Republik ohne Chance?: Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923 [Reprint 2010 ed.] 9783110875409, 9783110141979


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VORWORT
VERZEICHNIS DER VERWENDETEN ABKÜRZUNGEN
EINLEITUNG
I. Zur Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik
II. Methodische Voraussetzungen
III. Zur Durchführung der Untersuchung
IV. Die untersuchten Zeitungen, ihre Auflagenhöhe und Leserschaft
ERSTES KAPITEL Kriegsende und Revolution: Nationales Trauma
Einführung: „Erhebungsphase 1918“
I. Der Münchener Beobachter
II. Die Münchner Neuesten Nachrichten
III. Der Berliner Lokal-Anzeiger
IV. Die BZ am Mittag
V. Die Germania
VI. Die Frankfurter Zeitung
VII. Der Vorwärts
VIII. Die Rote Fahne
IX. „Erhebungsphase 1918“: Zusammenfassung
ZWEITES KAPITEL Der Versailler Vertrag: Erzwungene Unterzeichnung
Einführung: „Erhebungsphase 1919“
I. Der Münchener Beobachter
II. Die Münchner Neuesten Nachrichten
III. Der Berliner Lokal-Anzeiger
IV. Die BZ am Mittag
V. Die Germania
VI. Die Frankfurter Zeitung
VII. Der Vorwärts
VIII. Die Rote Fahne
IX. „Erhebungsphase 1919“: Zusammenfassung
DRITTES KAPITEL Der Putsch vom März 1920: Gescheiterte Wende?
Einführung: „Erhebungsphase 1920“
I. Der Völkische Beobachter
II. Die Münchner Neuesten Nachrichten
III. Der Berliner Lokal-Anzeiger
IV. Die BZ am Mittag
V. Die Germania
VI. Die Frankfurter Zeitung
VII. Der Vorwärts
VIII. Die Rote Fahne
IX. „Erhebungsphase 1920“: Zusammenfassung
VIERTES KAPITEL Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze
Einführung: „Erhebungsphase 1921“
I. Der Völkische Beobachter
II. Die Münchner Neuesten Nachrichten
III. Der Berliner Lokal-Anzeiger
IV. Die BZ am Mittag
V. Die Germania
VI. Die Frankfurter Zeitung
VII. Der Vorwärts
VIII. Die Rote Fahne
IX. „Erhebungsphase 1921“: Zusammenfassung
FÜNFTES KAPITEL Die Ermordung Rathenaus: Anschlag auf die Republik
Einführung: „Erhebungsphase 1922“
I. Der Völkische Beobachter
II. Die Münchner Neuesten Nachrichten
III. Der Berliner Lokal-Anzeiger
IV. Die BZ am Mittag
V. Die Germania
VI. Die Frankfurter Zeitung
VII. Der Vorwärts
VIII. Die Rote Fahne
IX. „Erhebungsphase 1922“: Zusammenfassung
SECHSTES KAPITEL Der „Hitler-Putsch“: Ungezügelter Aktivismus?
Einführung: „Erhebungsphase 1923“
I. Der Völkische Beobachter
II. Die Münchner Neuesten Nachrichten
III. Der Berliner Lokal-Anzeiger
IV. Die BZ am Mittag
V. Die Germania
VI. Die Frankfurter Zeitung
VII. Der Vorwärts
VIII. Die Rote Fahne
IX. „Erhebungsphase 1923“: Zusammenfassung
ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSBETRACHTUNG
I. Auf dem Weg zur Macht: Der „schleichende Putsch“
II. Zur „Attraktivität“ der „völkischen Weltanschauung“
III. Weimar: Republik ohne Chance
QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS
PERSONENREGISTER
SACHREGISTER
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Republik ohne Chance?: Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923 [Reprint 2010 ed.]
 9783110875409, 9783110141979

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BEITRÄGE ZUR KOMMUNIKATIONSGESCHICHTE

Herausgegeben von Bernd Sösemann

BAND 3

W DE

G Walter de Gruyter - Berlin - New

1994

York

BURKHARD ASMUSS

REPUBLIK OHNE CHANCE? und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse

^wischen 1918 und 1923

W DE

G Walter de Gruyter · Berlin · New York

1994

Die Deutsche Bibliothek — CIP-Einbeitsaufnahme

Asmuss, Burkhard: Republik ohne Chance? : Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik in der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1923 / Burkhard Asmuss. — Berlin ; New York : de Gruyter, 1994 (Beiträge zur Kommunikationsgeschichte ; Bd. 3) Zugl.: Berlin, Techn. Univ., Diss., 1993 ISBN 3-11-014197-3 NE: GT

© Copyright 1994 by Walter de Gruyter & Co., D-10785 Berlin Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Rinspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen. Printed in Germany Druck: WB-Druck, Rieden Buchbinderische Verarbeitung: Lüderitz & Bauer-GmbH, Berlin

VORWORT

Auch die jüngste Geschichte scheint zu belegen, daß kein politisches System auf Dauer gegen den erklärten Willen der Mehrheit seiner Bevölkerung und ohne die Unterstützung seiner Funktionsträger bestehen kann. Doch was veranlaßte die große Mehrheit der deutschen Bevölkerung und ihrer „Eliten", der von Philipp Scheidemann proklamierten Republik so schnell den Rücken zu kehren und im politischen Extremismus, insbesondere im aggressiven Radikalismus der völkischen Rechten, eine Alternative zur parlamentarischen Demokratie zu sehen? Hoyerswerda, Rostock, Bielefeld, Mölln, Solingen, Lübeck oder Magdeburg sind die derzeit wohl bekanntesten Synonyme für ein Ideologiekonglomerat, das schon in den ersten Jahren der Weimarer Republik erschreckend virulent war. Auch wenn am 9. November 1918 der Weg zum 30. Januar 1933 noch nicht vorgezeichnet war, so ermöglichte doch erst die in der deutschen Gesellschaft unübersehbare Ablehnung von Republik und Demokratie die Weichenstellung zur nationalsozialistischen Herrschaft. Warum hat sich die parlamentarische Demokratie nach dem 9. November 1918 in Deutschland nicht etablieren können? Diese Frage bewegte mich im Anschluß an eine von Hans Mommsen geleitete Studienreise nach Polen, auf der die Teilnehmer mit den Resultaten der nach 1933 konsequent verfolgten Eroberungs- und Vernichtungspolitik des „Dritten Reichs" konfrontiert wurden. Daß ich den vorliegenden Beitrag zur Frage nach den Gründen für die starke Ablehnung von Republik und Demokratie in der deutschen Gesellschaft nach 1918 als Dissertation leisten konnte, verdanke ich Reinhard Rürup, der auch die Fertigstellung dieser Untersuchung mit jahrelanger Geduld und entsprechendem Verständnis begleitet hat. Bernd Sösemann danke ich für die großzügige Aufnahme der Arbeit in der von ihm herausgegebenen Reihe „Beiträge zur Kommunikationsgeschichte" sowie für seine Bereitschaft, einen ersten Entwurf dieser Arbeit kritisch zu kommentieren. Zu Dank verpflichtet bin ich dem Bundesarchiv Koblenz, dem Institut

VI

Vorwort

für Zeitungsforschung der Stadt Dortmund, dem Kreisarchiv Husum, dem Landesarchiv Berlin, dem Archiv des Ullstein-Verlags, der Staatsbibliothek Preußischer Kulturbesitz sowie folgenden Einrichtungen der Freien Universität Berlin: der Universitäts-Bibliothek, der Bibliothek des Friedrich-Meinecke-Instituts, dem Zeitungsarchiv des Otto-Suhr-Instituts und der Bibliothek des Fachbereichs Kommumkationswissenschaften, denn ohne deren Bereitstellung von Quellen und Sekundärliteratur hätte die Arbeit in der vorliegenden Form nicht fertiggestellt werden können. Von den Freunden und Kollegen, die zu dieser Arbeit beigetragen haben, möchte ich namentlich Hartmut Zuckert für die ausführlichen Diskussionen von Konzeption und inhaltlicher Aussage, Claudia Frank für ihre Hilfe bei zahlreichen Recherchen und der Bewältigung vielfältiger Organisationsprobleme, Alfred Nützmann für das Korrekturlesen, Susanne Gieffers für ihren Einsatz bei der Recherche nach Namen für das Personenregister sowie Jürgen Michael Schulz für seinen Beitrag zur Erstellung der Satzvorlage danken. Einen Schlußstrich unter diese Arbeit zu ziehen, wäre mir vermutlich sehr viel schwerer gefallen, wenn nicht die Geburt von Jan Paul bevorgestanden hätte; ihm möchte ich diese Arbeit widmen.

Berlin, Pfingsten 1994

Burkhard Asmuss

INHALT

VORWORT VERZEICHNIS DER VERWENDETEN ABKÜRZUNGEN

V XVII

EINLEITUNG

I. Zur Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik

l

II. Methodische Voraussetzungen 1. Zeitungen als historische Quelle 2. Kritik und Desiderate 3. Die Auswahl politisch repräsentativer Zeitungen

18 23 29

III. Zur Durchführung der Untersuchung

33

IV. Die untersuchten Zeitungen, ihre Auflagenhöhe und Leserschaft 1. Der Völkische Beobachter 2. OK Münchner Neuesten Nachrichten 3. Der Berliner Lokal-Anzeiger 4. Die Berliner Zeitung am Mittag 5. Die Germania 6. Die frankfurter "Leitung 7. Der Vorwärts 8. Die Rote Fahne

39 43 46 49 52 54 60 63

VIII

Inhalt ERSTES KAPITEL Kriegsende und Revolution: Nationales Trauma

Einführung: „Erhebungsphase 1918"

69

I. Der Müncbener Beobachter

77

1. Der „ewige Feind": Die Juden 2. „Die verdrängte Niederlage"

78 81

II. Die Münchner Neuesten Nachrichten

85

1. Zur Revolution in München 2. Einverstanden mit der politischen Erneuerung 3. Ein Wermutstropfen: Trauer um die Wittelsbacher

86 89 90

III. Der Berliner Lokal-Anzeiger

91

1. Das Schreckgespenst des Bolschewismus 2. Die „Kaiserfrage": Kritik an der Sozialdemokratie

92 93

TV. Oie BZ am Mittag

97

1. Die Entente und der Waffenstillstand 2. Die „Kaiserfrage" und der Umsturz

98 100

V. Die Germania 1. Waffenstillstand und politische Umwälzung 2. Juden und Bolschewismus 3. Ein Blick in die Zukunft

102 106 108

VI. Die Frankfurter Zeitung

110

1. Die unvermeidliche Abdankung des Kaisers 2. Enttäuscht über die Waffenstillstandsbedingungen 3. Für eine „soziale Republik"

111 113 115

VII. Der Vorwärts 1. Indiskutabel: Die Bolschewisten

119

Inhalt 2. Überrascht von der Revolution? 3. Kaum beachtet: Der Waffenstillstand

IX 121 123

VOl. Die Rote Fahne 1. Der 9. November: Facetten der Revolution 2. Das revolutionäre Profil der Roten Fahne

124 125

IX. „Erhebungsphase 1918": Zusammenfassung 1. Das Ereignis: Der Waffenstillstand

131

2. Republik und Rechtsradikalismus 3. Antisemitismus und Judentum

133 135

ZWEITES KAPITEL Der Versailler Vertrag: Erzwungene Unterzeichnung Einführung: „Erhebungsphase 1919"

139

I. Der Münchener Beobachter

144

1. Das politische Programm 2. Für „deutschen Sozialismus", gegen „asiatische Sozialistenmache" 3. Das „Vernichtungsurteil" von Versailles 4. Werben für Antisemitismus

145 147 149 151

II. Die Münchner Neuesten Nachrichten 1. „Das mißratene Friedenswerk" 2. Die Front der Ablehnung 3. Gegen Streiks und Räte, für Ruhe und Ordnung 4. Antisemitismus in Bayern und die „israelitischen Lehrer"

154 156 158 160

III. Der Berliner Lokal-Anzeiger 1. Gegen den Vertrag — für „deutsche Ehre" 2. Ein „Hoffnungsstrahl": ScapaFlow 3. Antisemitismus

161 165 166

IV. Die BZ am Mittag

169

Inhalt 1. „Die Ratlosen von Weimar" 2. Die Judenpogrome in Osteuropa

169 172

V. Die Germania 1. Das kleinere Übel: Unterzeichnung 2. Linke Putschabsichten — rechtes Unverständnis 3. Kulturpolitik und Antisemitismus

174 177 180

VI. Die Frankfurter Zeitung 1. Die erzwungene Unterschrift 2. „Die Agitation der Reaktionäre" 3. Konterrevolution und Aufstandsversuche

182 184 186

VII. Der Vorwärts 1. Kampf „gegen diesen Frieden" 2. Für Demokratie und Gerechtigkeit 3. Der „Jude" Kurt Eisner

190 194 196

VIII. Die Rote Fahne

198

Positionen der KPD

199

IX. „Erhebungsphase 1919": Zusammenfassung

201

1. Das Ereignis: Der Versailler Vertrag 2. Republik und Rechtsradikalismus 3. Antisemitismus und Judentum

202 204 206

DRITTES KAPITEL Der Putsch vom März 1920: Gescheiterte Wende? Einführung: „Erhebungsphase 1920"

211

I. Der Völkische Beobachter

221

1. „War Jesus ein Jude?" 2. Gegen die Bevorzugung von Juden

222 223

Inhalt

XI

3. Der langersehnte Putsch

227

II. Die Münchner Neuesten Nachrichten

231

1. Alltäglicher Antisemitismus 2. Der Putsch gegen Republik und Demokratie 3. Rückblick auf das „reaktionäre Abenteuer"

232 235 237

III. Der Berliner Lokal-Anzeiger

240

1. „Lästige Ausländer" ins „Konzentrationslager" 2. Zwei Welten: Erzberger und Hindenburg 3. Der Putsch — kaum verdeckte Sympathien 4. Die Reaktion auf den gescheiterten Putsch

241 244 247 248

IV. Die BZ am Mittag

250

1. Außenpolitisches Feindbild: Die Polen 2. „Präsident Hindenburg?" 3. Der Putsch und seine Folgen

251 252 253

V. Die Germania

255

1. Neuwahlen und der Kandidat Hindenburg 2. Der rechtsradikale Putsch 3. Aufstände im Ruhrgebiet, in Sachsen und Thüringen

256 257 261

VI. Die Frankfurter Zeitung

263

1. Wirtschaftliches Elend und soziale Not 2. Gegen die Kandidatur Hindenburgs 3. Kritisch betrachtet: Erzberger 4. Der „verbrecherische Überfall" auf die Republik

264 265 267 268

VII. Der Vorwärts 1. „Der Hindenburgrummel" 2. „Gegen die Radaupatrioten" 3. Mit dem Generalstreik zu Tode gesiegt?

275 278 280

XII

Inhalt

VW.. Die Rote Fahne

286

1. Sirenenklänge 2. Hindenburg: Kandidat der Reaktion 3. Politik ohne Perspektive: Die „Scheidemänner" 4. Antisemitismus ist kein Thema

287 288 290 292

IX. „Erhebungsphase 1920": Zusammenfassung 1. Das Ereignis: Der Putsch vom März 1920 2. Republik und Rechtsradikalismus 3. Antisemitismus und Judentum

294 297 299

VIERTES KAPITEL Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze Einführung: „Erhebungsphase 1921"

305

I. Der Völkische Beobachter 1. Die „Lösung der Judenfrage" 2. Der „Zentrumsjude" Erzberger 3. Die Ermordung Erzbergers

312 316 319

II. Die Münchner Neuesten Nachrichten

324

1. Das Trio Eisner, Harden, Erzberger 2. Trotz des Mordes: Kritik an Erzberger

325 328

III. Der Berliner Lokal-Anzeiger 1. Ungebrochener Monarchismus 2. Die Agitation nach dem Mord

332 334

TV. O'ie BZ am Mittag

338

1. Kritik an der Steuerpolitik 2. Der Mord

339 339

Inhalt

XIII

1. „Katholikenhetze" und die „ostjüdische Gefahr"

342

2. Kritik an „bayerischen Verhältnissen"

346

V. Die Germania

VI. Die Frankfurter Zeitung 1. Für die Politik der Reichsregierung 2. Gegen „nationalistische Hetze"

349 352

VII. Der Vorwärts 1. Gegen „rechtsbolschewistische Hetze" 2. Leichtfertiger Umgang mit Antisemitismus?

354 358

VIII. Die Rote Fahne 1. Der Marxismus als „neuer Golem" 2. Der Mord und das schwierige Verhältnis zur SPD

362 365

IX. „Erhebungsphase 1921": Zusammenfassung 1. Das Ereignis: Die Ermordung Erzbergers 2. Republik und Rechtsradikalismus 3. Antisemitismus und Judentum

369 372 374

FÜNFTES KAPITEL Die Ermordung Rathenaus: Anschlag auf die Republik Einführung: „Erhebungsphase 1922"

379

I. Der Völkische Beobachter

384

1. Gegen das „verjudete Berlin" 2. Die Reaktion auf den Mord 3. Trotz Republikschutz: Ungehemmte Hetze

385 388 392

II. Die Münchner Neuesten Nachrichten

395

1. Gegen Sozialisten

396

XIV

Inhalt

2. Der Jude" Walther Rathenau 3. Gegen die Republikschutzverordnung 4. Die „guten" und die „schlechten" Juden . Der Berliner Lokal-Anzeiger 1. Gegen die „Linken" und Trauer um Wolfgang Kapp 2. Die Einstellung zum Judentum 3. Walther Rathenau — ein ungewohntes Bild des Lokal-Anzeigers

398 399 402 405 406 407 409

IV. Die BZ am Mittag Lethargie und Resignation?

412

V. Die Germania 1. Die Kassandrarufe der Freiheit 2. Der „gesunde Inhalt des völkischen Gedankens" 3. Wachgeriittelt durch den Mord? 4. Der tabuisierte Antisemitismus

415 416 419 422

VI. Die Frankfurter Zeitung 1. Die Jugend und der „nationale Aspekt" 2. Bestürzt über den Mord

426 428

VII. Der Vorwärts 1. Nationalistische Hetze und Antisemitismus 2. Gesteigertes Engagement nach dem Mord

432 436

Vni. Die Rote Fahne 1. Gegen Reaktion und „Orgesch" 2. Die Haltung zum Antisemitismus 3. Vor dem Sturm der Reaktion?

439 441 443

IX. „Erhebungsphase 1922": Zusammenfassung 1. Das Ereignis: Die Ermordung Rathenaus 2. Republik und Rechtsradikalismus 3. Antisemitismus und Judentum

446 448 449

Inhalt

XV

SECHSTES KAPITEL Der „Hitler-Putsch": Ungezügelter Aktivismus? Einführung: „Erhebungsphase 1923"

453

I. Der Völkische Beobachter

463

1. Aufmarsch der Rechtsopposition 2. „Auflösungserscheinungen im ganzen Reiche" 3. Die Krawalle im Berliner Scheunenviertel 4. Der Schlag gegen die „Novemberverbrecher"

464 470 472 473

. Die Münchner Neuesten Nachrichten

475

1. Das Ende der Großen Koalition 2. Antisemitismus und Lebensmittelkrawalle 3. Der Putsch: Für Kahr — gegen Hitler 4. Die unerwartete Akzeptanz des Putsches 5. Der gemeinsame Feind: Die Kommunisten

476 477 478 481 486

. Der Berliner Lokal-Anzeiger 1. Die politische Welt des Lokal-Anzeigers 2. Hungerkrawalle, Plünderungen und Antisemitismus 3. Die Reaktion auf den „Hitler-Putsch"

488 490 493

IV. Die BZ am Mittag 1. Bayern und das Reich 2. Ausschreitungen und Plünderungen in Berlin 3. Der „Hitler-Putsch"

495 497 498

V. Die Germania 1. Die Reichs- und Regierungskrise 2. „Der Rummel im Bürgerbräu" 3. Nachwirkungen: „Katholikenhetze" und Antisemitismus

500 503 504

VI. Die Frankfurter Zeitung 1. Reichsexekution und Regierungskrise

510

XVI

Inhalt

2. Von der Kabinetts- zur Reichskrise 3. Die Phalanx der Rechten 4. Der Putsch Hitlers 5. Alltäglicher Antisemitismus

512 513 517 519

VII. Der Vorwärts 1. Der Bruch der Großen Koalition 2. Hakenkreuzler und Hitlerbanden 3. Der Putsch 4. Judenfeindschaft und Plünderungen

524 525 527 531

VIII. Die Rote Fahne

535

1. „Ernährungssabotage der Großagrarier" 2. Die Mobilisierung der Massen

536 539

IX. „Erhebungsphase 1923": Zusammenfassung

543

1. Das Ereignis: Der „Hitler-Putsch" 2. Republik und Rechtsradikalismus 3. Antisemitismus und Judentum

544 547 549

ZUSAMMENFASSUNG UND SCHLUSSBETRACHTUNG I. Auf dem Weg zur Macht: Der „schleichende Putsch"

555

II. Zur „Attraktivität" der „völkischen Weltanschauung"

565

III. Weimar: Republik ohne Chance

572

QUELLEN- UND LITERATURVERZEICHNIS PERSONENREGISTER

577 601

SACHREGISTER

609

ABKÜRZUNGEN

Abg. ADGB AfA

Anm. Aufl. BAK Bd. Bde. BVP DAP DBB DDP DNB DNVP Dok. DSP DVP EKKI fol. GG GWU HgHZ Jg. KPD MdR Nachdr. No. NS o.J.

Abgeordneter/Abgeordnete Allgemeiner Deutscher Gewerkschaftsbund Arbeitsgemeinschaft der freien Angestelltenverbände Anmerkung/Fußnote Auflage Bundesarchiv Koblenz Band Bände Bayerische Volkspartei Deutsche Arbeiterpartei Deutscher Beamtenbund Deutsche Demokratische Partei Deutsches Nachrichtenbüro Deutschnationale Volkspartei Dokument Deutschsozialistische Partei Deutsche Volkspartei Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale Blatt Geschichte und Gesellschaft Geschichte in Wissenschaft und Unterricht Herausgeber/herausgegeben Historische Zeitschrift Jahrgang Kommunistische Partei Deutschlands Mitglied des Reichstags Nachdruck Number/Nummer Nationalsozialismus, nationalsozialistische ohne Jahresangabe

xvm . . OHL RGBL RPK SA SPD TU USPD VfZ ZV und ZV

Abkürzungen ohne Ortsangabe Oberste Heeresleitung Reichsgesetzblatt Reichspressekonferenz Sturmabteilung Sozialdemokratische Partei Deutschlands Telegrafen-Union Unabhängige Sozialdemokratische Partei Deutschlands Vierteljahreshefte für Zeitgeschichte Zeitungsverlag und Zeitschriftenverlag

FÜR JAN PAUL

EINLEITUNG

Zur Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik

Alle nach dem Ersten Weltkrieg in Mittel- und Osteuropa errichteten Demokratien wurden fast ausnahmslos innerhalb weniger Jahre durch restaurative, autoritäre oder totalitäre Regierungen ersetzt. Wenn die Fachwissenschaft sich bei der Erforschung des Übergangs demokratisch verfaßter Gesellschaften in diktatorische Systeme dennoch vorrangig mit der Weimarer Republik befaßte, so weniger, weil Deutschland auch nach „Versailles" die in Mitteleuropa wirtschaftlich, politisch, militärisch und kulturell wohl bedeutendste Kraft war, sondern vielmehr, weil das, was dem Zusammenbruch der Weimarer Republik folgte, ohne Parallele ist: die nationalsozialistische Herrschaft mit der „Entfesselung des Zweiten Weltkrieges" und einem in dieser Dimension bisher nicht vorstellbaren Völkermord1. Aus dieser Verknüpfung erhält die Frage nach den Gründen für das Scheitern der ersten parlamentarischen Demokratie in Deutschland ihr spezifisches Gewicht2. Die Frage „nach den entscheidenden Voraussetzungen und Ermöglichungsfaktoren der nationalsozialistischen Machtergreifung"

1

Vgl. Ian Kershaw (Hg.): Weimar: Why Did German Democracy Fail? London 1990, S. If. 2 Diesen Sachverhalt hat Karl Dietrich Erdmann auf den Begriff gebracht: „Alle Forschung zur Geschichte der Weimarer Republik steht mit Notwendigkeit — ausgesprochen oder unausgesprochen — unter der Frage nach den Ursachen ihres Zusammenbruchs" (Die Geschichte der Weimarer Republik als Problem der Wissenschaft. In: VfZ 3 [1955], S. 1—19 [hier S. 5]). Gegenüber diesem häufig zitierten Diktum Erdmanns plädiert Heinrich August Winkler: Die Sozialdemokratie und die Revolution 1918/1919. Ein Rückblick nach sechzig Jahren. Berlin 1979, S. 72 dafür, zumindest die Geschichte der Revolution von 1918/1919 nicht mehr ausschließlich unter der „Perspektive des Jahres 1933" zu betrachten, sondern ihre positiven Aspekte — wie etwa den Sturz der Monarchie — stärker zu akzentuieren.

2

Einleitung

stand auch im Zentrum der seit Mitte der fünfziger Jahre in Westdeutschland massiv einsetzenden Forschung zur Weimarer Republik3. Aber obwohl „in Tausenden von Büchern und Artikeln [...] zu beschreiben und zu erklären gesucht [wurde], wie es möglich war", daß die deutsche Bevölkerung sich 1933 „scheinbar aus eigenem Willen [...] der zerstörerischen Gewaltherrschaft einer Gruppe machthungriger Fanatiker ausgeliefert hat, deren 'Führer' Jahre zuvor schon seine radikalen und nihilistischen Ziele mit aller Offenheit dargelegt und über den totalitären Charakter seiner künftigen Herrschaft wenig Zweifel gelassen hatte", ist die nach Karl Dietrich Bracher „zentrale Frage" der deutschen Geschichte noch immer nicht beantwortet: „Wie kommt es in einem parlamentarischen Rechts- und Verfassungsstaat zur Errichtung einer totalitären Diktatur?"4 Seit Veröffentlichung von Brachers strukturgeschichtlicher Analyse zur „Auflösung der Weimarer Republik"5 gilt zwar als gesichert, daß im Umfeld des Reichspräsidenten schon beim Sturz der Regierung Müller (März 1930) keine ernsthafte Absicht mehr bestand, eine Regierung auf parlamentarischer Basis zu bilden, doch trotz der Instrumentalisierung des Artikels 48 der Weimarer Verfassung zu einer „Notstands-" oder „Ersatzverfassung" und des dadurch quasi legalisierten Übergangs zu den Präsidialkabinetten sei, so die von Bracher auch später immer wiederholte Aussage, die Übergabe der Re-

3

Vgl. Eberhard Kolb: Die Weimarer Republik (Oldenbourg-Grundriß der Geschichte. Bd. 16). München 1984, S. 147. Zum Forschungsstand vgl. die ausführliche Zusammenfassung von Kolb: „Grundprobleme und Tendenzen der Forschung" (ebd., S. 143—216) sowie Dieter Gessner: Das Ende der Weimarer Republik. Fragen, Methoden und Ergebnisse interdisziplinärer Forschung (Erträge der Forschung. Bd. 97). Darmstadt 1978. Einen Einblick in Forschungskontroversen vermittelt der Protokollband: Martin Broszat et al. (Hgg.): Deutschlands Weg in die Diktatur. Internationale Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme im Reichstagsgebäude zu Berlin. Referate und Diskussionen. Ein Protokoll. Berlin o.J. [1983]. Ein fortlaufendes Verzeichnis der Neuerscheinungen findet sich in den Vierteljahresheften für Zeitgeschichte (VfZ). 4 Karl Dietrich Bracher: Die Auflösung der Republik. Gründe und Fragen. In: Gerhard Schulz (Hg.): Ploetz. Weimarer Republik. Eine Nation im Umbruch. Freiburg 1987, S. 123—138 (hier S. 123f.). 5 Ders.: Die Auflösung der Weimarer Republik. Eine Studie zum Problem des Machtverfalls in der Demokratie. Villingen 1955 (2. Nachdr. der 6. Aufl., Düsseldorf 1984).

Z«r Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik

3

gierungsgewalt an den Nationalsozialismus bis in den Januar 1933 keinesfalls unausweichlich gewesen6. Von dem seit 1930 beschleunigten Verfall von Republik und Demokratie ausgehend, entzündete sich an der von Arthur Rosenberg bereits 1935 getroffenen Feststellung, mit der Revolution von 1918/19 hätte durchaus „eine volkstümliche aktive Demokratie" begründet werden können7, eine Kontroverse über das „Demokratisierungspotential" der jungen Republik. Die insbesondere von Karl Dietrich Erdmann vertretene Ansicht, die politisch Verantwortlichen hätten im November 1918 ohne jeglichen Handlungsspielraum vor der „schicksalhaften" Entscheidung „Rätestaat oder parlamentarische Demokratie?" gestanden8, es sei „bei der Frage Nationalversammlung oder Räteherrschaft um die Alter-

6

Vgl. etwa Brachers Beitrag als Diskussionsleiter auf der Konferenz im Berliner Reichstag zur nationalsozialistischen Machtübernahme. In: Martin Broszat et al. (Hgg.): Deutschlands Weg in die Diktatur, S. 117—123 (hier S. 118) sowie ders.: Geschichte und Gewalt. Zur Politik im 20. Jahrhundert. Berlin 1981, S. 70ff. Für sich genommen, können die aus dem Artikel 48 abgeleiteten präsidialen Befugnisse für das Scheitern der Republik nicht verantwortlich gemacht werden, wie die unterschiedliche Handhabung des Artikels 48 durch Ebert und Hindenburg zeigt. Dazu Otto Kirchheimer: Artikel 48 und die Verwandlung des Verfassungssystems. Auch ein Beitrag zum Verfassungstag. In: Ders.: Von der Weimarer Republik zum Faschismus. Die Auflösung der demokratischen Rechtsordnung. Frankfurt am Main 1976, S. 91—95 (hier S. 94f.) (ursprünglich erschienen in: Der Klassenkampf 9 [1930], S. 456—458): Bis zum Sturz der Regierung Müller erfolgte die Anwendung des Artikels 48 nur „im Bereich jener Reihe offener oder stillschweigender Kompromisse zwischen Sozialdemokratie und Bürgertum". Unter Brüning jedoch „identifizierte sich die Regierung, unabhängig vom Parlament und gleichgültig gegen dessen Mehrheitsbeschlüsse, mit den besitzenden Bürgerschichten. [...] Die Demokratie des Kompromisses hat[te] sich in die Demokratie der feindlichen Heerlager verwandelt" (zur Aufkündigung dieses „Basiskompromisses" vgl. Gotthard Jasper: Die gescheiterte Zähmung. Wege zur Machtergreifung Hitlers 1930—1934. Frankfurt am Main 1986, S. 17ff.). 7 Arthur Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 19 1978, S. 64 (ursprünglich erschienen als: Die Geschichte der Deutschen Republik. Karlsbad 1935). 8 Überschrift zum einleitenden Kapitel der Darstellung von Karl Dietrich Erdmann: Die Weimarer Republik (Gebhardt. Handbuch der deutschen Geschichte. Bd. 19). München 1986, S. 28, erstmals 1959 so im „Gebhardt" formuliert.

4

Einleitung

native Demokratie oder Diktatur" gegangen9, mußte revidiert werden, als eine auf breiter Quellengrundlage basierende Forschung das „Demokratisierungspotential" der Arbeiter- und Soldatenräte auslotete10 und zu dem Ergebnis kam, daß die Räte in ihrer Mehrzahl nicht „sozialistisch, sondern [...] entschieden demokratisch eingestellt [waren]. [...] Nicht die klassenlose Gesellschaft war ihr Ziel, sondern eine parlamentarische Demokratie, die frei sein sollte von allen Elementen des Obrigkeitsstaates"11. Doch das mit der Revolution von 1918/19 freigesetzte demokratische Potential wurde durch „die vom äußersten linken Flügel der Arbeiterbewegung praktizierte Revolutionsstrategie" sowie durch das Bündnis der (M)SPD mit den traditionellen Eliten zunichte gemacht12: Schon Mitte 1919 lag „die reale Macht in Deutschland bei

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Erdmann: Weimarer Republik, S. 31. Diese Auffassung war über Jahre die „nahezu allgemein akzeptierte Revolutionsinterpretation" und „basierte im Kern auf der bereits in [...] der Weimarer Republik entwickelten liberal-demokratischen Revolutionsdeutung, die sich vor 1933 auch die Sozialdemokraten weitgehend zu eigen gemacht hatten" (Kolb: Weimarer Republik, S. 149 sowie S. 153). Waren die Weimarer Koalitionsparteien nach der Revolution von 1918/19 von der „vaterländischen Opposition" stets als „Novemberverbrecher" diffamiert worden, so beinhaltete die von Erdmann formulierte Revolutionsdeutung eine entschiedene Zurückweisung dieser Propaganda-Formel und entsprach dem (neugefundenen) Grundkonsens der bundesrepublikanischen Parteien (CDU/CSU, FDP und SPD), die sich so in einer positiven Kontinuität der Weimarer Koalitionsparteien sehen konnten und — wie jene — in scharfer Konfrontation zum Kommunismus standen. 10 Vgl. Reinhard Rürup: Probleme der Revolution in Deutschland 1918/19. Wiesbaden 1968. 11 Ebd., S. 22. Die „Räte-Bewegung" radikalisierte sich erst nach den „Januar-Kämpfen" 1919, als deutlich war, daß die (M)SPD-Führung auf „eine dauerhafte Loyalität der alten Machteliten" baute und grundsätzliches Mißtrauen gegenüber „einer spontanen Massenbewegung" hegte, selbst wenn diese „von den Mitgliedern und Anhängern der Sozialdemokratie getragen wurde und sich in ihren politischen Forderungen innerhalb des Spektrums sozialdemokratischer Programmatik bewegte" (Kolb: Weimarer Republik, S. 159). Kritiker dieser „revisionistischen Revolutionsinterpretation" (wie etwa Wolfgang J. Mommsen: Die deutsche Revolution 1918~1920. In: GG 4 [1978], S. 362—391, besonders S. 373) bezweifeln vor allem das „demokratische Potential" der Arbeiter- und Soldatenräte, weniger den nicht ausgeschöpften Handlungsspielraum der sozialdemokratischen Führung. Ausführlicher dazu: Reinhard Rürup: Demokratische Revolution und „dritter Weg". Die deutsche Revolution von 1918/19 in der neueren wissenschaftlichen Diskussion. In: GG 9 (1983), S. 278—301. 12 Kolb: Weimarer Republik, S. 149.

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den Freikorps und nicht bei der Nationalversammlung"13. Von der 1918/19 „steckengebliebenen" Revolution läßt sich der 30. Januar 1933 zwar „nicht gradlinig [...] ableiten, aber es ist auch nicht zu übersehen, daß zu den Voraussetzungen des Aufstiegs des Nationalsozialismus [...] auch die inneren Schwächen der demokratischen Republik gehören, die in erster Linie aus ihrer Entstehungsgeschichte [...] resultierten. [...] Der Nationalsozialismus [...] hat Freiräume für seine Entfaltung gefunden, die eine stabil fundierte Demokratie ihm nicht hätte einräumen müssen"14. Die Forschung tendiert zwar schon seit längerem dazu, „multikausale Erklärungen" für das Scheitern der Republik herauszuarbeiten15, doch trotz der Fülle vorliegender Spezialstudien scheint ein historisch bedeutsamer Faktor noch immer nicht die ihm gebührende Aufmerksamkeit erlangt zu haben: der Mensch als handelndes Individuum, der Zeitgenosse, der die Masse der gut 60 Millionen Deutschen während der Weimarer Republik bildete16. Aber erst wenn der „Faktor Mensch" mit seinen Handlungen und Unterlassungen, mit seinen Mentalitätsstrukturen, seinen Aggressionen und Regressionen, mit seinen Wünschen, Sorgen und Ängsten in sein gesellschaftliches Bezugssystem eingeordnet werden kann, verfügt die historische Forschung über jene Kenntnisse,

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Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, S. 64. Rürup: Demokratische Revolution und „dritter Weg", S. 287. 15 Repräsentative Überblicke neuerer Forschungsschwerpunkte finden sich u.a. bei Karl Dietrich Erdmann und Hagen Schulze (Hgg.): Weimar. Selbstpreisgabe einer Demokratie. Eine Bilanz heute. Düsseldorf 1980; bei Michael Stürmer (Hg.): Die Weimarer Republik. Belagerte Civitas. 2., erw. Aufl. Königstein 1985 sowie bei Karl Dietrich Bracher, Manfred Funke und Hans-Adolf Jacobsen (Hgg.): Die Weimarer Republik 1918—1933. Politik, Wirtschaft, Gesellschaft. Düsseldorf 1987. Vgl. außerdem Erich Matthias und Rudolf Morsey (Hgg.): Das Ende der Parteien 1933. Darstellungen und Dokumente. Düsseldorf 1960. 16 Ähnlich äußerte sich Fritz Stern, als er 1983 auf der Internationalen Konferenz zur nationalsozialistischen Machtübernahme feststellte, die wissenschaftliche Diskussion habe „eigentlich fast nichts ausgelassen, außer den wirklichen Menschen, die damals gelebt haben" (Deutschlands Weg in die Diktatur, S. 141). Auch Detlev J. K. Peukert: Die Weimarer Republik. Krisenjahre der Klassischen Moderne. Frankfurt am Main 1987, S. 91 meint, „Ausgangspunkt jeder Gesellschaftsgeschichte sollten die lebendigen Menschen sein". 14

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die sie für eine multikausale Erklärung so komplexer Prozesse wie das Scheitern der Weimarer Republik benötigt17. So unbestritten Hitler nicht durch ein Mehrheitsvotum der Wähler für die NSDAP an die Regierungsmacht gelangt ist, so unbestritten ist auch, daß das Wahlverhalten der deutschen Bevölkerung ihm die „legale" Regierungsübernahme ermöglicht hat: Hätte — rein hypothetisch — die Mehrheit der Bevölkerung bei den Reichstagswahlen für die Parteien der Weimarer Koalition gestimmt, wäre der 30. Januar 1933 so nicht möglich gewesen. Stattdessen hat aber die Bevölkerung mit ihrem Votum gegen die Koalitionsparteien seit der ersten Reichstagswahl vom Juni 1920 und mit ihrem Votum für Hindenburg bei der Reichspräsidentenwahl 1925 zwei Faktoren ins politische Spiel gebracht, die für die Weichenstellung zum 30. Januar 1933 mitentscheidend waren18. Da das Wahlverhalten der Bevölkerung nicht unwesentlich zum Scheitern der

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Ansätze zur Erklärung der „psychologischen] Voraussetzungen [...] des nationalsozialistischen Triumphes" sah Stern (Deutschlands Weg in die Diktatur, S. 142) u.a. in den Untersuchungen von Sigmund Neumann: Die Parteien der Weimarer Republik. Stuttgart 51986 (ursprünglich erschienen als: Die politischen Parteien in Deutschland. Berlin 1932) und von Franz Neumann: Behemoth. The Structure and Practice of National Socialism. London 1942. Ohne Vollständigkeit anzustreben, ließen sich den von Stern genannten Werken hinzufugen: Wilhelm Reich: Die Massenpsychologie des Faschismus. Köln 1971; Sigmund Freud: Massenpsychologie und IchAnalyse. Die Zukunft einer Illusion. (Nachdruck) Frankfurt/Main 1967; David Schoenbaum: Die braune Revolution. Eine Sozialgeschichte des Dritten Reiches. Köln 1968; George L. Mosse: Die Nationalisierung der Massen. Politische Symbolik und Massenbewegungen in Deutschland von dem Napoleonischen Krieg bis zum Dritten Reich. Frankfurt/Main 1975; ders.: Ein Volk. Ein Reich. Ein Führer. Die völkischen Ursprünge des Nationalsozialismus. Königstein 1979 sowie — mit Einschränkungen — Hans Jochen Gamm: Der braune Kult. Das Dritte Reich und seine Ersatzreligion. Hamburg 1962 und Karlheinz Schmeer: Die Regie des öffentlichen Lebens im Dritten Reich. München 1956 (einschlägige Literatur zu den „psychologischen Voraussetzungen" des nationalsozialistischen „Erfolgs" auch in diesem Kapitel weiter unten). 18 In Anspielung auf den Titel der von Karl Dietrich Erdmann und Hagen Schulze herausgegebenen „Selbstpreisgabe einer Demokratie" meint Heinrich August Winkler: Mußte Weimar scheitern? Das Ende der ersten Republik und die Kontinuität der deutschen Geschichte. München 1991, „kein Vorgang in der Geschichte Weimars vor 1930" könne „rückblickend mit so großem Recht als 'Selbstpreisgabe einer Demokratie' bezeichnet werden wie die Wahl des kaiserlichen Feldmarschalls in das höchste Staatsamt im April 1925" (S. 16).

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Weimarer Republik beitrug, stellt sich die Frage, was die Menschen veranlaßte, den Parteien der Weimarer Koalition den Rücken zu kehren und sich den „extremen Flügelparteien", vor allem aber der NSDAP zuzuwenden. Die zur Charakterisierung des nationalsozialistischen, aber auch des kommunistischen Wählerpotentials allgemein akzeptierte Aussage, „viele Menschen aus allen Kreisen der Bevölkerung, insbesondere aus dem Mittelstand und der Jugend, waren politisch desorientiert, sozial desintegriert und durch wirtschaftliche Not verunsichert. Sie suchten nach Schuldigen und Rettern"19, ist faktisch sicher richtig, löst aber dennoch einige Bedenken aus, die sich insbesondere auf die Bezeichnung „politisch desorientiert" beziehen und hier nur kurz angesprochen werden sollen: — Diese Kategorisierung suggeriert, es gäbe normative Bestimmungsfaktoren, die nicht expliziert werden müßten und aus denen abgeleitet werden könnte, welches Wahlverhalten als „desorientiert" bzw. als „normal" zu klassifizieren wäre. Da jedoch jeder Wähler ein eigenes normatives Wertesystem hat, von dem auch seine für ihn durchaus „rationale" Wahlentscheidung abhängt, muß zunächst dieses Wertesystem mit seinen gesellschaftlichen Bezügen freigelegt werden, bevor eine normative Bewertung durch den Historiker erfolgen kann. Andernfalls müßte der Historiker als „rückwärts gewandter Prophet" nicht nur die BVP-Anhänger, die 1925 für Hindenburg votierten, als „politisch desorientiert" qualifizieren, sondern auch die DNVP-Anhänger und vermutlich auch die Wähler, die nach der Verschmelzung von DDP und Jungdeutschem Orden für die Deutsche Staatspartei stimmten. Kurz, für welche Partei hätte ein Wähler am 31. Juli 1932, unmittelbar nach dem „Altonaer Blutsonntag" und dem „Preußenschlag" Papens, überhaupt stimmen können oder müssen, um nicht als politisch desorientiert" zu gelten?20

" Hier zitiert nach Kolb: Weimarer Republik, S. 111. Angesichts der Tatsache, daß sich alle 1918/19 in Mittel- und Osteuropa errichteten Demokratien nicht behaupten konnten, ist zu fragen, ob nicht gerade jene Wähler, die der Weimarer Republik den Rücken kehrten, dem (mittel- und osteuropäischen) „Normalfall" entsprachen — womit sich die Vorstellung eines „deutschen Sonderweges" nur noch im Vergleich zu den westeuropäischen Demokratien aufrecht erhalten ließe. Vgl. hierzu auch Ernst Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche. 20

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- Wenn bei den Juli-Wahlen" 1932 mehr als die Hälfte aller Wähler für strikt antidemokratische Parteien votierte (37,3 Prozent für die NSDAP und 14,3 Prozent für die KPD) und sich der „republiktreue" oder „demokratische" Stimmenanteil unter Berücksichtigung der Ergebnisse anderer republikfeindlicher Parteien — wie etwa der DNVP — auf sogar nur noch gut 30 Prozent reduziert, dann ist diese, ursprünglich zur Beschreibung einer Abweichung vom „Regelfall" eingeführte Kategorie nicht nur unversehens zum Charakteristikum des „Regelfalls" geworden — und somit zur Erklärung historischer Prozesse wenig aussagekräftig21, sondern es scheint auch, als sei selbst die Forschung nicht immer frei von sublimen Wertungen, wenn es um die Darstellung des Nationalsozialismus geht. Auch wenn jede Geschichtsbetrachtung durch ein nicht expliziertes — und möglicherweise auch gar nicht immer bis ins letzte explizierbares — Wertesystem geprägt ist22, so gibt es doch gängige Formulie-

Die Action franfaise. Der italienische Faschismus. Der Nationalsozialismus. München 1963, S. 23ff. sowie die inzwischen kaum noch überschaubare Literatur zum „Historikerstreit". 21 Jürgen W. Falter: Hitlers Wähler. München 1991 gelangt zu dem Ergebnis, daß die NSDAP zwischen 1928 und 1933 „stärker als jede andere große Partei jener Jahre — von ihrer Wählerbasis her gesehen eine Art 'Volkspartei des Protestes'" repräsentierte (S. 13), und Hans Mommsen: Die verspielte Freiheit. Der Weg der Republik von Weimar in den Untergang 1918—1933 (Propyläen-Geschichte Deutschlands. Bd. 8). Frankfurt am Main 1989 nennt die NSDAP „eine Art negative Volkspartei" (S. 9). In beiden Zitaten macht der Begriff „Volkspartei" deutlich, daß es sich bei der NSDAP keinesfalls — nur — um eine Partei für „desorientierte" und „desintegrierte" Sektierer handelte. Zur Sozialstruktur der Bevölkerung vgl. Theodor Geiger: Die soziale Schichtung des deutschen Volkes. Stuttgart 1932. 12 In seiner Rezension zu Heinrich August Winkler: Von der Revolution zur Stabilisierung. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1918—1924. Berlin 1984 begrüßt Eberhard Kolb, daß Winkler mit der „Orientierung an der parlamentarischen Demokratie als Norm'" einen „sachlich angemessenen und legitimen Maßstab zur Bewertung von Verhaltensweisen und Aktivitäten der politischen Kräfte in Weimar-Deutschland" benutze. Mit diesem Maßstab distanziere Winkler sich nicht nur von der marxistischen Geschichtsschreibung, sondern „auch von einer Position, die in der nichtmarxistischen Historiographie (noch immer oder bereits wieder) eine erhebliche Rolle spielt und die dadurch gekennzeichnet ist, daß die antidemokratische und antiparlamentarische Grundeinstellung großer Teile des deutschen Bürgertums während der Weimarer Zeit zwar nicht offen gutgeheißen, aber auch

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rungen, hinter denen eine subjektive Wertung steht, die den Blick auf die historische Realität auch verstellen kann. So erweckt etwa Brachers Bemerkung, „Kommunisten und Nationalsozialisten gewannen [...] 1932 sogar eine destruktive Mehrheit gegenüber allen anderen Parteien"23, den Eindruck, als hätte es sich bei „allen anderen Parteien" um eine „konstruktive Minderheit" gehandelt, die bereit gewesen wäre, die parlamentarische Demokratie zu verteidigen. Doch selbst die Parteien der Weimarer Koalition standen „ihrer" Republik von Anfang an distanziert gegenüber24: Während das Zentrum z.B. in Verfassungsfragen sehr stark nach rechts tendierte und einige Zentrumspolitiker viel lieber eine parlamentarische Monarchie als eine Republik gehabt hätten, schwärmte die linke Sozialdemokratie vom Umbau der „bürgerlichen" Republik zur „sozialistischen" Gesellschaft. Aus Protest gegen die Weimarer Verfassung blieb mehr als ein Viertel aller sozialdemokratischen Abgeordneten der Schlußabstimmung in der Nationalversammlung fern, von den Demokraten fehlte ein knappes Fünftel der Fraktion25. DVP, DNVP und BVP hatten schon seit der Revolution 1918/19 aus ihren Vorbehalten gegenüber der Weimarer Republik kein Hehl gemacht, und 1932 waren DVP, DNVP und — mit Einschränkungen — auch die BVP bereit, eine Koalition mit der NSDAP einzugehen, was jedoch am „Führungsanspruch" Hitlers scheiterte, der als Vorsitzender der mit Abstand stärksten Fraktion das Amt des Reichskanzlers für sich

nicht streng kritisiert, sondern [...] mit außerordentlicher Milde beurteilt wird, was ja doch auf eine verdeckte Apologie antidemokratischer, antiparlamentarischer oder autoritärer Tendenzen in der Weimarer Republik hinausläuft" (Zwischen Parteiräson und politischer Verantwortung — Die Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. In: GG 13 [1987], S. 101-116 [hier S. 105 f.J. 23 Karl Dietrich Bracher: Demokratie und Ideologie im Zeitalter der Machtergreifung. In: VfZ 31 (1983), S. 1-24 (hier S. 18). 24 Vgl. hierzu auch Andreas Dorpalen: SPD und KPD in der Endphase der Weimarer Republik. In: VfZ 31 (1983), S. 77—107, der sich ausgesprochen kritisch zur SPD äußert, deren „Konzeptionslosigkeit" ihren Ausdruck in der „Tolerierungspolitik" gegenüber den Präsidialkabinetten gefunden habe. Zusammenfassend meint Dorpalen: „Wenn man Verantwortlichkeiten zumessen will, so war es die SPD weit mehr als die KPD, die auf der Linken die größere Verantwortlichkeit für den Zusammenbruch der Weimarer Republik trug" (S. 107). 25 Zahlen nach Horst Möller: Weimar. Die unvollendete Demokratie (Deutsche Geschichte der neuesten Zeit vom 19. Jahrhundert bis zur Gegenwart). Frankfurt am Main 1985 (31990), S. 132.

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reklamierte. Wie war es um die demokratische Substanz einer Republik bestellt, die bei der Wahl des Reichspräsidenten im Frühjahr 1932 nur noch vor der Alternative Hindenburg oder Hitler stand26? Die Bevölkerung jedenfalls hatte den Parteien der Weimarer Koalition bereits bei der Wahl zum ersten Reichstag 1920 eine eindeutige Absage erteilt. Das Fundament der Republik war längst unterhöhlt, bevor die „Massen" — vor dem Hintergrund der Wirtschaftskrise — die allgemeine Perspektivlosigkeit des „Weimarer Systems" mit ihrer Stimmenabgabe für NSDAP und KPD quittierten27. Dem „Experiment von Weimar" standen aber keinesfalls „nur ungünstige wirtschaftliche und politische Rahmenbedingungen" entgegen, sondern auch „subjektive Faktoren" wie die „Erbschaft des Obrigkeitsstaates in den Köpfen von Gegnern und Anhängern der Republik"28. Das starke Anschwellen der antirepublikanischen und antidemokratischen Strömungen war nicht nur Indikator, sondern zugleich auch Resultat einer langanhaltenden Krisensituation von Staat, Wirtschaft und Gesellschaft: Die seit 1918/19 virulente Krise der Weimarer Republik war wesentliche Voraussetzung für den Erfolg der antiparlamentarischen Kräfte, von denen Hitler es wie kein zweiter verstand, die Ängste und Hoffnungen der Bevölkerung anzusprechen, zu steigern und für sich zu nutzen. Angesichts der Begeisterungsfähigkeit, die Hitler zu mobilisieren verstand, scheint jedoch fraglich, ob man Hitlers offen proklamierte Ziele als „nihilistisch" bezeichnen sollte. Wurde die in der historischen Analyse diffus und widersprüchlich anmutende Propaganda und Weltanschauung der Nationalsozialisten nicht vielmehr als radikale Alternative zur konkreten politischen Ausformung des „Weimarer Systems" begriffen? Vieles spricht jedenfalls dafür, daß Hitlers Erfolg nicht eintrat, obwohl er seine Ziele so offen propagierte, sondern daß er politisch erfolg-

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So wie „die Geschichte der Revolution [... als] eine Geschichte ihrer fortschreitenden Zurücknahme" gesehen wird (Rürup: Probleme der Revolution, S. 50), kann auch die Geschichte der Weimarer Republik insgesamt als fortschreitende Zurücknahme demokratischer und republikanischer Positionen verstanden werden. 27 Vgl. etwa Horst Möller: Die nationalsozialistische Machtergreifung. Konterrevolution oder Revolution? In: VfZ 31 (1983), S. 25-51, (hier S. 45): Das Wahlverhalten der Bevölkerung „war nur begrenzt ein Vertrauensvotum für Hitler, in jedem Fall aber ein Mißtrauensvotum gegen den Staat von Weimar". 28 Heinrich August Winkler: Der Schein der Normalität. Arbeiter und Arbeiterbewegung in der Weimarer Republik 1924—1930. Berlin 1985, S. 9.

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reich war, weil er sie so offen und radikal propagierte29 — auch wenn kaum einer seiner Anhänger oder „Protestwähler" das rückblickend wahrhaben wollte30. Die große Mehrheit der Bevölkerung stellte sich nach 1933 wohl kaum — überwiegend freiwillig — hinter eine Reichsregierung, deren Ziele sie als „nihilistisch" empfand: Jede Lösung der nationalsozialistischen Bewegung aus ihrem zeitgenössischen Bezugssystem, jedes Ignorieren des Selbstverständnisses ihrer Handlungsträger31 und vor allem jede Unterschlagung der Rezeption der NS-Propaganda und -Ideologie durch die Bevölkerung führt zwangsläufig zu einer „Enthistorisierung" eines nur in seiner Komplexität und Widersprüchlichkeit faßbaren Phänomens wie der nationalsozialistischen Bewegung. Daß das Beziehungsgeflecht zwischen Hitler und der Bevölkerung intensiver erforscht werden müsse, ist eine seit langem wiederholte, mit unterschiedlichen Akzenten begründete Forderung: Hans Bernd Gisevius meinte 1963, man werde „der historischen Erscheinung Adolf Hitlers nicht gerecht, solange man ihn als Einzelwesen schildert. Wenn je einer, dann ist er die Wechselwirkung von Zeit, Umständen und Um-

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Vgl. dazu Gotthard Jasper: Aus den Akten der Prozesse gegen die ErzbergerMörder (Dokumentation). In: VfZ 10 (1972), S. 430—453: So spürten z.B. die am Erzberger- und am Rathenau-Mord beteiligten Brüder Tillessen bei Hitler „jenen elementaren Kampfwillen, jene unbedingte Einsatzbereitschaft, die sie bei den Deutschnationalen und erst recht bei der DVP, der 'Partei der Charakterlosen' so vermißten". Nach Jasper dokumentieren die Briefe der beiden Tillessen-Brüder vom Frühjahr 1921 „in symptomatischer Weise das eigentliche Erfolgsgeheimnis der NSDAP gegenüber den im Zwang zum Kompromiß sich verzehrenden Weimarer Parteien" (S. 437). Auch nach Neumann: Die Parteien der Weimarer Republik, S. 80 lag „die Anziehungskraft der NSDAP für weite Kreise der Jugend [...] vor allem in der Radikalität ihrer Forderungen und ihrer spezifisch jugendlichen Haltung". Zur Rezeption nationalsozialistischer Ideologie vor 1933 vgl. auch Karl Lange: Hitlers unbeachtete Maximen. 'Mein Kampf und die Öffentlichkeit. Stuttgart 1968. 30 In diesem Zusammenhang muß klar unterschieden werden zwischen der von weiten Teilen der Bevölkerung noch akzeptierten Radikalität nationalsozialistischer Propaganda und dem, was sich z.B. hinter Umschreibungen wie „Endlösung der Judenfrage" verbarg. 31 Zur politischen Programmatik Hitlers vgl. etwa Rainer Zitelmann: Hitler. Selbstverständnis eines Revolutionärs. Stuttgart 1987 (hier benutzt als Nachdr. der 2. Aufl. Stuttgart 1991). Ob Hitlers Weltbild so konsistent war, wie Zitelmann es darstellt, mag bezweifelt werden; Hitlers Äußerungen waren häufig auf propagandistische Wirkung berechnet und unterlagen damit entsprechenden Akzentverschiebungen.

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gebung"32. Ähnlich äußerte sich Joachim Fest, als er in seiner erstmals 1973 veröffentlichten Hitler-Biographie unterstrich, „daß Hitlers Aufstieg erst möglich wurde durch das einzigartige Zusammentreffen individueller mit allgemeinen Voraussetzungen, durch die schwer entschlüsselbare Korrespondenz, die der Mann mit dieser Zeit und die Zeit mit diesem Mann eingingen"33. Stärker sozialpsychologisch ausgerichtet ist die 1978 von Rudolph Binion vorgelegte Untersuchung, in der Binion zu dem Schluß gelangte, „Hitlers unheimliche persönliche Macht über die Deutschen" sei darauf zurückzuführen, „daß er seine private traumatische Wut mit dem nationalen traumatischen Bedürfnis in Einklang brachte"34. Wurde die Forderung, das Zusammenspiel zwischen „Hitler und seiner Zeit" zu erforschen, auch häufig gestellt, so hat doch kaum ein Historiker diese Notwendigkeit so nachdrücklich und überzeugend begründet wie Martin Broszat: „Angesichts der Massenbasis, die der Nationalsozialismus schon vor der Übernahme staatlicher Macht besonders bei den Mittelschichten der deutschen Gesellschaft erlangte, stellt sich nicht nur die Frage nach der ideologischen Disponiertheit dieser Schichten für den Nationalsozialismus oder nach der manipulatorischen Kraft nationalsozialistischer Propaganda. Ebenso wichtig ist die Frage nach der realen sozialen Motivation des Nationalsozialismus. Hitler und seine Partei konnten bei aller Geschicklichkeit und Suggestivität ihrer Propaganda die Bedingungen ihrer Massenwirksamkeit nicht freischöpferisch erzeugen"35. Zehn Jahre nach dieser Bemerkung sah Broszat noch immer Grund, der Hitler-Forschung vorzuhalten, sie habe „die sozial- und volkspsychologischen Voraussetzungen des Hitler-Kults" zu wenig berücksichtigt36. Da der Erforschung von Mentalitätsstrukturen

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Hans Bernd Gisevius: Adolf Hitler. Versuch einer Deutung. München 1963, S. 7. "Joachim C. Fest: Hitler. Eine Biographie (2 Bde.). Erster Bd.: Der Aufstieg. (Neuaufl.) Frankfurt/Main 1983, S. 22. 34 Rudolph Binion: „... daß ihr mich gefunden habt". Hitler und die Deutschen: eine Psychohistorie. Stuttgart 1978, S. 167. 35 Martin Broszat: Soziale Motivation und Führer-Bindung des Nationalsozialismus. In: VfZ 18 (1970), S. 392-409 (hier S. 393). 36 Ders.: Zur Einführung: Probleme der Hitler-Forschung. In: Ian Kershaw: Der Hitler-Mythos. Volksmeinung und Propaganda im Dritten Reich. Stuttgart 1980, S. 7—15 (hier S. 8); auch abgedruckt in Martin Broszat: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. München 1987, S. 57—67. Zur „Hitler-Forschung"

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— „gegenüber der methodisch leichter möglichen, aber oft viel weniger aussagekräftigen Ermittlung Objektiver' sozioökonomischer Daten"37 — zu lange zu wenig Aufmerksamkeit geschenkt wurde, ist zwar „die Bedeutung dessen, was mit den Worten 'Massenbewegung1 oder 'Massenmobilisation1 umschrieben wird", so Martin Broszat, „für die Entstehung und Form nationalsozialistischer Herrschaft evident. Aber das soziale Profil dieses Vorgangs entzieht sich noch immer einer einfachen Deutung"38. Während inzwischen z.B. die „Deutschland-Berichte der Sopade"39, die „Meldungen aus dem Reich"40 oder die Ergebnisse des Forschungsprojekts „Bayern in der NS-Zeit"41 veröffentlicht sind und die Rezeption des Nationalsozialismus nach 1933 ausleuchten42, fehlen vergleichbare Untersuchungen zur „Korrespondenz" zwischen Hitler und der deutschen Bevölkerung vor 1933 noch immer, obwohl gerade sie zum Verständnis des Aufstiegs der NS-Bewegung beitragen könnten. Hier möchte die vorliegende Studie zum Schließen einer Forschungslücke beitragen und das Beziehungsgeflecht zwischen Hitler und der deutschen Bevölkerung vor 1933 beleuchten. Da wesentliche Schwächen der Weimarer Republik aus ihrer Entstehungsgeschichte resultierten, soll die Untersuchung sich auf den Zeitraum zwischen 1918

vgl. auch Gerhard Schreiber: Hitler. Interpretationen 1923—1983. Ergebnisse, Methoden und Probleme der Forschung. Darmstadt 21988. 37 Kolb: Weimarer Republik, S. 208. 38 Martin Broszat: Zur Struktur der NS-Massenbewegung. In: VfZ 31 (1983), S. 52—76 (hier S. 52). 39 „Deutschland-Berichte der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (Sopade) 1934—1940". Hg. von Klaus Behnken. Frankfurt am Main 1980. 40 „Meldungen aus dem Reich 1938—1945. Die geheimen Lageberichte des Sicherheitsdienstes der SS". Hg. und eingeleitet von Heinz Boberach. Herrsching 1984. 41 Bei diesem Projekt ging es „darum, das Thema zurückzuholen in die reale, komplizierte, keineswegs einheitliche Erfahrungs- und Wirkungsgeschichte der HitlerZeit, und neben den Grenzsituationen 'Widerstand' und 'Verfolgung' die breite Skala gebrochener Verhaltens- und Reaktionsweisen, die oft 'unreine' Mischung von partieller Resistenz und zeitweiliger Anpassung als Realtypen des Verhaltens unter der gleichzeitig suggestiven wie auch einschüchternden Herrschaft des Nationalsozialismus neu zu beschreiben und zu bewerten" (Martin Broszat/Elke Fröhlich: Alltag und Widerstand. Bayern im Nationalsozialismus. München 1987, S. 14). 42 Auch die im Bundesarchiv Koblenz gesammelten Mitschriften der Reichspressekonferenz (Kopien teilweise in München und Dortmund), sind eine ausgesprochen informative, aber bislang keinesfalls ausgeschöpfte Quelle zur „Stimmungslage" nach 1933.

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und 1923 konzentrieren, auf die stürmischen Anfangsjahre der Republik, die das Scharnier zwischen dem obrigkeitsstaatlichen Kaiserreich und der übrigen „Zwischenkriegszeit" bilden. Die Ergebnisse dieser Studie weisen jedoch über den eigentlichen Untersuchungszeitraum hinaus und tragen auch zum Verständnis des zehn Jahre später besiegelten Endes der Weimarer Republik bei, denn „mentale Strukturen" und Verhaltensweisen ändern sich nach allen Ergebnissen der Kommunikationsforschung in der Regel nur langfristig43. Geht es bei der Diskussion, wie zwangsläufig die Machtübergabe an die Nationalsozialisten nach 1930 war, im wesentlichen um die Frage, ob eine autoritär-reaktionäre Regierung oder „gemäßigte" Diktatur die Übergabe der Regierungsgewalt an die Nationalsozialisten hätte verhindern können, so geht es in der vorliegenden Untersuchung um die Frage nach den „objektiven" und „subjektiven" Faktoren, die zwischen 1918 und 1923 zur Unterhöhlung der parlamentarischen Demokratie beitrugen und dadurch Hitlers Aufstieg überhaupt erst ermöglichten: Wie reagierte die Bevölkerung auf die „objektiven" Schwächen der Weimarer Republik, und welche „subjektiven" Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung förderten den Aufstieg antiparlamentarischer Kräfte? Da sich kein demokratisches Gemeinwesen ohne entsprechenden Rückhalt in der Gesellschaft entfalten kann, geht es im Kern um die Frage, welche

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Vgl. etwa Michael Kunczik: Massenkommunikation. Eine Einführung. Köln 1979, S. 114ff., besonders S. 121. Daß selbst nach mehrjähriger nationalsozialistischer Propaganda ein beträchtlicher Teil der deutschen Bevölkerung hinsichtlich seiner grundlegenden Verhaltensnormen nicht „umgepolt" war, belegt William S. Allen: Die deutsche Öffentlichkeit und die 'Reichskristallnacht' — Konflikte zwischen Werthierachie und Propaganda im Dritten Reich. In: Die Reihen fast geschlossen. Beiträge zur Geschichte des Alltags unterm Nationalsozialismus. Hg. von Detlev Peukert und Jürgen Reulecke. Wuppertal 1981, S. 397—411, besonders S. 407ff.; auch Eva Reichmann: Die Flucht in den Haß. Die Ursachen der deutschen Judenkatastrophe. Frankfurt am Main 1956, S. 288 spricht von einem „geringen Tiefgang der antisemitischen Stimmung" trotz umfassender Propaganda. Andererseits wirkten antisemitische (wie auch antisozialistische und antikommunistische) Einstellungen weit über 1945 hinaus: Als sechs Jahre nach Ende des NS-Regimes 1.200 Bundesbürger über ihre Meinung zur „Wiedergutmachung" gegenüber Juden befragt wurden, waren 21 Prozent aller Befragten der Meinung, die Juden hätten ihr Schicksal zum Teil selbst verschuldet (vgl. Anna J. Merritt und Richard L. Merritt [Hgg.]: Public Opinion in Semisovereign Germany. The HICOG Surveys, 1949-1955. Urbana 1980, Report No. 113).

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Chancen die Weimarer Republik hatte, sich dauerhaft zu etablieren. Mit der Frage nach Einstellungen und Verhaltensnormen der Bevölkerung begibt sich die Studie auf das methodisch noch weitgehend ungesicherte „Feld der politischen Ideologien und ihrer Auswirkungen auf die 'politische Kultur' von Weimar-Deutschland"44. Zur Beantwortung der Frage nach den „Überlebenschancen" der Weimarer Republik soll die zeitgenössische Tagespresse als Quelle herangezogen werden, denn diese Quelle ermöglicht es, die „objektiven" Schwächen der Republik aus der unverstellten Perspektive des zeitgenössischen Beobachters zu betrachten, sie als konstitutiven Teil von „subjektiver" Alltagserfahrung und Lebenswelt zu begreifen; zugleich bietet die Presseberichterstattung zahlreiche Informationen über Mentalitätsstrukturen, Denkmuster und Verhaltensweisen. Um aus der Informationsfülle der Presse jedoch die Aussagen und Hinweise zu filtern, die in ihrer Summe eine valide Antwort auf die Ausgangsfrage nach den „Überlebenschancen" von Republik und Demokratie geben können, muß ein Netz konkreter Detailfragen entwickelt werden, dessen Maschen zwar eng genug sind, um alle relevanten Informationen zu erfassen, aber auch weit genug, um angesichts der Unmenge von Detailproblemen nicht die eigentliche Fragestellung aus den Augen zu verlieren. So ließen sich etwa folgende, von der Ausgangsfrage abgeleitete Fragen an das Untersuchungsmaterial stellen: Wie war es in der Gesellschaft um die Akzeptanz von Republik und Demokratie bestellt, und welche Legitimation — im weitesten Sinne dieses Begriffs — sprach die „öffentliche Meinung" der Weimarer Republik zu45? Wie reagierte die

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Kolb: Weimarer Republik, S. 152. Zur „politischen Kultur" vor 1933 vgl. Kurt Sontheimer: Antidemokratisches Denken in der Weimarer Republik. Die politischen Ideen des deutschen Nationalismus. München 1962 sowie Joachim Petzold: Wegbereiter des deutschen Faschismus. Die Jungkonservativen in der Weimarer Republik. Köln 1978. Während die Arbeit von Wolf Michael Iwand: Paradigma Politische Kultur. Konzepte, Methoden, Ergebnisse der Political-Culture Forschung in der Bundesrepublik. Opladen 1985 stark methodologisch orientiert ist, zeigt Kurt Sontheimer: Deutschlands politische Kultur. München 1990 zahlreiche Kontinuitätslinien aus der Weimarer Republik in die Gegenwart. 45 Zum Begriff und zur Bedeutung der „öffentlichen Meinung" vgl. Elisabeth Noelle-Neumann: Die Schweigespirale. Öffentliche Meinung — unsere soziale Haut. Frankfurt/Main 1982 sowie dies.: Auf dem Wege zu einer Theorie der öffentlichen Meinung. In: Wege zur Kommunikationsgeschichte. München 1987, S. 167—182. Obwohl die zentrale Bedeutung der „öffentlichen Meinung" für soziales Verhalten in

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Bevölkerung auf die tiefgreifenden Krisen der Weimarer Republik, wie auf die politischen Parteien, insbesondere auf den Rechtsradikalismus und seinen virulenten Antisemitismus? Aus der Antwort auf diese Fragen können Rückschlüsse auf die „Überlebenschancen" der Weimarer Republik gezogen werden: Die „öffentliche Meinung" als Ausdruck der Einstellung und Haltung von Gesellschaft und Bevölkerung wird in der vorliegenden Studie als maßgebliche Größe für die innere Stabilität der Weimarer Republik verstanden, von der auch die Erfolgsaussichten antirepublikanischer Propaganda entscheidend abhingen46. Wenn die vorliegende Studie herausarbeiten möchte, „aus welchen Strichen der dunkle Punkt in der jüngsten Vergangenheit entstanden ist"47, dann ist sie insofern „historisierend", als sie die Abkehr der Bevölkerung von der Weimarer Republik zunächst nicht nach normativen Werten beurteilt, sondern sich bemüht, diesen Prozeß aus der Perspektive der Zeit nachzuzeichnen. Da die „Bevölkerung" keine operationable oder klar definierte wissenschaftliche Kategorie ist, soll ein die wichtigsten gesellschaftspolitischen Strömungen möglichst authentisch spiegelndes „Sample" von Zeitungen als zeitgemäßes Ausdrucksmittel moderner Massengesellschaften Aufschluß geben über Ansichten, Einstellungen und Verhaltensweisen der Bevölkerung48: Zeitungen waren zwischen 1918 und 1923 nicht nur

zahlreichen kommunikationswissenschaftlichen Studien empirisch nachgewiesen ist, hat die historische Forschung sich mit der „öffentlichen Meinung" bisher eher nur am Rande beschäftigt und noch kein methodisch zuverlässiges Instrumentarium zur Erforschung historischer Kommunikationsprozesse entwickelt. 46 „Die Krisengeschichte der Republik und die Erfolgsgeschichte des Nationalsozialismus verhalten sich komplementär" (Martin Broszat: Die Machtergreifung. Der Aufstieg der NSDAP und die Zerstörung der Weimarer Republik. München 1984, S. 8; ähnlich auch Möller: Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 45: „Niedergang der Demokratie und Aufstieg der NS-Bewegung bedingten einander"). 47 Harry Pross: Vor und nach Hitler. Zur deutschen Sozialpathologie. Ölten und Freiburg im Breisgau 1962, S. 145. 48 Die in der Literatur häufig vertretene Ansicht, „eine Darstellung der Rezeptionsgeschichte ist kaum möglich" (z.B. Walter Hannot: Die Judenfrage in der katholischen Tagespresse Deutschlands und Österreichs 1923—1933. Mainz 1990, S. 11), kann in dieser Studie so nicht geteilt werden. Und wenn Gessner: Das Ende der Weimarer Republik, S. 73 meint, die „politische Wirkung" der liberalen Massenmedien lasse sich „bezogen auf die breite Willensbildung in keiner Weise nachweisen", so muß diese Aussage stark relativiert werden; auch Gessner gelangt zu dem Schluß,

Zur Akzeptanz und Legitimation der Weimarer Republik

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der mit Abstand wichtigste Träger politischer Informationen für ein Millionenpublikum49, sondern als historische Quelle lenken sie den Blick zudem von den „großen Staatsaktionen" auf die vielfältigen Sorgen und Nöte des Alltags, die das politische Handeln des Einzelnen in aller Regel nachhaltiger beeinflussen als parteipolitische Proklamationen oder „Staatsereignisse". Da die Zeitungen während der Weimarer Republik ihre politische Meinung fast immer sehr deutlich zum Ausdruck brachten, kann in dieser Studie auf die in der Kommunikationsforschung gängige Unterscheidung zwischen „öffentlicher" und „veröffentlichter Meinung" verzichtet werden: Die Summe aller in den untersuchten Zeitungen veröffentlichten Meinungen soll als „öffentliche Meinung" verstanden werden. Bevor jedoch das „Sample" der zu analysierenden Zeitungen gebildet werden kann und die eigentliche Inhaltsanalyse beginnt, müssen Wert und Problematik von Zeitungen als historische Quelle diskutiert werden. Daran anschließend soll ein für die Fragestellung dieser Studie methodisch adäquates Instrumentarium entwickelt werden.

daß „der hohen bürgerlichen Pressekultur von Weimar [...] eine auffallend geringe politische Wirksamkeit" entsprach. Daß den demokratischen Blättern nicht die positive Wirkung beschieden war, die sie anstrebten, ist nach den Kriterien der Wirkungsforschung eine eindeutige Aussage. Im übrigen korrespondierte die geringe Überzeugungskraft der demokratischen Presse mit einer ungleich stärkeren Attraktivität rechtsextremer Zeitungen (vgl. etwa Jasper: Aus den Akten der Prozesse gegen die Erzberger-Mörder, S. 442). Wie in der Wirkungsforschung seit langem üblich, wird man auch bei der Analyse historischer Kommunikationsprozesse nicht von einem einfachen „Stimulus-Response-Modell" ausgehen können, bei dem die „Botschaft" genau so rezipiert wurde, wie der „Sender" es intendierte. Trotz aller methodischen Probleme, die Wirkung historischer Kommunikationsprozesse exakt zu analysieren, gibt es kein Indiz, daß sich diese Prozesse einer Analyse prinzipiell entziehen. 49 Zur Zeit der Weimarer Republik schwankte die Auflage der Tagespresse zwischen 16 und 20 Millionen Exemplaren (vgl. Norbert Frei: Nationalsozialistische Eroberung der Provinzpresse. Gleichschaltung, Selbstanpassung und Resistenz in Bayern. Stuttgart 1980, S. 18f.).

