „Zentrum/Peripherie-Modell“ (AUER 2004, 152) auf sprachlicher Ebene, bei dem sich tendenziell kookkurrierende Varianten zu unscharfen Varietäten ‚verdichten‘ (vgl. PICKL 2013a, 63–71; 2013b), scheint zum einen laienlinguistischen Konzeptualisierungen näher zu kommen als das ‚härtere‘ Grenzmodell (vgl. unter anderem AUER 2004, 152–153; CHRISTEN 2010); zum anderen ist das Zentrum/Peripherie-Modell auch aus linguistischer Perspektive realistischer und hat theoretisch und methodisch deutliche Vorteile (vgl. PICKL 2013b; 2016). Einer dieser Vorteile besteht in der Kompatibilität mit der Vorstellung des Sprachraums als Kontinuum, die in der Dialektologie als akzeptiert gelten kann (vgl. u. a. CHAMBERS / TRUDGILL 1998, 5–7; CHRISTEN 2010; KÖNIG 2010a; LAMELI 2013, 87, 132; PICKL 2016, 2). Dabei wird angenommen, dass sprachliche Verschiedenheit mit wachsender geographischer Distanz graduell zunimmt: Die Dialekte bilden ein Kontinuum im Raum. Zwar sind die Veränderungen von einem Ort zum nächsten nur gering, doch werden mit zunehmender Entfernung von einem bestimmten Ortspunkt die Unterschiede deutlicher. (WIESINGER 1983, 807; Hervorhebung im Original)

Diese Vorstellung ist nicht vereinbar mit klar umrissenen „Dialektregionen, die intern nicht mehr weiter differenziert werden“ (AUER 2004, 152), und auch nicht mit weiter untergliederten Regionen, solange sie über ihre Außengrenzen definiert werden;5 sie ist jedoch konzeptuell ohne Weiteres durch eine weiche Strukturierung in Form von prototypischen Zentren mit unscharfer Peripherie näher spezifizierbar, wobei die Frage der konkreten Ausprägung solcher Strukturen metho-

5

KNOOP / PUTSCHKE / WIEGAND (1982, 59) schreiben: „Wenker hatte gelernt: Dialektgebiete liegen nicht abgegrenzt vor, sondern sie müssen abgegrenzt werden.“ Sie gehören somit der wissenschaftlichen Beschreibungs-, nicht der Objektebene an.

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disch beantwortet werden muss (vgl. unter anderem LAMELI 2013; PICKL 2013b; 2016). Ein solches „Kontinuum mit Verdichtungen“ (BERRUTO 2010, 236) muss jedoch nicht völlig amorph sein, denn die Unterschiede zwischen benachbarten Orten können unterschiedlich stark ausgeprägt sein. Mitunter gibt es Stellen mit größeren Unterschieden als im Durchschnitt. Wenn die Unterschiede so groß sind, dass sie eine Diskontinuität im Kontinuum erzeugen, kann man von einer „Stufe“, einem „Bruch“ oder „Sprung“ im Kontinuum sprechen (vgl. z. B. LAMELI 2013, 87, 132; MATHUSSEK 2014, 4–5).6 Für den süddeutschen Raum führt KÖNIG (2010a, o. S.) aus: Beschreibt man das Kontinuum der süddeutschen Altdialekte als schiefe Ebene, die sich nur allmählich verändert, dann lässt sich dies wie in der Abb. 2 [hier: Abb. 1; SP] darstellen. Kleine Stufen in einer schiefen Ebene des allmählichen Übergangs gibt es auf den Höhen des Schwarzwaldes […] und am nördlichen Lech, wo sich Sprachgrenzen bündeln und die Dialekte nebeneinander liegender Orte sich stärker unterscheiden als im sonstigen Durchschnitt.

Abb. 1: Schematische Darstellung des Dialektkontinuums im süddeutschen Raum mit ‚Stufen‘ auf der Höhe von Schwarzwald bzw. Lech (aus KÖNIG 2010a)

Dialektgrenzen verlaufen nach MATHUSSEK (2014, 5) „an Stellen im Raum, an denen zwischen den dort gesprochenen Mundarten Sprünge im Dialektkontinuum ermittelt werden können“. Solche Stellen, wo die Unterschiede größer sind als sonst, sind zunächst nur Kandidaten für Dialektgrenzen: Es muss entschieden werden, um wie viel größer die Unterschiede sein müssen, um von einer Dialektgrenze sprechen zu können, und worin die Vergleichsbasis bestehen soll. Aus statistischer Sicht gilt es, festzustellen, ob die Unterschiede an solchen Schwellen überzufällig sind oder nicht.7 Sind sie es nicht, handelt es sich um Fälle normaler diatopischer Variation; sind sie es aber, so gibt es Grund zur Vermutung, dass ein irgendwie gearteter Effekt zu erhöhter Divergenz an dieser Stelle geführt hat. Das sprachgeographische Kontinuum stellt den Normalfall und insofern zufällig, d. h. ohne besondere Wirkfaktoren, auftretende diatopische Variation dar; stärkere

6 7

In PICKL (2013b, 1) werden solche Strukturen als „kristallin“ (im Gegensatz zum prinzipiell „amorphen“ Kontinuum) bezeichnet. Als überzufällig gelten solche Unterschiede, die so groß sind, dass sie bei zufälligem Zustandekommen nur mit einer kleinen, festzulegenden Wahrscheinlichkeit auftreten würden, sodass ein nicht-zufälliges Zustandekommen deutlich wahrscheinlicher ist. In Abschnitt 3 wird diese Wahrscheinlichkeitsschwelle in Form des Signifikanzniveaus α eingeführt.

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Abweichungen, wo benachbarte Orte im Gesamtkontext geolinguistischer Variation überzufällige Unterschiede aufweisen, sind Anomalien im Kontinuum, die erklärungsbedürftig und u. U. kausal auf bestimmte Einflussgrößen zurückzuführen sind (vgl. PICKL 2013a, 141). Dialektgrenzen seien somit als solche Stellen im Sprachraum definiert, an denen die sprachlichen Unterschiede zwischen benachbarten Orten in signifikanter Weise größer sind, als vor dem Hintergrund der räumlichen Gesamtvariation zu erwarten wäre. Mögliche Erklärungen für solche Anomalien liegen im außersprachlichen wie im innersprachlichen Bereich. Außersprachlich wurden in der Vergangenheit verschiedene Formen von Verkehrs- und damit Kommunikationshindernissen für Dialektgrenzen verantwortlich gemacht,8 darunter Gebirgszüge, Flüsse, Territorial- und Verwaltungsgrenzen (vgl. u. a. HAAG 1898, 95–98; BACH 1950, 80–135; FRINGS 1956, 24–26; GOOSSENS 1977, 56–77; zusammenfassend PICKL 2013a, 28–31). Innersprachlich können systemische Bezüge zwischen sprachlichen Phänomenen dazu führen, dass sich mehrere sprachliche Erscheinungen en bloc im Raum entwickeln, sodass Isoglossen sich aneinander ausrichten und dadurch strukturelle Dialektgrenzen konstituieren können. Infrage kommen etwa phonetische Relationen (sodass z. B. ganze Diphthong- oder Plosivreihen in „Reihenschritten“ betroffen sind; vgl. WIESINGER 1982) oder morphologische Bezüge, aber auch z. B. Ähnlichkeiten im semantischen Bereich (vgl. PICKL 2013a, 17– 19). Solche Dialektgrenzen unterscheiden sich insofern von nicht-strukturellen Dialektgrenzen, als deren Unterschiede beispielsweise unterschiedliche lexikalische Variablen betreffen, die keinen sprachsystematischen Zusammenhang untereinander aufweisen. Außer- und innersprachliche Einflüsse können auch kombiniert sein, sodass sich Isoglossen von sprachsystematisch aufeinander bezogenen Phänomenen an bestimmten außersprachlichen Gegebenheiten anlagern. Als dritter Faktor ist hier der Effekt von mentalen („ethnodialektologische[n]“; AUER 2004, 162) Grenzen zu ergänzen, die nicht mit Verkehrshindernissen in Zusammenhang stehen müssen, aber dennoch zu sprachlicher Divergenz und damit zu Dialektgrenzen führen können. Mehr als Verkehrshindernisse ist es nach AUER (2004, 162) „der Raum als mentales Konstrukt, der die Wahrnehmung sprachlicher Variabilität steuert und gegebenenfalls auch in der sprachlichen Produktion sprachliche Grenzen (Isoglossen) bewahrt oder sogar aufbaut“. Die Frage nach der Reihenfolge oder gar Kausalität gleicht hier einem Henne-Ei-Problem,9 denn

8 9

Siehe jedoch AUER (2004, 160–166), der sich skeptisch bezüglich der Rolle von Verkehrsgrenzen äußert. AUER (2004) zeigt überzeugend die Relevanz, die mentale Grenzen für die Ausformung des sprachlichen Raums haben (können). Er vollzieht jedoch einen logischen Sprung, wenn er annimmt, dass es a u s s c h l i e ß l i c h mentale Raumvorstellungen sein können, die die sprachliche Wahrnehmung und Produktion steuern und damit sprachliche Grenzen bewirken, nicht aber politische oder andere Verkehrsgrenzen selbst: „Allenfalls können natürliche oder politische Grenzen für diese mentalen Raumkonzepte auslösend sein, nicht aber für die sprachlichen Divergenzen im Raum selbst.“ (AUER 2004, 162). Um diese Schlussfolgerung

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Sprachgrenzen können eine Eigendynamik entwickeln, sie können zusätzlich zu psychologischen, zu Bewusstseinsgrenzen werden (verstärkt auch durch die Tatsache, dass man verschieden spricht). Sie können dadurch immer mehr Phänomene auf sich ziehen. Man spricht in einem solchen Fall von Grenzversteifung. Damit wird eine Sprachgrenze zu einer Bewusstseinsgrenze, zu einer psychologischen Grenze und kann von daher selbst wieder wirksam für die Konstitution neuer Sprachgrenzen werden. (KÖNIG / ELSPASS / MÖLLER 2015, 143)10

Bei Koinzidenz von Verkehrshindernissen mit sprachlichen und mentalen Grenzen ist es demnach schwierig bis unmöglich, zu entscheiden, welche dieser beiden Grenzarten primär und welche sekundär als Folge der Verkehrsgrenze entstanden ist. Eine vorläufige – auf Idealisierungen beruhende und insofern hypothetische – Typologie von Dialektgrenzen könnte demnach wie folgt aussehen: 1. Dialektgrenzen, die sich mit Verkehrsbarrieren decken; 2. Dialektgrenzen, die auf sprachsystematischen Bezügen zwischen Variablen beruhen; 3. Dialektgrenzen, die mit der mentalen Raumorganisation in Zusammenhang stehen; 4. Dialektgrenzen, auf die Kombinationen aus 1., 2. und/oder 3. zutreffen. Gemeinsam ist allen diesen – zumindest theoretisch möglichen – Dialektgrenztypen laut Definition, dass sie sich in Form einer statistisch signifikanten Häufung von Unterschieden äußern; sie können sich aber in ihren Ursachen unterscheiden. Die Frage der Kausalität einer Dialektgrenze ist jedoch heikel. Die Feststellung, dass Koinzidenz nicht mit Kausalität einhergehen muss, gilt uneingeschränkt. Das Zusammentreffen einer Dialektgrenze mit einer vermuteten Ursache allein ist also kein Beleg für einen kausalen Zusammenhang (vgl. GOOSSENS 1977, 76–77; PICKL 2013a, 30). Das Problem besteht im Nachweis eines Ursache-WirkungsVerhältnisses. Grob gesagt: Wie kann man sicherstellen, dass Isoglossen entlang einer Verkehrsscheide tatsächlich durch diese verursacht wurden? Wie kann man ausschließen, dass diese Unterschiede dort zufällig anzutreffen sind? 2 DIALEKTGRENZEN ALS STATISTISCHES PROBLEM Aus etischer Perspektive ist die Frage nach Dialektgrenzen primär ein statistisches Problem. Die Eruierung von Dialektgrenzen kann in diesem Rahmen auf zweierlei Art erfolgen. Erstens: Der Sprachraum kann ohne konkrete Vorgaben auf Stufen im Kontinuum, d. h. auf Stellen auffällig großer Unterschiede, hin durchsucht werden. Da-

10

zu widerlegen, müsste man zeigen, dass es Sprachgrenzen gibt, die mit Verkehrsgrenzen koinzidieren, aber nicht gleichzeitig mentale Grenzen darstellen. Vgl. auch PRÖLL (2015, 159).