Methodische Voraussetzungen 1. Zeitungen als historische Quelle

Einblattdrucke und gedruckte Flugschriften fanden mit der Reformation und „frühbürgerlichen Revolution" eine massenhafte Verbreitung50. Im Unterschied zu den gut einhundert Jahre später periodisch veröffentlichten Zeitungen erschienen sie unregelmäßig und zielten auf die Bekanntgabe besonderer Ereignisse51. Mit dem wachsenden Informationsbedürfnis und der Verbreitung von Nachrichten als Ware wurden seit dem frühen 17. Jahrhundert die ersten regelmäßig gedruckten Zeitungen verlegt, deren „belehrender Charakter" für die noch feudalen Strukturen eine „eigentümliche Sprengkraft" hatte und die zur Entfaltung kapitalistischer Verkehrsformen maßgeblich beitrugen52. Trotz al-

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Vgl. z.B. Flugschriften der Bauernkriegszeit. Hg. von der Akademie der Wissenschaften der DDR. Berlin 1975 sowie Karl Schottenloher: Flugblatt und Zeitung. Ein Wegweiser durch das gedruckte Tagesschrifttum. Berlin 1922. 51 Zur Geschichte der frühen Zeitungen vgl. Kurt Koszyk: Vorläufer der Massenpresse. Ökonomie und Publizistik zwischen Reformation und Französischer Revolution. Öffentliche Kommunikation im Zeitalter des Feudalismus. München 1972 sowie Margot Lindemann: Geschichte der deutschen Presse. Teil I: Deutsche Presse bis 1815 (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik Bd. 5). Berlin 1969. 52 Jürgen Habermas: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen zu einer Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Neuwied 976, S. 34. Auch Kurt Koszyk unterstreicht den antifeudalen Charakter der frühen Zeitungen, wenn er betont, „die gedruckte Publizistik [sei] seit ihren Anfängen eine urbane Erscheinung gewesen" und man könne „geradezu von einer residenz- oder reichsstädtischen Presse sprechen" (Probleme einer Sozialgeschichte der öffentlichen Kommunikation. In: Presse und Geschichte. Beiträge zur historischen Kommunikationsforschung. Hg. von Elger Blühm. München 1977, S. 25-34 [hier S. 25]).

Methodische Voraussetzungen

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ler Zensurmaßnahmen spielte die gedruckte Presse53 eine zunehmend wichtiger werdende Rolle bei der Entwicklung der bürgerlichen Gesellschaft und Öffentlichkeit54. Bis ins 20. Jahrhundert hinein war die gedruckte Presse für weite Bevölkerungskreise wichtigster Träger politischer Informationen und bestimmte maßgeblich die Meinungsbildung und Einstellung der Leser. Der Inhalt von Zeitungen und seine Wirkung auf den Rezipienten sind demnach zentrale Kategorien für die sozialgeschichtliche Analyse moderner Massengesellschaften. Schon im ausgehenden 18. Jahrhundert wiesen einzelne Historiker auf die Bedeutung von Zeitungen als historische Quelle hin55, und mit Robert Prutz unterstrich ein namhafter Historiker des deutschen Vormärz deren Wert56. Doch erst die Würdigung von Zeitungen als Quelle im „Grundriß der Historik" von Johann Gustav Droysen57 veranlaßte die historische Zunft zu einer lebhafteren Diskussion über eine adäquate Nutzung und methodisch korrekte Interpretation gedruckter Periodika,

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Unter „gedruckter Presse" werden im allgemeinen Zeitungen und Zeitschriften verstanden (zur Unterscheidung von Zeitung und Zeitschrift vgl. Lindemann: Deutsche Presse bis 1815, S. 131ff.). 54 Die zahlreichen Versuche, Zeitungen durch Zensurmaßnahmen zu unterdrücken, sind deutliches Indiz für die von Habermas konstatierte „Sprengkraft" der Presse. Zur Geschichte von Zensur und Pressefreiheit vgl. Franz Schneider: Pressefreiheit und politische Öffentlichkeit. Studien zur politischen Geschichte Deutschlands. Neuwied am Rhein 1966. 55 Dazu Antoinette Röckeisen: Die Presse als Geschichtsquelle. Diss. phil. München 1951, S. 4ff. Ihren Anspruch, eine „methodische Untermauerung [...] dieser Quellengattung" zu liefern und ein, wenn auch „noch lückenhaftes, so doch gültiges System zur Auswertung der Presse als Geschichtsquelle zu erarbeiten" (ebd. Vorwort), konnte Röckeisen nicht einlösen. Die Arbeit referiert lediglich die damals vorliegende Literatur; Ergebnisse der Rezeptions- und Wirkungsforschung bleiben ausgeblendet. Vgl. ergänzend Rudolf Auer: Die moderne Presse als Geschichtsquelle. Ein Versuch. Diss. phil. Wien 1943. 56 Vgl. Robert E. Prutz: Geschichte des deutschen Journalismus. Erster Theil. Hannover 1845, S. 2: „Indem man die Geschichte eines Volkes zu schreiben unternahm", meinte Prutz, „schrieb man nicht die Geschichte des Volkes selbst, als vielmehr die Geschichte seiner Könige, seiner Feldherren, seiner Großen und Vornehmen". Anders als „die Mehrzahl unserer Gelehrten, [...] die um den kleinsten Rest eines alten Pergaments [...] Erd' und Himmel bewegen würden", sah Prutz in Zeitungen eine weit ergiebigere Quelle. Zu Prutz vgl. auch Werner Spilker: Robert Prutz als Zeitungswissenschaftler. Leipzig 1937. 57 Johann Gustav Droysen: Grundriß der Historik. Leipzig 1868, S. 14ff.

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die für Droysen eine mindestens ebenso hohe Aussagekraft hatten wie die „klassischen" Quellen: „Was im Mittelalter nur hie und da ein Mönch oder Stadtschreiber (höchst langweilig und flach) tat, wenn er eine Chronik schrieb, [...] das tun heute in unendlich reicherer und umfassenderer Art Tausende von täglich erscheinenden Zeitungen"58. Ihren „Durchbruch" als historische Quelle erzielte die Zeitung 190859, als Martin Spahn auf dem „Internationalen Kongreß für historische Wissenschaften" in Berlin über „Die Presse als Quelle der neuesten Geschichte und ihre gegenwärtigen Benutzungsmöglichkeiten" referierte60: Es sei kaum zu bezweifeln, meinte Spahn, daß die Presse „allen Geschichtsschreibern der jüngsten Geschichte die wertvollste Quelle von allen werden wird. Sie hat Vorzüge, in denen keine Quellengattung mit ihr wetteifern kann. Ihr Nachrichtennetz ist unvergleichlich dicht und fast lückenlos"61. Mit ähnlichen Argumenten begründete auch Wilhelm Bauer den Quellenwert der modernen Presse, für deren kritische Analy-

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Zitiert nach Johann Gustav Droysen: Historik. Bd. 1: Rekonstruktion der ersten vollständigen Fassung der Vorlesungen (1857). Grundriß der Historik in der ersten handschriftlichen Fassung (1857/1858) und in der letzten gedruckten Fassung (1882). Hg. von Peter Leyh. Stuttgart-Bad Cannstatt 1977, S. 71. 59 So Röckeisen: Presse als Geschichtsquelle, S. 13. Heinz-Dietrich Fischer spricht von einer „Wiederbesinnung auf die Quellenqualität der Zeitung", die er auf den „Beginn des 20. Jahrhunderts" datiert (Die Zeitung als Forschungsproblem. In: Deutsche Zeitungen des 17.—20. Jahrhunderts. Hg. von Hans-Dietrich Fischer. Pullach bei München 1972, S. 11—24 [hier S. 20]). Nach Koszyk: Probleme einer Sozialgeschichte, S. 25 hat „die pressegeschichtliche Forschung [bereits ...] im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts" eingesetzt. 60 Vgl. Martin Spahn: Die Presse als Quelle der neuesten Geschichte und ihre gegenwärtigen Benutzungsmöglichkeiten. In: Internationale Wochenschrift für Wissenschaft. Kunst und Technik (1908). Bd. 2, S. 1163-1170 und 1201-1211. 61 Ebd., S. 1203. Spahn führte die Tatsache, daß Historiker den Quellenwert von Zeitungen lange unterschätzten, auf Heinrich von Treitschke zurück (so auch Fischer: Zeitung als Forschungsproblem, S. 20). Treitschke meinte „in einer seiner letzten Vorlesungen über Politik in der Mitte der 90er Jahre spöttisch [...], das holzhaltige Papier der Zeitungen sei längst in Staub zerfallen, ehe ihr Inhalt in den Bereich der geschichtlichen Forschung falle" (Wilhelm Klutentreter: Die Zeitung als Geschichtsquelle. Ein Rückblick aus Anlaß des 100. Geburtstags von Martin Spahn. In: Publizistik 20 [1975], S. 802-804 [hier S. 803]).

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se ihm allerdings ein Vergleich mit anderen Quellen erforderlich schien62. Während die Historiker lange darüber diskutierten, ob sich Ereignisgeschichte anhand von Zeitungen erforschen lasse, führte Max Weber 1910 auf dem „Ersten Deutschen Soziologentag" einen neuen Aspekt in die Diskussion ein. Im Rahmen einer geplanten „Enquete über das Zeitungswesen" ging es ihm vor allem um die Erforschung der Rezeption und Wirkung von Presse63. Nur mit Hilfe einer weitgespannten „Soziologie des Zeitungswesens" ließe sich nach Weber die Wirkung dieses Massenmediums klären64. Einen nicht minder wichtigen Impuls erfuhr die wissenschaftliche Analyse von Zeitungen durch die Institutionalisierung von „Zeitungswissenschaft" bzw. von „Zeitungskunde" als universitäres Fach65. Die neue Disziplin beschäftigte sich zwar nicht vorrangig mit historischen Fragestellungen, aber das Sammeln und Archivieren von Zeitungsbeständen erleichterte ebenso die Nutzung dieser Quelle66, wie „zeitungswissenschaftliche Analysen der Wirkungszu-

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Vgl. Wilhelm Bauer: Die moderne Presse als Geschichtsquelle. In: Zeitungsgeschichtliche Mitteilungen. 4 (1921). Heft 3—6, S. 9—10 (hier S. 9). Hans A[madeus] Münster: Die Zeitung als Quelle der historischen Forschung (Sonderdruck aus: Berliner Monatshefte. Heft 15 [1937], S. 453—475) betonte ebenfalls die Notwendigkeit eines solchen Vergleichs: „Nur durch einen Vergleich mit den anerkannten historischen Zeugnissen können die alten vergilbten Zeitungsblätter uns überhaupt etwas nützen" (Sonderdruck, S. 10). 63 Vgl. Max Weber: Geschäftsbericht. In: Verhandlungen des Ersten Deutschen Soziologentages vom 19.—22. Oktober 1910 in Frankfurt am Main. Hg. von der Deutschen Gesellschaft für Soziologie. Frankfurt am Main 1969, S. 39—62. Weber formulierte 1910 Fragen, die auch heute von der Kommunikationsforschung noch weitgehend unbeantwortet sind: „Was trägt sie [die Presse] zur Prägung des modernen Menschen bei? [...] Wie werden die objektiven überindividuellen Kulturgüter beeinflußt, was [...] wird an Massenglauben, an Massenhoffnungen vernichtet und neu geschaffen [...]?« (S. 51). M 65

Ebd., S. 52.

Vgl. Rüdiger vom Bruch: Zeitungskunde und Soziologie. Zur Entwicklungsgeschichte der beiden Disziplinen. In: Wege zur Kommunikationsgeschichte. Hg. von Manfred Bobrowsky und Wolfgang R. Langenbucher. München 1987, S. 138—150. 66 Unverzichtbar für die historische Presseforschung ist immer noch Otto Groth: Die Zeitung. Ein System der Zeitungskunde (Journalistik). 4 Bde. Mannheim 1928—1930. Maßstäbe für die noch junge Zeitungswissenschaft setzte — mit unterschiedlichen Akzentuierungen von Auflage zu Auflage — Emil Dovifat: Zeitungslehre. 2 Bde. Leipzig/Berlin 193 Iff. Dovifats „normativer Ansatz", die Betonung der

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sammenhänge" den Historikern erste, systematisch erarbeitete Ergebnisse für weitergehende Fragestellungen boten67. Daß die Ergebnisse und Methoden der jungen Zeitungswissenschaft von der historischen Forschung kaum berücksichtigt wurden, verdeutlichen die eindringlichen Mahnungen, die Wilhelm Mommsen seit 1926 mehrfach wiederholte: „Die Zeitung kann vom Historiker wie jede andere Quelle nur dann benutzt werden, wenn er sich ihrer Eigenart bewußt ist. Ohne Kenntnis der Zeitung, ihrer Entstehung und ihrer Arbeitsweise kann man ihren Quellenwert nur unzulänglich ausnutzen. Es reicht keineswegs, wenn man sich über die politische Richtung einer Zeitung im klaren ist, man muß auch die Einflüsse festzustellen versuchen, die auf die Zeitung wirken"68. Da die Presse „eine schwer zu benutzende Quelle" sei, hielt Mommsen es für „eigentlich bedauerlich, daß die Zeitungen bisher fast ausschließlich in Anfängerarbeiten als Quelle ausgewertet worden sind"69. Die fortdauernde Gültigkeit dieser Kritik unterstrich Hans Bohrmann 1987 mit der Bemerkung, noch immer hafte „pressehistorischen Untersuchungen fast durchgängig ein dilettantischer Zug" an70. Eine Erklärung, warum die Geschichtswissenschaft sich der historischen Presseforschung bislang nicht stärker angenommen hat, bietet Hagen Schulze: „Die Unterschätzung des Informationsgehalts von Periodika liegt sicher teilweise am höheren wissenschaftlichen Prestigewert unveröffentlichter Quellen, aber auch an der mit der Zeitungslektüre verbundenen zeitraubenden Tätigkeit; wer einmal vierzig Jahrgänge des 'Vorwärts' durchgesehen hat, weiß, wovon hier die Rede ist"71.

Bedeutung von Zeitungen als publizistisches Propaganda- und Führungsmittel, ist bereits erkennbar in ders.: Die Zeitungen. Gotha 1925. 67 Dazu Auer: Die moderne Presse, S. 22: „Die Geschichtsforschung, die die Einbeziehung der Presse in ihre Untersuchungen vornimmt, wird ohne die Zeitungswissenschaft nicht auskommen". 68 Zitiert nach Wilhelm Mommsen: Die Zeitung als historische Quelle. In: Beiträge zur Zeitungswissenschaft. Münster 1952, S. 165—172 (hier S. 165). Ähnlich auch Münster: Die Zeitung als Quelle, S. 6. 69 Mommsen: Zeitung als historische Quelle, S. 172. 70 Hans Bohrmann: Methodenprobleme einer Kommunikationsgeschichtsschreibung. In: Wege zur Kommunikationsgeschichte, S. 44—48 (hier S. 46). 71 Hagen Schulze: Otto Braun oder Preußens demokratische Sendung. Eine Biographie. Frankfurt/Main 1977, S. 27.

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2. Kritik und Desiderate Wie berechtigt Wilhelm Mommsens Forderung nach einem quellenkritischen Umgang mit Zeitungen war, zeigt auch die Lektüre der nach 1945 entstandenen pressehistorischen Arbeiten zur Weimarer Republik und zum Dritten Reich: Über mehr als zwei Jahrzehnte waren Inhaltsanalysen von Zeitungen und Zeitschriften fast ausnahmslos von einer unkritischen Arbeitsweise und einem ausgesprochen apologetischen „Erkenntnisinteresse" geprägt72. Während der „Wiederaufbauphase" bemühte sich die Presseforschung, insbesondere den Widerstand der „bürgerlichen Presse" gegen den Nationalsozialismus herauszuarbeiten. Dabei stand weniger die empirische Analyse des gedruckten Materials im Vordergrund, sondern der nur schwer nachweisbare „Widerstand zwischen den Zeilen", der in aller Regel aus den — vermeintlichen oder realen — Intentionen der Redakteure, Autoren und Herausgeber abgeleitet wurde. In der Regel ging es in den ersten Jahren nach 1945 bei pressehistorischen Arbeiten zum Nationalsozialismus vorrangig um eine „Rehabilitierung der Altverleger"73, die im Kontext der „Wiedergutmachungsprozesse" um den Nachweis ihres „Widerstandes gegen den Nationalso-

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Diese Kritik gilt für nahezu alle vor 1967/68 entstandenen Arbeiten zur deutschen Pressegeschichte zwischen 1918 und 1945 (eine hilfreiche Zusammenstellung publizistikwissenschaftlicher Untersuchungen liefert Volker Spiess: Verzeichnis deutschsprachiger Hochschulschriften zur Publizistik 1885—1967. Berlin 1967). Nach 1967/68 haben sich Substanz und Qualität der Arbeiten zum Teil erheblich verbessert. Als positive Beispiele für historische Inhaltsanalysen seien nur Carin Kessemeier: Der Leitartikler Goebbels in den NS-Organen „Der Angriff" und „Das Reich". Münster (Westf.) 1967 und Werner Becker: Demokratie des sozialen Rechts. Die politische Haltung der Frankfurter Zeitung, der Vossischen Zeitung und des Berliner Tageblatts 1918—1924. Göttingen 1971 erwähnt. Stärker historiographisch ausgerichtet sind die Arbeiten von Bernd Sösemann: Das Ende der Weimarer Republik in der Kritik demokratischer Publizisten: Theodor Wolff, Ernst Feder, Julius Elbau, Leopold Schwarzschild. Berlin 1976 und Jürgen Fromme: Zwischen Anpassung und Bewahrung. Das 'Hamburger Fremdenblatt1 im Übergang von der Weimarer Republik zum „Dritten Reich". Eine politisch-historische Analyse. Hamburg 1981. 73 Unter „Altverleger" sind die Personen zu verstehen, die bereits im Dritten Reich als Verleger tätig waren. Da die folgenden Ausführungen sich ausschließlich auf die drei westlichen Besatzungszonen sowie auf die frühe Bundesrepublik beziehen, vgl. auch Verena Blaum: Journalistikwissenschaft in der DDR. Erlangen 1979, S. 18ff.

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zialismus" bemüht waren74, denn während Redakteure, freie Mitarbeiter und Verlagsangestellte der ehemaligen „bürgerlichen Presse" von den Besatzungsbehörden eine Lizenz zur Fortsetzung ihrer Arbeit erhalten konnten75, wurden die „früheren deutschen Zeitungsverleger ungehört und ungeprüft als 'belastet1 abgestempelt", wie in einer auf den Tag genau drei Jahre nach Kriegsende veröffentlichten Schrift ehemaliger Mitarbeiter des Droste-Verlags moniert wurde76: Da die Lizenzverweigerung für die „Altverleger" auf die „Unkenntnis" der Besatzungsbehörden über die konkreten Verhältnisse unter dem Nationalsozialismus zurückzuführen sei und weil „die Version, daß die alten deutschen Zeitungen Mitläufer, Nutznießer und sogar Förderer des Hitler-Regimes gewesen seien, [...] auch von deutscher Seite aufgenommen und weitergetragen" worden sei, sollte in dieser Schrift aus dem Droste-Verlag der „geistige Widerstand zwischen den Zeilen" nachgewiesen werden77. Mit den Begriffen „geistiger Widerstand" und „zwischen den Zei-

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Vgl. Frei: Eroberung der Provinzpresse, S. 12f. Zur „Lizenzpresse" vgl. Heinz-Dietrich Fischer: Parteien und Presse in Deutschland seit 1945. Bremen 1971 sowie Kurt Koszyk: Geschichte der deutschen Presse. Teil IV: Pressepolitik für Deutsche 1945—1949 (Abhandlungen und Materialien zur Publizistik. Bd. 10). Berlin 1986. 76 Zwischen den Zeilen. Ein Beitrag zur Geschichte des Widerstandes der deutschen bürgerlichen Presse gegen die Diktatur des Nationalsozialismus. Hg. von Hans Stöcker, Heinz Greeven und Peter Herbrand. Düsseldorf 1948, S. 7. 77 Ebd., S. 5. Unter fast identischem Titel — und mit vergleichbarer Tendenz — wie die „Droste-Schrift" erschien eine von Werner Bergengruen eingeleitete Anthologie der bedeutendsten Aufsätze von Rudolf Pechel, dem Herausgeber der Deutschen Rundschau: Zwischen den Zeilen. Der Kampf einer Zeitschrift für Freiheit und Recht 1932—1942. Aufsätze von Rudolf Pechel. Wiesentheid 1948. In seiner Einleitung übersah Bergengruen geflissentlich, daß es Rudolf Pechel war, der Hitler die Möglichkeit verschaffte, bereits am 3. Juni 1922 im Berliner „Juniklub" zu reden (vgl. dazu Volker Mauersberger: Rudolf Pechel und die „Deutsche Rundschau" 1919—1933. Eine Studie zur konservativ-revolutionären Publizistik in der Weimarer Republik. [Studien zur Publizistik. Bd. 16]. Bremen 1971, S. 272ff. sowie S. 333). Kritisch gegenüber Pechel (und Paul Fechter, der zwischen Sommer 1933 und 1939 Mitherausgeber der Deutschen Rundschau war) ist auch Jürgen Schröder. Nach Schröder hatten die beiden „konservativen Revolutionäre" dem Reichskanzler von Papen am 5. Oktober 1932 ein Schreiben unterbreitet, in dem sie eine „Reform der Dichterakademie und [die] Entfernung des untragbaren Heinrich Mann" forderten (Jürgen Schröder: Benn in den dreißiger Jahren. Klaus Ziegler zum Gedenken. In: Intellektuelle im Bann des Nationalsozialismus. Hg. von Karl Corino. Hamburg 1980, S. 48—60 [hier S. 56]). 75

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len" sind die zentralen Prämissen benannt, die vor allem der „bürgerlichen Presse" den ihr „gebührenden Platz" in der „Geschichte des deutschen Widerstandes" sichern sollten78. Als Karl-Wolfgang Mirbt die nach Ansicht Werner Bergengruens von Rudolf Pechel und anderen „bis zur Meisterschaft" entwickelte „Technik der publizistischen Opposition", die „Camouflage"79, in den Mittelpunkt einer Untersuchung über Pechel und die Deutsche Rundschau stellte, bemerkte er eher beiläufig, „daß der Begriff 'geistiger Widerstand1 in Gefahr sei, verwässert zu werden"80, denn gelegentlich werde zu den Zeitungen, die (partiell) opponierten, auch die nationalsozialistische Wochenzeitung Das Reich gezählt81. Konsequent ignorierten die „Widerstands-Apologeten"82, die gern Beschlagnahmungen oder Verbote einzelner Ausgaben als Beleg für

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So die „Droste-Schrift", S. 5ff. So Bergengruen in seiner Einleitung zu „Zwischen den Zeilen", S. 10. 80 Karl-Wolfgang Mirbt: Methoden publizistischen Widerstands im Dritten Reich. Nachgewiesen an der „Deutschen Rundschau" Rudolf Pechels. Diss. phil. Berlin 1958, S. 30. 81 Ebd., S. 32. Vgl. auch ders.: Theorie und Technik der Camouflage. Die „Deutsche Rundschau" im Dritten Reich als Beispiel publizistischer Opposition unter totalitärer Gewalt. In: Publizistik 9 (1964), S. 3—16. Zur Kritik von Mirbt an Paul Fechter vgl. Sabine Fechter: Paul Fechter. Wege und Formen der Opposition im Dritten Reich. In: Publizistik 9 (1964), S. 17—39; zu Fechter, dem an seinem 75. Geburtstag 1955 das Große Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland verliehen wurde, vgl. auch die materialreiche Kritik von Harry Pross: Der deutsche Quietismus. Das Exemplarische an der Affäre Fechter. In: Texte und Zeichen 7 (1956), S. 321—333 sowie die Polemik von Günther Cwojdrak: Der Fall Fechter. Eine Streitschrift. Berlin 1955. Die Begriffen wie „Widerstand" oder „Widerstand zwischen den Zeilen" immanente Ambivalenz macht Bernd Sösemann: Publizistische Opposition in den Anfängen des nationalsozialistischen Regimes. In: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 190—206 deutlich, wenn er betont, daß Organe wie die Deutsche Rundschau dem NS-Regime „bereits wegen ihrer politisch-kulturellen Distanz nicht ungefährlich" gewesen seien; allerdings gehöre zu ihrer „Mentalreservation" aber auch, daß die entsprechenden „Redakteure und Schriftsteller mit ihrer Tätigkeit [...] die ihnen von dem totalitären Regime zugedachte Alibifunktion erfüllten" (S. 202). 82 So z.B. Franz Rappmannsberger: Karl Muth und seine Zeitschrift „Hochland" als Vorkämpfer für die innere Erneuerung Deutschlands. Diss. phil. München 1952; Oskar Bender: Der „Gerade Weg" und der Nationalsozialismus. Ein Beitrag zur katholischen Widerstandspresse vor 1933. Diss. phil. München 1954; Konrad Ackermann: 79

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„Widerstand gegen den Nationalsozialismus" anführten83, daß die deutsche Presse nach dem Wunsch des Reichspropagandaministers „monoform im Willen", aber, dem jeweiligen Leserkreis entsprechend, „polyform in der Ausgestaltung des Willens" sein sollte84: Hinsichtlich der Argumentation, des sprachlichen Niveaus und auch der Themenauswahl nahm Goebbels Unterschiede zwischen den bürgerlichen Blättern und der nationalsozialistischen Presse nicht nur hin, sondern diese Unterschiede waren erklärtes Ziel nationalsozialistischer Presselenkung85.

Der Widerstand der Monatsschrift „Hochland" gegen den Nationalsozialismus. München 1965 sowie Albert F. J. Reichert: Dr. Joseph Eberle als Kritiker der kath. Presse in seiner Wochenschrift „Schönere Zukunft" 1925—1940. Diss. phil. München 1949. Zur generellen Kritik an den exemplarisch aufgeführten Darstellungen vgl. Peter Eppel: Zwischen Kreuz und Hakenkreuz. Die Haltung der Zeitschrift „Schönere Zukunft" zum Nationalsozialismus in Deutschland 1934—1938 (Veröffentlichungen der Kommission für Neuere Geschichte Österreichs. Bd. 69). Wien 1980. 83 Für drei Monate „verboten" wurde am 20. Juli 1935 jedoch sogar der Stürmer wegen „eines Angriffs auf den Staatssekretär Lammers". Ein „Rundruf" des Deutschen Nachrichtenbüros (DNB) informierte die Presse noch vor dem Erlaß des Verbots, daß über das „Verbot des 'Stürmers' [...] nicht berichtet werden sollte. Wenig später wurde das Verbot jedoch aufgehoben, und die bereits beschlagnahmten Exemplare wurden den Händlern wieder zugestellt (vgl. Sammlung Brammen BAK, ZSg 101/6, fol. 21—23). Der SA-Mann wurde nach Beschwerden der NS-Frauenschaft wegen seiner „Mädchen-Fotos" im Februar 1939 auf Dauer verboten (ebd., ZSg 101/102, fol. 61). Selbst der von Goebbels herausgegebene Angriff wurde auf der Reichspressekonferenz gelegentlich offen gerügt. 84 So Goebbels anläßlich der Verkündung des Schriftleitergesetzes am 4. Oktober 1933 (vgl. Deutsche Presse 23 [1933], S. 278). In seiner „Rede vor der auswärtigen Presse" vom 6. April 1934 modifizierte Goebbels diese Formel leicht (vgl. Joseph Goebbels: Vor der Presse. In: Signale der neuen Zeit. 25 ausgewählte Reden von Dr. Joseph Goebbels. München 1934, S. 127-135 [hier S. 133]). 85 Goebbels' drohende Forderung, die bürgerliche Presse solle endlich ihre „gleichgeschaltete" Uniformität abstreifen, durchzog die Reichspressekonferenz schon wenige Monate nach der „Machtübernahme" wie ein roter Faden (vgl. etwa die von Brammer gesammelten Presseanweisungen: BAK, ZSg 101/26, fol. 423, 577, 581; ZSg 101/27, fol. 53, 83; ZSg 101/28, fol. 363ff.; ähnliche Hinweise finden sich in den Sammlungen Traub, Sänger und Oberheitmann). Im übrigen wäre es „bei der Machtübernahme von 1933 [...] schon technisch und personell gar nicht möglich gewesen, die demokratische Presse zu zerschlagen und ein Monopol der NS-Kampfpresse zu begründen" (Helmut Heiber: Joseph Goebbels. München 1988, S. 147). Daß weite Teile der bürgerlichen Presse sich ausgesprochen willfährig „gleichschalten" ließen, kommentierte Goebbels mit Zynismus: „Wir zwingen sie

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Deklarierten die „Widerstands-Apologeten" und „Protagonisten der inneren Emigration" die nicht-identische Präsentation tendenziell weitgehend identischer Inhalte bereits als Indiz für abweichende Meinung und Widerstand „zwischen den Zeilen"86, so blieben kritische Untersuchungen zur Haltung der deutschen Presse gegenüber antirepublikanischen Strömungen vor 1933 lange ausgeklammert87. Trotz aller Anstrengungen der neueren Pressegeschichtsforschung bleiben viele Desiderate: So fehlen z.B. noch immer grundlegende Studien zur Geschichte einzelner Zeitungen, zur „öffentlichen Meinung" und vor allem zum Rezeptionsverhalten der Bevölkerung während der Weimarer Republik und des Dritten Reichs. Bislang gibt die Forschung auch noch keine befriedigende Antwort auf die Frage, welche Zeitun-

doch nicht zur Charakterlosigkeit, wir verlangen nicht, daß sie Hurra schreien, wenn ihnen nicht zum Hurra-Schreien zumute ist" (zitiert nach ebd., S. 148). 86 Daß es auch in der „bürgerlichen Presse" Widerstand gegen den Nationalsozialismus gegeben hat, ist unbestritten, ändert aber nichts an der hier vorgebrachten grundsätzlichen Kritik eines Forschungsansatzes, den z.B. Karl d'Ester als namhafter Publizistikwissenschaftler idealtypisch verkörperte. Gegenüber den relativ unkritischen Ausführungen von Wilhelm Klutentreter: Karl d'Ester und die Zeitungswissenschaft. Zu seinem 100. Geburtstag am 11. Dezember 1981. In: Publizistik 26 (1981), S. 565—574 attestieren Hans Bohrmann und Arnulf Kutsch (Karl d'Ester. [1881—1961]. Anmerkungen aus Anlaß seines 100. Gebunstags. In: Publizistik 26 [1981], S. 575—603) ihm einen „Mangel an Urteilsvermögen, sowohl hinsichtlich seiner personellen Entscheidungen als auch bei politischen Einschätzungen. Es erübrigt sich, [...] die keinesfalls wenigen Sympathiebezeugungen für das NS-Regime aufzuzählen, die d'Ester seit 1933 formuliert[e]a (ebd., S. 587). Aus Anlaß einer zehnmonatigen Dienstenthebung auf Anweisung der amerikanischen Militärregierung habe d'Ester, der sich „über die Konsequenz seiner kleineren und größeren Kompromisse in den Jahren seit 1933 nie im klaren gewesen" sei, versucht, sich „mit zwei fragwürdigen Rechtfertigungsschriften aus dem Jahr 1947 [...] in den Kreis der inneren Resistance gegen das NS-Regime einzuordnen" (ebd.). 87 Das veränderte Erkenntnisinteresse korrespondierte nicht zuletzt mit der Entwicklung einer sich bis dahin weitgehend der Hermeneutik verpflichtet fühlenden Geisteswissenschaft zu einer kritischen — empirisch orientierten — historischen Sozialwissenschaft, die ihren Niederschlag auch auf dem Deutschen Historikertag 1972 und in einer Fülle theoretischer Abhandlungen fand. Hier sei nur auf drei innerhalb weniger Jahre erschienene Publikationen verwiesen: Hans-Ulrich Wehler: Geschichte als Historische Sozialwissenschaft. Frankfurt am Main 1973; Winfried Schulze: Soziologie und Geschichtswissenschaft. Einführung in die Probleme der Kooperation beider Wissenschaften. München 1974 sowie Reinhard Rürup (Hg.): Historische Sozialwissenschaft. Beiträge zur Einführung in die Forschungspraxis. Göttingen 1977.

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Einleitung

gen Republik und Demokratie mit welchen Argumenten verteidigten und wie sich die Presse gegenüber dem Rechtsradikalismus, dem aufkommenden Nationalsozialismus und Antisemitismus verhielt; dasselbe gilt für die Frage, mit welchen Parolen und Argumenten die republikfeindlichen Kräfte nach 1918 für sich warben und gegen Republik und Demokratie agitierten. Da eine stichprobenartige Überprüfung von drei Zeitungen im Vorfeld der vorliegenden Ausarbeitung ergab, daß sich die Berichterstattung dieser Blätter unmittelbar nach dem 30. Januar 1933 hinsichtlich ihrer politischen Weltauffassung nicht signifikant veränderte88, sondern daß für weite Teile der deutschen Presse auch vor der „Machtergreifung" ein antidemokratischer und antirepublikanischer Grundton, angereichert mit antijüdischen Ressentiments, charakteristisch war, scheint die Begrenzung der Untersuchung auf die Zeit von 1918 bis 1923 auch unter diesem Gesichtspunkt sinnvoll89: Die vergleichende Analyse von Zeitungen unterschiedlichster politischer Richtungen gibt Aufschluß über das öffentliche Meinungsklima und erlaubt Rückschlüsse auf grundlegende Einstellungen der Bevölkerung90.

88

Der von Goebbels herausgegebene Angriff, der aus dem Hugenberg-Konzern stammende Berliner Lokal-Anzeiger sowie die zur Provinzpresse zählende Nordfriesische Rundschau wurden zu dieser Stichprobe herangezogen. Untersucht wurden vom Angriff und vom Lokal-Anzeiger alle Ausgaben in der Woche vor und nach dem 30. Januar zwischen 1930 und 1939, von der Nordfriesischen Rundschau wurde jeweils eine Woche der Jahre 1918 bis 1935 durchgesehen. Daß trotz der bei dieser Stichprobe festgestellten Kontinuitäten der 30. Januar 1933 für viele Zeitungen einen gravierenden Einschnitt markierte, von den Verboten der kommunistischen und sozialdemokratischen Presse ganz zu schweigen, ist bekannt. 89 Die ursprünglich geplante Analyse der deutschen Tagespresse zwischen 1918 und 1933 (bzw. 1939) scheiterte nicht nur an der Fülle des zu bewältigenden Materials, sondern mehr noch an der Tatsache, daß für die aus pressehistorischen Inhaltsanalysen abzuleitenden Ergebnisse längere Zitate unabdingbar sind, wünschenswerte Vergleichsstudien fehlen und kurze Verweise auf andere Vorarbeiten kaum möglich sind. Auch die Einbeziehung der internationalen Presse scheiterte aus arbeitsökonomischen Gründen. 90 Daß die Einstellung der Bevölkerung auch für die Geschichtsschreibung ein gewichtiger Faktor ist, betonte Ludwig Dehio bereits 1952: „Längst empfinden wir es ja als dringende Aufgabe, nicht nur die einzelnen Handlungen der Regierenden aus bändereichen Aktenveröffentlichungen aufzuklären, sondern auch die Haltung der Regierten zu erfassen ...: wer will die Bewegungen eines Schiffes begreifen, ohne Wind und Wellen in Rechnung zu stellen!" (Ludwig Dehio: Gedanken über die deut-

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3. Die Auswahl politisch repräsentativer Zeitungen Um das gesamte Spektrum der politischen Öffentlichkeit möglichst repräsentativ zu erfassen, ist von entscheidender Bedeutung, welche Zeitungen zur Analyse herangezogen werden. Wollte man aus den rund 4.000 Tages- und Wochenzeitungen, die während der Weimarer Republik erschienen91, eine nach allen wichtigen Kriterien kommunikationswissenschaftlicher Forschung repräsentative Stichprobe ermitteln, müßte man z.B. nicht nur die politische Richtung aller deutschen Zeitungen systematisch erfassen, sondern jede Veränderung ihrer politischen Tendenz wäre ebenso zu berücksichtigen wie mögliche Schwankungen der Auflagenhöhe92. Des weiteren wäre die regionale Verteilung der Zeitungen zu beachten, und auch ethnographische und konfessionelle Faktoren wären für die Bildung eines repräsentativen „Samples" von erheblicher Bedeutung. Aber selbst wenn theoretisch ein für die deutsche Presselandschaft der Weimarer Republik repräsentatives „Sample" gebildet werden könnte, bliebe immer noch das Problem, daß nur von den wenigsten Zeitungen komplette Sammlungen erhalten sind93. Angesichts dieser Problemlage gilt es, pragmatische Kriterien für die Auswahl des Untersuchungssamples zu finden. Da es der vorliegenden Studie um die politischen Strömungen der deutschen Öffentlichkeit geht und nicht um eine repräsentative Erhebung der deutschen Presse, bei der z.B. die Auflagenhöhe viel stärker gewichtet werden müßte, sollen die Tageszeitungen analysiert werden, die das politische Spektrum

sehe Sendung 1900—1918. In: Deutschland und die Weltpolitik im 20. Jahrhundert. München 1955, S. 71—106 [hier S. 74f.]). " Oron J. Haie: Presse in der Zwangsjacke 1933—1945. Düsseldorf 1965, S. 11. 92 Zum generellen Problem, aus einer Vielzahl von Zeitungen ein „Sample" zu bilden, das dem Anspruch einer „Repräsentativerhebung" gerecht wird, vgl. Manfred Knoche/Thomas Krüger: Presse im Druckerstreik. Eine Analyse der Berichterstattung zum Tarifkonflikt 1976. Berlin 1978, S. 52ff. 93 Nach Knoche/Krüger (ebd., S. 53) ist selbst eine repräsentative Stichprobe der rund 120 publizistischen Einheiten der (alten) Bundesrepublik und West-Berlins so gut wie unmöglich. Das vom Institut für Publizistik an der Universität Mainz erarbeitete „Sample" der westdeutschen Tageszeitungen umfaßt nicht weniger als 64 Titel (vgl. Werner Früh: Inhalts analyse. München 1981, S. 131).

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möglichst flächendeckend repräsentieren94: Der Völkische Beobachter war schon vor seiner Übernahme durch die NSDAP im Dezember 1920 als völkisch-antisemitisches Blatt bekannt und gibt Auskunft über Ziele und Propaganda von Völkischen und Nationalsozialisten. Die Münchner Neuesten Nachrichten waren 1918/19 zunächst liberal-demokratisch eingestellt, vertraten aber seit 1920 immer stärker national-liberale Positionen95. Der Berliner Lokal-Anzeiger läßt sich als DNVP-Blatt charakterisieren, das die politischen Interessen des Hugenberg-Konzerns propagierte und gleichzeitig publizistischer Meinungsführer der rechtsgerichteten Lokal- und Heimatblätter Norddeutschlands war. Mit der Berliner Zeitung am Mittag ist ein Boulevardblatt ausgewählt worden, das die politischen Grundauffassungen des liberalen Ullstein-Verlags vertrat. Die Germania war offiziöses Organ des Zentrums und in der Frühphase der Republik „opinion-leader" für weite Teile der katholischen Presse. Die der DDP nahestehende und journalistisch außerordentlich einflußreiche Frankfurter Zeitung deckt das linksliberale Spektrum der Weimarer Republik ab. Der Vorwärts gibt als Zentralorgan der SPD Auskunft über die Positionen der nach dem November 1918 zunächst wichtigsten Regierungspartei. Die Rote Fahne war Zentralorgan der KPD und erlaubt zugleich Einblicke in den Konflikt zwischen der kommunistischen Bewegung und den „Regierungssozialisten"96. Diese acht Zeitungen decken das parteipolitische Spektrum weitgehend ab und sollen in der vorliegenden Studie als „rekonstruierte Öffentlichkeit" der frühen Weimarer Republik verstanden werden, obwohl sie für die deutsche Presselandschaft nur bedingt repräsentativ sind97: Nach den

94

Die Beschränkung auf Tageszeitungen soll die Vergleichbarkeit der Berichterstattung gewährleisten; der Vorläufer des Völkischen Beobachters, der Münchener Beobachter, und die Rote Fahne erschienen zunächst nicht als Tageszeitung. 95 Diese Wende von liberalen Einstellungen zu „nationalen Anschauungen" ist charakteristisch für die deutsche Presse nach 1918. 96 Lag die Gesamtauflage aller deutschen Tageszeitungen während der Weimarer Republik zwischen 16 und 20 Millionen Exemplaren (Frei: Eroberung der Provinzpresse, S. 18), so betrug die Gesamtauflage der für diese Studie ausgewählten Zeitungen 1923 knapp 1,2 Millionen Exemplare. 97 Gegen jedes „Sample", das den Anspruch erhebt, repräsentativ zu sein, läßt sich eine Fülle von Einwänden vorbringen. So hätte z.B. mit der Analyse der Deutschen Tageszeitung oder der Täglichen Rundschau ein weiteres völkisch-nationalistisches Blatt berücksichtigt werden können, das im rechtsgerichteten Bürgertum eine meinungsprägende Rolle spielte. Anhand der Badischen Staatszeitung hätte sich der süd-

Methodische Voraussetzungen

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Ergebnissen einer Befragung von 3.689 Zeitungen hatten 1919/1920 fast 83 Prozent aller deutschen Tageszeitungen eine Auflage von weniger als 10.000 Exemplaren, und nur 2,1 Prozent aller deutschen Zeitungen brachten täglich mehr als 50.000 Exemplare auf den Markt98. Die „Großstadtpresse mit Weltgeltung", zu der alle in dieser Studie untersuchten Zeitungen mit den gebotenen Einschränkungen zählen, wurde in Deutschland von „nur etwa 6 Millionen" Menschen gelesen". Bei der Auswertung der vorliegenden Untersuchung wird also zu berücksichtigen sein, daß die „Großstadtpresse" überrepräsentiert ist und daß insbesondere die kleinen Lokal- und Heimatblätter zur politischen Meinungsbildung weiter Bevölkerungskreise maßgeblich beitrugen100: Die Leser der Heimatpresse hatten in aller Regel keine weiteren Zeitungen abonniert und bezogen ihre Informationen fast ausschließlich aus Blättern, deren Verleger und Redakteure sie häufig persönlich kannten und denen sie große Glaubwürdigkeit entgegenbrachten101. Ein erheblicher

deutsche Liberalismus besser nachzeichnen lassen, und durch die Aufnahme der Kölnischen Volkszeitung in das Untersuchungssample wäre auch der rheinische Separatismus stärker berücksichtigt worden. Außerdem hätte die Analyse der Freiheit die Politik der Unabhängigen stärker akzentuiert. Und schließlich hätte die zusätzliche Analyse der Jüdischen Rundschau oder der CV-Zeitung nicht nur weitergehenden Aufschluß über die Einstellung der nach 1918 vom virulenten Antisemitismus bedrohten Bevölkerungsgruppe geben können, sondern auch dazu beigetragen, die Geschichte nicht immer „aus dem Blickwinkel der Verfolger" zu betrachten (vgl. Monika Richarz [Hg.]: Jüdisches Leben in Deutschland. Selbstzeugnisse zur Sozialgeschichte 1918-1945. Stuttgart 1982, S. 7). 98 Handbuch der Weltpresse 1931, S. 137. 99 Walter Kaupert: Die deutsche Tagespresse als Politicum. (Diss. phil. Heidelberg) Freudenstadt 1932, S. 239. 100 yor diesem Hintergrund kritisierte Fromme: Zwischen Anpassung und Bewahrung, S. 11 f., daß Sösemann (Das Ende der Weimarer Republik) „von der Untersuchung der Provinzpresse mit der Begründung Abstand genommen [... habe], daß über den Untersuchungsrahmen der hauptstädtischen liberal-demokratischen Zeitungspublikationen hinaus keine weiteren Erkenntnisse gewonnen werden könnten". 101 Zur Bedeutung der regionalen Presse vgl. Hugo Buschmann: Die deutsche Lokalpresse. (Diss. phil. Leipzig) Bielefeld 1922. Nach Manfred Rietschel: Der Familienbesitz in der deutschen politischen Tagespresse. Diss. phil. Leipzig 1928, S. 2ff. befand sich die Lokalpresse weitgehend im Besitz von Familien: 1926 waren fast 2.500 Zeitungen oder rund 76 Prozent aller deutschen Tageszeitungen in Familienbesitz. Zum Einfluß dieser Lokalblätter auf die politische Meinungsbildung meint W. Mommsen, er sei „meist größer als der der großen Zeitungen" (Zeitung als histori-

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Teil dieser Heimat- und Provinzpresse erhielt seine Meldungen ausschließlich über die rechtsgerichtete Telegraphen-Union102 und erstellte seine Titelseiten mit Matern aus dem Hugenberg-Konzern103. Da die politische Haltung dieser Blätter jedoch weitgehend der des Berliner LokalAnzeigers entsprach, sind sie in dem dieser Studie zugrundegelegten „Sample" indirekt enthalten.

sehe Quelle, S. 167); ähnlich äußert sich auch Wilhelm Carle: Weltanschauung und Presse. Eine Untersuchung an zehn Tages-Zeitungen. Als Beitrag zu einer künftigen Soziologie der Presse. Diss. phil. Frankfurt am Main 1931, S. 61. 102 Die zum Hugenberg-Konzern gehörende Telegraphen-Union und deren Tochtergesellschaften belieferten gegen Ende der Weimarer Republik „etwa die Hälfte aller deutschen Zeitungen mit tendenziösem Nachrichtenmaterial" (Norbert Frei/Johannes Schmitz: Journalismus im Dritten Reich. München 1989, S. 55). 103 Nach Groth: Die Zeitung. Bd. l, S. 472, nach Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945, S. 229 und nach Heidrun Holzbach: Das „System Hugenberg". Die Organisation bürgerlicher Sammlungspolitik vor dem Aufstieg der NSDAP. Stuttgart 1981, S. 278 hatten rund 300 Zeitungen den von der (Hugenbergschen) Wirtschaftsstelle der Provinzpresse (Wipro) erstellten Materndienst abonniert. Nach Carle: Weltanschauung und Presse, S. 158, Anm. 305 erhielten um 1930 etwa 1.600 Zeitungen Matern von der Wipro.

Ill Zur Durchführung der Untersuchung Die Publizistik- und Kommunikationswissenschaft hat eine Vielzahl methodischer Verfahren zur Analyse manifester Texte und nicht-manifester Kommunikationsinhalte entwickelt104. Gemeinsam ist diesen Verfahren, daß sie „unter einer bestimmten forschungsleitenden Perspektive Komplexität zu reduzieren" suchen. Der mit dieser Reduktion von (historischer) Komplexität einhergehende Informationsverlust wird nicht als Mangel empfunden, sondern soll „größere strukturelle Zusammenhänge erkennen" lassen und „Vergleiche auf eine systematische Grundlage" stellen105. Voraussetzung dieser Form von Inhaltsanalysen ist u.a. die strikte Untergliederung von Texten nach einem festgelegten Kategorienschema. Die so ermittelten Textmerkmale werden in aller Regel „quantifiziert", um Aufschluß über ihre Häufigkeit und die Struktur der Texte zu erhalten. Aus einer übergeordneten Kommunikationstheorie werden anschließend Aussagen über die mögliche Wirkung des analysierten Inhalts abgeleitet106. Dieser „Fliegenbeinzählerei" der empirischen Kommunikationswissenschaft warf insbesondere Siegfried Kracauer vor, sie messe zwar häufig auftretende, aber auch irrelevante Aspekte von Texten, vernachlässige qualitativ wichtigere Gesichtspunkte und werde dem „Ganzheitscharakter von Mitteilungen" nicht gerecht, da sie einzelne Informationselemente aus ihrem spezifischen Kontext löse107. Unbeschadet dieser Kontroverse zwischen den Verfechtern einer vorrangig „quantitativ" und einer stärker „qualitativ" (hermeneu-

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Klaus Merten: Inhaltsanalyse. Einführung in Theorie, Methode und Praxis. Opladen 1983 stellt nicht weniger als 35 inhaltsanalytische Verfahren vor (vgl. ebd., S. 12 sowie S. 115ff.). 105 Früh: Inhaltsanalyse, S. 41f. 104 Vgl. ebd., S. 48f. 107 Vgl. Siegfried Kracauer: Für eine qualitative Inhaltsanalyse. In: Ästhetik und Kommunikation. Heft 7 (1972), S. 53—58.

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tisch) ausgerichteten Inhaltsanalyse108 scheint eine „quantitative" Analyse für die vorliegende Studie kaum praktikabel: Im Zuge einer zweiwöchigen Probe-Codierung von rund 100 Zeitungsartikeln nach einem zuvor festgelegten Kategorienschema109 stellte sich heraus, daß die für eine „quantitative" Analyse notwendige Reduktion historischer Komplexität zu einer kaum vertretbaren Nivellierung von Facetten und Nuancierungen der einzelnen Zeitungsbeiträge führt110. Da aber gerade das Herausarbeiten von Nuancierungen und Facetten, von Unterschieden und Gemeinsamkeiten der acht ausgewählten Zeitungen Ziel der vorliegenden Studie ist111, lehnt sich die Textanalyse in den folgenden Kapiteln an die Prinzipien einer hermeneutischen Quellenanalyse an,

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In der Kommunikationswissenschaft; besteht eigentlich Konsens, daß es sich hierbei eher um eine „Scheinkontroverse" handelt, da qualitative und quantitative Forschungsansätze lediglich methodisch andere Akzente setzen (vgl. etwa Früh: Inhaltsanalyse, S. 36). 109 Mit dem zugrunde gelegten Kategorienschema ließen sich die Aussagen der Zeitungen zum Thema „Judentum/Antisemitismus" in knapp 130 Aspekte untergliedern. 110 Diese für eine Inhaltsanalyse durchaus übliche Erkenntnis wäre im Rahmen einer „klassischen" Inhaltsanalyse Voraussetzung für die weitere Verfeinerung des Kategoriensystems (vgl. Früh: Inhaltsanalyse, S. 135ff.). Aber schon eine grobe Aufwand/Nutzen-Kalkulation macht deutlich, daß es im Zuge der vorliegenden Untersuchung praktisch unmöglich ist, die theoretisch unendliche Zahl der zur vollständigen Erfassung historischer Realität erforderlichen Kategorien auf eine operationable Größenordnung zu reduzieren, die noch Raum für differenzierende Beobachtung läßt und es den (außenstehenden) Codierern ermöglicht, jede Aussage mit der für eine „quantitative" Analyse erforderlichen Eindeutigkeit bestimmten Kategorien zuzuordnen. — Die bei Hannot: Die Judenfrage in der katholischen Tagespresse, S. 307 abgedruckten Kategorienblätter enthalten lediglich die für eine „quantitative" Inhaltsanalyse unbedingt erforderlichen Kategorien. Im übrigen hat Hannot nur einen Teil seines Untersuchungsmaterials „quantitativ" analysiert und die zahlreichen Begründungen, mit denen er den Einsatz dieses Verfahrens rechtfertigt, signalisieren deutliche Skepsis gegenüber dem quantitativen Instrumentarium (vgl. ebd., S. 12f., 22, 86ff., 258, 281f.). Offen bleibt, wie Hannots Plädoyers für quantitative Verfahren mit seiner Kritik an „einigen Arbeiten" in Einklang zu bringen ist, denen er vorwirft, es wäre „sinnvoller gewesen", wenn sie „auf systematisierende Denkschemata und das Aufzeigen von Kontinuitätslinien verzichtet [hätten] zugunsten der Darstellung einer widerspruchsvollen Faktenvielfalt" (S. 63). 111 Hierfür sind längere Zitate unumgänglich.

Zur Durchführung der Untersuchung

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ohne jedoch die Einbindung dieser Teilergebnisse in ein gesamtgesellschaftliches Bezugssystem aus den Augen zu verlieren112. Vor Beginn der Inhaltsanalyse muß aber geklärt werden, auf welche Textelemente einer Zeitung sich eine Untersuchung zu stützen hat, die den Anspruch erhebt, valide Aussagen zur politischen Einstellung einzelner Zeitungen und zum öffentlichen Meinungsklima insgesamt zu machen. Von der Möglichkeit ausgehend, daß z.B. in den Leitartikeln einer beliebigen Zeitung prinzipiell eine andere politische Auffassung vertreten sein könnte als im Lokalteil, würde eine ausschließliche Berücksichtigung der Leitartikel zu ebenso falschen Ergebnissen führen wie eine Beschränkung auf den Lokalteil113. Aus diesem Grunde empfiehlt sich eine „Volltextanalyse", d.h., jede Zeitung wird von der ersten bis zur letzten Zeile — über alle journalistischen Ressortgrenzen hinweg — nach manifesten und nicht-manifesten Aussagen abgefragt, die in einer Beziehung zur Fragestellung dieser Arbeit stehen. Da aber eine „Volltextanalyse" aller Ausgaben von acht Zeitungen zwischen 1918 und 1923 weder machbar noch sinnvoll scheint114, muß eine sinnvolle Einschränkung des zu analysierenden Materials gefunden werden. Um die Anzahl der Zeitungsausgaben zu reduzieren, gibt es mehrere Mög-

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Zum Problem der „kritischefn] Aneignung und Umformung des methodischen Instrumentariums benachbarter Sozialwissenschaften für die Bedürfnisse des Historikers" vgl. Rürup: Historische Sozialwissenschaft, S. 9. 113 Die Untersuchung hat diese Annahme bestätigt. So setzt sich kaum ein Leitartikel mit Antisemitismus auseinander, während sich im Lokalteil aller Zeitungen dazu zahlreiche Hinweise finden. 114 Geht man davon aus, daß die zu analysierenden Zeitungen im Durchschnitt zweimal täglich erschienen (die Frankfurter Zeitung erschien dreimal täglich, die BZ einmal täglich und der Völkische bzw. Münchener Beobachter zunächst zweimal wöchentlich, später einmal täglich), dann wären 8 Zeitungen mit 2 Ausgaben an 365 Tagen in 6 Jahren zu analysieren; das entspräche einer Gesamtzahl von rund 35.000 Ausgaben. Bei einem Umfang von durchschnittlich nur 6 angenommenen Seiten beliefe sich das auf insgesamt rund 210.000 Zeitungsseiten. Veranschlagt man nur drei Minuten für das „Diagonal-Lesen" einer Seite, so beliefe sich die reine Lesezeit allein für die Vorauswahl der zu analysierenden Beiträge auf rund 10.500 Stunden oder 263 Arbeitswochen; bei 47 Arbeitswochen pro Jahr wären das etwas mehr als fünf Jahre und sechs Monate für die Vorauswahl. — Wenn Hannot (Die Judenfrage in der katholischen Tagespresse) 20 Zeitungen über zehn Jahre einer Volltextanalyse unterziehen konnte, ist das eine bemerkenswerte Leistung.

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lichkeiten: Man könnte z.B. jede x-te Ausgabe analysieren, könnte eine festgelegte Anzahl von Ausgaben nach dem Zufallsprinzip ermitteln oder — eher inhaltlich begründete Kriterien heranziehend — die Ausgaben Ende Dezember/Anfang Januar mit den Jahresrückblicken und den Ausblicken auf das neue Jahr untersuchen. Da jedoch Jahresrückschauen häufig nur die „großen" Linien politischer Entwicklungen reflektieren und die „kleinen" Ereignisse, die konkreten Sorgen des Alltags aussparen, wurde für die vorliegende Studie ein anderes Verfahren gewählt: Ein historisch bedeutsames Ereignis soll Jahr für Jahr den Kern einer „Erhebungsphase" bilden. Innerhalb jeder „Erhebungsphase" werden alle Ausgaben in der Woche vor und in der Woche nach dem jeweiligen Ereignis untersucht. Dieses Verfahren ermöglicht eine Analyse der „normalen" Berichterstattung und gibt — vor allem bei unvorhergesehenen Ereignissen — gleichzeitig Aufschluß, wie sich das Ereignis auf die Berichterstattung der jeweiligen Zeitung auswirkte. Als „Stichtage" der jährlichen „Erhebungsphasen" werden folgende Ereignisse gewählt115: 11. November 1918: 28. Juni 1919: 13. März 1920: 26. August 1921: 24. Juni 1922: 9. November 1923:

Unterzeichnung des Waffenstillstands Unterzeichnung des Versailler Vertragswerks „Kapp-Lüttwitz-Putsch" Ermordung von Matthias Erzberger Ermordung von Walther Rathenau „Hitler-Putsch"116

Jede „Erhebungsphase" bildet ein eigenes Kapitel, das mit einer kurzen „Lesehilfe" eingeleitet wird, um die Aussagen der Zeitungen besser in

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Methodisch ähnlich aufgebaut ist die Untersuchung von Karl-Ludwig Günsche: Phasen der Gleichschaltung. Stichtags-Analysen deutscher Zeitungen 1933—1938. Osnabrück 1970. Im Gegensatz zur vorliegenden Arbeit untersucht Günsche vor allem Zeitungen aus Köln, wobei er aber nur die Ausgaben des jeweiligen „Stichtags" berücksichtigt und sich auf den Kommentar konzentriert. 116 Die Anführungszeichen beim „Kapp-Lüttwitz-Putsch" und beim „Hitler-Putsch" signalisieren, daß diese landläufigen Bezeichnungen in der vorliegenden Arbeit nicht auf uneingeschränkte Zustimmung stoßen. Näheres dazu in den jeweiligen Kapiteln sowie in der abschließenden Zusammenfassung.

Zur Durchführung der Untersuchung

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den historischen Kontext einordnen zu können. Standardmäßig werden die Zeitungen befragt, — wie sie sich zu dem Ereignis verhielten, — wie sie zu Republik und Demokratie standen, — wie sie gegenüber Judentum und Antisemitismus eingestellt waren117, wobei die Frage nach dem Standpunkt zu Republik und Demokratie die Frage nach der Haltung gegenüber antirepublikanischen und antidemokratischen Kräften impliziert. Zur Erlangung zusätzlicher Informationen über Strömungen und Stimmungen der öffentlichen Diskussion wird außerdem geprüft, ob einzelne Zeitungen über bestimmte Themen auffallend häufig berichteten oder einzelne Aspekte besonders stark betonten. Wie bei jeder anderen quellenkritischen Interpretation auch, wird man bei der Analyse von Kommunikationsinhalten jedoch nicht davon ausgehen können, daß der Adressat einer Information, einer „message", diese immer so rezipiert hat, wie der Autor, der „Sender", es intendierte. Während die Demoskopie, die nach Einstellungen und möglichen Verhaltensweisen fragt, inzwischen über ein sich stets verfeinerndes Instrumentarium verfügt, fällt es der Wirkungsforschung noch immer schwer, valide Aussagen über die Rezeption von Massenkommunikationsmitteln zu machen, da jeder Rezipient alle Aussagen „filtert", sie in Bezug setzt zu seinem jeweils individuellen Erfahrungshintergrund. Deshalb ist bei jeder Inhaltsanalyse immer wieder zu fragen, wie der Leser die Informationen der Zeitungen vor dem Hintergrund seiner Sozialisation und seines Wertesystems rezipiert haben könnte. Um die vorliegende Studie nicht mit redundanten Aussagen zu überfrachten, sollen alle wichtigen, sich in verschiedenen Zeitungen wiederholenden Informationen nach Möglichkeit nur einmal zitiert und im Kontext mit der Zeitung diskutiert werden, für die sie die größte Relevanz hatten. Da die Ergiebigkeit der Interpretation von Aussagen in dem Maße steigt, in dem der „Kommunikator", das politische und ver-

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„Unabhängig von den jeweiligen Ursachen, Formen und Funktionen" wird in dieser Arbeit unter „Antisemitismus" jegliche Form von Judenfeindschaft verstanden (vgl. Reinhard Rürup: Zur Entwicklung der modernen Antisemitismusforschung. In: Emanzipation und Antisemitismus. Studien zur „Judenfrage" der bürgerlichen Gesellschaft. Göttingen 1975, S. 115—125 [hier S. 115]).

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lagsmäßige Umfeld der Zeitungen, bekannt ist, wird eine kurze Skizzierung der untersuchten Zeitungen der eigentlichen Inhaltsanalyse vorangestellt118.

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In der vorliegenden Studie werden die einzelnen Zeitungen als „organische Einheit" verstanden, denn es spielt für die Fragestellung dieser Untersuchung keine entscheidende Rolle, von welchem Redaktionsmitglied ein Beitrag stammte.

IV

Die untersuchten Zeitungen, ihre Auflagenhöhe und Leserschaft /. Der Völkische Beobachter Das spätere Zentralorgan der NSDAP wurde 1887 als Münchener Beobachter vom Druckereibesitzer Johann Naderer gegründet119. Dreizehn Jahre später erwarb der Österreicher Franz Eher das wöchentlich erscheinende Lokalblatt und blieb bis zu seinem Tod 1918 Herausgeber der Zeitung, die zu diesem Zeitpunkt nur noch wenige Abonnenten hatte und fast ausschließlich im Straßenhandel vertrieben wurde120. Im Juli/August 1918 gelangte das Blatt in den Besitz von Rudolf Freiherr von Sebottendorf, der wenige Monate zuvor die bayerische Ordensprovinz des Germanenordens (Thule-Gesellschaft) gegründet hatte121. Wäh-

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Zur Geschichte des Münchener Beobachters vgl. Adolf Dresler: Der Münchener Beobachter 1887—1918. Würzburg-Aumühle 1940. Zum Völkischen Beobachter vgl. vor allem Sonja Noller: Die Geschichte des Völkischen Beobachters von 1920—1923. Diss. phil. München 1956 sowie Margarete Plewnia: Völkischer Beobachter (1887—1945). In: Deutsche Zeitungen, S. 381—390 und Heinz Hünger: Aus der Geschichte des „Völkischen Beobachters". Vom Vorstadtwochenblatt zur führenden Tageszeitung Deutschlands. In: Deutsche Presse 24 (5. Mai 1934), S. 3—6. 120 Ebd., S. 3. Detaillierte Angaben zu den Eigentumsverhältnissen des Münchener Beobachters liefert Paul Hoser: Die politischen, wirtschaftlichen und sozialen Hintergründe der Münchner Tagespresse zwischen 1914 und 1934. Methoden der Pressebeeinflussung. Frankfurt am Main 1990. Teil l, S. 120ff. — Es dürfte sich um einen Schreibfehler handeln, wenn Hoser (ebd., S. 120) den Übergang des Blattes in den Besitz von Franz Eher auf 1909 (statt 1900) datiert. 121 Werner Maser: Die Frühgeschichte der NSDAP. Frankfurt am Main 1965, S. 146. Nach Hans Volz: Daten der Geschichte der NSDAP. Berlin, Leipzig n!943, S. 7 erwarb Sebottendorf das Blatt am 15. August 1918; der aus Hoyerswerda stammende Sebottendorf war „eine schillernde Persönlichkeit und offenbar ein Abenteurer von internationalem Zuschnitt" (Hans Fenske: Konservativismus und Rechtsradikalismus in Bayern nach 1918. Bad Homburg 1969, S. 53). Aus der Thule-Gesellschaft, dem er-

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rend der folgenden zwei Jahre, in denen das extrem antisemitische Blatt wegen zahlreicher Verleumdungs-Prozesse von sich reden machte, wurde es von der Thule-Gesellschaft herausgegeben und avancierte mit einer Auflage von etwa 11.000 Exemplaren zum wichtigsten Publikationsorgan völkischer Extremisten in München. Am 18. Dezember 1920 klärte das skandalumwitterte Blatt, das seit dem 9. August 1919 mit einem Teil seiner Auflage als Völkischer Beobachter erschien122, seine Leser über einen erneuten Besitzwechsel auf: „Die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei hat den 'Völkischen Beobachter' unter schwersten Opfern übernommen, um ihn zur rücksichtslosen Waffe für das Deutschtum auszubauen gegen jede feindliche undeutsche Bestrebung"123. Der Kauf des Blattes — und mit ihm des Eher-Verlags — erfolgte vermutlich auf Drängen des völkischen Publizisten Dietrich Eckart, der auch die Hälfte des Kaufpreises organisierte124. Da die laufenden Kosten für den Druck nicht allein aus

sten nachrevolutionären „Kristallisationspunkt der völkischen Bewegung in Bayern" (ebd., S. 54), ging u.a. das zur Bekämpfung der Räterepublik gegründete Freikorps Oberland hervor, das 1920 im Ruhrgebiet eingesetzt wurde und anschließend auch an der Erstürmung des Annabergs beteiligt war. 1922 wurde das Freikorps in Bund Oberland umbenannt; dieser Bund galt als einer der einflußreichsten bayerischen Kampfbünde. 122 Hoser: Münchner Tagespresse, S. 122. Seit dem 3. Januar 1920 erschien die gesamte Auflage als Völkischer Beobachter. 123 Völkischer Beobachter vom 18. Dezember 1920. 124 Vgl. Plewnia: Völkischer Beobachter, S. 38If. Neben dem Kaufpreis von 120.000 Papiermark übernahm die NSDAP zusätzlich alte Schulden des Blattes in fast doppelter Höhe. Die 60.000 Mark, die Dietrich Eckart zum Kauf beitrug, sind sehr wahrscheinlich identisch mit den 60.000 Mark, die er über General Ritter von Epp von der Reichswehr als „Darlehn von Person zu Person" erhielt (Sonja Noller: Der Völkische Beobachter. In: Facsimile. Querschnitt durch den Völkischen Beobachter. München 1967, S. 4—13 [hier S. 5]). Zu dieser von der SPD offengelegten Verbindung zwischen Reichswehr und Völkischen in Bayern vgl. auch Margarete Plewnia: Auf dem Weg zu Hitler. Der „völkische" Publizist Dietrich Eckart. Bremen 1970, S. 68. Eine wichtige Rolle beim Erwerb des Völkischen Beobachters spielte außerdem der Augsburger Industrielle Gottfried Grandel, der auch das Flugzeug besorgte, mit dem Eckart und Hitler im März 1920 nach Berlin flogen, um am Putsch von Lüttwitz und Kapp teilzunehmen (vgl. Albrecht Tyrell: Vom 'Trommler' zum 'Führer'. Der Wandel von Hitlers Selbstverständnis zwischen 1919 und 1924 und die Entwicklung der NSDAP. München 1975, S. 110). Zum Einfluß Eckarts auf Hitlers Weltanschauung vgl. Nolte: Der Faschismus in seiner Epoche, S. 403ff.

Die untersuchten Zeitungen

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den Verkaufserlösen gedeckt werden konnten, wurden die Beiträge der NSDAP-Mitglieder verdoppelt und kleinere Anteilscheine am Verlag an Parteigenossen verkauft125. Aufgrund der parteiinternen Machtkämpfe und zahlreicher Parteiaustritte sank die Auflage bis zur „Juli-Krise" 1921 rapide, stieg aber bei außenpolitischen Krisen und Zuspitzungen der Spannungen zwischen Bayern und dem Reich signifikant126. Unter Hitler als unumstrittenem Parteiführer stabilisierte sich die Auflagenhöhe zwar, konnte aber bis Mai 1922 nicht entscheidend gesteigert werden. Die finanziellen Probleme des Eher-Verlags127 besserten sich demgegenüber dank der resoluten Geschäftspolitik von Max Amann erheblich früher128. Neben den Journalisten „aus der alten völkischen Bewegung" gewann eine Gruppe „nicht fachlich vorgebildete[r] Leute aus dem engeren Kreis um Hitler" zunehmend Einfluß auf die Gestaltung der Zeitung, und im Frühjahr 1923 löste Alfred Rosenberg, der „vornehmlich für die rassentheoretischen Beiträge des Blattes" sorgte, den bisherigen Hauptschriftleiter Dietrich Eckart ab129. Da Hauptschriftleitung und

125

Vgl. Charles F. Sidmann: Die Auflagenkurve des Völkischen Beobachters und die Entwicklung des Nationalsozialismus Dezember 1920 — November 1923 (Dokumentation). In: VfZ 13 (1965), S. 112—118. Sidmann meint, die NSDAP habe bis 1940 kein eindeutiges Besitzrecht am Völkischen Beobachter gehabt, weil sie einen Teil der übernommenen Schulden nicht abgetragen habe. Auch die Besitzrechte der ehemaligen Gesellschafter (Thule-Gesellschaft) seien bis 1940 von der NSDAP nicht abgegolten worden (ebd., S. 113). Noller: Der Völkische Beobachter, S. 6 betont demgegenüber, daß ein registergerichtlicher Eintrag vom 16. November 1921 Hitler als alleinigen Gesellschafter aufführe. 126 Sidmann: Auflagenkurve, S. 115. 127 Gerüchte, denen zufolge die Einrichtung neuer Büroräume für den Völkischen Beobachter mit „Tschechenkronen" bezahlt worden sei, lösten in den völkischen Kreisen Münchens erhebliche Irritationen aus (vgl. Ernst Deuerlein: Der HitlerPutsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923. Stuttgart 1962, S. 62f.). 128 Beispiele für die „Sparpolitik" Amanns bei Noller: Der Völkische Beobachter, S. 9f. Die Konflikte zwischen dem „derben" Amann und dem „intellektuellen" Rosenberg waren offenes Geheimnis. Vgl. (Fritz Schmidt:) Presse in Fesseln. Eine Schilderung des NS-Pressetrusts. Berlin o.J. [1947], S. 9ff. (zur anonym veröffentlichten Darstellung von Schmidt ist unbedingt Haie: Presse in der Zwangsjacke, S. 332ff. heranzuziehen). Eine lebendige Schilderung des Konflikts Amann/Rosenberg findet sich auch bei Albert Krebs: Tendenzen und Gestalten der NSDAP. Erinnerungen an die Frühzeit der Partei. Stuttgart 1959, S. 179f. 129 Plewnia: Völkischer Beobachter, S. 384. Beim Erwerb des Blatts durch die NSDAP fungierte Hansjörg Maurer als Schriftleiter; im Dezember 1920 löste Hugo

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Parteileitung im selben Gebäude untergebracht waren, konnte Hitler, wie häufig kolportiert wird, problemlos in die Redaktionsarbeit eingreifen, „um auch die letzte Kleinigkeit auszumerzen, die etwa der Regierung einen Anlaß zum Verbot des 'Beobachters' geben könnte"130; von Hitler namentlich gezeichnete Artikel galten als „ein Werbemittel" für das Blatt131. Die Suggestivkraft und Polemik des NS-Organs wurde von keiner anderen Zeitung dieser Studie auch nur annähernd erreicht. Um seiner „nationalen Gesinnung" Ausdruck zu verleihen, erschien das Blatt bis 1941 in Fraktur-Schrift132. Als nach dem Putsch vom November 1923 NSDAP und Völkischer Beobachter verboten wurden, gaben Hermann Esser und Philipp Bouhler ersatzweise das Wochenblatt Der Nationalsozialist heraus, für dessen Finanzierung unter anderem Vorbestellungen für Hitlers „Mein Kampf" verkauft wurden133.

Auflagenhöhe und Leserschaft In Relation zur absoluten Höhe war die Auflage bis 1923 großen Schwankungen unterworfen: Lag sie nach Charles F. Sidmann im De-

Machhaus ihn ab. Mit Hermann Esser übernahm im Mai 1921 ein Parteimitglied diese Funktion. Für die umgehende Absetzung Essers, der im Zuge der „Juli-Krise" aus der NSDAP ausgeschlossen wurde, sorgte vermutlich Eckart: Schon „am 28. Juli ging die Leitung des Blattes, zunächst vertretungsweise, ab 12. August offiziell, an Eckart über" (Plewnia: Auf dem Weg zu Hitler, S. 83). 130 So Konrad Heiden: Adolf Hitler. Das Zeitalter der Verantwortungslosigkeit. Eine Biographie. Zürich 1936, S. 294. Nach Plewnia: Völkischer Beobachter, S. 388, Anm. 28 wurde das Parteiorgan der NSDAP zwischen 1921 und 1933 „18 Mal verboten und hatte einen Erscheinungsausfall von ungefähr 22 Monaten"; Noller: Der Völkische Beobachter, S. 10 spricht von 34 Verboten bis 1933. 131 Nach Plewnia: Völkischer Beobachter, S. 384 wurden bis 1922 Artikel mit dem Namen Hitlers gezeichnet; nach Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. 16 sowie S. 258 (Anm. 429) ist Hitlers Mitarbeit am Völkischen Beobachter aber „nur für die ersten Monate des Jahres 1921 nachweisbar", als neun mit seinem vollen Namen gezeichnete Beiträge erschienen. Von Ende April bis Anfang Juni 1921 wurden „dann rüde politische Kommentare und Glossen mit dem Signum A.H." veröffentlicht, die ebenfalls von Hitler stammen dürften. 132 Vgl. Plewnia: Völkischer Beobachter, S. 386f. Schon im November 1918 hatte sich der Münchener Beobachter für die Beibehaltung der Fraktur-Schrift stark gemacht; sie wurde 1941 offiziell abgeschafft. 133

Ebd., S. 385.

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zember 1920 bei etwa ll.OOO134, so wurden im Februar 1921 nicht mehr als 8.000 Exemplare gedruckt. Auf rund 17.000 stieg der Absatz im Dezember 1922, als sich die innenpolitische Situation mit den französischen Reparationsforderungen verschärfte und Mussolinis „Marsch auf Rom" für zusätzliche Nachfrage sorgte135. Seit dem 8. Februar 1923 erschien das bis dahin halbwöchentlich herausgegebene Blatt als Tageszeitung und erreichte kurz vor dem Novemberputsch mit ca. 25.000 Exemplaren einen vorläufigen Höhepunkt, der bis 1929 nicht überschritten wurde136. 2. Die Münchner Neuesten Nachrichten 1848 im „Geburtsjahr der politischen Presse"137 entstanden, blickten die Münchner Neuesten Nachrichten bei ihrer Einstellung am 28. April 1945 auf eine fast einhundert jährige Geschichte zurück138: „Als die politischen Wogen [der Märzrevolution] immer höher gingen, druckten ein paar Setzer der Wolfschen Druckerei das Flugblatt 'Das österreichische

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Der Münchener Beobachter behauptete am 31. Mai 1919, eine Auflage von 20.000 zu haben. Da die Angaben zur Auflage bei allen Zeitungen bis 1933 nur auf freiwilliger Basis erfolgten und kaum überprüfbar sind, soll in dieser Studie auf die Differenzierung zwischen gedruckter und verkaufter Auflage verzichtet werden. 135 Auf wirtschaftliche Probleme des Völkischen Beobachters wies eine von Hitler am 22. Oktober 1922 verfaßte „Denkschrift über den Ausbau der NSDAP" hin: Bei einer Auflage von 12.000 bis 15.000 Exemplaren sei für die Umstellung auf tägliches Erscheinen ein zu großer Kapitalaufwand erforderlich, der bei der „wirtschaftlichen Entwicklung [...] nicht rentabel" schien. Selbst das „Durchhalten der Zeitung" hielt Hitler nur dann für möglich, „wenn es gelingt, ihre Auflagenzahl auf einer Höhe von mindestens 25—30.000 Exemplaren zu erhalten" (zitiert nach Albrecht Tyrell [Hg.]: Führer befiehl... Selbstzeugnisse aus der 'Kampfzeit' der NSDAP. Dokumentation und Analyse. Düsseldorf 1969. Dok. 14, S. 47—55 [hier S. 54]). us Ygj djg Grafik bei Sidmann: Auflagenkurve, S. 116 f. sowie Plewnia: Völkischer Beobachter, S. 385. Haie: Presse in der Zwangsjacke, S. 39 gibt für den November 1923 eine Auflage von 30.000 an. 137 Schottenloher: Flugblatt und Zeitung, S. 380. 138 Zur Geschichte des Blattes vgl. Kurt A. Holz: Münchner Neueste Nachrichten (1848—1945). In: Deutsche Zeitungen, S. 191—207; für die Zeit nach 1914 bringt Hoser: Münchner Tagespresse. Teil l, S. 61f. sowie S. 79ff. zahlreiche Informationen.

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Vaterunser' nach und ließen es in den Wirtschaften verkaufen"139. Da das Blatt einen reißenden Absatz fand, lag der Gedanke nahe, „allabendlich ein solches aktuelles Flugblatt" zu drucken, das — durch Artikel aus anderen Zeitungen ergänzt — auch zum Postversand angemeldet wurde und seit dem 9. April 1848 unter dem Titel Neueste Nachrichten aus dem Gebiete der Politik erschien140. 1862 gingen die Neuesten Nachrichten^ die bis dahin den Typ einer unpolitischen Nachrichten- und Unterhaltungszeitung verkörperten, in den Besitz des Verlegers Julius Knorr über, der das Blatt „zur führenden Zeitung Süddeutschlands" ausbaute141. 1875 führte das Blatt als erste Zeitung „endloses Papier und eine Rotationsmaschine größten Formats ein, die dann in den 80er Jahren Eingang auch bei anderen größeren Unternehmen fand"142. Im Zuge einer spürbaren Verbilligung ihrer Gestehungskosten aufgrund gesunkener Papierpreise und des Einsatzes moderner Technik konnten die Münchner Neuesten Nachrichten ihre Auflage bis 1899 kontinuierlich auf 93.000 Exemplare steigern143. Während der Verkaufserlös etwa ein Drittel der Betriebsausgaben einbrachte, wurden die restlichen Kosten durch Inserate abgedeckt144. Wie viele andere Zeitungen auch, so wurden die bis 1918 „treu zur Monarchie"145 stehenden Münchner Neuesten Nachrichten im November 1918 von „Beauftragten des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrates" be-

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Schottenloher: Flugblatt und Zeitung, S. 38If. Vgl. auch Ludwig Salomon: Geschichte des deutschen Zeitungswesens von den Anfängen bis zur Wiederaufrichtung des Deutschen Reiches. Oldenburg 1906. Bd. 3, S. 619ff. 140 Heinz Starkulla: Zur Geschichte der Presse in Bayern. Ein flüchtiges Kapitel weiß-blauer Pressekunde. In: ZV und ZV Nr. 18/19 (1. Juli 1961), S. 784-807 (hier S. 796). 141 Ebd. Den Namen JMünchner Neueste Nachrichten" erhielt das Blatt erst am 14. Juni 1887; seit diesem Tage erschien es mit einer Morgen- und einer Abendausgabe (Holz: Münchner Neueste Nachrichten, S. 196). 142 Starkulla: Presse in Bayern, S. 798. 143 Vgl. Horst Heenemann: Die Auflagenhöhen der deutschen Zeitungen. Ihre Entwicklung und ihre Probleme. Diss. phil. Leipzig 1929, S. 85. Nach Starkulla: Presse in Bayern, S. 800 gab es zur Jahrhundertwende keine bayerische Zeitung mit einer höheren Auflage. 144 Ebd. Der Berliner Lokal-Anzeiger konnte einen ähnlich hohen Anteil seiner Kosten aus Werbeeinnahmen decken. 145 Holz: Münchner Neueste Nachrichten, S. 198.

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setzt146. Nach Ablösung des bisherigen Hauptschriftleiters Friedrich Trefz tendierte das Blatt zu einer liberal-demokratischen Politik und bot auch Autoren wie Ludwig Quidde oder Friedrich Wilhelm Foerster Raum für pazifistische Beiträge147. Erneut besetzt wurde der Verlag, als Erich Mühsam in der Nacht vom 6. zum 7. Dezember 1918 „mit einer Gruppe von Anhängern [...] nach einer öffentlichen Versammlung in die Stadtmitte" zog, die Gebäude mehrerer Zeitungen besetzen ließ und „diese bürgerlichen Zeitungen fortan für sozialisiert" erklärte148. Mit der nach Niederschlagung der „Räterepublik" in Bayern einsetzenden „Stabilisierung" der politischen Lage begannen langanhaltende Versuche industrieller Kreise, über Beteiligungen am Kapital von Knorr & Hirth den Inhalt der renommierten Münchner Neuesten Nachrichten zu beeinflussen149. Obwohl die Kapitaltransaktionen im einzelnen kaum nachweisbar sind und als „Musterbeispiel" dafür angesehen werden können, „wie Industrielle ihre kapitalmäßigen Beteiligungen im Zeitungswesen zu tarnen verstanden"150, lagen die Motive dafür, wie der ehemalige Chefredakteur Anton Betz es nannte, „zwischen der ehrlichen Sorge um

146

Wilhelmine Döbl: Der Kulturteil der Münchener [!] Neuesten Nachrichten von 1918—1923. Diss. phil. München 1951, S. 7. 147 Vgl. ebd., S. 39 sowie S. 88. 148 Werner T. Angress: Juden im politischen Leben der Revolutionszeit. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution 1916—1923. Hg. von Werner E. Mosse unter Mitwirkung von Arnold Paucker. Tübingen 1971, S. 137—315 (hier S. 269). Nach der Ermordung Eisners wurden die Redaktionsräume ein weiteres Mal besetzt (vgl. Döbl: Der Kulturteil der Münchener [!] Neuesten Nachrichten, S. 8f.). 149 Der Versuch von Wirtschaft und Industrie, auf die Presse Einfluß zu nehmen, beschränkte sich keinesfalls auf Hugenberg, wenngleich es ihm am besten gelang, seine publizistischen Vorstellungen umzusetzen (vgl. Kurt Koszyk: Zum Verhältnis von Industrie und Presse. In: Industrielles System und politische Entwicklung in der Weimarer Republik. Düsseldorf 1974, S. 704—716). 150 Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945, S. 184. Zu den Ausführungen von Holz: Münchner Neueste Nachrichten, S. 198ff., nach denen Hugenberg seine 1920 erworbenen Anteile „bald wieder verkaufte" (S. 198) und die neuen Besitzer sich nicht mehr feststellen ließen, weil im Handelsregister vom Oktober 1925 „als Hauptanteilseigner zwei süddeutsche Treuhandgesellschaften eingetragen" seien (S. 199f.), bemerkt Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945, S. 186ff., daß Hugenberg hinter der Treuhandgesellschaft stand, die nach dem Handelsregistereintrag mehr als drei Viertel aller Anteile am Verlagskapital hielt.

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[...] den geistig-politischen Neuaufbau"151 und „der Absicht, ein publizistisches Machtinstrument in die Hand zu bekommen und das inflationistische Geld in Sachwerten anzulegen"152.

Auflagenhöhe und Leserschaft Nach Beginn des Ersten Weltkriegs konnten die Münchner Neuesten Nachrichten ihre Auflage von 127.000 (1914) auf 170.000 bis 180.000 Exemplare in den Jahren zwischen 1915 und 1921 steigern153. Danach sank die gedruckte Auflage auf ca. 120.000 Exemplare und verharrte auf diesem Niveau bis 1924. Als Stadtausgabe für München wurden etwa zwei Drittel der Auflage abgesetzt, das restliche Drittel fand seine Leser vorwiegend im süddeutschen Raum; nur ein kleiner Teil der Auflage ging ins übrige Deutschland sowie in Großstädte des Auslands. Zu den Abonnenten zählten „Industrie, Handel, Finanz, selbständige Handwerker, gutsituierte private Gesellschaftskreise, Sportler und Sportfreunde"154.

3. Der Berliner Lokal-Anzeiger Die erste Ausgabe des zunächst wöchentlich herausgegebenen Berliner Lokal-Anzeigers wurde Anfang November 1883 von 2.000 Boten kostenlos an die im Berliner Adreßbuch verzeichneten Einwohner ver-

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Anton Betz: Die Tragödie der „Münchner Neuesten Nachrichten" 1932/33. In: Journalismus (Schriftenreihe des Deutschen Instituts für publizistische Bildungsarbeit. Bd. 2). Düsseldorf 1961, S. 22—46 (hier S. 22). Zu Betz vgl. die kritischen Anmerkungen von Kurt Koszyk: Paul Keusch und die „Münchner Neuesten Nachrichten". Zum Problem Industrie und Presse in der Endphase der Weimarer Republik (Dokumentation). In: VfZ 20 (1972), S. 75-103, besonders S. 95f., Anm. 65. 152 Betz: Die Tragödie, S. 22. Nach Betz war die Gutehoffnungshütte (GHH) mit rund 52 Prozent, die Gelsenkirchener Bergwerks AG (GBAG) mit etwa 16 Prozent am Kapital von Knorr & Hirth beteiligt. Eine weitaus differenziertere Aufschlüsselung der Gesellschafteranteile (Dezember 1920) bringt Hoser: Münchner Tagespresse. Teil l, S. 87. 153 Heenemann: Auflagenhöhen, S. 85. 154 Ebd. Der umfangreiche Sportteil richtete sich vornehmlich an Freunde des Pferdesports.

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teilt155. Für den regelmäßigen Bezug des Blatts erhob der Verlag eine monatliche Zustellgebühr von 10 Pfennig156. Nachdem die ersten vier Nummern „in der für die damalige Zeit unerhörten Auflageziffer von 200.000 (notariell beglaubigt)" kostenlos verteilt worden waren, sank die Auflage zwar auf 152.000, aber damit hatte der Lokal-Anzeiger noch immer die höchste Auflage aller deutschen Zeitungen157. Seit 1884 wurde das Blatt für 5 Pfennig verkauft. Neben seinem umfangreichen Anzeigenwesen158 unterschied sich der Lokal-Anzeiger von anderen Zeitungen vor allem durch den Einsatz moderner Technik159. Mit mehr als 1.000 Korrespondenten verfügte der Scherl-Verlag nach der Jahrhundertwende weltweit über eines der dichtesten Nachrichtennetze. Eine weitere Neuerung des Lokal-Anzeigers waren die für einzelne Stadtteile gesondert hergestellten „Distriktausgaben" sowie die „kostenlosen Beilagen zur Vermittlung offener Arbeitsstellen"160. Das als Prototyp der unpolitischen „Generalanzeigerpresse" gegründete Blatt161 entwickelte bis Kriegsausbruch so starke

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Zur Geschichte des Berliner Lokal-Anzeigers vgl. Christian Schmaling: Der Berliner Lokal-Anzeiger als Beispiel einer Vorbereitung des Nationalsozialismus. Diss. phil. Berlin 1968, S. 40ff. sowie Walther G. Oschilewski: Zeitungen in Berlin. Im Spiegel der Jahrhunderte. Berlin 1975, S. 98ff. 156 Da diese Gebühr nicht von den Zeitungsausträgern, sondern von eigens dafür eingesetzten „Controleuren" eingesammelt wurde, kann sie auch als Zustellungskontrolle verstanden werden. 157 Emil Dovifat: Die Anfänge der Generalanzeigerpresse. In: Archiv für Buchgewerbe und Gebrauchsgraphik 65 (1928), S. 163—184 (hier S. 176). Schmaling: Berliner Lokal-Anzeiger, S. 43 gibt für 1884 eine Auflage von 225.000 an; deutlich niedriger liegen die von Heenemann für die Jahre 1889ff. ermittelten Werte (Auflagenhöhen, S. 74). 158 Dazu Schmaling: Berliner Lokal-Anzeiger, S. 43 sowie Koszyk: Deutsche Presse 1914-1945, S. 46. 159 Als erste deutsche Firma verfügte der Scherl-Verlag über eine Telefonanlage mit mehreren Unteranschlüssen, und schon 1907 soll es möglich gewesen sein, „Bildtelegramme" aus der Münchener Filiale in Berlin zu empfangen (Schmaling: Berliner Lokal-Anzeiger, S. 46f.). '« Ebd., S. 48. 161 Nach Dovifat: Generalanzeigerpresse, S. 176 schuf Scherl mit dem Lokal-Anzeiger „die erste ausgereifte Form eines Generalanzeigers"; nach Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 160 leitete das Blatt erst „die Entwicklung zum Generalanzeiger ein".

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Affinitäten zum Kaiserhaus162, daß von Regierungsseite alles unternommen wurde, um den finanziell angeschlagenen Scherl-Konzern nicht vom liberalen Mosse- oder Ullstein-Verlag aufkaufen zu lassen163: „Im Auftrag der Reichsregierung"164 erwarb Landwirtschaftsminister von Schorlemer 1914 die Mehrheitsanteile und übertrug sie dem eigens dafür gegründeten Deutschen Verlagsverein165, zu dem sich Vertreter der Banken, der verarbeitenden Industrie sowie der Chemie- und der Schwerindustrie zusammengeschlossen hatten. Doch unter der Ägide dieser „journalistischen Dilettanten"166 geriet der Scherl-Konzern noch tiefer in die roten Zahlen. Die Ertragslage besserte sich erst, als der Deutsche Verlags verein durch erneute Vermittlung von Schorlemers 1916 mit Geldern aus dem Krupp-Konzern und Beiträgen anderer Mitglieder der Wirtschaftlichen Vereinigung aufgekauft und der Leitung Hugenbergs unterstellt wurde167. Mit Friedrich Hussong wirkte einer der namhaftesten deutschen Publizisten als Chefredakteur beim LokalAnzeiger.

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Der Lokal-Anzeiger wurde dem Kaiser nicht — wie andere Zeitungen — nur auszugsweise, sondern vollständig vorgelegt. 1908 hatte Wilhelm II. Scherl den erblichen Adelstitel verleihen wollen. Peter de Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin. Menschen und Mächte in der Geschichte der deutschen Presse. (Überarbeitete und erweiterte Aufl.) Frankfurt am Main 1982, S. 114ff. bringt zahlreiche Beispiele für die monarchistische Einstellung Scherls (zu Mendelssohn vgl. die harte Kritik von Günter Kieslich in: Publizistik 5 [1960], S. 248 sowie die Rezension von Kurt Koszyk zur hier benutzten Neuauflage in: Publizistik 28 [1983], S. 471f.). 163 Zu den finanziellen Transaktionen vgl. Joachim Schanz: Die Entstehung eines Deutschen Presse-Großverlages. Diss. phil. Berlin 1932 (die Arbeit wurde bei dem mit Hugenberg befreundeten Ludwig Bernhard eingereicht). Nach Schanz, der die heute nicht mehr vorhandenen Verlagsunterlagen noch nutzen konnte, sei „kaum anzunehmen, daß drückende finanzielle Verpflichtungen August Scherl [zum Verkauf] gezwungen haben" (S. 171). Vgl. demgegenüber Peter de Mendelssohn: Publizistische Großunternehmen. In: Hundert Jahre Ullstein. 1877—1977. Frankfurt am Main 1977. Bd. l, S. 154 und 160. 164 Holzbach: System Hugenberg, S. 290. 165 Vgl. Schanz: Entstehung eines Deutschen Presse-Großverlages, S. 194ff. 164 Carle: Weltanschauung und Presse, S. 157. 167 Holzbach: System Hugenberg, S. 290. Trotz des Besitzwechsels firmierte die August Scherl GmbH bis zur Einstellung des Blattes am 31. August 1944 als Herausgeber (Schmaling: Berliner Lokal-Anzeiger, S. 52).

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Auflagenhöhe und Leserschaft Der Berliner Lokal-Anzeiger erreichte bei Kriegsende mit einer Auflage von ca. 250.000 Exemplaren etwa 10 — 15 Prozent aller Haushalte der Reichshauptstadt und des näheren Umlands168. Nach leichten Absatzeinbußen169 stieg die Auflage in der zweiten Hälfte der zwanziger Jahren erneut auf rund 250.000170. Gut ein Zehntel aller Exemplare wurde außerhalb Berlins abgesetzt. Die politische Tendenz des LokalAnzeigers charakterisierte der kommerziell orientierte Albachary als „national"171, während Carle in dem Blatt ein „Sprachrohr für die Interessen der Deutschnationalen Volkspartei" sah172. Die Leserschaft setzte sich zusammen aus: 21 Prozent Eigentümer, Rentiers und Pensionäre; 11 Prozent Kaufleute; 7 Prozent Beamte; 7 Prozent Frauen; 6,5 Prozent Handwerker; 6 Prozent Gastwirte; 5 Prozent Akademiker, Ärzte und Lehrer; 5 Prozent Kleingewerbe; 3 Prozent Künstler und Schriftsteller; gut 2 Prozent Militär, Adel und Landwirte173. 4. Die Berliner "Zeitung am Mittag Um seine Druckkapazität besser zu nutzen und das nachlassende Interesse der Leser an der nicht mehr zeitgemäßen Berliner Zeitung zu kompensieren, gab der Ullstein-Verlag am 22. Oktober 1904 mit der BZ am Mittag das erste Boulevardblatt Deutschlands heraus174. Die Zeitung wurde ausschließlich im Straßenhandel vertrieben und richtete sich an

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Carle: Weltanschauung und Presse, S. 159f.; ähnlich auch Jacques Albachary (Hg.): Albacharys Markt-Zahlen für Reklame-Verbraucher. Ausgabe 1929. Berlin o.J., S. 11. Nach Werner Liebe: Die Deutschnationale Volkspartei 1918—1924. Düsseldorf 1956, S. 46 wurde rund ein Viertel der Auflage im Straßenhandel abgesetzt. 169 Bis 1925 sank die Auflage auf etwa 230.000 (Heenemann: Auflagenhöhen, S. 74). 170 Nach Groth: Die Zeitung. Bd. l, S. 258 stieg die Auflage geringfügig über eine Viertelmillion. 171 Albachary: Markt-Zahlen, S. 11. 172 Carle: Weltanschauung und Presse, S. 158f. 173 Diese soziale Zusammensetzung der Leserschaft stammt von Albachary: MarktZahlen, S. 11. Ähnlich auch Groth: Die Zeitung. Bd. l, S. 258. 174 Zur Geschichte dieser Zeitung vgl. Erich Wagner: BZ am Mittag und BZ. In: Hundert Jahre Ullstein. Bd. l, S. 46—85, besonders S. 50ff. sowie Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, S. 195ff.

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Leser, die nach der Lektüre ihrer Morgenzeitung und vor dem Erscheinen der Abendblätter noch schnell über die wichtigsten Ereignisse des Vormittags informiert werden wollten. Um dem Prädikat und Anspruch der „schnellsten Zeitung der Welt" gerecht zu werden, scheute das Blatt keine Anstrengungen175: Vom Empfang der letzten Meldung, über Telefon direkt in die Druckerei, bis zur Verbreitung der ersten Exemplare in Berlin vergingen „nur acht Minuten"176. Und nur „wenige Stunden später war die 'B.Z.' auch außerhalb Berlins, in den meisten großen Städten Deutschlands, erhältlich"177. Neben der Schnelligkeit, mit der das Blatt Nachrichten des gesamten Ullstein-Korrespondentennetzes verarbeitete178, unterschied sich die BZ am Mittag von anderen deutschen Zeitungen durch eine klar erkennbare Trennung von Nachricht und Kommentar179. Ebenfalls ungewohnt für deutsche Zeitungsleser war der Sportteil180, der sich intensiv mit „Automobilismus" und „Luftschiffahrt" befaßte181. Im Unterschied zur traditionellen „Gesinnungszeitung", die einer bestimmten Partei nahestand, zeichnete sich die Boulevardpresse dadurch aus, daß sie „durch ihre äußere und innere Formgebung und ihre Vertriebsart viel eher als ein Abonnementblatt die Möglichkeit [hatte ...],

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Wagner: BZ am Mittag, S. 54; ähnlich Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, S. 200. 176 Wagner: BZ am Mittag, S. 54. Nach Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, S. 201 benötigten die schnellsten amerikanischen Blätter zwölf Minuten vom Empfang der letzten Meldung bis zur Auslieferung der ersten Exemplare. 177 Ebd. Beim „Tempo" der BZ konnte es durchaus passieren, daß Berichte über Ereignisse veröffentlicht wurden, die — anders als erwartet — gar nicht stattfanden (vgl. die politisch voreingenommene, aber faktenreiche Arbeit von Hildegard Kriegk: Die politische Führung der Berliner Boulevardpresse. Diss. phil. Berlin 1941, S. 64). 178 Aufmerksamkeit erregte 1908 das Daily-Telegraph-Interview Wilhelms II.: „Die 'B.Z.' veröffentlichte den vollen Wortlaut dieses ebenso sensationellen wie unheilvollen Interviews als erste deutsche Zeitung kaum drei Stunden nach der Londoner Veröffentlichung" (Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, S. 204). Nach Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 290 war „die schnelle Reaktion der BZ [...] der Regierung noch des öfteren unbequem". 179 Mendelssohn: Zeitungsstadt Berlin, S. 202. 180 Zum Sportteil vgl. Friedebert Becker: Die Saga vom BZ-Sport. In: Hundert Jahre Ullstein. Bd. l, S. 265—293 sowie Fritz Wirth: Sport und Massenpresse. In: Ebd. Bd. 2, S. 343-365. 181 Die BZ trug maßgeblich „zur Popularität der Luftschiffahrt und damit vielleicht auch zu der Fehleinschätzung von deren Möglichkeiten im ersten Weltkrieg bei" (Koszyk: Presse im 19. Jahrhundert, S. 290).

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auch in die Kreise Eingang zu finden, die der jeweiligen Partei ferner" standen182. Den Wandel vom unpolitischen Nachrichtenblatt zur (parteipolitisch-engagierten Zeitung vollzog die Boulevardpresse nur langsam: Mit der innenpolitischen Polarisierung nach Unterzeichnung des Versailler Vertragswerks entwickelte sich die BZ von einer reinen „Nachrichtenzeitung zu einem demokratisch interessierten Boulevardblatt"183. Während die meisten deutschen Zeitungen in den ersten Jahren der Republik deutlich nach rechts abschwenkten, tendierte die BZ in die entgegengesetzte Richtung184.

Auflagenhöhe und Leserschaft Die Auflage der BZ am Mittag läßt sich nur für die letzten Jahre der Weimarer Republik exakt ermitteln185: Unter starken Schwankungen von Quartal zu Quartal186 erreichte das Blatt eine Auflage zwischen knapp 180.000 und 208.OOO187. Die Leser der „größten Mittagszeitung Berlins" waren „bestes und kaufkräftigstes Publikum" des Wirtschaftslebens, des Sports, der Mode und Gesellschaft, Kunst, Literatur und des Films188: „Wer etwas auf sich hielt [...], las die BZ — ob in seiner Eigenschaft als Oberbürgermeister oder Droschkenkutscher. Bankdirektoren, Schauspieler, mittlere Beamte, Kaufleute, Amateure und Berufssportler, Arbeiter, große und kleine Angestellte — die ganze Gesellschaft der Reichshauptstadt las die BZ"189.

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Kriegk: Berliner Boulevardpresse, S. 27. Ebd., S. 198. 184 Vielleicht reagierte der Ullstein-Verlag hellhöriger als andere Verlage auf den auch in Berlin hervorbrechenden Antisemitismus, der die Abkehr weiter Bevölkerungskreise von Republik und Demokratie begleitete. 185 Erst die seit 1926 in den Ullstein-Berichten veröffentlichten, notariell beglaubigten Zahlen ermöglichen überprüfbare Angaben zur Auflagenhöhe. 186 Vgl. Heenemann: Auflagenhöhen, S. 76. Gegenüber dem 1. Quartal 1927 erhöhte sich die Auflage im 3. Quartal um etwa 20 Prozent und fiel dann im 4. Quartal fast auf das Niveau des ersten Quartals zurück: Offensichtlich fand das Boulevardblatt im Sommer deutlich mehr Leser als im Winter. 187 Die erste Zahl gilt für 1926, die zweite für 1928 (Heenemann: Auflagenhöhen, S. 76). 188 Albachary: Markt-Zahlen, S. 13. 189 Hans Wallenberg, zitiert nach Wagner: BZ am Mittag, S. 57. 183

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5. Die Germania Fast zeitgleich mit der Konstituierung der „Fraction des Centrums" im Preußischen Abgeordnetenhaus erschien am 17. Dezember 1870 in Berlin die Nullnummer der Germania190, die als „ausgesprochenes Kampforgan zur Vertretung katholischer Interessen in der Diaspora" von einem Komitee Berliner Katholiken herausgegeben wurde191. Zwar erreichte sie nie eine so starke Verbreitung wie die — ebenfalls katholische — Kölnische Volkszeitungm, aber durch die Nähe zur Zentrumsfraktion im Reichstag und im Preußischen Abgeordnetenhaus entwikkelte sich das Blatt schnell zum anerkannten Sprachrohr des Zentrums193. Während des Kulturkampfes war die Germania Verfolgungen ausgesetzt, die denen sozialdemokratischer Zeitungen nicht nachstanden194, und zwischen 1871 und 1879 war das „subversive" und „staatsgefährdende" Blatt in Elsaß-Lothringen verboten195. Während

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Eine historische Skizze der Germania liefert Klaus Martin Stiegler: Germania (1871—1938). In: Deutsche Zeitungen, S. 299—313. Zur Geschichte der Germania im 19. Jahrhundert vgl. auch Amine Haase: Katholische Presse und die Judenfrage. Inhaltsanalyse katholischer Periodika am Ende des 19. Jahrhunderts. Pullach bei München 1975. 191 Kaupert: Tagespresse als Politicum, S. 94. Nach Kaupert läßt sich „die Gründung fast jeder katholisch [ausgerichteten Zeitung [...] auf einen örtlichen Verein oder Verband zurückführen" (S. 92). Vgl. hierzu auch Michael Schmolke: Die schlechte Presse. Katholiken und Publizistik zwischen „Katholik" und „Publizistik" 1821-1968. Münster 1971, S. 181. 192 „Dieses führende westdeutsche Zentrumsblatt mit einer eigenen auflagestarken Kriegsausgabe für die Truppe ließ sich in seinen utopischen Kriegszielforderungen und seinem blinden Hurra-Patriotismus vom Kriegsausbruch an bis zum September 1918 kaum von einer anderen Zeitung übertreffen" (Rudolf Morsey: Die Deutsche Zentrumspartei 1917—1923. Düsseldorf 1966, S. 56). 193 Wilhelm Kisky (Bearb.): Der Augustinus-Verein zur Pflege der katholischen Presse von 1878 bis 1928. Festschrift zum Goldenen Jubelfest im Auftrage des Vorstandes. Düsseldorf 1928, S. 37 spricht — wie Stiegler: Germania, S. 301 — von der Germania als dem „Zentralorgan" des Zentrums. Kaupert: Tagespresse als Politicum, S. 95 sieht in dem Blatt das „offizielle" Organ des Zentrums, während Carle: Weltanschauung und Presse, S. 104 auf den „offiziösen" Charakter der Zeitung verweist. 194 Allein am 22. Februar 1874 wurde in elf Prozessen gegen die Germania verhandelt; nach dem „Kullmann'schen Attentat" auf den Reichskanzler wurden 57 Anklagen gegen das Blatt erhoben (vgl. Kisky: Augustinus-Verein, S. 38f.). 195 Stiegler: Germania, S. 301.

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sich die antiliberale Haltung der Germania seit dem „Gründerkrach" zu einem „antijüdischen Ressentiment" verdichtete196, verbesserte sich das Verhältnis zur Reichsregierung nach Ende des Kulturkampfs spürbar. In der Weimarer Republik fand die Germania als Sprachrohr des Zentrums, das als einzige Partei an allen Reichsregierungen zwischen 1919 und 1933 beteiligt war, erneut „überregionale Publizität"197. Das Blatt, das der Politik Erzbergers nahestand und auch seine Friedensinitiative erheblich positiver aufnahm als weite Teile der Partei198, entwikkelte sich mit Kriegsende „zum Forum zäher Auseinandersetzungen zwischen dem konservativen aristokratischen und dem fortschrittlichen republikanischen Flügel des Zentrums"199. Erzberger, der ein Aktienpaket der „Germania AG für Verlag und Druckerei"hielt200, ließ Ende 1920 durch Karl Semer, den Direktor der Handels- und Diskontbank, bei einer Kapitalerhöhung Verlagsanteile aufkaufen, um das Blatt auf einer „christlich-demokratischen Linie" zu halten201, konnte damit aber nicht verhindern, daß der Industrielle Florian Klöckner 1921 zum Aufsichtsratsvorsitzenden gewählt wurde. Vollends ins rechte Fahrwasser geriet die Germania 1923, als Semer seine Anteile an Franz von Papen verkaufte202.

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So Haase: Katholische Presse und die Judenfrage, S. 17ff. Paul W. Massing: Vorgeschichte des politischen Antisemitismus. Frankfurt a.M. 1959 hebt die antisemitische Einstellung der Germania deutlicher hervor: So habe das Blatt z.B. den Antisemitismus der Kreuz-Zeitung im Sommer 1875 aufgenommen und „in einer Serie antisemitischer Artikel von meisterhafter Demagogie" verstärkt (ebd., S. 105). 197 Stiegler: Germania, S. 302. 198 Zum Streit über Erzbergers Friedensinitiative und zur Abspaltung der rechtsorientierten Teile des bayerischen Zentrums vgl. Klaus Schönhoven: Die Bayerische Volkspartei 1924-1932. Düsseldorf 1972, S. 17ff. 199 Stiegler: Germania, S. 309. 200 Klaus Epstein: Matthias Erzberger und das Dilemma der deutschen Demokratie. Frankfurt am Main 1976, S. 485. 201 Groth: Die Zeitung. Bd. 2, S. 441. 202 „Die schon vor einigen Wochen versuchte, damals aber noch gescheiterte Rechtsdrehung der 'Germania' [...] scheint jetzt zur Tatsache werden zu sollen", stellte die Frankfurter Zeitung in ihrem zweiten Morgenblatt vom 8. November 1923 fest. 1928 verfügte Papen gemeinsam mit den Brüdern Klöckner über mehr als zwei Drittel aller Verlagsanteile (Kaupert: Tagespresse als Politicum, S. 98).

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Auflagenhöhe und Leserschaft Zur Auflagenhöhe der Germania gibt es kaum gesicherte Angaben. Nach Albachary betrug die Auflage 1929 rund 43.000203. Die AnnoncenExpedition des Mosse-Verlags ging von einer geringfügig höheren Auflage als Albachary aus, die Wilhelm Carle jedoch anzweifelte, weil „das Zentrum 1928 in Berlin nur 39.845 Wählerstimmen aufbrachte"204. Die Leser charakterisierte Albachary als Kaufleute, Politiker, Industrielle, Ärzte, Rechtsanwälte sowie höhere Kommunal- und Staatsbeamte205. Für ihre Berliner Leser erstellte die Germania einen eigenen Lokalteil. 6. Die Frankfurter Zeitung Um das Informationsbedürfnis seiner Kunden nach Börsen- und Wirtschaftsnachrichten zu befriedigen, gab der Frankfurter Bankier Heinrich Bernhard Rosenthal seit Sommer 1853 an jedem Börsentag einen „Geschäftsbericht" heraus, den er mit seinem Kollegen Leopold Sonnemann drei Jahre später zum täglich erscheinenden Frankfurter Geschäftsbericht erweiterte206. Unter dem publizistisch ambitionierten Son-

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Albachary: Markt-Zahlen, S. 15. Hannot: Die Judenfrage in der katholischen Tagespresse, S. 23 nimmt lediglich eine „Auflage von ca. 10.000 Stück zur Zeit der Weimarer Republik" an. 2M Carle: Weltanschauung und Presse, S. 106. Wählerstimmen als Indikator für Auflagenhöhen zu nehmen, ist allerdings nicht unproblematisch. Zum einen lassen sich die Verbreitungsgebiete einzelner Zeitungen nicht präzise eingrenzen, zum anderen unterlag das Verhältnis Wählerstimmen/Tageszeitungen starken Schwankungen. Nach Kisky: Augustinus-Verein, S. 229 hatte das Zentrum z.B. 1871 ca. 724.000 Wähler im gesamten Reich, während die Auflage aller katholischen Tageszeitungen bei rund 322.000 Exemplaren lag (2,25 Wählerstimmen pro Zeitung); 1912 war die Auflage der katholischen Zeitungen auf über 2.600.000 gestiegen, aber das Zentrum erhielt „nur" 1.997.000 Stimmen (0,77 Wählerstimmen pro Zeitung). 205 Albachary: Markt-Zahlen, S. 15. 206 Reichhaltiges Material zur frühen Geschichte der Frankfurter Zeitung enthält die anläßlich des 50jährigen Bestehens veröffentlichte Festschrift: Geschichte der Frankfurter Zeitung. Frankfurt 1906. Da diese Schrift nicht in den Buchhandel gelangte, sondern als „Ehrengabe" verteilt wurde, entschloß sich der Verlag 1911, eine um die Geschichte bis 1911 ergänzte „Volksausgabe" herauszubringen, die auch in der vorliegenden Studie benutzt wurde. Zur Geschichte der Frankfurter Zeitung vgl. auch das

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nemann erhielt das in Frankfurter Handelszeitung umbenannte Blatt mit Max Wirth erstmals einen festen Redakteur207, der „die Wirtschaftsberichterstattung aktualisierte] und aus der regionalen, bzw. lokalen Gebundenheit" löste208. Den Charakter einer reinen Finanzzeitung legte das Blatt ab, als es Sonnemann 1859 gelang, Georg Friedrich Kolb als politischen Redakteur für das nun dreimal täglich erscheinende Blatt zu gewinnen, das sich seit dem 1. September 1859 Neue Frankfurter Zeitung. Frankfurter Handelsblatt nannte und die bürgerlichen Ideale der 1848er Bewegung so konsequent vertrat209, daß Konflikte mit der preußischen Regierung ebensowenig ausblieben wie mit der von Lassalle beeinflußten Arbeiterbewegung210. Sonnemann war zwar Mitbegründer des „Vereinstags deutscher Arbeitervereine" und gehörte — gemeinsam mit dem Redakteur Max Wirth — dessen Ausschuß an, doch in der von Lassalle geführten anti(privat)kapitalistischen Arbeiterbewegung sah Sonnemann vor allem ein Vehikel, mit dem Bismarck die Position der Freisinnigen schwächen wollte211. Nach der Besetzung Frankfurts durch preußische Truppen im

1956 erschienene Sonderheit der Gegenwart: Ein Jahrhundert Frankfurter Zeitung, begründet von Leopold Sonnemann. 207 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 5f. 208 Kurt Paupie: Frankfurter Zeitung (1856—1943). In: Deutsche Zeitungen, S. 241-256 (hier S. 242). 209 Zur politischen Progammatik vgl. die Neue Frankfurter Zeitung vom l, September 1859: „Nach Innen frei und offen, für die freisinnigste Staatsgewalt kämpfend, kennen wir im Kampf nach Außen keine Partei und verfechten keine Sache als die Eine große der deutschen Nation. Unser Programm ist: Deutschland sei so mächtig nach Außen als frei nach Innen" (zitiert nach: Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 43f.). 213 Der sozialistischen Arbeiterbewegung stand Sonnemann nicht prinzipiell ablehnend gegenüber: 1875 hatte er z.B. Bebel einen Kredit für dessen Handwerksbetrieb gewährt (vgl. Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 196 f.); zur Haltung gegenüber Lassalle vgl. Michael Freund: Die Zeitung und Lassalle. In: Ein Jahrhundert Frankfurter Zeitung, S. 11—14. 211 Die ablehnende Haltung der Frankfurter Zeitung gegenüber Lassalle und Bismarck zeigt eine Kritik vom Sommer 1863: „Es gibt eine gewisse Sorte von Menschen, die den Machiavell verkehrt zu sich genommen oder schlecht verdaut haben. Diese geben mit Vorliebe Theorien über 'Macht und Recht' von sich, die man nicht anders bezeichnen kann denn als unwissentliche Beihilfe für die Pläne des Absolutismus. [...] Sie lösen Gegensätze so lange auf, bis ihnen jede Fähigkeit des Urteils entschwindet, — bis sie einen Affen nicht mehr von einem Menschen, Unrecht nicht

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Juli 1866 führte die antipreußische Tendenz des Blattes zum Verbot der Zeitung und zur Verhaftung ihrer in Frankfurt weilenden Redakteure212. Der beizeiten mit seinem Redakteur Kolb nach Stuttgart emigrierte Sonnemann gab dort vom 2. August bis zum 1. Dezember 1866 ein in Format und Aufmachung der verbotenen Zeitung ähnliches Organ heraus, die Neue Deutsche Zeitung213, die den etwa 8.000 Beziehern der verbotenen Frankfurter Zeitung zugestellt wurde214. Nachdem Sonnemann eine Konzession für eine neue Zeitung in Frankfurt erhalten hatte, erschien das Blatt seit dem 16. November 1866 wieder als Frankfurter Zeitung und Handelshlatt2lb. Während des Kulturkampfes stellte sich das Blatt ebenso konsequent hinter die „katholischen Reichsfeinde", wie es während der „Sozialistengesetze" die verfolgten Sozialisten unterstützte216. Erst unter Caprivi näherte die Frankfurter Zeitung sich „der Reichspolitik stärker an und erreichte auf außenpolitischem Gebiet [...] vorübergehend geradezu halbamtlichen Status"217. Gestützt auf ein gut ausgebautes Korrespondentennetz, das die „Unabhängigkeit gegenüber den traditionellen Nachrichtenlieferanten wie dem regierungsnahen Wölfischen Telegraphenbüro oder der späteren Hugenbergschen Telegraphen-Union" sicherte218, fand das Blatt gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch im Aus-

mehr von Recht, Herrn Bismarck nicht mehr von einem Staatsmann zu unterscheiden vermögen" (zitiert nach ebd., S. 12). 212 Vgl. Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 138ff. 213 Bereits 1848 hatten Vertreter der demokratischen Bewegung Süddeutschlands unter diesem Namen eine Zeitung herausgegeben (ebd., S. 142). 214 Vgl. Paupie: Frankfurter Zeitung, S. 244. 215 Vgl. Becker: Demokratie des sozialen Rechts, S. 29. Die Beziehungen zwischen Sonnemann und Bismarck nahmen „in dem langjährigen offenen Kampf fast [...] den Charakter persönlicher Feindschaft an" (Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 239). Ihre Ablehnung der Bismarckschen Politik begründete die Frankfurter Zeitung auch mit dem Hinweis, daß Bismarck „aus seiner geringen Achtung vor der öffentlichen Meinung nie ein Hehl" gemacht habe und „die politische Überzeugung bei einem Gegner nicht zu achten imstande" sei (ebd.). 216 „Die Annäherung an die sozialistische Linke fand jedoch immer eine Grenze in der durchaus kapitalistischen Grundhaltung der Zeitung" (Becker: Demokratie des sozialen Rechts, S. 32). 217 Michael Bosch: Liberale Presse in der Krise. Die Innenpolitik der Jahre 1930 bis 1933 im Spiegel des „Berliner Tageblatts", der „Frankfurter Zeitung" und der „Vossischen Zeitung". Frankfurt am Main 1976, S. 8. 218 Ebd.

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land starke Beachtung219. Neben dem Berliner Tageblatt, der Vossischen Zeitung und den sozialdemokratischen Blättern zählte die Frankfurter Zeitung zu den Organen, die vor Kriegsbeginn 1914 auf einen „Abbau der Spannungen" hinarbeiteten220. Die „relativ maßvolle Haltung" dieser Blätter „provozierte den Haß der Rechten gegen die 'Judenpresse', die als international verdächtigt und deren patriotische Gesinnung in Zweifel gezogen wurde"221; insbesondere mit dem Berliner Tageblatt und der Frankfurter Zeitung hatte die Oberste Heeresleitung nach 1914 „fast weniger Kontakt [...] als mit der Presse der SPD, die mehr Verständnis für die militärischen Notwendigkeiten" zeigte222. Für die völkische Rechte und insbesondere für Hitler223 war die Frankfurter Zeitung das „Judenblatt" par excellence224: Die Zeitung verteidigte die sozialen Er-

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Vgl. Becker: Demokratie des sozialen Rechts, S. 33. Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 265. 221 Fritz Fischer: Weltpolitik. Weltmachtstreben und deutsche Kriegsziele. In: HZ 199 (1964), S. 265—346 (hier S. 277). 222 Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945, S. 18f. 223 „Gerade für unsere geistige Halbwelt aber schreibt der Jude seine sogenannte Intelligenzpresse. Für sie sind die 'Frankfurter Zeitung' und das 'Berliner Tageblatt' gemacht" (Adolf Hitler: Mein Kampf [Zwei Bde. in einem Bd. Ungekürzte Ausgabe]. München 1934, S. 268). Wohl noch in Unkenntnis dieser Einschätzung durch Hitler, bewarb Joseph Goebbels sich zur Zeit der Niederschrift von „Mein Kampf" — allerdings vergeblich — um eine Mitarbeit beim Berliner Tageblatt (vgl. Roger Manvell/Heinrich Fraenkel: Dr. Goebbels. His Life and Death. New York 1961, S. 41 sowie Margret Boveri: Wir lügen alle. Eine Hauptstadtzeitung unter Hitler. Ölten 1965, S. 160). 224 Zur Einstellung der Frankfurter Zeitung gegenüber Judentum und Antisemitismus vgl. die als Magisterarbeit vorgelegte Untersuchung von Anne Heidenreich: Die „Judenfrage" in der „Frankfurter Zeitung". Redaktionelle Strategien vor und nach der nationalsozialistischen Machtergreifung. München 1981. Zur Einstellung der Frankfurter Zeitung gegenüber dem Nationalsozialismus vgl. Michael Krejci: Die Frankfurter Zeitung und der Nationalsozialismus 1923—1933. Diss. phil. Würzburg 1965; Rudolf Werber: Die „Frankfurter Zeitung" und ihr Verhältnis zum Nationalsozialismus, untersucht an Hand von Beispielen aus den Jahren 1932—1943. Ein Beitrag zur Methodik der publizistischen Camouflage im Dritten Reich. Diss. phil. Bonn 1965; vor allem aber Benno Reifenberg: Die zehn Jahre. 1933—1943. In: Ein Jahrhundert Frankfurter Zeitung (Gegenwart. Sonderheft Oktober 1956), S. 40—54 sowie Fritz Sänger: Zur Geschichte der Frankfurter Zeitung. In: Publizistik 22 (1977), S. 275—294. Daß die latente Oppositionshaltung der Frankfurter Zeitung nach 1933 durchaus den Interessen des Reichsministeriums für Volksaufklärung und Propaganda entsprechen konnte, zeigt die Reaktion auf einen Verbotsantrag, den Wer220

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rungenschaften der Revolution von 1918/19 und sah in der Kooperation von SPD und DDP die Chance, den Gegensatz zwischen der sozialistischen Arbeiterbewegung und dem Liberalismus zur Verwirklichung der „sozialen Demokratie" auszugleichen225. Die wirtschaftlichen Folgen des verlorenen Kriegs spürte die Frankfurter Zeitung nachhaltiger als andere Blätter: Die internationalen Finanzanzeigen blieben aus, und mit der Verlagerung des Börsengeschäfts nach Berlin waren auch die Inserate aus diesem Bereich spürbar rückläufig: 1927 belief sich die Verschuldung auf über l Million Mark226. Am 27. Februar 1929 wurden 49 Prozent des Stammkapitals auf Hermann Hummel, Direktor der IG-Farben und Vorstandsmitglied der DDP227, als Treuhänder der „Imprimatur GmbH" übertragen. Daß es sich dabei um eine Beteiligung der IG-Farben handelte, dementierte die Frankfurter Zeitung vehement228. Ebenso, wie das finanzielle Engagement der IGFarben abgestritten wurde, betonten die Redakteure später fast einhel-

ner Best im Auftrag Heydrichs am 4. Juli 1936 an das Propagandaministerium richtete. Auf den von Best erhobenen Vorwurf, die Frankfurter Zeitung sei in letzter Zeit wiederholt „in unangenehmster Weise aufgefallen" und ihre „bewegungsfeindliche Tendenz" sei „trotz der vorsichtigen Schreibweise leicht zu erkennen", antwortete der Ministerialrat Alfred-Ingemar Berndt, die Schreibweise der Frankfurter Zeitung sei „absichtlich so gehalten, daß sie im Auslande als oppositionell angehaucht gilt, da sie das einzige Blatt ist, mit dessen Hilfe wir mancherlei lancieren können und auch schon lanciert haben. Zur Erfüllung dieser Aufgabe muß man ihr schon eine gewisse Freiheit lassen. Wenn es zu bunt wird, schreiten wir jedesmal ein" (Akten des Reichssicherheitshauptamtes: BAK, R 58/1014, fol. 12 f. sowie fol. 14). 225 Vgl. Becker: Demokratie des sozialen Rechts, S. 76. 226 Vgl. Werner Wirthle: Frankfurter Zeitung und Frankfurter Societäts-Druckerei GmbH. Die wirtschaftlichen Verhältnisse 1927—1939. Frankfurt 1977, S. 19. 227 Hermann Hummel, 1921 badischer Staatspräsident, schied 1922 als Kultusminister aus der badischen Regierung aus, um zur IG-Farben überzuwechseln (Wolfgang Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1918—1923. Berlin 1970, S. 303). 228 So auch Wirthle: Frankfurter Zeitung, S. 29: „In den über dreißig Jahren, in denen sich der Verfasser mit der FSD [Frankfurter Societäts-Druckerei] und der Imprimatur befaßt, ist ihm nie eine [...] beweiskräftige Darstellung zu Gesicht gekommen, der zu entnehmen gewesen wäre, daß die I.G. Farbenindustrie an der FSD beteiligt gewesen war. Greifbar ist nur, daß die Geldgeber, Bosch und Hummel, mit der I.G. verbunden waren".

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lig, bei ihrer redaktionellen Arbeit nichts von einem Versuch industrieller Einflußnahme bemerkt zu haben229.

Auflagenhöhe und Leserschaft 1917 erreichte die Frankfurter Zeitung mit einer Auflage von etwa 170.000 Exemplaren ihre bis dahin größte Verbreitung230. Nach einer handschriftlichen Aufstellung des Verlags aus dem Jahr 1919 war die durchschnittliche Auflage im letzten Kriegsjahr auf 103.415 Exemplare gefallen und sank 1919 auf ca. 84.000231. 1929 betrug die Auflage nur noch 68.000232, und mit 55.000 Exemplaren hatte die Frankfurter Zeitung 1932 ihren vorläufigen Tiefstand erreicht233. Mehr als zwei Drittel aller Exemplare wurden 1932 an Abonnenten ausgeliefert: „In über 4.600 Hotels, Klubs, Pensionen usw." konnte jeder Gast das Blatt einsehen234. Bis Ende Juli 1930 erschien die Frankfurter Zeitung reichsweit dreimal täglich, danach nur noch mit einer Ausgabe pro Tag235. Die Abonnenten setzten sich zusammen aus: 36,9 Prozent Geschäftsinhaber (bzw. Firmen); 14,5 Prozent Finanz; 13,2 Prozent freie Berufe; 9,5 Prozent Lesesäle236; 9,3 Prozent Behörden und höhere Beamte; 6,9 Prozent

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Ernst Kahn: The Frankfurter Zeitung. In: Publications of the Leo Baeck Institute of Jews from Germany. Year Book II (1957). London 1957, S. 228—235 meint jedoch, die Kontrolle über das Blatt sei schon in den frühen zwanziger Jahren an die IG-Farben abgetreten worden (S. 229f.). Nach Sänger: Zur Geschichte der Frankfurter Zeitung, S. 282 hatte auch Margret Boveri „wiederholt geäußert [...], es habe Briefe von Carl Bosch, dem 'Herrn über die IG' gegeben, die 'ganz unzweideutige Einflußnahmen' oder doch den Versuch dazu bezeugt hätten". 230 Ygj Ingrid Gräfin Lynar: Die Geschichte der Frankfurter Zeitung. In: Facsimile Querschnitt durch die Frankfurter Zeitung. Bern 1964, S. 9—14 (hier S. 14). Dieselbe Zahl gibt auch Paupie: Frankfurter Zeitung, S. 248f. an; nach Becker: Demokratie des sozialen Rechts, S. 39, Anm. 57 ist diese Zahl zu hoch. 231 Wirthle: Frankfurter Zeitung, S. 12. 232 Albachary: Markt-Zahlen, S. 66. 233 Nach Wirthle: Frankfurter Zeitung, S. 12. 234 Heenemann: Auflagenhöhen, S. 105, Anm. 1. 2)5 Becker: Demokratie des sozialen Rechts, S. 35. 236 Hierzu zählen die bereits erwähnten Hotels, Klubs, Pensionen etc.

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Syndici, Kaufleute, Angestellte; 4,7 Prozent Rentner und Privatpersonen; 5,0 Prozent verschiedene Berufe237. 7. Der Vorwärts Nachdem die beiden großen Strömungen der deutschen Arbeiterbewegung sich 1875 in Gotha zur „Sozialistischen Arbeiterpartei Deutschlands" zusammengeschlossen hatten, wurde der Vorwärts seit dem 1. Oktober 1876 mit drei Ausgaben pro Woche als „Central-Organ der Sozialdemokratie Deutschlands" in Leipzig herausgegeben238; unter der redaktionellen Leitung von Wilhelm Liebknecht und Wilhelm Hasenclever erschien die letzte Ausgabe vor dem „Sozialistengesetz" am 26. Oktober 1878. Als Ersatz für den in Deutschland verbotenen Vorwärts gab der nach Zürich emigrierte Parteivorstand seit Ende September 1879 das Wochenblatt Der Sozialdemokrat heraus, das sich vornehmlich an Parteifunktionäre richtete, aber kaum die ehemaligen Leser erreichte. Lokale Zeitungsgründungen im Auftrag des SPD-Vorstandes, wie etwa das Berliner Volksblatt, boten demgegenüber bessere Möglichkeiten, die Parteibasis mit einem sozialdemokratischen Blatt zu versorgen. Nach der Nichtverlängerung der gegen die Sozialdemokratie verhängten Gesetze wurde das Berliner Volksblatt am 12. Oktober 1890 in Vorwärts umbenannt und fungierte seitdem als Zentralorgan der SPD. Unbeschadet der Richtungskämpfe innerhalb der Partei erlebte das Blatt kurz vor dem Ersten Weltkrieg „wirtschaftliche Blütejahre" und erwirtschaftete einen Überschuß, mit dem 1914 ein eigenes Gebäude im Berliner Zeitungsviertel erworben wurde239. Mit Kriegsbeginn fand die prosperierende Entwicklung des Vorwärts ihr Ende. Der schon lange schwelende Konflikt zwischen der kollegial organisierten Chefredaktion, der Pressekommission der SPD und der

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Nach Albachary: Markt-Zahlen, S. 66. Volker Schulze: Vorwärts (1876—1933). In: Deutsche Zeitungen, S. 329—347 (hier S. 329). Zur Geschichte des Vorwärts vgl. auch ders.: „Vorwärts" 1876—1940. In: Vorwärts 1876—1976. Ein Querschnitt in Faksimiles. Berlin 1976, S. IX—XV. Bereits 1819 waren unter dem Titel Vorwärts in Weimar mehrere Flugschriften erschienen, und auch Karl Marx und Heinrich Heine schrieben 1844 für ein Pariser Emigrantenblatt gleichen Namens. 239 Vgl. Schulze: Vorwärts, S. 334ff. 238

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Parteispitze brach offen aus, als die Redaktion sich „nahezu geschlossen" gegen die Zustimmung der sozialdemokratischen Reichstagsfraktion zu den Kriegskrediten aussprach. An dieser Position hielt die Redaktion fest und bekannte sich 1916 „ohne Rücksicht auf den offiziellen Kurs der Partei offen zu den Kreditverweigerern"240. Der Parteivorstand löste daraufhin die Chefredaktion auf, setzte einen Zensor ein und ernannte Friedrich Stampfer zum alleinigen Chefredakteur, der das Blatt zwar erwartungsgemäß im Fahrwasser der „Mehrheitssozialisten " hielt241, aber nicht in der Lage war, die Gegensätze innerhalb der Redaktion zu überbrücken242. Im Dezember 1918 besetzten linksradikale Kräfte, „unterstützt von meuternden Arbeitern und Matrosen"243, das Vormiris-Gebäude, das während der „Januarunruhen" erneut von „Spartakisten" besetzt wurde244. Die „militärische Befreiung" des SPD-Verlags vom 11. Januar

™ Ebd., S. 338f. Stampfer hatte bereits 1914 in einem heftig umstrittenen Leitartikel die Kriegskredite gerechtfertigt (vgl. Friedrich Stampfer: Erfahrungen und Erkenntnisse. Aufzeichnungen aus meinem Leben. Köln 1957, S. 170f.). "2 Nach Schulze: Vorwärts, S. 343 vertrat der Vorwärts „dank Stampfers umsichtiger und taktisch geschickter Redaktionsführung [...] entschlossen die Ziele der Gesamtpartei". Aus Sicht der „Unabhängigen" stellte sich der Eingriff des Parteivorstands allerdings als „Raub" des Vorwärts dar, mit dem die „Sozialpatrioten" sich jedoch ins eigene Fleisch geschnitten hätten: „Gerade dieser Gewaltstreich des Parteivorstandes hat dazu beigetragen, daß die Opposition eine wesentliche Stärkung erfuhr", meint der sicherlich nicht unvoreingenommene Eugen Prager: Geschichte der U.S.P.D. Entstehung und Entwicklung der Unabhängigen Sozialdemokratischen Partei Deutschlands. Glashütten im Taunus 21970 (hier S. 120). Vgl. auch Kurt Koszyk: Zwischen Kaiserreich und Diktatur. Die sozialdemokratische Presse von 1914 bis 1933. Heidelberg 1958, S. 44ff. 243 Schulze: Vorwärts, S. 341. Ausführlicher dazu Stampfer: Erfahrungen, S. 230ff. Vgl. auch: Die Vorwärts-Buchdruckerei. Dem VSPD-Parteitag Berlin 1924 gewidmet. Berlin 1924, S. 19 sowie Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945, S. 36f. 2« Dazu W. J. Mommsen: Die deutsche Revolution 1918—1920, S. 375 f.: „Es war kein Zufall, daß es den spartakistischen Gruppen in diesen Kämpfen in erster Linie um die Kontrolle der Berliner Zeitungsverlage ging, allen voran des 'Vorwärts', und nicht so sehr um die Kontrolle militärisch wichtiger Objekte. Es war teils ein symbolischer Kampf, der seine Vorgeschichte im erzwungenen Frontwechsel des 'Vorwärts' während des ersten Weltkrieges hat, teils aber auch ein Kampf um den Besitz der Presseorgane, die für die politische Beeinflussung der ziellos in Bewegung geratenen breiten Massen von größter Bedeutung zu sein schien. Der erste Schritt zum wirkli241

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1919 vertiefte den Graben zwischen den Mehrheitssozialdemokraten, den Unabhängigen und den radikalen Sozialisten, die sich Ende Dezember 1918 mit den Spartakisten zur KPD zusammengeschlossen hatten245. Nach der Vereinigung von (M)SPD und Rest-USPD im September 1922 erschien der Vorwärts als „Zentralorgan der Vereinigten Sozialdemokratischen Partei Deutschlands"246. Seit Mitte der 20er Jahre war auch beim Vorwärts „eine gewisse Tendenz zur Wandlung [...] vom Kampforgan zum 'Familienblatt' [...] nicht zu verkennen"247.

Auflagenhöhe und Leserschaft Mit dem sinkenden Einfluß der SPD auf die Reichspolitik verlor auch der Vorwärts Leser248: Mitte November 1918 lag die Höhe der gedruckten Auflage noch bei „mehr als 300.000 Exemplaren pro Morgenund Abendausgabe"249, bis 1929 war sie auf ca. 82.000 gesunken250. Der Leserkreis setzte sich nach Albachary aus Arbeiterschaft, kleiner Geschäftswelt, Angestellten, Handwerkern und Beamten zusammen. Gelesen wurde das SPD-Zentralorgan vor allem in Berlin, zu einem kleinen Prozentsatz in der Provinz und im Ausland251.

chen Sieg der revolutionären Bewegung galt dem Ziel, den immer noch starken Einfluß der verhaßten Mehrheitssozialdemokratie auf die Massen zu brechen, durch Eroberung und Umfunktionierung des 'Vorwärts', darüber hinaus aber die bürgerliche Presse zum Schweigen zu bringen oder doch zumindest einzuschüchtern". Zum Kampf um den Vorwärts vgl. auch Koszyk: Zwischen Kaiserreich und Diktatur, S. 119ff. 245 Nach E. J. Gumbel: Vier Jahre politischer Mord. Berlin 1922, S. 9 wurden beim Kampf um das Berliner Zeitungsviertel am 11. Januar 1919 sieben unbewaffnete Parlamentäre der Korowris-Besatzer von Regierungstruppen unter Befehl des Grafen Westarp erschossen. 246 Vgl. Schulze: Vorwärts, S. 342. 247 Carle: Weltanschauung und Presse, S. 85. 248 Nach Koszyk: Deutsche Presse im 19. Jahrhundert, S. 272 ging die Auflage nach 1918 auch zurück, weil der Vorwärts „die Sensationsberichterstattung" ablehnte. 249 So die Auflagenhöhe im „Handbuch des Vereins Arbeiterpresse". Hg. vom Vorstand des Vereins Arbeiterpresse. Berlin 1927, hier zitiert nach Schulze: Vorwärts, S. 342. 250 Albachary: Markt-Zahlen, S. 16 und Heenemann: Auflagenhöhen, S. 77. 251 Vgl. Albachary: Markt-Zahlen, S. 16. Die Periodika aus dem MünzenbergKonzern fanden 1924 in Berlin einen höheren Absatz als die der SPD, obwohl die

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8. Die Rote Fahne Die erste Ausgabe des späteren Zentralorgans der KPD wurde nach Besetzung des Scherl-Verlags durch Spartakisten am 9. November 1918 in den Räumen des Berliner Lokal-Anzeigers gedruckt252: Das Blatt erschien mit dem Untertitel „Ehemaliger Berliner Lokal-Anzeiger" und wies alle Anzeichen kurzfristiger Improvisation auf. Mit der Schlagzeile „Berlin unter der Roten Fahne" wurde „zum Erstaunen der völlig überraschten Abonnenten" des Lokal-Anzeigers ein Blatt herausgegeben253, dessen erste Seite von den Spartakisten fast vollständig neu gesetzt war und dessen restliche Seiten von den Redakteuren des Lokal-Anzeigers stammten254. Da nicht nur in Berlin revolutionäre Zeitungen in besetzten Verlagen herausgegeben wurden255, legte der Verein deutscher Zeitungsverleger

Sozialdemokraten mehr Wähler hatten als die Kommunisten: „Daraus könnte der Schluß gezogen werden, daß die Berliner Arbeiterbevölkerung zwar ihre politischen Empfindungen vorzugsweise in einem Blatt kommunistischer Tendenz befriedigt findet, aber, wenn es gilt sich politisch zu entscheiden, doch in der Mehrzahl der weitaus gemäßigteren Haltung der SPD den Vorzug gibt" (Carle: Weltanschauung und Presse, S. 85). 252 Als Rote Fahne erschienen 1918 mehrere Zeitungen: Unter diesem Titel wurde in Stuttgart vom 5. bis zum 30. November eine Zeitung als Organ des Arbeiter- und Soldatenrats herausgegeben, und auch das Hamburger Echo erschien vom 7. bis zum 9. November als Rote Fahne (vgl. Manfred Brauneck: Revolutionäre Presse und Feuilleton. „Die Rote Fahne" — das Zentralorgan der kommunistischen Partei Deutschlands (1918 bis 1933). In: Ders. [Hg.]: Die Rote Fahne. Kritik, Theorie, Feuilleton 1918-1933. München 1973, S. 9-54 [hier S. 22]). 253 Carle: Weltanschauung und Presse, S. 74, Anm. 179. 254 Kurt Koszyk: Die Rote Fahne (1918—1933). In: Deutsche Zeitungen, S. 391—403 (hier S. 391). Wahrscheinlich stammte nicht die gesamte erste Seite von den Spartakisten, wie Brauneck (Revolutionäre Presse, S. 9) meint, sondern zwei Artikel stammten mit großer Sicherheit von den Redakteuren des Lokal-Anzeigers. Auch die nächste Ausgabe enthielt offensichtlich noch zahlreiche Beiträge von Redakteuren des LokalAnzeigers. 255 Mehrere Beispiele bei Brauneck: Revolutionäre Presse, S. 22. — Die Darstellung von Brauneck läßt eine starke Idealisierung von KPD und Roter Fahne erkennen. Problematischer ist jedoch, daß Brauneck Zitate häufig nicht im Original überprüft hat, sondern sie — gestützt auf Sekundärliteratur — leicht verändert wiedergibt (vgl. z.B. Braunecks Zitat [ebd., S. 11] aus dem Berliner Lokal-Anzeiger vom 12. November 1918). Bei der Aufzählung der Verbote des KPD-Organs unterscheidet sich Brauneck (ebd., S. 19) gelegentlich von Koszyk: Rote Fahne, S. 399.

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Einleitung

seinen Mitgliedern nahe, bei Übergriffen, die das von der Regierung garantierte Privateigentum und das Recht auf freie Meinungsäußerung einschränkten, sich direkt an den für Presseangelegenheiten zuständigen Volksbeauftragten Philipp Scheidemann zu wenden256. Mit einem solchen Schritt hatte die Redaktion des besetzten Lokal-Anzeigers schnell Erfolg, denn er führte zur umgehenden Räumung des Verlags durch Regierungstruppen257. Während der Lokal-Anzeiger nach diesem kurzen Intermezzo wieder wie gewohnt erschien, dauerte es fast eine Woche, bis die dritte Nummer der Roten Fahne am 18. November herausgegeben werden konnte258, denn „kaum eine Berliner Lohndruckerei fand sich bereit, für den Spartakusbund zu arbeiten"259. Mit dem Erscheinen der dritten Nummer waren die Probleme der Spartakisten jedoch keinesfalls gelöst: Zunächst hatte die Rote Fahne mit einer „einschneidende[n] Rationierung [...] der Papierzuteilung" zu kämpfen260, und im Dezember 1918 besetzten Regierungstruppen auf der Suche nach Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mehrfach die Redaktionsräume. Am 9. Januar 1919 stürmten schließlich Freikorpsverbände die Druckerei der Roten Fahne, zwei Tage später wurde die Zentrale der KPD völlig zerstört, und am 15. Januar verloren KPD und Rote Fahne mit der Ermordung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg ihre

256

So eine Notiz des Berliner Lokal-Anzeigers vom 16. November 1918. Vgl. Brauneck: Revolutionäre Presse, S. lOf. Nach einem Befehl des „Vollzugsrats des A.- und S.-Rates", so der Lokal-Anzeiger am 16. November 1918, sollte „der Scherl-Verlag — ohne Gegenleistungen — täglich ein Exemplar der Roten Fahne unter Leitung von Rosa Luxemburg erstellen". 258 Die Rote Fahne, die seit ihrer dritten Ausgabe unter der Leitung von Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg erschien, führte bis zum 30. Dezember 1918 den Untertitel „Zentralorgan des Spartakusbundes". Nach Konstituierung der KPD lautete der Untertitel „Zentralorgan der kommunistischen Partei Deutschlands (Spartakusbund)". 259 Brauneck: Revolutionäre Presse, S. 12. 260 Während der Vorwärts mit bis zu 16 Seiten Umfang erschien, reichte das Papier der Roten Fahne nur für vier Seiten. Insgesamt standen (nach Brauneck: Revolutionäre Presse, S. 15) den rund 300 Seiten der Berliner (bürgerlichen) Presse nur vier Seiten „revolutionärer Presse" gegenüber; konkretere Ausführungen zur Papierzuteilung gibt Koszyk: Deutsche Presse 1914—1945, S. 35. Nach Koszyk hing die Papierzuteilung vom Verbrauch im Stichjahr 1915 ab. Auch die SPD-Presse habe — trotz ihres politischen Einflusses — keine Erhöhung ihres Kontingents durchsetzen können (Koszyk: Zwischen Kaiserreich und Diktatur, S. 128). 257

Die untersuchten Zeitungen

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führenden Köpfe. Zählte die KPD im Herbst 1919, als Paul Levi die Parteiführung offiziell übernahm, noch rund 100.000 Mitglieder, so war sie nach Abspaltung der syndikalistischen Richtung im Frühjahr 1920 „nicht viel mehr als eine revolutionäre Sekte"261. „Massenpartei" wurde die KPD erst, als sich der linke Flügel der USPD im Oktober 1920 entschloß, den „21 Bedingungen" für einen Beitritt zur Dritten Internationale zuzustimmen, und sich im Dezember 1920 mit der KPD zur Vereinigten Kommunistischen Partei Deutschlands zusammenschloß262. Seitdem war die Rote Fahne Zentralorgan einer rund 350.000 Mitglieder zählenden Partei, die zunächst „unter Levis Führung die Taktik einer Einheitsfront zwischen allen proletarischen Gruppen einschlug"263. Doch schon im Februar 1921 wurde die gemäßigte KPD-Führung um Levi durch eine „linke" Gruppe ersetzt, die sich zur „Märzaktion", einer von Mitteldeutschland ausgehenden revolutionären Offensive, entschloß264. Nach dieser „Marneschlacht" vom März 1921 veranlaßte die Moskauer Zentrale die KPD zur Wiederaufnahme der unter Levi eingeschlagenen „Einheitsfrontpolitik", die auch der Roten Fahne eine gewisse „Mäßigung" in der innenpolitischen Auseinandersetzung mit der Sozialdemokratie auferlegte. Einen erneuten Kurswechsel führte die Moskauer Zentrale herbei, als sie die Phase der Rapallo-Politik im Frühsommer 1923 für beendet hielt und mit dem „Schlageter-Kurs" eine Annäherung an die „nationale Opposition" suchte, gleichzeitig aber Koalitionen mit der SPD auf Landesebene anstrebte, um so Machtpositionen einzunehmen, die ihr für eine erfolgreiche Revolution, für einen Deutschen Oktober nach russischem Vorbild, erforderlich schienen.