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bei handelt es sich um ein e x p l o r a t i v e s Vorgehen, das angewandt werden kann, um Hypothesen über Dialektgrenzen zu generieren, die in der Folge zu interpretieren und gegebenenfalls zu überprüfen sind. Es eignet sich damit besonders für solche Dialektgrenzen, die weder mit Verkehrshindernissen noch mit mentalen Dialektgrenzen koinzidieren und deshalb möglicherweise sonst unerkannt bleiben würden. Einschränkend ist hier festzuhalten, dass mit einem solchen Verfahren allenfalls Kandidaten für Dialektgrenzen festgestellt werden können: Die Validierung solcher Kandidaten als Dialektgrenzen kann nicht im Zuge der Exploration erfolgen; deren Ziel ist es, zu Hypothesen zu gelangen, nicht, sie zu bestätigen. Zweitens: Der Sprachraum kann gezielt auf vermutete Dialektgrenzen hin getestet werden. Hierbei handelt es sich um ein k o n f i r m a t o r i s c h e s Vorgehen, das auf bereits existierende, begründete Hypothesen zurückgreift und diese testet.11 Dieser Ansatz eignet sich besonders zur Überprüfung der Relevanz von Verkehrshindernissen und für den Abgleich von linguistischen mit (bekannten) laienlinguistischen Grenzen, wie etwa in PURSCHKE (2011) oder in HANSEN / STOECKLE (2014). Im folgenden Abschnitt werden beide Zugänge anhand von konkreten Methoden vorgestellt; der Fokus soll in diesem Beitrag jedoch auf einem konfirmatorischen Verfahren liegen, das es ermöglicht, vermutete Dialektgrenzen auf ihre Signifikanz hin zu testen. 2.1 Der explorative Zugang Der explorative Ansatz bringt es mit sich, dass ein gegebener Sprachraum in Gänze betrachtet wird, um auffällige Strukturen, die Kandidaten für Dialektgrenzen darstellen, zu identifizieren. Die wohl älteste Methode, die als exploratives geolinguistisches Analyseverfahren gelten kann, ist die sogenannte Isoglossenmethode, die auf AUGUST BIELENSTEIN (1892) zurückgeht und damit so alt ist wie der Begriff der Isoglosse selbst.12 [Bei der Isoglossenmethode; SP] werden die auf mehreren Karten von einzelnen Spracherscheinungen vorkommenden Isoglossen alle auf eine Kombinationskarte eingezeichnet. Man nimmt dann an, daß man es dort, wo mehrere Linien zusammenfallen, mit einer wichti11

12

Es wird als problematisch angesehen, solche Hypothesen, die mittels explorativer Verfahren aufgestellt wurden, konfirmatorisch anhand derselben Daten zu überprüfen, da so die Gefahr eines Bias besteht (vgl. unter anderem NERBONNE 2013, 231): Wenn die Datenbasis aufgrund statistischer Schwankungen zufällig eine bestimmte Struktur enthält, so wird diese deutlich überwertet, wenn dieselbe Datenbasis sowohl zur Hypothesenbildung als auch zur Hypothesenbestätigung verwendet wird. Eine weitere, technisch modernere Möglichkeit zur Hypothesenbildung in der Sprachgeographie – sowohl in Bezug auf scharfe Dialektgrenzen als auch in Bezug auf unscharfe Strukturen – stellt die explorative Faktorenanalyse dar, wie sie u. a. in PICKL (2013b) oder PRÖLL / PICKL / SPETTL (2015) umgesetzt ist. Auf sie wird hier nicht weiter eingegangen; als Einführung in die Faktorenanalyse als exploratives Verfahren in der Geolinguistik sei hier auf PICKL (2013a, 158–208) verwiesen.

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gen Dialektscheide zu tun hat und daß die Bereiche, die nur von wenigen oder gar keinen Linien durchkreuzt werden, verhältnismäßig einheitliche Mundartgebiete darstellen. (GOOSSENS 1969, 54)

Mit der Isoglossenmethode ist die Feststellung von potentiellen Dialektgrenzen leicht möglich. Voraussetzung ist jedoch, dass Isoglossenverläufe zur Verfügung stehen. Dass das Definieren konkreter Isoglossen und ihres Verlaufs durchaus nicht trivial ist, wurde bereits eingangs bemerkt. Ein zusätzliches Problem besteht in der Auswahl der Variablen. Häufig werden gerade solche Variablen für die Isoglossenmethode herangezogen, die den Raum besonders ‚gut‘ einteilen; Ähnliches gilt für als systemhaft angenommene Isoglossen, die „den Sprachraum am geeignetsten abbilden“ (LAMELI 2013, 35 zur Einteilungskarte von WREDE 1937; vgl. auch WIESINGER 1983, 810–811).13 Eine solche händische, qualitativ oder strukturell begründete Auswahl von Isoglossen – vor allem, wenn sie von Fall zu Fall getroffen wird – reduziert die Objektivierbarkeit der Analyse und damit die Vergleichbarkeit der Ergebnisse (vgl. auch MATHUSSEK 2014, 6–7). Ein Lösungsansatz für dieses Problem besteht in der Verwendung möglichst aller oder, bei einer ausreichend großen Datenbasis, einer zufälligen Auswahl von Variablen (vgl. GOEBL 1982, 19–20); jedenfalls sollten die verwendeten Isoglossen aus einem unsortierten Korpus an Variablen stammen. Im Fall der Anwendung der Isoglossenmethode auf solche unsortierten Korpora waren die Ergebnisse jedoch, folgt man WEINREICH / LABOV / HERZOG (1968), enttäuschend: Historical linguists […] hoped that isoglosses would support the firm division of linguistic territories into hierarchically ordered sets of languages, dialects and subdialects. Here again the evidence has been disappointing: an u n s e l e c t e d set of isoglosses does not divide a territory into clear-cut areas, but rather into a crosshatched continuum of finely subdivided fragments. (WEINREICH / LABOV / HERZOG 1968, 151; Hervorhebung SP)

Zur Identifikation von klaren Grenzen scheint die Isoglossenmethode also nicht geeignet zu sein (wenn nicht von vornherein bestimmte Strukturen prädeterminierende Isoglossen ausgewählt werden). Eine entsprechende Beobachtung machte schon FISCHER (1895), als er in seiner „Geographie der Schwäbischen Mundart“ bemerkte: „Wenn man die Grenzlinien meiner 25 ersten Karten auf eine einzige Karte zusammenträgt, so zeigt sich ein Bild äußerster Regellosigkeit.“ (FISCHER 1895, 80). Eine solche Karte ist nicht überliefert, doch LAMELI (2013) hat eine entsprechende Montage angefertigt, die hier in Abbildung 2 wiedergegeben ist. Sowohl FISCHERS Bild von „äußerster Regellosigkeit“ als auch WEINREICH / LABOV / HERZOGS Eindruck eines „crosshatched continuum of finely subdivided fragments“ ist hier nachvollziehbar. Auch BERRUTOS „Kontinuum mit Verdichtungen“ scheint unmittelbar ersichtlich zu sein.

13

„Trotz der vordergründigen Objektivität der quantifizierenden Systemanalysen zum Zwecke der Dialekttypologie stellt sich auch hier die Frage der Bewertung und Gewichtung der linguistischen Einheiten im gleichen Maße wie bei der herkömmlichen Isoglossen-Abgrenzung.“ (LÖFFLER 2003, 130).

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Diese Visualisierung der sprachgeographischen Variation stellt einen explorativen Zugang zur Frage der Dialektgrenzen dar. Es sind Isoglossenbündel sichtbar, die teilweise mit extralinguistischen Strukturen koinzidieren, wie etwa mit dem Lech im Osten; viele der Bündelungen sind jedoch nicht oder nicht unmittelbar mit außersprachlichen Gegebenheiten in Verbindung zu bringen. Zudem ist offen, welche der Ansammlungen von Isoglossen als Bündel und damit als Stufen im Kontinuum bzw. als Kandidaten für Dialektgrenzen gelten können: Welche der Bündelungen rein zufälliger Natur sind und welche als überzufällig und damit erklärungsbedürftig gelten müssen, kann nur auf der Grundlage dieser Darstellung nicht geklärt werden; diese Frage bedarf eines konfirmatorischen Zugangs. Dies illustriert, wie ein explorativer Zugang hypothesenbildend, jedoch nicht hypothesentestend ist. Alle auf seiner Grundlage getroffenen Beobachtungen stellen, wenngleich plausibel, vorerst nur Hinweise auf anderweitig zu bestätigende Zusammenhänge dar. Dies wurde am Beispiel der Isoglossenmethode illustriert, gilt aber ohne Einschränkung für andere explorative Verfahren, die zum Entdecken und Visualisieren von Strukturen in geolinguistischen Daten verwendet werden, wie etwa die Clusteranalyse oder die Multidimensionale Skalierung.

Abb. 2: Zusammenführung aller Isoglossen aus dem Atlas FISCHERS (1895) (aus LAMELI 2013, 2)

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2.2 Der konfirmatorische Zugang Es gilt zu überprüfen, ob die dialektalen Unterschiede an einer vermuteten Dialektgrenze bzw. einem Kandidaten für eine Dialektgrenze signifikant höher sind als im Normalfall erwartet werden kann. HEERINGA / NERBONNE (2001) testen dies mit einer Regressionsanalyse anhand von 27 entlang einer Linie durch den niederländischen Sprachraum aufgereihten Orten. Zwischen einigen der jeweils benachbarten Orte treten phonetische Unterschiede (operationalisiert als Levenshtein-Distanzen) auf, die deutlich größer sind als im Durchschnitt. Diese werden als Kandidaten für Dialektgrenzen gewertet (vgl. HEERINGA / NERBONNE 2001, 386). In fünf Fällen sind die Unterschiede signifikant höher, als aufgrund ihrer geographischen Distanz zu erwarten wäre. Diese Stellen werden als Grenzen zwischen Dialektgebieten interpretiert.14 Wie die Querschnittdarstellung von KÖNIG (2010a) in Abbildung 1 ist auch die Untersuchung von HEERINGA / NERBONNE (2001) eindimensional angelegt, d. h. die Variation wird entlang einer Linie im Raum betrachtet; Stufen oder Sprünge sowie Dialektgrenzen in dieser Linie haben demnach punktuellen Charakter. Der logische nächste Schritt ist die Untersuchung solcher Strukturen im zweidimensionalen Raum, d. h. in der Fläche (vgl. HEERINGA / NERBONNE 2001, 399), in der Stufen/Sprünge bzw. Dialektgrenzen folglich linienförmig verlaufen. Hier stellt sich die Frage, wie man überprüfen kann, ob eine linienförmige Struktur eine Dialektgrenze darstellt oder nicht. Dabei ist relevant, dass die zu überprüfende Linienstruktur in einer Form definiert ist, die mit der dahinterstehenden Hypothese konformgeht. Wenn die Hypothese z. B. lautet „Die Staatsgrenze zwischen Bayern und Österreich bildet eine Dialektgrenze“, so ist die entsprechende Linie als eben diese Grenze in ihrem ganzen Verlauf festzulegen. Diesem Anspruch sind jedoch durch den Umfang der Untersuchungsgebiete der verfügbaren Korpora Grenzen gesetzt, sodass häufig nur der durch die Daten abgedeckte Teil einer solchen Linie damit untersucht werden kann. In diesem Fall kann es also notwendig sein, die Linie aus zwingenden praktischen Gründen zu begrenzen. Ausgehend von diesen Überlegungen sind verschiedene Anforderungen an den gültigen Nachweis von Dialektgrenzen zu formulieren, die essentiell sind, um verlässliche Aussagen über das Vorhandensein einer solchen Struktur zu treffen. 1. Es reicht nicht aus, die durch die vermutete Grenzlinie getrennten Gebiete zu vergleichen. Man wird fast immer, häufig auch signifikante, Unterschiede feststellen. Diese Unterschiede bedeuten jedoch nicht, dass die entsprechenden Isoglossen entlang der Linie verlaufen oder auch nur irgendwie mit ihr in Zusammenhang stehen müssen. Es kann ebenso gut sein, dass viele der Iso14

„When the distance between two dialects is significantly higher than would be expected on the basis of their geographic distance, we conclude that they are separated by a linguistic border between adjacent areas.“ (HEERINGA / NERBONNE 2001, 397).

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glossen an keiner einzigen Stelle mit der untersuchten Linie koinzidieren, sondern sie unter Umständen nur schneiden oder etwas versetzt zu ihr verlaufen. Es ist also erforderlich, die tatsächliche Koinzidenz von sprachlichen Unterschieden bzw. Isoglossen mit der untersuchten Linienstruktur festzustellen, um auf ihre Eigenschaft als Dialektgrenze zu schließen. 2. Es reicht nicht aus, nur zwei Orte oder wenige Ortspaare entlang dieser Linie zu untersuchen, oder nur eine Teilstrecke zu betrachten (außer es ist aufgrund der Datengrundlage nicht anders möglich; siehe oben). Es ist nicht möglich, von einzelnen Ortspaaren auf den gesamten Linienverlauf zu extrapolieren – insbesondere dann nicht, wenn es sich dabei um Städte und damit um ‚Spezialfälle‘ handelt. Zur Validierung einer Linie als Dialektgrenze ist es erforderlich, dass sie über ihren ganzen Verlauf hinweg eine signifikante Bruchstelle darstellt; ansonsten ist die Linie allenfalls teilweise eine Dialektgrenze bzw. die tatsächliche Dialektgrenze verläuft zumindest teilweise anders. Die zu überprüfende Linienstruktur muss also in ihrer ganzen Länge betrachtet werden; nur so kann sichergestellt werden, dass Schlussfolgerungen in Bezug auf ihre Natur als Dialektgrenze auf die Linie als Ganzes zutreffen. 3. Es reicht nicht aus, nur die fragliche Linienstruktur in Isolation zu betrachten. Man wird entlang so gut wie jeder beliebigen Linienstruktur Unterschiede feststellen, es ist jedoch unmöglich, diese Unterschiede als bedeutsam einzuordnen, wenn die Vergleichsbasis fehlt. Es ist daher erforderlich, vergleichbare, zufällig ausgewählte Linien im Sprachraum heranzuziehen, um zu überprüfen, ob die untersuchte Linienstruktur im Vergleich mit beliebigen anderen Linienformationen auffällige Unterschiede aufweist. 4. Es reicht nicht aus, nur eine oder wenige Variable(n) zu betrachten. Für so gut wie alle beliebig gewählten Linienverläufe lassen sich Isoglossen finden, die ungefähr entlang dieser Linie verlaufen. Solche einzelnen Koinzidenzen können mit Blick auf eine große Gesamtzahl an Variablen mit hoher Wahrscheinlichkeit zufällig sein. Für die Feststellung der Bedeutsamkeit einer solchen Koinzidenz ist es erforderlich, ihre statistische Signifikanz vor dem Hintergrund der Gesamtvariation zu zeigen. Es ist daher nötig, alle verfügbaren (oder eine große Zahl an zufällig ausgewählten) Variablen zu betrachten; erst, wenn ein signifikant großer Teil dieser Variablen (d. h. mehr, als per Zufall zu erwarten wäre) ausreichend große Unterschiede entlang der Linie aufweist, kann diese als Dialektgrenze validiert werden. An dieser Stelle sei darauf hingewiesen, dass es bei dem vorgeschlagenen konfirmatorischen Zugang nicht um die Einteilung des Sprachraums in sprachlich zusammenhängende Einheiten zur Ermittlung von Dialektgebieten geht; das Ziel eines konfirmatorischen Verfahrens ist hier die Bestätigung (oder das Verwerfen) von Hypothesen über die sprachraumbrechende Wirkung bestimmter außersprachlich definierter linienförmiger Strukturen.