261

Ossip K. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik. Mit einer Einleitung von Sigrid Koch-Baumgarten. Hamburg 1986, S. 123. In Berlin blieben der KPD nach Abspaltung der KAPD „von etwa 10.000 nur einige Dutzend Mitglieder" (S. 116). 262 Vgl. Werner T. Angress: Die Kampfzeit der KPD 1921—1923. Düsseldorf 1973, S. 74ff. 263 Helga Grebing: Geschichte der deutschen Arbeiterbewegung. München 1970, S. 174. 264 Zur „Märzaktion" vgl. Sigrid Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde. Die Märzaktion der KPD 1921. Frankfurt/New York 1986 sowie Angress: Die Kampfzeit der KPD, S. 140ff. und Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, S. 126ff.

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Einleitung

Auflagenhöhe und Leserschaft Nachdem das Blatt nicht mehr im Scherl-Verlag erscheinen konnte, übernahmen „organisierte Arbeitergruppen" den Vertrieb der zum 18. November 1918 gedruckten 15.000 Exemplare. Eine normale Ausgabe der Roten Fahne soll 1920 ca. 30.000 Auflage gehabt haben, 65.000 bis 70.000 Exemplare sollen es 1925 gewesen sein265. Während die Leserschaft der Roten Fahne nach zeitgenössischen Darstellungen vor allem aus Mitgliedern der KPD bestand, die dem besitzlosen Proletariat zugerechnet werden können266, betont die neuere Forschung, daß auch „große Teile der unqualifizierten und schlecht bezahlten Arbeiter der SPD folgten, während nicht unerhebliche Teile der qualifizierteren Gruppen wenigstens zeitweise zur KPD neigten"267. Hauptverbreitungsgebiet der Roten Fahne waren die Berliner Arbeiterbezirke; nur ein geringer Prozentsatz der Auflage wurde außerhalb Berlins abgesetzt268.

265

Carle: Weltanschauung und Presse, S. 75. Im Krisenjahr 1929 erreichte das Blatt eine Auflage von 92.000 Exemplaren (Albachary: Markt-Zahlen, S. 15). M Vgl. Carle: Weltanschauung und Presse, S. 76. 267 So Hermann Weber: Kommunismus in Deutschland 1918—1945. Darmstadt 1983, S. 68. 1931 waren rund 78 Prozent der KPD-Mitglieder arbeitslos; 1932 lag die Quote bei 85 Prozent (ebd.). 268 Albachary: Markt-Zahlen, S. 15. Nach Carle: Weltanschauung und Presse, S. 75f. erreichte das Blatt in Berlin etwa jeden zehnten Einwohner bzw. jeden dritten Arbeiter. Da Berlin jedoch rund vier Millionen Einwohner hatte, erscheint diese Angabe selbst dann noch überzogen, wenn man in Rechnung stellt, daß jedes Exemplar der Roten Fahne nicht nur einen Leser hatte, sondern von Hand zu Hand weitergereicht wurde.

ERSTES KAPITEL

Kriegsende und Revolution: Nationales Trauma

EINFÜHRUNG: „ERHEBUNGSPHASE 1918"

Betrachtet man die Erleichterung, mit der die hier untersuchten Zeitungen schließlich den Waffenstillstand vom 11. November 1918 begrüßten, oder die Begeisterung, mit der etwa die Frankfurter Zeitung zur Mitgestaltung der „sozialen Republik" aufrief, dann mag die Feststellung erstaunen, die Republik habe ihr Selbstverständnis „nicht auf die Revolution, sondern allenfalls auf deren Überwindung" gegründet1. Dieser Sachverhalt wird jedoch verständlich, wenn man sich vergegenwärtigt, wie die deutsche Öffentlichkeit auf die eruptive Entladung der Spannungen und Enttäuschungen reagierte, die nach dem unerwarteten deutschen Waffenstillstandsangebot vom 3. Oktober lawinengleich anschwollen2. Als bei Kriegsende die verheerende Niederlage Deutsch-

1

Rürup: Probleme der Revolution, S. 4. Nach Bernd Faulenbach: Ideologie des deutschen Weges. München 1980, S. 248 f. sahen selbst die zeitgenössischen „prorepublikanischen Historiker, vor allem die 'Vernunftrepublikaner', [...] die historische Leistung der Weimarer Nationalversammlung und die geschichtliche Legitimität des [...] Verfassungssystems gerade in der Überwindung der revolutionären Situation [...] und der Gewährleistung einer — jedenfalls partiellen — Kontinuität zum Bismarckreich". 1 Kolb: Weimarer Republik, S. 4. Auch Rürup: Probleme der Revolution, S. 21 nennt „Erschöpfung und Verbitterung" als „Triebkräfte der Umsturzbewegung". Ähnlich urteilt Erdmann: Weimarer Republik, S. 28 f.: „Das alte Regime wurde nicht durch eine planmäßig vorbereitete Volkserhebung gestürzt. Es brach in sich zusammen, als die Matrosen meuterten und ihre Revolte in dem kriegsmüden Lande auf die Garnisonen des Heimatheeres und die Arbeiterschaft übersprang". Jürgen Kocka: Klassengesellschaft im Krieg. Deutsche Sozialgeschichte 1914—1918. Frankfurt am Main 1988, S. 173 sieht in klassenspezifischen Spannungen, die sich „zu einem großen Teil in Protesten der Arbeiter, Angestellten und Bauern gegen den Staat, die Bürokratie und das System statt als Aggressionen und Proteste gegen den Klassengegner" äußerten, eine entscheidende Ursache der Revolution von 1918/19. Demgegenüber mißt Ulrich Kluge: Soldatenräte und Revolution. Göttingen 1975 den Unruhen innerhalb der Hochseeflotte weit stärkere Bedeutung bei und spricht von einem „Militärstreik aus Kriegsmüdigkeit vor dem Hintergrund immer stärker werdender Gegensätze zwischen Mannschaften und Führung" (S. 11).

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/. Kriegsende und Revolution

lands nicht mehr zu leugnen war, fiel der Revolution, „von der keiner recht zu sagen wagt, ob sie wirklich eine war"3, insbesondere die Aufgabe zu, den Zusammenbruch in halbwegs geordnete Bahnen zu lenken: Niederlage und Revolution bildeten für die Zeitgenossen eine untrennbare Einheit, waren die beiden Seiten einer Medaille; ohne den militärischen Zusammenbruch schien die Revolution kaum denkbar. Deshalb bestimmten auch weniger die Erfolge der vom Oktober datierenden Parlamentarisierung die Erinnerung an die Revolution, sondern der Zusammenbruch einer für unerschütterlich gehaltenen Weltordnung sowie die diffuse Angst vor dem „Bolschewismus" prägten das so folgenreiche „Trauma der Novemberrevolution"4: „Nicht die Revolution, sondern die der Revolution abgerungene Kontinuität"5 bildete die Grundlage für das politische Selbstverständis der Weimarer Republik. Je stärker politische und wirtschaftliche Probleme den Blick in die Zukunft verdüsterten, desto größere Bedeutung erlangten die sich neu etablierenden traditionellen Eliten, die sich als wirksamer Schutz gegen die vermeintliche Bedrohung durch den „Bolschewismus"6, als sicherer Damm gegen Umsturz und Chaos empfahlen7.

3

So Werner Conze und Erich Matthias einleitend zu: Erich Matthias: Zwischen Räten und Geheimräten. Die deutsche Revolutionsregierung 1918/1919. Düsseldorf 1970, S. 13. 4 Hans Mommsen: Der Widerstand gegen Hitler. In: HZ 241 (1985), S. 81—104 (hier S. 102), auch abgedruckt in: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus. Hg. von Jürgen Schmädeke und Peter Steinbach. München 1985, S. 3—23. 5 Rürup: Probleme der Revolution, S. 5. Ähnlich urteilt H. Mommsen: Die verspielte Freiheit: „Nicht die Errungenschaften der Revolution, die im ersten Anlauf zum Stillstand kam, sondern die Gegenrevolution und die von ihr provozierten bürgerkriegsartigen Erscheinungen blieben im Bewußtsein der Zeitgenossen als prägende Erfahrung bestehen" (S. 8). 6 Zur Bedrohung durch den „Bolschewismus" vgl. Weber: Kommunismus in Deutschland, S. 39 f.: „Die damals und später oft beschworene 'Gefahr des Bolschewismus' in Deutschland bestand real kaum, da der frühere deutsche Kommunismus unter Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht weder identisch mit dem Bolschewismus war, noch die Kraft besaß, die Revolution in eine 'bolschewistische Richtung' zu drängen". Kolb: Weimarer Republik, S. 9 nennt die Spartakisten „ein kleines Häuflein; bei Ausbruch der Revolution wohl höchstens einige Tausend". Und Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, S. 24 weist auf einen weiteren Faktor hin, der die Wirksamkeit der Spartakisten nachhaltig beeinträchtigte: „In Wirklichkeit hatte die Führung des Spartakusbundes theoretisch und praktisch mit der Mehrzahl ihrer

Einführung 1918

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Ein Blick in die deutsche Presse zeigt aber auch, daß es weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit im November 1918 noch nicht so sehr um den Erhalt von Kontinuitäten ging, sondern daß zu diesem Zeitpunkt der Wunsch nach einem politischen, sozialen und wirtschaftlichen Neuanfang evident war. Selbst wenn, wie beim Berliner Lokal-Anzeiger, angesichts des unerwartet schnellen Umsturzes und der Angst vor „bolschewistischen Zuständen" bei einem Teil der Presse taktische Lippenbekenntnisse nicht auszuschließen sind, vor dem Hintergrund des militärischen und politischen Zusammenbruchs gaben sich alle Zeitungen von der Notwendigkeit eines grundlegenden Neuanfangs überzeugt8. Desgleichen bestand, mit Ausnahme von Blättern wie der Roten Fahne, Einigkeit darüber, daß sich der Umschwung in möglichst friedfertigen Bahnen vollziehen sollte, daß „Ruhe und Ordnung" gewahrt werden müßten, um vor allem die Lebensmittelversorgung sicherzustellen, und daß — so schnell wie möglich — Wahlen zur Nationalversammlung anberaumt werden sollten. Ebenfalls nahezu einhellig wurde im November 1918 das Bemühen der Sozialdemokratie begrüßt,

Anhänger gar nichts gemein". Vgl. außerdem Peter Lösche: Der Bolschewismus im Urteil der deutschen Sozialdemokratie 1903—1920. Berlin 1967 (hier S. 282). 7 Selbst „durch die Einrichtung von Volksbeauftragten sowie [von] Arbeiter- und Soldatenräten war nur ein politischer Überbau über die alte monarchistische Verwaltungsapparatur errichtet worden, die im wesentlichen ungestört weiter arbeitete", betont Theodor Eschenburg: Die improvisierte Demokratie der Weimarer Republik. Laupheim 1954, S. 43. Auch Lothar Albertin: Liberalismus und Demokratie am Anfang der Weimarer Republik. Eine vergleichende Analyse der Deutschen Demokratischen Partei und der Deutschen Volkspartei. Düsseldorf 1972, S. 36 kritisiert, daß insbesondere die aus dem Kaiserreich stammende Bürokratie nicht nach republikanischen Maßstäben umgestaltet wurde. 8 Vgl. Jan Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen 1918—1922. 2 Bde. Frankfurt 1981, der zu der Feststellung gelangt, daß sogar der Gründungsaufruf der DNVP vom 24. November 1918 viele Forderungen enthielt, „die auch nicht anders von den übrigen bürgerlichen Parteien und zum Teil sogar auch von den Linksparteien gestellt wurden" (S. 9). Der Wahlaufruf der DNVP vom 27. Dezember 1918 signalisierte jedoch schon, „wie sehr die Kräfte aus den alten Rechtsparteien, die sich einer grundlegenden Neubesinnung widersetzten, seit dem Gründungsaufruf an Boden gewonnen hatten" (ebd., S. 53). Daß auch ein großer Teil der bürgerlichen Presse sich schnell auf „vorrevolutionäre" Positionen zurückzog, belegt Karl Brammen Das Gesicht der Reaktion. Berlin-Halensee. o. J. [1919].

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I. Kriegsende und Revolution

sich an die „Spitze der Bewegung" zu stellen9: Mit Ausnahme der radikalen Linken erhoffte die deutsche Öffentlichkeit von der Revolution zunächst, daß sie in der Lage wäre, das zusammengebrochene Kaiserreich zu liquidieren, den Krieg zu beenden und ein demokratisch-parlamentarisches System zu installieren, wobei die Umgestaltung des sozialen Gefüges je nach dem politischen Standort akzentuiert wurde. Um diese Ziele zu erreichen, wurden von den Konservativen auch politische und soziale Reformen wie das Frauenwahlrecht10 oder das „Stinnes-Legien-Abkommen"11 bereitwillig akzeptiert und die Arbeiter- und Soldatenräte als „antibolschewistische" Ordnungsfaktoren anerkannt12.

' So schrieb der Korawrfs-Redakteur Erich Kuttner am 7. November 1918 in einem privaten Brief: „Wir suchen zu bremsen, wird die Bewegung durch Wilhelm[s] II. Hartnäckigkeit [gemeint ist sein Festhalten am Thronanspruch] unaufhaltbar, dann werden wir wohl oder übel an die Spitze treten müssen" (zitiert nach Lösche: Bolschewismus, S. 161, Anm. 9). Eschenburg: Die improvisierte Demokratie, S. 29 meint sogar, die Parteien seien „zur Machtübernahme befohlen worden, sie hatten nicht um die Macht gekämpft". Und Arthur Rosenberg: Entstehung der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 171977, S. 214, konstatiert, daß im Oktober 1918 „die Reichstagsmehrheit ohne jede eigene Anstrengung und ohne jeden Kampf in den Besitz der vollen politischen Gewalt gelangt war". Es sei bezeichnend „für die innere Schwäche und Unsicherheit der Mehrheitsparteien, daß sie keinen Mann aufzuweisen hatten, der an die Spitze der Bewegung trat". 10 Das Frauen Wahlrecht trug sehr wahrscheinlich dazu bei, daß SPD und USPD bei den Wahlen zur Nationalversammlung am 19. Januar 1919 nicht die Mehrheit der Sitze errangen (vgl. etwa Alfred Kastning: Die deutsche Sozialdemokratie zwischen Koalition und Opposition 1919—1923. Paderborn 1970, S. 19). 11 Im „Stinnes-Legien-Ab kommen" sicherten die Arbeitgeber den Gewerkschaften seit langem geforderte Rechte wie den Acht-Stunden-Tag zu. Hätte das Abkommen vor dem 9. November 1918 noch ein weitgehendes Entgegenkommen der Arbeitgeber bedeutet, so stellte es bei Inkrafttreten am 15. November „eine Konzession der Gewerkschaften an das Unternehmertum dar", weil damit „dem System der Marktwirtschaft die Berechtigung zum Fortbestehen" erteilt wurde (Fritz Blaich: Staatsverständnis und politische Haltung der deutschen Unternehmer 1918—1930. In: Weimarer Republik 1918—1933, S. 158—178 [hier S. 159J. — Legien, ein Vertreter des rechten SPD-Flügels, hatte am 2. Dezember 1914 den Ausschluß Liebknechts aus der Fraktion beantragt, nachdem Liebknecht als einziger SPD-Abgeordneter im Reichstag gegen die Kriegskredite gestimmt hatte (Freya Eisner: Das Verhältnis der KPD zu den Gewerkschaften in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main o.J, S. 29). 12 Vgl. Susanne Miller: Die Bürde der Macht. Die deutsche Sozialdemokratie 1918—1920. Düsseldorf 1978: Solange „die Rätebewegung bei der 'Umwälzung1 als ein Ordnungselement wirkte, wurde sie von den Regierungen toleriert, ja war ihnen

Einführung 1918

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Daß die „Bolschewistenfurcht" in der deutschen Öffentlichkeit so virulent war, hatte verschiedene Gründe: Nach Peter Lösche „ließen die Propaganda, die weitgehende Identifikation der Linksradikalen mit den Bolschewiki und die Erfolge Lenins [...] die Furcht vor dem Bolschewismus zu einem Faktor werden, der die politischen Entscheidungen in der Novemberrevolution real mitbestimmte"13. Eberhard Kolb fügt dieser Erklärung hinzu, daß insbesondere die traditionellen Machteliten im Auswärtigen Amt die Angst vor dem Bolschewismus instrumentalisierten, „um bei den Siegermächten ein negativ akzentuiertes Bild der inneren Situation in Deutschland zu erzeugen und die offiziellen und nichtoffiziellen Repräsentanten der Siegermächte zu Äußerungen zu veranlassen, die in der innenpolitischen Auseinandersetzung verwendbar waren"14. Und Hermann Weber betont, daß „die Furcht vor den Kommunisten allgemein verbreitet [war], bald aber sollte sie dazu herhalten, die wirtschaftliche und politische Restauration zu forcieren"15. Festzuhalten bleibt, daß im November 1918 die deutschen Zeitungen vom Münchener Beobachter bis zum Vorwärts mit einer bolschewistischen Bedrohung operierten und ein entsprechendes Schreckgespenst, je nach parteipolitischer Couleur, ausmalten: So versah der Münchener Beobachter seinen Antibolschewismus mit antisemitischen und antisozial-

in vielen Fällen willkommen. Sobald sie jedoch von deren Ordnungsvorstellungen abwich, begegneten sie ihr mit Mißtrauen und Feindseligkeit" (S. 135). Ähnlich urteilt auch Kluge: Soldatenräte und Revolution, S. 363 f., Anm. 9. Nach Lösche: Bolschewismus, S. 257 hatte der Antibolschewismus nicht zuletzt die Funktion „einer ideologischen Klammer für die Regierungskoalition zwischen bürgerlich-demokratischen Parteien und der Sozialdemokratie". 13 Ebd., S. 282. 14 Eberhard Kolb: Internationale Rahmenbedingungen einer demokratischen Neuordnung in Deutschland 1918/19. In: Weimarer Republik 1918—1933, S. 257—284 (hier S. 277). Das von Kolb (ebd., S. 274) erwähnte Beispiel, nach dem Ebert am 10. November 1918 versuchte, von Wilson die Zusage zu erhalten, Deutschland käme in den Genuß einer Lebensmittelhilfe, wenn die öffentliche Ordnung garantiert werden könne, findet seine Bestätigung in zahlreichen Presseartikeln, die eine entsprechende Erklärung des amerikanischen Präsidenten enthielten. Die bei den Alliierten vorhandene Unsicherheit gegenüber dem Bolschewismus ging insbesondere „auf die Monate nach der Oktoberrevolution" zurück, „als Rußland sich unter der Parole der Weltrevolution von ihrer Seite löste und mit Deutschland einen Sonderfrieden schloß" (Lösche: Bolschewismus, S. 238f.). 15 Hermann Weber: Die Wandlung des deutschen Kommunismus. Die Stabilisierung der KPD in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1969, S. 25.

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I. Kriegsende und Revolution

demokratischen Attributen, während die katholische Germania vor allem die führende Rolle von Juden in der russischen Revolution unterstrich und der sozialdemokratische Vorwärts es sich nicht nehmen ließ, mit dem Schreckgespenst des Bolschewismus gegen die Spartakisten zu agitieren — obwohl alle Zeitungen immer wieder betonten, der Bolschewismus habe keine Chance, sich in Deutschland durchzusetzen16. Es scheint, als habe — analog einem „Antisemitismus ohne Juden" — im Herbst 1918 ein diffuser Antibolschewismus grassiert, der zwar keine Entsprechung in der Realität hatte, aber so ausgeprägt war, daß er den durchaus vorhandenen Antisemitismus in der öffentlichen Diskussion deutlich überlagerte17. Die Presseberichte der „Erhebungsphase 1918" beschränken sich im wesentlichen auf den Umsturz in München vom 7./8. November, auf die am 9. November verkündete Abdankung der Hohenzollern und die von Scheidemann, wenig später auch von Liebknecht proklamierte Republik. Die ausführlicher dargestellten Ereignisse mit Massencharakter waren die am 9. November durch Berlin wogenden Demonstrationszüge. Doch schon am nächsten Tag wurde „die Revolution" vom bevorstehenden Waffenstillstand und der Sorge um die weitere Zukunft überschattet. Zugespitzt bedeutet dies: Für den größten Teil der deutschen Öffentlichkeit war die „November-Revolution" zunächst einmal gleichzusetzen mit dem Thronverzicht der Monarchen, insbesondere dem der Hohenzollern, mit der Ausrufung der Republik und vor allem mit dem Abschluß des Waffenstillstands. Bis auf monarchistische Kreise konnte man bis zu diesem Zeitpunkt mit dem Verlauf der Revolution zufrieden sein. Anders sah es mit den anschließenden Auseinandersetzungen zwischen (M)SPD, Unabhängigen, Revolutionären Obleuten und Spartakisten aus. Diese blutigen Schlachten eskalierten über die „Weihnachts-

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Nach Matthias: Zwischen Räten und Geheimräten, S. 16 beherrschte die Bolschewistenfurcht „nicht nur die bürgerlichen und kleinbürgerlichen Schichten, sondern auch die Mehrheitssozialdemokraten waren von ihr besessen. Das gleiche gilt in modifizierter Form selbst für einen erheblichen Teil der Führerschaft der USPD". 17 Kocka: Klassengesellschaft im Krieg, S. 138 sieht in dem „seit Ende 1915 immer virulenter werdenden Antisemitismus" eine krisenbedingte, aber „nicht-klassengesellschaftliche Differenzierung, die [...] als Kanal und Ventil für [...] Aggressionen und Unzufriedenheiten [diente], die aus Quellen resultierte, welche mit dem Angriffsobjekt, den Juden, nichts Ursächliches zu tun hatten".

Einführung 1918

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unruhen" zum „Januaraufstand 1919" und setzten sich bis Mitte 1919 fort18. Insbesondere diese Kämpfe, zu deren Niederschlagung zunehmend Freikorps und andere nichtrevolutionäre Verbände der alten Reichswehr eingesetzt wurden, prägten dann das Bild der Revolution19. Im Mittelpunkt des öffentlichen Interesses stand im Herbst 1918 jedoch eindeutig die Frage, wann der Krieg endlich beendet werde. Der Tag des Waffenstillstands, der 11. November, ist deshalb Stichtag dieser „Erhebungsphase"20. Wie in allen folgenden Kapiteln auch, werden die Zeitungen nach ihrer Einstellung zum „Ereignis", hier zum Waffenstillstand, nach ihrem Verhältnis zu „Republik und Rechtsradikalismus" sowie nach ihrer Ansicht zum Thema „Judentum und Antisemitismus"

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Nach dem „Januaraufstand", dessen Anlaß die Absetzung des Berliner Polizeipräsidenten Eichhorn (USPD) war, erstreckten sich die Streiks, Unruhen und Aufstände auf das Ruhrrevier sowie das mitteldeutsche und sächsische Industriegebiet, aber auch auf Städte wie Bremen, Hamburg und vor allem München. J. S. Drabkin: Die Entstehung der Weimarer Republik. Berlin 1983 geht ausführlich auf diese reichsweiten Auseinandersetzungen ein. Zur marxistisch-leninistischen Betrachtung der frühen Republik vgl. auch Wolfgang Rüge: Weimar. Republik auf Zeit. Berlin 1969 sowie Lothar Berthold und Helmut Neef: Militarismus und Opportunismus gegen die Novemberrevolution. Berlin 1978. 19 Vgl. Ulrich Kluge: Die deutsche Revolution 1918/1919. Staat, Politik und Gesellschaft zwischen Weltkrieg und Kapp-Putsch. Frankfurt 1985, S. 85: „Gegenüber einem schnell anwachsenden Massenprotest [...] vermochten sich Ebert und Scheidemann nur noch mit Hilfe ehemaliger Gardetruppen unter dem Befehl der Obersten Heeresleitung zu behaupten". Die Konsequenzen des Einsatzes dieser Formationen, „die zwar gegen die sozialistische Revolution, aber nicht für die parlamentarische Demokratie kämpften" (Rürup: Probleme der Revolution, S. 46), sind unumstritten. So betont auch Heinz Hurten: Bürgerkriege in der Republik. Die Kämpfe um die innere Ordnung von Weimar 1918—1920. In: Weimarer Republik 1918—1933, S. 81 bis 94 (hier S. 87), daß die Stellung der Armee durch diese Kämpfe erstarkt sei, „ohne daß sie es nötig gehabt hätte", sich der parlamentarischen Demokratie auch nur „anzugleichen oder zu unterwerfen". 20 Die „Erhebungsphase 1918" umfaßt alle Ausgaben der Tageszeitungen zwischen dem 4. und 18. November. Da der Münchener Beobachter im Herbst 1918 nur wöchentlich (am Samstag) erschien, wurden in diesem Fall alle Ausgaben zwischen dem 5. Oktober und 7. Dezember zur Untersuchung herangezogen (jeweils sieben Nummern vor und nach dem Stichtag). Die Rote Fahne erschien zwar erstmals am 9. November, konnte danach aber nur sehr unregelmäßig gedruckt werden; von der Roten Fahne wurden alle Ausgaben zwischen dem 9. und 19. November sowie die Ausgabe vom 14. Dezember, in der Rosa Luxemburg das „Manifest des Spartakusbundes" veröffentlichte, berücksichtigt.

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I. Kriegsende und Revolution

befragt. Neben diesen drei standardisierten Abfragen soll untersucht werden, welche Themen die einzelnen Zeitungen besonders akzentuierten, um ein möglichst authentisches Bild der politischen Strömungen zu erhalten, die sich in der öffentlichen Diskussion bemerkbar machten. Mit dem am 31. Juli 1914 über das Reichsgebiet verhängten Kriegszustand war die Pressefreiheit zwar spürbar eingeschränkt21, jedoch wurde sie keinesfalls so strikt gehandhabt wie bei den Alliierten oder im Zweiten Weltkrieg22. Obwohl die Zensur gegen Kriegsende schon „fast ganz bedeutungslos"23 war, lag den Redaktionen im Herbst 1918 ein weitgehend identisches Nachrichtenmaterial vor, das zu einer „Uniformierung des redaktionellen Teils der Zeitungen" führte24.

21

Vgl. Kurt Koszyk: Entwicklung der Kommunikationskontrolle zwischen 1914 und 1918. In: Heinz-Dietrich Fischer (Hg.): Pressekonzentration und Zensurpraxis im Ersten Weltkrieg. Berlin 1973, S. 152-193. 22 „Man tolerierte sogar defaitistische Äußerungen in der Presse, was in England oder Amerika undenkbar gewesen wäre" (Harold J. Gordon: Hitlerputsch 1923. Machtkampf in Bayern 1923—1924. Frankfurt am Main 1971, S. 19). 23 Karin Herrmann: Der Zusammenbruch 1918 in der deutschen Tagespresse. Politische Ziele, Reaktion auf die Ereignisse und die Versuche der Meinungsführung in der deutschen Tagespresse während der Zeit vom 23. September bis 11. November 1918. Diss. phil. Münster (Westf.) 1958, S. 19. Vor allem die Presse der USPD war von Zensurmaßnahmen betroffen, wie Miller: Bürde der Macht, S. 54 f. nachweist. 24 Koszyk: Kommunikationskontrolle, S. 156.

I Der Münchener Beobachter „Unabhängige Zeitung für nationale und völkische Politik" nannte sich das rechtsextreme Blatt im Untertitel25 und postulierte einen fundamentalen Wesensunterschied zwischen der deutschen Bevölkerung und der in den „westlichen Demokratien"26. Ausführlich befaßte sich der Münchener Beobachter mit der schlechten Versorgung und der Verteuerung von Lebensmitteln, wobei keine Gelegenheit ausgelassen wurde, die Lebensmittelverknappung auf „jüdische Schiebereien" zurückzuführen27. Das die Tagespolitik weitgehend ignorierende Blatt kritisierte vor allem die innenpolitische Entwicklung außerhalb Bayerns.

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Nur selten trennte das Blatt Nachricht und Kommentar; fast alle Meldungen wurden von der Redaktion kommentiert. Das „Sportblatt", das sich jeder Ausgabe des Münchener Beobachters anschloß, umfaßte häufig gut ein Drittel des Gesamtumfangs; Hauptthema war hier der Pferdesport. 26 Zur Angabe des Erscheinungsmonats benutzte das Blatt neben den üblichen Monatsnamen die altdeutsch-germanischen Bezeichnungen wie Gilbhardt, Nebelung etc. 27 So auch in der Ausgabe vom 12. Oktober 1918: „Durch die gesamte Presse ging folgende Nachricht: 'In Bad Nauheim wurden infolge einer aufgedeckten Geheimschlächterei zahlreiche angesehene Bürger verhaftet, darunter ein Religionslehrer und einer der bekanntesten Hotelbesitzer [...]'. Wenn keine Namen genannt werden", so der Münchener Beobachter, „macht uns das immer mißtrauisch; wir haben nun festzustellen: der verhaftete Religionslehrer ist der sehr fromme Schächter Oppenheimer, der heimlich das Vieh, das in dem koscheren Hotel Adler konsumiert wurde, schachtete; Abnehmer des geschächteten Fleisches war auch der jüdische Arzt Geheimrat Professor Dr. Grödel [...] Empfänger [des angeblich in größeren Mengen versandten Fleisches] waren Frankfurter und Berliner Juden, die auf diese Weise nicht nur markenfreies, sondern sogar koscheres Fleisch erhielten. Man kann verstehen, daß es weder im Sanatorium Grödel noch im Hotel Adler fleischlose Wochen gegeben hat. Die dort verkehrenden Kriegsgewinnler sind meist Frankfurter und Berliner Juden, dieselben Leute, die die Nahrungsmittelhetze gegen Bayern organisieren" (Hervorhebungen im Original werden kursiv wiedergegeben).

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I. Kriegsende und Revolution

L Der „ewige Feind": Die Juden

Um das völkische Gemeinschaftsgefühl zu stärken, forderte der Münchener Beobachter seine Leser auf, „die deutschen Streitigkeiten, die bisher nur den Fremdrassigen Nutzen brachten", beiseite zu lassen und „alles Kleinliche, alle Selbstsucht" zu vergessen28. Mit einem Vokabular und mit Feindbildern, die sich kaum von denen der späteren Nationalsozialisten unterschieden, machte der Münchener Beobachter deutlich, daß er mit den „Fremdrassigen" ausnahmslos Juden meinte29: Die „Hochfinanz Berlins, Wiens, Londons und New Yorks" verfolgte nach Ansicht des Blatts ausschließlich „alljüdische Ziele", und „wie ein giftiger Schleim" würde sich „von der Frankfurter Zeitung, dem Berliner Tageblatt, [dem] Vorwärts u.a. die Verächtlichmachung aller Ideale von der Väter Sitte und Tugend" über das deutsche Volk ergießen. Den Grund hierfür sah das völkische Blatt im Haß „gegen alles wahrhaft Germanische und Deutsche, wie er in der internationalen Plutokratie, dem Judentum der ganzen Welt, aber auch bei den internationalen rasselosen Asphaitikern zu Hause" sei. Als „rachitische Köpfe" und „Mischlinge heterogenster Rassen, die sich und anderen zum Ekel den Zwiespalt ihrer Doppelnatur durchs Leben schleppen", bezeichnete der Münchener Beobachter seine Gegner und forderte, „jeder Vaterlandsfreund" solle dazu beitragen, daß „jene Schädlinge beseitigt werden"30. Die Konsequenz seiner Ausführungen präsentierte das Blatt unter der Überschrift „Halte dein Blut rein!"31. Sich auf Disraeli berufend, betonte

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Ausgabe vom 5. Oktober 1918. „Die kommende [...] Zeit wird uns stahlhart machen; der Bierphilister wird verschwinden!" (ebd.). 29 Wann immer möglich, wurde erwähnt, daß eine Person Jude sei, ein Wirtschaftsunternehmen von Juden kontrolliert werde etc. 30 Ausgabe vom 5. Oktober 1918. Offensichtliche Schreib- und Interpunktionsfehler sind in den Zitaten korrigiert. 31 Münchener Beobachter vom 12. Oktober 1918. Nach Karl Salier: Die Rassenlehre des Nationalsozialismus in Wissenschaft und Propaganda. Darmstadt 1961, S. 12 empfand die Bevölkerung „das ganze Rassenpathos des Nationalsozialismus je länger je mehr als geradezu lächerlich", doch zeitgenössische Beobachter wie z.B. die Frankfurter Zeitung betonten, daß der Antisemitismus den Nationalsozialisten vor allem zur Propaganda diente (vgl. dazu weiter unten insbesondere die Ausführungen zu den Ausschreitungen im Berliner Scheunenviertel 1923). Wie stark die evangelische Publizistik der Weimarer Republik von antisemitischen Vorstellungen

Der Münchener Beobachter

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der Münchener Beobachter, daß „die Rassenfrage [...] der Schlüssel zur Weltgeschichte" sei. Zwei entgegengesetzte Rassen, „einerseits die germanische, die schöpferische, und andererseits die parasitäre, großkapitalistisch gerichtete Rasse", lägen im erbitterten Kampf miteinander. Dem theoretischen Einwand, „Engländer und Nordamerikaner seien doch auch germanischer Abstammung", entgegnete das Blatt, es käme „darauf an, wer diese Völker beherrscht und zu seinen Zwecken leitet". Dieser „heimliche Herrscher" sei in England und Nordamerika „zweifellos das internationale Großkapital, das nach Weltherrschaft strebt". Im Gegensatz zu früheren Zeiten greife aber auch der Deutsche jetzt gerne nach Idealen, „die ihm von seinen Todfeinden [...] als höhere Zivilisation und Kulturwerte" aufgeschwatzt würden, in Wahrheit aber weiter nichts seien „als Gifte oder Betäubungsmittel, um ihm das Sklavenjoch aufzuhalsen". Die Vorfahren hätten „noch ein natürliches Empfinden ihren Feinden gegenüber" gehabt, denn sie hätten die „Rassenfrage und den Wert der Blutsreinheit" gekannt. „Dieser gesunde Instinkt" sei jedoch nun „auf vielen Gebieten getrübt oder sogar entwurzelt". Verantwortlich für diese Entwicklung sei auch das Christentum, denn „Allvater wurde entthront und an Stelle unseres Väterglaubens trat ein neuer Glaube, und zwar in Formen, die unserer deutschen religiösen Begabung nicht entsprechen"32. Insbesondere die im Christentum verankerte Lehre von der Gleichwertigkeit der Rassen kritisierte der Münchener Beobachter als „die größte Unwahrheit, die jemals der Menschheit aufgeschwatzt worden" sei und die „zur Vernichtung [... der] Deutschen und Germanen" führen müsse. Der christlichen Überzeugung von einer „Gleichwertigkeit" der Rassen hielt das Blatt entgegen, es gäbe „höher und nieder geartete Rassen". Und da „die Menschheit [...] Führer — auch führende Völker — zu ihrer Höherentwicklung" brauche, sei „die germanische Rasse kraft ihrer Anlage zu dieser Führerrolle berufen", denn „selbst die so hoch gerühmte griechische und römische Kultur ist weiter nichts als ein Ableger und ein Erzeugnis germanischen Schöpfergeistes". Die alte Reichsregierung habe die Gefahr einer „Rassenmischung", die durch den „Weltverkehr [...] äußerst

geprägt war, belegt die Untersuchung von Ino Arndt: Die Judenfrage im Licht der Evangelischen Sonntagsblätter von 1918—1933. Diss. phil. Tübingen 1960. J2 Ebd. Man könne „voll und ganz den Wert des Christentums anerkennen", hieß es, „das schließt aber nicht aus, daß man über die An des Christentums, wie es den Deutschen gebracht wurde, sehr geteilter Meinung sein kann".

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begünstigt" werde, erkannt und vor dem Kriege ein Gesetz eingebracht, „das die eheliche Verbindung zwischen Deutschen und Farbigen verbietet", aber „Zentrum, Sozialdemokraten und Christlich-Soziale stimmten gegen den Entwurf, ein beredtes Zeugnis für die Verblendung, die in unserem Volke herrscht"33. Der Münchener Beobachter, der von sich selbst behauptete, nicht antisemitisch zu sein, sondern der „den Juden Palästina" geben wollte, damit die Juden „den Deutschen Deutschland lassen"34, verstärkte seine antisemitische Agitation, als sich die militärische Niederlage immer deutlicher abzeichnete: Rathenau und Ballin als die wichtigsten Ratgeber des Kaisers35, das „Frankfurter Judenblatt" und die „jüdisch-sozialdemokratischen Blätter" als „Nebenregierungen im bösen Sinne"36 sowie die „ganze, religiöse, humanistische Erziehung"37 wurden für das militärische und politische Dilemma Deutschlands verantwortlich gemacht. Da auch der Weltkrieg bewiesen habe, daß die jüdische „Rasse nie aufbauend, sondern nur zerstörend sein kann, und daß bis ins fünfte Glied sich dieser zerstörende Rassecharakter bemerkbar macht", bekämpfte der Münchener Beobachter die Juden „nicht aus konfessionellen Rücksichten", sondern, wie das Blatt unentwegt versicherte, aus „rassepolitischen Gründen"38. Weil man diese „inneren Feinde" aber

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In diesem Zusammenhang monierte das Blatt auch, daß das alte „Weistum" verschüttet und das „deutsche Recht" durch römisches Recht gebrochen worden sei. 34 Ausgabe vom 19. Oktober 1918. 35 Die Liste der hier erwähnten „Judenabkömmlinge" ist lang, sie reicht von Rathenau, Ballin, Eisner, Bethmann Hollweg, Kühlmann bis Scheidemann und Erzberger. 36 Zu den einflußreichen „Pressejuden", gegen die das völkische Blatt unentwegt polemisierte, zählte vor allem Theodor Wolff, der Chefredakteur des Berliner Tageblatts. „Die Schamröte muß jedem Deutschen ins Gesicht brennen", so der Münchener Beobachter über Wolff, „daß ein galizischer Jude an führender Stelle [...] deutsches Wesen verunglimpfen darf" (Ausgabe vom 12. Oktober 1918). 37 Dazu die Ausgabe vom 19. Oktober 1918: „Wir lernen in der Schule, daß die Juden das ausgewählte Volk Gottes sind, wir lernen das ganze alte Testament, alle römischen und griechischen Kriege auswendig, von unserer Stammesgeschichte hören wir nichts". 31 Vgl. z.B. die Ausgaben vom 2. November, 22. November und 30. November 1918.

Der Münchener Beobachter

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nicht belehren könne, müsse man „darnach trachten, sie unschädlich zu machen"39. 2. „Die verdrängte Niederlage «40

Der Münchener Beobachter tat sich schwer, eine klare Position zur militärischen Niederlage und den damit einhergehenden politischen Veränderungen zu beziehen. Er sprach zwar Ludendorff und Hindenburg ebenso regelmäßig Dank und Vertrauen aus41, wie er die „inneren Feinde" für das militärische Desaster verantwortlich machte42, aber bei der Beurteilung aktueller Fragen zeigte sich der Münchener Beobachter erstaunlich „flexibel". Noch Mitte Oktober hatte das Blatt die amerika-

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Ausgabe vom 19. Oktober 1918. Gelegentlich gab sich das Blatt „konzilianter" und betonte, die Deutsch-Völkischen wollten „keine Antisemiten sein", das läge ihnen fern, aber: „Wie wir jeden Übergriff bekämpfen, so werden wir die Übergriffe des Judentums bekämpfen. Wir fordern die Anerkennung der Juden als Nation. Dann sind sie Fremdlinge bei uns und unsere Gäste, denen wir die Tür weisen können, wenn sie unverschämt werden" (Ausgabe vom 22. November 1918). 40 Der Münchener Beobachter ist ein krasses Beispiel für den fast vollständigen Realitätsverlust in Rechtskreisen. Zum Phänomen, daß weite Teile der deutschen Bevölkerung die militärische Niederlage „erfolgreich" verdrängten, vgl. Ulrich Heinemann: Die verdrängte Niederlage. Politische Öffentlichkeit und Kriegsschuldfrage in der Weimarer Republik. Göttingen 1983. Zur Siegeseuphorie, die mit dem zum Stellungskrieg erstarrten Vormarsch zunächst gedämpft wurde, dann aber mit der Propagierung des „unbeschränkten U-Bootkrieges" wieder neue Nahrung erhielt, vgl. auch Wolfgang J. Mommsen: Die Regierung Bethmann Hollweg und die öffentliche Meinung 1914-1917. In: VfZ 17 (1969), S. 117-159 sowie ders.: Die deutsche öffentliche Meinung und der Zusammenbruch des Regierungssystems Bethmann Hollwegs im Juli 1917. In: GWU 19 (1968), S. 656-671. 41 Insbesondere den Generalfeldmarschall verehrte das Blatt: „Am 2. Gilbhardt feierte der Mann, der jetzt im fünften Jahre Deutschlands Grenzen schützt, seinen 71. Geburtstag; es ist eine ernste Zeit! Was sein Schwert gewonnen, hat die Unfähigkeit der Diplomaten in Frage gestellt" (Ausgabe vom 5. Oktober 1918). Am 19. Oktober 1918, zwei Wochen nach dem deutschen Waffenstillstandsangebot, hieß es: „Auf Hindenburg und Ludendorff können wir uns verlassen, das wissen wir, und niemals war das Vertrauen zu diesen Helden unseres Volkes größer als jetzt". 42 Am 22. November meinte das Blatt: „Hätten wir in der Heimat standgehalten, die Front hätte es geschafft".

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nischen Waffenstillstandsbedingungen, Wilsons 14 Punkte43, rigoros als „Schmach und Gemeinheit"44 zurückgewiesen. Doch Anfang November war das Blatt bereit, einen „Wilson-Frieden" anzunehmen, obwohl die deutsche Volkskraft ungebrochen sei, „während auf der Gegenseite der moralische Zusammenhalt" spürbar schwinde45: „Wenn die jetzige sogenannte Volksregierung [...] sich noch rechtzeitig ihrer Pflichten dem deutschen Volke gegenüber erinnert, dann können auch nationale und völkische Kreise ihr Gefolgschaft leisten, und selbst die Zustimmung zu den Wilson'sehen Forderungen schließt diese Möglichkeit nicht aus"46, meinte das Blatt. Die Übernahme der Regierung durch die Mehrheitsparteien unter Prinz Max von Baden, die Parlamentarisierung und Demokratisierung, kommentierte das Blatt mit der Bemerkung, der Kaiser habe „sich entschlossen, das Wichtigste der deutschen, von Bismarck so meisterhaft gefügten Verfassung preiszugeben"47. Diesen Schritt bedauerte der

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Symptomatisch für die Gedankenwelt des völkischen Blatts ist folgende Kommentierung amerikanischer Politik: Auch Amerika habe „ein Interesse an Deutschlands Verelendung. Seit Jahren hatte die deutsche Einwanderung in Amerika gestoppt. An Stelle des hochwertigen deutschen Arbeiters, der leicht seine Nationalität aufgab, wanderten galizische und russische Juden, Griechen, Armenier und andere Völker ein, die sich sofort dem Handel zuwandten, ihre Nationalität selten aufgaben und an Intelligenz dem deutschen Arbeiter nicht das Wasser reichten. Es ist ein offenes Geheimnis, daß Amerikas Eintritt in den Krieg nicht zum mindesten von der Erwägung geleitet worden ist, daß Deutschlands Niederlage frisches, deutsches Blut dem amerikanischen Volkskörper zuführen wird" (ebd.). 44 Münchener Beobachter vom 19. Oktober 1918. Das Blatt wollte selbst den Tod einem „Leben der Erniedrigung, der Knechtung" vorziehen. „Jetzt erst", so das Blatt todessehnsüchtig, „wissen wir es: süß ist es, für das Vaterland zu sterben". 45 Ausgabe vom 2. November 1918. „In London ist der Hunger groß, farbige Soldaten müssen das meuternde Volk im Zaume halten", ermutigte der Münchener Beobachter seine Leser am 5. Oktober und fuhr siegessicher fort, „dazu kommt noch, daß die farbigen Soldaten im Winter nicht verwendet werden können". 46 Ausgabe vom 2. November 1918. Noch kurz vor dem militärischen Zusammenbruch war das Blatt überzeugt, Deutschland ohne Gebietsverlust in den Frieden retten zu können: „Daß bei den Friedensverhandlungen irgendwelches urdeutsches Gebiet — dazu rechnen wir in erster Linie auch Elsaß-Lothringen — an den Feind abgetreten wird oder eine politische Form bekommt, die dem gleichkäme, ist für uns unter allen Umständen ausgeschlossen". 47 Ausgabe vom 5. Oktober 1918. Zur Demokratisierung meinte der Münchener Beobachter, „der durch sie hervorgerufene Druck wird alle völkisch denkenden Kreise

Der Münchener Beobachter

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Münchener Beobachter außerordentlich, meinte jedoch, man solle nicht „kaiserlicher als der Kaiser" sein und dem Vergangenen nicht lange nachtrauern. Im übrigen seien zur Zeit alle Demokratien in Wahrheit Autokratien, in denen die Diktatur herrsche. Und für Deutschland wäre es ein Gewinn, hätte es eine Diktatur „wie die Clemenceaus in Frankreich, Lord [!] Georges in England, [oder] Wilsons in Amerika". Wichtig sei nur, daß in Deutschland „die eine der Parteien, die abwechselnd die Regierung übernehmen wird, eine geschlossene, völkische Bewegung hinter sich" habe. Mit Emphase appellierte das Blatt an seine Gefolgschaft: „Nicht trauern, nicht schmollend beiseite stehen! Einig sein, mitarbeiten und dabei warten, bis unsere Zeit kommt. Setzen wir der westlichen Demokratie die germanische Demokratie entgegen! Steigen wir hinab in den Jungbornen unserer Vergangenheit — lernen wir von den alten Germanen, wie sie die Demokratie verstanden, verbreiten wir diese Gedanken in unserer Umwelt, dann werden wir siegreich auch aus diesem Kampfe hervorgehen!" Dazu müßten sich aber „alle völkisch gesinnten Männer" sammeln und straff organisieren, denn es dürfe nicht sein, „daß ein starker Mann als Reichskanzler in den Zeitungen gesucht" werde48. Nach Abdankung Wilhelms II., die seit Kriegsbeginn „von der internationalen Freimaurerei und der mit ihr verbündeten Plutokratie und der Demokratie" betrieben worden sei49, weil nur die Monarchie

zusammenschweißen, das Trennende — die Religion — wird verschwinden, und die katholische Kirche in Deutschland wird ebenso eine nationale werden müssen, wie es die katholische Kirche Frankreichs und Italiens ist" (Ausgabe vom 19. Oktober 1918). Als eine deutsche Zeitung meinte, der Rückgang des deutschen Ansehens im Ausland sei auch auf die Fraktur-Schrift der deutschen Zeitungen zurückzuführen, reagierte der Münchener Beobachter voller Empörung: „Der parlamentarische Umsturz hat uns bereits aller völkischen und nationalen Heiligtümer beraubt, und nun will man den Deutschen noch das Persönlichste, ihre Schriftart nehmen. [...] Wann schlägt ein Siegfriedschwert dazwischen?" (Ausgabe vom 2. November 1918). 48 Ausgabe vom 5. Oktober 1918. In dieser Ausgabe rief der Münchener Beobachter zur Sammlung aller deutschvölkischen Kräfte auf. Der Aufruf, so das Blatt am 22. November 1918, habe „einen ungeahnten Widerhall gefunden", und „von allen Seiten liefen Zustimmungsschreiben ein, in vielen Städten und Dörfern erboten sich deutsche Männer als Mitarbeiter". 49 Ausgabe vom 9. November 1918. Um die Interessensgemeinschaft der westlichen Kriegsgegner mit dem „internationalen Judentum" zu belegen, wurde in der völkischen Publizistik häufig auf die Balfour-Deklaration verwiesen, in der Balfour dem

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Deutschland zusammenhalten könne, nahm das Blatt eine ausgesprochen ambivalente Haltung ein. Es begrüßte die angekündigten Wahlen zur Nationalversammlung, unterstützte den Gedanken des Völkerbundes, forderte sogar die „Freiheit des Wortes", meinte aber gleichzeitig, der deutsche Arbeiter habe mit der Revolution „die Geschäfte der jüdischen, internationalen Hochfinanz" betrieben50: „Überall in allen deutschen Volksrepubliken sitzen auf den Ministersesseln Juden; Semiten leiten die Arbeiter- und Soldatenräte; verfolgt man aufmerksam die Reden und Taten dieser Leute, so erkennt man den einen Zweck, Deutschland nicht eher zur Ruhe kommen zu lassen, als bis es ganz vernichtet ist"51.

Zionisten Lord Rothschild im November 1917 seine Hilfe bei der Gründung einer „nationalen Heimstätte" in Palästina zugesagt hatte. 50 So der Münchener Beobachter am 7. Dezember 1918. Weil „der Deutsche [...] nur durch den Deutschen zu besiegen" sei, wie Lloyd George am 15. Januar 1917 auf einer „Geheimsitzung" ausgeführt haben sollte, hätten die Feinde „es längst aufgegeben" gehabt, Deutschland „durch Waffengewalt zu besiegen. Aber im Rücken unserer Front wühlten böse Geister" (Ausgabe vom 30. November 1918). 51 Ausgabe vom 7. Dezember 1918.

Die Münchner Neuesten Nachrichten Ihrem Verbreitungsgebiet entsprechend, befaßten sich die Münchner Neuesten Nachrichten ausführlich mit der politischen Umwälzung in München: Erstaunlich schnell arrangierte sich das bis dahin eher konservative Blatt mit der „neuen Ordnung". Unter ausdrücklicher Anerkennung der vom deutschen Heer und der Bevölkerung im Krieg erbrachten Leistungen52 übte das Blatt massive Kritik an der militärischen Führung53. Wurde Antisemitismus höchstens am Rande erwähnt54, so waren ausgeprägte Antipathien gegenüber Polen unübersehbar55.

52

In ihrer Morgenausgabe vom 9. November 1918 meinten die Münchner Neuesten Nachrichten z.B.: „Was die deutschen Heere und das deutsche Volk in diesem [...] Kriege geleistet haben, ist über alles Lob erhaben und hat auch dem Feinde Würdigung und Achtung abgenötigt". 53 Es sei, „wie nicht oft genug gesagt werden kann, ebenso töricht als gewissenlos, wenn immer wieder behauptet wird, daß die innerliche Zermürbung unseres Heeres schuld an den Niederlagen im Westen gewesen sei. Ein Rückzug unter so unendlich schwierigen Bedingungen [...] konnte [...] nur von einem Heere ausgeführt werden, das im Vollbesitz seiner moralischen Kräfte sich befand. Wenn wir aber erwägen, daß, während unsere Front im Westen vor dem Zusammenbruch stand, mehr als 10 deutsche Divisionen in der Ukraine merkwürdigen politischen Zielen nachjagen mußten, so und so viele Regimenter in Finnland für höfische Zwecke verwendet wurden und ausgezeichnetes Offiziersmaterial und verschiedene Truppenteile in der Türkei auf verlorenen Posten belassen wurden und mehr als ein Korps in gründlicher Verkennung der politischen Lage zu einer Zeit auf den Balkan geschickt wurde, in der dort auch nicht mehr das geringste zu holen war, so wird man nicht mehr im Zweifel darüber sein, wie die Verantwortlichkeitsfrage zu stellen ist" (ebd.). 5< Eine der wenigen Meldungen über Antisemitismus brachte das Blatt in der Morgenausgabe vom 16. November 1918: „Die englische Regierung hat Nachricht erhalten von antisemitischen Pogromen in Warschau. Die Alliierten und die Vereinigten Staaten sind bereit, ihre ganze Unterstützung zur Wiederherstellung der wirtschaftlichen Grundlage und des geordneten Lebens zu leihen, aber nur den Ländern, welche

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1. Zur Revolution in München Nachdem der Verlag der Münchner Neuesten Nachrichten am späten Abend des 7. November militärisch besetzt wurde, erschien das Blatt unter Kontrolle von Beauftragten des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrats56. In der Morgenausgabe vom 8. November wurde ein von Kurt Eisner unterzeichnetes Sonderblatt veröffentlicht, das die Bevölkerung über die gerade vollzogene Konstituierung des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrats informierte, die „demokratische und soziale Republik Bayern" proklamierte, die „Sicherheit der Person und des Eigentums" verbürgte und die Bevölkerung aufrief, mitzuhelfen, „daß sich die unvermeidliche Umwandlung rasch, leicht und friedlich vollzieht"57. In ihren ersten Kommentaren zur revolutionären Umwälzung wollten die Münchner Neuesten Nachrichten sich „jeder politischen Meinung" enthalten, hoben aber hervor, daß die Lebensmittelversorgung unbedingt gewährleistet werden müsse: „Aufstände würden Hungersnot bedeuten [...] Es wäre das schwerste und nichtswürdigste Verbrechen, wenn nach einem Kriege von vier Jahren, der so unendliche Opfer an Leben gekostet hat, in der Heimat noch Menschen gefährdet würden. Erkenne darum jeder", so das Blatt, „das vordringlichste Gebot der ernsten Stunde: Besonnenheit, Ruhe, Ordnung!"** Nachdem „das erste Parlament der bayerischen Republik" getagt hatte und die „Wahl des Ministeriums" bekanntgegeben war59, befaßten die Münchner Neuesten Nach-

durch ihre Taten zeigen, daß sie die Ordnung und Zivilisation aufrecht erhalten wollen". 55 Vgl. etwa den Beitrag „Polnische Anmaßung" (ebd.). 56 Die bisherige Redaktion führe „im Interesse der Aufrechterhaltung des gerade in dieser Zeit [...] unentbehrlichen Nachrichtendienstes ihre Geschäfte einstweilen unter Aufsicht des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrates weiter", hieß es in einer redaktionellen Erklärung (Abendausgabe vom 8. November 1918). 57 Ebd. Dieses Sonderblatt war „An die Bevölkerung Münchens!" adressiert (abgedruckt auch in Hans Beyer: Die Revolution in Bayern 1918/1919. Berlin 1988, S. 16). Ein vergleichbarer, von Kurt Eisner und Ludwig Gandorfer (vom Bayerischen Bauernbund) unterzeichneter Aufruf „An die ländliche Bevölkerung Bayerns!" erschien in der Abendausgabe vom 8. November. 5

« Ebd.

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Vgl. den Bericht über die „Sitzung des Soldaten- und Arbeiterrates", in der Kurt Eisner das neue Ministerium vorschlug; die „Wahl" erfolgte durch Akklamation (Morgenausgabe vom 9. November 1918).

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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richten sich eingehend mit der „neuen Ordnung"60. Dabei bereitete der „revolutionäre Charakter" der Umwälzung dem Blatt, das „die Neugestaltung Bayerns im demokratischen Sinne auf einem anderen Wege vorgezogen" hätte, erhebliche Probleme. Von den „nächsten Entwicklungen" erwarteten die Münchner Neuesten Nachrichten Aufschluß darüber, ob dem Begriff der Revolution „die Kennzeichen des Ordnungswidrigen und des Schreckens, die ihm bisher anhafteten", genommen werden könnten. Die „Daseinsberechtigung des neuen Systems" hänge in erster Linie davon ab, „daß nicht eine einseitige Klassenherrschaft aufgerichtet wird, sondern die Gesamtheit des Volkes mit gleichen Rechten und gleichen Pflichten dem neuen 'Freistaat Bayern' gegenübersteht". Die Redaktion habe jedoch „aus den bisherigen Kundgebungen der provisorischen Regierung den Eindruck entnommen, daß sie ebenso wie allen autokratischen, so auch allen bolschewistischen Tendenzen ahholä" sei61. Am „Programm der bayerischen Regierung" monierte das Blatt die „knappen Richtlinien der äußeren Politik", die „durch das Vertrauen auf den Völkerbund beherrscht" seien62: „Die Verbeugung vor dem Patrioten Clemenceau und die Hoffnung auf rasche Rohstoffgewinnung zeugt von einem Optimismus", so die Neuesten Nachrichten, „den zu teilen uns bittere Erfahrungen vorerst warnen müssen". Innenpolitisch stellte sich das Blatt jedoch hinter die Regierung und unterstrich, „daß sich die bayerische Volksregierung im Gegensatz zu gewissen in Berlin herrschenden Strömungen klar zum föderalistischen Prinzip bekennt. Die Selbständigkeit Bayerns innerhalb der 'Vereinigten Staaten von Deutschland', denen die deutsch-österreichische Republik sich alsbald angliedern muß", sei „der Grundpfeiler der neubayerischen Politik". Ebenfalls positiv wurde registriert, daß es im Programm der bayerischen Revolutionsregierung hieß, die Zeit für eine „Überführung der Produktionsmittel in den Besitz der Gesellschaft" sei noch nicht gekommen, denn ein solcher Schritt könne nicht unmittelbar nach einer

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Abendausgabe vom 9. November 1918. Ebd. „Die Namen der neuen Männer", so das Blatt, „die in die provisorische Regierung eingetreten sind, dürfen wohl als eine Bürgschaft dafür angesehen werden, daß dem Willen zur Aufrechterhaltung der Ordnung und der persönlichen Sicherheit auch die Kraft entsprechen wird, die nötigen Maßnahmen mit Nachdruck und Erfolg durchzuführen". 62 Vgl. den Kommentar in der Abendausgabe vom 16. November 1918. 61

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Wirtschaftskrise, wie sie der Krieg hervorgerufen habe, vollzogen werden; außerdem könne eine Vergesellschaftung von Produktionsmitteln nicht von einer Nation allein durchgeführt werden: „Erst wenn die Auferstehung der proletarischen Internationale vollendet" sei, werde „die Stunde der Sozialisierung der Weltwirtschaft schlagen"63. Die anfänglich noch spürbare Skepsis gegenüber der „revolutionären Regierung" wich schnell: „Wir wüßten nicht, welche grundsätzlichen sachlichen Einwände gegen das praktische Programm der neuen Regierung vom Standpunkt des Bürgertums aus erhoben werden könnten", meinte das Blatt, „im Gegenteil, es erscheint uns als eine der dringlichsten Aufgaben des Bürgertums, an der sozialen Umgestaltung der kommenden Zeit tatkräftig mitzuwirken, weil es nur so seine Interessen wahren und schweren Erschütterungen vorbeugen kann"64. In diesem Sinne begrüßten und unterstützten die Münchner Neuesten Nachrichten nachhaltig die Absicht der Liberalen Arbeitsgemeinschaft, eine eigene Partei zu gründen65, und zählten zu den Mitunterzeichnern des Berliner Gründungsaufrufs der DDP vom 16. November66.

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Ebd. Dieses erstaunliche Bekenntnis zur Sozialisierung von Produktionsmitteln wurde sehr wahrscheinlich nicht durch Pressionen des Arbeiter-, Soldaten- und Bauernrats hervorgerufen, sondern die Münchner Neuesten Nachrichten verstanden „Sozialismus als Aufgabe" (so die Überschrift des Kommentars in der [einzigen] Ausgabe vom 17. November 1918): „Die Sozialisierung des Wirtschaftsprozesses und der ihn einhüllenden Rechtsformen" werde „unaufhaltsam weiterschreiten [...], ob sich der Einzelne ihr entgegenstellen mag oder nicht". Deshalb müsse jeder, der „die Zeichen der Zeit" verstehe, „sich ohne Zögern auf den Boden der Gegenwart mit allen ihren Forderungen stellen. Nur so kann er [...] dazu beitragen, daß die Nation statt durch gewalttätige soziale Revolution auf der Bahn ruhiger Evolution [...] zu dem Gipfel edler Menschlichkeit gelange". Ähnliche Aussagen „bürgerlicher" Blätter zur „Sozialisierung" finden sich bei Albertin: Liberalismus und Demokratie, S. 58f. 64 (Einzige) Ausgabe vom 17. November 1918. 65 Morgenausgabe vom 16. November 1918. Nach Auffassung der Münchner Neuesten Nachrichten sollte sich der Liberalismus „restlos auf den Boden des freien Volksstaats stellen und sein Bekenntnis dazu unzweideutig aussprechen". 66 Zum Berliner Gründungsaufruf der DDP, der im wesentlichen auf Theodor Wolff vom Berliner Tageblatt zurückgeht und auch von der Frankfurter Zeitung, der Berliner Zeitung, dem Hamburger Fremdenblatt sowie der Welt am Montag unterzeichnet wurde, vgl. Albertin: Liberalismus und Demokratie, S. 54ff.

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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2. Einverstanden mit der politischen Erneuerung Die Kommentare zur politischen Umgestaltung auf Reichsebene glichen in ihrer Tendenz den Ausführungen zur bayerischen Revolution: Innenpolitisch erhoffte sich das Blatt von der neuen Reichsregierung eine Unterstützung des Föderalismus sowie eine baldige Einberufung der Nationalversammlung; außenpolitisch wünschten die Münchner Neuesten Nachrichten vor allem einen positiven Abschluß der Waffenstillstandsverhandlungen und die Sicherstellung der Lebensmitteleinfuhr. Voller Elan und Aufbruchsstimmung vollzog das Blatt den Wechsel „Vom alten zum neuen System"67: „Die Widerstandskraft des alten Systems versagte im Augenblick des ersten ernsthaften Ansturms so kläglich, daß bei denjenigen, die ihm aus Überzeugung oder aus Gewohnheit bisher anhingen, ein Gefühl tiefer Enttäuschung — um nicht zu sagen: tiefer Beschämung — entstand. Es bedurfte kaum der Anwendung von Gewalt [...] Die Art, wie das alte System unterging", so das Blatt, „scheint jedenfalls dafür zu bürgen, daß die Sehnsucht nach seiner Wiederaufrichtung, zum mindesten auf lange Zeit hinaus, nur in sehr geringem Maße vorhanden sein wird". Da es „zum Begriff der Revolution" gehöre, „daß die verfassungsmäßigen Rechte und Machtfaktoren gewaltsam beseitigt werden und neue sich zunächst aus eigenem Recht an ihre Stelle setzen", gingen die Neuesten Nachrichten davon aus, „daß die Vollzieher des revolutionären Willens sich zunächst auch [...] als die berechtigten Gesetzgeber fühlen [...] Prüfstein für die Ehrlichkeit des demokratischen Willens der von der Revolution emporgetragenen Männer" sei die Frage, ob sie bereit seien, sich sobald wie möglich zur Wahl zu stellen68.

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Titel eines Kommentars in der Abendausgabe vom 15. November 1918. „Das bayerische Volk — wie das deutsche — ist in seiner überwältigenden Mehrheit gewillt, sich freudig auf den Boden des demokratischen Volksstaates oder mit anderen Worten: auf den Boden der Republik zu stellen". Aber „ebenso klar ist es, daß sich kein ernster Mensch nach russischen Zuständen sehnt. Der Volksstaat, der uns vorschwebt, muß vor bolschewistischem Terror ebenso geschützt sein, wie vor dem Versuch der Wiederaufrichtung der Autokratie". 68 Ebd. Man habe in der Vergangenheit „viel unter bureaukratischer Umständlichkeit und Überorganisation" gelitten, aber „wenn das ganze Gefüge von allem Überflüssigen und mancherlei Auswüchsen befreit sein wird, wird das Gerüst auch für eine neue Zeit, zum mindesten aber für die des Übergangs recht wohl verwendbar sein".

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3. Ein Wermutstropfen: Trauer um die Wittelsbacher Den Thronverzicht der Monarchen registrierten die Münchner Neuesten Nachrichten mit gemischten Gefühlen. Zur „Abdankung des Kaisers" schrieb das Blatt: „Wir haben kein Hehl daraus gemacht, daß die Umgestaltung unserer inneren Verhältnisse und der Zusammenbruch der durch vier Jahre mit teilweise unverantwortlichen Mitteln aufrechterhaltenen Kriegspolitik den Rücktritt des Mannes unvermeidlich gemacht haben, an dessen Amt nun einmal die ungeheuere Verantwortung haftete"69. Der Kommentar zum „Thronverzicht des Königs Ludwig III." verriet demgegenüber wenig von republikanischer Gesinnung: „Der König [sei] außer Landes, flüchtig vor den Unruhen, die am Abend des 7. Novembers über das Land hinzubrausen begannen"70. König Ludwig habe „sein Geschick nicht selbst verschuldet", sondern sei Opfer einer Zeit, „die Königskronen nicht mehr kennt". Die Wittelsbacher hätten aber mehr als jedes andere Herrscherhaus den „Ehrenbeinamen Volkstümlich' verdient", und es werde als schmerzlich empfunden, „daß der König sich des Lebens und des persönlichen Schutzes und der persönlichen Achtung nicht mehr im eigenen Heimatlande sicher zu sein glauben durfte". Nachdrücklich wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, daß „nach diesem unvermeidbaren Zwischenakt" — der Revolution und dem „Ausweichen" Ludwigs III. nach Österreich — der Volksstaat Bayern so eingerichtet werde, „ daß jedermann, auch der Herrscher von gestern, im freien Volksstaat sich frei und sicher und glücklich" fühlen könne71.

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Abendausgabe vom 9. November 1918. Morgenausgabe vom 14. November 1918. Die diesem Kommentar vorangestellte Erklärung Ludwigs III. über seinen Thronverzicht löste wegen ihrer unscharfen Formulierung Irritationen aus, denn de jure hatte Ludwig nicht auf den Thron verzichtet, sondern lediglich seine Beamten, Offiziere und Soldaten von ihrem Treuegelöbnis entbunden. 71 Ebd. Dieser Beitrag dürfte aus der Feder des Freiherrn Erwein von Aretin stammen. Von Aretin zählte — wie auch der völkisch-alldeutsche Verleger Lehmann — zu den 50 „Konterrevolutionären", die der unmittelbar nach Eisners Ermordung konstituierte „Zentralrat der Republik Bayern" unter dem Vorsitz von Ernst Niekisch als Geiseln festnehmen ließ (vgl. Beyer: Die Revolution in Bayern, S. 52 f. sowie S. 168, Dok. 6). 70

in Der Berliner Lokal-Anzeiger Vorwiegend mit zwei Themen befaßte sich der Lokal-Anzeiger im Herbst 191872: Zum einen war die Tätigkeit der Bolschewisten in Rußland und Deutschland Gegenstand kritischer Kommentierung; zum anderen war das seit Mitte des Krieges unter schwerindustriellem Einfluß stehende Blatt sichtlich besorgt um das Wohlergehen der Hohenzollern. Die Räumung des am 9. November von Spartakisten besetzten ScherlVerlags durch Regierungstruppen leitete eine kurze Phase ein, in der das Blatt sich mit der Regierung der Volksbeauftragten zu arrangieren schien73. Mit seinen ausführlichen Berichten über die Waffenstillstandsverhandlungen entsprach das Blatt dem allgemeinen Trend der deutschen Zeitungen74. Antisemitismus spielte im Lokal-Anzeiger während dieser „Erhebungsphase" keine Rolle.

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Ausführlicher als andere Zeitungen berichtete der Lokal-Anzeiger über den Zusammenbruch Österreichs und die Unruhen auf dem Balkan. 73 Zur Besetzung des Scherl-Verlags vgl. die Meldung „In eigener Sache" (Morgenausgabe vom 12. November 1918): „Am Sonnabend Nachmittag erschienen Vertreter der 'Spartakusgruppe' in Begleitung von Soldaten in unseren Geschäftsräumen und nahmen unter Drohung mit Gewalt bei etwaigem Widerstand Besitz von unserem Hause. Das Personal wurde genötigt, das Blatt unter dem Namen 'Die Rote Fahne' zu drucken". 74 Im Vorfeld der Waffenstillstandsverhandlungen konzentrierte sich die Kritik des Lokal-Anzeigers auf die von England bedrohte „Freiheit der Meere" sowie die einseitige Verpflichtung Deutschlands zur Begleichung von „Privatschäden" (vgl. die Morgenausgabe vom 7. November 1918). Nach Abschluß der Verhandlungen meinte das Blatt, die Ablieferung von 5.000 Lokomotiven und 150.000 Güterwagen gehe „weit über den Zweck der Wehrlosmachung" hinaus und sei „das in Zahlen ausgedrückte Strafgericht für das deutsche Volk, das die wütendsten Racheprediger der Entente immer herbeigewünscht haben" (Abendausgabe vom 12. November 1918).

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I. Kriegsende und Revolution

1. Das Schreckgespenst des Bolschewismus Den Bolschewismus hielt der Lokal-Anzeiger für die größte innenpolitische Gefahr, denn Deutschland solle den russischen Bolschewisten auf dem Wege zur Weltrevolution als „Versuchskaninchen" dienen75: Daß die Bolschewisten „dabei mit der deutschen 'Spartakusgruppe1 Hand in Hand arbeiten können, ist zwar eine Schmach, aber angesichts der [...] internationalen Gesinnung dieser verlorenen Söhne unseres Landes [...] war von dieser Seite ohnehin nichts anderes zu erwarten", klagte das Blatt. Trotz dieser deutlichen Kritik machte der Lokal-Anzeiger die Spartakisten aber nicht direkt für die militärische Niederlage verantwortlich, obwohl auch er, ähnlich dem Münchener Beobachter, die „Dolchstoßlegende" publizistisch vorbereitete, indem er den blinden „Fanatismus des Bolschewistentums" anprangerte, „das auch in Deutschland jeden Rest von Autorität zertrümmern möchte, um unseren Feinden gerade jetzt, wo die letzte Entscheidung gekommen ist, durch eine innere Revolution in die Hände zu arbeiten". In dieser Situation gebe es „nur eine Pflicht: Zusammenstehen von rechts bis links, von oben bis unten, um das Verderben abzuwenden, oder wenn es nicht mehr anders geht, es niederzuschlagen"76. Die Vorstellung, man könne die revolutionäre Welle gewaltsam unterdrücken, revidierte der LokalAnzeiger, nachdem es in München „zu schweren Ausschreitungen" gekommen war77 und sich in Berlin am 8. November das Gerücht ver-

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Morgenausgabe vom 6. November 1918. Wasser auf die Mühlen aller Antibolschewisten war die Tatsache, daß einem russischen Kurier am 5. November auf dem Bahnhof Friedrichstraße ein Koffer die Treppe hinabstürzte und mehrere tausend, für die russische Botschaft bestimmte deutschsprachige Flugblätter zum Vorschein kamen. Dies nahm die Reichsregierung zum Anlaß, die diplomatischen Beziehungen zu Rußland abzubrechen (vgl. dazu weiter unten die Ausführungen zum Vorwärts). 76 Abendausgabe vom 6. November 1918. 77 In den Berichten über die Ereignisse in München zeigte der „hohenzollernfreundliche" Lokal-Anzeiger deutliche Verärgerung darüber, daß der „Schriftsteller Kurt Eisner" öffentlich verkünden konnte: „Der Kaiser hat nicht den Mut gefunden, zurückzutreten, wohin er gehört. Es gibt keinen Kaiser, es gibt keinen Fürsten mehr in Deutschland" (Abendausgabe vom 8. November 1918).

Der Berliner Lokal- nzeiger

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dichtete, eine entscheidende innenpolitische Wende stehe unmittelbar bevor78. 2. Die „Kaiserfrage": Kritik an der Sozialdemokratie Lehnte der Lokal-Anzeiger die Spartakisten eindeutig ab, so war sein Verhältnis zur Sozialdemokratie komplizierter. Das Blatt kritisierte, daß die Sozialdemokraten „den Kaiser dem erstbesten Privatmann" gleichstellten und seinen Rücktritt forderten, „statt in ihm zuerst und vor allem das Symbol der Rechts- und Reichseinheit zu erblicken"79. Die Erklärung des Kaisers vom 7. November, er werde „mit Rücksicht auf die jetzige verworrene Lage freiwillig unter keinen Umständen seinen Platz verlassen"*0, fand nach Ansicht des Lokal-Anzeigers „die volle Billigung der weit überwiegenden Mehrheit des deutschen Volkes". Zuversichtlich meinte das Hugenberg-Organ, es könne „kein Zweifel bestehen, daß die übrigen Regierungsparteien — also Fortschritt, Nationalliberale und Zentrum — auf dem gleichen Standpunkt stehen und daß es eine nackte Vergewaltigung dieser Volksmehrheit bedeuten würde, wenn die Reichsregierung gezwungen werden sollte, sich dem neuesten Machtanspruch der Sozialdemokratie zu beugen"81. Die auf die „bürgerlichen" Mehrheitsparteien gesetzte Hoffnung wich spürbarer Ernüchterung, als die SPD ultimativ mit ihrem Regierungsaustritt drohte: „Es hat also alles nichts genützt; nicht die Einsetzung einer Volksregierung, nicht die Änderungen der Verfassung, nicht

78

Die Informationen des Lokal-Anzeigers zur revolutionären Bewegung in Norddeutschland beschränkten sich auf zensierte und deshalb wenig ergiebige Agenturmeldungen. Zum „Straßenbild in Berlin" hieß es am Vorabend des 9. November: „Berlin bietet heute äußerlich das Bild der Ruhe. Die Arbeit in den Fabriken und großen Betrieben geht ihren Gang. [...] Auf den Bahnhöfen ist ein ungewöhnliches Treiben. Hunderte stehen ratlos umher, sie können ihre Reisen nicht antreten, da der Personenverkehr von und nach Berlin vollständig gesperrt ist. [...] Am lebhaftesten geht es in den Markthallen zu; es wird alles, aber auch alles gekauft" (ebd.). 79 Abendausgabe vom 7. November 1918. 80 In dieser über Budapest verbreiteten Nachricht hieß es weiter, Wilhelm II. „könne Deutschland im Augenblick des Friedensschlusses unmöglich der Entente ausliefern. Seine Abdankung würde eine völlige Anarchie und ein Überhandnehmen der bolschewistischen Ideen zur Folge haben" (zitiert nach ebd). " Ebd.

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I. Kriegsende und Revolution

die Unterordnung der Kaiserlichen Kommandogewalt unter die Zivilregierung, nicht die Unterstellung des Militärkabinetts unter das Kriegsministerium, nicht die sehr weitgehende Abschwächung der militärischen Befehlsgewalt und auch nicht die Erweiterung des Vereins- und Versammlungsrechts mitsamt dem Abbau der Zensur — die Durchsetzung des gleichen Wahlrechts für Preußen auch nicht zu vergessen. In ganzen vier Wochen eine mehr als respektable Leistung. Aber der Sozialdemokratie schmeckt dieser Fortschritt immer noch gar zu sehr nach Stillstand, und so wollen sie es mit 'etwas gewaltsamen Mitteln1 versuchen, offenbar nach der Art derjenigen, die jetzt von den Unabhängigen in Gebrauch genommen werden. Und das just in dem Augenblick, wo die deutschen Unterhändler im französischen Hauptquartier eingetroffen sind"82. Fast apathisch vermerkte das Blatt in seiner Abendausgabe vom 8. November, man rechne jetzt damit, „daß auch die bürgerlichen Mehrheitsparteien sich auf den Boden der sozialdemokratischen Forderung auf Abdankung des Kaisers stellen werden". In der Morgenausgabe vom 9. November überschatteten zunächst die innenpolitischen Ereignisse das weitere Schicksal des Kaisers. Als jedoch am Abend die „Abdankung des Kaisers" feststand, würdigte der LokalAnzeiger unter der Überschrift „Die Tragödie Kaiser Wilhelms II." dessen Verdienste83: Die Welt mache ihn fälschlicherweise verantwortlich für das Unglück der Menschheit. Da niemals — „solange die Erde um die Sonne kreist" — eine ungerechtere Anklage „von solcher Furchtbarkeit" gegen einen Menschen erhoben worden sei, fände man „in der ganzen Weltgeschichte" nur sehr schwer eine „Tat von so tragischer Größe ..., die ein gleiches Mitleid erwecken könnte" wie die Abdankung des Kaisers. „Die Dankbarkeit für die von dem überlieferten Pflichtgefühl der Hohenzollern getragene unermüdliche Arbeit von dreißig Jahren" könne „durch den hochherzigen Entschluß" der Abdankung „nur noch gesteigert werden"84.

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Morgenausgabe vom 8. November 1918. Abendausgabe vom 9. November 1918. Im Gegensatz zu den meisten anderen Kommentaren des Blattes war dieser Leitartikel namentlich gezeichnet. 84 Ebd. „Im letzten Grund", so der Lokal-Anzeiger, sei die Abdankung des Kaisers „darauf zurückzuführen, daß durch die ungeheuerlichsten Fälschungen, Verleumdungen und Irrtümer fast die ganze Welt ihn für das Unglück verantwortlich macht, das dieser Krieg über die Menschheit gebracht hat" (ebd.). 83

Der Berliner Lokal- nzeiger

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Angesichts dieser Kommentierung muß die wenig später veröffentlichte, erstaunlich konstruktiv anmutende Loyalitätserklärung gegenüber der neuen Regierung vielleicht als taktisches Kalkül verstanden werden: „Wir halten es in erster Linie für unsere Pflicht, in diesen außerordentlich schweren Zeiten die Regierung in ihren Bemühungen für die Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung nach jeder Richtung hin unbedingt zu unterstützen, wobei es selbstverständlich ist, daß wir auch weiterhin unsere eigene politische Überzeugung wahren werden. Auch damit befinden wir uns in Übereinstimmung mit der Regierung, die bekanntlich die Freiheit jeglicher Meinungsäußerung als ein unveräußerliches Menschen- und Bürgerrecht anerkennt"85. In der Folgezeit schwankte die Haltung des Hugenberg-Blatts zwischen ostentativer Unterstützung der neuen Regierung, die als politischer Macht- und Ordnungsfaktor anerkannt wurde86, sowie einer spürbaren Kritik, weil der Rat der Volksbeauftragten und der Vollzugsrat ihre Legitimation aus einer revolutionären Erhebung zogen87. Trotzdem richtete der LokalAnzeiger an die Bevölkerung „die ebenso dringliche wie herzliche Bitte, sich nicht bloß in das neue System [...] zu fügen, sondern es mit tatkräftiger Teilnahme so lebhaft wie möglich zu unterstützen. Wir selbst", so das Blatt, „werden [...] darin mit gutem Beispiel vorangehen und alles tun, um der jetzigen Regierung ihre Aufgabe zu erleichtern". Es komme „im Augenblick nicht darauf an, ob wir mit unseren politischen Überzeu-

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Morgenausgabe vom 12. November 1918. Dieser Erklärung vorausgegangen war die Räumung des Scherl-Verlags durch regierungstreue Truppen. 86 Als „Ordnungsfaktor" betrachtete der Lokal-Anzeiger auch die in den Vollzugsrat gewählten Soldaten: „Es muß [...] bemerkt werden, daß die Soldaten schon bei den Wahlen am Sonntag die gemäßigte Richtung vertraten und ihr zum Siege verhalfen" (Morgenausgabe vom 13. November 1918). 87 Das deutsche Volk habe sich „zunächst mit der Tatsache abzufinden, daß es in gänzlich neue Verfassungszustände hineingeraten ist", konstatierte das Blatt. Vor allem die Tatsache, daß die ersten Punkte des Regierungsprogramms „unmittelbar mit ihrer Verkündigung Gesetzeskraft" erhielten, schien dem Lokal-Anzeiger „ein für deutsche Begriffe bisher unfaßbares Vorgehen", das „nicht sehr weit von diktatorischer Gewalt entfernt" sei. Neben dem Inhalt des Programms sei aber auch seine Durchsetzung problematisch, denn die „Außerkraftsetzung der Gesindeordnung" sei z.B. ein Schritt, der sich „gegen bisherige Landesgesetze" richte. Daraus könne der Schluß gezogen werden, daß „auch die bisherigen Zuständigkeitsgrenzen zwischen Reich und Einzelstaaten [...] von der neuen Regierung nicht länger respektiert werden" sollen (ebd.).

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I. Kriegsende und Revolution

gungen uns hinter die neuen Machthaber stellen können oder nicht, aber mit ihnen sind wir alle einig im Bekenntnis der Notwendigkeit, die öffentliche Ordnung im Lande unbedingt aufrechtzuerhalten, das Privateigentum zu schützen und das furchtbare Unglück, das der Ausgang des Krieges für uns bedeutet, nicht noch durch Fortsetzung des inneren Zwistes zu vergrößern. [...] Das deutsche Volk ist ein ordnungsliebendes Volk., und es muß jetzt seinen Stolz darein setzen, diesen Grundzug seines Wesens auch inmitten der Revolution zu behaupten. Es will keine russischen Zustände*. Unbeschadet partieller Vorbehalte betonte der Lokal-Anzeiger, das Programm „der sozialistischen Regierung" enthalte auch für „die von ihr nicht vertretenen Teile des deutschen Volkes nichts Unmögliches". Mit den Münchner Neuesten Nachrichten meinte der Lokal-Anzeiger, die Regierungsmitglieder rechtfertigten die Hoffnung, man werde mit ihnen „auskommen können"88.

88

Abendausgabe vom 13. November 1918.

IV

Die BZ am Mittag Knapp und sachlich befaßte sich das Ullstein-Blatt im November 1918 vorrangig mit der Frage, welche Lasten die Alliierten Deutschland für einen Waffenstillstand auferlegen würden89. Hegte die BZ gegenüber England und Frankreich unübersehbares Mißtrauen90, so überwogen bei der Charakterisierung des amerikanischen Präsidenten positive Aspekte91. Fast beiläufig wurde die innenpolitische Entwicklung registriert. Von politischer Indifferenz war in der BZ jedoch wenig zu spüren, wenn es um die „Bolschewisten" oder die deutschen Kommunisten ging92. Bis auf eine Meldung über die jüdische Nationalgarde in Wien93

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Den drei Textseiten der BZ standen normalerweise eine halbe Seite Sport sowie fast vier Seiten mit Annoncen gegenüber. Die zahlreichen Inserate aus dem Gebiet der Gastronomie vermitteln — neben den Theaterkritiken — eine für den November 1918 erstaunlich anmutende Normalität. 90 In den Waffenstillstandsbedingungen der Alliierten sah das Blatt eine weitere Rechtfertigung für seine Vorbehalte: „Am niedrigsten zeigte sich aber die materielle Gesinnung der Entente in der Bestimmung, daß das russische und rumänische Gold nicht an seine Herkunftsländer, sondern an die Entente abzuliefern ist, die es 'verwalten' wird. Dieses Gold wird nie mehr nach Rußland und Rumänien zurückgelangen", prophezeite die BZ am 12. November 1918. " „Was den Präsidenten so sehr antreibt, möglichst selbst an der Friedenskonferenz teilzunehmen, ist sein Wunsch, seine großen Ideen des Völkerfriedens und des Völkerbundes und der großen zwischenstaatlichen Gerechtigkeit, die noch nicht ihrem ganzen Inhalt nach erfaßt und bekannt geworden sind, vor dem zuständigen Forum [...] selber vorzubringen und durchzusetzen", meinte das Blatt am 16. November 1918. 92 „Das rote Paradies. Die Folgen des Bolschewismus" lautete z.B. der Titel eines Beitrags, dessen Polemik in der Aussage gipfelte, es sei charakteristisch für die Verfassung der Sowjet-Republik, daß ein Ingenieur eine Guillotine mit elektrischem Antrieb entworfen habe, die „500 Menschen gleichzeitig mit einem Hieb köpfen" könne (Ausgabe vom 9. November 1918).

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/. Kriegsende und Revolution

brachte die BZ in dieser „Erhebungsphase" keine Beiträge zum Thema „Judentum und Antisemitismus"94. 1. Die Entente und der

Waffenstillstand

Mit Skepsis kommentierte die BZ die Abreise der deutschen Verhandlungsdelegation nach Frankreich: „Aus den grauen Wolken, hinter denen noch die Waffenstillstandsbedingungen verborgen liegen, steigt jetzt schon [...] die durchaus nicht rosige Gestalt des Friedens auf", meinte das Blatt und war überzeugt, daß Frankreich und England ihren militärischen Vorteil in konkrete Faustpfänder ummünzen wollten95. Die Teilnahme Erzbergers an den Verhandlungen begrüßte die BZ ausdrücklich, weil „Erzberger in den letzten Jahren am eifrigsten für einen Verständigungsfrieden eingetreten ist und als Vorkämpfer eines solches Friedens im Auslande" gelten könne. Aber auch seine Beteiligung sei keine Garantie für ein passables Verhandlungsergebnis96. Trotz aller

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Unter dem Titel „Wien durch die jüdische Nationalgarde geschützt" brachte die BZ folgende Notiz: „Als die Volkswehr noch nicht gebildet war, wäre Wien eigentlich ungeschützt gewesen [...], wenn nicht die jüdische Nationalgarde ein Bataillon zur Verfügung gestellt [...] hätte. Der Stadtkommandant [...] stattete dem Führer der jüdischen Nationalgarde als Helfer in der Not seinen Dank ab". Vielsagend fügte die BZ hinzu: „Für das einst recht antisemitische Wien ist das ein seltsamer Zustand" (Ausgabe vom 5. November 1918). 94 Eine eindringliche Schilderung über „Das Blutbad im Lemberger Judenviertel" brachte das Blatt außerhalb des Erhebungszeitraums (am 28. November 1918): Ein Mitarbeiter der BZ hatte „den entsetzlichen Pogrom miterlebt, in dem die Polen den Rekord an Bestialität schlugen": Nach der Einnahme Lembergs durch polnische Verbände vom 22. November hätten die Polen die Synagoge angezündet, in die sich mehr als hundert Juden geflüchtet haben sollten. Wer sich aus den Fenstern der brennenden Synagoge retten wollte, sei erschossen worden. Anschließend sei im Judenviertel Haus für Haus in Brand gesteckt worden. Das Massaker forderte nach Angaben des Augenzeugen rund 1.100 Tote. 95 Ausgabe vom 7. November 1918. Im amerikanischen Präsidenten sah die BZ den einzigen potentiellen Sachwalter deutscher Interessen. " „Und wenn wir auch von unserer Beharrlichkeit am Verhandlungstisch noch einige Korrekturen erhoffen dürfen, so wollen wir uns offen gestehen, daß unsere Aussichten auch dort nicht die besten sind", betonte das Blatt (ebd.). Die positive Würdigung Erzbergers in der BZ relativiert die Aussage von Miller: Bürde der Macht, S. 193, derzufolge Erzberger als Leiter der Waffenstillstandskommission bis hin zur li-

Die B2 am Mittag

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Skepsis hoffte das Blatt, die „innigsten Wünsche" Clemenceaus würden sich nicht durchsetzen lassen, da die Entente zu sehr auf die Vorstellungen Wilsons festgelegt sei. Deutschland könne, so umriß die BZ die deutschen Verhandlungsziele, genausowenig eine einseitige Verpflichtung zur Begleichung der „Privatschäden" übernehmen wie eine Sonderrolle Englands als des „alleinigen Polizisten aller Meere" akzeptieren97. „Fochs 35 Punkte", in denen die Entente ihre Bedingungen für einen Waffenstillstand aufführte, nannte die BZ sarkastisch „ein großes Dokument", aber „nur groß in seinem Umfang, nichts weniger als groß in der Gesinnung, die darin bekundet ist und ihren Urhebern stets zur Schande gereichen wird". Zwar gäbe es bei den 35 Punkten einige Veränderungen gegenüber früheren Forderungen der Entente, aber auch „die jetzt eingeräumten 'Erleichterungen' genügen natürlich nicht im geringsten, um die Demobilisierung in einer halbwegs gesicherten Form zu bewältigen". Zweifelnd fragte das Blatt: „Wird Wilson willens und in der Lage sein, über die Zufuhr von Lebensmitteln hinaus, ein Machtwort zu sprechen", um die Bedingungen für Deutschland erträglicher zu gestalten98. Als der Waffenstillstandsvertrag dann doch gewisse Milderungen brachte, führte die BZ das aber nicht auf die „Menschlichkeit Wilsons" zurück, sondern hob hervor, daß die Verbesserungen vor allem „durch die zweitägigen unablässigen Vorstellungen Erzbergers erzielt worden" seien. Insgesamt habe die deutsche Delegation die Verhandlungen „nach Maßgabe der Umstände erfolgreich geführt", betonte das Blatt und unterstrich, daß Generalfeldmarschall von Hindenburg und der Erste Generalquartiermeister, Groener, der deutschen Delegation „warmen Dank und Anerkennung" ausgesprochen hätten99.

beralen Frankfurter Zeitung „in seinem Ruf geschädigt" worden sei. Negativ bewertet wurden Erzbergers Waffenstillstandsverhandlungen erst später, aber auch dann nicht von allen Zeitungen. 97 Die BZ kritisierte scharf die Auffassung Englands, „seine 'Sicherheit' erfordere es, in jedem Krieg jedes Schiff (also auch neutrale) auf jedem Meer anhalten und durchsuchen zu dürfen" (Ausgabe vom 7. November 1918). '" Ausgabe vom 12. November 1918. " Ausgabe vom 17. November 1918. Insbesondere Groener kam es sehr gelegen, daß nicht die Oberste Heeresleitung, sondern ein ziviler Politiker die Waffenstillstandsverhandlungen führte (vgl. Francis L. Garsten: Reichswehr und Politik 1918 bis 1933. Köln 1964, S. 14ff.).

100

/. Kriegsende und Revolution

2. Die „Kaiserfrage" und der Umsturz Mit zahlreichen Augenzeugenberichten über das Geschehen auf den Berliner Straßen präsentierte das Blatt seinen Lesern eine Fülle von Momentaufnahmen der Revolution; der in anderen Zeitungen ausführlich diskutierten Frage eines „Thronverzichts" der Hohenzollern schenkte die BZ weit weniger Aufmerksamkeit100. Im Mittelpunkt des Interesses stand die Frage, ob die innenpolitische Zuspitzung zu einem neuen, „inneren Krieg" führen könne, „der nach soviel Kämpfen und Opfern statt Ruhe und Aufbau Zerstörung und Zusammenbruch brächte"101. Sichtlich irritiert registrierte das Blatt die Entwicklung in Bayern, denn „die größte von allen denkbaren Überraschungen" sei, daß „Bayern republikanisch" geworden war102. Zu der am 9. November vollzogenen Abdankung des Kaisers meinte die BZ, der Grund müsse in der Arbeiterbewegung gesehen werden, die nicht mehr aufzuhalten sei. Die längerfristigen Folgen dieser Entwicklung seien allerdings noch nicht absehbar. Positiv wurde vermerkt, daß der Umsturz in Berlin

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Eine eigene Position des Ullstein-Blatts zu dieser Frage ist schwer erkennbar, wie die Kommentierung der SPD-Forderung nach Abdankung des Kaisers zeigt: „Man weiß ja, daß gegen diese Forderung von den Vertretern der übrigen Mehrheitsparteien in der Regierung bisher erhebliche Bedenken erhoben worden sind. Nun müssen sie sich entscheiden, ob sie weiter bei diesen Bedenken verharren und auf die Zugehörigkeit der Sozialdemokratie zu Regierung und Mehrheit verzichten wollen, oder ob sie unter dem Zwang der letzten Ereignisse [...] sich der sozialdemokratischen Forderung anschließen und dem Kaiser die Abdankung [...] empfehlen wollen" (Ausgabe vom 8. November 1918). 101 Ebd. 102 „Freilich", meinte das Blatt, „den Umsturz verdankt Wittelsbach letzten Endes wahrscheinlich — Krupp. Ohne den Zuzug der neuen Krupp-Arbeiter [...] wären in dem schon sehr industrialisierten, aber phlegmatischen München die neuen Ideen nicht so schnell durchgedrungen" (Ausgabe vom 9. November 1918). Nach Heinrich Hillmayr: Roter und weißer Terror in Bayern nach 1918. Ursachen, Erscheinungsformen und Folgen der Gewalttätigkeiten im Verlauf der revolutionären Ereignisse nach dem Ende des Ersten Weltkrieges. München 1974, S. 16 gehören „die immer wieder als Kerntruppe der Revolution erwähnten 'landfremden' Krupp-Arbeiter [...] in die Reihe der jahrzehntelang zitierten Legenden, die das Revolutionsgeschehen scheinbar unausrottbar umranken".

Die BZ am Mittag

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„von der Kaiserabdankung ohne jeden Übergang zur vollen Macht des soldatischen und Arbeitervolkes geführt" habe103. Als in der deutschen Öffentlichkeit die Beschlagnahme des Kronguts diskutiert wurde, befaßte sich die BZ wieder kurz mit den Hohenzollern und unterstrich, daß eine Einziehung des Privatvermögens ja gar nicht zur Diskussion stünde. Da Wilhelm II. als reichster Mann Preußens angesehen werde, übersteige sein Privatvermögen die 600 Millionen Reichsmark der Krupp-Erbin; der Hohenzoller werde also auch weiterhin ein „vermögender" Mann sein, um den man sich nicht sorgen müsse. Eine Auflistung aller in Deutschland „278 Entthronten" beschloß die BZ mit der saloppen Bemerkung, „der nächste 'Gotha'" werde jedenfalls „ein wesentlich anderes Aussehen tragen, als die 155 vorangehenden Jahrgänge". Im Unterschied zum Berliner Lokal-Anzeiger trauerte das Ullstein-Blatt den Dynasten keine Träne nach: „Die durch den Sturm der großen deutschen Revolution von ihren Thronen herabgewehten, dem übrigen Bürgertum eingereihten 20 Dynastien von verschiedenem Rang bilden ein recht ansehnliches Häuflein, nicht viel schwächer als manches Bataillon zuletzt draußen im Felde gewesen sein mag"104.

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Ausgabe vom 10. November 1918. Als sich die Lage etwas konsolidiert hatte und der Vollzugsrat seine ersten Entscheidungen umsetzte, würdigte die BZ vor allem, daß so wichtige Vorhaben wie die Aufhebung des Belagerungszustandes und der Pressebeschränkungen, die Außerkraftsetzung der Gesindeordnung und die Neuordnung des Wahlrechts so zügig umgesetzt worden seien (vgl. den Leitartikel „Neue Gesetzestafeln" in der Ausgabe vom 13. November 1918). 104 Ausgabe vom 18. November 1918.

v Die Germania Extrem antibolschewistisch eingestellt, beobachtete das führende Blatt des politischen Katholizismus mit Sorge, wie sich das machtpolitische Kräftezentrum zusehends nach links verschob. Eindeutiger Schwerpunkt der außenpolitischen Berichterstattung waren die Waffenstillstandsverhandlungen105. Obwohl nach eigenem Bekunden keinesfalls antisemitisch106, stellte das rechtsbürgerliche Blatt im November 1918 einen unmittelbaren Zusammenhang zwischen Judentum und Bolschewismus her107. /. Waffenstillstand und politische Umwälzung „Ein guter Friede" war es, worum es der Germania in den letzten Tagen vor Kriegsende ging108. Wichtigste Voraussetzung dafür sei, so betonte das Blatt mehrfach, daß der Feind kein Zeichen militärischer

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Besonders kritisch beurteilte die Germania England. IM Ygj_ d^ Kommentar in der Morgenausgabe vom 17. November 1918: „Wir sind wahrlich niemals Antisemiten gewesen und werden es niemals werden". 107 Daneben beobachtete die Germania, stets in Sorge um eine mögliche Benachteiligung der Katholiken, argwöhnisch das Engagement von „„Israeliten" bei der politischen Neugestaltung Deutschlands. Hierzu Angress: Juden im politischen Leben der Revolutionszeit, S. 307: „Was der deutsche Bürger 1918/19 zu beobachten glaubte, was er in den Zeitungen las, und was ihm dann auf Jahre hinaus von nationalistischer (und dann von nationalsozialistischer) Seite immer wieder eingehämmert wurde, das war das Bild einer Revolution, die von Juden für Juden 'gemacht' worden war. Bis zum November 1918 hatte die deutsche Öffentlichkeit Juden politisch nur als Parlamentarier und Parteifunktionäre [...] gekannt. Nun erschienen sie plötzlich in leitenden Regierungsstellen, saßen an Bismarcks Schreibtisch, bestimmten die Geschicke der Nation". 108 Vgl. die Morgenausgabe vom 6. November 1918.

Die Germania

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Schwäche sehe, denn „die Waffenstillstandsbedingungen, die sich die Bulgaren, Türken und Österreicher und Ungarn gefallen lassen mußten, beweisen [...] zur Genüge, daß unsere Feinde nicht alle freiwillig auf den Boden des Rechts treten werden, den Wilson als allein zulässig für die neue Weltordnung bezeichnet". Gegen jedes Anzeichen von Wehrmüdigkeit argumentierend109, meinte das Blatt, „nur Böswilligkeit kann behaupten, daß die Fortsetzung des Kampfes, bis unsere Feinde uns den Waffenstillstand zugestehen, ein Rückfall in die Fehler des Militarismus sei. Wir könnten unseren Feinden keinen größeren Gefallen tun, als wenn wir nun die Waffen kampflos niederlegten oder gar die innere Ordnung im Lande stören wollten. [...] Dann würden ja die Engländer, Franzosen und Amerikaner ohne weiteres bei uns einmarschieren können, ohne den geringsten Widerstand zu finden, und sie würden uns dann den Frieden diktieren können. [...] Der Friede kommt umso schneller, und er wird umso besser für uns sein, je weniger wir dem Feind Anlaß geben, bei uns an Schwäche zu glauben"110. Zu diesem Zeitpunkt glaubte die Germania noch an die militärische Stärke Deutschlands111, wie auch die Kommentierung der Lansing-Note zeigt112: Die Note könne zwar als „Basis für die Friedensverhandlungen" gelten, aber die von England gewünschte Einschränkung der „Freiheit der Meere" und vor allem die „allgemeine Wiederherstellungspflicht" Deutschlands für „jeglichen durch den Krieg entstandenen Schaden" seien so nicht hinnehmbar. Falls die Entente an diesen Forderungen festhalte, „dann verlangen es ganz selbstverständlich Recht und Gerechtigkeit, daß auch uns der durch die Kriegsführung unserer Feinde entstandene Zivilschaden voll wiedergutgemacht wird. Da eine Gegenforderung

m

„Töricht würde es sein", so die Germania, „wenn wir nun, da es um die letzte Entscheidung geht, die Haltung verlieren und die Flinte ins Korn werfen wollten. Das würde [...] das Siegel auf Deutschlands völligen Niedergang sein. Nur Torheit und Wahnsinn können heute sagen: wozu kämpfen wir noch, wo der Friede vor der Tür steht?" (ebd.). 110 Ebd. 111 So schrieb General Kolbe in der Morgenausgabe vom 10. November 1918: „Nicht durch Waffengewalt bezwungen, sind wir auch nach verlorenem Ringen ein achtunggebietendes Volk". 112 Die am 6. November eingetroffene Note des amerikanischen Außenministers enthielt die „Stellungnahme der verbündeten Mächte zu Wilsons Friedensprogramm" und unterstrich die Schadensersatzforderungen der Alliierten. Den Wortlaut der Note brachte die Germania in ihrer Morgenausgabe vom 7. November 1918.

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aufzumachen, scheint uns ein selbstverständliches Recht, auf das Deutschland nicht verzichten kann"113. Überlagert wurde die Sorge um den Waffenstillstand114 von der innenpolitischen Zuspitzung: „All unser Sinnen und Trachten, jedes politische Handeln der letzten Wochen war darauf gerichtet, durch weitestgehende Reformen an unserem staatlichen Aufbau dem politischen Umsturz vorzubeugen. Heute müssen wir bekennen, daß das alles nichts mehr hat nutzen können, daß wir tatsächlich schon mitten im glücklicherweise bisher noch unblutigen Umsturz uns befinden"115. Resignativ und ausgesprochen wortkarg beschränkte sich die Germania auf die wichtigsten Nachrichten zur innenpolitischen Entwicklung. „Im allgemeinen", so hieß es am 8. November, seien „überall Ruhe und Ordnung aufrecht erhalten worden und zwar hauptsächlich dadurch, daß die amtlichen Stellen sich bemühten, mit den Arbeiter- und Soldatenräten zusammenzuarbeiten, um die Dinge möglichst wenig schlimm werden zu lassen"116. Als hätte sich die Redaktion der Germania noch nie mit den unterschiedlichen Strömungen innerhalb der Sozialdemokratie befaßt, wurden die Leser darüber aufgeklärt, daß „das Auftreten von zwei verschiedenen Richtungen" bei den Sozialisten durchaus üblich sei: „Die eine gibt sich mehr reformatorisch, die andere ist radikal bolschewistisch. Nach übereinstimmendem Urteil hat sich allerorts die radikale Gruppe als die schwächere gezeigt"117. Auch zur „Kaiserfrage" äußerte sich die Germania nur selten und zurückhaltend. Das Blatt haderte mit der SPD, weil „sozialdemokratische Taktik" die Zentrumsfraktion in der „Kaiserfrage" vor die Wahl

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Um die deutsche Gegenforderung zu untermauern, verwies das Blatt „auf den unendlichen Schaden, den die deutsche Volkskraft durch den völkerrechtswidrigen Aushungerungskrieg erlitten hat, und der insbesondere Englands Werk ist" (ebd.). 114 Zu den Waffenstillstandsverhandlungen hieß es in der Morgenausgabe vom 8. November 1918: „Wir wissen es alle und haben es von Anfang an gewußt und wissen müssen: es wird ein schwerer Frieden sein, dem wir entgegengehen". Aber auch hier betonte die Germania, Deutschland habe „ganz sicher keinen Anlaß, etwa aus sogenannter Schwäche auf ein möglichst schnelles Aufhören des Kampfes zu drängen". 115 Morgenausgabe vom 9. November 1918. 116 Abendausgabe vom 8. November 1918. 117 Abendausgabe vom 9. November 1918. Was die Charakterisierung der Unabhängigen als „Bolschewisten" bezweckte, bleibt unklar.

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„zwischen Kaiser und Volk" gestellt habe118. „Die Abdankung des Kaisers"119 löste beim Zentrumsblatt keinesfalls Erleichterung aus: „Es ist also Tatsache geworden, was von Tag zu Tag, von Stunde zu Stunde unvermeidlicher zu werden schien. Die stärkste Monarchie Europas und damit der Welt steht am Ende des gewaltigsten Krieges der Geschichte nun auf das ernsteste erschüttert da. [...] Wir können in dieser historischen Stunde nur dem tiefgefühlten Wunsche Ausdruck geben", so die Germania, „daß es unserem Volke vergönnt sein werde", die angekündigten Wahlen zur Nationalversammlung „in Ruhe und Besonnenheit, klaren und festen Sinnes zu treffen und weder dabei noch jemals später zu vergessen, was es den Hohenzollern in 500 Jahren aufwärtsführender Regierung zu verdanken hat"120. Ohne weiter auf das Schicksal Wilhelms II. einzugehen, rückte das Blatt die Waffenstillstandsbedingungen, die als „außerordentlich hart" empfunden wurden121, in den Mittelpunkt seiner Kommentierung. Überzeugt, daß die von Ebert geführte Regierung keine andere Möglichkeit habe, als die Entente-Bedingungen anzunehmen122, setzte jetzt auch die Germania ihre Hoffnungen auf den „sozialistischen Gedanken"

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Morgenausgabe vom 9. November 1918. Mit ihrer ultimativen Rücktrittsforderung hatte die SPD „stillschweigend und von sich aus die interfraktionelle Zusammenarbeit" mit Zentrum und Fortschritt beendet (Hartmut Schustereit: Linksliberalismus und Sozialdemokratie in der Weimarer Republik. Eine vergleichende Betrachtung der Politik von DDP und SPD 1919-1930. Düsseldorf 1975, S. 32). Trotz der Verärgerung von Zentrum und Fortschritt über diesen einseitigen Schritt der SPD unterstrich die Germania die Notwendigkeit einer engen Kooperation der drei Parteien: „Dieses Zusammengehen war eine Kriegsnotwendigkeit von Anbeginn an und wird es vielleicht auch weiter bleiben" (Morgenausgabe vom 9. November 1918). 1)9 Schlagzeile der Abendausgabe vom 9. November 1918. 120 Ebd. Diese Würdigung der Hohenzollern, die der generellen Auffassung im Zentrum entsprach (vgl. Morsey: Zentrumspartei, S. 74), steht in Widerspruch zu den zahlreichen Beiträgen, in denen die Germania das protestantische Königtum der Hohenzollern für die „Benachteiligung der Katholiken im öffentlichen Leben" verantwortlich machte. 121 Insbesondere der Verhandlungsführung Erzbergers, das betonte neben der BZ auch die Germania mehrfach, seien Milderungen der Entente-Bedingungen zu verdanken. Ausgesprochen positiv wurde Erzberger in einem von Dr. Hemmer verfaßten Kommentar geschildert (Morgenausgabe vom 17. November 1918; zu Hemmer vgl. das Kapitel zur Ermordung Erzbergers). 122 Abendausgabe vom 11. November 1918.

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und fragte, ob dieser Gedanke, der „in der ganzen Welt und auch in den Ententeländern und in Amerika gerade durch den Krieg und seine furchtbaren Leiden einen mächtigen Aufschwung" genommen habe, stark genug sein werde, „um sich durchzusetzen und bei den Feinden eine Gesinnung hervorzurufen, die dem neuen Deutschland einen halbwegs erträglichen Frieden sichert"123. 2. Juden und Bolschewismus In einem seltsamen Konglomerat aus Bolschewistenfurcht und antijüdischen Ressentiments baute das Zentrumsblatt darauf, daß die Ententeländer ein relativ starkes Deutschland als „Damm gegen den Bolschewismus" wünschen müßten124. Unter dem Titel „Der Bolschewismus als Internationale" verwies die Germania auf die jüdischen Urheber der Russischen Revolution und unterzog den Friedensschluß zwischen dem Deutschen Reich und der „Sowjetrepublik" einer ungewöhnlichen Kritik: Es sei „sehr unnatürlich" gewesen, daß Deutschland sich der von allen anderen Staaten getragenen „Abwehr des Bolschewismus nicht vorbehaltlos anschließen konnte", sondern, „weil keine andere Autorität da war", die „Moskauer Sowjets" anerkannte und den Frieden von BrestLitowsk schloß125. Jetzt aber sei „Deutschland von dem bolschewistischen Anhängsel glücklicherweise befreit" und werde „mit der Behauptung, daß es sich berufen fühle, dem der Welt von Moskau und Petersburg her drohenden Umsturz einen Damm entgegenzustellen, Glauben finden"126. Im Unterschied zum Deutschen Reich hätten die Entente-Staaten und die neutralen Länder, „wenn auch selbstsüchtige Motive bei die-

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Morgenausgabe vom 13. November 1918. Nach Lösche: Bolschewismus, S. 239ff. führten erst die Unruhen der ersten Jahreshälfte 1919 den Alliierten das Ausmaß der „bolschewistischen Bedrohung" Deutschlands vor Augen. 125 Morgenausgabe vom 8. November 1918. 126 Da die Zerschlagung des Zarismus 1914 erklärtes Ziel der Sozialdemokratie war und auch zur Legitimation für die Zustimmung zu den Kriegskrediten herangezogen wurde, war es für die Sozialdemokratie besonders schmerzlich, daß der Zarismus zwar zerschlagen, mit dem Bolschewismus aber eine ungleich größere Bedrohung entstanden war (vgl. Walter Tormin: Die deutschen Parteien und die Bolschewiki im Weltkrieg. In: Deutschland und die Russische Revolution. Stuttgart 1968, S. 54—68 [hier S. 55J. 124

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sem Vorgehen mitgesprochen haben mögen, sofort die von Moskau und Petersburg ausgehende internationale Gefahr" erkannt, „die sich an die Namen Zederblom (alias Lenin), Bronstein (Trotzki), Rosenfeldt (Kamenew), Nachamkes (Steklow), Apfelbaum (Sinowjew), Goldmann (Gorew), Goldenberg (Meschkowski) und dergleichen mehr knüpfte"127. Wenig später kritisierte die Germania erneut die „russischen Juden mit den deutschen Namen", die den „sozialistischen Zukunftsstaat" verwirklichen wollten, und gab sich überzeugt, „daß jeder deutsche Genösse" gegen „russischen Sowjet- Terror "Verwahrung einlegen würde128. Eine latent antisemitische Haltung zeigte die Germania auch bei ihren Ausführungen zu den Judenpogromen in Polen129. Man müsse die Frage stellen, ob die Judenverfolgungen dort „nicht in erster Linie auf Abwehrströmungen gegen den Bolschewismus asiatischer Prägung" zurückzuführen seien, „als dessen Hauptträger [...] überall Juden und zwar Juden mit deutschen Namen erscheinen"130. Wenn sich in Polen „eine ähnliche Führung" breit mache wie in Rußland, könne „es sehr leicht zu einem sehr deutlichen und sehr greifbaren Einspruch des polnischen Volkes kommen, und es wird dann — von allen anderen Ursachen der Abneigung der Polen gegen die Israeliten abgesehen — gewiß noch kein Grund vorliegen, gleich die ganze Welt mit den Judenpogromen zu befassen". Im übrigen, so die Germania, „war schon lange vor dem Krieg bekannt, daß das Land, besonders infolge der Ausweisung der Juden aus Rußland, an israelitischer Bevölkerung keinen Mangel leidet und daß diese unverhältnismäßige Durchsetzung mit fremdartigen Elementen zu mancherlei Unzuträglichkeiten geführt hat". Vor diesem Hintergrund

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Morgenausgabe vom 8. November 1918. Vgl. den Artikel „Demokratisierung und Bolschewisierung" in der Morgenausgabe vom 9. November 1918. Den „Terrorismus der Spartakusgruppe" beobachtete die Germania mit Sorge. In Aufrufen der Zentrumsfraktion wurden „Männer und Frauen vom Zentrum" sowie „Arbeiter, Soldaten und Matrosen vom Zentrum" mehrfach aufgefordert, die Behörden zu unterstützen, Ruhe zu bewahren und mit „Manneszucht" für die „Niederhaltung der schlechten Elemente" einzutreten (vgl. die Morgen- und die Abendausgabe vom 15. November sowie die Morgenausgabe vom 16. November 1918). 129 Zu den Pogromen in Polen vgl. Dietrich Beyrau: Antisemitismus und Judentum in Polen, 1918-1939. In: GG 8 (1982), S. 205-232. 130 Morgenausgabe vom 17. November 1918. Hier brachte die Germania erneut eine Liste führender Bolschewisten, denen in Klammern ein jüdisch-deutscher Name hinzugefügt war. 128

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monierte das Blatt, daß „die unter nichtchristlichem Einfluß stehende Öffentlichkeit [...] sehr gleichgültig und zurückhaltend" sei, wenn es darum gehe, über „Christenpogrome und speziell Katholikenpogrome" zu berichten. Da in der Öffentlichkeit weithin bekannt sei, „welche Konfession am meisten an den Kriegsgewinnen beteiligt" sei131, hielt die Germania es für nützlich, eine direkte Beziehung zwischen den „Kriegsgewinnlern" und der politischen Betätigung von Juden herzustellen: „Wir verlangen [...] nicht von der Regierung, daß sie dieser Stimmung soweit Rechnung trage, um die Juden bei der Neuordnung auszuschalten, wir müssen aber unbedingt erwarten, daß diese nicht weiter besonders begünstigt und daß die Katholiken nicht weiter besonders übergangen werden, wie es bisher der Fall war"132. Viele Katholiken, so die stets um eine Benachteiligung ihrer Klientel besorgte Germania, „werden sich die Frage schon vorgelegt haben, [...] wie es kommt, daß die neue Regierung auf Heranziehung jüdischer Volkskommissare oder wie die Machthaber und Behörden sich sonst nennen mögen, das größte Gewicht legt, aber Katholiken von den Staatsgeschäften fernzuhalten scheint". Eine solche Politik unterschätze das „Mißtrauen, das die Vorgänge in Rußland gegen die politische Befähigung der Juden in breiten Volksschichten hervorgerufen haben"133. 3. Ein Blick in die Zukunft Kritisch und mit Vorbehalten stand die Germania der „innenpolitischen Umwälzung" gegenüber134: Die „augenblicklichen Verhältnisse [seien] nur als ein Übergangsstadium" anzusehen135, denn

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Daß insbesondere Juden Kriegsgewinnler seien, war seit November 1918 beliebtes Thema antisemitischer Flugblätter (vgl. Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 61ff.). 132 In diesem Zusammenhang verwahrte sich die Germania gegen die Inanspruchnahme sakraler Bauten für politische Zwecke: „Wie kommt man nach dem Prinzip der Trennung von Kirche und Staat dazu, auf dem Straßburger Münster und der Kathedrale in München die rote Fahne zu hissen?" (Morgenausgabe vom 17. November 1918). 133 Ebd. 134 Daß die neue Regierung sich nicht auf den noch existierenden Reichstag stützen wollte, war der legalistischen Germania suspekt. 135 Morgenausgabe vom 12. November 1918.

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lediglich die Verfassunggebende Nationalversammlung könne die Staatsgrundlagen festschreiben136. Die Erklärung Eberts, „die konstituierende Nationalversammlung werde eine Regierung einsetzen, die so genau, wie das menschlich überhaupt möglich sei, dem Volkswillen entspreche", wurde als „echt demokratisch" gewürdigt: „Wenn die neue Regierung diese Forderung fest im Auge behält", so die Germania, „dann kann aus der Umwälzung dieser Tage noch Ersprießliches hervorwachsen"137. Zuversicht schöpfte das Blatt aus der Tatsache, daß die Berliner Soldatenräte von den „Bolschewisten russisch-jüdischer Färbung möglichst weit" abgerückt waren138.

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Vor allem gegen die Trennung von Staat und Kirche, die „das Gespenst eines neuen Kulturkampfs" wachrief (Morsey: Zentrumspartei, S. 112), protestierte die Germania vehement. Da die Einführung konfessioneller Einheitsschulen „eine vollständige Umwälzung" sei, hätten die „provisorischen Regierungen im Reich und in den Bundesländern" kein Recht, auf diesem Gebiet Entscheidungen zu fällen: „Darüber kann nicht der geringste Zweifel bestehen, daß sich das katholische Volk und [...] auch ein sehr großer Teil des evangelischen eine Vergewaltigung in dieser Hinsicht nicht gefallen lassen würden und daß übereilige kulturkämpferische Maßnahmen der provisorischen Machthaber den allerschärfsten Widerspruch und Widerstand hervorrufen würden" (Morgenausgabe vom 15. November 1918). 137 Morgenausgabe vom 12. November 1918. 138 Morgenausgabe vom 15. November 1918. Am folgenden Tag zollte die Germania den Soldatenräten erneut Lob: „Die Partei der Ordnung [...] ist erfreulich groß. Das hat unter anderem die vorgestrige Sitzung des Soldatenrates auf das Klarste bewiesen. Gerade die Soldaten, die die Revolution gewollt und durch ihre Hilfe erst ermöglicht haben, ließen sich dabei keineswegs von der Absicht leiten, der allgemeinen Unsicherheit Vorschub zu leisten, ihr Streben geht im Gegenteil ganz unverkennbar dahin, die alte Ordnung durch eine neue, nicht minder feste zu ersetzen [...] Der Geist der Ordnung steckt viel zu tief in unserem Volke, als daß wir ihn preisgeben könnten; wir alle wissen ganz genau, daß wir damit uns selbst preisgeben würden" (Morgenausgabe vom 16. November 1918).

VI

Die Frankfurter Zeitung Mit drei Ausgaben pro Tag bot die Frankfurter Zeitung ihren Lesern erheblich mehr Informationen als jedes andere Organ dieser Studie139. Sorgenvoll beobachtete das linksliberale Blatt140 die „Begradigung" der deutschen Westfront und forderte „rückhaltlose Offenheit" über die militärische und politische Lage141. Konsequent wurde der lange hinausgezögerte Rücktritt des Kaisers kritisiert142. Nach Abschluß des Waffenstillstands befaßte sich die Frankfurter Zeitung eingehend mit der „deutschen Revolution" und forderte das demokratische Bürgertum zur Mitgestaltung der „sozialen Republik" auf.

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Wie die zahlreichen Zitate in anderen Zeitungen zeigen, kam der Frankfurter Zeitung die Rolle eines „opinion-leader" zu. 140 Für die Wirtschaftsethik der Frankfurter Zeitung ist der Hinweis charakteristisch, es berühre „recht peinlich, daß noch in diesen Tagen in einer ganzen Anzahl von Fällen Aktiengesellschaften ihre ohnehin schon überreichlichen Kriegsdividenden erneut ganz erheblich erhöhen oder einen besonderen Bonus verteilen" (erstes Morgenblatt vom 6. November 1918). 141 So meinte das Blatt zur „Lage an der Westfront", es mache „sich neuerdings in einem Teil der Presse das Bestreben geltend, über den·1 furchtbaren Ernst unserer Lage hinwegzutäuschen — [...] und es hat den Anschein, als ob die bisherige entsetzliche Lehre eines unwahren Optimismus für manche Kreise immer noch nicht genügt". Es sei „unerhört, heute noch dem Volk vormachen zu wollen, daß es der Wunsch der Politiker und nicht viel mehr die Forderung der militärischen Stellen des Systems Ludendorff gewesen sei", der für die strategisch vollkommen unnötige Zersplitterung deutscher Truppen auf die „Randstaaten" verantwortlich zeichne (ebd.). 142 Die über politische Strömungen in den Entente-Staaten im allgemeinen gut informierte Frankfurter Zeitung hob hervor, daß man dort zwar die Abdankung des Kaisers fordere, aber gleichzeitig befürchte, sein Rücktritt könne „das ganze dynastische System Deutschlands erschüttern, das unbedingt erhalten werden müsse, damit nicht etwa über Nacht das deutsche Volk zu einer neuen, starken Einheit zusammenwachse" (ebd.).

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1. Die unvermeidliche Abdankung des Kaisers „Die furchtbare Lage" Deutschlands verlange Wahrheit, meinte das Blatt beschwörend. „Diese Wahrheit ist: daß seit dem 30. September, an dem das alte Regime abgesetzt wurde und die deutsche Umwälzung begann, und noch mehr seit dem 3. Oktober, an dem die neue deutsche Regierung genötigt wurde, ein Ersuchen um Waffenstillstand und Frieden an Wilson zu richten, Millionen und Abermillionen von Deutschen die feste Erwartung hegten, es werde der Kaiser (und mit ihm selbstverständlich auch der Kronprinz) freiwillig abdanken — freiwillig, bevor es gefordert würde. [...] Was in diesen fünf Wochen vor sich gegangen ist, das ist, nach innen und nach außen, die Liquidation der dreißigjährigen Regierungszeit Kaiser Wilhelms II., oder dessen, was von ihr noch übrig geblieben ist"143. Da sich der Kaiser „vor der ganzen Welt zum Symbol der Politik gemacht" habe, „die Deutschland in den Abgrund" führte, schien dem Blatt unmöglich, „daß der Anfang des Neuen [...] unter demselben Zeichen der Regierung Wilhelms II. (oder seines Sohnes) begonnen werden" könne144. Die Erklärung des Kaisers, es sei „ihm ernst [...] auch mit dem Neuen", kommentierte die Frankfurter Zeitung mit der Frage, „kann der Sechzigjährige wirklich selbst glauben, daß er nochmals berufen sei, uns herrlichen Zeiten entgegenzuführen?" Statt an der Krone festzuhalten, hätte er sich von ihr trennen müssen, als „frevelhafte Fehler einer politischen Kriegführung uns — und ihn! — zwangen, denselben Präsidenten Wilson als Friedensstifter anzurufen, den er [...], freilich nur bildlich, zum Zweikampf herausgefordert hatte". Obwohl die Frankfurter Zeitung die Schuld am militärischen Debakel keinesfalls nur beim Kaiser sah, so hoffte sie doch, ein schneller Rücktritt könne Deutschland die „Demütigung" ersparen, „dem feindlichen Auslande in immer neuen Erklärungen" Aufschluß über die Verfassungsänderungen zu geben. Durch sein Verharren habe Wilhelm II. nicht nur die Waffenstillstandsbedingungen unnötig verschärft, sondern

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Zweites Morgenblatt vom 6. November 1918. „Als sein System hatte diese immer in der Ichform gerührte Politik vor der Zeit und der Geschichte gelten sollen", erläuterte die Frankfurter Zeitung, deshalb „gebietet es die Würde, daß er verzichte, wenn diese furchtbare Politik zusammenbricht" (ebd.). 144

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wegen seines Zögerns werde „dem Schritte, der doch getan werden muß, [...] auch noch die letzte Würde fehlen, die der Freiwilligkeit"145. Auch im Kommentar zur Lansing-Note schwang Verbitterung über den hinausgezögerten Rücktritt mit: „Wenn auch Wilson den Sinn und die Größe der deutschen Revolution des Oktober 1918 voll erkannt hat, so hat er doch darüber keinen Zweifel gelassen, daß — sagen wir es ohne Umschweif — nur die Abdankung Wilhelms II. ihn bestimmen könnte, das Vollgewicht seines Einflusses geltend zu machen, damit sich die Entente mit einem geringeren Maß an Garantien für die Durchführung des kommenden Friedensvertrags begnügte, als es nun der Fall sein wird"146. Als die Sozialdemokratie ultimativ den Rücktritt Wilhelms II. forderte, meinte die Frankfurter Zeitung, „ungeheuerlich" wäre es, „wenn er auch jetzt noch zu bleiben versuchte. [...] Entsetzlich wäre es, wenn [...] Deutschland des einen Mannes wegen völlig zu Grunde gerichtet werden sollte!"147 Nach der Abdankung attestierte das Blatt ihm einen „guten Willen" und fand es „tragisch, furchtbar tragisch, daß guter Wille so wenig Gutes schaffen konnte". Mitverantwortlich für das politische Scheitern des Hohenzollern seien seine politischen Berater: „Er hat viele Mitschuldige, sehr viele, die große Zahl seiner 'Handlanger1 und alle die anderen, die zwar schimpften, spotteten, lächelten, aber die Dinge laufen ließen"148. Für militärisch-strategische Fehlentscheidungen, vor allem aber für das überhastet und unüberlegt gestellte Waffenstillstandsangebot vom 3. Oktober sei namentlich Ludendorff verantwortlich149.

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Ebd. Diese offene Kritik wurde von zahlreichen Zeitungen zitiert; die BZ druckte sie am 7. November 1918 in vollem Wortlaut ab. 146 Frankfurter Zeitung. Zweites Morgenblatt vom 7. November 1918. Deutliche Kritik übte das Blatt auch an der Regierung des Prinzen Max von Baden, weil sie den Eindruck erwecke, als habe sie sich damit abgefunden, daß der Kaiser mit der Begründung, er müsse „in dieser schweren Zeit auf dem Posten bleiben", nicht stärker auf seinen Rücktritt dränge: „Das wird sich vielleicht als das größte, wenn auch leider nicht als das einzige Versäumnis der ersten deutschen Volksregierung erweisen". 147 Zweites Morgenblatt vom 8. November 1918. 148 Erstes Morgenblatt vom 12. November 1918. Der zitierte Artikel „Wilhelm II." befindet sich „unterm Strich", an der Stelle, an der die Beiträge des Feuilletons gebracht wurden. 149 Das „System Ludendorff" kritisierte die Frankfurter Zeitung auch im ersten Morgenblatt vom 6. November sowie im zweiten Morgenblatt vom 7. November 1918 besonders scharf. Auch an der Revolution in Rußland sprach das Blatt „die Gewaltpolitik" des früheren deutschen „Regimes" mitschuldig (Abendblatt vom 6. Novem-

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2. Enttäuscht über die

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Waffenstillstandsbedingungen

Der deutschen Verhandlungsdelegation ins französische Hauptquartier stünde „ein schwerer Gang" bevor, denn England und Frankreich seien nicht bereit, „die Wilsonschen Leitsätze dann gelten zu lassen, wenn sie ihnen Verpflichtungen auferlegen". Insbesondere die Forderung nach „Wiederherstellung der Schäden in den besetzten Gebieten" hielt die Frankfurter Zeitung für eine absichtlich unpräzise formulierte Auflage, aus der die „wahnsinnigsten Forderungen" abgeleitet werden könnten150. Als dann die endgültigen Bedingungen für den Waffenstillstand auszugsweise vorlagen, war das Blatt konsterniert: „So endet also der heldenmütige Kampf und so wird die deutsche Kapitulation aussehen, so die Erbschaft, mit der der zertrümmerte Militarismus das deutsche Volk belastet hat. Schauerlich, höchst schauerlich"151. Nachdem die Kampfhandlungen am 11. November eingestellt waren, meinte die Frankfurter Zeitung: „Die Last ist also von uns genommen — aber was jeder in unserem Volke, der auch nur einen Funken von Menschlichkeit in der Brust hat, seit so langer Zeit ersehnte, die Ruhe der Waffen, bringt uns nur neuen Kummer und brennendste Sorge. Wir können des Waffenstillstands nicht froh sein"152. Daß die Reichsregie-

ber 1918). In einer Replik auf einen Artikel der Täglichen Rundschau unterstrich die Frankfurter Zeitung ihre Überzeugung, daß „die Ohnmacht", mit der die deutsche Regierung um den Waffenstillstand nachgesucht habe, „das direkte Ergebnis der militärischen Lage" gewesen sei, für die nur die alte Regierung verantwortlich gemacht werden könne (zweites Morgenblatt vom 12. November 1918). 150 Nur zur „Wiedergutmachung" der Schäden in Belgien war die Frankfurter Zeitung bereit: „In Belgien sind wir eingefallen, im Glauben, dies sei zu unserer Rettung unerläßlich — wir vergüten der Bevölkerung den Schaden. Frankreich aber war von Anfang an der nächste und gefährlichste Gegner — auf seinem Boden mußte gekämpft werden; das muß berücksichtigt werden. Und ebenso muß berücksichtigt werden, daß das deutsche Volk schon seit zwei Jahren zum Frieden bereit war; die Verwüstungen bei den Rückzügen in Frankreich waren nur die Folgen einer uns aufgezwungenen Fortsetzung des Krieges" (ebd.). 151 (Einziges) Morgenblatt vom 11. November 1918. Immer wieder versuchte das Blatt, den amerikanischen Präsidenten in die Pflicht zu nehmen, indem es auf den Widerspruch zwischen seiner Aussage, die Waffenstillstandsbedingungen sollten Wilhelm H. auferlegt werden, und der Tatsache, daß vor allem die Bevölkerung unter einer Fortsetzung der „Hungerblockade" zu leiden habe, hinwies. 152 Abendblatt vom 11. November 1918. Man habe zwar die Einstellung des Kampfes „umso dringlicher" herbeigewünscht, „seitdem es offenbar wurde, daß uns keine

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rung in dieser schier aussichtslosen Lage mit ihrer Note an Lansing „einen Notschrei in die Welt gestoßen" hatte, fand die volle Unterstützung der Frankfurter Zeitung15*: „Es ist der feierlichste und gerechteste Protest, der jemals von einem Volk erhoben worden ist: wir fügen uns, den Tod vor Augen, weil wir nicht anders können, aber, bei allem was Euch heilig ist, habt Erbarmen mit den Unschuldigen, die Ihr dem Verderben nutzlos preisgebt! Wenn die Blockade fortdauert und gleichzeitig die an sich kaum zu bewältigende Verkehrsnot und Nahrungsmittelknappheit noch durch die Bedingungen der Entente verschärft wird, so droht uns unabsehbares Unheil. [...] Wird aber die Ernährungslage unhaltbar, so ist das politische Chaos unabwendbar und vollkommen. Dann wehe Deutschland — aber auch wehe den Männern, die im Siegesrausch die Gefahren gleich nichts achten, die ihren Völkern drohen, wenn Deutschland [...] zum Zentrum des Weltbolschewismus werden sollte". Einziger Trost schien dem Blatt, daß nach dem Thronverzicht der Hohenzollern und der Ausrufung der Republik „jeder Vorwand" für eine militärische Intervention der Alliierten entfallen sei: „Was immer die feindlichen Machthaber tun werden, um Deutschland in Fesseln zu legen, das tun sie nicht mehr zur Sicherung gegen das alte System, dessen repräsentatives Haupt sich nach Holland geflüchtet hat, nein, das tun sie gegen die deutsche Demokratie und gegen den Geist, für den sie stets zu streiten vorgegeben haben". Während die Entente-Staaten ihre politischen Grundsätze und deklarierten Kriegsziele verraten hätten, habe das deutsche Volk sich nichts vorzuwerfen: „Wir sind zwar schrecklich geschlagen worden und werden nun durch grausam harte Bedingungen des Waffenstillstands mißhandelt und vielleicht sogar durch einen verbrecherischen Gewaltfrieden niedergedrückt, aber das deutsche Volk kann den Kopf hoch tragen, denn sein Kampf, seine Leistung war gut, war ehrlich und ehrenvoll". Die ganze Welt, so die Frankfurter Zeitung, habe den „heroischen Kampf mit Staunen angese-

Rettung, nur noch eine rasende Steigerung unserer Not bevorstand, denn jedes weitere Blutopfer — jeder Tag kostete uns viele Tausende von Toten — war sinnlos geworden. [...] Aber ist es möglich, unter den neuen Bedingungen zu leben und frei zu atmen?" (ebd.). 153 Mit dieser Note des Auswärtigen Amts, die in fast allen deutschen Zeitungen abgedruckt wurde, wandte sich „das deutsche Volk [...] in letzter Stunde nochmals an den Präsidenten mit der Bitte, auf eine Milderung der vernichtenden Bedingungen [...] hinzuwirken" (zitiert nach ebd).

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hen, den Kampf gegen den übermächtigen Feind und die Zersprengung der Fesseln, die uns die alten Machthaber im Innern auferlegt hatten"154. 3. Für eine „soziale Republik"

Stand die innenpolitische Berichterstattung zunächst ganz im Schatten der „Kaiserfrage" und des Waffenstillstands, so trat sie nach dem 11. November in den Vordergrund155. Entscheidendes Kriterium für einen positiven Verlauf der Revolution war nach Ansicht der Frankfurter "Zeitung, „daß die Gewalt nicht zur Gewalttätigkeit ausarte und daß ferner die Gewalt so schnell wie irgend möglich wieder auf den Weg des Rechts zurückgeführt werde"156. Bei den Soldatenräten, die „ganz gewiß nicht parteipolitisch" seien, sowie bei der „wieder vereinigten Sozialdemokratie" ruhe jetzt die Gewalt: „Möge es so bleiben. Denn keine größere Gefahr könnte [...] entstehen, als wenn diese Einigkeit wieder zerspränge und dann ultraradikale, bolschewistische Elemente den Versuch machten, sich allein der ganzen Bewegung zu bemächtigen. Daß solche Möglichkeiten bestehen, darf niemand verkennen. [...] Es wäre der Bürgerkrieg — es wäre der Ruin Deutschlands und der Massen der deutschen Arbeiter und Soldaten selbst", wie das Beispiel Rußlands zur Genüge zeige157.

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Ebd. „Auch nach den Milderungen" seien die Bedingungen des Waffenstillstands „noch von der gleich unerhörten Härte [...] wie die, welche einst das siegreiche Rom den besiegten Karthagern auferlegte", kritisierte die Frankfurter Zeitung, als sie sich im ersten Morgenblatt vom 17. November 1918 mit den Aussichten auf einen Friedensvertrag befaßte. 155 Nachdem vom 8. zum 9. November in Frankfurt „ein Soldatenrat [...] die öffentliche Gewalt in seine Hände gebracht" hatte (Abendblatt vom 9. November 1918), erschienen einige Ausgaben der Frankfurter Zeitung unter Vorzensur. Seit dem 11. November konnte das Blatt wieder in gewohnter Weise erscheinen. Zur „Revolution in Frankfurt" vgl. den Bericht im zweiten Morgenblatt vom 12. November 1918. 156 So der Beitrag „Die deutsche Revolution" im (einzigen) Morgenblatt vom 11. November 1918. 157 Ebd. Ihre strikte Ablehnung des Bolschewismus brachte die Frankfurter Zeitung im Abendblatt vom 8. November 1918 auf den Punkt: „Was der Bolschewismus heute in Rußland tut, das ist, soweit wir es aus der Ferne zu beurteilen vermögen, nur Vernichtung, nur Auflösung ohne konstruktive Idee für das, was ihm folgen soll. Käme es dazu in Deutschland, dann wäre es das Ende, das Ende nicht für die Bourgeoisie, die der Bolschewismus sabotiert, um sie auszurotten, sondern das Ende für das ganze Volk, auch für die Arbeiter — nur noch viel schneller und vollständiger als

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Käme es in Deutschland „zum bolschewistischen Chaos", so das liberale Blatt, „dann droht [...] dem wehrlos gemachten Deutschland die feindliche Invasion unter dem Motto Ordnung'. Es würde uns zugleich im Innern eine Reaktion drohen, die alle Hoffnungen und Errungenschaften der Freiheit wieder vernichten" könnte158. In der sich anbahnenden Kontroverse zwischen Mehrheitssozialisten und Unabhängigen stellte sich die Frankfurter Zeitung, die das Mißtrauen des Berliner Soldatenrats »gegen die 'Rote Garde'" teilte159, eindeutig hinter die (M)SPD. Schon der Briefwechsel zwischen beiden sozialdemokratischen Parteien zur Regierungsbildung habe gezeigt, „daß die Entwicklung einer furchtbar ernsten [...] Frage zusteuert — der Frage: Demokratie oder Klassen-Diktatur, die [...] sogar die Diktatur einer Klassen-Minderheit werden könnte. Die Unabhängigen fordern, daß die politische Gewalt in den Händen der Arbeiter- und Soldatenräte liegen solle [...] Die Mehrheitssozialisten dagegen berufen sich auf ihre demokratischen Grundsätze, aus denen heraus sie die Diktatur eines Teiles einer Klasse, hinter dem nicht die Mehrheit steht, ablehnen müssen". Mit den Mehrheitssozialisten forderte die Frankfurter Zeitung nachdrücklich Wahlen zur Nationalversammlung, denn keine „Zentralversammlung der Arbeiter- und Soldatenräte, sondern nur eine auf wahrhaft demokratischer Grundlage von allen deutschen Bürgern gewählte Nationalversammlung kann als deutsche Konstituante die künftige Gestaltung Deutschlands entscheiden"160. Die Revolution habe

in Rußland, das ja ganz überwiegend noch Agrarstaat und darum solcher Zerstörung gegenüber widerstandsfähiger ist, als die [...] komplizierte Maschinerie der hochindustrialisierten deutschen Volkswirtschaft [...] Der Bolschewismus wäre das Ende der Zivilisation". 158 (Einziges) Morgenblatt vom 11. November 1918. „Die alten Mächte" hätten zwar abgedankt, waren aber nach Meinung der Frankfurter Zeitung „noch nicht tot". Im Abendblatt vom 12. November 1918 wurde diese Warnung wiederholt: „Die Kraft der alten Mächte darf [...] nicht unterschätzt und nie vergessen werden: sie ist noch ungebrochen, sie wartet nur auf die Gelegenheit". 159 Ausführlich berichtete das Blatt, daß sich am 13. November „in einer großen Versammlung der Soldatenräte sämtlicher Groß-Berliner Truppenteile [...] ein starker Geist der Ordnung offenbart" habe und „die Feldgrauen es ablehnten, die Geschäfte der Spartakusgruppe und der Unabhängigen zu besorgen" (zweites Morgenblatt vom 14. November 1918). wo wie viele andere bürgerliche Blätter auch, hatte die Frankfurter Zeitung Zweifel, ob die Soldatenräte ihr Bündnis mit den Arbeiterräten langfristig aufrechterhalten

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zwar auf breiter Front gesiegt, „aber die Hauptarbeit bleibt ihr noch zu leisten, sie muß jetzt auch die Köpfe und die Herzen für sich gewinnen"161. Bei der politischen Neugestaltung vermißte das Blatt zunächst „all die bürgerlichen Kräfte, die in den vergangenen Jahrzehnten einen stetigen, wenn auch nur zum Teil erfolgreichen [...] Kampf gegen Reaktion und für die Freiheit gekämpft haben". Es räche sich jetzt, „daß die Organisationen des Bürgertums noch durchsetzt sind von dem Geist der kleinen Parteitricks und entstellt durch die Selbstgefälligkeit liberalen Phrasentums"162. Falls „die nichtsozialdemokratischen Volksschichten zukünf-

würden: „Die Soldaten, die heute aktiv an der Revolution teilnehmen — und das ist ja nur ein Teil von ihnen, weil die Millionen noch nicht heimgekehrt sind — haben sich mit den Arbeitern verbündet, weil ihnen dieser Bund mit den großstädtischen Massen die Macht über die politischen Zentren sichert, solange diese Macht durch Gewalt aufrechtzuerhalten ist. Aber sind sie darum alle Genossen? Wir glauben es nicht, wie wir auch nicht glauben, daß etwa die große Mehrheit der Arbeiter heute einen verstiegenen Radikalismus mitmachen würde. Wäre es anders, brauchten die Unabhängigen die Wahlen zur Nationalversammlung nicht zu scheuen" (ebd.). 161 Ebd. Schenkt man einem Berliner Augenzeugen Glauben, dessen Bericht über den Verlauf des 9. November im Abendblatt vom 13. November erschien, dann war in der Tat noch viel „Überzeugungsarbeit" zu leisten: Hatte die Revolution, soweit sie sich auf der Straße abspielte, vormittags den Charakter eines freundlichen Straßenumzugs, so häuften sich nachmittags die „Krawallszenen". Vormittags wurden Soldaten noch „aufgefordert, Kokarde und Achselstücke zu entfernen. Alles in ruhiger, fast höflicher Form. Ein Kavallerist weigert sich, der Aufforderung nachzukommen. Es kommt zu einem erregten Wortwechsel. Einige krawallsüchtige Burschen suchen ihm die Mütze mit Gewalt zu entreißen. Aber schon sind Ordner zur Stelle: 'Keine Gewalt, Kameraden!' Der Soldat behält Mütze und Kokarde. [...] Drei Uhr nachmittags. Die straffgehaltenen Bande der Ordnung beginnen sich zu lösen. [...] Halbwüchsige Burschen, Müßiggänger aller Art und radaulustige Elemente drohen die Herrschaft der Straße an sich zu reißen. Wenn ein Offizier sichtbar wird, dringen Hunderte auf ihn ein, um ihm mit lautem Johlen, Waffe, Gradabzeichen und Kokarde zu entreißen. Die große Umwälzung droht bei der Herrschaft dieser Gesellen zu einer Volksbelustigung wüstester Art, das gewaltige Geschehen zu einer Sensation für die Gaffer, zu einer Orgie der Radaulust und anderer ungebändigter Instinkte auszuarten". 162 Abendblatt vom 14. November 1918. Es handele „sich durchaus nicht nur darum, daß diese Selbstausschaltung unerträglich ist", monierte das Blatt, „sondern die breiteste demokratische Basis allein ist die Voraussetzung für die Wiederaufrichtung der völlig niedergebrochenen deutschen Wirtschaft und des heillos verfahrenen politischen Lebens". Zur Neuformierung des „bürgerlichen Liberalismus" in Frank-

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tig am Vaterland mitbauen wollen, dann werden sie ganz anders als bisher Ernst machen müssen mit ihrer Demokratie", tadelte die Frankfurter Zeitung. Gerade heute brauche man „eine Politik aus sachlicher Überzeugung heraus. Keine Umstellung aus Angst vor bolschewistischen Gefahren, keine politische Geschäftshuberei"163. Deutschland müsse „radikal und sozial sein bis in die Knochen!". Es dürfe „keine Frage in der deutschen Republik geben, die nicht nach dem Grundsatz der sozialen Gerechtigkeit behandelt" werde164.

fürt, die „ähnlich orientierten Gruppierungen in anderen Städten" als Vorbild diente, vgl. Albertin: Liberalismus und Demokratie, S. 48ff. 163 Abendblatt vom 14. November 1918. Diesen Aspekt unterstrich das Blatt auch in der Abendausgabe vom 18. November: „Wer sich berufen fühlt, an dem großen Werke der Aufrichtung einer wahrhaft demokratischen Organisation mitzuarbeiten, [...] der soll willkommen sein. Aber, was wir dazu brauchen ist Reinheit und Klarheit des Wollens, mit der politische Ängstlichkeit, die Schutz suchend zu dem 'kleineren Übel' der bürgerlichen Demokratie flüchtet, weil sie das noch größere der revolutionären Linken fürchtet, nicht vereinbar ist". 1M Abendblatt vom 14. November 1918. Programmatisch verkündete die Redaktion, „auch die 'Frankfurter Zeitung' wird versuchen, an dieser Arbeit ihr Teil zu übernehmen" (Abendblatt vom 16. November 1918).