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3 OPERATIONALISIERUNG15 Die oben formulierten Anforderungen an die Validierung von Dialektgrenzen sollen nun in einen Versuchsaufbau einfließen, der sie in Form einer konfirmatorischen Methodik operationalisiert.16 Die Operationalisierung beginnt mit der Formulierung von Hypothesen, die die Voraussetzung für einen statistischen Testaufbau darstellen. Dabei gilt das geolinguistische Kontinuum als Normalfall, das unsere Nullhypothese darstellt und insofern im Rahmen der Untersuchung als nicht weiter erklärungsbedürftig angesehen wird: H0 :

Das Aufkommen von sprachlichen Unterschieden (z. B. in Form von Isoglossen) entlang einer vorgegebenen Linienstruktur liegt im Rahmen dessen, was durch Zufall zu erwarten wäre.

Liegen so starke Abweichungen entlang dieser Linie vor, dass sie mit hoher Wahrscheinlichkeit nicht mehr im Rahmen normaler, zufälliger Variation zu erklären sind, so liegt an dieser Stelle kein Kontinuum, sondern ein davon abweichender Fall vor, der besondere Aufmerksamkeit verdient. In diesem Fall soll von einer Dialektgrenze gesprochen werden, womit unsere Alternativhypothese wie folgt formuliert wird: H1 :

Das Aufkommen von sprachlichen Unterschieden (z. B. in Form von Isoglossen) entlang einer vorgegebenen Linienstruktur überschreitet das Maß, das durch Zufall zu erwarten wäre.

Das Testproblem besteht nun darin, wie zu entscheiden ist, ob H0 zugunsten von H1 zu verwerfen ist. An dieser Stelle beginnen wir, unser Vorgehen mathematisch zu notieren. Die zu überprüfende Linienstruktur, ein Pfad P, der als eine zusammenhängende Reihe an Kanten zwischen Ortspaaren definiert wird (siehe z. B. Abbildung 3), weist über das ganze Variablenkorpus hinweg eine bestimmte ‚Dichte‘ an sprachlichen Unterschieden auf, die wir als RP bezeichnen. Die gewöhnliche Dichte an durch Zufall zu erwartenden Unterschieden bezeichnen wir als RQ. Das Hypothesenpaar ist demnach definiert als: H0: RP ≤ RQ

15

16

vs.

H1: RP > RQ

Die in diesem Abschnitt vorgestellte Operationalisierung folgt PICKL (2013a, 141–146). Sie ist im Rahmen des DFG-Projekts „Neue Dialektometrie mit Methoden der stochastischen Bildanalyse“ in Zusammenarbeit mit Sprachwissenschaftlern der Universität Augsburg und Stochastikern der Universität Ulm entstanden (DFG EL 500/1−2). Für einen Überblick über die Ergebnisse und Erträge des Projekts siehe PRÖLL et al. (2015). Die Ausführungen in diesem Abschnitt werden in erster Linie technischer Natur sein; der ungeduldige Leser kann ihn bei Bedarf überspringen und bei Abschnitt 4 weiterlesen.

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Um das Testproblem zu lösen, sind zwei Entscheidungen zu fällen: 1) Die Messgrößen RP bzw. RQ müssen definiert werden. 2) Es muss eine Entscheidungsregel in Abhängigkeit von RP und RQ formuliert werden, die bestimmt, unter welchen Voraussetzungen H0 zugunsten von H1 zu verwerfen ist.

Abb. 3: Beispiel für einen Prüfpfad RP in einem Voronoi-Raster. Die Zahlen stehen jeweils für Ortspunkte; P ist demnach definiert als Abfolge der Ortspaare beziehungsweise der jeweiligen Kantenstücke: (67, 77); (66, 67); (66, 54); (53, 54); …

Für die Definition einer ‚Isoglossendichte‘ oder vergleichbarer Maße sprachlicher Unterschiedlichkeit gibt es verschiedene Möglichkeiten. Im phonetischen Bereich ist etwa an aggregierte Levenshtein-Distanzen zu denken, im lexikalischen Bereich an das Auszählen von Unterschieden. Für diesen Beitrag wird der Ausdruck ‚Isoglossendichte‘ im Sinne einer relativen Isoglossenfrequenz, die in der Folge als f bezeichnet werden soll, wörtlich genommen: Es wird gezählt, wie häufig Isoglossen zwischen je zwei Orten beiderseits des Prüfpfades verlaufen.17 Wie eingangs erwähnt, ist die Frage, wo Isoglossen konkret verlaufen, nicht trivial. Um dies soweit wie möglich zu objektivieren, wird auf eine automatische Methode zur Isoglossenkonstruktion zurückgegriffen, welche die Reproduzierbarkeit der Ergebnisse sicherstellt. Konkret handelt es sich dabei um eine Form von Intensitätsschätzung (eine Spielart der Kerndichteschätzung, vgl. PICKL / RUMPF 2011; PICKL 2013a, 82–96), die auf linguistischen Distanzen beruht (vgl. PICKL et al. 2014).18 Mit der frei verfügbaren Software „GeoLing“19 können mittels Intensitätsschätzung Karten für einzelne Variablen generiert werden, die Isoglossen als Begrenzungslinien der Dominanzgebiete ihrer Varianten enthalten. Auf diese Iso17

Siehe PICKL (2013a, 143–144) für ein weiteres Maß für sprachliche Unterschiedlichkeit, das statt auf Isoglossen auf Intensitätsunterschieden beruht und damit weniger die Stärke von Dialektgrenzen als vielmehr ihre Schärfe quantifiziert. 18 Der Intensitätsschätzung mit linguistischen Distanzen wurde hier gegenüber der üblicheren Intensitätsschätzung mit geographischen Distanzen der Vorzug gegeben, da sie anders als letztere nicht dazu neigt, den Verlauf von Isoglossen zu begradigen und sie dadurch für unser Vorhaben unbrauchbar zu machen (vgl. PICKL et al. 2014, 27–29). 19 URL: ; Stand: 31.10.2017.

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glossenverläufe kann für das weitere Vorgehen direkt zurückgegriffen werden. Konkret wird zunächst für jedes Paar p aus benachbarten, gegenüberliegenden Orten gezählt, wie häufig zwischen ihnen im Gesamtkorpus aus Variablen eine Isoglosse verläuft. Das Ergebnis ist ein relativer Wert zwischen 0 und 1: Wenn bei keiner der Variablen eine Isoglosse zwischen diesen Orten verläuft, ist er 0, wenn bei allen der Variablen eine Isoglosse zwischen ihnen verläuft, ist er 1, ist es in der Hälfte aller Variablen der Fall, ist er 0,5 etc. Insofern handelt es sich um einen auf der Grundlage aller im Korpus vertretenen Variablen aggregierten Wert. Aus diesem Wert wird unter Einbeziehung des Abstands der beiden Orte (dp) und der Länge des zwischen ihnen verlaufenden Linienabschnitts (λp)20 der sprachliche ‚Widerstand‘ Rp für das Ortspaar p berechnet; so wird metaphorisch in Anlehnung an den elektrischen Widerstand eine zu überwindende Hürde ausgedrückt. Rp =

fp dp · λp

Der Gesamtwiderstand RP für den Prüfpfad P schließlich wird analog zum elektrischen Widerstand in Parallelschaltung so berechnet, dass ein geringer Einzelwiderstand (für ein Ortspaar) den Gesamtwiderstand wesentlich mehr ‚schwächt‘, als ihn ein hoher Einzelwiderstand ‚stärkt‘. „Nur so ist gewährleistet, dass nur solche Pfade mit einem hohen Widerstand bewertet werden, die ihn auf der ganzen Strecke aufweisen“ (PICKL 2013a, 144).21

RP =

p∈P

1 Rp

-1

Das weitere Vorgehen besteht nun vorerst aus folgenden Schritten: 1. Definition eines geeigneten Prüfpfades P, für den die Vermutung besteht, dass er eine Dialektgrenze darstellt (z. B. ein Flussverlauf). 2. Berechnen des sprachlichen Widerstands RP: Hierbei besteht das Problem, dass der sprachliche Widerstand RP für sich genommen schwer zu interpretieren ist, zumal Widerstände von Pfaden unterschiedlicher Länge nicht miteinander vergleichbar sind. Der Widerstand quantifiziert außerdem nur die Unterschiede in den unmittelbar angrenzenden Orten. Dies ist gewollt, da es ja 20

21

Auf diese Weise wird sichergestellt, dass die Wahrscheinlichkeit eines höheren Widerstands zwischen weiter entfernten Orten berücksichtigt wird; es wird zu einem ‚relativen‘ sprachlichen Widerstand pro Kilometer normalisiert. Zusätzlich dient die Einbeziehung der Länge des Linienabschnitts zur Korrektur der ungleichmäßigen Verteilungen von Ortspunkten in Längsrichtung. Für Details zur Berechnungsweise des Einzel- und Gesamtwiderstands siehe PICKL (2013a, 143–144).

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um die Untersuchung einer möglichen linienförmigen Bruchstelle geht, doch um den berechneten Wert interpretieren zu können, müssen Verhältnisse berücksichtigt werden, die außerhalb dieser Struktur liegen. Der Lösungsansatz besteht darin, einen p-Wert zu berechnen, der die Wahrscheinlichkeit von unterschiedlichen Widerständen längenunabhängig ausdrückt und damit auch Pfade unterschiedlicher Länge vergleichbar macht. Mit dem p-Wert ist gleichzeitig die Voraussetzung für eine Entscheidungsregel in Abhängigkeit von einem zu spezifizierenden Signifikanzniveau α gegeben. Da die Wahrscheinlichkeitsverteilung der Widerstände für beliebige Längen unbekannt ist, muss der p-Wert im Rahmen eines nicht-parametrischen Tests bestimmt werden. Hierfür wird mittels einer randomisierten Monte-Carlo-Simulation eine hohe Anzahl an zufälligen Pfaden gleicher Länge erzeugt, die als Vergleichsbasis dienen und auf diese Weise die Variation in der Fläche des Untersuchungsgebiets miteinbeziehen. Im Vergleich der Zufallspfade mit dem Prüfpfad besteht schließlich Schritt 3 des Vorgehens: 3. Vergleich von RP mit den Widerständen RQ einer hohen Zahl zufällig erzeugter Pfade Q. Erst Schritt 3 ermöglicht eine Beurteilung der statistischen Signifikanz von RP, denn erst eine hohe Zahl von zufälligen Vergleichspfaden erlaubt eine Einschätzung dessen, was für ein Maß an Isoglossenaufkommen – ausgedrückt als Widerstand – entlang eines Pfads gleicher Länge ‚normal‘ ist. Die Schwierigkeit bei diesem Schritt besteht in der Erzeugung der Zufallspfade, die folgende Anforderungen erfüllen müssen: – – – –

Sie müssen die gleiche Länge (d. h. die gleiche Anzahl an Kantenstücken) aufweisen wie der Prüfpfad; sie müssen zusammenhängend sein; sie dürfen nicht verästelt sein und keine geschlossene Schleife bilden;22 sie müssen gleich wahrscheinlich sein.

Einen Algorithmus, der diese Anforderungen erfüllt, hat VOGELBACHER (2011) eingeführt, der in PICKL (2013a, 145) zur Anwendung kam. Mit seiner Hilfe kann eine beliebig hohe Anzahl M an Vergleichspfaden, die die oben genannten Anforderungen erfüllen, innerhalb des Untersuchungsgebiets generiert werden. So können insgesamt 1 + M Widerstände berechnet werden (ein Widerstand RP für den Prüfpfad, M Widerstände RQ für die Vergleichspfade), die als Grundlage für die Entscheidungsregel dienen. Der p-Wert für den Prüfpfad wird berechnet als der

22

Ringförmige Strukturen können auch valide Kandidaten für Dialektgrenzen darstellen, wurden bei diesem Algorithmus jedoch aus praktischen Gründen ausgeschlossen, da ihre Modellierung vor dem Hintergrund ihrer Vergleichbarkeit mit nicht-geschlossenen Linien deutlich mehr Aufwand erfordern würde als die Modellierung ausschließlich nicht-geschlossener Linien.