Der Vorwärts Die letzten Tage vor Kriegsende betrachtete das Zentralorgan der SPD165 fast ausschließlich unter innenpolitischen Gesichtspunkten166, wobei die unterschiedlichen Strömungen der Arbeiterbewegung im Mittelpunkt des Interesses standen. Konsequent grenzte sich das Blatt von den Spartakisten und dem radikalen Flügel der Unabhängigen ab, forderte aber gleichzeitig die Kooperation aller Sozialisten. Die Entente beurteilte der Vorwärts weniger negativ als etwa die Frankfurter Zeitung167. 1. Indiskutabel: Die Bolschewisten Über die Zusammenarbeit der russischen Botschaft mit der radikalen Linken zeigte sich das SPD-Blatt überraschend schlecht informiert: Hatte der Vorwärts die Behauptung, die russische Botschaft mische sich in die innenpolitische Auseinandersetzung ein, nach eigenem Bekunden immer „in gutem Glauben bestritten", so ließ sich diese Sicht der Dinge nicht mehr aufrechterhalten, nachdem der Koffer eines russischen Ku-

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Am 14. November 1918 kündigte der Vorwärts an, es werde ab sofort „eine zweite Ausgabe unseres Blattes" erscheinen. Dieser A bend-Vorwärts sei bis zum 1. Dezember 1918 ausschließlich im Straßenhandel erhältlich und werde danach den Beziehern „täglich ins Haus geliefert". 16i Die Haltung der Sozialdemokratie zur „Kaiserfrage" fand im Vorwärts wenig Raum, war dafür aber um so klarer: „Der Krieg, der dem Volk so unsagbare Opfer gekostet hat, fordert nun auch ein Opfer von diesem Mann, der mit sechs Söhnen unversehrt heimgekehrt ist. Er wird noch lange nicht der Bedauernswerteste unter den deutschen Familienvätern sein, wenn er dieses notwendige Opfer leistet!" (Ausgabe vom 7. November 1918). 167 Auch der Vorwärts kritisierte die harten Bedingungen des Waffenstillstands, war jedoch optimistisch hinsichtlich des späteren Friedens.

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/. Kriegsende und R evolution

riers mit Flugblättern für die Spartakisten auf dem Bahnhof Friedrichstraße geplatzt war. Die Erklärungen der russischen Botschaft, auf die man sich in der Redaktion verlassen habe, hätten sich „leider als unwahrhaftig herausgestellt", erläuterte der Vorwärts, bevor er zum Angriff auf den „russischen Bolschewismus" und die Spartakisten ansetzte168: „Wir wollen keine russischen Zustände, denn wir wissen, daß das russische Volk unter der bolschewistischen Herrschaft Hungers stirbt, obwohl Rußland ein vorwiegend Ackerbau treibendes Land ist". Die deutsche Arbeiterschaft sei zwar „sozialistisch durch und durch, aber den Socialismus asiaticus, der sich Bolschewismus nennt, lehnt sie ab"169. Nur „ein ganz kleiner Kreis, der sich Gruppe Internationale (Spartakusgruppe) nennt", sei „mit dem Bolschewismus einverstanden". Während die Unabhängigen und die SPD-Anhänger für einen möglichst schnellen Frieden einträten, würden „die Spartakusleute den Frieden bekämpfen! Sie sehen in Wilsons Friedensvorschlägen nur ein Mittel, die soziale Revolution zu ersticken und möchten am liebsten den Krieg bis zur völligen Auflösung weiterführen, in der dann ihr bolschewistischer Glücksweizen blühen mag". Die „Gruppe Internationale" bestehe aus „selig Trunkenen", und daß diese „Grünlinge" und „Wirbelköpfe" eine „höhere Bedeutung erlangt" hätten, als ihnen „an sich zukommt", führte das SPD-Blatt — jetzt ausdrücklich — auf die „russische Unterstützung" zurück170.

168

Ausgabe vom 6. November 1918. Da für die meisten deutschen Zeitungen eine Unterstützung der Spartakisten durch die Mitarbeiter der russischen Botschaft außer Frage stand, ist schwer nachvollziehbar, warum ausgerechnet der Vorwärts den Beteuerungen der Botschaft so lange Glauben geschenkt haben soll. Nach Miller: Bürde der Macht, S. 42 „sorgte die Regierung auf Scheidemanns Vorschlag dafür, daß eine Kurierkiste der russischen Botschaft 'zufällig' aufbrach". Auch Philipp Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten. 2 Bde. Dresden 1928, S. 252f. betont, der „Trick" mit der Kiste gehe auf ihn zurück, während nach Lösche: Bolschewismus, S. 211, Anm. 155 „die Vorgänge um diesen Zwischenfall [...] nie ganz geklärt worden" sind. 169 Diese Ablehnung sei bei den „Anhängern der alten Sozialdemokratie vollständig" und werde „von dem weitaus größten Teil der Unabhängigen geteilt", meinte der Vorwärts. 170 Ebd. Mit dem „Socialismus asiaticus" befaßte sich der Vorwärts auch in seiner Ausgabe vom 17. November 1918. Nach einer aus Stockholm stammenden Meldung der Telegraphen-Union habe die Sowjetregierung „offiziell" bekanntgegeben, daß als Reaktion auf die Ermordung von zwei Kommissaren einmal 500, ein zweites Mal 550 Bürger aus Petersburg erschossen worden seien: „Ein Teil der Opfer wurde in Peters-

Der Vorwärts

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2. Überrascht von der Revolution? Ohne konkreter auf die revolutionären Ereignisse in Norddeutschland einzugehen, stellte sich der Vorwärts am 7. November hinter einen Aufruf der Schleswig-Holsteinischen Volkszeitung, in dem die „soziale Republik" als politisches Ziel der Arbeiter und Soldaten genannt wurde171. Offensichtlich besorgt, die revolutionäre Bewegung und Teile der Sozialdemokratie könnten auseinanderdriften, mahnte das Blatt: Niemand, „dem die Gedanken der neuen Zeit aufgegangen sind, wird sich in seinem Empfinden von den Massen trennen, er wird es auch dort nicht tun, wo er nicht jedes einzelne Vorkommnis zu billigen imstande ist"172. Einen Tag später versuchte die SPD, sich mit ihren „Fünf Forderungen"173 an die Spitze der „Freiheitsbewegung" zu stellen174, und forderte alle Sozialisten zur Zusammenarbeit auf: „Es muß zusammengehalten und zusammengearbeitet werden! [...] Alter Hader muß vergessen werden, und die verschiedenen Gruppen der Arbeiterbewegung müssen gemeinsam vorgehen"175. Allerdings, auch das betonte der Vorwärts, könnten die Kräfte „nur dann ins richtige Gleichgewicht kommen, wenn gemeinsam beraten und nach demokratischen Grundsätzen ent-

burg selbst erschossen, ein anderer nach Kronstadt geschickt. Die Matrosen warfen jedoch die Opfer schon unterwegs ins Meer", so daß „Hunderte von Leichen [...] ans Ufer gespült" worden seien. 171 „Was die Arbeiter und Soldaten wollen, ist nicht das Chaos, sondern die neue Ordnung, ist nicht die Anarchie, sondern die soziale Republik" (Ausgabe vom 7. November 1918). 172 Ebd. 173 Ebert und Scheidemann hatten dem Reichskanzler Prinz Max von Baden die ultimativen Forderungen der SPD überbracht: „1. Freigabe der heute verbotenen Versammlungen. 2. Anweisung von Polizei und Militär zu äußerster Besonnenheit. 3. Rücktritt des Kaisers und des Kronprinzen bis Freitag Mittag. 4. Verstärkung des sozialdemokratischen Einflusses in der Regierung. 5. Umgestaltung des preußischen Ministeriums im Sinne der Mehrheitsparteien des Reichstags" (zitiert nach dem Vorwärts vom 8. November 1918). m Die Ausgabe vom 9. November 1918 stand unter der — durchaus nationalistisch interpretierbaren — Schlagzeile „Die deutsche Freiheitsbewegung" (vgl. die Ausführungen zum Völkischen Beobachter 1923). 175 Jede Gruppe könne „zum Gelingen des Ganzen das Ihre beitragen, indem die einen ihren leidenschaftlich vorwärtsdrängenden Eifer, die ändern ihre größere praktische Einsicht und Erfahrung zur Verfügung stellen" (Ausgabe vom 8. November 1918).

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I. Kriegsende und Revolution

schieden wird". Da „in wenigen Tagen [...] das allgemeine, gleiche, direkte und geheime Wahlrecht für alle über 24jährigen Staatsbürger, Männer und Frauen," eingeführt werde, sei „auch jede sozialistische Maßnahme möglich in dem Augenblick, in dem die Mehrheit der Bevölkerung sie verlangt. Es beginnt eine neue Ära, die Probezeit für den praktischen Sozialismus"176. Die gemeinsame Regierung mit den Unabhängigen betrachtete der Vorwärts zwar als wichtigen Schritt zur Reorganisation der Sozialdemokratie, aber über die Aufgaben und den Status dieser Regierung gab es selbst innerhalb der SPD Meinungsunterschiede. So betonte z.B. Friedrich Stampfer, daß die Regierung ihr Amt nur „als ein vorläufiges" begreifen könne, da die „Bestätigung durch das Volk" noch ausstehe. „Bei jeder ihrer Handlungen" müsse die Regierung sich deshalb fragen, ob sie dafür „vor dem ganzen Volk die Verantwortung" übernehmen könne, „so daß sie am Tage der Rechenschaft und Entlastung mit gutem Gewissen bestehen kann"177. Die Ausführungen Stampfers relativierte Scheidemann wenig später: „Revolutionen tragen ihr Recht und ihre Notwendigkeit in sich und haben es nicht nötig, sich erst beglaubigen zu lassen". Die durch die Revolution geschaffenen Tatsachen müßten nicht von der Nationalversammlung abgesegnet werden, sondern die Nationalversammlung habe „vor allem die Aufgabe, den Volkswillen zu sichern [...], um dadurch der Entente jeden Vorwand zur Verzögerung des bitter notwendigen endgültigen Friedens zu nehmen"178.

176

Ebd. Auffallend häufig sprach der Vorwärts von einer guten und reibungslosen Zusammenarbeit mit den Unabhängigen: „Kiel wirkte vorbildlich in jeder Beziehung, Überall galt es als Regel, Verluste von Menschenleben zu vermeiden, und überall, soweit wir sehen, arbeiten, wie in Kiel, wo Genösse Noske als Marine- und Stadtkommandant seines Amtes waltet, die beiden sozialistischen Richtungen einträchtig zusammen"' (Ausgabe vom 9. November 1918). 177 Ausgabe vom 13. November 1918. 178 Ausgabe vom 18. November 1918. Die Nationalversammlung müsse aber auch „den materiellen Bedürfnissen des neuen Deutschland Rechnung tragen", erklärte Scheidemann, „denn seit der Auflösung des Reichstages und dem Verschwinden des Bundesrates als Teil einer gesetzgebenden Körperschaft gibt es keine Instanz, die neue Kredite bewilligen kann [...] Es muß also unbedingt ein gesetzmäßiger und den innerund außerdeutschen Gläubigern gegenüber rechtsgültiger Weg zu neuer Geldbeschaffung gefunden werden, und der kann nur über die aus allgemeinen Wahlen hervorgegangene Nationalversammlung führen".

Der Vorwärts

3. Kaum beachtet: Der

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Waffenstillstand

Verglichen mit den zahlreichen Beiträgen zur innenpolitischen Entwicklung verfolgte der Vorwärts die Waffenstillstandsverhandlungen mit eher geringem Interesse179. Das Blatt erwartete zwar einen harten Frieden, „nachdem die wahnsinnige Gewaltpolitik der früheren Machthaber elend zusammengebrochen ist"180, aber die Frage, ob Deutschland seinerseits vom Kriegsgegner die Begleichung aller Zivilschäden fordern solle, stellte der Vorwärts nicht; vielmehr baute das Blatt darauf, daß die Ententeländer bei den Friedensverhandlungen „die Gelegenheit haben [werden], zu überlegen, ob sie ein Interesse daran haben, Deutschland wirtschaftlich zugrunde zu richten. [...] Denn Staatsbankerott, Auflösung und Revanchepatriotismus sind ansteckende Krankheiten"181. Diese Tatsache, so hoffte das SPD-Organ, könnte „dazu führen, daß die dem deutschen Volk vorzulegende Kostenrechnung hinter den Befürchtungen, die man zunächst hegen muß, wesentlich zurückbleibt". Auch als die Waffenstillstandsbedingungen des Marschalls Foch unterzeichnet waren, „eine bitterharte Notwendigkeit!"182, gab der Vorwärts sich immer noch optimistisch. Er räumte zwar ein, daß die Bedingungen des Waffenstillstands „wahrhaft furchtbar'1 seien, meinte aber, es werde die Aufgabe der neuen Regierung sein, „einen raschen und möglichst guten Frieden zu schließen". Die Regierung rechne „dabei auf die Hilfe aller Freunde des Friedens und der Freiheit in der ganzen Welt, damit aus diesem Chaos ein Frieden des Völkerbundes und der internationalen Brüderlichkeit entstehen kann"183.

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Auffallend ist der Optimismus, mit dem der Vorwärts einem raschen Kriegsende entgegensah: „Der letzte Schuß im Weltkrieg wird wohl in dieser Woche noch verhallen", hieß es am 7. November. „Der Frieden ist gesichert — in wenigen Stunden wird die Waffenruhe eingetreten sein", behauptete das Blatt einen Tag später. Am 9. November glaubte der Vorwärts wiederum, in „wenigen Stunden" werde der Waffenstillstand eintreten. 180 Ausgabe vom 7. November 1918. 181 Würde „dem Völkerbund, der auf der Friedenskonferenz begründet werden soll, ein von vornherein zu hoffnungslosem Siechtum verurteiltes Glied eingefügt, so wäre der Todeskeim in das Ganze gelegt", meinte das Blatt (ebd.). 182 Ausgabe vom 11. November 1918. 183 Ebd.

Die Rote Fahne Stand in der ersten Ausgabe der Roten Fahne noch der äußere Ablauf der Revolution im Zentrum, so rückte danach das Programm der Spartakisten in den Mittelpunkt des Interesses. Mit Engagement verfocht das Blatt die Notwendigkeit einer „echten", einer sozialistischen Revolution. Den Waffenstillstandsbedingungen und dem Thronverzicht der Hohenzollern schenkte die Rote Fahne nur wenig Aufmerksamkeit. 1. Der 9. November: Facetten der Revolution Die später immer wieder von der Roten Fahne kritisierte Halbherzigkeit der Revolution offenbarte sich bereits in der Ausgabe vom 9. November, in der jedoch noch lobend registriert wurde, daß die Umwälzung in Berlin „vormittags ruhig [einsetzte] und [...] sich auch weiterhin in völlig geordneten Formen" vollzog. Nachdem das Blatt die Übergabe von zwei Kasernen an die revolutionären Massen geschildert hatte184, wurde über den weiteren Verlauf des Tages mit wenig revolutionärem Pathos berichtet: „Einem Oberleutnant wurde der Degen und Revolver abgenommen, man stellte ihm eine Bescheinigung aus"; die „Führer eines [...] haltenden Militärautos" wurden überredet, sich dem Demonstrationszug in der Wilhelmstraße anzuschließen. „ Vor dem Auswärtigen Amt machten die Demonstrierenden [...] eine kurze Pause, betraten das

184

Vgl. die Rote Fahne vom 9. November 1918: Um 11 Uhr 30 „kam vom Stettiner Bahnhof her ein nicht endenwollender Zug von Frauen und Männern mit roten Fahnen. Diese machten sich auf den Weg zur Maikäferkaserne. Hier fielen die ersten Schüsse. Der Führer der Jugendwehr und zwei Mann wurden getroffen. Nunmehr schlug die Menge die Scheiben ein und befreite die Soldaten. Die Übergabe der Kaserne erfolgte". Nach dem Bericht der Roten Fahne begab sich danach eine „Abordnung" in die Kaserne der Garde-Ulanen „und forderte die Übergabe, sie erfolgte nicht. Es wurde Aufstellung genommen, der erste Schuß fiel, hiernach betrat die Kommission nochmals die Kaserne, es erfolgte nunmehr die Übergabe".

Die Rote Fahne

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Haus, kehrten aber sofort wieder freiwillig um. Ebenso ließen sie das angrenzende Reichskanzlerpalais unbehelligt". Auch hinter der Zwischenüberschrift „Rote Fahnen am Schloß" verbarg sich eher revolutionäre Rhetorik als revolutionärer Kampf, denn die roten Fahnen befanden sich zunächst nur „am Eingang zu den Portalen"185. Und wenn „den Soldaten und Offizieren [...] die Kokarden von den Mützen abgenommen" wurden und das „meistens in ziemlich höflichen Formen" geschah, dann sind das bemerkenswerte Eigenschaften einer Revolution, die angeblich „mit rasender Wucht" abrollte186. Lediglich der Hinweis, daß „in der Nähe des Halleschen Ufers [...] aus einem geheimen Waffendepot Gewehre verteilt" wurden, deutet auf ein geplantes Vorgehen hin. Ansonsten erweckt die erste Nummer der Roten Fahne den Eindruck, die aufständischen Massen hätten sich eher ziellos durch Berlin treiben lassen187.

2. Das revolutionäre Profil der Roten Fahne Den „Aufruf des Reichskanzlers", in dem Ebert forderte, die Straßen zu verlassen und für Ruhe und Ordnung zu sorgen188, kommentierte die Rote Fahne mit der Aufforderung: „Wir fordern im Gegenteil dazu auf, nicht die Straßen zu verlassen, sondern bewaffnet zu bleiben und in je-

185 Wenig später muß aber auch auf dem Schloß eine rote Fahne geweht haben. In der Ausgabe vom 10. November 1918 berichtete das Blatt: „Karl Liebknecht hat die rote Fahne auf dem Schloß gehißt. Auch vom Brandenburger Tor weht die rote Flagge". 186 So die Rote Fahne am 9. November 1918. 187 Rückblickend bezweifelte auch Karl Liebknecht den revolutionären Charakter der Umwälzung: In einem Leitartikel vom 19. November setzte er das Wort „Revolution" konsequent in Anführungszeichen und meinte, sie habe sich „fast unter behördlicher Duldung" vollzogen (Rote Fahne vom 19. November 1918). 188 Abgedruckt in Hagen Schulze: Weimar. Deutschland 1917-1933. Berlin 1982, S. 164. Diese „Mahnung zur Ruhe und Ordnung!" vom 9. November beschreibt in nüchterner Sachlichkeit die schwierige Versorgungslage und ist ein moralischer Appell an solidarisches Verhalten der Bevölkerung. Dieser Appell veranschaulicht, daß „die Revolution 1918/19 weniger von einem ideologisch vorgegebenen Revolutionsziel als von pragmatischer Bewältigung der Katastrophe" lebte. Wie aber „sollte eine Revolution faszinieren, deren Akteure von ihrer Notwendigkeit nicht überzeugt waren?" (Möller: Die nationalsozialistische Machtergreifung, S. 28).

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/. Kriegsende und Revolution

dem Augenblick auf der Hut zu sein. Die Sache der Revolution ist nur in den Händen des Volkes sicher. Die Aufforderung des vom gestürzten Kaiser neugebackenen Reichskanzlers verfolgt nur den Zweck, die Massen heimzusenden, um die alte Ordnung1 wiederherzustellen"189. Bereits zu diesem Zeitpunkt war das Dilemma der Spartakisten evident: Einerseits forderten sie die prinzipielle Stärkung der Arbeiter- und Soldatenräte als Korrektiv zur Reichsregierung unter Ebert, andererseits mußten sie feststellen, daß eben diese Räte in den meisten Fragen mit der Regierung übereinstimmten. Eine spürbare Distanzierung von den bestehenden Räten konnte nicht ausbleiben, denn aus dem Soldatenrat in Potsdam, von dessen 25 Mitgliedern 23 Offiziere waren, verlautete z.B., „daß eine Rückkehr des Kaisers nach Potsdam nicht ausgeschlossen sei", da die Verhältnisse in Holland für ihn zu unsicher seien190. Aus Dresden meldete die Rote Fahne den Austritt der Kommunisten aus dem Arbeiter- und Soldatenrat, denn die gesamte Revolution enthülle „sich mit jedem Tag mehr als ein großangelegtes, von den bürgerlichen Regierungen gewelltes und vorbereitetes Täuschungsmanöver zu dem Zwecke, die kapitalistische Gesellschaft vor ihrem drohenden Untergange zu retten. Um den Preis eines billigen Friedens mit der Entente und unterstützt von dieser geht die Kapitalistenklasse Deutschlands daran, den Kommunismus (Bolschewismus) — der die einzige wirkliche Gefahr des Kapitalismus bildet — zu erdrosseln. Sozialisten beider Richtungen leisten ihr dabei Hilfe. Damit wird die sogenannte Revolution zu einer gegenrevolutionären Aktion"191.

"'An dieser Ausgabe vom 10. November 1918 wirkte die gerade aus ihrer Haft entlassene Rosa Luxemburg mit. Zu den politischen Zielen der Spartakisten meinte die Rote Fahne: „Diese Revolution muß nicht nur hinwegschwemmen alle Reste und Ruinen des Feudalismus, sie muß nicht nur brechen alle Zwingburgen des Junkertumes [...], ihre Losung ist nicht nur Republik, sondern sozialistische Republik! Ihr Banner ist nicht die schwarzrotgoldene Fahne der bürgerlichen Republik von 1848, sondern die rote Fahne der Kommune von 1871 und der russischen Revolution". 190 Ausgabe vom 19. November. Diese Tatsache veranlaßte die Rote Fahne zu der Forderung, daß keine Offiziere Mitglieder der Soldatenräte sein dürften: „So wenig ein Unternehmer und Kapitalist in den Arbeiterrat gehört, so wenig haben Offiziere in den Soldatenräten zu schaffen". 191 Die Kommunisten hätten sich am 9. November „mit den abhängigen und unabhängigen Sozialdemokraten verbündet, um die sozialistische Revolution durchzuführen. Die Erfahrungen einer Woche haben genügt zu der Erkenntnis, daß dieser

Die Rote Fahne

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Ihre Kritik an der Regierung Ebert erläuterte die Rote Fahne in einem Aufruf an die „Arbeiter und Soldaten von Berlin"192, der in einem 10Punkte-Katalog u.a. die „Entwaffnung der gesamten Polizei, sämtlicher Offiziere sowie der Soldaten, die nicht auf dem Boden der neuen Ordnung stehen", die „Beseitigung des Reichstages und aller Parlamente sowie der bestehenden Reichsregierung", die „Wahl von Arbeiter- und Soldatenräten über ganz Deutschland" sowie die „sofortige Rückberufung der russischen Botschaft nach Berlin" forderte193. „Mit der Abdankung von ein paar Hohenzollern ist es nicht getan. Noch viel weniger ist es getan damit, daß ein paar Regierungssozialisten mehr an die Spitze treten". Höhepunkt des Aufrufs war eine harsche Polemik gegen die Sozialdemokratie: „Vier lange Jahre haben die Scheidemänner, die Regierungssozialisten, euch durch die Schrecken eines Krieges gejagt, haben euch gesagt, man müsse 'das Vaterland' verteidigen, wo es sich nur um die nackten Raubinteressen des Imperialismus handelte: Jetzt, da der Imperialismus zusammenbricht, suchen sie für die Bourgeoisie zu retten, was noch zu retten ist, und suchen die revolutionäre Energie der Massen zu ersticken"194. In ihrem ersten namentlich gezeichneten Leitartikel warnte Rosa Luxemburg vor allzu großer Euphorie und dem Gefühl, die Revolution habe bereits gesiegt195: „Nicht Jubel über das Vollbrachte, nicht Triumph über den niedergeworfenen Feind ist am Platze, sondern strengste Selbstkritik und eiserne Zusammenhaltung der Energie, um das begonnene Werk weiter zu führen. Denn das Vollbrachte ist gering und der Feind ist nicht niedergeworfen. Was ist erreicht? Die Monarchie ist

Kompromiß unhaltbar ist. Revolutionäre und gegenrevolutionäre Tendenzen lassen sich nicht vereinigen" (ebd.). 192 Ausgabe vom 10. November 1918. '" Die Rote Fahne veröffentlichte (ebd.) einen „Gruß an die russische Sowjetrepublik" und teilte den „russischen Brüdern" mit, „daß die Berliner Arbeiterschaft den ersten Jahrestag der russischen Revolution gefeiert [habe] durch die Vollbringung der deutschen Revolution". Mit zahlreichen Hinweisen auf Lebensmittelspenden der Sowjetrepublik für Deutschland unterstrich die Rote Fahne die enge Verbindung zwischen Spartakisten und russischen Bolschewisten. 194 Es dürfe „kein Sozialist in die Regierung eintreten, solange ein Regierungssozialist noch in ihr sitzt" (ebd.). 195 Ihr Leitartikel erschien am 18. November unter der Überschrift „Der Anfang". Seit dieser Ausgabe hatte das Blatt die Kopfzeile: „Die Rote Fahne. Zentralorgan des Spartacusbundes. Schriftleitung: Karl Liehknecht und Rosa Luxemburg".

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I. Kriegsende und Revolution

hinweggefegt, die oberste Regierungsgewalt ist in die Hände von Arbeiter- und Soldatenvertretern übergegangen. Aber die Monarchie war nie der eigentliche Feind, sie war nur Fassade, sie war das Aushängeschild des Imperialismus [...] Die imperialistische Bourgeoisie, die kapitalistische Klassenherrschaft — das ist der Verbrecher, der für den Völkermord verantwortlich gemacht werden muß. Die Abschaffung der Kapitalsherrschaft, die Verwirklichung der sozialistischen Gesellschaftsordnung: dies und nichts Geringeres ist das geschichtliche Thema der gegenwärtigen Revolution"196. Daß Rosa Luxemburg die „jetzige revolutionäre Regierung" kritisierte, weil sie nichts unternehme, um die Revolution fortzuführen, wird den Leser kaum überrascht haben, wohl aber ihre scharfe Kritik an der Selbstgefälligkeit vieler „Revolutionäre": „Das Fazit der ersten Woche der Revolution heißt: im Staate der Hohenzollern hat sich im Wesentlichen nichts verändert, die Arbeiter- und Soldatenregierung fungiert als Stellvertreterin der imperialistischen Regierung, die bankrott geworden ist. All ihr Tun und Lassen ist von der Furcht vor der Arbeitermasse getragen197. [...] Der reaktionäre Staat [...] wird nicht in 24 Stunden zum revolutionären Volksstaat. Soldaten, die gestern in Finnland, Rußland, der Ukraine, im Baltikum als Gendarmen der Reaktion revolutionäre Proletarier mordeten, und Arbeiter, die dies

196

Als dringlichste Maßnahmen forderte Rosa Luxemburg „die schleunigste Einberufung des Reichsparlamentes der Arbeiter und Soldaten, um die Proletarier ganz Deutschlands als Klasse, als kompakte politische Macht zu konstituieren". Daneben sollte die „unverzügliche Organisierung nicht der 'Bauern', sondern der ländlichen Proletarier und Kleinbauern, die als Schicht bisher noch außerhalb der Revolution stehen", in Angriff genommen werden. Außerdem forderte Luxemburg die „sofortige Konfiskation der dynastischen Vermögen und Besitzungen sowie des Großgrundbesitzes als vorläufige erste Maßnahme zur Sicherung der Verpflegung des Volkes", denn Hunger sei „der gefährlichste Bundesgenosse der Gegenrevolution" (ebd.). 197 „Ruhe! Ordnung! Ordnung! Ruhe! So hallt es von allen Seiten, aus allen Kundgebungen der Regierung, so jubelt das Echo aus allen bürgerlichen Lagern. Das Gezeter gegen das Gespenst der 'Anarchie' und des 'Putschismus', die bekannte Höllenmusik des um die Kassenschränke, Eigentum und Profite besorgten Bourgeois ist die lauteste Note des Tages, und die revolutionäre Arbeiter- und Soldatenregierung duldet ruhig diesen Generalmarsch zum Sturm gegen den Sozialismus, ja, sie beteiligt sich daran mit Wort und Tat. [...] Gegen Putsche, Morde und ähnlichen Blödsinn schreit man und den Sozialismus meint man" (ebd.).

Die Rote Fahne

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ruhig geschehen ließen, sind nicht in 24 Stunden zu zielklaren Trägern des Sozialismus geworden"198. Nicht weniger deutlich waren die Vorwürfe, mit denen Karl Liebknecht gegen „die Einigkeitsapostel" des „neuen Burgfriedens" zu Felde zog199 oder mit denen Paul Levi den Vorwärts geißelte, weil das SPDOrgan noch im März 1918 geschrieben habe, „es gebe nur noch einen Weg zum Frieden, den deutschen Sieg"200. Trotz einer schonungslosen Verurteilung sozialdemokratischer Politik und des Plädoyers für eine proletarisch-revolutionäre Politik betonte Rosa Luxemburg in dem am 14. Dezember veröffentlichten „Manifest des Spartakusbundes", die Spartakisten würden „nie anders die Regierungsgewalt übernehmen als durch den klaren, unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse in ganz Deutschland, nie anders als kraft ihrer bewuß-

198

Ebd. Die Frankfurter Zeitung hatte mit dem Hinweis, daß „kaiserliche" Soldaten sich nicht über Nacht in Republikaner wandeln könnten, ähnlich argumentiert. "' Vgl. seinen Beitrag „Der neue Burgfrieden" in der Roten Fahne vom 19. November 1918: „'Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Deutsche' — dies Trugwort stand am Anfang des Weltkriegs. [...] 'Wir kennen keine verschiedenen sozialistischen Parteien mehr — wir kennen nur noch Sozialisten' — so klingt es am Schluß des Weltkriegs. Die Flagge eines neuen Burgfriedens ist gehißt; fanatischer Haß wird gesät gegen jeden, der sich dem neuen Einigkeitstaumel entgegenwirft. Und wieder sind die lautesten Rufer im Streit die Scheidemann und Konsorten. Sie finden ein hallendes Echo vor allem unter den Soldaten. Kein Wunder. Bei weitem nicht alle Soldaten sind Proletarier; und Belagerungszustand, Zensur, amtliche Propaganda und Stampferei waren nicht wirkungslos. Die Masse der Soldaten ist revolutionär gegen den Militarismus, gegen den Krieg und [...] offenkundige Repräsentanten des Imperialismus; im Verhältnis zum Sozialismus ist sie noch zwiespältig, schwankend, unausgegoren. Ein großer Teil der proletarischen Soldaten wie der Arbeiter, die den verblödenden Einflüssen der Sozialimperialisten jahrelang unterworfen waren, wähnt, die Revolution sei vollbracht f...] Sie wollen Ruhe nach langer Qual". 200 Zitiert nach der Roten Fahne vom 19. November 1918. Zu Paul Levi, der im Frühjahr 1922 zur USPD zurückkehrte und sich später der SPD anschloß, vgl. Charlotte Berndt: Paul Levi: Ein demokratischer Sozialist in der Weimarer Republik. Frankfurt am Main 1969.

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/. Kriegsende und Revolution

ten Zustimmung zu den Aussichten, Zielen und Kampfmethoden des Spartakusbundes201.

201

Ausgabe vom 14. Dezember 1918 (das Programm des Spartakusbundes ist abgedruckt bei Hermann Weber [Hg.]: Der deutsche Kommunismus. Dokumente 1915—1945. Köln 31973, S. 34—42). Während Rosa Luxemburg am 23. Dezember in der Roten Fahne erneut für eine Beteiligung der Spartakisten an den Wahlen zur Nationalversammlung plädierte und auch Karl Liebknecht sich dafür aussprach, wurde nach dem Zusammenschluß der Spartakisten mit der Bremer Gruppe der Internationalen Kommunisten Deutschlands zur KPD die Teilnahme an den Wahlen mit 62 gegen 23 Stimmen abgelehnt (vgl. Angress: Kampfzeit der KPD, S. 45ff.).

IX

„Erhebungsphase 1918": Zusammenfassung Angesichts der Verluste auf den Schlachtfeldern und der Lebensmittelverknappung befürworteten im Herbst 1918 alle untersuchten Zeitungen eine möglichst schnelle Einstellung der Kriegshandlungen. Nahezu ausnahmslos akzeptierte die deutsche Presse „Wilsons 14 Punkte" als Grundlage für einen Waffenstillstand. Ebenso einmütig wurden die in der Lansing-Note übermittelten Bedingungen für einen Waffenstillstand abgelehnt, weil sie die „Freiheit der Meere" zugunsten Englands einschränkten und dem Deutschen Reich einseitige Reparationsverpflichtungen auferlegten. Als mit der Lansing-Note die Angst vor einem „schlechten" Frieden wuchs, häuften sich die „Durchhalteparolen", obwohl der militärische Zusammenbruch faktisch bevorstand; gleichzeitig wurde aber auch der Ruf nach Abdankung der Hohenzollern lauter. Bis auf die Rote Fahne mahnten alle Blätter „Ruhe, Ordnung und Besonnenheit" an und standen der am 9. November von Scheidemann proklamierten Republik nahezu uneingeschränkt positiv gegenüber; antirepublikanische Ressentiments des rechten Lagers waren kaum vernehmbar. Trotz dieser grundsätzlichen Übereinstimmung wies die deutsche Presse in Einzelfragen charakteristische Unterschiede auf.

1. Das Ereignis: Der

Waffenstillstand

Besonders starken Schwankungen unterworfen war die Einstellung des Münchener Beobachters zum Waffenstillstand. Noch Mitte Oktober hatte das Blatt „Wilsons 14 Punkte" entschieden abgelehnt und sogar den Tod einem „Leben der Erniedrigung" und „Knechtung" vorgezogen. Im November betonte der Münchener Beobachter jedoch, die Zustimmung der Reichsregierung zu „Wilsons 14 Punkten" sei für „nationale und völkische Kreise" kein Grund, der „jetzigen sogenannten Volksregierung" die „Gefolgschaft" zu verweigern. Differenzierter beurteilten die Münchner Neuesten Nachrichten die Auflagen der Entente für einen

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/. Kriegsende und Revolution

Waffenstillstand. Obwohl sich das Blatt „jeder politischen Meinung" enthalten wollte, warnte es vor zu großem Vertrauen gegenüber dem Völkerbund und vor der Hoffnung, eine schnelle Zusammenarbeit mit Frankreich könne die deutsche Rohstoffversorgung sichern. Auch der Berliner Lokal-Anzeiger zeigte sich tief enttäuscht und sah in den alliierten Bedingungen für die Einstellung der Kampfhandlungen jenes „Strafgericht für das deutsche Volk", das „die wütendsten Racheprediger der Entente immer herbeigewünscht" hätten. Die BZ, die voller Skepsis die Abreise der deutschen Delegation zu den Waffenstillstandsverhandlungen verfolgte, erwartete von England und Frankreich keine Konzessionen; allenfalls die „Menschlichkeit Wilsons" könnte die harten Bedingungen der Alliierten mildern. Nach Abschluß der Verhandlungen unterstrich die BZ, daß vor allem durch die „unablässigen Vorstellungen Erzbergers" in Compiegne einige Erfolge erzielt worden seien und daß Hindenburg und Groener der deutschen Delegation „warmen Dank und Anerkennung" ausgesprochen hätten. Wie der Lokal-Anzeiger, so meinte auch die Germania, der Feind dürfe im Vorfeld der Waffenstillstandsverhandlungen kein Zeichen militärischer Schwäche erkennen, denn dann würde er den „Frieden diktieren". Der sich überall in der Welt ausbreitende „sozialistische Gedanke", so die vage Hoffnung der Germania, könnte aber auch die Alliierten zur Einsicht bringen und für Deutschland Erleichterungen herbeiführen. Verbittert beklagte die Frankfurter Zeitung die unnachgiebige Haltung der Entente, die inzwischen gegen den Geist kämpfe, für den zu kämpfen sie ursprünglich angetreten sei. Die Fortsetzung der Blockadepolitik bedrohe nicht nur das Leben der deutschen Bevölkerung, sondern könne auch für die Alliierten zur Bedrohung geraten, wenn Deutschland in die Arme des Bolschewismus getrieben werde. Alles in allem sei die Erbschaft des zertrümmerten deutschen Militarismus „höchst schauerlich". Der Vorwärts versah seine Berichte zum Waffenstillstand mit innenpolitischen Akzenten und hob hervor, daß SPD und Unabhängige für den Frieden kämpften, während die Spartakisten den Krieg am liebsten „bis zur völligen Auflösung weiterführen" würden. Das SPD-Blatt befaßte sich kaum mit den einzelnen Auflagen des Waffenstillstands, sondern baute vielmehr darauf, daß die Alliierten — nicht zuletzt aus Eigeninteresse — ihre harten Konditionen im Friedensvertrag revidieren würden. Die Rote Fahne ging auf die Waffenstillstandsbedingungen nur beiläufig ein.

Zusammenfassung 1918

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2. Republik und Rechtsradikalismus Die Republik als Staatsform lehnte der Münchener Beobachter prinzipiell ab. Da zur Zeit aber alle „Demokratien in Wahrheit Autokratien" seien, in denen die Diktatur herrsche, glaubte das Blatt, sich mit der Demokratie arrangieren zu können, und wünschte für Deutschland ebenfalls eine autoritäre Demokratie, um dann der „westlichen Demokratie die germanische Demokratie" entgegenzustellen. Die Regierungsübernahme durch die Mehrheitsparteien kommentierte das Blatt mit der Bemerkung, der Kaiser habe „das Wichtigste der deutschen, von Bismarck so meisterlich gefügten Verfassung" preisgegeben. Als die Wogen der Revolution sich etwas beruhigt hatten, kehrte das völkische Blatt seine rassistische Grundhaltung wieder stärker hervor und meinte, „in allen deutschen Volksrepubliken" säßen Juden auf den Ministersesseln; auch die Arbeiter- und Soldatenräte stünden unter der Leitung von Semiten, die das Ziel hätten, „Deutschland nicht eher zur Ruhe kommen zu lassen, als bis es ganz vernichtet ist". Der revolutionäre Charakter der Umwälzung bereitete — wie den meisten „bürgerlichen" Zeitungen — auch den Münchner Neuesten Nachrichten Probleme. Dennoch erklärte sich das Blatt mit der politischen Entwicklung solidarisch, solange es nicht zu einer einseitigen Parteienherrschaft komme. Das ehemals konservativ-bürgerliche Blatt war überzeugt, daß die Bevölkerung sich mit „überwältigender Mehrheit" freudig auf den „Boden der Republik" stellen werde und daß man im Zuge einer weltweiten „Sozialisierung des Wirtschaftsprozesses" zum „Gipfel edler Menschlichkeit" gelangen könne. Diese Zuversicht stand in einem seltsamen Kontrast zur Trauer über den erzwungenen Thronverzicht der Wittelsbacher. Ähnliches Bedauern äußerte der Berliner Lokal-Anzeiger über das Schicksal der Hohenzollern, für das er vor allem die Sozialdemokratie verantwortlich machte. Aber auch der Lokal-Anzeiger stellte sich auf den Boden der Tatsachen und reklamierte für sich insbesondere die von der Regierung zugesicherte „Freiheit jeglicher Meinungsäußerung". Vordringlichste Aufgabe der Regierung sei es, die „öffentliche Ordnung im Lande unbedingt aufrechtzuerhalten" und das „Privateigentum zu schützen", um „russische Zustände" zu verhindern. Positiver zum „Sturm der großen deutschen Revolution" und zur Republik stand die Berliner Zeitung am Mittag, die den abgedankten Dynasten keine Träne nachweinte. Das Blatt zeigte deutliche Sympathien für den Rat der Volksbeauftragten, dem es gelungen war, den Einfluß von Kommu-

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I. Kriegsende und Revolution

nisten und Bolschewisten zurückzudrängen. Daß die Soldatenräte von den „Bolschewisten russisch-jüdischer Färbung" weit abgerückt waren, begrüßte auch die Germania, die aus prinzipieller Überzeugung jede Revolution ablehnte und „die augenblicklichen Verhältnisse nur als ein Übergangsstadium" ansah; die Staatsgrundlagen verbindlich festzulegen, sei ausschließlich Aufgabe einer verfassunggebenden Nationalversammlung. Zur Abdankung der Hohenzollern meinte das katholische Organ, das deutsche Volk dürfe nie vergessen, „was es den Hohenzollern in 500 Jahren aufwärtsführender Regierung zu verdanken hat". Den Warnungen vor den Bolschewisten schloß sich auch die Frankfurter Zeitung an, zumal einer bolschewistischen Herrschaft unweigerlich die „feindliche Invasion" folge, die zum Ruin Deutschlands führen müsse. Im Unterschied zum Lokal-Anzeiger und der Germania ließ das linksliberale Blatt aber keine Gelegenheit aus, um auf die Verantwortung des „alten Systems" für die militärische Niederlage hinzuweisen. Gemeinsam mit der (M)SPD forderte die Frankfurter Zeitung, die Revolution so schnell wie möglich auf den „Weg des Rechts" zurückzuführen. Die von der Frankfurter Zeitung ausdrücklich begrüßte „deutsche Republik" sollte „radikal und sozial sein bis in die Knochen". Der von der Revolution offensichtlich überraschte Vorwärts lehnte ebenfalls einen „socialismus asiaticus" ab und betonte, mit dem demokratischen Wahlrecht beginne die „Probezeit für den praktischen Sozialismus". Umstritten innerhalb der Sozialdemokratie war, ob die aus der Revolution hervorgegangene Republik einer Legitimation durch demokratische Wahlen bedürfe: Während Stampfer für möglichst frühe Wahlen zur Nationalversammlung eintrat, betonte Scheidemann, Revolutionen hätten „es nicht nötig, sich erst beglaubigen zu lassen". Kritisch zur Revolution und zur „bürgerlichen Republik" stand die Rote Fahne: Die Revolution sei nur halbherzig betrieben worden und verkomme mit Unterstützung der beiden sozialdemokratischen Parteien zu einer „gegenrevolutionären Aktion". Die Spartakusgruppe kämpfe nicht — wie die Sozialdemokratie — für die „schwarzrotgoldene Fahne der Republik von 1848", sondern für die „rote Fahne der Kommune von 1871 und der russischen Revolution". Deshalb komme es den Spartakisten auch weniger darauf an, die Monarchie abzuschaffen, die ohnehin nur „Aushängeschild des Imperialismus" gewesen sei, sondern der wahre Gegner, „die kapitalistische Klassenherrschaft", müsse abgeschafft werden. Im Unterschied zur Sozialdemokratie, der es um die Mehrheit aller Wähler ging, wollte der Spartakusbund, wie Rosa Luxemburg

Zusammenfassung 1918

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ausführte, durch den „unzweideutigen Willen der großen Mehrheit der proletarischen Masse" die Regierungsgewalt übernehmen. 3. Antisemitismus und Judentum Auch wenn der Münchener Beobachter nach eigenem Bekunden „nicht antisemitisch" war, so betonte das völkische Blatt doch immer wieder, daß es die Juden „nicht aus konfessionellen Rücksichten", sondern aus „rassepolitischen Gründen" bekämpfe. Da die „Rassenfrage" der „Schlüssel der Weltgeschichte" sei, müsse das Judentum unbedingt „unschädlich" gemacht werden. Für den großen Einfluß der „Fremdrassigen" machte der Münchener Beobachter auch das Christentum verantwortlich, dessen Lehre von der Gleichheit der Rassen nicht der „deutschen religiösen Begabung" entspreche. Während „rachitische Köpfe" und „Mischlinge heterogenster Rassen" das deutsche Volk von innen zersetzten, bemühe sich das verdeckt arbeitende Judentum, Deutschland durch die „internationale Plutokratie" und das „internationale Großkapital" politisch und wirtschaftlich zu vernichten. Selbst wenn die Münchner Neuesten Nachrichten, der Berliner Lokal-Anzeiger und die BZ während des Erhebungszeitraums 1918 keine Anhaltspunkte über einen in der deutschen Gesellschaft verbreiteten Antisemitismus lieferten, so waren antisemitische Einstellungen offensichtlich nicht nur auf völkische Randgruppen beschränkt, wie die Berichterstattung der Germania zeigt: Außer dem Münchener Beobachter verknüpfte keine andere Zeitung die verbreitete Bolschewistenfurcht so unmittelbar mit antijüdischen Ressentiments wie das Zentrumsblatt. Sogar den üblicherweise kritisch betrachteten westlichen Staaten zollte das Blatt Lob, weil sie die vom „Rußland der jüdischen Revolutionäre" ausgehende Gefahr beizeiten erkannt hätten. In diesem Sinne interpretierte die Germania die Judenpogrome in Polen als „Abwehrströmungen gegen den Bolschewismus asiatischer Prägung" — eine fragwürdige Wertschätzung angesichts der sonst genuin negativen Berichte deutscher Zeitungen über Polen. Zugleich kritisierte die Germania „die unter nichtchristlichem Einfluß stehende Öffentlichkeit", weil sie „Christenpogrome und speziell Katholikenpogrome" nicht so ernst nehme wie die Judenpogrome, obwohl man ja wisse, „welche Konfession am meisten am Kriegsgewinn beteiligt sei". Stereotyp forderte die Germania, jede soziale Besserstellung von Juden gegenüber Katholiken zu unterbinden. Nimmt man die Bericht-

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I. Kriegsende und R evolution

erstattung der katholischen Germania als Indikator für latenten Antisemitismus, dann überrascht, daß weder die Frankfurter Zeitung noch der Vorwärts sich während dieser „Erhebungsphase" mit Antisemitismus befaßten. Auch die Rote Fahne ging nicht näher auf antisemitische Strömungen ein, sondern bemerkte nur, Antisemitismus sei ein Ablenkungsmanöver der Reaktion.

ZWEITES KAPITEL

Der Versailler Vertrag: Erzwungene Unterzeichnung

EINFUHRUNG: „ERHEBUNGSPHASE 1919'

Als im November 1918 der Waffenstillstand unterzeichnet wurde, hatte sich die deutsche Öffentlichkeit mit der Hoffnung getröstet, der spätere Friedensvertrag werde einen Teil der harten Konditionen revidieren; als der Entwurf des Friedensvertrags der deutschen Delegation am 7. Mai 1919 in Versailles überreicht wurde, wich diese Hoffnung verbitterter Enttäuschung und neuem Haß1. Erschüttert und geschwächt von den bürgerkriegsähnlichen Zuständen, die im Dezember 1918 zum Austritt der Unabhängigen aus dem Rat der Volksbeauftragten führten und bis zur Niederschlagung der Münchener Räterepublik im Mai 1919 andauerten2, wurde die Republik mit der Frage, ob die Reichsregierung das Vertragswerk unterzeichnen oder zurückweisen solle, einer neuen Zerreißprobe ausgesetzt. Wenn die deutsche Öffentlichkeit von der drakonischen Härte des Versailler Vertrags überrascht wurde, dann lag das nicht zuletzt an den verantwortlichen Politikern, die seit November 1918 die Öffentlichkeit auf einen „gerechten", auf einen „Wilson-Frieden" eingestimmt hatten. Nicht ohne Schuld hieran war auch die traditionell innenpolitisch orientierte Sozialdemokratie3: Schon „die Regierung der Volksbeauftragten

1

Zum Versailler Vertragswerk vgl. Peter Krüger: Versailles. Deutsche Außenpolitik zwischen Revisionismus und Friedenssicherung. München 1986 (auch in der vorliegenden Arbeit werden die diversen Friedensverträge begrifflich als „Versailler Vertrag" zusammengefaßt). Eine eindeutige Position zum Versailler Vertrag hat Michael Stürmer: Dissonanzen des Fortschritts. Essays über Geschichte und Politik in Deutschland. München 1986, S. 172: „Der Versailler Vertrag war kein karthagischer Frieden, das Reich blieb 1919 ungeteilt und sogar, da erstmals ohne Doppelbedrohung aus Ost und West, mächtiger als zuvor". 2 Zu den Aufständen vgl. Drabkin: Die Entstehung der Weimarer Republik, S. 13ff., Kluge: Revolution 1918/1919, S. 107—137 sowie Miller: Bürde der Macht, S. 252-274. 3 Miller betont, daß insbesondere psychologische Gründe die Sozialdemokraten an einen gerechten Frieden glauben ließen. So hätten die Sozialdemokraten ihren Beitritt zum Kabinett des Prinzen Max von Baden im Oktober 1918 stets als „Opfer"

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//. Der Versailler Vertrag

überließ die Außenpolitik dem 'zuständigen' Auswärtigen Amt [...] und seinen aus dem kaiserlichen diplomatischen Dienst stammenden Staatssekretären Solf und Graf Brockdorff-Rantzau"4. Von weitreichender Konsequenz erwies sich die Fehleinschätzung des Auswärtigen Amts, die Entente hätte mit der Lansing-Note die von Wilson im Januar 1918 formulierten „14 Punkte" als Grundlage eines Friedensvertrags akzeptiert. Die im Waffenstillstandsvertrag von den „14 Punkten" abweichenden Einschränkungen würden, so das Auswärtige Amt, im Friedensvertrag keine Rolle mehr spielen. Da Brockdorff-Rantzau annahm, die Siegermächte würden „ihre finanziellen und territorialen Forderungen mit Schuldvorwürfen an die deutsche Seite untermauern"5, richtete er das „Spezialbüro Bülow" ein, das „seit Dezember 1918 in- und ausländische Zeitungen mit einschlägigem Material zum Kriegsschuldproblem" versah: „Die deutsche Öffentlichkeit wurde durch die Erklärungen des Außenministers gezielt emotionalisiert; eine kritische Beschäftigung mit der deutschen Vorkriegs- und Kriegspolitik wurde verhindert"6. Je drohender die Gefahr schien, die Siegerstaaten würden die Kriegsschuldfrage zum entscheidenden Hebel für die Reparationsfrage machen, desto stärker tendierte die Reichsregierung dazu, die Kriegspolitik des Kaiserreichs zu rechtfertigen, das „alte System" reinzuwaschen7.

verstanden, das aber als Voraussetzung für einen „Wilson-Fneden" erbracht werden müsse: „Der Realität der Friedensvorbereitungen in Paris ins Auge zu sehen, hätte auch das Eingeständnis der Vergeblichkeit ihres Opfers' bedeutet. Dazu konnten sie sich nicht durchringen" (ebd., S. 277). 4 Peter Grupp: Vorn Waffenstillstand zum Versailler Vertrag. Die außen- und friedenspolitischen Zielvorstellungen der deutschen Reichsführung. In: Weimarer Republik, S. 285—302 (hier S. 287). „Die zur Kontrolle bestimmten 'revolutionären' Organe, der Volksbeauftragte Hugo Haase, der parlamentarische Unterstaatssekretär Eduard David und der Beigeordnete im AA Karl Kautsky blieben weitgehend wirkungslos [...] Sahen sich das AA und sein Staatssekretär [...] mit Opposition konfrontiert, so kam diese [...] weniger von sozialdemokratischer Seite als vielmehr von dem Vorsitzenden der Waffenstillstandskommission, dem Zentrumspolitiker Matthias Erzberger, oder den Reichswehrgenerälen von Seeckt, Groener und von der Goltz" (ebd.). 5 Ulrich Heinemann: Die Last der Vergangenheit. Zur politischen Bedeutung der Kriegsschuld- und Dolchstoßdiskusssion. In: Weimarer Republik 1918—1919, S. 371-386 (hier S. 373f.). «Ebd., S. 374. 7 Nach Erdmann: Weimarer Republik, S. 107 hätte man deutscherseits gegenüber dem Vorwurf einer alleinigen Kriegsschuld gelassener „zu Felde ziehen können,

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Als dann der Entwurf des Versailler Vertrags überreicht wurde und seine Mantelnote die Kriegsschuldthese erneut akzentuierte, zeigte sich, wie wenig die Strategie der Reichsregierung geeignet war, die Alliierten zu Konzessionen zu bewegen. Vor diesem Hintergrund war es konsequent, wenn Scheidemann zur Vertragsunterzeichnung meinte: „Welche Hand müßte nicht verdorren, die uns in diese Fesseln legt?"8 Ebenso konsequent war, daß Graf Brockdorff-Rantzau die deutsche Verhandlungsdelegation auf ein kategorisches „Unannehmbar" der als unerfüllbar erachteten Friedensbedingungen festlegte9. Nachdem zahlreiche Protestnoten nur marginale Verbesserungen brachten10, wurde der geringfügig modifizierte Text der deutschen Delegation am 16. Juni überreicht und seine Annahme ultimativ gefordert. In der entscheidenden Kabinettssitzung vom 18. zum 19. Juni stimmten sieben Minister für die Annahme des Vertrags, sieben dagegen. Scheidemann, schon lange auf Ablehnung fixiert, trat als Reichsministerpräsident zurück11. Im Kabinett Bauer, das daraufhin von

wenn man sich immer bewußt geblieben wäre, daß die Verpflichtung zur Zahlung von Reparationen durchaus nicht von diesem Artikel abhing, sondern sich aus der Tatsache ergab, daß Deutschland den Krieg militärisch verloren hatte und im Vorfriedensvertrag eine Wiedergutmachungspflicht anerkannt hatte". 8 Diese Formulierung prägte Scheidemann am 12. Mai 1919 unter stürmischem Beifall vor der in der Berliner Universitäts-Aula tagenden Nationalversammlung, dem Ort, an dem auch Fichte seine Reden an die Deutsche Nation gehalten hatte (vgl. Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik, S. 155). 9 Kritisch gegenüber dieser Festlegung des Außenministers ist Grupp: Vom Waffenstillstand zum Versailler Vertrag, S. 295: „Es war die Taktik des Alles oder Nichts, eine Politik von beeindruckender Konsequenz, aber kein wirklich 'politisches1 Verhalten". 10 Bereits Ende Mai war es in der militärischen Führung zu Unruhe gekommen, als Seeckt sich in der deutschen Friedensdelegation mit seiner Forderung nach einem 300.000-Mann-Heer nicht durchsetzen konnte. Die im Versailler Vertrag vorgesehene Reduzierung des deutschen Heeres auf 100.000 Mann „bedeutete nicht nur die Beeinträchtigung der Reichswehr als Machtfaktor in der Innenpolitik, sondern auch Verbitterung bei dem größten Teil der in den kommenden Monaten nun zusätzlich zu entlassenden 200.000 Offiziere, Unteroffiziere und Mannschaften" 0ohannes Erger: Der Kapp-Lüttwitz-Putsch. Ein Beitrag zur deutschen Innenpolitik 1919/20. Düsseldorf 1967, S. 221). 11 Horst Mühleisen: Das Kabinett Bauer, die Nationalversammlung und die bedingungslose Annahme des Vertrags von Versailles im Juni 1919. Zwei Dokumente aus dem Nachlaß von Johannes Bell. In: GWU 38 (1987), S. 65—89 gibt eine

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77. Der Versailler Vertrag

SPD und Zentrum am 21. Juni gebildet wurde12, profilierte Erzberger sich als treibende Kraft und warb13, „unbeirrt durch die nationalistische Agitation"14, für eine bedingte Annahme des Vertrags: Am 22. Juni erklärte sich das Kabinett Bauer unter dem Vorbehalt, daß damit keine Anerkennung einer deutschen Kriegsschuld verbunden sei, zur Annahme des Vertrags bereit. Diesen „Vorbehalt" wies die Entente umgehend zurück und forderte unter Androhung militärischer Sanktionen die bedingungslose Unterschrift Deutschlands. Erst als sich die Oberste Heeresleitung mit einer bedingungslosen Unterzeichnung einverstanden erklärte15 und die DDP, DVP und DNVP den Abgeordneten, die sich für eine Unterzeichnung aussprachen, öffentlich „ehrenwerte Motive" zubilligten, kam die erforderliche Mehrheit der Nationalversammlung für eine Annahme zustande16.

präzise Beschreibung der hektischen Beratungen zwischen der Reichsregierung und den Fraktionen der Nationalversammlung. 11 Um überhaupt eine handlungsfähige Regierung bilden zu können, kam die SPD dem Zentrum kulturpolitisch weit entgegen. Da die „kulturkämpferischen" Demokraten dem Kabinett Bauer nicht beitreten wollten, sagten die Sozialdemokraten bei den Koalitionsverhandlungen auf Drängen Eberts zu, „die Forderungen des Zentrums 'auf kulturellem und religiösem Gebiet' zu berücksichtigen, insbesondere die nach der Konfessionsschule" (Morsey: Zentrumspartei, S. 188). 13 Parallel zur deutschen Verhandlungsdelegation — für Teile der Presse war es ein „Hinter-dem-Rücken" — versuchte Erzberger durch Gespräche mit ranghohen Vertretern der Entente, den Gang der „Verhandlungen" zu beeinflussen. 14 Kolb: Weimarer Republik, S. 33. 15 Während Groener als Sprecher der Militärs auftrat, die sich für eine Annahme des Vertrags einsetzten, war der preußische Kriegsminister Reinhardt Sprecher der Gruppe, die keinesfalls bereit war, Gebietsabtretungen an Polen tatenlos hinzunehmen; selbst um den Preis einer (vorübergehenden) Aufgabe der Reichseinheit wollte die Gruppe um Reinhardt militärisch gegen Polen vorgehen (vgl. Hagen Schulze: Der Oststaat-Plan 1919. In: VfZ 18 [1970], S. 123—163, Garsten: Reichswehr und Politik, S. 46ff. sowie Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik, S. 161ff.). 16 Symptomatisch für die Fallstricke, in die sich die Reichsregierung mit ihrer „Kriegsschuldpsychose " verrannt hatte, war die gewundene Formulierung, mit der die Nationalversammlung erklärte, ihre Zustimmung zur bedingten Unterzeichnung schließe eine bedingungslose Unterzeichnung nicht aus. Zur Tatsache, daß der Versailler Vertrag insbesondere von Frankreich als nicht weitgehend genug empfunden wurde, vgl. Ludwig Dehio: Versailles nach 35 Jahren. In: Deutschland und die Weltpolitik, S. 107-122 (hier S. 120).

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Natürlich stand die Frage, wie Deutschland auf die ultimativ geforderte Vertragsunterzeichnung reagieren solle, auch im Mittelpunkt der Presseberichte. Nach der heftig umstrittenen Unterzeichnung drängte die Streikbewegung, die sich langsam über das gesamte Reichsgebiet ausdehnte, den Versailler Vertrag aus den Schlagzeilen. Da die stereotype Redewendung vom „Schmachfrieden von Versailles"17 ebenso wie die Bezeichnung „Erfüllungspolitiker" oder „Novemberverbrecher"18 zu den geläufigsten Schlagwörtern zählte, mit denen während der Weimarer Republik antirepublikanische, aber auch antisemitische Agitation betrieben wurde19, soll im folgenden herausgearbeitet werden, wie die einzelnen Zeitungen zum Versailler Vertrag standen. Auch wenn die deutsche Presse Antisemitismus während dieser „Erhebungsphase" nur selten thematisierte, so wirft es doch ein bezeichnendes Licht auf den „Zeitgeist", daß der Hamburger Bankier Max Warburg es ablehnte, „eine hohe offizielle Position im Rahmen der deutschen Friedensdelegation zu übernehmen", weil „'antisemitische Angriffe [...] auf alle Fälle die Folge'" sein würden20.

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Nach Miller: Bürde der Macht, S. 275 hat erstmals Hermann Müller auf einer Parteikonferenz der SPD am 22./23. März 1919 von einem „Schmachfrieden" gesprochen, der Deutschland aufgezwungen werde. 18 „Die gefällige Bezeichnung 'Novemberverbrecher'" hatte Hitler (nach Helmut Heiber: Adolf Hitler. Eine Biographie. Berlin 1960, S. 44) im Januar 1923 auf einer Veranstaltung im Zirkus-Krone geprägt. Von der Ablehnung der deutschen Kriegsschuld und der „Dolchstoß-Legende" war es „nur noch ein Schritt zu dem schrecklichen, in einigen Fällen später buchstäblich mörderischen Schlagwort von den 'Novemberverbrechern'" (Krüger: Versailles, S. 11). 19 In Hitlers „Mein Kampf" sind die Gleichsetzungen von „Novemberverbrechern" und Juden nicht zu übersehen: Der „Schandvertrag von Versailles" ist Synonym für „jüdisches Machwerk", für „jüdische Verschwörung". Zur antisemitischen Propaganda Hitlers vgl. Reginald H. Phelps: Hitler als Parteiredner im Jahre 1920 (Dokumentation). In: VfZ 11 (1963), S. 274—330 sowie ders.: Hitlers „grundlegende" Rede über den Antisemitismus (Dokumentation). In: VfZ 16 (1968), S. 390—420. 20 Zitiert nach Krüger: Versailles, S. 44. Gegen Warburg, der die deutsche Delegation in Versailles beriet, „ließ eine rechtsradikale Gruppe Handzettel an der Börse [...] verteilen, in denen er sowohl wegen des 'Schmachfriedens' als auch wegen des 100-Milliarden-Angebots", mit dem er die Höhe der Reparationen festschreiben wollte, „angegriffen und beschimpft wurde" (ebd.). Daß schon im Wahlkampf zur Nationalversammlung eine Vielzahl antisemitischer Flugblätter veröffentlicht wurde, belegt Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 56ff.

Der Münchener Beobachter Nachdem „die Herrschaft der jüdischen Bolschewisten" während der Münchener Räterepublik für knapp vier Wochen das Erscheinen des Münchener Beobachters verhindert hatte21, erschien „das einzige völkische Blatt Bayerns" wieder seit dem 10. Mai 191922. Bis zum 28. Juni 1919 kam der Münchener Beobachter nach eigenen Angaben mit einer Auflage von rund 20.000 Exemplaren einmal wöchentlich heraus23, danach samstags und mittwochs24. Kaum auf Tagespolitik eingehend, hatte das Blatt sich ganz der „antisemitischen Aufklärungsarbeit" verschrieben, die wie ein roter Faden jeden Artikel, Bericht und Kommentar durchzog. Lediglich die ab Mai 1919 regelmäßig erscheinende Musikund Theaterkritik enthielt sich eines manifesten Antisemitismus; aber auch hier war — wie im Fortsetzungsroman — „deutsche Art" Maß aller

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Münchener Beobachter vom 10. Mai 1919. Das Blatt brachte folgende Definition von Bolschewismus: „Bolschewismus ist revolutionärer Judengeist" (Ausgabe vom 14. Juni 1919). 11 Vgl. die Ausgabe des Münchener Beobachters vom 31. Mai 1919. Während das völkisch-antisemitische Blatt wieder erscheinen konnte, war mit Niederschlagung der Räterepublik „die kurze Zeitspanne" beendet, in der sozialdemokratische Blätter in den Münchener Kasernen überhaupt zugelassen waren (vgl. Hillmayr: Terror in Bayern, S. 160f.). 23 Münchener Beobachter vom 31. Mai 1919. Das Blatt erklärte, es wolle seine „Mitarbeiter gut bezahlen, etwaigen Gewinn aber [... den] Beziehern gutschreiben". 24 In den Ausgaben vom 7. bis zum 21. Juni 1919 war folgender Werbetext abgesetzt: „Bestellen Sie schon jetzt die ab 1. Juli täglich erscheinende Zeitung Münchener Beobachter". Am 28. Juni teilte das Blatt seinen Lesern jedoch mit, daß „zufolge augenblicklich unüberwindlicher technischer Schwierigkeiten, besonders in der Papierbeschaffung, [...] die Herausgabe der Tageszeitung leider um einige Monate aufgeschoben werden" müsse.

Der Münchener Beobachter

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Dinge25. Das Blatt verstand sich im Sommer 1919 ausdrücklich als „linke", als „sozialistische" Zeitung.

1. Das politische Programm

Am 31. Mai 1919 erläuterte das völkische Blatt sein „politisches Programm", ohne jedoch zu erwähnen, daß dieses Programm von der Deutschsozialistischen Partei (DSP) stammte26: „Unsere Hauptforderungen sind durchgreifender Art. Mit Scheinreformen geben wir uns nicht ab, wir gehen an die Wurzel unserer sozialen und völkischen Not. Solchen Reformen standen bisher Kapitalismus und Judentum im Wege. Alle unsere Parteien waren mehr oder weniger, bewußt oder unbewußt, Schleppenträger des Einen oder Anderen, oder gar beider Mächte". Demgegenüber sollte das im Münchener Beobachter vorgestellte Programm „keiner Partei zu Diensten" sein, sondern „dem deutschen Volke dienen". Das eigentlich von der DSP stammende Programm, ein

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Das Blatt füllte nicht nur leeren Raum im Anzeigenteil mit Sprüchen wie „Der Deutsche halte zum Deutschen!", sondern empfahl auch den „deutschen Gruß": „In letzter Zeit hat sich bei zahlreichen, gutdeutschen Firmen die schöne Sitte wieder eingebürgert, jede Korrespondenz mit der Begrüßung 'Mit deutschem Gruß!1 zu schließen. Als unsere Front noch fest wie Erz stand, als Sieg auf Sieg gemeldet wurde, und als Kommunismus und Spartakismus noch zwei unbekannte Begriffe waren, da war diese Begrüßung sehr beliebt. [...] Wenn aber Salomon Feuerstein und Co. ein Geschäft machen wollten und mit patriotisch-rührseligem Stolze am Ende ihres Geschmuses und Geseires 'mit treudeutschem Gruße!' schrieben, so entsprang das wohl eher der angeborenen jüdischen Geschäftstüchtigkeit, die selbst aus den heiligsten Gefühlen der Mitmenschen noch ihr schmutziges Kapital schlägt" (Ausgabe vom 28. Juni 1919). 26 Die DSP und der Vorläufer der NSDAP, die Deutsche Arbeiterpartei, „waren unabhängig voneinander etwa gleichzeitig [...] entstanden, um der 'sozialistischen' Komponente der völkischen Weltanschauung organisatorischen Rückhalt und politische Wirksamkeit zu verschaffen" (Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. 65). Sich dem „Sozialismus" verpflichtet fühlend, meinte der Münchener Beobachter in seiner programmatischen Erklärung zum Punkt „Schutz des deutschen Arbeiters", da sich seine Forderungen „im Rahmen der Forderungen der anderen Linksparteien halten, brauchen sie [...] nicht ausgeführt werden".

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//. Der Versailler Vertrag

Vorläufer des von Hitler am 24. Februar 1920 verkündeten Programms der NSDAP27, forderte im einzelnen: — die „Ablösung des bisherigen römischen Rechts durch ein deutsches Gemeinrecht", denn „das römische Recht, entstanden in den Zeiten des untergehenden, von Orientalen überfluteten Rom, ist unsozial und schützt den privaten Profit auf Kosten der Gemeinschaft; es ist ein Recht für die Schlauen und Gerissenen. Auf diesem undeutschen Rechtsboden ist der Deutsche dem Juden gegenüber immer unterlegen"; — die „ Verstaatlichung" des Geldwesens, denn daß das Geldwesen „in privaten, besonders jüdischen internationalen Händen" liege, sei „ein Unding an sich, da das Geld das Blut des nationalen Volkskörpers darstellt". Die künftige Kreditfähigkeit habe sich „nicht auf die Sachen, sondern auf die Personen [zu] erstrecken". Das bedeute, die Frage, ob jemand kreditwürdig sei, hänge von der „Tüchtigkeit, Solidität und Ehrbarkeit des einzelnen" ab; — die „Schaffung eines Reichswirtschaftsamtes", wobei die „Männer dieses Amtes, keine Kapitalisten und Juden, [...] im praktischen Leben gestanden und sich im Dienste der Gemeinschaft ausgezeichnet haben" sollten; — die „Schaffung einer wirklichen unabhängigen deutschen Presse". Da die deutsche „Presse zu 90% in jüdisch-kapitalistischen Händen [sei], zum Großteil von Juden geleitet" werde und „von den jüdischen Großanzeigengebern abhängig" sei, ergebe sich die Notwendigkeit einer grundlegenden Änderung. Zudem gebe die Presse nicht mehr „die Stimmung des Volkes wieder, sondern die Stimmung des Volkes wird künstlich geschaffen zur Befriedigung selbstsüchtiger Pläne der Kapitalisten und Juden". Deshalb dürfe sich „Deutsche Zeitung [...] nur ein Unternehmen nennen, das in deutschen Händen ist und deren Leiter und Gehilfen deutschblütig sind". Zeitungen, denen „diese Voraussetzungen" fehlten, seien „als jüdische am Kopf der Zeitung zu bezeichnen"28;

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Vgl. dazu den ausführlichen Vergleich beider Programme bei Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. 76ff. 28 Diese Formulierungen nehmen das 1933 erlassene „Schriftleitergesetz" weitgehend voraus; vgl. H. Schmidt-Leonhardt und P. Gast (Bearb.): Das Schriftleitergesetz vom 4. Oktober 1933 nebst den einschlägigen Bestimmungen. Berlin 1934.

Der Münchener Beobachter

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- eine „grundlegende Änderung in der Stellung zwischen Deutschen und Juden", denn „Forschung und bewiesene Tatsachen" ließen „heute keinen Zweifel, daß die Judenfrage eine Rassenfrage" sei und „mit dem religiösen Bekenntnis nichts zu tun" habe. Es gehe um die Frage, ob die Deutschen sich auch „in Zukunft weiter politisch, wirtschaftlich und geistig von einer verschwindenden Minderheit eines rassefremden Volkes [...] beherrschen lassen" wollten. Die Juden seien als „fremdrassiges Volk" zu betrachten, sie könnten zwar „die Wohltaten und den Schutz des Staates genießen, aber nicht das Recht haben, Vertreter, Richter, Führer und Lehrer des deutschen Volkes zu sein". Zum jüdischen Volk zählten „natürlich auch die 'getauften' Juden und jüdische Mischlinge"29.

2. Für „deutschen Sozialismus", gegen „asiatische Sozialistenmache" Seinem „Sozialismus" fühlte sich der Münchener Beobachter auch propagandistisch verpflichtet: Der Berliner Steuerverwaltung lägen 100.000 Anzeigen über „Kapitalsabwanderung nach dem Auslande vor"*0. Sechs Monate nach Zusammenbruch des Kaiserreichs sei noch „keine Großbank sozialisiert. Nichts, gar nichts ist getan". Das „viele Geschrei" über Sozialisierungen setze am „falschen Platz" ein: „£)ze Bergwerke, die Betriebe, die laufen nicht weg. Wohl aber das bewegliche internationale Kapital der Kriegswucherer [...] Ist es also denn wahr, daß die bolschewistischen Führer und ihre Anhängsel absichtlich die Sozialisierung auf falsche Geleise lenken, daß sie absichtlich keine Ruhe im Lande werden lassen, damit ihre Rassegenossen als lachende Dritte ihre Blutgelder ins Ausland abschieben können?"31 29

In den weiteren Punkten seines „politischen Programms" forderte der Münchener Beobachter ^freien Grund und Boden'1, eine „allmähliche Umgestaltung" der Wirtschaft, eine „gerechte Steuergesetzgebung", in der Verfassung verankerte Volksabstimmungen sowie den „Schutz des deutschen Arbeiters" vor „Überkapitalismus und den Juden". 30 Münchener Beobachter vom 31. Mai 1919. Zur „Verschmelzung des Nationalen und Sozialen, die dem nationalsozialistischen Gedanken der Volksgemeinschaft zugrunde lag", vgl. Martin Broszat: Aufgaben und Probleme zeitgeschichtlichen Unterrichts. In: Nach Hitler. Der schwierige Umgang mit unserer Geschichte. München 1987, S. 20ff. (ursprünglich erschienen in: GWU 9 [1957], S. 529—550). 31 Falls dem so sei, hieß es im Münchener Beobachter, dann „ist es wahrlich Zeit, deutscher Michel, daß dir die Augen aufgehen. Dann ist es hohe Zeit, deutscher Ar-

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//. Der Versailler Vertrag

Von der unumstößlichen Prämisse ausgehend, daß „die kapitalistische Weltordnung ein Erzeugnis der jüdischen Rasse" sei, waren Kapitalismus und Judentum für den Münchener Beobachter austauschbare Begriffe, wie auch die Replik auf einen Beitrag der Fränkischen Tagespost zeigt32: „Die 'Antisemiten' bekämpfen [...] den Kapitalismus bis aufs Blut; denn er ist undeutsch. Keine Gegenrevolution oder irgendwelche Reaktion ist es, die sich hinter dem formlosen, nichtssagenden Schlagwort 'Antisemitismus1 verbirgt. Nein, es sind ehrliche, zielbewußte Männer, die dem ewigen Unfrieden, dem Judentum, entgegenarbeiten wollen. Wahre Sozialisten, Deutsch-Sozialisten"33. Deshalb fordere der Münchener Beobachter: „Wer Frieden und Ordnung, Volksrecht und Freiheit will, wer mitkämpfen will gegen Raub und Wucher, wie er durch die geheime Finanzzunft der Börse ungestraft an unserem unglücklichen Volke verübt wird, wer mithelfen will, den Boden des Vaterlands von der erdrückenden Tributpflicht an den internationalen Leihkapitalismus [...] zu befreien, wer

behender [!], daß du erkennst, wo deine wahren Feinde sind. Komm zu uns — wir haben ja alle nur einen Feind: den internationalen mammonistischen Judenkapitalismus". — „Wahrer Sozialismus ist ohnehin nichts anderes als Lösung der Rassenfrage", stellte das Blatt in der Besprechung einer Schrift aus dem Lehmann-Verlag fest. 32 Die Fränkische Tagespost hatte sich unter der Überschrift „Die antisemitische Kulisse" mit dem Antisemitismus der extremen Rechten auseinandergesetzt und festgestellt, daß an „jeder Straßenecke" Flugblätter hingen, die das Ziel hätten, „eine allgemeine Volksbewegung mit antisemitischer Tendenz hervorzurufen". Es sei „überhaupt ein Merkmal der antisemitischen Agitation, daß sie sich unterirdisch vollzieht. [...] Unter dem Feldgeschrei: Gegen die Juden! sammelt sich der ganze reaktionäre Klüngel, dem die Revolution ein Greuel ist". Stets würden Alldeutsche und Deutschnationale „den Juden vorschieben", um „die im Geheimen schlummernden Instinkte des naiven Volkes [...] rücksichtslos aufzupeitschen] in der Hoffnung, daß sich [...] eine Meinung im Volke bildet, die das Judentum und die Revolution in einen Topf wirft. Sie schlagen die Juden und meinen die Revolution: Das ist das ganze Geheimnis der antisemitischen Hetze, die sich immer drohender auswächst" (Ausgabe vom 19. Mai 1919). 33 Ebd. Sein Verständnis von „Sozialismus" erlaubte dem Münchener Beobachter auch eine gehörige Portion Frauenfeindschaft. Unter dem Titel „Unproduktive Arbeit in Staats- und Gemeindebetrieben" meinte das Blatt am 7. Juni 1919: „Im Laufe der Zeit haben sich fast unhaltbare Zustände im Verkehr mit dem Publikum an Schaltern und in Büros durch Beschäftigung weiblicher Personen herausgebildet, teils aus Mangel an Interesse derselben am Dienst, teils durch das mit geringer Ausnahme dem weiblichen Wesen fehlende Pflicht- und Verantwortungsgefühl".

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mithelfen will am Bau einer sozialen Wirtschaftsordnung auf fester volkstümlicher Rechtsgrundlage, wer Deutscher ist, der reiche uns seine Bruderhand wider die kapitalistische, wider die rassekapitalistische Reaktion zur Erringung eines Vaterlandes, das uns wirklich unser Vaterland" ist34. Da „die radikalen Parteien" nur die „gefügigen Werkzeuge" Mammons seien, müsse es endlich zur klaren Trennung „zwischen dem angeborenen deutschen Gedanken im Sozialismus und dem anarchistischen Zerstörungsgedanken" kommen: „Hie deutscher Sozialismus, hie asiatische Sozialistenmache"35.

3. Das „ Vernichtungsurteil" -von Versailles Die Unterzeichnung des Versailler Vertrags empfand der Münchener Beobachter als Katastrophe: „Nun ist das Schrecklichste geschehen. Unter Deutschlands Vernichtungsurteil wird das Ja gesetzt werden. Von denselben Männern, deren 'Unannehmbar und Unerfüllbar' vor Wochen ins ganze Reich mit hellem Klang hinausflog und noch einen Rest von Hoffnung aufblühen ließ. [...] Eine eigentümliche, wahrhaft düstere Rolle spielte wieder der Mann ohne Gewissen aus Buttenhausen: Erzberger, der ewig Geschäftsbereite. Vielleicht wird er es sein, der den Mut aufbringt, seine Unterschrift unter den 'Friedensvertrag1 zu setzen. [...] Juden- und Jesuitengeist herrscht im Lande Herrmanns". Die Folgen des Versailler Vertrags seien offenkundig: Da die „wirtschaftliche Vernichtung" des Reichs und „seine seelische Unterjochung auf dem Wege der Entehrung"' geplant seien, müßten die Deutschen mit einer „Arbeitsversklavung [...] im Dienste der fremden Finanzgesellschaften" rechnen. „Deutschland wird der Fabrikvorort von London und Neu-

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Münchener Beobachter vom 14. Juni 1919. Ausgabe vom 21. Juni 1919. Zum „deutschen", zum „sittlichen" Kapitalismus meinte das Blatt: „Die unsoziale Warenökonomie ist die furchtbarste Waffe der Weltkapitalisten·, sie ermöglicht je nach Bedarf Kriege und Revolutionen und richtet durch die allgemeine Zinsknechtschaft [...] die Völker zugrunde. Sie stahl dem deutschen Handel sein ehrliches, würdiges Gepräge, die volkswirtschaftliche Sittlichkeit und machte ihn zum brutal rücksichtslosen Wettbewerb, zum gegenseitigen Betrug, den man geschickt in Phrasen wie Liberalismus, Konkurrenz, Reklame usw. zu verbergen verstand. Der sittliche Kapitalismus, das die Volkswirtschaft befruchtende Arbeitskapital, wurde an die Wand gedrückt und unterjocht". 35

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77 Der Versailler Vertrag

york. Der Deutsche wird zu dem vom Ausland notdürftig ernährten und bezahlten Lohnsklaven, und unsere internationalen Esel werden sich händeringend nach den schönen Zeiten des Verfaulten alten Systems1 zurücksehnen"36. Obwohl sich das Schicksal Deutschlands nicht erst im November 1918, sondern bereits mit der Entlassung Bismarcks 1890 gewendet haben sollte, machte der Münchener Beobachter ausschließlich Juden für die politisch hoffnungslose Lage Deutschlands verantwonlich: „Als es sich Ende Oktober und Anfang November 1918 um Sein oder Nichtsein handelte, und das deutsche Volk zur nationalen Verteidigung gerufen werden sollte, wurde nur durch die Hinterlist der Berliner Zentrale die Ausführung verhindert. Wäre der Plan zur Ausführung gelangt, so wäre nach dem Zeugnis wichtigster Stellen wahrscheinlich der Zusammenbruch der Entente erfolgt, zum mindesten hätte Deutschland heute einen anderen Frieden — allerdings auch noch einen Kaiser. Da zog Entsetzen ein injuda. [...] In jenen Tagen wurde deshalb Sturm gelaufen in der gesamten alljüdischen Presse gegen die Möglichkeit einer deutschen Rettung durch Weiterkämpfen und nationale Verteidigung. Die Angst vor der von Hindenburg und Ludendorff gewollten 'nationalen Verteidigung1 war bei gewissen Leuten in Deutschland genauso groß wie bei der Entente"37. Jetzt aber helfe alles nichts: „Geschehenes ist nicht zu ändern. Weibisch ist, hernach zu klagen. Wir müssen uns besinnen, daß wir vor Allem Deutsche sind und müssen wieder lernen, stolz darauf zu sein. Trotz allem. Gerade jetzt. Verzaget nicht! So schwer wir auch am Boden liegen — Deutschland ist noch nicht tot. Deutschland ist in uns — kehren wir wieder zum Deutschtum zurück, — dann können wir nicht untergehen. Und auf 1806 kommt 1813"38.

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Ausgabe vom 28. Juni 1919. Im Gegensatz zu dieser Geschichtsklitterung hatte sich gerade der „Jude" Rathenau im Oktober/November 1918 für eine „levee en masse" ausgesprochen, ohne sich damit jedoch bei der OHL durchsetzen zu können (vgl. Ernst Schulin: Walther Rathenau. Repräsentant, Kritiker und Opfer seiner Zeit. Göttingen 1979, S. 105 sowie unten das Kapitel zur Ermordung Rathenaus). 38 Ausgabe vom 28. Juni 1919. Dieser häufig wiederholte Verweis auf den nach schmerzlicher Niederlage errungenen Sieg von 1813 ist charakteristisch für die Siegeszuversicht der völkischen Bewegung. 37

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4. Werben für A ntisemitismus Mit der Versicherung, „Antisemitismus und Judenhetze" seien „nicht unbedingt dasselbe", versuchte der Münchener Beobachter, Antisemitismus vom üblen Beigeschmack des Wortes „Judenhetze" zu befreien und positiv zu begründen: „Wenn nämlich von jüdischer, wie auch von gewisser nichtjüdischer Seite die beiden Begriffe immer wieder als gleichbedeutend hingestellt [werden] und behauptet wird, der Antisemitismus sei eine rückständige Gesinnung, so handelt es sich hierbei stets entweder um eine naive Unwissenheit (der Nichtjuden) oder aber um eine bewußte Lüge (der Juden). Der Antisemitismus ist seinem eigentlichen Wesen nach nicht nur keine rückständige Gesinnung, sondern für uns Deutsche und Christen eine notwendige Abwehr und geradezu sittliche Pflicht". Wer sich jetzt immer noch nicht zu seiner „sittlichen Pflicht" bekennen mochte, den beruhigte das Blatt mit der Feststellung, es handele sich beim Antisemitismus auch „nicht um die Bekämpfung des Juden als Menschen, sondern um die Bekämpfung des jüdischen Geistes; jenes materialistischen Geistes, der zwar — leider! — auch bei vielen Nichtjuden (sog. 'unbeschnittenen Juden') anzutreffen ist, der aber nichtsdestoweniger eine besonders hervorstechende Rasseeigenschaft des Judentums" darstelle39. Ständig mit dem „unabänderlichen Rassecharakter" der Juden argumentierend, versuchte der Münchener Beobachter, seinen Lesern den Zugang zum Antisemitismus auch mit historisch-theologischen Ausführungen zu erleichtern. „Kann ein Katholik Antisemit sein?" war einer jener Artikel überschrieben, die noch Unentschlossenen den Weg ebnen sollten. Mit einer für das Blatt ungewöhnlichen Zurückhaltung — und scheinbarer Offenheit — wurde gefragt, ob nicht „die christliche Liebe dem katholischen Christen" verbiete, Antisemit zu sein? Ob nicht „das Verhalten der Päpste und Bischöfe der katholischen Kirche" den Katholiken vom Antisemitismus „abschrecken" müsse? Beschwichtigend ent-

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Ausgabe vom 21. Juni 1919. Um diese Aussagen zu untermauern, brachte das Blatt einige (antisemitisch interpretierbare) Zitate von Karl Marx sowie ein (im Münchener Beobachter ebenfalls häufig angeführtes) Zitat von „einem anderen Juden" (Kurt Münzer): „Allen Rassen [···] haben wir das Blut verdorben. Überhaupt ist ja heute alles verjudet. [...] Wir haben uns eingefressen in die Völker, die Rassen durchsetzt, verschändet, ihre Kraft gebrochen, alles mürbe, faul und morsch gemacht mit unserer abgestandenen Kultur".

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II. Der Versailler Vertrag

gegnete der Verfasser diesen (rhetorischen) Bedenken, daß das Christentum „persönlichen Haß und Exzesse aller Art" verbiete, daß „aber Judenhaß und Gewalttätigkeit gegen die Juden [...] kein wesentlicher Teil des Antisemitismus" seien. Und natürlich hätten „Päpste und Bischöfe [...] zur Zeit der Judenverhetzungen die Juden gegen Exzesse und Gewalttätigkeiten zu schützen gesucht", was „jeder Antisemit, jeder Menschenfreund" gutheiße. Wenn aber „einzelne Päpste den jüdischen Ritualmord nicht glauben wollten, so war das ihre persönliche Ansicht; sie kannten gewiß den Talmud und die Geheimlehre der Juden nicht und hielten so grausige Verbrechen für unmöglich", was „ihrer Menschlichkeit alle Ehre" mache. Diese „konziliante" Polemik, angereichert mit Beispielen „antisemitischen Verhaltens" einzelner Päpste, leitete über zur abschließenden Frage: „Kann ein gläubiger Christ also Antisemit sein?" — Die Antwort des Münchener Beobachters kam, wenngleich pathetisch, so doch unausweichlich: „Die Liebe zum Christentum und zu seiner Kirche, die Liebe zu seinem Volke, das vom talmudischen Judentum bedrängt wird, verlangt gebieterisch von dem Katholiken, daß er sich zu jenen gesellt, die den Kampf gegen das übermächtige Judentum aufgenommen [haben]. Ja, der gläubige Christ darf und soll sich dem christlich-sozialen Antisemiten voll und ganz anschließen; es ist seine Pflicht, angesichts der von Tag zu Tag wachsenden Gefahr für das christliche Volk"40. Von völkischer Ideologie durchsetzt waren auch die Werbeseiten41 des Münchener Beobachters*2: Die seit Dezember 1918 im HoheneichenVerlag erscheinende Zeitschrift Dietrich Eckarts, Auf gut Deutsch**,

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Ausgabe vom 7. Juni 1919. Mit einem „Mahnruf an die Käufer" bat die Redaktion ihre „Freunde, der Anzeigen im Münchener Beobachter zu achten. Nur gute Firmen, deren Inhaber Deutschgeboren sind", könnten in dem Blatt inserieren. 42 Die einvernehmlichen Beziehungen des völkischen Blatts zur Reichswehr fanden ihren Ausdruck in zahlreichen Stellenanzeigen des Bayerischen Kontingents der Reichswehr (vgl. z.B. die Ausgabe vom 28. Juni 1919). 43 Der Münchener Beobachter druckte gelegentlich Gedichte aus dieser Zeitschrift ab (vgl. etwa die Ausgabe vom 14. Juni 1919: „Parlamentarier: Wie jämmerlich das alles ist,/ der ganze Dunst aus Lug und List!/ Das nickt sich zu und winkt sich zu,/ und jeder denkt: Du Schurke du!/ Und jeder denkt: Du fauler Bauch!/ und fühlt: so denkt der andre auch./ Verbindlich allen nacheinand1/ drückt ihnen Salomon die Hand./ Und freut sich ihrer ungemein —/ Lieb Vaterland, magst ruhig sein"). 41

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warb hier ebenso mit einem Hakenkreuz44 wie eine „Kunstgewerbliche Werkstätte" aus Westfalen, die „Hakenkreuzschmuck für Herren" anpries. Mit S-Runen wurde auf kleinere Schriften des Sis-Verlags aufmerksam gemacht, und der Deutsche Schutz- und Trutzbund warnte mit einer halbseitigen Anzeige vor dem „zersetzende[n] Gift undeutschen Geistes, das von dem [...] wesens- und artfremden Judentum in [... den] Volkskörper hineingetragen" werde. Eine Weinkellerei forderte, „ein guter Deutscher trinke nur deutsche Rotweine!", und selbst im Werbetext einer vom Verlag der Arztlichen Rundschau herausgebrachten Broschüre hielt man es für ratsam mitzuteilen, daß der Autor „zu den Wurzeln des Volkstums hinabgestiegen" sei45. Der „Ausschuß für Volksaufklärung" wandte sich am Tag der Unterzeichnung des Versailler Vertrags in einer großen Anzeige an alle „Männer und Frauen deutschen Blutes und kerndeutscher Gesinnung!" und warnte vor dem „Anwachsen des Bolschewismus, der nichts anderes [... sei] als die raffinierte Organisation des Judentums zur Ausrottung aller, auch der letzten deutsch bis ins Mark empfindenden Männer und Frauen aller Parteien"46.

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In diesem Fall unterschied sich das Hakenkreuz von dem der Nationalsozialisten durch entgegengesetzt angeordnete Winkel. Nach Allan Bullock: Hitler. Eine Studie über Tyrannei. Düsseldorf 1977, S. 47 hat die österreichische DNSAP (Deutsche Nationalsozialistische Arbeiterpartei) im Mai 1918 „erstmalig als Symbol das Hakenkreuz" verwandt. 45 Alle Zitate aus dem Münchener Beobachter vom 14. Juni 1919. Zur Geschichte des Schutz- und Trutzbundes vgl. Uwe Lohalm: Völkischer Radikalismus. Die Geschichte des Deutschvölkischen Schutz- und Trutz-Bundes 1919—1923. Hamburg 1970, besonders S. 19ff. ''''Münchener Beobachter vom 28. Juni 1919. Diese Anzeige erstreckte sich über mehr als zwei Drittel der Seite.

Die Münchner Neuesten Nachrichten Politisch standen die Münchner Neuesten Nachrichten im Frühjahr 1919 der Regierungskoalition von SPD, Zentrum und DDP nahe; der Entschluß der DDP-Fraktion, dem Versailler Vertragswerk nicht zuzustimmen und die Regierungskoalition zu verlassen, stieß jedoch auf heftige Kritik47. Den Unabhängigen hielt das Blatt — neben ihrer Zusammenarbeit mit den Kommunisten — vor, sie hätten die These von der deutschen Alleinschuld am Kriegsausbruch akzeptiert und dadurch die Entente in ihrer harten Haltung bestärkt. Zur DVP und DNVP äußerte sich das Blatt kaum. Beim Streit um die „geistliche Schulaufsicht" distanzierte sich das Blatt vorsichtig vom konfessionellen Purismus der BVP.

1. „Das mißratene Friedenswerk «48

Obwohl die Münchner Neuesten Nachrichten davon ausgingen, daß dem deutschen Volke „mit der Annahme der Waffenstillstandsbedingungen das schwerste Schicksal zugemutet [werde], das ein Volk jemals auf sich genommen" habe, plädierte das Blatt für eine Unterzeichnung: „Wir haben bereits klar ausgesprochen, daß nach unserer Überzeugung [...] keine andere Möglichkeit mehr besteht als die grundsätzliche Annahme der gegnerischen Bedingungen". Selbst „wenn ein letzter Versuch fehlschlägt, im Schlußprotokoll noch einige Zugeständ-

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In der Furcht, ihre Politik werde nicht als „national zuverlässig" erachtet, hatte die DDP vor der Abstimmung über den Versailler Vertrag „mit dem Rückzug aus der Regierung eine letzte innenpolitische Anstrengung nationaler Rehabilitierung unternommen" (Albertin: Liberalismus und Demokratie, S. 349). 48 Titel des Kommentars der Münchner Neuesten Nachrichten in der Morgenausgabe vom 21. Juni 1919.

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nisse in den drückendsten Punkten zu erlangen", müsse der Vertrag unterzeichnet werden49. Als feststand, daß die Mehrheit der „Nationalversammlung für die Unterzeichnung des Friedensvertrages"50 votieren würde, meinten die Münchner Neuesten Nachrichten: „Unser ganzes Denken, unser Glaube an die Zukunft der Menschheit bäumt sich auf gegen die Zumutung, diesen Abschluß des Krieges als eine endgültige Lösung zu betrachten. [...] Man kann unsere Hand nötigen, das Dokument zu unterschreiben [...]; aber man kann unsere Gehirne nicht zwingen, das Unerfüllbare für erfüllbar zu halten. Die Unterzeichnung dieses Friedens muß der erste Schritt zu seiner Revision sein". Der Vertrag habe den „Fluch der bösen Tat an sich", aber, so betonte das Blatt, „wir sind ohnmächtig, uns gegen all dies Unrecht zu wehren, und treten verhüllten Hauptes den letzten Gang an, der uns an den tiefsten Punkt unserer nationalen Entwicklung führen soll"51. Da die Regierung „den heroischen Entschluß zur Unterzeichnung auf sich genommen" habe, seien nun auch „diejenigen, die aus durchaus beachtenswerten Gründen zunächst die Unterzeichnung abgelehnt haben, [...] verpflichtet, in vaterländischer Zurückhaltung allen guten Willen, dessen sie fähig sind, an die Erfüllung des Vertrages von Versailles zu setzen"52. Nach der Unterzeichnung, dem „Trauertag deutscher Geschichte", unterstrich das Blatt erneut seine Auffassung, daß es „zwecklos und überaus gefährlich" gewesen wäre, „die deutschen Unterschriften noch länger zu verweigern53. Das seelisch

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Abendausgabe vom 21. Juni 1919. Trotz ihres dezidienen Plädoyers für die Unterzeichnung lag es den Münchner Neuesten Nachrichten „ferne, gegen diejenigen einen Stein aufzuheben, in denen die Stimme der Empörung und Enttäuschung sich durch alle nüchternen Gegenvorstellungen nicht übertönen läßt". 50 So die ganzseitige Schlagzeile in der Abendausgabe vom 23. Juni 1919. 51 Ebd. Mit ihrem „Blick in die gegnerische Presse" zeigten die Münchner Neuesten Nachrichten, daß es auch im Ausland Stimmen gegen den Vertrag gab (vgl. die Abendausgaben vom 25. Juni und 1. Juli 1919). 52 Morgenausgabe vom 24. Juni 1919. Verwundert nahm das Blatt zur Kenntnis, „daß ein großer Teil der Offiziere der Reichswehr [...] im Begriffe stand, lieber den feldgrauen Rock abzulegen, als der Regierung Schutz zu gewähren, die sich zur Unterzeichnung des Versailler Vertrages entschlossen hatte" (ebd.). 53 Wie stark auf deutscher und französischer Seite die nationalen Emotionen waren, zeigt die Tatsache, daß der Vertrag mit einem Füllfederhalter unterschrieben werden sollte, der angeblich von Schulkindern aus den „befreiten" Kriegsgebieten Elsaß-Lothringens gestiftet worden war. Mit diesem Füllfederhalter, einem prädestinierten Mu-

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II. Der Versailler Vertrag

noch mehr als körperlich zermürbte Volk wäre nicht mehr in der Lage gewesen, den Gefahren des feindlichen Einmarsches standzuhalten"54.

2. Die Front der Ablehnung In weiten Teilen der Reichswehr hinterließ die Bereitschaft der Regierung zur bedingungslosen Unterzeichnung Narben, die das Verhältnis der Truppe zur Republik auf Dauer prägten55: Noske, der sich bereits für die Unterzeichnung ausgesprochen hatte, plädierte, nicht zuletzt aus taktischen Überlegungen, gegen eine Unterzeichnung, als die Alliierten bei den beiden „Ehrenpunkten" — der These der deutschen Alleinschuld am Kriegsbeginn sowie der Forderung nach Auslieferung der deutschen „Kriegsverbrecher" — nicht zum Einlenken bereit waren, und wollte „seinen Abschied nehmen"56. Der nach Hindenburg rang-

seumsstück, befaßten sich auch die Münchner Neuesten Nachrichten: „Und als [...] der sozialistische Minister Hermann Müller mit ruhiger Würde seinen Namen unter das Dokument setzte, nicht mit der goldenen Feder von Elsaß-Lothringen, sondern mit seinem eigenen Füllfederhalter, da wußten wir eines: die Demütigung war mißlungen" (Morgenausgabe vom 3. Juli 1919), 54 Abendausgabe vom 30. Juni 1919. Die Münchner Neuesten Nachrichten wollten auch hier „die Schuld der Unabhängigen" festnageln, „die vom ersten Tage an [...] in hysterischem Geschrei den Verzicht auf jede Milderung proklamiert und die Unterzeichnung um jeden Preis gefordert haben". 55 Weil die Sicherheitsmannschaften Erzberger ihren Schutz versagten, mußte der Zentrumspolitiker „bei seiner Abreise von Weimar aus Besorgnis vor Belästigungen" zunächst im Kraftwagen die Stadt verlassen; die Bahn bestieg er einige Stationen später (vgl. die Morgenausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 26. Juni 1919). Zum gespannten Verhältnis der Sicherheitskräfte gegenüber Erzberger hieß es im Abendblatt der Frankfurter Zeitung vom 25. Juni 1919: „Zu einem eigenartigen Zwischenfall ist es gestern aus Anlaß der Abstimmung in der Friedensfrage gekommen. In den späten Nachmittagsstunden verlangten mehrere berittene Landesjäger aus der Umgegend von Weimar [...] den Reichsminister Erzberger zu sprechen. Es wurde ihnen aber bedeutet, daß dieser sich im Schlosse befinde. Hierauf begaben sie sich zum Schloß und verlangten die Auslieferung des Ministers mit dem Hinweis, sie wollten ihn aufhängen. Auch die Landesjäger in Weimar selbst erklärten [...], der Regierung keinen weiteren Schutz mehr gewähren zu wollen, und tatsächlich war auch heute morgen das Schloß ohne Wache". 56 Nach Hagen Schulze: Freikorps und Republik 1918—1920. Boppard am Rhein 1969, S. 21 If. sei Noske „auf das Ersuchen des Reichspräsidenten und der sozialdemo-

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höchste Offizier, General von Lüttwitz, erklärte verbindlich, er halte „die Auslieferung deutscher Staatsbürger und die Anerkenntnis der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands mit der Ehre der Reichswehr und des Vaterlandes" für unvereinbar57. Und Generalfeldmarschall von Hindenburg, der mit Unterzeichnung des Vertrags demissionierte, weil die ihm gestellte Aufgabe jetzt erfüllt war, meinte in seiner „Abschiedskundgebung an die Truppen", er habe der Regierung mitgeteilt, daß er als Soldat „den ehrenvollen Untergang einem schmählichen Frieden vorziehen" müsse58. In Berlin verbrannten Soldaten am Denk-

kratischen Fraktion hin" im Amt verblieben. Diese Entscheidung kostete ihn jedoch das Vertrauen eines großen Teils des Offizierskorps. Schon am 24. Juni kam es auf einer Kommandeurbesprechung „zu äußerst scharfen Auseinandersetzungen zwischen den Reichswehr- und Freikorpsführern auf der einen und Noske und Reinhardt auf der anderen Seite [...] Vor allem Kapitän Ehrhardt, Kommandeur der 2. Marine-Brigade, griff den Minister in einem bisher ungewöhnlichen Ton an. Die Offiziere, so erklärte er unter dem Beifall der meisten anwesenden Freikorpsführer, hätten sich nach der Novemberrevolte der Regierung Ebert zur Verfügung gestellt unter der Bedingung, daß sie auch weiterhin in Ehren ihren Dienst versehen könnten. Durch die Unterzeichnung werde dieses Abkommen von der Regierung gröblichst verletzt" (zitiert nach ebd.). Vgl. dazu auch Wolfram Wette: Gustav Noske. Eine politische Biographie. Düsseldorf 1987, S. 461ff. 57 Abendausgabe vom 24. Juni 1919. Wie die Münchner Neuesten Nachrichten in ihrer Abendausgabe vom 25. Juni 1919 bemerkten, verbreiteten sich Gerüchte, nach denen „General v. Lüttwitz mit verschiedenen führenden Politikern wegen Bildung eines neuen Kabinetts Fühlung" aufgenommen habe. Nach Erger: Kapp-LüttwitzPutsch, S. 29 hatte Lüttwitz am 24. Juni mit dem Argument, „die Armee habe sich 'durch ihre der Regierung geliehene Hilfe Dank und Rechte erworben'", die Entlassung des Finanzministers Erzberger „als 'Genugtuung' für das Verbleiben der Offiziere in der Reichswehr" gefordert. 58 Morgenausgabe vom 26. Juni 1919. Teile der Obersten Heeresleitung hatten im Vorfeld der Auseinandersetzung um die Unterzeichnung des Versailler Vertrags die deutschen Chancen für den Fall einer Wiederaufnahme der Kriegshandlungen geprüft: „Wir sind [...] militärisch in der Lage, im Osten die Provinz Posen zurückzuerobern und unsere Grenze zu halten", hieß es in einem Telegramm Hindenburgs an Ebert, „im Westen können wir bei ernsten Angriffen unserer Gegner angesichts der numerischen Überlegenheit der Entente und deren Möglichkeit, uns auf beiden Flügeln zu umfassen, kaum auf Erfolg rechnen. Ein günstiger Ausgang der Gesamtoperation ist daher sehr fraglich" (Telegramm Hindenburgs an Ebert vom 17. Juni 1919, zitiert nach der Abendausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 26. Juni 1919). Noch am Vormittag des 23. Juni hatte die OHL dem Reichspräsidenten mitgeteilt, daß im Falle einer Unterzeichnung der Osten — mit Unterstützung des preußischen

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II. Der Versailler Vertrag

mal Friedrichs des Großen französische Fahnen59, und von der Ostgrenze schickte eine Reichswehrbrigade der Regierung ein unzweideutiges Telegramm: „Wenn Worte nicht mehr helfen, dann müssen wir nach gut deutschem Brauch zur Tat schreiten. Läßt uns die Reichsregierung im Stich, so wird sie die Folgen ihres undeutschen Handelns tragen müssen. Es gibt hier Gott sei Dank noch Männer, die deutscher denken als ihre Volksgenossen in Berlin und im Westen. Wir gehen für die Freiheit unserer Heimat lieber ehrenvoll unter, als daß wir in unwürdiger Knechtschaft fortleben"60. „Der vaterländischen Gesinnung, die aus solchen Kundgebungen der Grenzschutztruppen spricht", meinten die Münchner Neuesten Nachrichten, „wird niemand die ehrliche Anerkennung versagen", aber „höchste Vaterlandsliebe" gebiete jetzt die „vorbehaltlose Unterordnung unter den Willen der Gesamtheit, der die Einhaltung des Friedensvertrages verlangt, so schwer es auch dem Einzelnen wird"61.

3. Gegen Streiks und Räte, für Ruhe und Ordnung Schon am Tag der Unterzeichnung rückten die Münchner Neuesten Nachrichten „die Unruhe im Reiche"62 in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung. Vor allem aus Hamburg und Berlin, aber auch aus Frank-

Kriegsministers Reinhardt — „wohl sicher den Kampf aufnehmen" werde (ebd.). Zu den „auf vollen Touren" laufenden Vorbereitungen für die Oststaatbildung und die Polenoffensive vgl. Schulze: Der Oststaat-Plan 1919, S. 148ff. 59 Abendausgabe vom 24. Juni 1919. Wie der Berliner Lokal-Anzeiger in seiner Abendausgabe vom 23. Juni 1919 ausführte, handelte es sich um Fahnen, die 1814 und 1871 erbeutet wurden. Diese Fahnen seien „bereits zur Auslieferung bereitgestellt" gewesen, als Offiziere und Soldaten des Garde-Kavallerie-Schützenkorps gewaltsam in das Zeughaus eindrangen. „Sie bemächtigten sich der zwölf bis fünfzehn Fahnen, tränkten sie mit Benzin und Petroleum und verließen dann das Zeughaus in Richtung auf das Denkmal Friedrichs des Großen. Inzwischen hatten sich auch Soldaten und Zivilisten eingefunden, die sich dem Zug anschlössen. Vor dem Denkmal [...] verbrannte die Menge unter Absingen von 'Deutschland, Deutschland über alles' und der 'Wacht am Rhein' die Fahnen". 60 Hier zitiert nach der zusammenfassenden Rückschau der Abendausgabe der Germania vom 2. Juli 1919. 61 Abendausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 24. Juni 1919 62 Überschrift eines Kommentars in der Morgenausgabe vom 28. Juni 1919.

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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fürt/Oder und Schlesien sowie aus zahlreichen westdeutschen Städten wurden Ausstände und Eisenbahnerstreiks gemeldet63. Die ausgeprägte Streik- und Aufstandsbereitschaft der radikalen Linken war nach Ansicht der Münchner Neuesten Nachrichten nicht zuletzt Ausdruck „moralischer Verwerflichkeit"64: Während ganz Deutschland unter extremer Lebensmittelknappheit leide, hätten Reichswehreinheiten nach der Besetzung des Verschiebebahnhofs Berlin-Lichtenberg „mehrere Waggons mit Pferden, Ochsen und Kleinvieh vorgefunden, die anscheinend längere Zeit dort gestanden hatten, ohne daß jemand sich um die Tiere kümmerte. Mehrere der Tiere waren zu Grunde gegangen, andere konnten nur durch Notschlachtung der Allgemeinheit nutzbar gemacht werden". Leider sei „der Vorfall infolge des Eisenbahnerstreiks nicht der einzige in seiner Art"65. In Hamburg sehe es ganz ähnlich aus, denn „in den letzten Monaten kamen amerikanische Lebensmittel nach Hamburg, um von dort über das ganze Reich verteilt zu werden. Es ist außerordentlich beschämend, daß es dabei dauernd zu sehr beträchtlichen Diebereien gekommen ist", an denen sich auch Mitglieder der Volkswehr beteiligt hätten. Da nach dem Versailler Vertrag aber der internationale Handel in die Tschechoslowakei über den Hamburger Hafen abgewikkelt werden sollte, müsse „in Hamburg absolute Sicherheit geschaffen werden", um eine drohende „Besetzung Hamburgs durch Ententetruppen" zu verhüten66.

" In Hamburg waren bei Kämpfen zwischen den Aufständischen (der „ Volkswehr ") und den Trägern staatlicher Gewalt (der „Einwohnerwehr") 42 Menschen ums Leben gekommen, etwa 120 wurden verletzt. In Landsberg forderten Schüsse der Reichswehr in eine demonstrierende Menschenmenge sieben Tote und über 20 Verletzte. In ihren folgenden Ausgaben brachten die Münchner Neuesten Nachrichten ähnliche Meldungen aus anderen Städten. 64 So sei z.B. der Streik der Eisenbahner „von den Kommunisten mit dem Gelde der ungarischen Räterepublik gemacht" worden (Morgenausgabe vom 1. Juli 1919). 65 Abendausgabe vom 1. Juli 1919. "Abendausgabe vom 30. Juni 1919. Auch wenn die Entente-Staaten häufig Sanktionen androhten, die deutsche Presse instrumentalisierte in der innenpolitischen Auseinandersetzung die Möglichkeit alliierter Sanktionen ungleich häufiger.

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77. Der Versailler Vertrag

4. Antisemitismus in Bayern und die „israelitischen Lehrer"

Die Berichterstattung der Münchner Neuesten Nachrichten vom Sommer 1919 bietet kaum konkrete Hinweise auf antisemitische Einstellungen der Bevölkerung67. Ein Indiz für den in Bayern verbreiteten Antisemitismus ist jedoch die Debatte über das Lehrergesetz im Bayerischen Landtag. Als über „die vorübergehende Tätigkeit israelitischer Lehrer an öffentlichen Volksschulen" verhandelt wurde, beantragte die BVP die Streichung dieser Regelung, die „mit dem christlichen Charakter, auch der Simultanschule, nicht vereinbar sei"68. Obwohl der sozialdemokratische Ministerpräsident Hoffmann betonte, „es handle sich hier nicht um das Prinzip der Simultanschule, sondern nur um die vorübergehende Verwendung stellenloser israelitischer Lehrer bis zu ihrer ordentlichen Wiederverwendung an ihrem Platz, also um eine soziale Frage", ergab die Abstimmung, daß — gegen die Stimmen von SPD und DDP — „israelitische Lehrer" nicht an bayerischen Volksschulen unterrichten durften.

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Antisemitismus erwähnten die Münchner Neuesten Nachrichten vor allem im Zusammenhang mit einem Rechtsputsch in Ungarn: „Dieser Putsch ist von Offizieren ausgegangen [...] Gleichzeitig mit diesem Putsch sind [...] auch antisemitische Unruhen ausgebrochen" (Abendausgabe vom 26. Juni 1919). In der Morgenausgabe vom 27. Juni hieß es dazu: Nach Meldungen von Flüchtlingen aus Budapest hätte ein Volkskommissar versucht, mit einem Auto durch eine Fronleichnamsprozession zu fahren. „Man habe das als Religionsstörung empfunden, und die Prozessionsteilnehmer hätten rote Fahnen verbrannt [...] In einer nachher entstandenen Rauferei seien einige Juden erschlagen worden". Daraufhin sei „wegen der antisemitischen Pogromhetze das Standrecht" verkündet worden. 68 Morgenausgabe vom 3. Juli 1919. Diesen Antrag hatte die BVP von der Bauernpartei übernommen, nachdem „die Fraktion der Bayerischen Volkspartei von ihren Parteiangehörigen im Lande scharf angegriffen wurde wegen ihrer Zustimmung zu den kulturpolitischen Forderungen im gemeinsamen Arbeitsprogramm" der drei Koalitionsparteien DDP, SPD und BVP (ebd.).

m Der Berliner Lokal-Anzeiger Das Blatt aus dem Scherl-Verlag lehnte im Frühsommer 1919 das Versailler Vertragswerk ebenso entschieden ab wie den „Parlamentarismus". Insbesondere die „Ehrenpunkte" mit einem möglichen Tribunal der Entente über den Kaiser sowie die Gebietsabtretungen an Polen schienen dem Blatt nicht hinnehmbar69. Mit seiner rückwärtsgewandten Idealisierung „preußischer Tugenden", der Glorifizierung von „Monarchie" und „Vaterland" war der Lokal-Anzeiger wichtigstes Medium deutschnationaler Strömungen in der Reichshauptstadt. In dem Maße, in dem Lebensmittelunruhen und Aufstände im gesamten Reich aufflackerten, reduzierte das Blatt seine Agitation gegen Reichsregierung und Nationalversammlung.

/. Gegenden Vertrag — für „deutsche Ehre" Die Diskussion der Nationalversammlung über die deutsche Haltung zum Versailler Vertrag nutzte der Lokal-Anzeiger zu einem massiven Angriff gegen das parlamentarische System, dessen „Schattenseiten" unübersehbar seien, denn während das Ultimatum der Entente ablaufe, offenbare sich bei den politisch Verantwortlichen „Zerfahrenheit und völliger Mangel an dem, was der alte preußische Militarismus als erstes Erfordernis aufstellte: der Verantwortungsfreudigkeit"70. Mit ähnlichen

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Zum Ausmaß antipolnischer Ressentiments im Zusammenhang mit der Diskussion des Versailler Vertrags vgl. Martin Broszat: Zweihundert Jahre deutsche Polenpolitik. Frankfurt am Main 1972, S. 201ff. 70 Berliner Lokal-Anzeiger. Morgenausgabe vom 21. Juni 1919. „Jetzt stehen wir im Zeichen des Verfalls", hieß es, „und wer geglaubt hatte, daß die 'Selbstregierung des Volkes' den Reichswagen vor dem Abgrund zurückreißen könnte, der muß jetzt, schmerzlich enttäuscht, seinen Irrtum bekennen. Was er sieht, ist [...] eine Selbstaus-

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//. Der Versailler Vertrag

Reminiszenzen argumentierte der Lokal-Anzeiger auch in der folgenden Ausgabe: Nirgends sei „auch nur eine Spur von auf sich selbst gestellter Verantwortlichkeit zu entdecken, die einst Preußen und das Deutsche Reich zu Größe geführt" habe71. Berichtete der Lokal-Anzeiger im Handelsteil von einer „günstigen Stimmung" an der Börse und einem „lebhaften Handel", weil man nach dem Rücktritt des Kabinetts Scheidemann von einer Unterzeichnung des Vertrags und damit von besseren Aussichten für die Wirtschaft ausgehen könne72, so wurde im politischen Teil betont, daß Deutschland wirtschaftlich nicht zur Unterzeichnung gezwungen sei: Wie der Unterstaatssekretär des Reichsernährungsministeriums gegenüber der Deutschen Allgemeinen Zeitung ausgeführt habe, so der Lokal-Anzeiger, könne man „keinesfalls sagen, daß uns die Rücksicht auf die Volksernährung zwingen würde, den Friedensvertrag zu unterzeichnen"73. Seine hier signalisierte Bereitschaft zur Verweigerung der Unterschrift wiederholte der Lokal-Anzeiger in zahlreichen redaktionellen Beiträgen, aber auch in Zuschriften und Annoncen von Verbänden und Parteien. Die DNVP meinte in einem Aufruf: „Der Frieden soll nach den unerhörten Forderungen unserer Gegner angenommen werden! Den Kaiser und die siegreichen Führer unseres Volkes im großen Weltkriege sollen wir fremder Willkür ausliefern, Millionen deutscher Brüder, kerndeutsche Gaue unter das Joch der Fremdherrschaft kommen

Schaltung der angeblich souveränen Nationalversammlung [...] Kein Wunder, daß selbst die lautesten Herolde des parlamentarischen Systems angesichts der herrlichen Zeiten, denen sie uns entgegengeführt haben, heute mehr und mehr ihre Sprache verlieren". 71 Abendausgabe vom 21. Juni 1919. 72 Ebd. Als der Vertrag am 28. Juni unterzeichnet wurde, registrierte der Lokal-Anzeiger an der Börse eine „Günstigere Stimmung. Meist höhere Kurse". Ausschlaggebend dafür war nicht nur die Unterzeichnung, sondern auch „das bevorstehende Erlöschen des Eisenbahnerstreikes, das Ende des Ausstandes in Schlesien sowie die angekündigte Verbesserung der Lebensmittelversorgung bewirkten eine bessere Grundstimmung" (Abendausgabe vom 28. Juni 1919). 73 Abendausgabe vom 21. Juni 1919. Diese Behauptung steht in klarem Widerspruch zu den zahlreichen Lebensmittelunruhen und Ausständen, über die auch der Lokal-Anzeiger berichtete. In der Morgenausgabe vom 26. Juni hieß es z.B., die „Kohlenversorgung des nächsten Winters ist gänzlich ungesichert". Zur Radikalität der reichsweiten Unruhen, die nicht zuletzt aus der schlechten Versorgungslage resultierten, vgl. z.B. die (Sonntags-)Ausgabe vom 22. Juni 1919.

Der Berliner Lokal-Anzeiger

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lassen. [...] Dies dürfen, können und wollen wir nicht! [...] Was auch entstehen mag, es kann nicht schlimmer sein als die Folgen solchen Friedens"74. Auf Ablehnungskurs waren auch „die Geistlichen von Groß-Berlin"75, die sich auf einer Versammlung „einmütig gegen die Unterzeichnung unerfüllbarer Friedensbedingungen als gegen eine vor Gott nicht zu verantwortende Handlung und gegen die schmachvolle Zumutung der Auslieferung des Kaisers und anderer deutscher Männer" aussprachen76. Auch der Deutsche Offiziers-Bund wandte sich „An alle Deutschen!" und lehnte „die Auslieferung des Kaisers und unserer Heerführer" ebenfalls entschieden ab: „Von all den schmachvollen und demütigenden Forderungen ist diese die schlimmste, weil sie die erniedrigendste ist! [...] Wer noch einen Funken Ehrgefühl hat, einerlei welcher Partei er sonst angehört, muß sich dem widersetzen! Unseren ehemaligen Kriegsherrn können wir jetzt mit unseren Leibern nicht schützen. In seine Auslieferung darf aber eine Volksvertretung und eine Regierung, die sich deutsch nennen, nimmermehr einwilligen. Und so werden wir auch alle unsere ruhmvollen Heerführer und Kameraden, die sich unter uns befinden, zu schützen wissen! Wir werden uns geschlossen vor sie stellen!"77 — Die großen Anzeigen, mit denen Freiwillige aufgefordert wurden, sich „bei den Formationen des Reichswehrgruppenkommandos I (Generalkommando Lüttwitz)" zu melden, lassen Zweifel aufkommen, ob diese Mannschaften ausschließlich für die „innere Sicherheit" gedacht waren78. Gemeinsam mit der DNVP erklärte der Lokal-Anzeiger den 22. Juni zum „Trauertag", weil die Nationalversammlung sich an diesem Tag für

74

Zitiert nach ebd. Abendausgabe vom 21. Juni 1919. 76 Unter der Überschrift „Erklärung der Altkonservativen" veröffentlichte der Lokal-Anzeiger in seiner Abendausgabe vom 4. Juli 1919 eine Erklärung der Grafen Westarp und Heydebrand, derzufolge allein die Initiatoren der Friedensresolution vom 19. Juli 1917 für die deutsche Niederlage und für die Friedensbedingungen verantwortlich seien. 77 Morgenausgabe vom 21. Juni 1919. 78 Vgl. z.B. die (Sonntags-)Ausgabe vom 22. und die Abendausgabe vom 30. Juni 1919. Auch in der Morgenausgabe vom 27. Juni wurden Freiwillige für das Garde-Kavallerie-Schützen-Korps geworben, zu dem auch die Marinebrigade Ehrhardt zählte. Zur Geschichte dieser Brigade, deren angeordnete Auflösung Lüttwitz im März 1920 als Anlaß für seinen Putsch nahm, vgl. Gabriele Krüger: Die Brigade Ehrhardt. Hamburg 1971. 75

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//. Der Versailler Vertrag

die Unterzeichnung des Vertrags ausgesprochen habe79: „Von heute ab hat das deutsche Volk nicht mehr das Recht, Nationalfeste zu feiern, bis die Schmach des 22. Juni ausgelöscht ist. Es sollte heute im ganzen Deutschen Reich kein einziges Haus geben, auf dem keine Fahne, keine schwarzweißrote Fahne auf Halbmast wehte. Und jedesmal, wenn dieser Tag [...] wiederkehrt, sollten wieder die schwarzweißroten Trauerfahnen gehißt werden"80. Denn das Unglück, „das durch die Nichtunterzeichnung des Vertrages über Deutschland hereingebrochen wäre, wäre nicht das größte gewesen. Wenn die Nationalversammlung in Weimar einmütig und in vollem Bewußtsein der Folgen ihres Entschlusses den Friedensvertrag abgelehnt hätte, so hätte das in der ganzen Welt einen ungeheueren moralischen Eindruck gemacht, und dieser Eindruck hätte über kurz oder lang in den feindlichen Ländern Wirkungen erzielen müssen, die zu wesentlichen Änderungen des Friedensvertrages [...] geführt hätten". Insbesondere berechtige der Vertrag „unsere Feinde, ihre schwarzen Horden auf Deutschland loszulassen, wenn irgendeine seiner Bestimmungen nicht erfüllt wird. Die unerfüllbaren Bedingungen dieses Vertrages sind aber so zahlreich, daß die Berechtigung, den Faden des Damoklesschwertes der Besetzung, das nun für ungezählte Jahre über unserem Haupt hängt, zu durchschneiden, an jedem der kommenden Tage erworben werden kann"81. Anders als die

79

In der Nationalversammlung beantragte die DNVP, „den 22. Juni oder den darauf folgenden Sonntag als nationalen Trauertag festzusetzen" (Abendausgabe vom 24. Juni 1919). 80 Ausgabe vom 23. Juni 1919 (erschienen als Der Montag). Am 30. Juni 1919 brachte der Lokal-Anzeiger in seiner Abendausgabe ein eigenwilliges Plädoyer für „Schwarz-weiß-rot" als Nationalfarben: „Ernste und schwerwiegende ideelle und materielle Gründe" sprächen „eindringlich für die Beibehaltung der Reichsfarben Schwarzweißrot. [...] Kann man denn in der Theorie Schwarzrotgo/i/ beschließen und in der Praxis Schwarzrotge/^ einführen? [...] Denn Gold ist bekanntlich keine Farbe, sondern ein sehr kostspieliges Metall. Man müßte sich also mit einer billigen Imitation begnügen oder sich auf Schwarzrotgelb beschränken. Das wäre aber wiederum nicht SchwarzrotgoW, sondern eine Verfälschung, und die neue Reichsflagge wäre vom ersten Augenblick ihres Erscheinens das Symbol einer Lüge". Auch im Zentrum gab es ähnlich begründeten Widerstand gegen „Schwarz-rot-gold": Peter Spahn wies am 6. März 1919 im Verfassungsausschuß darauf hin, „daß sich 'gold' deswegen für die Reichsflagge nicht eigne, 'weil es im Gebrauch schwarz wird'" (zitiert nach Morsey: Zentrumspartei, S. 231). 81 Ausgabe vom 23. Juni 1919 (erschienen als Der Montag).

Der Berliner Lokal-A nzeiger

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Zeitungen, die in der Unterzeichnung des Versailler Vertrags den ersten Schritt zu seiner Revision sahen und auf eine spätere Einsicht der Alliierten bauten, zog der Lokal-Anzeiger aus dem „Mordvertrag von Versailles [...] Recht und Pflicht [...], Brief und Siegel [... zu] einem schweigsamen, heiligen Haß nach außen"82. Dieser Haß sollte nach Wunsch des Lokal-Anzeigers „über Generationen" andauern: „Darum wollen wir unsere Augen fest heften auf den Akt, der sich jetzt in Versailles vollzogen hat. Jede Erniedrigung birgt einen Stachel in sich. Diesen Stachel wollen wir uns und unseren Kindern schmerzhaft tief in die Seele pressen"83.

2. Ein „Hoffnungsstrahl": Scapa Flow Groß aufgemacht meldete der Lokal-Anzeiger seinen Lesern in dieser Phase nationaler Resignation „die erlösende Tat" aus Scapa Flow84: „Und doch leuchtet auch an diesem Tage ein kleiner Hoffnungsstrahl in die Zukunft. Er kommt aus dem hohen Norden, wo im fremden Hafen Deutschlands stolze Flotte lag. Mit der schwarzweißroten Flagge an den Masten ist sie durch beherzte Männer auf den Grund des Meeres versenkt worden"85. Mit dieser Tat hätten die Matrosen „ihre Fehler" vom

82

So ein Kommentar von Friedrich Hussong in der (Sonntags-)Ausgabe vom 29. Juni 1919. „Wo ist Rettung?", fragte Hussong, „wo ist Anfang und Ansatz zur Besserung? Sinnloser als je rast das selbstzerstörende Fieber der Zuchtlosigkeit wieder durch Leib und Glieder dieser kranken Nation. Während die Welt die unerhörteste Vergewaltigung an uns begeht, die alle Vergangenheit kennt und wohl auch alle Zukunft je kennen wird, setzen tausend freche Verbrecher ungestraft an allen Enden das Reich mit flackerndem Bürgerkrieg in Brand. Während man das lebendige Fleisch in gewaltigen Stücken vom Leibe dieses Reiches reißt, beschmutzen wir unsere Ehre, die kein Feind uns nehmen kann, und die nur wir uns nehmen können". 83 Abendausgabe vom 28. Juni 1919. 84 In Scapa Flow, einer von den Orkney-Inseln umgebenen Bucht, lag die internierte deutsche Flotte. Von allen aktuellen Informationen und Nachrichten abgeschnitten, wurden dem kommandierenden Vizeadmiral Reuter am 8. Mai 1919 die Friedensbedingungen der Entente übermittelt. Reuter nahm an, die deutsche Regierung werde diese Bedingungen ablehnen und bereitete für den Fall der Wiederaufnahme der Kriegshandlungen die Versenkung der Schiffe vor. Als ihm bekannt wurde, daß die Entente die deutschen Gegenvorschläge am 21. Juni zurückgewiesen hatte, gab er das Kommando zur Versenkung der in Scapa Flow internierten Flotte. 85 Berliner Lokal-Anzeiger (Der Montag), Ausgabe vom 23. Juni 1919. Auch der Vorwärts sprach in seiner Morgenausgabe vom 25. Juni von einer „heldenhaften Versen-

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II. Der Versailler Vertrag

November 1918 gesühnt. „Die gewissenlosen Hetzer" der USPD, so das Hugenberg-Organ, hätten die verblendeten Matrosen beim Auslaufen zu den Orkney-Inseln „glauben gemacht, sie führen aus zur Verbrüderung mit den Genossen der anderen Flotten, die sie mit der Roten Fahne freundlich empfangen würden. Mittlerweile haben die Tatsachen zu ihnen gesprochen. Man hat sie wie Aussätzige abgesperrt von der Außenwelt; und in der Einsamkeit und Selbsteinkehr, fern von den vergiftenden Einflüssen, die in der Heimat am Werk waren, haben sie sich wiedergefunden, sie haben den Unterschied gelernt zwischen Ehre und Schande und haben auch auf den Weg zur Ehre durch die erlösende Tat zurückgefunden"86.

3. Antisemitismus Während latenter Antisemitismus in der deutschen Presse weitgehend tabuisiert wurde, brachten mehrere Zeitungen am 21. Juni 1919 zwei Meldungen über Judenpogrome in Osteuropa: Wie das Jüdische Korrespondenzbüro aus Paris meldete, war „es im amerikanischen Senat zu einer scharfen Aussprache über die Pogrome in Polen, Galizien und den anderen Ländern" gekommen. Nach der zweiten Meldung hatte Wilson sich auf Ersuchen der polnischen und litauischen Regierung entschlossen, eine Kommission zur Untersuchung der aus Polen gemeldeten Pogrome einzusetzen87. Einige Tage später berichtete der Lokal--An-

kung der deutschen Kriegsschiffe". Der späteren Legendenbildung leistete das SPDZentralorgan erneut Vorschub, als es in der Abendausgabe vom 25. Juni 1919 davon sprach, das deutsche Volk sei „unbesiegt auf den Schlachtfeldern". Bereits beim Einzug der Truppen in Berlin hatte Ebert am 10. Dezember 1918 den Soldaten versichert: „Kein Feind hat Euch überwunden" (zitiert nach Miller: Bürde der Macht, S. 178). " Berliner Lokal-Anzeiger (Der Montag), Ausgabe vom 23. Juni 1919. Beim Heimtransport der in Scapa Flow internierten Marineangehörigen meuterte die Mannschaft des Truppentransporters angesichts „des gefährlichen Minensperrgürtels" vor der deutschen Küste. In dieser Situation riß der Korvettenkapitän Ehrhardt die Kommandogewalt an sich und steuerte das Schiff sicher nach Wilhelmshaven (vgl. Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 25f.). Auch der 1921 an der Ermordung Erzbergers maßgeblich beteiligte Heinrich Tillessen lag mit seinem Torpedoboot m Scapa Flow (vgl. Epstein: Erzberger, S. 433f.). 87 Berliner Lokal-Anzeiger, Abendausgabe vom 21. Juni 1919.

Der Berliner Lokal-A nzeiger

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zeiger unter der Überschrift „Londoner Juden gegen Polen", daß rund 50.000 Juden nach einem Morgengottesdienst an einer „Protestkundgebung gegen die Judenmassakers [!] in Polen " teilgenommen hätten88. Doch in seinem Bericht ging es dem Lokal-Anzeiger nicht um die Pogrome, sie dienten ihm als Aufhänger, um in der Auseinandersetzung mit Polen nationale Ressentiments zu schüren89: Nach Auffassung des Lokal-Anzeigers hätten nämlich die preußischen Teile Polens „seit der zweiten Teilung [...] längst deutsch sein können"90, wenn nur eine energischere „Germanisierung" betrieben worden wäre. Diese Chance sei vertan, inzwischen gehe es um die „Polonisierung" des Posener Gebiets. Jetzt würden die Polen gegen „Hakatisten"91 und Juden kämpfen, wobei die polnische Presse jedoch „den Deutschenhaß fast noch durch ihren Antisemitismus [übertreffe]. Und zwar durch einen pogromlüsternen Radauantisemitismus übelster Art. Der englische, amerikanische, französische Jude würde staunen, wenn ihm diese Stilwucherungen zu Gesicht kämen. Aber er liest sie nicht. Ihm ist Polen der ergebene Diener der Entente, das Lieblingskind, das mit Zucker verhätschelt werden muß"92. Auch wenn der Lokal-Anzeiger sich anscheinend vom „pogromlüsternen Radauantisemitismus" in Polen distanzierte, so machte er doch die englischen, amerikanischen und französischen Juden für das gute Verhältnis

88

Morgenausgabe vom 28. Juni 1919. Ebd. Der Haß des Lokal-Anzeigers gegen Polen saß tief. In seiner Abendausgabe vom 28. Juni 1919 berichtete das Blatt unter der Überschrift „Die polnischen Pogrome", daß „der amerikanische Gesandte in Polen, Gibson, nach Paris berufen werden wird, um über die Judenverfolgungen in Polen zu berichten, und daß der Präsident Wilson den amerikanischen Gesandten in Rumänien beauftragte, wegen der Berichte über ähnliche Grausamkeiten in diesem Lande eine Untersuchung anzustellen". Daß es sich hier nicht, wie die Überschrift des Lokal-Anzeigers suggerierte, ausschließlich um Pogrome in Polen handelte, machte z.B. die BZ am Mittag deutlich, als sie dieselbe Meldung unter der (treffenderen) Überschrift „Die Pogrome in Polen und Rumänien" veröffentlichte (vgl. die BZ vom 28. Juni 1919). 90 So der Kommentar „Das Deutschtum im besetzten Posen" (Abendausgabe vom 3. Juli 1919). " Mit diesem zeitgenössischen Begriff wurden diejenigen bezeichnet, die „für die deutschen Ostmarken gegen das Polentum" eintraten (vgl. Das deutsche Wort. Rechtschreibung und Erklärung des deutschen Wortschatzes sowie der Fremdwörter. Hg. von Richard Pekrun. Leipzig 1933). 92 Abendausgabe vom 3. Juli 1919. 89

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II. Der Versailler Vertrag

der Entente zu Polen verantwortlich, eine für jeden Leser des Lokal-Anzeigers eindeutige Schuldzuweisung.

IV

Die BZ am Mittag Politisch desillusioniert und wie schon im November 1918 von der Unnachgiebigkeit der Entente überzeugt, votierte auch das UllsteinBlatt gegen die Unterzeichnung des Versailler Vertrags, ohne sich jedoch näher mit den Konsequenzen im Fall einer Nichtunterzeichnung zu befassen. Hatte das Blatt noch im November 1918 die Erfolge Erzbergers bei den Waffenstillstandsverhandlungen hervorgehoben, so stand jetzt die „Konzessionsbereitschaft" Erzbergers im Brennpunkt der Kritik. Keine andere Zeitung dieser Studie ging so ausführlich auf die osteuropäischen Judenpogrome ein wie die BZ.

1. „Die Ratlosen von Enttäuscht vom unschlüssigen Taktieren der Weimarer Nationalversammlung, verwies die BZ auf den „heroischen Protest", mit dem Adolphe Thiers, Präsident der 3. Republik, sich 1871 in einer vergleichbaren Situation deutschen Forderungen widersetzte und so Frankreichs Ehre wahrte94. Eine „bedingungsweise Annahme" des Versailler Vertrags, wie sie von der Nationalversammlung präferiert wurde, hielt das Blatt für „sinnlos. [...] Heute bleibt nur die Wahl zwischen Ablehnung oder Annahme. Brauchen wir zu wiederholen, daß unsere Meinung 'Ablehnen1 war?"95 Ebenfalls auf deutliche Kritik stieß die nach dem Rücktritt des

" Überschrift eines Kommentars der BZ am Mittag vom 23. Juni 1919. Vgl. den Kommentar „Beispiel und Lehre" in der BZ vom 21. Juni 1919. Nachdem Thiers während seiner Ansprache in der Nationalversammlung vor Erschöpfung zusammengebrochen war, setzte Victor Hugo dessen Ausführungen fort. „Menschen, die mit Herz und Sinn Tragisches erleben, können sehr wohl zusammenbrechen", meinte die BZ, „Erzberger aber wird immer lächeln". 95 Ebd. 94

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//. Der Versailler Vertrag

Kabinetts Scheidemann von SPD und Zentrum gebildete Regierung Bauer. Zu Reichspostminister Giesberts, der einmal vor Zeitungsvertretern erklärt haben sollte, „eher werden wir alle Bolschewisten!", bevor Deutschland sich auf die Friedensbedingungen einlasse, hieß es spitz: „Man soll denjenigen nicht vorwerfen, daß sie ihre Überzeugung gewechselt hätten, die niemals eine gehabt haben"96. Noch negativer wurde Erzberger beurteilt97. Im Unterschied zu Giesberts, der keine eigenen Positionen habe, sondern sich nur an „Schlagworten berauscht", habe Erzberger „von Anfang an eine Überzeugung gehabt. Sie besagte: Es ist nichts zu machen und nichts zu wollen! Und da Erzberger, was er im Herzen trägt, stets auch im Munde führt, wußte und schrieb die feindliche Presse [...]: 'Das ist unser Mann; der wird alles, was man ihm vorlegt, unterschreiben'. [...] Und wenn Brockdorff-Rantzau in Versailles fest blieb, trösteten sich unsere Gegner: Erzberger wird ihn schon stürzen"98. Neben ihrer harschen Kritik an einzelnen Regierungsmitgliedern monierte die BZ, daß die Reichsregierung insgesamt falsch taktiere und die „Außenwirkung" ihres Verhaltens überhaupt nicht übersehe99: Von Versailles aus betrachtet scheine, „daß wir uns männlicher

96

Vgl. den Kommentar „Kabinett Erzberger, genannt Bauer" (Ausgabe vom 22. Juni 1919). Deutliche Sympathien bekundete das Blatt gegenüber der Politik des „Hardliners" von Brockdorff-Rantzau, des ehemaligen Außenministers und derzeitigen Verhandlungsführers in Versailles. 97 Zur Kritik an Erzberger vgl. auch den Kommentar „Die Ratlosen von Weimar" (23. Juni), die „Drahtmeldungen" aus Versailles vom 24. und 25. Juni sowie den Kommentar „Erzbergers Vorbehalte" (27. Juni 1919). Provokativ fragte die BZ, ob „irgendwer in ganz Deutschland" begreife, „warum der Erzberger-Friede nicht von Erzberger, sondern von Müller und Bell unterzeichnet wird?" (Ausgabe vom 27. Juni 1919). 98 BZ vom 22. Juni 1919. „Herr Erzberger macht sich immer hinter dem Rücken anderer Leute zu schaffen; sei es, daß er einem in den Rücken fällt, sei es, daß er sich hinter dem Rücken eines anderen versteckt". Im neutralen Ausland beurteile man „Herrn Erzbergers Tätigkeit [...] richtig", meinte die BZ und zitierte das Algemeen Handelsblad: „'Mehr noch als die Haltung der Unabhängigen, [hätten] die hinter den Kulissen sich vollziehenden Wühlereien Erzbergers die Entente unmittelbar zu der Überzeugung gebracht [...], daß sie den Bogen aufs stärkste spannen könne, ohne Gefahr zu laufen, daß er breche'" (Ausgabe vom 27. Juni 1919). 99 Als Beispiel führte das Blatt an, daß Botschafter von Haniel der Entente in Versailles eine Note der Nationalversammlung überreicht hätte, in der die Annahme des Vertrags befürwortet wurde, während wenig später ein Protest gegen den Vertrag nachgereicht wurde: „Die Herren in Weimar sind in dieser Schicksalsstunde so ver-

Die BZ am Mittag

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hätten benehmen können, wenn wir den Weg unseres Abstiegs nicht zu einer ungeordneten Rückzugsstraße mit allzu vielen und überflüssigen Etappen gemacht hätten"100. Man habe zwar „in den letzten Tagen soviel von der Ehre Deutschlands gehört, aber niemand hat bemerkt, daß in Versailles die erste Ehrenpflicht, das Interesse der deutschen Kriegsgefangenen zu wahren, bereits vernachlässigt" sei101. Desgleichen habe man nicht geklärt, wann die Lebensmittelblockade endgültig aufgegeben werde; man dürfe sich „keinen Augenblick bei dem Wahn beruhigen, daß der Friede bereits geschlossen" sei102.

strickt in ihren parteitaktischen Manövern, daß sie offenbar gar nicht erfassen können, wie all das, von Versailles aus gesehen, ausfiel. Ihr neuester Rettungsgedanke war, weiteren Aufschub zu erbitten, bloß zwei Tage. Wenn zwei Stunden gewährt werden, wäre es ein erstaunliches Entgegenkommen" (BZ vom 23. Juni 1919). 100 Ausgabe vom 24. Juni 1919. 101 BZ vom 25. Juni 1919. Seit Abschluß des Waffenstillstands sei mehr als ein halbes Jahr vergangen; „in der zweiten Hälfte dieser langen Zeit scheint man fast schon die Erregung vergessen zu haben, die sich im vorigen November Deutschlands bemächtigte, als wir erfuhren, daß unsere gefangenen Brüder weiter in Gefangenschaft bleiben sollten. Die Plakate 'Heraus mit unseren Kriegsgefangenen' sind von den Mauern Berlins vollständig verschwunden. Sie waren offenbar auch dem Gedächtnis der deutschen Unterhändler in Versailles entschwunden" (ebd.). — Warum die BZ diese Polemik brachte, ist unklar, denn nur drei Tage zuvor hatte Bauer erklärt, die Reichsregierung erwarte „in Ansehung der gewaltigen Lasten, die das deutsche Volk übernehmen muß, daß sämtliche deutschen Kriegs- und Zivilgefangenen" nach der Unterzeichnung „vom 1. Juli an in ununterbrochener Folge und in kurzer Frist zurückgegeben werden" (zitiert nach dem [einzigen] Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 23. Juni 1919). 102 BZ vom 25. Juni 1919. „Weil es sich bei der gegnerischen Blockade nicht um eine rechtmäßige Kriegsmaßnahme, sondern um die widerrechtliche Fortdauer einer Repressalie" handele, hätte man bei den Verhandlungen „zumindest die bestimmte Zusage fordern müssen, daß die Blockade schon auf die Unterzeichnung des Friedensvertrags hin [...] eingestellt würde", kritisierte das Blatt, das mehrfach darauf hinwies, daß nicht mit Unterzeichnung des Vertrags, sondern erst mit dessen Ratifizierung der Frieden eintrete. Das könne drei bis vier Monate dauern, und so lange bleibe „die völkerrechtswidrige Blockade aufrecht!" (Ausgabe vom 28. Juni 1919).

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II. Der Versailler Vertrag

2. Die Judenpogrome in Osteuropa Unter der Schlagzeile „Über 20.000 Juden in Polen ermordet" berichtete die BZ aus der norwegischen Hauptstadt Christiana (Oslo) über eine „öffentliche Protestveranstaltung sämtlicher hiesiger jüdischer Institutionen"103: Einstimmig habe die Versammlung beschlossen, „durch die norwegische Regierung der Pariser Friedenskonferenz eine Protestresolution zu senden, in der es heißt: Die Juden in Norwegen erheben schärfsten Protest gegen die fürchterlichen Mord- und Schandtaten, die an ihren jüdischen Glaubensgenossen in Polen, Litauen, Galizien und der Ukraine verübt worden sind [...] Jeder, der vom Geist der Gerechtigkeit und Humanität beseelt ist, muß sich mit Abscheu und Verachtung gegen die polnischen Mörder wenden". Noch ausführlicher befaßte sich das Blatt mit den „Trauerkundgebungen der Londoner Judenschaft". Nach der BZ nahmen „mehr als hunderttausend Personen, in Schwarz gekleidet, [...] an den Umzügen und Trauergottesdiensten teil. Jüdische Geschäftsleute schlössen ihre Läden und versammelten sich [...], um den bekannten jüdischen Schriftsteller Zangwill zu hören. "Mördern darf man nicht nachlaufen', erklärte Zangwill. 'Was ist die Ursache dieser Judenverfolgungen? Profitsucht ist die eine, Bolschewismus die andere Ursache. Weil die Juden in Polen dem Bolschewismus sich widersetzen, werden sie verfolgt104. Niemand in der Welt schätzt so sehr die polnische Freiheit wie gerade die Juden. Wenn die Polen unsere Freundschaft zurückweisen, werden sie unseren Haß auf sich laden'. [...] Die größte Gedenkfeier wurde in der Queens-Hall abgehalten. Rothschild, Zangwill, Stuart Samuel und andere Führer der Londoner Judenschaft waren zugegen. Im Hyde-Park sammelten sich über 50.000 Juden. Besonderes Aufsehen erregte eine Abteilung kriegsverletzter jüdischer Soldaten und Seeleute, deren Banner die Inschrift

103

Vgl. die Ausgabe vom 5. Juli 1919. Während Zangwill die Judenpogrome in Polen insbesondere mit dem Widerstand der Juden gegen den Bolschewismus erklärte, hatte die Germania im November 1918 gerade in den Juden, die auch in Polen den „sozialistischen Zukunftsstaat" verwirklichen wollten, den ausschlaggebenden Grund für die „Abneigung der Polen gegen die Israeliten" gesehen. 1M

Die BZ am Mittag

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trug: 'Wir kämpften für die Freiheit aller Völker. Wir protestieren gegen den Judenmord1"105. Die beachtliche Länge dieser beiden Berichte in der sonst knappe Nachrichten präsentierenden Boulevard-Zeitung kann sicher als bewußte Anteilnahme am Schicksal der Juden gewertet werden. „Nationale Belange" und „deutsche Interessen" vergaß das Blatt aber keinesfalls: Als bekannt wurde, daß in einem Vertrag zwischen den Entente-Staaten und Polen die Rechte der Juden festgelegt worden seien, meinte die BZ, dieser Vertrag enthalte „zwar den Schutz des israelitischen Religionsbekenntnisses, aber keinen Schutz der nationalen Rechte der deutschen Minderheit"106.

105

BZ vom 5. Juli 1919. In einem von Lord Robert Cecil an die Versammlung gerichteten Brief wurde der Hoffnung Ausdruck verliehen, „daß durch die Verträge, über die gegenwärtig in Versailles verhandelt wird, Bürgschaften gegeben werden gegen die Wiederholung der Grausamkeiten, denen die Juden in Mittel- und Osteuropa so oft ausgesetzt gewesen sind" (ebd.). 106 Ausgabe vom 2. Juli 1919. Die Frankfurter Zeitung brachte dieselbe Meldung, verzichtete dabei jedoch auf die Gleichsetzung eines Religionsbekenntnisses mit den Rechten einer nationalen Minderheit.

v Die Germania Das Zentralorgan des Zentrums zeichnete sich im Sommer 1919 durch seine lavierende und widersprüchliche Haltung zur Vertragsunterzeichnung aus, für die das Blatt — auch innerhalb der eigenen Reihen — eher halbherzig warb. Sich häufig auf christliche Normen als Richtschnur politischen Handelns berufend107, widmete die Germania „kulturellen Fragen" wie der Neugliederung des Schulwesens starke Beachtung.