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relative Rang von RP innerhalb aller R-Werte; d. h. alle R-Werte werden der Größe nach sortiert, und p wird berechnet als die Position von RP innerhalb aller RWerte (= absoluter Rang von RP) geteilt durch die Gesamtzahl 1 + M. p liegt somit zwischen 0 und 1 und führt in Kombination mit dem Signifikanzniveau α zur Aufrechterhaltung oder Ablehnung der Nullhypothese: Ist p ≤ α, wird die Nullhypothese zugunsten der Alternativhypothese verworfen, ansonsten wird sie aufrechterhalten. 4 DIALEKTGRENZEN IN BAYERISCH-SCHWABEN Die in Abschnitt 3 vorgestellte Operationalisierung soll nun an einem Anwendungsbeispiel demonstriert werden.23 Als Datengrundlage dafür dient das lexikalische Teilkorpus des Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben (SBS). Es besteht aus 735 Karten, die die wortgeographische Variation im Basisdialekt an 272 Orten im Regierungsbezirk Schwaben und angrenzenden Gebieten dokumentieren. Die Rohdaten (vgl. PICKL 2013a, 72–78 für eine detaillierte Beschreibung der Datengrundlage) wurden mit der Software „GeoLing“ (vgl. PRÖLL et al. 2015) vorverarbeitet, indem mittels Intensitätsschätzung automatisch Isoglossen ermittelt wurden (vgl. Abschnitt 3). Diese bilden die Grundlage für die berechneten sprachlichen Widerstände und damit für die Signifikanztests. Da es sich um ein konfirmatorisches Verfahren handelt, sind zunächst Prüfpfade zu definieren, von denen vermutet wird, dass sie Dialektgrenzen darstellen. Dafür bieten sich solche Strukturen an, die bereits als potentielle Ursachen für Dialektgrenzen in der Diskussion sind, etwa Flüsse oder politische Grenzen.24 In dieser Reihenfolge sollen verschiedene Strukturen in Bayerisch-Schwaben auf ihre Relevanz als Dialektgrenze hin untersucht werden. In diesem Fall werden nicht auf explorativem Wege erzielte Kandidaten für Dialektgrenzen überprüft, sondern Typen von Strukturen, die in der Literatur immer wieder als Kandidaten für Dialektgrenzen genannt werden (vgl. PICKL 2013a, 28–31). 4.1 Flüsse Untersucht wurden elf Flüsse im Gebiet des SBS (siehe Abbildung PICKL-4 im Farbabbildungsteil). Der dialektologisch interessanteste dieser Flüsse ist der Lech, der vor allem aufgrund seiner jahrhundertelangen Bedeutung als Territorialgrenze 23 24

Dieses Anwendungsbeispiel entspricht in wesentlichen Zügen der Auswertung in PICKL (2013a, 146–157). An dieser Stelle sei angemerkt, dass sich dasselbe Verfahren auch eignet, um Effekte nachzuweisen, die nichts mit Dialektgrenzen im eigentlichen Sinn zu tun haben: sogenannte Exploratorengrenzen (vgl. hierzu MATHUSSEK 2016). Wie in PICKL (2013a, 154–157) gezeigt wurde, können die Grenzen zwischen den Erhebungsgebieten verschiedener Exploratoren sich quantitativ so in den Daten niederschlagen, dass sich dies statistisch nachweisen lässt.

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(Westgrenze des Herzogtums Baiern) als durchaus trennscharfe Grenze zwischen dem schwäbischen und dem bairischen Raum gilt (vgl. unter anderem BOHNENBERGER 1928, 284–290; KÖNIG 2001; 2010a). Der Lech – definiert als Kantenzug im Ortsnetz des SBS (vgl. Abschnitt 3) – besteht innerhalb des Untersuchungsgebiets aus 41 Kantenstücken mit insgesamt 138,8 km Länge. Der sprachliche Widerstand am Lech wird mit den sprachlichen Widerständen von M = 9999 zufällig konstruierten Kantenzügen gleicher Länge in Beziehung gesetzt. Innerhalb dieser 10.000 einzelnen Werte nimmt der Lech die allererste Stelle ein; er stellt somit eine mit p = 0,0001 hoch signifikante Dialektgrenze dar. Dies lässt die Schlussfolgerung zu, dass es sich hier um eine sprachgeographische Bruchstelle handelt, die eine nicht nur zufällige ‚Verhärtung‘ innerhalb des Kontinuums darstellt. Dies erhellt für sich genommen aber nicht, wie genau diese Grenze kausal zu interpretieren ist. Im Fall des Lechs handelt es sich wohl um eine Dialektgrenze des Typs 4 (vgl. Abschnitt 1), d. h., sie vereint Merkmale der Typen 1–3: 1. Am Lech fallen eine markante naturräumliche und eine langjährige politische Grenze zusammen: Der Lech, der „als Gebirgsfluss einen breiten kiesigen Ödlandstreifen mit Auwäldern sowie ein breites, sich immer wieder veränderndes Bett besaß und von Landsberg an nach Norden einen noch breiteren Streifen von fast unfruchtbaren Heideflächen als Begleiter hatte, auf dem es fast keine Dörfer gab und der allenfalls nur extensiv als Weide genutzt wurde“ (KÖNIG 2010b), stellt(e) „mehr ein Verkehrshindernis als andere Flüsse“ (KÖNIG 2010b) dar. Hinzu kam seine Rolle als politische Grenze, denn der Lech war für „ca. 1000 Jahre die relativ stabile Ostgrenze des Herzog- und Kurfüstentums Bayern, dem im Westen ein Gebiet gegenüberstand, das sich im Laufe dieser Zeit immer mehr in kleinere Herrschaften aufspaltete“ (KÖNIG 2010b). 2. Beim Lech handelt es sich um eine sprachstrukturelle Grenze: Die betroffenen Phänomene, u. a. grammatische Merkmale in der Flexionsmorphologie oder phonetische Reihen, weisen sprachsystemische Bezüge untereinander auf und konstituieren so Systemgrenzen. So verlaufen etwa die Isoglossen für die mhd. hohen Langvokale, î, û und iu entlang des Lechs, ebenso die Pluralformen des Verbs (vgl. u. a. BOHNENBERGER 1953; IBROM 1971, Karten 240– 250; WIESINGER 1983, 837–839; KÖNIG 2010a, Abbildung 1). 3. Der Lech war und ist vor allem auch eine Grenze ‚in den Köpfen‘: Seine Eigenschaft als natürliche und politische Grenze mag in Zusammenhang mit damit einhergehenden sprachlichen Unterschieden dazu geführt haben, dass er sich auch als mentale Grenze etablierte (siehe z. B. SBS, Band 1, Karten 15– 18; vgl. auch PRÖLL 2015, 159), wobei sich diese beiden Aspekte wohl gegenseitig verstärkt haben. Folgte man AUER (2004, 162), so wäre die mentale Grenze dabei primär, die sprachliche sekundär (siehe Fußnote 9). Die Wertach stellt einen Nebenfluss des Lechs dar, der sich in Augsburg mit ihm vereinigt. Anders als der Lech stellte die Wertach weder eine politische noch eine

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mentale Grenze dar. Die Analyse der Wertach im Untersuchungsgebiet (29 Kanten, 123,1 km) ergibt einen p-Wert von 0,691, d. h. die Wertach ist weit von Signifikanz entfernt, was die Annahme stützt, dass eine (topographische) Verkehrsscheide alleine nicht ausreicht, um eine Dialektscheide zu konstituieren. Anders sieht es im Fall der Donau aus (28 Kanten, 117,4 km). Mit p = 0,047 ist diese (noch) signifikant. Ihre Eigenschaft als Dialektgrenze innerhalb des Untersuchungsgebiets ist in der dialektologischen Literatur bislang unbekannt, was damit zusammenhängen mag, dass sie eben keine mentale Grenze darstellt (vgl. SBS, Band 1, Karte 11; 15–17).25 Sie deckte sich jedoch – teilweise – eine Zeitlang mit einer politischen Grenze: Zwischen Dillingen und Mertingen fiel sie für ca. 300 Jahre mit der Südgrenze des Herzogtums Pfalz-Neuburg zusammen (vgl. hierzu auch Abschnitt 4.2).26 Die übrigen Flüsse im Untersuchungsgebiet erzielen wie die Wertach keine signifikanten Werte (vgl. PICKL 2013a, 147). 4.2 Politische Grenzen Untersucht man historische und rezente politische Grenzen im Untersuchungsgebiet, so ergibt sich ein zeitlich und regional differenziertes Bild. Die Außengrenze des Regierungsbezirks Mittelfranken im Norden des Untersuchungsgebiets erzielt sehr signifikante Werte, sowohl für den neueren Grenzverlauf ab 1972 (Abbildung 5, links; p = 0,004) als auch für den älteren bis 1972 (Abbildung 5, Mitte; p = 0,004), obwohl er sich deutlich geändert hat; auch der Vorläufer Mittelfrankens, der Rezatkreis (Stand 1817 bis 1837), ist signifikant (Abbildung 5, rechts; p = 0,024). Dagegen erzielt die Grenze zwischen Schwaben und Oberbayern (vor [p = 0,171] und nach 1972 [p = 0,443]) bzw. Oberdonaukreis und Isarkreis (1817 bis 1837 [p = 0,222]) keine signifikanten Werte, obwohl sich zumindest der Südteil dieser Grenze nur wenig geändert hat. Dieser Umstand dürfte wohl darauf zurückzuführen sein, dass die verschiedenen Bezirks- und Kreisgrenzen im Norden des Untersuchungsgebiets an verschiedenen Stellen mit älteren Territorialgrenzen koinzidieren, nämlich mit der der Grafschaft Oettingen und der des Herzogtums Pfalz-Neuburg (vgl. PICKL 2013a, 154), die zusätzlich im Bereich der

25 26

Damit scheint der Befund, dass die Donau eine Dialektgrenze darstellt, zu belegen, dass Verkehrshindernisse auch dann eine geolinguistisch relevante Trennwirkung ausüben können, wenn sie nicht mit einer mentalen Grenze einhergehen (vgl. Fußnote 9). Interessanterweise ergibt sich bei der Faktorenanalyse, einem explorativen Verfahren (vgl. Fußnote 12), genau entlang des Deckungsbereichs von Donau und der Außengrenze von Pfalz-Neuburg eine (relativ schwache, aber dennoch scharfe) sprachliche Trennlinie, die den Donau-Lech-Winkel vom Nordostschwäbischen abgrenzt (vgl. PICKL 2013a, 180, 263). Dies nährt die Vermutung, dass ein Zusammenspiel aus naturräumlicher und politischer Relevanz eine Dialektgrenze wahrscheinlicher macht.

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alten ‚Dreistammesecke‘ zwischen Schwaben, Baiern und Franken fällt. Die Relevanz dieser beiden Territorien soll in der Folge genauer beleuchtet werden.27

Abb. 5: Die untersuchten Bezirks- (links: Stand 1980; Mitte: Stand 1955) und Kreisgrenzen (rechts: Stand 1818) als Prüfpfade im SBS (nach PICKL 2013a, 149–151)

Das Herzogtum Pfalz-Neuburg hatte ca. 300 Jahre lang Bestand (1505 bis 1808). Es stellt dadurch eine relative territoriale räumliche Konstante dar. Seine Außengrenze (Abbildung 6, links) liegt innerhalb des Untersuchungsgebiets in zwei Teilen vor, einem Nordteil und einem Südteil, die getrennt untersucht werden müssen, weil sie nicht zusammenhängen. Die Nordgrenze des Herzogtums PfalzNeuburg ist für beide Widerstände sehr signifikant (p = 0,003). Dies ist ein Indiz dafür, dass diese Linie auch nach dem Ende des Herzogtums noch Wirkung zeigte, was teils mit ihrem partiellen Fortbestehen in den jüngeren Kreis- und Bezirksgrenzen, teils mit der Nachwirkung von über lange Zeit entstandenen, verfestigten sprachlichen und mentalen Gegensätzen erklärt werden könnte. Die Südgrenze ist unauffällig (p = 0,193). Die Grafschaft Oettingen existierte vom 14. Jahrhundert an bis Anfang des 19. Jahrhunderts ebenfalls in vergleichsweise konstanter Form. Mit diesem Territorium geht ein konfessioneller Gegensatz einher, denn das Bekenntnis in der Grafschaft war über lange Zeit mehrheitlich evangelisch, was sie von ihrem katholisch geprägten Umland unterschied. Außerdem ist die Grafschaft Oettingen zumindest in ihrem Südteil mit dem Nördlinger Ries deckungsgleich, einem Meteoritenkrater von etwa 22 km Durchmesser. Die Grafschaft fand einen Nachfolger in dem in großen Teilen mit ihr räumlich übereinstimmenden, bis 1972 bestehenden Landkreis Nördlingen. Die Außengrenze der Grafschaft Oettingen, die

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Die prominenteste historische Grenze in diesem Raum, die Westgrenze des Herzogtums Baiern, wurde mit dem Lech bereits im vorangehenden Abschnitt untersucht.

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zum Teil eine gemeinsame Grenze mit Pfalz-Neuburg war, erzielt einen signifikant hohen Wert (p = 0,026).

Abb. 6: Die untersuchten Außengrenzen von Pfalz-Neuburg und Oettingen als Prüfpfade im SBS (nach PICKL 2013a, 152–152)

Weitere historische Grenzen im Untersuchungsgebiet sind schwer zu untersuchen, da sich bei ihnen „das Problem [stellt], dass ihr Grenzverlauf über die Zeit wenig konstant war und einzelne Orte häufig ihre Zugehörigkeit ändern konnten.“ (PICKL 2013a, 151–152) Zusammenfassend lässt sich sagen, dass verschiedene rezente und historische politische Grenzen im Norden des Untersuchungsgebiets signifikante Werte erreichen, südlich davon – mit Ausnahme des Lechs als Westgrenze des Herzogtums Baiern – eher nicht. Dies mag mit einer gewissen historischen Kontinuität bestimmter Grenzverläufe in diesem Bereich zusammenhängen, auch wenn diese im Detail deutlichen Fluktuationen unterworfen waren. Bei der Grafschaft Oettingen können zusätzliche Effekte eine Rolle gespielt haben, die zum einen auf Konfessionsunterschiede entlang der Grenze zurückzuführen sind (vgl. auch HUB 2014), zum anderen möglicherweise auf das Nördlinger Ries. Dies alles kann in Kombination zu einer mentalen Grenze geführt haben (vgl. auch SBS, Bd. 1, K. 11), die sich auch sprachlich niederschlägt.

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5 ZUSAMMENFASSUNG Abschließend ist festzuhalten, dass der Nachweis von Grenzen im Sprachraum in diesem Beitrag keinen Selbstzweck im Sinne einer Einteilung des Sprachraums in Dialektgebiete darstellt; für dieses Ziel sind andere, explorative Verfahren besser geeignet, die weitgehend ohne Vorannahmen auskommen (v. a. solche, die sowohl scharfe als auch unscharfe Ränder zu erfassen in der Lage sind, wie etwa die Faktorenanalyse; siehe Fußnote 12). Es geht hier vielmehr um die konfirmatorische Überprüfung von linienförmig wirksamen Einflüssen auf den Sprachraum, die den angenommenen Normalzustand des Kontinuums durchbrechen und ausschließlich trennscharfe Spuren im Sprachraum nach sich ziehen, jedoch nicht zwangsläufig Gebiete im Sinne von Dialektarealen umreißen müssen. Es wurde gezeigt, dass Dialektgrenzen als signifikante ‚Stufen‘ im sprachgeographischen Kontinuum konzeptualisiert werden können, was der Konstruktion eines statistischen Testverfahrens Vorschub leistet. Dialektgrenzen sind dabei solche linienförmigen Strukturen in einem gegebenen Untersuchungsraum, entlang derer die sprachlichen Unterschiede größer oder zahlreicher sind, als aufgrund nur zufälliger Variation angenommen werden kann. Tritt dieser Fall ein, so liegt der Verdacht einer bedeutsamen Grenze nahe, die in der Folge interpretiert werden muss. Das Überprüfen des Zutreffens dieser Annahme kann auf einer ausreichend großen Datenbasis mit einem nicht-parametrischen Test im Rahmen eines Monte-Carlo-Verfahrens erzielt werden. Das in Abschnitt 3 vorgestellte Testverfahren erlaubt es unter diesen Prämissen, beliebige Pfade im Untersuchungsgebiet darauf hin zu untersuchen, ob sie innerhalb des betrachteten Variablenkorpus (in diesem Fall im Lexikteil des SBS) Dialektgrenzen darstellen. Von der älteren Isoglossenmethode und neueren explorativen Verfahren wie der Clusteranalyse unterscheidet sie sich vor allem durch einen konfirmatorischen (d. h. hypothesenüberprüfenden) Zugang, bei dem statistisch aussagekräftige Werte berechnet werden. Signifikante Werte deuten darauf hin, dass vor dem Hintergrund der Annahme einer grundsätzlichen Kontinuumssituation eine außergewöhnliche Struktur vorliegt. Dabei ist anzumerken, dass das statistische Konzept der Signifikanz nicht bedeutet, dass etwas zweifelsfrei bewiesen ist, sondern nur, dass eine hohe Wahrscheinlichkeit für das Zutreffen einer Annahme berechnet wurde. Ebenfalls ist anzumerken, dass statistische Werte nicht darüber hinwegtäuschen können, dass das verwendete Verfahren – wie alle statistischen Verfahren – auf Modellannahmen beruht, die von der Wirklichkeit abstrahieren und dialektologische Entitäten wie Dialektgrenzen konstruieren. Am Beispiel der Daten aus dem Sprachatlas von Bayerisch-Schwaben kann für einige Flüsse und politische Grenzen in Abschnitt 4 teilweise mit hoher Signifikanz nachgewiesen werden, dass sie mit ‚Stufen‘ oder ‚Bruchstellen‘ im dialektgeographischen Kontinuum einhergehen. Dabei zeigt sich, dass es häufig eine Kombination aus verschiedenen Faktoren ist (wie etwa über längere Zeit wirksamen politischen Grenzen, naturräumlichen Hindernissen und/oder konfessionellen Unterschieden), die zu signifikanten Brüchen im sprachlichen Kontinuum führen

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RÄUME, GRENZEN UND ÜBERGÄNGE: SUBJEKTREALISIERUNG IM SPRACHKONTAKTRAUM DEUTSCH-ITALIENISCH Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli 1 EINLEITUNG: RÄUME, GRENZEN UND ÜBERGÄNGE* Die deutsche Dialektologie ist seit dem späten 19. Jahrhundert von dem Paradox charakterisiert, dass auf Dialektkarten häufig Grenzlinien eingezeichnet werden, auf diese aber gerne mit dem Terminus Isoglosse referiert wird. Während Grenze die räumliche Abgrenzung eines Phänomens nach außen bestimmt, ist das Kunstwort Isoglosse (erfunden von BIELENSTEIN 1892, vgl. dazu HÄNDLER / WIEGAND 1982, 502–507) bedingt durch das Präfixoid iso eher nach innen gewandt, unterstreicht also das Gemeinsame in einem Raum. Die gesamte Dynamik in der Entwicklung sowohl der Dialekte als auch der Dialektologie als Wissenschaft speist sich letztlich aus diesem Gegensatz zwischen dem Verbindenden und dem Trennenden. Beides hat seine funktionale Rechtfertigung: Das Verbindende wird in Akten der „Synchronisierung“ gestärkt, deren Ziel „der Wille [ist], verstanden zu werden oder zumindest nicht missverstanden zu werden“ (SCHMIDT / HERRGEN 2011, 28) und die in der Sprachgeschichte in letzter Konsequenz zur Ausbildung der Standardsprachen geführt haben. Das Trennende resultiert ebenfalls aus Synchronisierungsakten, aber auf solchen, die nicht auf Ebene der Gesamtsprache, sondern innerhalb bestimmter Sprechergruppen erfolgen (sogenannte „Mesosynchronisierungen“ nach SCHMIDT / HERRGEN 2011, 30–32) und damit bewusst oder unbewusst Abgrenzungen nach außen generieren. Das Untersuchungsgebiet dieser Studie, die historische Grafschaft Tirol und angrenzende Gebiete Venetiens, ist bezüglich der Räume, Grenzen und Übergänge komplexer strukturiert als der binnendeutsche Dialektraum, weil zu den Dialektunterschieden der Gegensatz ‚Deutsch‘ vs. ‚Italienisch‘ hinzukommt. Es ist heute Konsens, dass es im Kontinuum der deutschen Dialekte keine Grenzen in dem Sinn gibt, dass man mit einem Schritt über eine imaginäre Linie von einem in ein anderes Sprachsystem kommt, also etwa vom ‚Bairischen‘ ins ‚Alemannische‘. Statt klarer Grenzen hat man in der Geschichte der deutschen Dialektologie *

Die Studie ist ein Ergebnis des AThEME-Projekts, gefördert im 7. Forschungsrahmenprogramm der EU, Finanzhilfevereinbarung Nr. 613465, siehe Abschnitt 2 und Fußnote 3. Die Autoren danken für wichtige Impulse aus der Diskussion des Beitrags auf dem Luxemburger IGDD-Kongress, 11.09.2015, für Verbesserungsvorschläge zum Text außerdem zwei anonymen Gutachtern.

284

Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli

Kernräume und Übergangslandschaften unterschiedlichster Natur angenommen. Zwischen verschiedenen Standardsprachen existieren scharfe Grenzen aber durchaus. Ein gutes Beispiel ist die junge deutsch-polnische Staatsgrenze an der Oder, mit der die Sprachgrenze Deutsch-Polnisch identisch ist. Die Bevölkerung ist auf beiden Seiten der Grenze nahezu monolingual, das Überschreiten der Grenze bedeutet den Schritt ins absolute Nichtverstehen. Deutsch und Italienisch sind im Prinzip genauso wenig gegenseitig verständlich wie Deutsch und Polnisch. Staatsund Sprachgrenzen fallen aber im Untersuchungsgebiet nicht zusammen. Die heutige Staatsgrenze zwischen Österreich und Italien am Brenner verläuft mitten durch den Tiroler Dialektraum. Der Schritt über die Grenze bedeutet nicht einmal das Überschreiten einer relevanten Dialektisoglosse, da die Isoglossen im tirolischen Dialektraum, der Nord- und Südtirol gemeinsam umfasst, in der Regel von Nord nach Süd und nicht – wie die Staatsgrenze – von Ost nach West verlaufen.1 Dennoch ändert sich die Sprachsituation: Wenn auch die Kompetenzgrade sehr unterschiedlich und manchmal sehr bescheiden sind, ist das Italienische doch südlich der Brennergrenze im Repertoire des durchschnittlichen Sprecher verfügbar – nördlich der Brennergrenze nicht. Die Sprachgrenze Deutsch-Italienisch wird üblicherweise unmittelbar südlich von Salurn verortet, in Übereinstimmung mit der Grenze der heutigen Provinz Bozen-Südtirol. Tatsächlich ist das Unterland, der südlichste Teil der Provinz Bozen-Südtirol, aber schon seit alter Zeit auch auf der Dialektebene zweisprachig. Viele Sprecher sind dort bilingual nicht nur in Bezug auf die italienische und deutsche Standardsprache (in ihrer regionalen Form bzw. Oralisierungsnorm), sondern bedienen sich auch des südbairisch-tirolischen und trentinischen Dialekts gleichermaßen (vgl. CICCOLONE / FRANCESCHINI 2015, 483–486; unser Belegort in diesem Raum ist Salurn, siehe Abschnitt 4). Die Sprachwahl dieser Sprecher wird vom Gesprächspartner und der Situation gesteuert, auch haben diese Sprecher üblicherweise eine gewisse Präferenz für den einen oder anderen Dialekt. Eine räumliche Abgrenzung des deutschen vs. italienischen Dialekts ist in diesem Gebiet aber nicht möglich. Dasselbe gilt für die deutschen Sprachinseln der Zimbern und Fersentaler in der Provinz Trient und in den Provinzen Verona und Vicenza. Die Sprecher der deutschen Minderheitensprache beherrschen neben Deutsch-Fersentalerisch oder Zimbrisch stets auch italienischen Dialekt, abgesehen von Standarditalienisch regionaler Art und, in eher seltenen Fällen, Standarddeutsch. Der Anteil des historisch deutschen Dialekts an der sprachlichen Gesamtperformanz nimmt dabei von Nordwest nach Südost ab. Für die sieben Gemeinden in der Provinz Vicenza kommt das Zimbrische im sprachlichen Alltag praktisch gar nicht mehr vor und hat nur symbolische Bedeutung bewahrt (als Sprache der Erinnerung). Auch in Giazza in der Provinz Verona findet die ortsinterne Kommunikation heute fast ausschließlich im veronesischen Dialekt bzw. in regionalem Italienisch statt (Zimbrisch ist in seltenen Fällen noch Famili-

1

Wir gehen davon aus, dass es eine dialektale Einheit des Tirolischen gibt. AUER et al. (2015) zeigen, wie sich diese dialektale Einheit für das Alemannische an der deutsch-französischen Staatsgrenze im Oberrheingebiet derzeit auflöst.

Subjektrealisierungen im Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch

285

ensprache). Dessen ungeachtet verstehen sich die Menschen weiterhin kulturell als cimbri (wohlgemerkt in dieser italienischen Form der Eigenbezeichnung!).2 Zimbrische und fersentalerische Dialekte werden schon aus historischen Gründen als deutsche Varietäten betrachtet. Aber auch in der Synchronie haben sie den größten Teil ihrer linguistischen Merkmale mit den binnendeutschen Dialekten gemeinsam, wobei wie im Binnendeutschen eine Korrelation zwischen geographischer und linguistischer Nähe besteht (vgl. zur quantitativen Bestimmung der Nähe bzw. Abgrenzung von zimbrischen, fersentalerischen und Südtiroler Dialekten RABANUS 2017, vor allem die Ergebnisse der Clusteranalyse [RABANUS 2017, 415]). Sie können daher als die äußersten Ausläufer des Kontinuums der deutschen Dialekte betrachtet werden. Es gibt allerdings auf allen linguistischen Systemebenen Merkmale, in denen die zimbrischen und fersentalerischen Dialekte mit den italienischen Kontaktdialekten übereinstimmen und sich deutlich von den anderen deutschen Dialekten unterscheiden. Daher – und vor dem Hintergrund des hier skizzierten Multilingualismus – soll in diesem Beitrag die Hypothese linguistischer Kontinua zwischen Dialekten untersucht werden, die zu unterschiedlichen Sprachen gehören (Deutsch und Italienisch). 2 FORSCHUNGSSTAND: „ADVANCING THE EUROPEAN MULTILINGUAL EXPERIENCE“ Die im Mittelpunkt dieser Studie stehenden deutschen Sprachinseldialekte sind seit der Mitte des 19. Jahrhunderts detailliert untersucht und beschrieben worden (vgl. vor allem die umfangreichen Studien und Materialsammlungen von SCHMELLER 1855; BACHER 1905; KRANZMAYER 1981; SCHWEIZER 2008; SCHWEIZER / RABANUS 2012). Dabei ist zwar immer wieder auf Einflüsse des Italienischen hingewiesen worden. Die Forschung hatte aber stets eine rekonstruktive Grundhaltung. Im Mittelpunkt des Interesses stand die Frage nach dem Grad der Konservierung altdeutscher Merkmale in der Isolationssituation der Sprachinseln (teilweise wurde als Ausgangs- und Referenzpunkt sogar das [rekonstruierte] Germanische gesetzt, so etwa bei der Beschreibung des Lautsystems in SCHWEIZERS „Zimbrischer Gesamtgrammatik“ [2008; Manuskript 1951/1952]). Eine ganz andere Perspektive nehmen die jüngsten Studien der Arbeitsgruppe Verona-Trient ein, zu der die Autoren des vorliegenden Beitrags gehören. In diesen Studien werden Variablen der verschiedenen linguistischen Systemebenen in Dialekten aller Sprachgruppen des Untersuchungsgebiets untersucht. Dabei finden sich Varianten, die etwa in den germanisch-deutschen Dialekten genauso belegt sind wie in den romanischen, während sie im Standarddeutschen nicht vorkommen. Die Abweichungen eines Dialekts von seiner Bezugssprache (also etwa des germanisch2

Das Wort ‚Deutsch‘ taucht nur auf einerseits in der abwertenden Fremdbezeichung der zimbrischen Bevölkerung, etwa in Verona (i todeschi), und andererseits in der Bezeichnung der Sprache als Tautsch (vgl. unter anderem CAPPELLETTI / SCHWEIZER 1942). Vgl. zu den Benennungen der deutschen Minderheitensprachen in Norditalien DAL NEGRO (2011, 202–203).

286

Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli

deutschen Dialekts von der deutschen Standardsprache) sind zu einem Teil, aber nicht immer sprachkontaktinduziert. Eine große Rolle spielt auch der Erhalt alter Merkmale, die im binnendeutschen Raum verlorengegangen sind. Im Rahmen des EU-Projekts „Advancing the European Multilingual Experience“3 bzw. in Vorarbeiten dazu sind bereits zahlreiche Variablen unterschiedlicher Systemebenen untersucht worden, darunter (als Überblick vgl. vor allem ALBER / RABANUS / TOMASELLI 2012; 2014): – – – – – –

Stimmhaftigkeitskontraste bei Obstruenten; Paradigmata der Personalpronomen; Position und Flexionseigenschaften von attributiven und prädikativen Adjektiven; Allquantor als Präartikel; Partitivpronomen; Position des finiten Verbs.

In RABANUS (2015, 425–430) sind bereits Aspekte der Subjektrealisierung untersucht worden, mit besonderem Fokus auf die hier nicht berücksichtigten ladinischen Dialekte. BIDESE / TOMASELLI (i. Dr.) behandeln theoretische Aspekte des Nullsubjekt-Parameters. Bezüglich des Lexikons gilt: Lehnwörter und Lehnübersetzungen sind in den Dialekten des Untersuchungsgebiets häufig. Ihre Bedeutung besteht darin, dass sie ein klares Indiz für langandauernden Sprachkontakt und damit die Voraussetzung für kontaktinduzierten Sprachwandel auf den Systemebenen Phonologie, Morphologie und Syntax sind. 3 FRAGESTELLUNG UND HYPOTHESE In diesem Beitrag soll die Subjektrealisierung in den Dialekten des Untersuchungsgebiets im Detail in den Blick genommen werden. Die obligatorische Lexikalisierung des Subjektpronomens bzw. der Nullsubjekt-Parameter ist ein besonders interessantes Phänomen aus mindestens zwei Gründen: 1. Der Nullsubjekt-Parameter gilt als Variationsparameter zwischen germanischen und romanischen Sprachen (mit Ausnahme des Französischen) und ist folglich sehr gut zur Überprüfung eines germanisch-romanischen Kontinuums im Untersuchungsgebiet geeignet.

3

Im AThEME-Projekt mit europaweit 17 Partnerinstitutionen wird Multilingualismus aus den verschiedensten Perspektiven in den Blick genommen, ausgehend von der Bestimmung multilingualer Repertoires über die Erhebung von Sprachdaten aus Sprachkontakt-Varietäten, ihrer sprachtheoretischen Interpretation und ihrer EKP-Vermessung bis hin zu gesellschaftspolitischen Aspekten von Mehrsprachigkeit. Siehe hierzu URL: ; Stand: 31.10.2017.

Subjektrealisierungen im Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch

287

2. Zum Phänomen zählt nicht nur der Gegensatz Pronomen vs. Nullform, sondern es gehören auch weitere bedeutenden „Epiphänomene“ dazu, die in der sogenannten „Principles and Parameters“-Perspektive der 1980er Jahre (vgl. CHOMSKY / LASNIK 1993) als Korrelate des Kernparameters Pronomen vs. Nullform interpretiert worden sind. Die Tatsache, dass es statt einer einzigen Variable mehrere verschiedene Teilvariablen gibt, erlaubt es, das vermutete Kontinuum in seiner Gradualität zu bestimmen. Seit RIZZI (1982; 1986) werden mindestens drei Korrelate des NullsubjektParameters in Betracht gezogen: i) die Verfügbarkeit vs. Nicht-Verfügbarkeit von lexikalischen ‚Subjektexpletiva‘, z. B. bei Witterungsverben; ii) die ‚Erfragbarkeit‘ des eingebetteten Subjekts; iii) die ‚Stellungsfreiheit der Subjekt-NP‘.4 Damit liegen für den Komplex der Subjektrealisierung die folgenden vier Teilvariablen vor, die wir am Vergleich der Standardvarietäten von Deutsch und Italienisch einführen wollen.5 ‚Referentielle Nullsubjekte‘ Ein overtes Subjektpronomen oder Subjektklitikum ist obligatorisch [–referentielle Nullsubjekte] oder es ist fakultativ bzw. in bestimmten syntaktischen Kontexten sogar ausgeschlossen [+referentielle Nullsubjekte]: (1)

a. Heute hat er schon angerufen b. *Heute hat [ø] schon angerufen

(2)

a. Oggi [ø] ha già chiamato b. Oggi lui ha già chiamato

(lui betont)

Referentielle Nullsubjekte sind im Deutschen ausgeschlossen, siehe (1b). Im Italienischen ist das referentielle Nullsubjekt dagegen der Normalfall (vgl. zum Gegensatz Deutsch-Italienisch TOMASELLI 1986): Die Setzung eines Subjektpronomens wie in (2b) schafft eine markierte Struktur (etwa zur Betonung des Subjektreferenten).

4

5

Neuere Arbeiten zum Parameterformat haben, durch Berücksichtigung auch der Mikrovariation, zu einer Revision der Ideen aus den 1990er Jahren geführt, vgl. etwa die Beiträge in BIBERAUER et al. (2010). Für die Zwecke der vorliegenden Studie ist es aber ausreichend bzw. sogar angezeigt, auf den traditionellen Ansatz Bezug zu nehmen, mit dem die Grundkonzepte einfacher und verständlicher eingeführt werden können, als es durch den Bezug auf die neuesten Modelle möglich wäre. Nullsubjekte werden in den Beispielen mit dem Symbol „[ø]“ bezeichnet. Die Bedeutung der italienischen Beispielsätze stimmt in (1)–(8) jeweils mit denen der deutschen überein.

288

Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli

‚Subjektexpletiva‘ bei Witterungsverben Ein overtes Subjektexpletivum ist obligatorisch [+Subjektexpletiva] oder fakultativ, in bestimmten syntaktischen Kontexten sogar ausgeschlossen [–Subjektexpletiva]. (3)

a. Heute hat es den ganzen Tag geschneit b. *Heute hat [ø] den ganzen Tag geschneit

(4)

a. Oggi [ø] è nevicato tutto il giorno b. *Oggi lui/esso è nevicato tutto il giorno

Wie die Beispiele illustrieren, ist im Deutschen das Subjektexpletivum obligatorisch, siehe (3), während es im Standarditalienischen ausgeschlossen ist, siehe (4). ‚Erfragbarkeit‘ des eingebetteten Subjekts Das Subjekt eines expliziten (durch Konjunktion eingeleiteten) Nebensatzes kann nur im Italienischen einfach „extrahiert“ werden, siehe (5b). Diese Möglichkeit ist im Standarddeutschen stark begrenzt und nur mit eingebetteten V2-Sätzen erlaubt, siehe (6c): (5)

a. Io credo che il nonno sia arrivato a Bolzano in treno b. Chi credi che [ø] sia arrivato a Bolzano in treno?

(6)

a. Ich glaube, dass der Großvater mit dem Zug nach Bozen gekommen ist b. *Wer glaubst du, dass [ø] mit dem Zug nach Bozen gekommen ist? c. Wer glaubst du [ø] ist/sei [ø] mit dem Zug nach Bozen gekommen?

In diesem Fall geht es nicht nur um die lexikalische Realisierung des Subjekts, sondern um seine „Beweglichkeit“, genauer um die Möglichkeit, die kanonische Subjektstelle leer zu lassen. Im Deutschen kann die kanonische Subjektstelle im Nebensatz i. d. R. nicht leer gelassen werden, siehe (6b). ‚Stellungsfreiheit der Subjekt-NP‘ Im Deutschen steht die Subjekt-NP normalerweise entweder links des finiten Verbs (im Vorfeld) oder unmittelbar rechts des finiten Verbs (im Mittelfeld). Im Italienischen kann die Subjekt-NP jede beliebige Position links oder rechts des Verbalkomplexes einnehmen. (7)

a. , dass der Großvater mit dem Zug nach Bozen gekommen ist b. ?, dass [ø] mit dem Zug der Großvater nach Bozen gekommen ist c. ?, dass [ø] mit dem Zug nach Bozen der Großvater gekommen ist d. *, dass [ø] mit dem Zug nach Bozen gekommen ist, der Großvater

Subjektrealisierungen im Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch (8)

289

a. (che) il nonno è arrivato in treno a Bolzano b. (che) [ø] è arrivato il nonno in treno a Bolzano c. (che) [ø] è arrivato in treno il nonno a Bolzano d. (che) [ø] è arrivato in treno a Bolzano il nonno

Im Deutschen kann das Subjekt dabei die Anfangsposition des Mittelfeldes (siehe [7a]) in der Regel nicht verlassen. In speziellen pragmatischen Kontexten, etwa mit Kontrastakzent, kann das Subjekt auch nach rechts verschoben werden, wobei dann markierte Konstruktionen wie in (7b) und (7c) entstehen. Eine Ausklammerung wie in (7d) ist nicht möglich. Im Italienischen kann das Subjekt dagegen rechts des (ganzen) Verbalkomplexes frei vorkommen, in beliebiger Position.6 Hier soll folgende Hypothese untersucht werden: Im Untersuchungsgebiet gibt es ein Kontinuum bei der Realisierung der „+“- bzw. „–“-Varianten der vorstehenden Teilvariablen, das unabhängig von der Zugehörigkeit der Dialekte zum Deutschen oder Italienischen ist. Das führt dazu, dass deutsche Dialekte Varianten haben können, die typisch für das Italienische sind, und umgekehrt. Dieses Kontinuum bedeutet nicht, dass sich die entsprechenden Dialekte insgesamt von deutschen zu italienischen Dialekten entwickelt haben, oder umgekehrt. In der Summe aller Merkmale bewahren auch die zimbrischen Dialekte mit ihren potentiell kontaktinduzierten Neuerungen ihren Charakter als deutsche Dialekte. Konkret: Die germanisch-deutschen Varietäten sind keine Nullsubjektsprachen geworden. 4 DATENMATERIAL Der Nullsubjekt-Parameter und seine Korrelate sind syntaktisch komplex und erfordern in der Regel die direkte Befragung der Informanten mithilfe eines spezifischen Fragebogens. Nur bei den Teilvariablen ‚Subjektexpletiva‘ und ‚referentielle Nullsubjekte‘ kann teilweise auf vorhandene Datenquellen (etwa WenkerMaterialen oder die umfangreiche Datensammlung in MANZINI / SAVOIA 2005) zurückgegriffen werden. Für die vorliegende Studie hat die Arbeitsgruppe der Autoren selbst Befragungen von Informanten aus den Referenzdialekten durchgeführt (Übersetzungsaufgaben, Grammatikalitätsurteile). Es wurden dabei die Dialekte folgender Orte berücksichtigt, die verschiedene Sprachkontaktkonstellationen repräsentieren:7 –

Dietfurt an der Altmühl: nordbairischer Dialekt ohne jeglichen Sprachkontakt mit dem Romanischen;

6

Auch im Italienischen sind die Varianten pragmatisch nicht gleichwertig. Während aber im Deutschen zwischen (7a) und (7d) ein klarer Grammatikalitätskontrast besteht, sind alle italienischen Varianten, auch (8d), völlig akzeptabel. Im REDE SprachGIS ist unter URL: ; Stand: 31.10.2017 eine Übersichtskarte mit der Lage der Orte abrufbar.

7

290 – – – – – – –

Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli

Meran: südbairisch-tirolischer Dialekt mit schwachem Kontakt mit der italienischen Standardsprache; Salurn: südbairisch-tirolischer Dialekt mit starkem Kontakt mit dem Italienischen (trentinischer Dialekt und italienische Standardsprache); Salurn: trentinischer Dialekt mit starkem Kontakt mit dem Deutschen (tirolischer Dialekt und deutsche Standardsprache); Palai: fersentalerischer Dialekt mit starkem Kontakt mit dem Italienischen (trentinischer Dialekt und italienische Standardsprache); Lusern: zimbrischer Dialekt mit starkem Kontakt mit dem Italienischen (trentinischer Dialekt und italienische Standardsprache); Illasi: veronesischer Dialekt mit historischem Kontakt zum Zimbrischen; San Pietro di Morubio: veronesischer Dialekt ohne jeglichen Sprachkontakt mit dem Deutschen.8

Salurn hat in der vorliegenden Studie eine besondere Bedeutung, weil die Sprecher dort auch auf der Dialektebene bilingual sind (siehe auch Abschnitt 1). Während die Dialekte von Dietfurt, Meran und Salurn (Südbairisch-Tirolisch) von der deutschen und die Dialekte von Salurn (Trentinisch), Illasi und San Pietro von der italienischen Standardsprache überdacht sind, können die Dialekte von Palai und Lusern heute als „dachlos“ aufgefasst werden: Trotz der geringen Sprecherzahl sind dort etwa durch Entwicklung einer eigenen Orthographie oder die Verwendung des Dialekts in Dokumenten der lokalen Verwaltung Ausbautendenzen im Sinne von KLOSS (1978, 55–60) und damit eine Emanzipation vom Deutschen erkennbar.9 5 ANALYSE UND DISKUSSION In den Tabellen 1 und 2 sind die Varianten „+“ und „–“ der in Abschnitt 3 eingeführten Teilvariablen zusammengefasst: in Tabelle 1 für die deutsche und italienische Standardsprache, in Tabelle 2 für die Dialekte.

8 9

Für Hilfe bei der Organisation der Befragung in San Pietro geht ein besonderer Dank an LUCIA BELTRAME MENINI. KLOSS (1978, 140–145) macht eine klare Unterscheidung zwischen dem Zimbrischen Venetiens (VII und XIII Gemeinden), welches „vor 100 Jahren in soziolinguistischer Hinsicht als Ausbausprache gelten konnte“ (KLOSS 1978, 143), und dem im vorliegenden Beitrag untersuchten Zimbrischen von Lusern, in dem in vorfaschistischer Zeit die deutsche Schriftsprache – und eben nicht das Zimbrische – in der Schule unterrichtet und in Domänen mit Öffentlichkeitscharakter benutzt wurde. Die genannten Ausbautendenzen zeigen sich im Zimbrischen von Lusern und Fersentalerischen erst in allerjüngster Zeit.

291

Subjektrealisierungen im Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch

Merkmal

Standarddeutsch

Standarditalienisch

Subjektexpletiva

+



Erfragbarkeit



+

Stellungsfreiheit der Subjekt-NP



+

3



+

1



+

2



+

referentielle Nullsubjekte

Tab. 1: Merkmalsverteilung in den Standardsprachen

Dietfurt Meran

Merkmal

Salurn tirol.

Palai

Lusern

Salurn trent.

Illasi

San Pietro

Subjektexpletiva

+

+

+

+

+

+

–*



Erfragbarkeit

+

+

+*

+

+*

+

+

+

Stellungsfreiheit der Subjekt-NP







+*

+*

+*

+*

+

3

















1

–*









+

+*

+

2

+*

+

+





–*

–*

–*

referentielle Nullsubjekte

Tab. 2: Merkmalsverteilung in den Dialekten (* = siehe Kommentar im Text)

5.1 Subjektexpletiva Die Setzung eines Subjektexpletivums bei Witterungsverben ist in allen Dialekten des Untersuchungsgebiets bis einschließlich des trentinischen Dialekts von Salurn in allen syntaktischen Positionen obligatorisch, siehe etwa proklitisches el in (10a) und enklitisches -lo in (10b). (9)

a. ’s schneib b. schneib’s?

(Palai)

(10)

a. el fioca b. fiocalo?

(Salurn, Trentinisch)

(11)

a. (Ancò) nevega b. Nevega ancò lì da vualtri?

(Illasi)

292

Stefan Rabanus / Alessandra Tomaselli c. Ieri (l’)a nevegà d. A(lo) nevegà ancò lì da voialtri?

(12)

a. (Ancò) nevega b. Nevega? c. Ieri a nevegà d. A nevega?

(San Pietro)

In Illasi ist das Expletivum dagegen nur fakultativ, und zwar nur in den analytischen gebildeten Tempora: proklitisch (siehe l’ in [11c]) oder enklitisch (siehe -lo in [11d]), jeweils am Auxiliar (alle Daten zu Illasi aus VERZÈ 2016). Zwei von fünf Informanten verwenden überhaupt kein Klitikum. In San Pietro schließlich wird das Klitikum von unseren Informanten gar nicht verwendet, auch nicht in den analytischen Tempora (siehe [12c, d]). Der Dialekt stimmt bezüglich dieses Korrelats mit der italienischen Standardsprache überein. Für ‚Subjektexpletiva‘ zeigt sich, in Bezug auf die Oberflächenformen, ein perfektes Kontinuum, das unabhängig von der Zugehörigkeit zu Deutsch und Italienisch ist. Der Übergang zwischen [+Subjektexpletiva] wie im deutschen Standard und [–Subjektexpletiva] wie im italienischen Standard findet im Dialekt von Illasi statt. 5.2 Referentielle Nullsubjekte Referentielle Nullsubjekte werden in unserer Studie mit jeder Art von phonetisch realisierten Subjektexponenten kontrastiert. In den Dialekten des Untersuchungsgebiets sind diese Subjektexponenten unterschiedlich organisiert. Für deutsche Dialekte nimmt man in der Regel starke oder betonte Pronomen an, von denen durch phonetisch-phonologische Reduktionsregeln schwache Pronomen abgeleitet werden, also zum Beispiel für das Subjektpronomen er im Standarddeutschen [eɐ] > [ɛɐ] > [ɐ] (vgl. KOHLER 1995, 215). Für die italienischen Dialekte geht man dagegen von zwei voneinander unabhängigen Serien für betonte und unbetonte bzw. klitische Pronomen aus (it. pronomi tonici vs. pronomi clitici), wobei die unbetonten oder klitischen Pronomen nicht notwendigerweise durch Reduktionsregeln aus betonten Pronomen abgeleitet werden, vgl. die Paradigmata der Objektpronomen im Standarditalienischen, z. B. ci (‘uns’, klitisches Pronomen) vs. noi (‘uns’, betontes Pronomen). Das Standarditalienische kennt keine klitischen Subjektpronomen, verwendet also – alternativ zu Subjekt-NPs – höchstens betonte Subjektpronomen, im Normalfall aber Nullsubjekte (siehe oben, [2]). In zahlreichen italienischen Dialekten gibt es dagegen klitische Subjektpronomen.10 BRANDI und CORDIN (1989, 111–117) betrachten sie nicht als phonetische Realisierungen der Subjektposition, sondern als „spelling out of AGR under INFL“ (BRANDI / CORDIN 1989, 115–116), mit anderen Worten als eine Art Verbaffix, 10

Man unterscheidet dabei die betonte Form (in den Dialekten unseres Untersuchungsgebiets z. B. elo) von den klitischen Formen, die wiederum zwei Varianten haben: (e)l als Proklitikum vs. -lo als Enklitikum.

Subjektrealisierungen im Sprachkontaktraum Deutsch-Italienisch

293

dessen Verwendung von Eigenschaften der eigentlichen Verbendung abhängt. Sie klassifizieren die entsprechenden italienischen Dialekte also trotz der Subjektklitika als Nullsubjektsprachen, weil die Subjektstelle (Spezifikatorposition in INFL’’) mit leerem pro besetzt ist (vgl. BRANDI / CORDIN 1989, 116).11 Trotz dieser (theoretisch gerechtfertigten) Unterscheidung von romanischen Subjektklitika und germanischen schwachen oder reduzierten Pronomen besteht die Übereinstimmung [+/–referentielle Nullsubjekte] und damit, oberflächenbezogen, ein sprachübergreifendes Kontinuum. In vielen bairischen Dialekten, auch im nordbairischen Dietfurt, gibt es zusätzlich zu den Subjektpronomen Subjektkongruenzmarker, die einerseits als Suffixe am Verb, andererseits am Nebensatzeinleiter auftreten. In der 2. Person handelt es sich dabei um die regulären Suffixe -st, -sd (2. Sg.) und -ts, -ds (2. Pl.), deren Auftreten am Verb und am Nebensatzeinleiter obligatorisch ist, siehe (13) (Daten aus WEISS 1998, 119). In einer kleineren Zahl von Dialekten hat der Marker -mr, -ma in der 1. Person Plural ein ähnliches Verhalten. Im Unterschied zu den Suffixen der 2. Person steht er aber nur an einer Strukturstelle im Satz: Ist -mr oder -ma also an den Nebensatzeinleiter klitisiert (steht er also in der Kopfposition von C), fehlt er am flektierten Verb, wie in (14a) zu sehen. Ein doppeltes Auftreten wie in (14b) ist ungrammatisch. Vom Status her befindet sich der Marker in einer Zwischenposition zwischen Klitikum und Affix (RABANUS 2008, 172–174, von dort auch die Beispiele in [14]). (13)

a. wenn’sd (du) af Minga kim-sd ‘wenn du nach München kommst’ b. wenn’ds (ees) af Minga kim-ds ‘wenn ihr nach München kommt’

(Bayerischer Wald)

(14)

a. Wiamr (uns) nächt heimkomma sent... b. *Wiamr (uns) nächt heimkomma semr... ‘als wir am Abend heimgekommen sind’

(Bayerisch-Schwaben)

Formal gesehen ist der Marker -mr, -ma durch phonetisch-phonologische Reduktionsregeln aus dem starken Subjektpronomen der 1. Person Plural (wir, mir) abgeleitet. Die Affixe -st und -ts sind dagegen Fusionen aus den alten (ahd.) Verbsuffixen -s (2. Sg.) bzw. -t (2. Pl.) und Reduktionsformen der Subjektpronomen du (2. Sg.: -s + d[u] > -st) und es (2. Pl.: -t + [e]s > -ts) (vgl. RABANUS 2008, 116–118, 178–179). Auch aus diesem Grund sind -st und -ts weder schwache Subjektpronomen germanischen Typs, noch Subjektklitika romanischen Typs, sondern reguläre Suffixe in den entsprechenden bairischen Dialekten. Wie oben festgestellt herrschen in Dietfurt die in (13) exemplifizierten Verhältnisse. In den südbairischen Dialekten unseres Untersuchungsgebiets (Meran, Salurn) sind die Suffixe der 2. Person dagegen reine Verbsuffixe, wie in (15) illustriert: die Suffixe (in [15] -ts für die 2. Pl.) stehen am Verb, aber nicht am Ne11

Die Auffassung romanischer Subjektklitika als echte Subjekte und, als Folge, der entsprechenden romanischen Varietäten nicht als Nullsubjektsprachen vertreten beispielsweise MANZINI / SAVOIA (2005).

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bensatzeinleiter (es heißt also ob und nicht obts, wie man es für Dietfurt annehmen würde). (15)

a. Seits (es) endlich do? ‘Seid ihr endlich da?’ b. ... ob ins Gosthaus geats ‘... ob ihr ins Gasthaus geht’

(Meran)

In Tabelle 2 zeigt sich eine Asymmetrie zwischen bairischen und romanischen Dialekten in Bezug auf die 1. und 2. Person. In den romanischen Dialekten gilt tendenziell: In der 1. Person kann das Subjekt fehlen (in bestimmten syntaktischen Kontexten muss es fehlen)12, also [+Nullsubjekte], siehe (16): (16)

a. Ancò vedo i monti ‘Heute sehe ich die Berge’ b. Vedo i monti? ‘Sehe ich die Berge?’ c. Ancò vedemo i monti ‘Heute sehen wir die Berge’ d. Vedemo i monti? ‘Sehen wir die Berge?’

(17)

a. Vedito i monti? ‘Siehst du die Berge?’ b. (Ti) te me lo dè. ‘Du gibst es mir’ c. Vedìo i monti? ‘Seht ihr die Berge?’ d. (Vualtri) me lo dasì. ‘Ihr gebt es mir’

(Illasi)

In der 2. Person darf die Subjektrealisierung (mit wenigen Ausnahmen) nicht fehlen, also [–Nullsubjekte], siehe (17): – – –

für die 2. Person Singular Enklitikum -to im Fragesatz (17a) und Proklitikum te im Deklarativsatz (17b); für die 2. Person Plural Enklitikum -o im Fragesatz (17c); nur im Deklarativsatz (17d) kontrastiert das betonte Pronomen vualtri ‘ihr’ mit einem Nullsubjekt.

In den bairischen Dialekten ist das Gegenteil der Fall: In der 2. Person kann das Subjekt wegfallen (siehe [13] und [15]; Merkmal [+Nullsubjekt], weil -ts, -ds Verbsuffixe und keine Subjektpronomen sind), in der 1. Person (Plural) muss es 12

Nach BONDARDO (1972, 143), bestätigt auch von BONFANTE (2014, 59), gibt es für die 1. Person Singular und Plural das enklitische Subjektpronomen -ti, das allerdings nur in Fragesätzen vorkommt, z. B.: vendenti? ‘sehe ich/sehen wir?’, sónti? ‘bin ich/sind wir?’, dorménti? ‘schlafe ich/schlafen wir?’. Aus welchen Elementen genau eine Wortform wie dorménti zusammengesetzt ist, ist umstritten, vgl. BONDARDO (1972, 143–144).

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dagegen realisiert werden, mindestens mit dem Element -mr, -ma, das, wie oben ausgeführt, (noch) nicht als Verbsuffix gelten kann (siehe [14]).13 Es gibt einen weiteren wichtigen Unterschied zwischen den bairischen und den romanischen Dialekten. Für die romanischen Dialekte gilt, dass die Realisierungen des Subjekts eher in Enklise erfolgt, d. h. in Fragesätzen – siehe (17a, c) –, als in Proklise, d. h. in Deklarativsätzen – siehe (17b) mit proklitischem te für die 2. Person Singular, aber (17d) ohne Subjektklitikum für die 2. Person Plural. Im Bairischen, wie generell im Deutschen, gibt es keine syntaktische Asymmetrie zwischen Fragesätzen und Deklarativsätzen bezüglich der Subjektexponenten: Reduzierte Subjektpronomen sind immer ‚enklitisch‘, d. h., sie stehen rechts der Basis. Allerdings kann die Basis sowohl das Finitum als auch der Nebensatzeinleiter sein. In (18) ist dieser Gegensatz am Beispiel dargestellt: (18)

a. wenn’sd Nebensatzeinleiter b. Me lo deto? Enklise

vs. vs.

kim-sd Finitum Te me lo dè. Proklise

(Bayerischer Wald) (Illasi)

Keinen Unterschied bezüglich der lexikalischen Realisierung des Subjektexponenten gibt es dagegen in der 3. Person: In keinem Dialekt des Untersuchungsgebiets können referentielle Nullsubjekte in der 3. Person stehen, d. h. die Subjektexponenz muss immer lexikalisiert werden. Am Beispiel (19) wird die funktionale Begründung dafür deutlich (vgl. dazu auch RABANUS 2015, 428–430). (19)

a. (Lori) i me le dà ‘Sie geben sie mir’ b. (Lu) el me le dà ‘Er gibt sie mir’

(Illasi)

Der Ausdruck der morphosyntaktischen Subjektmerkmale ist zwischen Subjektklitikum und Verbsuffix bzw. Verbform verteilt. Die Verbform dà ist nur bezüglich der 3. Person spezifiziert, bezüglich des Numerus ist sie unbestimmt (‘gibt’, ‘geben’). Das Subjektklitikum symbolisiert (zusätzlich) Numerus und Genus des Subjekts: i/le für Plural Maskulinum/Femininum und el/la für Singular Maskulinum/Femininum. Umgekehrt formuliert: Auf die Lexikalisierung des Subjektexponenten als Pronomen oder Klitikum kann dann verzichtet werden, wenn die 13

Die Untersuchung von FLEISCHER (2015) zum Auftreten des Subjektpronomens in Wenkersatz (WS) 12, Wo gehst Du hin?, zeigt, dass das Subjektpronomen der 2. Person Singular nicht nur in bairischen Dialekten fehlen kann, sondern im ganzen Süden des deutschen Sprachgebiets der dominierende Typ und auch im Ostmitteldeutschen sehr häufig ist (vgl. FLEISCHER 2015, 200 und Farbkarte FLEISCHER-2). Auf das Gesamtgebiet bezogen fehlt das Subjektpronomen der 2. Person Singular im Kontext von WS 12 in etwa 35 % aller Belegorte. Da es sich bei [+Nullsubjekt] um ein optionales Merkmal handelt, wird der Anteil der Orte mit dieser Möglichkeit in Wirklichkeit weit höher sein: Nach der Literatur fehlt das Subjektpronomen in Fragesätzen wie WS 12 auch im Nordwestniederdeutschen und Friesischen häufig, vgl. FLEISCHER (2015, 205). Die Betrachtung der 2. Person Singular als „Sonderfall“ ist mit unseren Ergebnissen völlig vereinbar.

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Verbform bzw. das Verbsuffix alle notwendigen Subjektmerkmale alleine symbolisiert. Das erklärt wiederum die Möglichkeit referentieller Nullsubjekte im Bairischen: Sie besteht bei den Verbsuffixen -st und -ts der 2. Person, weil diese Suffixe eineindeutig und synkretismusfrei die 2. Person Singular (-st) bzw. die 2. Person Plural (-ts) symbolisieren. In den deutschen Sprachinseln Palai und Lusern kann dagegen die Subjektexponenz niemals fehlen, es gilt in allen Personen [–Nullsubjekte], siehe Tabelle 2 (vgl. außerdem COGNOLA [2013, 144] für Palai und TYROLLER [2003, 200] für Lusern). Im Unterschied zur Variable ‚Subjektexpletiva‘ (vgl. Abschnitt 5.1) besteht für ‚referentielle Nullsubjekte‘ also kein durchgängiges Kontinuum. SCHWEIZER (2008, 665) beschreibt für das Zimbrische von Roana der 1930er Jahre die Konstruktion in (20) ohne lexikalisiertes Subjekt. (20)

denne habent campanart ‘dann haben sie geläutet’

(Roana)

Die Erklärung ist auch dafür funktional: In diesem historischen Zimbrischen hat sich mit -(e)nt das mhd./ahd. eineindeutige Verbsuffix der 3. Person Plural erhalten. 5.3 Erfragbarkeit In allen Dialekten des Untersuchungsgebiets ist das Subjekt aus dem Nebensatz extrahierbar, wie für die deutschen Dialekte in (21) und für die italienischen in (23) und (24) exemplifiziert. Die Subjektstelle im konjunktional eingeleiteten Nebensatz bleibt leer und hat die gleiche Interpretation wie das Interrogativpronomen (wer bzw. chi; das Nullsubjekt ist mit wer/chi koindiziert). Die deutschen Dialekte unterscheiden sich hier deutlich von der deutschen Standardsprache, in der diese Konstruktion ungrammatisch ist, siehe (6b). (21)

Wer moanst-n, dass [ø] in d’Mess kimmt? ‘Wer, glaubst du denn, kommt in die Messe?’

(Dietfurt)

(22)

a. Ber gloabst(t)o, azta [ø] khemm atz Lusérn? b. Ber gloabst(t)o, ke ’z khint(t)a [ø] atz Lusérn? ‘Wer, glaubst du, kommt nach Lusern?’

(Lusern)

(23)

Chi penses che [ø] vegna a messa? ‘Wer, glaubst du, kommt in die Messe?’

(Salurn, Trentinisch)

(24)

Ci pensito che [ø] sia na a mesa? ‘Wer, glaubst du, ist in die Messe gekommen?’

(San Pietro)

Für Lusern gilt die Einschränkung, dass die Extraktion nur möglich ist, wenn im Nebensatz das Subjektexpletivum -ta eingefügt wird, wie die Beispiele in (22) zeigen. In (22’) sind die Beispiele zum besseren Verständnis zusätzlich mit mor-

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phosyntaktischen Glossen versehen (nach den Konventionen der Leipzig Glossing Rules). (22’)

a. Ber gloab-st=(t)o, Wer glauben-2SG=2SG.SBJ b. Ber gloab-st=(t)o, Wer glauben-2SG=2SG.SBJ ‘Wer, glaubst du,

az=ta dass=EXPL ke ’z dass EXPL

khemm kommen\SBJV[3SG] khin-t=(t)a kommen\SG-3SG=EXPL kommt

atz Lusérn? nach Lusern atz Lusérn? nach Lusern nach Lusern?’

In (22a) wird -ta dabei an die Subjunktion az klititisiert; das Verb ‘kommen’ steht im Konjunktiv (khemm, 3. Sg.). An die aus dem Italienischen entlehnte Subjunktion ke (it. che) in (22b) kann -ta dagegen nicht klitisiert werden, also tritt -ta an das finite Verb khint (‘kommen’, 3. Sg. Präs. Ind.) (vgl. BIDESE / TOMASELLI i. Dr.). Der von ke eingeleitete Nebensatz hat darüber hinaus die V2-Syntax des Hauptsatzes, weshalb nach ke zusätzlich das Vorfeldexpletivum ’z steht (entspricht standarddt. es). Bezüglich der Teilvariable ‚Erfragbarkeit‘ ist das Zimbrische von Lusern also den italienischen Varietäten weniger ähnlich als die bairischen Dialekte, welche die Erfragbarkeit ohne Expletiva wie im Italienischen zulassen. Davon abgesehen zeigt sich aber hier eine durchgängige Übereinstimmung aller Dialekte des Untersuchungsgebiets: Alle Dialekte haben das Merkmal [+Erfragbarkeit], wie das Standarditalienische.14 5.4 Stellungsfreiheit der Subjekt-NP Die Realisierung dieser Teilvariable ist in den Dialekten des Untersuchungsgebiets uneinheitlich. Die bairischen Dialekte (Dietfurt, Meran, Salurn) stimmen mit dem Standarddeutschen dergestalt überein, dass die Subjekt-NP zwar aus pragmatischen Gründen aus der Position unmittelbar nach dem finiten Verb nach rechts verschoben werden kann. Im Nachfeld (in Extraposition) kann die Subjekt-NP aber nur stehen, wenn dem finiten Verb ein Subjektklitikum oder Subjektpronomen unmittelbar folgt wie -a in (25a). In diesen Fällen ist nur das Subjektpronomen obligatorisch, die Subjekt-NP fakultativ (daher im Beispiel eingeklammert). In den Sprachinseldialekten von Palai und Lusern besteht dagegen neben dieser Möglichkeit (siehe [26a] und [27a]) auch eine echte Stellungsfreiheit in dem Sinn, dass kein Subjektpronomen unmittelbar nach dem finiten Verb vorkommen muss. Während in Palai wie in den romanischen Dialekten (siehe unten) die Subjektposition rechts vom finiten Verb leer bleibt (siehe [27b]), muss im Zimbrischen von 14

In unserer Erhebung des Tirolischen von Salurn hat einer von fünf Informanten das Merkmal [+Erfragbarkeit] abgelehnt. Dieser Informant kennt das Merkmal zwar, aber verortet es nicht im eigenen Dialekt, sondern in anderen Regionen des bairischen Dialektraumes, konkret nennt er „Unterinntal“ und „Bayern“. Eine Erklärungsmöglichkeit für diesen Umstand ist ein hohes Bewusstsein der Vielzahl der Ortsdialekte nebeneinander im Raum, das aber manchmal dazu führt, dass die Informanten strukturelle Unterschiede zwischen diesen Dialekten auch dort vermuten, wo de facto keine sind.

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Lusern das schon bekannte Expletivum -ta stehen (siehe [26b], vgl. auch [22a]). Dann ist die Subjekt-NP dar nono aber obligatorisch (vgl. für das Zimbrische auch TYROLLER 2003, 200; BIDESE / PADOVAN / TOMASELLI 2012; BIDESE / TOMASELLI i. Dr.; für das Fersentalerische COGNOLA 2013, 145–148). Für Palai bemerkt unser Informant zusätzlich, dass der Satz nach der Subjekt-NP weitergeführt werden muss (in [27] mit einem Finalsatz). Andernfalls sei die Konstruktion mit der nach rechts verschobenen Subjekt-NP inakzeptabel. (25)

a. Heid isa nach Verona kemma (də Opa) b. *Heid is nach Verona kemma də Opa ‘Heute ist er nach Verona gekommen, der Großvater’

(Dietfurt)

(26)

a. Haüt izar khent (dar nono) b. Haüt izta khent dar nono ‘Heute ist er gekommen, der Großvater’

(Lusern)

(27)

a. Hait iser ka Verona khemmen (der nono) za kontarn... (Palai) b. Hait is ka Verona khemmen der nono za kontarn... ‘Heute ist er nach Verona gekommen, der Großvater, um zu erzählen...’

(28)

a. Ancò riva Luca ‘Heute kommt Luca’ b. Ieri (l’)è rivà Luca c. Ieri Luca l’è rivà ‘Gestern ist Luca gekommen’ d. Ancò rivelo Luca? ‘Heute kommt Luca?’ e. (Ieri) èlo rivà Luca? ‘Gestern ist Luca gekommen?’

(Illasi)

In den romanischen Dialekten besteht Stellungsfreiheit der Subjekt-NP. Die Daten zu Illasi in (28) zeigen an zahlreichen Stellen Subjektklitika in komplexer Interaktion mit Satzart (Deklarativ vs. Interrogativ, d. h. Proklise vs. Enklise), Tempus (synthetische vs. analytische Bildung) und Verbklassen (transitive vs. unakkusative Verben). Die Distribution der Subjektklitika wurde bereits in Abschnitt 5.2 behandelt, wo auch auf den unterschiedlichen theoretischen Status von italienischen Subjektklitika und deutschen Subjektpronomen hingewiesen wurde. Zu den Daten aus Illasi im Einzelnen: Bei unakkusativischen Verben wie rivar ‚ankommen‘ wird im Deklarativsatz im Präsens bei postverbaler Subjekt-NP kein Subjektklitikum verwendet, siehe (28a). Beim selben Satz im Perfekt (passato prossimo, [28b]) setzen zwei von fünf Informanten l’ proklitisch am Auxiliar è. Das Subjektklitikum steht obligatorisch (bei allen Informanten): als Proklitikum l’ bei präverbaler Subjekt-NP, siehe (28c), und als Enklitikum -lo beim Fragesatz, siehe (28d, e).

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Im trentinischen Dialekt von Salurn ist die Situation weniger kompliziert, siehe (29): (29)

a. El ven el Toni(?) ‘Toni kommt(?)’ b. Finalmente l’è fiorì anca el prugno ‘Endlich hat auch der Pflaumenbaum geblüht’

(Salurn, Trentinisch)

Bei nachgestellter Subjekt-NP scheint das Subjektklitikum in Proklise obligatorisch zu sein, unabhängig von der Satzart und Tempus (nur einer von vier Informanten verwendet in [29b] kein Klitikum). 6 KONKLUSIONEN Unsere Analyse bestätigt die anfangs formulierte Hypothese (Abschnitt 1): Es zeigen sich Kontinua von Formtypen über Sprachgrenzen hinweg. Bei ‚referentiellen Nullsubjekten‘ zeigt sich ein durchgehendes Kontinuum in der 3. Person, in der in keiner Varietät referentielle Nullsubjekte möglich sind (Abschnitt 5.2). Bei den ‚Subjektexplitiva‘ bei Witterungsverben (Abschnitt 5.1) liegt ein Kontinuum vor, in dem bis einschließlich des trentinischen Dialekts von Salurn Subjektexpletiva obligatorisch sind. Erst in Illasi tritt das Expletivum nur noch in bestimmten Kontexten auf, von manchen Informanten wird es gar nicht verwendet. In allen Dialekten des Untersuchungsgebiets ist das Subjekt aus dem Nebensatz extrahierbar ([+Erfragbarkeit], Abschnitt 5.3), auch im nordbairischen Dietfurt ohne jeglichen Sprachkontakt mit dem Italienischen. Bezüglich der Stellungsfreiheit liegt die Grenze dagegen zwischen den bairischen Dialekten auf der einen und den italienischen und den Sprachinseldialekten auf der anderen Seite (Abschnitt 5.4). Dieser Unterschied ist mit dem Gegensatz zwischen der OV/VO verbunden. Die bairischen Dialekte zeigen die deutsche OV-Struktur, während die Sprachinseldialekte größtenteils zur italienische VO-Struktur übergegangen sind (vgl. PANZERI / TOMASELLI 2015, 258–260; weitere Literatur dort). Diese Kontinua beziehen sich allerdings zunächst nur auf die Oberflächenformen. Der theoretische Status der Formtypen ist in den Dialekten nicht identisch. Für den Kernparameter, die ‚referentiellen Nullsubjekte‘ (siehe Abschnitt 5.2), bedeutet das: Sowohl in bairischen als auch in italienischen Dialekten kommt die Variante [–Nullsubjekte] vor. Die italienischen Dialekte können (nach BRANDI / CORDIN 1989) aufgrund des besonderen Status der Subjektklitika dennoch als Nullsubjektsprachen betrachtet werden, die bairischen nicht: Hier ist die Variante [–Nullsubjekte] die für das Deutsche gängige Parameter-Einstellung. Die Varianten [+Nullsubjekte] (2. Person) sind Sonderfälle, die mit der besonderen und im Deutschen unüblichen Morphologie der Verbsuffixe zu erklären sind (synkretismusfreie Formen). Das führt dazu, dass wir die Kontinuität der Formtypen wie in Schema 1 modellieren wollen:

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