L Das kleinere Übel: Unterzeichnung Da die strittigen Punkte des Versailler Vertrags, für die Germania neben den „Ehrenvorbehalten" auch die Frage der deutschen Kolonien, „mehr theoretischer An" seien, ging das Blatt zunächst von einer bedingten Unterzeichnung aus: Im Zentrum herrsche „eine Ansicht" darüber, „daß der Friedensvertrag nur unter Protest unterzeichnet werden kann"108. Als bekannt wurde, daß die Entente „die bedingte Unterzeichnung ablehne und die vorbehaltlose Unterschrift fordere"™9, befürchtete die Germania, es werde in der Nationalversammlung keine Mehrheit für eine bedingungslose Unterzeichnung geben. Erst als sicher war, daß

107

So schrieb die Germania auf dem Höhepunkt der Streik- und Ausstandswelle: „Wir können in dem allgemeinen Wirrwarr keine bessere Orientierung und keinen sichereren Halt finden, als sie uns die Kirche bietet. Die sozialen Ideen Leos XIII. und Pius' X. haben sich als die einzig richtigen erwiesen. [...] Suchen wir nach neuen Formeln, wenn wir wollen, der Inhalt ist uns, wenn wir am Wiederaufbau der menschlichen Gesellschaft mitwirken wollen, durch die Lehren und Weisungen der Kirche schon längst gegeben" (Morgenausgabe vom 28. Juni 1919). 108 Morgenausgabe vom 21. Juni 1919, 109 Abendausgabe vom 23. Juni 1919.

Die Germania

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die Mehrheit der Nationalversammlung „mit der Unterzeichnung des Friedens einverstanden" sei, brachte die Germania eine Begründung für das Lavieren der Zentrumsfraktion110: „Es sei [...] ausdrücklich festgestellt, daß das Votum der Zentrumspartei [in] der Deutschen Nationalversammlung, die sich [...] mit 68 gegen 14 Stimmen gegen die bedingungslose Unterzeichnung aussprach, darauf zurückzuführen war, daß sämtliche kommandierenden Generäle der Reichswehr und FreiwilligenVerbände erklärten, sie würden ihre Kommandos niederlegen, wenn der Frieden bedingungslos unterzeichnet werde. [...] Es mußte damit gerechnet werden, daß große Teile der Truppen dem Beispiel ihrer Führer folgen würden, und daß gerade die zuverlässigsten Elemente den Dienst versagen würden111. [...] Unter dem Eindruck dieser Tatsache hat ein großer Teil der Fraktion es nicht verantworten zu können geglaubt, seine Zustimmung zu geben. Die Lage änderte sich aber [...] dadurch, daß von einem hochstehenden General ein Telegramm an den Reichspräsidenten Eben gerichtet wurde, worin er der Zuversicht Ausdruck gibt, daß die Generäle schließlich auch weiterhin ihre Pflicht tun würden, wenn ihnen beruhigende Erklärungen gegeben würden"112.

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Beiläufig bemerkte die Germania, „die Abgg. Dr. Heim und Schneider (Pfalz)" seien „aus der Zentrumsfraktion ausgetreten, weil sie mit der Abstimmung der Zentrumsfraktion in der Friedensfrage nicht einverstanden waren" (zur politischen Rolle Heims, des „heimlichen Regenten Bayerns", vgl. Karl Schwend: Bayern zwischen Monarchie und Diktatur. Beiträge zur bayerischen Frage in der Zeit von 1918 bis 1933. München 1954, S. 61ff.). Der im Jum 1919 unübersehbare Graben zwischen Zentrum und rechter BVP führte im Januar 1920 zur Auflösung der Fraktionsgemeinschaft von Zentrum und BVP (vgl. Morsey: Zentrumspartei, S. 280ff.). 111 Bei dieser Bemerkung bleibt offen, warum ausgerechnet die „zuverlässigsten Elemente" ihren Dienst nach einer rechtmäßigen Entscheidung der Nationalversammlung quittieren würden. 112 Abendausgabe vom 24. Juni 1919. Gemeint war das Telegramm von Groener, auf dessen Vorschlag Noske einen Aufruf an die Reichswehr erließ: Er, Noske, habe sich im Kabinett „vergeblich für die Nichtunterzeichnung des 'Gewaltfriedens' eingesetzt", sei jedoch überstimmt worden. Sein Rücktrittsangebot hätten „der Reichspräsident und der Ministerpräsident in Übereinstimmung mit dem Kabinett und den Mehrheitsparteien der Nationalversammlung abgelehnt" (Wette: Noske, S. 493). Mit diesem Aufruf wollte Noske sich der Reichswehr „als dasjenige Regierungsmitglied" empfehlen, „das bis zum Schluß die Interessen der Reichswehr vertrat und sich schließlich dann doch hatte beugen müssen" (ebd., S. 494).

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//. Der Versailler Vertrag

Die ausführlichen Rechtfertigungen der Germania für die schwankende Haltung der Zentrumsfraktion113 sind deutliches Indiz für eine starke Ablehnung des Vertrags in den eigenen Reihen114. Daß das Zentrum mit seinem Entschluß zur Unterzeichnung nur der Pflicht nachgekommen sei, „zwischen zwei Übeln das geringere zu wählen", werde man „in nationalistischen Kreisen115 [...] nicht begreifen können oder nicht begreifen wollen", mutmaßte die Germania und fürchtete, das rechte Lager werde nun „noch mehr als bisher von 'Feigheit1 und 'Verrat' reden"116. Natürlich habe man „angesichts der schweren Friedensbedingungen keine Werbeartikel für die Unterzeichnung schreiben" können117. Erst in den allerletzten Tagen „konnten wir und mußten wir uns deutlicher aussprechen, weil die Bedingungen unabänderlich feststanden und andererseits weite Kreise durch die alldeutschen Sprüche etwas verwirrt waren. [...] In der letzten Zeit konnte man nun in Blättern der Rechtsparteien wiederholt lesen, wir müßten lieber ehrenvoll untergehen, als schmachvoll unterzeichnen", konstatierte die Germania

113

Das Blatt war bemüht, Kritik am Verhalten des Zentrums auf die DDP zu verlagern: „Die größte Schuld [...] trugen die Demokraten, weil sie sich der Verantwortung entziehen wollten und aus der Regierung austraten. Manche werden für die Krisis [...] das Zentrum verantwortlich machen. Aber das wäre sehr ungerecht" (Morgenausgabe vom 24. Juni 1919). 114 Zur öffentlich diskutierten Frage einer Volksabstimmung über Annahme oder Ablehnung des Vertrags meinte die Germania, „ein Volksreferendum in einer solchen Lage ist eine sehr gewagte und problematische Sache, weil dabei nicht Vernunftgriinde, sondern meist Massenpsychosen den Ausschlag geben" (Morgenausgabe vom 21. Juni 1919). 115 Die „alldeutsche und verwandte Presse" war Thema eines Leitartikels in der Morgenausgabe vom 26. Juni 1919: Diese Presse wettere „in allen Tonarten über Sozialdemokratie, Zentrum und Erzberger. Man muß sich genau erinnern", meinte die Germania, „daß das dieselben Kreise sind, die sich über die ersten englischen Truppentransporte [...] 1914 unbändig gefreut haben, weil man doch erst so mit den Vettern gründlich abrechnen könne, dieselben, die das Volk glauben machen wollten, daß unsere U-Boote den Vereinigten Staaten das Eingreifen in den Landkrieg unmöglich machen würden, dieselben, die bis zuletzt die zahlenmäßige Überlegenheit unserer Artillerie und unserer Flieger gepriesen haben, als schon längst bei jedem einzelnen Frontsoldaten das Gegenteil feststand". 116 Morgenausgabe vom 22. Juni 1919. 117 Morgenausgabe vom 25. Juni 1919. In dieser Beziehung hätten „die Organe der Unabhängigen schon wahrlich genug geschadet, und es wäre noch weit schlimmer geworden, wenn auch bürgerliche Blätter dieselbe Methode befolgt hätten".

Die Germania

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und zollte ihrerseits dem „vaterländischen Geist" Tribut: Die Unterzeichnung sei „durchaus keine Schmach, besonders nicht nach solchen Leistungen der äußeren und inneren Front". Demgegenüber wäre der Untergang nach einer Ablehnung der Waffenstillstandsbedingungen „ganz gewiß nicht ehrenvoll gewesen, weil er weder der Vernunft, noch der Pflicht gegen das Vaterland entsprochen hätte"118. Wohl um die Akzeptanz der Vertragsunterzeichnung zu erhöhen, blickte die Germania, optimistisch in die Zukunft: „Wenn alles Hand anlegt, wird es schon bald wieder anders werden. Manches wird billiger, es kommen Lebensmittel und Rohstoffe ins Land, das Angebot an Ware wird die Nachfrage wieder nach und nach einholen", und die Zeit werde „in die harten Friedensbedingungen [...] ganz sicher mehr als ein Loch reißen". Aber „um das zu erreichen, müßte allerdings endlich einmal mit den wahnsinnigen Lohnforderungen Schluß gemacht werden, die der Tod unserer Valuta und somit auch unserer Arbeitsleistungen für den Weltmarkt zu werden drohen"119.

2. Linke Putschabsichten — rechtes Unverständnis

Mit der Meldung, es handele sich beim „Hamburger Spartakistenputsch um die Teilausführung eines Planes [...], in ganz Deutschland den Umsturz herbeizuführen"120, leitete die Germania ihre Berichterstattung über die innenpolitischen Unruhen und Streiks ein121. Es sei „ein offenes

118 119

Ebd.

Morgenausgabe vom 26. Juni 1919. „Wenn das deutsche Volk vernünftig und arbeitsam ist", so die Germania, „dann liegt auch eine Revision des Friedensvertrags durchaus im Rahmen der Möglichkeiten". Ahnlich argumentierten die Münchner Neuesten Nachrichten, die Frankfurter Zeitung und der Vorwärts. 120 Abendausgabe vom 26. Juni 1919. 121 Nach dem 26. Juni widmete die Germania auch ihre Titelseiten den Unruhen; lediglich das Titelblatt der Morgenausgabe vom 29. Juni stellte „Die Unterzeichnung" in den Mittelpunkt. Um zu dokumentieren, daß mit der Unterzeichnung eine neue Zeit angebrochen sei, änderte die Germania ihr Layout und erschien „in neuem Gewände": Statt bisher drei hatte das Blatt jetzt vier Spalten, und der Untertitel änderte sich (von „Zeitung für das deutsche Volk mit Handelsblatt und den Beiblättern: Blätter für Literatur, Wissenschaft und Kunst * Blätter für Unterhaltung") in „Zeitung für das deutsche Volk. Beiblätter: Industrie- und Handelszeitung / Aus Zeit und Leben / Kirche und Welt / Wissenschaft, Literatur, Kunst / Frauenwelt".

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//. Der Versailler Vertrag

Geheimnis, daß die Unabhängigen und die Kommunisten alle Vorbereitungen getroffen hatten, um bei einer Ablehnung der Friedensbedingungen eine Revolution zu entfachen und die Herrschaft des Bolschewismus zu begründen"122. Bis jetzt sei es zwar „zu einer spartakistischen Erhebung oder vielmehr zu den üblichen Diebstählen und Räubereien en masse gekommen, jedoch nur in einigen Städten, in Berlin nur sporadisch, am schlimmsten in Hamburg, wo die Umstürzler sogar die Regierung an sich gerissen haben". Aber auch in diesem Fall habe der Reichswehrminister „gleich seine bekannte Energie gezeigt"123. Den Offizieren und Soldaten müsse man „angesichts der allgemeinen Unsicherheit [...] doppelt und dreifach danken, daß sie trotz des sogenannten Schmachparagraphen [...] das Vaterland nicht im Stich lassen. Wenn sie versagen würden, dann hätten wir bestimmt in wenigen Tagen das bolschewistische Chaos". Um das Vaterland zu erhalten, müßten in dieser schwierigen Lage „alle Männer und Parteien" zusammenstehen, „aber auf der äußersten Rechten und der äußersten Linken wird man vergeblich diese Eintracht und Uneigennützigkeit suchen. Das politische Geschäft steht dort höher im Kurs als alles andere. Es wäre vergebliche Liebesmühe, den Straßenmob bekehren zu wollen, da er nur Instinkte kennt. Dagegen wirkt das Verhalten der Rechtsparteien, das so ganz jeder politischen Vernunft bar ist, in höchstem Grade niederdrückend"124. Als „das Streikfieber [...] auch die Eisenbahner ergriffen" hatte und „die Lebensadern des Deutschen Reiches" bedrohte, bekam die Germania „das Gefühl, daß es in allen Fugen sich regt und windet und daß nur durch übermenschliche Anstrengungen dem Umsturz gewehrt werden kann". Würden die „Spartakisten und ihre Freunde" es mit dem von ihnen propagierten Kommunismus ehrlich meinen, so das Blatt, dann „müßten die Weltverbesserer mindestens andere Methoden anwenden, weil es auch ihnen einleuchten muß, daß man auf Gewalt und Raub

122

Morgenausgabe vom 27. Juni 1919. „Schon an dieser fortwährenden Gärung und den ständigen Putschbemühungen", so die Germania, „kann man klar erkennen, wie unzulänglich für Deutschland, selbst abgesehen von jedem äußeren Feind und jeder Kriegsgefahr, ein Heer von 100.000 Mann ist, wie es der Ententevertrag vom April 1920 ab bestimmt" (ebd.). 124 So viele der „kulturellen Güter sind bedroht", klagte die Germania, „und trotzdem wollen die Alldeutschen (die 'Nationalen1, wie sie sich bescheiden nennen,) keinen Frieden mit denen halten, die auf diesem Gebiete gern mit ihnen zusammenarbeiten möchten" (Morgenausgabe vom 27. Juni 1919). 123

Die Germania

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kein System der Freiheit und Gerechtigkeit aufrichten kann. Und selbst wenn sie den Sozialismus und Kommunismus nicht als Egoismus, sondern als edlen Altruismus hegen und pflegen wollten, könnte er, rein menschlich genommen, keine andere Wirkung hervorbringen als das Unglück und das Elend im eigenen Lande vermehren"125. Nach diesem Exkurs und dem obligaten Hinweis, innere Streitigkeiten brächten nur der Entente Nutzen, wandte sich die Germania an die Streikenden: „Wären die Rätemänner schon ans Ruder gelangt, dann würden sie heute mit den streikenden Eisenbahnern genau so umspringen, wie es im Staate Lenins und Trotzkis mit den Arbeitsverweigerern geschieht". Bedauernd, „daß einzelne Schichten in Deutschland für die Demokratie noch so wenig reif sind, daß sie nur mit Gewalt zur Raison gebracht werden können", plädierte das Blatt für einen gerechten, leistungsbezogenen Lohn: Früher oder später „wird sich der Spieß doch einmal gegen die Arbeiter selbst richten, die heute ständig ans Feiern und Putschen denken. Wenn sie nicht ganz anders werden, dann kann Deutschland eben die Konkurrenz mit den anderen produzierenden Ländern nicht aushaken, unsere ohnehin schon schwer erschütterte Industrie wird nur mehr ein kümmerliches Dasein fristen, und die Arbeiter werden sich gegenseitig unterbieten und um Beschäftigung [...] förmlich betteln gehen, wie es übrigens, abgesehen von den Staatskrippengünstlingen, heute schon in Rußland der Fall ist"126.

125

Morgenausgabe vom 28. Juni 1919. „Ein vernünftiger Mensch weiß das alles schon längst", klagte die Germania und stellte sich schützend vor den sozialdemokratischen Koalitionspartner: „Wir wollen damit keineswegs unseren Mehrheitssozialisten am Zeuge flicken. Wenn sie auch früher, als es noch keine Spaltung in der Partei gab, mit den anders gerichteten Genossen sehr extreme Ansichten vertreten haben und selbst für das Streikrecht der Staatsbeamten eingetreten sind, so sind sie doch schon seit längerer Zeit, und insbesondere, seit die Verantwortung für das Wohl und Wehe des Landes auf ihnen lastet, von einem ganz anderen Geiste beseelt und tragen als besonnene und gewissenhafte Politiker den Forderungen des Staates und der Allgemeinheit Rechnung". 126 Ebd. Die Germania meinte zwar, „es wäre unsagbar traurig, wenn Deutschland in der nächsten Zeit zum staatlichen Arbeitszwang, zum Akkord- und Tailorsystem usw. übergehen müßte", andererseits lehnte das wirtschaftsliberale Blatt aber jede Lohn- und Einkommensgarantie strikt ab.

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77 Der Versailler Vertrag

3. Kulturpolitik und Antisemitismus Anläßlich der Kabinettsbildung von SPD und Zentrum unter Gustav Bauer hatte die Germania kurz erwähnt, daß „die Forderungen des Zentrums auf kulturellem und religiösem Gebiet berücksichtigt werden sollen, vor allem soweit sie die konfessionelle Schule" beträfen127. Als der Unterrichtsausschuß der Preußischen Landesversammlung erstmals den „Gesetzentwurf betr. Aufhebung der geistlichen Ortsschulaufsicht" beriet, unterstrich die Germania, daß das Zentrum einer staatlichen Fachaufsicht nur zustimmen könne, „wenn der bisher durch die geistliche Ortsaufsicht verbürgte Einfluß der Kirche auf die Schule in anderer Weise genügend sichergestellt würde"128. Als „vaterländische Pflicht" verstanden Zentrum und Germania ihren Widerstand gegen das staatliche Schulmonopol und forderten neben der Zulassung von (konfessionellen) Privatschulen, daß „die Schule als höchstes Bildungsziel* anerkennen müsse, „was die Kirche als höchstes Lebensziel" verkünde. Das sei aber nur möglich, „wenn Lehrer und Schüler das Band des gleichen Glaubens" umschlinge; damit war jüdischen Lehrern jeglicher Unterricht an Konfessionsschulen verwehrt. Da das Judentum keine Nation sei, sprach die Germania sich — in Anlehnung an den Vatikan — gegen die Schaffung eines jüdischen Nationalstaates in Palästina aus: „Die Juden wollen überall zu Hause sein", meinte das Blatt, „wozu brauchen sie dann noch einen Nationalstaat? Dann müßte man auch zur Gründung katholischer und protestantischer Nationalstaaten übergehen. [...] Man fragt sich, wie es möglich ist, daß ein christlich sein wollendes England eine solche Palästinapolitik treibt"129. Warum die Germania als einzige der hier zur Diskussion stehenden Tageszeitungen erwähnte, daß bei Lebensmittelkrawallen im Berliner Wedding ein Mann vor dem Kaufhaus Moses „antisemitisch aufreizende Reden" hielt, bleibt unerfindlich. Auf alle Fälle war diese

127

Morgenausgabe vom 22. Juni 1919. Hinter dieser unscheinbaren Notiz verbarg sich die für das Zentrum so wichtige Konzession der SPD, die Zulässigkeit konfessioneller Schulen in der Verfassung zu verankern (vgl. Morsey: Zentrumspartei, S. 11 Off.; Morsey betont, daß die strikt antiklerikale Kulturpolitik Preußens unter Adolf Hoffmann die „Los-von-Berlin-Bestrebungen" des Rheinlands und Westfalens nachhaltig gefördert habe). 128 Abendausgabe vom 4. Juli 1919. 129 Abendausgabe vom 5. Juli 1919.

Die Germania

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Agitation nicht folgenlos, denn „junge Burschen und Frauen" verstanden diese Rede als „Signal" zur Plünderung des Kaufhauses130.

130

Abendausgabe vom 25. Juni 1919.

VI Die Frankfurter Zeitung Stärker als andere Zeitungen vom Taktieren der demokratischen Fraktion in der Nationalversammlung enttäuscht und ausgesprochen reserviert gegenüber den konservativen Strömungen im Zentrum, sah die Frankfurter Zeitung im Frühsommer 1919 ihre gesellschafts-, aber auch ihre wirtschaftspolitischen Vorstellungen vor allem von der SPD vertreten. Fast resigniert verfolgte das linksliberale Blatt die politische Entwicklung. Stand zunächst die Frage im Mittelpunkt, unter welchen Bedingungen der Vertrag unterzeichnet werden könnte, so verdrängte der Eisenbahnerstreik die Vertragsproblematik sehr schnell aus den Schlagzeilen. Antisemitismus thematisierte das Blatt während dieser Erhebungsphase kaum131.

1. Die erzwungene Unterschrift Die Entscheidung der DDP, dem Vertrag nur unter Bedingungen zuzustimmen, die nach Ansicht der Frankfurter Zeitung „im Augenblick sicherlich nicht durchsetzbar sind", bedauerte das Blatt „im Hinblick auf die künftige innerpolitische Entwicklung [...] aufs tiefste", denn die sich anbahnende Koalition von SPD und Zentrum sei „gewiß nicht die Regierung, die wir uns für das neue Deutschland [...] gewünscht hatten". Zwar scheine „vor allem die Sozialdemokratie gegen eine solche einseitige Gruppierung schwere Bedenken" zu haben, doch was könne getan

131

Entsprechende Meldungen bezogen sich auf die Pogrome in Osteuropa (Abendblatt vom 26. Juni 1919), auf die „von der gegenwärtigen polnischen Regierung bekundete antisemitische Politik" und den von der Entente vertraglich durchgesetzten „Schutz der Israeliten" in Polen (vgl. das [einzige] Morgenblatt vom 30. Juni 1919). Zur Internierung sämtlicher „deutschen Rechtsanwälte jüdischer Konfession" in Posen vgl. das zweite Morgenblatt vom 1. Juli 1919.

Die Frankfu rter Zeitung

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werden, „wenn die Demokratische Partei sich selbst ausschaltet?"132. Wichtig sei, daß „in dieser entsetzlichen äußeren Lage" überhaupt ein Kabinett gebildet werde, denn sonst wäre Deutschland „im Innern ohne Regierung, ohne Führung, in völliger politischer Auflösung; das Chaos, das als Folge einer Ablehnung [...] früher oder später in jedem Fall käme, wäre dann von vornherein da". Jetzt handele es sich aber darum, „Deutschland vor dem völligen Untergange zu retten. Das einzige Mittel dazu ist die Unterzeichnung des uns gewaltsam aufgezwungenen Friedens. Seine Bedingungen sind fürchterlich, sie sind unerträglich und undurchführbar. Das wird auch die Welt einsehen, wenn der Rausch, der unsere Gegner jetzt umfangen hält, verfliegt"133. An die DNVP und DVP, die in einer gemeinsamen Erklärung die Annahme als „eine nationale Schmach" bezeichnet hatten, richtete die Frankfurter Zeitung die verzweifelte Frage: „Was soll denn geschehen, um nach einer Ablehnung des Ultimatums den Umschwung bei den Alliierten zu unseren Gunsten herbeizuführen?" Überzeugt, daß der Vertrag zwangsläufig revidiert werden würde, plädierte die Frankfurter Zeitung für die Unterzeichnung: „Wären wir nicht so felsenfest davon überzeugt, daß dieser Friedens vertrag in nicht allzu ferner Zeit wieder abgeändert werden wird, so würde uns der Entschluß, die Unterzeichnung trotz aller schwerwiegenden moralischen und überaus ernsten wirtschaftlichen Bedenken mit schärfsten Worten von der Regierung zu fordern, noch viel schwerer fallen, ja unmöglich sein"134.

132

Erstes Morgenblatt vom 20. Juni 1919. Eine Erklärung für die stereotype Kritik der Frankfurter Zeitung an der „Selbstausschaltung" der DDP brachte das Abendblatt vom 1. Juli 1919: „Im Kabinett fehlt [...] diejenige Partei, die die natürliche Vermittlerin zwischen den von links bedrängten Sozialdemokraten und dem gerade in Verfassungsfragen stark nach rechts neigenden Zentrum [...] hätte sein müssen". 133 Über die wirtschaftlichen Folgen einer Unterzeichnung diskutierte in Berlin ein Sachverständigenrat, dem 200 Mitglieder der „verschiedenen Interessengruppen" angehörten. Deren Bericht, den die Frankfurter Zeitung aus dem Berliner Tageblatt zitierte, kam zu dem Ergebnis, „daß Deutschland bei Unterzeichnung des Friedensvertrages aufhören werde, ein Industriestaat zu sein". Dazu meinte die Frankfurter Zeitung, dieses Argument könne „natürlich auch für das Unterzeichnen benutzt werden f...]; denn die Einsicht, daß der Vertrag auch die außerdeutsche Welt letzten Endes wirtschaftlich schädigt, wird [...] unsere jetzigen Gegner zur Revision treiben" (erstes Morgenblatt vom 20. Juni 1919). 134 Abendblatt vom 21. Juni 1919.

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77. Der Versailler Vertrag

Konnte die Frankfurter Zeitung nach Bildung des Kabinetts Bauer endlich „Die Lösung der Krise" melden135, so traten unmittelbar danach neue Befürchtungen auf, als auch die Regierung Bauer darüber nachdachte, ob sie „eine Revision des Vertrags in denjenigen Punkten, die dem deutschen Volk moralisch am nächsten liegen, zur Bedingung für die Unterzeichnung machen soll"136. Da die Alliierten die bedingungslose Annahme auch militärisch erzwingen könnten, warnte das Blatt inständig: „Die Punkte, um die es sich handelt, sind gewiß besonders ekelhaft, aber auch da gilt: [...] Das Kabinett darf auf keinen Fall sich der Gefahr aussetzen, daß die Unterzeichnung an solchen willkürlich herausgerissenen Punkten scheitert. [...] — Lassen wir doch endlich die 'Diplomatie' beiseite, es gibt ja doch nur einen Ausweg: die Unbedingtheit und der Glaube an die Zukunft"137.

2. „Die Agitation der Reaktionäre"1™ Es sei offensichtlich, meinte die Frankfurter Zeitung, daß eine große Anzahl der „politisch urteilsfähigen Personen, die [...] auf die Nichtunterzeichnung offen schwören, vertraulich doch kein Hehl daraus machen, daß sie vollkommen einsehen, daß unter den vorliegenden Verhältnissen die Unterzeichnung ein Akt der Klugheit sei" und von „wahrer Vaterlandsliebe" zeuge. Doch diese Einsicht hindere die Presseorgane „der Konservativen, der alldeutschen und der mittelparteilichen Richtung, die durch ihre Eroberungssucht zur Kriegsverlängerung" und damit zum deutschen Unheil „so viel beigetragen haben", nicht, „die ge-

135

Überschrift des Leitartikels im ersten Morgenblatt vom 22. Juni 1919. Ebd. Von der Entente erwartete die Frankfurter Zeitung keinerlei Konzessionen: „Wir hätten es vorgezogen, wenn sich die Regierung darauf beschränkt hätte, kundzugeben, daß sie der Gewalt weicht", kommentierte das Blatt den — umgehend zurückgewiesenen — Versuch der Reichsregierung, die Alliierten zum Einlenken bei den „Ehrenpunkten" zu bewegen (vgl. das Abendblatt vom 23. Juni 1919). 137 Erstes Morgenblatt vom 22. Juni 1919. Glauben an die Zukunft und Vertrauen auf Vernunft waren charakteristisch für die Frankfurter Zeitung: „Deutschland kann nicht anders, als blind das abenteuerlichste Dokument der Weltgeschichte zu unterzeichnen. An seiner Ungeheuerlichkeit wird der Vertrag dereinst zugrunde gehen. Nicht durch die Gewalt des Schwertes, sondern durch die Einsicht der erwachenden Völker" (Abendblatt vom 23. Juni 1919). 138 So eine Artikelüberschrift im zweiten Morgenblatt vom 22. Juni 1919. 136

Die Frankfurter Zeitung

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genwärtige Situation [zu] benutzen, um sich als die einzig wahren Patrioten und die Hüter der deutschen Ehre hinzustellen. War es [...] schon seit der Revolution das Bemühen dieser Parteien, Deutschlands Zusammenbruch nicht als unmittelbare Folge seines militärischen Unterliegens, sondern der Revolution hinzustellen, so sind sie jetzt in sehr dreister Weise bemüht, für diesen Gewaltfrieden [...] diejenigen verantwortlich zu machen, die diesen Frieden, [...] um schlimmeres zu verhüten, unter Protest abschließen werden"139. Obwohl in sozialdemokratischen Blättern wie dem Vorwärts und der Freiheit stets die Rede davon war, „daß diese Kreise eine Gegenrevolution zum mindesten wünschen", glaubte die Frankfurter Zeitung zunächst nicht an eine konkrete Gefahr: „Man ist auf der reaktionären Seite kühn in zweideutigen Worten, aber man denkt nicht an gegenrevolutionäre Taten. Die aufpeitschenden Aufrufe [...] sind deklamatorisch und vielleicht gar nicht unwirksame Mittel der politischen Agitation". Es sei „ein altes Rezept, weitgehende Unzufriedenheit, und in diesem Falle kann man sagen: Verzweiflung, gegen den politischen Gegner zu lenken"140. Trotz ihres eindeutigen Votums für eine Unterzeichnung wollte die Frankfurter Zeitung diejenigen nicht verurteilen, die den Vertrag ablehnten, denn „es waren ja nicht nur Träger der reaktionären Opposition, die sich gegen die Unterwerfung sträubten, sondern unter ihnen sahen wir Männer, die in der Bekämpfung des Militarismus und der Reaktion stets vorbildlich gewesen sind"141. Pessimistisch hinsichtlich der Fähigkeit und Bereitschaft der Rechtsparteien, die Notwendigkeit einer Unterzeichnung einzusehen, fürchtete die Frankfurter Zeitung, daß nach der deutschen Unterschrift „die Zahl derer, die die Unterzeichnung als ein nationales Unglück bezeichnen", sicherlich nicht abnehmen werde142. Als es in der Reichswehr „stark zu gären begann"143, sprach

139

Ebd. Im Abendblatt vom 27. Juni 1919 wies die Frankfurter Zeitung darauf hin, daß eigentlich Ludendorff den Vertrag unterzeichnen müßte. 140 Zweites Morgenblatt vom 22. Juni 1919. 141 Abendblatt vom 24. Juni 1919. Hatten die Münchner Neuesten Nachrichten insbesondere bei den Deutschnationalen „ehrenwerte Motive" für die Ablehnung gesehen, so zeigte die Frankfurter Zeitung ein politisch entgegengesetztes Spektrum auf, als sie den Pazifisten Quidde zu den Personen zählte, deren ablehnende Haltung zu respektieren sei. 142 Ebd. Im (einzigen) Morgenblatt vom 30. Juni 1919 sah die Frankfurter Zeitung ihren diesbezüglichen Pessimismus bestätigt: „Die rechtsstehenden Blätter, die offenbar

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//. Der Versailler Vertrag

selbst die Frankfurter Zeitung den Offizieren Dank und Anerkennung aus, die ihren Dienst auch nach Hindenburgs Rücktritt weiter ausübten144. Wie gereizt die Stimmung an der deutsch-polnischen Grenze war, veranschaulicht eine Meldung über eine Zusammenkunft aller „Vertrauensleute der um Bromberg liegenden Fronttruppen mit ihren Kommandeuren", die das Blatt aus der in Bromberg erscheinenden Ostdeutschen Rundschau zitierte: Mit „heiligem Ernst" seien „die Männer der deutschen Ostfront" aufgetreten und hätten ihrem „unbeugsamen Willen Ausdruck" gegeben, „daß sie nie und nimmer die Waffen niederlegen und die Ostmark kampflos räumen würden"145.

3. Konterrevolution und Aufstandsversuche Als „die Presse der Rechten und einzelne mittelparteiliche Organe" mit dem Ruf „Aus dem Osten bricht der Freiheit Licht" dem zum militärischen Vorgehen gegen die Reichsregierung bereiten General Hoffmann zujubelten, meinte die Frankfurter Zeitung: „Was vorauszusehen war und vorausgesagt worden ist, daß nämlich die gegenrevolutionären alldeutschen Elemente den tiefen Schmerz, den die erzwungene Unterzeichnung mörderischer Friedensbedingungen in allen deutschen Herzen erzeugte, benutzen würden, um ihre Schuld an Deutschlands Un-

auf Verabredung" am 28. Juni, dem Tag der Unterzeichnung, mit Trauerrand erschienen waren, brachten „Haß- und Racheaufrufe". 143 Zweites Morgenblatt vom 25. Juni 1919. 144 Im Abendblatt vom 26. Juni 1919 würdigte die Frankfurter Zeitung Hindenburg als „Symbol eines kraftvollen [...] deutschen Siegeswillens [...], dessen reines Wollen über allem Zweifel hoch erhaben" sei. Aber, so betonte das Blatt, es sei „einwandfrei festgestellt, daß die Bitte um Waffenstillstand [...] von der Obersten Heeresleitung der widerspenstigen Regierung aufgezwungen worden ist und daß Hindenburg selbst im allergünstigsten Fall mit einem restlosen physischen Zusammenbruch der Armee im Frühjahr 1919 [...] rechnete". 145 Zitiert nach dem ersten Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 27. Juni 1919. Der Osten insgesamt befinde sich „in einer ganz fürchterlichen Lage", meinte die Frankfurter Zeitung, denn der Vertrag liefere „große deutsche Landesteile" an Polen aus. Trotz der verständlichen Erregung in den Ostprovinzen, so hoffte das Blatt, werde es den Zivilbehörden gelingen, „die Einwohnerschaft davon zu überzeugen, daß sie Deutschland und damit sich selbst einen schlechten Dienst erwiesen, wenn sie jetzt blindlings und auf eigene Faust bewaffneten Widerstand leisteten".

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glück dadurch vergessen zu machen, daß sie die Verantwortung dafür der Regierung und den Parteien zuschieben, die in höchster Not des Vaterlandes den schweren Entschluß der Unterzeichnung als das politisch Richtige ihrem Gefühl abgerungen haben, das ist jetzt eingetreten"146. Da auch „von der äußersten Linken her kommunistische und spartakistische Putschversuche" wie in Hamburg drohten, müßte die Reichsregierung sich nun „gegen zwei Fronten" wehren147. Wenig später korrigierte das Blatt seine ersten Meldungen über die Hamburger Unruhen, denn es sei festgestellt worden, „daß die Vorgänge in Hamburg [...] unpolitischer Natur waren. Sie sind ganz spontan entstanden. Die Erbitterung der Arbeiterschaft über den immer schamloser sich gebärdenden Lebensmittelwucher und die seit langem [...] bestehende Unzufriedenheit [...] mit der Tätigkeit des Hamburger Kriegsversorgungsamtes hatte in den Arbeiterkreisen eine gefährliche Krisenstimmung erzeugt". Als sich die explosive Stimmung entlud, hätte sich „lichtscheues Gesindel [...] in den Besitz von Waffen" gebracht und sei „plündernd und brandschatzend durch die inneren Stadtteile" gezogen. Nichts beweise „besser den völlig unpolitischen Charakter der Unruhen als die Tatsache, daß in diesem kritischen Moment die drei sozialistischen Parteien in gemeinsamer Arbeit [...] die Unterdrückung der Unruhen in die Hand" nahmen148. Hatte die Frankfurter Zeitung das gemeinsame Vorgehen der

146

Vgl. den Leitartikel „Die neuen Umtriebe" im zweiten Morgenblatt vom 27. Juni 1919. 147 Zweites Morgenblatt vom 27. Juni 1919. Kommentarlos berichtete das Blatt, die Parteileitung der USPD habe der Reichsregierung ein Telegramm zu den Ereignissen in Hamburg geschickt, „in dem sie sich darauf beruft, daß die Arbeiter den Generalstreik nicht wollten, daß die Lebensmittelkrawalle nicht mit einer organisierten Arbeiterpartei in Verbindung ständen, daß der Aufruf zu Plünderungen von antisemitischer Seite ausgegangen sei". 148 Zweites Morgenblatt vom 28. Juni 1919. Die Berichterstattung der Frankfurter Zeitung über die Hamburger Unruhen enthielt manche Ungereimtheit. So meinte das Blatt z.B., ein Teil der einrückenden Reichswehrtruppen habe sich mit der Bevölkerung verbrüdert: „Den Einflüsterungen geschickter Agitatoren gelang es, einzelne [...] Abteilungen zur Abgabe der Waffen zu bewegen, die dann in die Alster geworfen wurden. Auf diese Weise wurden etwa 600 Mann entwaffnet, worauf die gesamten einmarschierten Streitkräfte [...] zurückgezogen wurden" (zweites Morgenblatt vom 27. Juni 1919). Wenn sich jedoch ein Trupp von 600 Reichswehrsoldaten entwaffnen läßt, dann reicht der Einfluß „geschickter Agitatoren" dafür kaum als Erklärung; im übrigen widerspricht die Darstellung fraternisierender Soldaten der Aussage von

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//. Der Versailler Vertrag

„drei sozialistischen Parteien" in Hamburg mit Genugtuung zur Kenntnis genommen, so zeigte sie beim Berliner Verkehrsstreik wieder ihre scharfe Ablehnung von KPD und USPD, als aus Regierungskreisen die Ansicht geäußert wurde, daß es sich hier um keine Lohnbewegung handele, sondern „daß die Berliner Streikbewegung politische Ziele verfolgt, das heißt: auf den Sturz der Regierung und ihre Ersetzung durch die Diktatur des Proletariats gerichtet ist"149. Als Reichsregierung und Preußische Staatsregierung die Lohnforderungen der streikenden Eisenbahner ablehnten und stattdessen rund 1,5 Milliarden Mark für die Subventionierung von Lebensmitteln bereitstellten, begrüßte die Frankfurter Zeitung diese Entscheidung150: Man wolle „es jetzt einmal mit dem entgegengesetzten Mittel versuchen; nicht die Löhne zu erhöhen, sondern die Preise zu senken". Falls das gelänge, hätten die Streikenden „ebenfalls erreicht, was sie wollten; denn ihnen kommt es ja nicht darauf an, immer größere Nominalbeträge von Papiergeld zu erhalten, mit denen man immer weniger kaufen kann, sondern für sie handelt es sich gerade darum, mit ihrem Einkommen möglichst gut ihre Bedürfnisse zu befriedigen". Sollte sich dieser Versuch bewähren, käme ihm „große allgemeinwirtschaftliche Bedeutung" zu, denn gerade diejenigen, „die sich nicht durch die Forderung von Lohnerhöhungen und Teuerungszulagen helfen können, [... wie der]

Schulze: Freikorps, S. 86, derzufolge das in Hamburg eingerückte Freikorps Lettow „so stark [war], daß kaum Widerstand geleistet wurde". 149 Vgl. das zweite Morgenblatt vom 2. Juli 1919. Ökonomisch mochte die Frankfurter Zeitung nicht unrecht haben, als sie meinte, die Erfahrung lehre, „daß jede Lohnbewegung in kurzem durch neue Preissteigerung [...] wettgemacht wird", aber bei den für höhere Löhne streikenden Verkehrsarbeitern wird sie auf wenig Verständnis gestoßen sein, als sie schrieb: „Und erst recht töricht sind solche Streiks, bei denen immer wieder vom Kampf gegen den Kapitalismus gesprochen wird, wenn sie die Existenz von Unternehmen gefährden, die dem kapitalistischen Einfluß entzogen sind, weil sie Besitz des Staates sind, ihre Überschüsse also der Allgemeinheit zu gute kommen, wie ihre Fehlbeträge von der Allgemeinheit gedeckt werden müssen" (ebd.). 150 Angeblich hätten die Lohnforderungen das Defizit der Reichsbahn von ca. vier Milliarden Mark nahezu verdoppelt. „Ob diese Milliarden [...] durch Tariferhöhungen einzubringen waren, mußte bezweifelt werden", meinte die Frankfurter Zeitung. Und selbst wenn es gelungen wäre, wäre „der fehlerhafte Kreislauf wieder da: Frachtverteuerung, also Warenpreiserhöhung, also verschärfte Teuerung, also neue Lohnforderungen, also — und so fort ad infmitum" (Abendblatt vom 28. Juni 1919).

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Mittelstand, die kleinen Rentner, die Witwen, Pensionäre usw." würden ebenfalls von niedrigeren Preisen profitieren151.

151

Ebd. Durch die Subventionierung und den Import von Lebensmitteln würden außerdem „die Schleichhandelspreise der inländischen Lebensmittel [...] unter einen scharfen Druck gesetzt werden [...] Diese Schleichhandelspreise", so erläuterte das Blatt, „sind ja unser Verhängnis. Weil die Bevölkerung von den Rationen nicht leben kann, besorgt sie sich die notwendige Ergänzung 'hinten herum'; und je größer [...] diese illegitime, aber eben durch die Not legitimierte Nachfrage ist, desto höher diese Schleichhandelspreise, desto größer auch der Anreiz für die Landwirte, ihre Erzeugnisse nicht für die reguläre Verteilung abzuliefern".

VII Der Vorwärts Wie fast alle anderen deutschen Zeitungen, so lehnte auch das SPDZentralorgan den Versailler Vertrag strikt ab. Heftig umstritten war in der Redaktion jedoch die Frage, ob Deutschland den „Schandvertrag" unterzeichnen solle oder nicht. Befürchtete der Vorwärts zunächst einen Rechtsputsch als Reaktion auf eine bedingungslose Unterschrift, so sah er sich durch die Hamburger Unruhen und die Streikwelle der Eisenbahner veranlaßt, „staatspolitische Aufklärung" nach links zu leisten. Entschieden wandte sich das Blatt im Juni 1919 gegen „die geradezu haarsträubenden antisemitischen Hetzereien".

L Kampf „gegen diesen Frieden" Noch am 18. Juni hatte der Vorwärts eine Volksabstimmung über die Annahme des Vertrags gefordert. Falls die Entente eine solche Abstimmung nicht zulassen sollte, sprach sich das Blatt für die Unterzeichnung aus. Einen Tag später aber erklärte Chefredakteur Friedrich Stampfer, „er halte die Unterzeichnung für eine moralische Katastrophe, die noch viel schlimmere Folgen haben werde als die Nichtunterzeichnung"152. Am 21. Juni beschwor Stampfer — bereits nach dem Rücktritt der Regierung Scheidemann und unter dem Druck des ablaufenden Ultimatums — erneut die Geschlossenheit aller politisch Verantwortlichen: „Ein Einmarsch der Entente, der nach einem festen Nein der Regierung

152

Vgl. die Ausgaben vom 18. und 19. Juni 1919, die hier nach der Morgenausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 21. Juni zitiert wurden. Stampfer unterschied sich mit seiner Auffassung nicht nur von der Mehrheit der SPD-Fraktion in der Nationalversammlung, sondern auch innerhalb der Vorwärts-Redaktion war seine Position nicht mehrheitsfähig. Zu seinem Rücktritt als Chefredakteur vgl. die Morgenausgabe des Vorwärts vom 22. Juni 1919.

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und der Nationalversammlung begonnen hätte, wäre zu ertragen gewesen. Ein Einmarsch, der erfolgt, weil in Deutschland das Chaos ausgebrochen ist, weil man hier nicht rechtzeitig zu einem unvermeidlich gewordenen Entschluß kommen kann, würde alle Nachteile einer offenen Ablehnung bringen, aber keinen ihrer Vorteile". Das Verhalten von DDP und Zentrum sei „geradezu entsetzlich", denn „sie versuchen noch immer, sich durch parlamentarische Kunststücke zwischen ja und nein hindurchzuwinden und suchen ein unmögliches [!] Kompromiß". Der SPD-Fraktion warf Stampfer vor, sie habe „sich die geschichtliche Führerrolle, die sie in dieser Zeit zu spielen berufen war, entgehen lassen"153. Als die Regierung Bauer, „das Kabinett der Unterzeichnung"154, gebildet war und der Protest in der Reichswehr gegen die Annahme des Vertrags wuchs, stieg nach Ansicht des Vorwärts die Gefahr einer Gegenrevolution155. „Aus den Spalten der nationalistischen Presse" heule „bereits das Schimpfwort vom 'Schandkabinett'". Der unausweichlich bevorstehende Kampf werde „ein Kampf um Leben und Tod der deutschen Freiheit sein. Unter diesem Gesichtspunkt begrüßen wir es besonders", meinte der Vorwärts, „in dem neuen Kabinett den Genossen Noske wiederzufinden [...] Wenn die Alldeutschen mit ihren wahnsinnigen Plänen Ernst machen, so wird er Gelegenheit haben, zu zeigen, daß all sein Tun, weswegen er von links angefeindet wird, doch nur dem einen Zwecke gedient hat: Dem Schutz der republikanischen Freiheit und der Demokratie, er wird beweisen, daß er der Mann ist, diese Errungenschaften gegen jeden Angriff zu verteidigen"156. Rational, aber im diametralen Gegensatz zu den nationalen Empfindlichkeiten der Rechten, beurteilte das Zentralorgan der SPD die Kontroverse um die „Kriegsschuld" und die geforderte Auslieferung der „Kriegsschuldigen". Falls an diesen „Ehrenpunkten" die Unterzeichnung scheitern sollte, dann wäre ein Verzicht auf diese Punkte „dringend zu wünschen", riet der Vorwärts157. Da man sowieso „wegen des ganzen Vertrages, seines Gesamtcharakters und Gesamtinhalts" bei

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Morgenausgabe vom 21. Juni 1919. So die Überschrift des Leitartikels in der Morgenausgabe vom 22. Juni 1919. 155 Vgl. den Kommentar in der Abendausgabe vom 21. Juni 1919: „Die drohende Sprache der alldeutschen Presse läßt kaum einen Zweifel darüber, daß für jene Kreise die Unterzeichnung des Friedens als das Signal der Gegenrevolution aufgefaßt wird". 156 Morgenausgabe vom 22. Juni 1919. 157 Morgenausgabe vom 23. Juni 1919. 154

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der Entente Protest eingelegt habe, laufe es auf „eine Abschwächung dieses Gesamtprotestes [hinaus], wenn man nun nochmal einzelne und dazu höchst unglücklich herausgesuchte Punkte zum Gegenstand eines qualifizierten Protestes macht. Selbst ein fanatischer Gegner der Unterzeichnung wie Theodor Wolff' habe im Berliner Tageblatt erklärt, „mancher werde der Meinung sein, daß schließlich die Preisgabe von sogenannten Schuldigen nicht mehr als die Preisgabe von Millionen deutscher Landeskinder die Ehre verletzt"158. Deutlicher als die SPD-Fraktion in der Nationalversammlung empfand die Mehrheit der Redaktionsmitglieder die Unterzeichnung als einen erpresserischen Akt159, dem jegliche Legitimation fehle160: „Auch zu der Erklärung der Fraktion möchten wir uns eine Einschränkung erlauben", hieß es in einer Stellungnahme der Redaktion. „ Wir werden es stets 158

Abendausgabe vom 23. Juni 1919. Während der Rechtspresse eine Preisgabe deutscher Interessen im Streit mit Polen unvorstellbar schien, war der Vorwärts wesentlich „pragmatischer": „Das furchtbare Los unserer Brüder im Osten verdient tiefstes Mitgefühl und stärkste Anteilnahme; aber dennoch geht es nicht an, daß drei Millionen in den Grenzgebieten den übrigen sechzig Millionen des Volkes das Schicksal vorschreiben und ihnen eine Politik aufzwingen, die diese drei Millionen nicht rettet, aber obendrein jene sechzig Millionen dauernd unglücklich macht" (Abendausgabe vom 24. Juni 1919). 159 Schwere Konflikte innerhalb der Redaktion löste Eduard Bernstein aus, als er in der Abendausgabe vom 4. Juli 1919 meinte, mit Polen wäre eine gütliche Einigung über den Grenzverlauf möglich gewesen. Dazu hieß es in einem Nachwort der Redaktion: „Wir geben im Interesse der freien Meinungsäußerung innerhalb der Partei den Ausführungen Eduard Bernsteins Raum, obwohl wir gegen ihren Inhalt den schärfsten Widerspruch erheben". Den nächsten Beitrag Bernsteins gab die Redaktion „unter dem gleichen, womöglich noch schärferen Vorbehalt [...] wieder, namentlich was die Ausführungen [...] über die angeblich nicht erdrückende Härte der Friedensbedingungen anbetrifft. [...] Da stände einem wirklich der Verstand still", so die Anmerkung der Redaktion, „wenn man nicht seit Kriegsausbruch von Eduard Bernstein wüßte, daß er gerade in den allerentscheidendsten politischen Fragen nach vier Wochen seinen Standpunkt verläßt mit dem Bemerken, sich leider geirrt zu haben. Uns scheint es nur, daß sich Bernstein immer beim zweiten Mal irrt" (Abendausgabe vom 5. Juli 1919). 160 Dazu die Abendausgabe vom 23. Juni 1919: „Wir unterzeichnen wie ein Mann, dem ein Erpresser mit vorgehaltenem Revolver einen Wechsel zur Unterschrift vorlegt. Es hat gar keinen Sinn für diesen Mann, sich erst davon zu überzeugen, ob dieser Wechsel über Millionen, Milliarden oder Trillionen lautet, wenn er weiß, daß er für die bescheidenste Einwendung gegen die Höhe der Erpressung über den Haufen geschossen wird".

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ablehnen, in diesem Frieden ein 'unbedingtes Gesetz, eine unerschütterliche Grundlage' einer neuen Völkergemeinschaft zu sehen. Im Gegenteil, in der Sekunde der Unterzeichnung beginnt für uns der Kampf gegen diesen Frieden, der Kampf mit allen Mitteln"161. Eine umgehende Revision des Vertrags sei absolut erforderlich: „Der erpresserische Zwang, unter dem die Zustimmung Deutschlands zu den Friedensbedingungen der Entente erfolgt ist, macht die deutsche Unterschrift von vornherein für die Entente wertlos. Nur so lange hat sie Bedeutung, als die Alliierten ungeschwächt die Macht ausüben können, die notwendig ist, um diese Mißgeburt der Friedensidee lebendig zu erhalten. [...] Wir werden zu keiner Sekunde vergessen, daß der sogenannte Friedens vertrag für uns nicht mehr ist, als ein Fetzen Papier, dem wir jede Achtung versagen. Wir werden nicht ruhen, bis dieses Schanddokument, das alle Begriffe von Ehre und Anstand [...] besudelt, vernichtet und zerrissen am Boden liegt". Zunächst sei nur wichtig, daß die Unterzeichnung „unter Wahrung aller Würde [erfolge]. Als ein Akt von formaler Gleichgültigkeit. Die ganze Verachtung, die Deutschland für den Schandvertrag empfindet, muß bei dieser Handlung zum Ausdruck kommen"162. Als „eine Verschwörung im Korps Lüttwitz" publik wurde163 und Teile der Reichswehr eine bedingungslose Unterschrift auch mit militärischem Widerstand gegen die Reichsregierung beantworten wollten, meinte der Vorwärts: „Reden wir offen: der Bärgerkrieg droht"164.

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Morgenausgabe vom 23. Juni 1919. Morgenausgabe vom 24. Juni 1919. 163 Schlagzeile der Abendausgabe vom 24. Juni 1919. 1M Morgenausgabe vom 25. Juni 1919. Zur genuin negativen Einstellung der Sozialdemokratie gegenüber der Reichswehr meint Peter-Christian Witt: Friedrich Ebert. Parteiführer, Reichskanzler, Volksbeauftragter, Reichspräsident. Bonn 1988, S. 143: „Halbherzige Bekenntnisse zum Republikanischen Führerbund als Keimzelle eines demokratischen Offizierskorps, ständige Angriffe auf Noske — damit auch indirekt auf Ebert als verfassungsmäßigen obersten Befehlshaber — und undifferenzierte Beschuldigungen gegen das gesamte Offizierskorps in der sozialdemokratischen Presse bildeten [...] keinen Ersatz für eine eigene Militärpolitik. Sie waren vielmehr geeignet, in einer Art von negativem Solidarisierungseffekt die antirepublikanische Stimmung im Offizierskorps noch zu verstärken". 162

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77. Der Versailler Vertrag

2. Für Demokratie und Gerechtigkeit Angesichts der anhaltenden Aufstandsbereitschaft von links und der gewachsenen Putschbereitschaft von rechts versuchte der Vorwärts zur Stabilisierung der politischen Verhältnisse beizutragen und unterstrich die positiven Aspekte einer Vertragsunterzeichnung: „Bereits die Tatsache der Annahme des Friedens hat stark auf die Schleichhandelspreise gedrückt", hieß es. Es sei „gar kein Zweifel, daß in wenigen Wochen, wenn die Grenzen sich öffnen, eine Menge bisher schmerzlich entbehrter Güter wieder Eingang nach Deutschland findet, wie wir das in den besetzten Gebieten schon deutlich sehen. Wir erwarten zwar nicht ein Ende, aber doch ein Nachlassen der Teuerung und der Arbeitslosigkeit"^'. An die Anhänger von KPD und USPD, die der Vorwärts gelegentlich als „Haufen rücksichtsloser Terroristen" bezeichnete, appellierte das Blatt: „Laßt der Demokratie Zeit sich auszuwirken! In absehbarer Zeit wird die Nationalversammlung dem ersten Reichstag der deutschen Republik weichen, der nach den Wünschen des Volkes zusammengesetzt sein soll166. Entspricht die Nationalversammlung nach fünfmonatigem Bestände nicht mehr der Volksmeinung, dann lautet die Parole nicht 'Beseitigung der Demokratie', sondern 'Neuwahl'. Laßt den staatlichen, den städtischen Parlamenten Zeit zur positiven Tätigkeit"167. Enttäuscht zeigte sich das Blatt vom „unsozialistischen Eisenbahnerstreik", der die Reichshauptstadt „unmittelbarer als je die feindliche Blockade mit der Hungerkatastrophe" bedrohe168. „Wenn schon jetzt

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Abendausgabe vom 24. Juni 1919. Hier täuschte sich der Vorwärts erheblich: Die Nationalversammlung löste sich nicht „in absehbarer Zeit" auf, sondern gerade die Sozialdemokratie war im Frühjahr 1920 strikt gegen die Auflösung der Nationalversammlung. Wenn schließlich doch noch Wahlen zum ersten Reichstag für Juni 1920 anberaumt wurden — mit einem für die Weimarer Koalitionsparteien katastrophalen Ergebnis —, dann war das in erster Linie ein Erfolg von Lüttwitz und Kapp (dazu ausführlicher das folgende Kapitel). 167 Morgenausgabe vom 25. Juni 1919. 168 Vgl. die Abendausgabe vom 27. Juni 1919: „Zu dieser Stunde aber — und das gilt noch für einige Monate, ist der Streik im Namen des Sozialismus nichts anderes als der Kampf für den Kapitalismus, so widersinnig das klingen mag". Mit Emphase fügte das Blatt hinzu: „Im Reichsernährungsministerium arbeitet ein Mann, der früher selbst Handarbeiter gewesen ist, fieberhaft, um die Nahrungsmitteleinfuhr dem deutschen Proletariat sicherzustellen. Inzwischen zerbricht man sich im Reichswirt166

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Plünderungen in Berlin nicht vermieden werden können, wenn in allen Großstädten Unruhen aufflackern, so kann man sich vorstellen, welche Zustände in dem Augenblick eintreten würden, in dem sich eine radikale Lebensmittelsperre der ganzen Bevölkerung fühlbar macht". Die SPD behaupte zwar nicht, „daß in Deutschland die sozialistische Republik schon erreicht sei", aber sie sehe „in der Nachahmung russischer Methoden kein Ideal. [...] Die soziale Krise kann nicht durch Machtproben gelöst werden, sondern nur durch Verständigung"1^. In diesem Sinne veröffentlichte der Vorwärts einen Aufruf zum „Umsturz in Hamburg" und warnte vor der Agitation von Kommunisten und Unabhängigen170. Als die Freiheit einen Bericht über die Hamburger Ereignisse mit „Arbeiterherrschaft in Hamburg" überschrieb, geriet das Zentralorgan der SPD in Rage: „Im Namen der klassenbewußten Arbeiterschaft protestieren wir dagegen, daß der in Hamburg augenblicklich bestehende Zustand zu einer 'Arbeiterherrschaft1 umgelogen wird". Die Reichsregierung, die inzwischen eine Reichsexekution gegen die Hansestadt angeordnet hatte, bestehe „fast ausschließlich aus Arbeitern [...] und aus Männern, die durch die Schule der klassenbewußten Arbeiterbewegung hindurchgegangen" seien. Diese Regierung wolle „gar nichts anderes, als daß in Hamburg die Demokratie wieder in ihre Rechte eingesetzt wird [...] Sie will die wirkliche demokratische Arbeiterschaft an Stelle der unabhängig-kommunistischen Parteidiktatur"171. Für den Vorwärts gab es keinen Zweifel, „daß die Plünderungen und Ausschreitungen, die in Hamburg, in Berlin [...] und in einigen anderen

schaftsministerium, geleitet von einem Mann des Proletarierstandes, den Kopf, um die Zahlungsmittel für die Einfuhr zu beschaffen. [...] Wenn je, so gilt jetzt die Parole: Durchhalten. [...] Was mit einer Fortsetzung dieses Treibens zerstört wird, kann kein unabhängiger und kein kommunistischer Sozialisateur je wieder gut machen". 169 Abendausgabe vom 25. Juni 1919. 170 In dem vom „Vorstand des Bezirksverbandes Groß-Berlin der SPD" unterzeichneten Aufruf hieß es: „Achtung! Arbeiter, Parteigenossen! Gegenwärtig wird von den Kommunisten und Unabhängigen wieder eifrig Stimmung für einen neuen Generalstreik gemacht. [...] Man will versuchen, unter der Maske wirtschaftlicher Kämpfe die Arbeiterschaft in einen politischen Streik hineinzutreiben. [...] Ein solcher Streik wäre geradezu ein Verbrechen an der deutschen Volkswirtschaft und damit auch an der Arbeiterschaft". 171 Abendausgabe vom 26. Juni 1919. „Laßt euch nicht provozieren", glossierte der Vorwärts die politische Maxime der USPD — „ach was! Es lebe der Bürgerkrieg, immer feste druff".

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II. Der Versailler Vertrag

Orten [...] stattgefunden haben, von gewissenlosen Drahtziehern vorbereitet wurden [...] Wir wissen ja", erinnerte der Vorwärts, „wie die Märzunruhen in Berlin entstanden sind. Damals begann es auch mit Plünderungen und wilden Pöbelexzessen". Heute gebe es „Elemente von links und solche von rechts, die an der Verwirrung der Massen ihr Süppchen kochen wollen. Wer von beiden Richtungen auch durchkommt, das Resultat wird der von allen gefürchtete Zusammenbruch im Innern, Bürgerkrieg und Verschärfung des Hungers sein"172. Am 28. Juni, dem Tag der Unterzeichnung, mahnte der SPD-Vorstand erneut vor putschistischen Aktionen von Unabhängigen und Kommunisten, die „letzten Endes nur der Reaktion" dienen könnten173.

3. Der „Jude" Kurt Eisner Unter der Überschrift „Um das Andenken eines Toten. Verleumdungsfeldzug gegen Eisner" druckte der Vorwärts eine Zuschrift des Rechtsbeistandes der Witwe von Kurt Eisner ab und warf damit ein Schlaglicht auf das Ausmaß antisemitischer Hetzereien: „Die häßlichen Gerüchte, welche das Andenken Kurt Eisners in den Staub ziehen, wachsen geradezu ins Ungemessene. Selbst 'Intellektuelle' beteiligen sich daran", klagte der Rechtsanwalt der Witwe Eisners. Als Beispiel führte er an, daß „in jüngster Zeit [...] auf den Gerichtsgängen" erzählt werde, Eisner hätte einmal „offen zugegeben, die erste Million habe er schon, jetzt komme die zweite"; außerdem hätte Frau Eisner „ein Anwesen um die 200.000 Mark gekauft. Wo solle denn das herkommen?"174 Als ein Kollege den Verbreitern der Gerüchte erklärte, „er werde diese Äußerungen behufs gerichtlicher Verfolgung und Klarstellung" dem Rechtsbeistand der Witwe Eisners „hinterbringen, drohten

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Morgenausgabe vom 27. Juni 1919. Vgl. die Morgenausgabe vom 28. Juni 1919. Der Aufruf umfaßte zwei Drittel der Titelseite und betonte, daß nur dort sozialisiert werden könne, „wo etwas zu sozialisieren ist". Als „Bonbon" für streikwillige Arbeiter lassen sich die beiden anderen Artikel des Titelblatts verstehen: „Billigere Lebensmittel?" und „Die Regierungsvorschläge über das Mitbestimmungsrecht". 174 Abendausgabe vom 30. Juni 1919. Von der Familie des Grafen Arco-Valley hatte Eisners erste Frau ein „Schmerzensgeld" in Höhe von 60.000 Mark erhalten (vgl. Angress: Juden im politischen Leben der Revolutionszeit, S. 249f., Anm. 474). 173

Der Vorwärts

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jene Herren mit der Inszenierung einer großen Judenhetze". Obwohl in der Zuschrift des Rechtsanwalts nur von mündlich kolportierten Gerüchten und Verleumdungen die Rede war, meinte der Vorwärts, „die Notwendigkeit, für einen Toten derartige Gemeinheiten zurückweisen zu müssen, kennzeichnet die Niederträchtigkeit der bürgerlichen Presse, die ihren politischen Kampf mit solchen Argumenten führt"175. Wenig später befaßte sich der Vorwärts mit den „geradezu haarsträubenden antisemitischen Hetzereien", die der „Ausschuß für Volksaufklärung" als Flugblatt verbreitet hatte176. Unter der Überschrift „Wie man Pogromstimmung macht" zitierte der Vorwärts aus diesem Pamphlet, das die Erschießung der Münchener Geiseln während der Räterepublik als „Deutschenpogrom" bezeichnete177: Der „'landfremde Jude'" habe „'Deutsche gegen Deutsche'" gehetzt, den „'Kommunismus zu seinen Zwecken mißbraucht'" und sei dabei, sich am deutschen „'Blut zu mästen'". Wo bleibe „'das Selbstbestimmungsrecht der Völker [...], wenn fremde Eindringlinge, die hier nur ungebetene Gäste sind, sich Herrschaft und Regierung über uns Deutsche anmaßen ???'" Es sei an der Zeit, meinte der Vorwärts, „daß der Reichswehrminister diesem gefährlichen Gesindel das Handwerk" lege178.

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Abendausgabe vom 30. Juni 1919. Abendausgabe vom 3. Juli 1919. 177 Zu den „Exzessen" der Linken während der Münchener Räterepublik vgl. die bei Hillmayr: Terror in Bayern, S. 72 zitierte Denkschrift der Münchener Polizeidirektion: „'Abgesehen von der Erschießung der Geiseln ist es in der Zeit der Räteregierung zu Mordtaten, zu Brandstiftung, zu Vergewaltigungen von Frauen, zu großen Lebensmittelgeschäftsplünderungen, zur allgemeinen Enteignung von Privatbesitz, nicht gekommen'". 178 Abendausgabe vom 3. Juli 1919. 176

Die Rote Fahne Statistisch betrachtet, erschienen 1919 weniger als zwei Ausgaben des Zentralorgans der KPD pro Woche179. Bereits nach dem blutigen „Januaraufstand" verboten180, glich die Rote Fahne im ersten Jahr nach Gründung der KPD weniger einer Zeitung, sondern hatte vielmehr den Charakter eines sporadischen Flugblatts, das die Politik der „Regierungssozialisten'' kompromißlos bekämpfte181. Die Verhandlungen in Versailles nahm die Rote Fahne nur am Rande zur Kenntnis182. Antisemitismus spielte in den untersuchten Ausgaben keine Rolle.

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Um bei den zahlreichen Verboten die publizistischen Aussagen der Roten Fahne skizzieren zu können, wurden alle Ausgaben zwischen dem 3. März und 14. Dezember 1919 analysiert. 180 Nachdem die Druckerei der Roten Fahne in der Nacht vom 9. zum 10. Januar 1919 von Reichswehrtruppen gestürmt worden war, gelang es Rosa Luxemburg und Karl Liebknecht, die Rote Fahne in Wilmersdorf herauszubringen. Nach ihrer Ermordung wurde das Zentralorgan der KPD vom 16. Januar bis zum 3. Februar verboten. Im Zuge der „Märzunruhen" wurde die Druckerei zerstört und das Blatt erneut verboten. Zwischen dem 11. April und 9. Mai erschien die Rote Fahne in Leipzig. Die nächste Nummer wurde erst am 12. Dezember 1919 in Berlin herausgegeben. 181 Vgl. die am 9. Mai 1919 als Flugblatt veröffentlichte Extraseite, mit der die Rote Fahne sich bis in den Dezember 1919 „verabschiedete": „Zum drittenmal muß die 'Rote Fahne' ihr Erscheinen einstellen. Das erstemal, im Januar, fielen ihre Begründer, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg, unter den Kolbenhieben der [...] EbertNoskes". Das zweitemal wurde das Blatt im März verboten, „damit der Weg frei werde für das große Massakre [...] Das drittemal wird die 'Rote Fahne' abgewürgt durch Noskes Papiersperre, nachdem sie, unter dem Schutz des Leipziger Proletariats, einem wohlgezählten viertel Dutzend sächsischer und preußischer Verbote getrotzt" hatte. 182 Am 6. Mai 1919 brachte das Blatt eine kleine Meldung über die Friedensverhandlungen und kritisierte das Auftreten der deutschen Delegation, der eine heroisierende Darstellung der sowjetischen Delegation unter Trotzkis Führung in Brest-Litowsk entgegengesetzt wurde. Unter der Balkenüberschrift „Das Theater von Versailles"

Die Rote Fahne

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Positionen der KPD In Noske, dem verhaßten Symbol für die Mehrheitssozialdemokratie, sah das Zentralorgan der KPD seinen Todfeind183. Der USPD begegnete die Rote Fahne mit verhaltenem Wohlwollen, wobei sich das Blatt allerdings konsequent gegen den rechten, „kompromißlerischen" Flügel der Unabhängigen aussprach184. Als die Spannungen innerhalb der USPD auf dem Parteitag im Dezember 1919 offen ausbrachen, nahm die Rote Fahne diesen Konflikt zwischen „Bonzen" und „Proletariern" mit Genugtuung zur Kenntnis: „Die revolutionäre Schicht in der USP ist so stark, daß das, was nötig ist, keine Spaltung ist. £5 ist lediglich ein Hinauswurf', meinte die Rote Fahne, die eine „taktisch und theoretisch gereinigte USP" für einen akzeptablen Bündnispartner hielt185. Vom historischen Determinismus ausgehend, hatte das Blatt kurz nach der Münchener Räterepublik auf einen längerfristigen Lern- und Reifeprozeß des Proletariats gesetzt und vor „putschistischen Aktionen", vor bewaffneten Teilaufständen und vor weiteren „Räteexperimenten" gewarnt186: „München begann so, wie all die militärischen Bewegungen, sei es in Berlin, sei es anderswo, begonnen haben! Nicht aus unseren Kreisen. Wir können warten und wir predigen das Warten. Nicht aus Lauheit und nicht aus Schlappheit. Nicht aus

(Titelseite vom 7. Mai 1919) brachte die Rote Fahne zu den Friedensverhandlungen nur die Bemerkung, daß die Bourgeoisie in Versailles „nichts vor und nichts hinter sich" hätte „als ihre eigene Erbärmlichkeit". 183 „Haushoch hat der 'Arbeiter' die Proletarierleichen in Deutschland geschichtet. [...] Das, was die Hindenburg und Ludendorff [...] zur Schande vor der Mit- und Nachwelt verbrochen haben in Belgien und Nordfrankreich und in Polen und in Finnland, der tausendfache Mord fremder Proletarier, das wiederholt ein Noske an den deutschen Arbeitern" (Rote Fahne vom 3. März 1919). 184 „Den Unabhängigen, die noch nach Kompromissen mit den Helden von München ausschauen, den ewigen Händlern und Unterhändlern sei gesagt: Wer über diesen blutigen Rubikon schreitet ins Lager der Scheidemänner, der ist geschieden vom revolutionären Proletariat, für immer" (Ausgabe vom 7. Mai 1919). 185 Ausgabe vom 14. Dezember 1919. 186 Die Auffassung der Roten Fahne vom geschichtlichen Determinismus trieb gelegentlich eigenartige Blüten: „Das Proletariat muß das Werk dieser [November-] Revolution vollenden. Es kann nicht niedergeschlagen werden durch Säbel und Kolben. Das Proletariat ist unüberwindlich: es braucht nichts anderes zu tun — als nichts zu tun" (Ausgabe vom 3. März 1919).

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//. Der Versailler Vertrag

Mangel an Mut und nicht aus Lust an der Faulheit tun wir so. [...] Wir müssen abwarten, bis die Massen geistig und organisatorisch zu dem Maße gewachsen sind, das die Aufgabe der Revolution erfordert"187. Die Niederlage der Räterepublik und die voranschreitende Gegenrevolution kommentierend, verwies das Blatt auf die geschichtliche Dialektik: „Das gewaltige Schauspiel der europäischen Revolution" könne „nicht gradlinig fortschreiten wie ein französisches klassisches Drama". Das „revolutionäre Schauspiel" sei „voller Verwicklungen, zeitweilig[er] Rückschläge, scheinbarer Wiederholungen derselben Erfahrungen, und es ist blutiger und opferreicher als alles, was die Geschichte bisher gesehen hat"188.

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Rote Fahne vom 4. Mai 1919. Während der Räterepublik hatte das Blatt diesen revolutionären Akt noch weit positiver beurteilt: „Die bayerische Räterepublik trat ans Tageslicht als Verlegenheitsprodukt einiger politischer Quacksalber, die sich in der Sackgasse verrannt hatten. Aber jetzt, wo die Kugel aus dem Lauf ist, geht sie ihren Gang nach dem ehernen Gesetz der Massenbewegung" (Rote Fahne vom 11. April 1919). 188 Rote Fahne vom 5. Mai 1919.

IX

„Erhebungsphase 1919": Zusammenfassung

Verglichen mit der Presseberichterstattung vom November 1918 war die Kritik an der Weimarer Republik im Sommer 1919 unüberhörbar, eine tiefgehende Polarisierung der Gesellschaft nicht zu übersehen. Obwohl alle hier untersuchten Blätter den Versailler Vertrag strikt ablehnten, wurde heftig darüber gestritten, welche Gründe für und welche gegen eine deutsche Unterschrift sprächen. Während vor allem Teile der linksorientierten Presse eine Unterzeichnung für ratsam hielten, tendierten insbesondere die Blätter der Rechten dazu, die Unterschrift zu verweigern, selbst wenn das einen Einmarsch der Entente nach sich ziehen sollte; allerdings war auch der Chefredakteur des Vorwärts bereit, einen Einmarsch der Alliierten hinzunehmen. Unabhängig von parteipolitischen Präferenzen kritisierte die Presse den Regierungsaustritt der DDP auf dem Höhepunkt der „Juni-Krise" ebenso einhellig, wie der USPD vorgeworfen wurde, sie habe durch ihr voreiliges „Ja" zum Versailler Vertrag den deutschen Verhandlungsspielraum unnötigerweise eingeengt. Neben der Auseinandersetzung um die deutsche Unterschrift zeichneten die Zeitungen mit ihren oft widersprüchlichen Meldungen über Streiks, Ausstände, Lebensmittelunruhen und Putschgerüchte ein düsteres Bild der politischen Lage. Die Presseberichte erwecken insgesamt den Eindruck, als seien die Repräsentanten der jungen Republik im Wissen um die Tragweite der ihnen abverlangten Entscheidungen überfordert gewesen. Ein gravierender Belastungsfaktor für die Entscheidungsfindung in der Nationalversammlung war das kaum kalkulierbare Verhalten der militärischen Führungsspitzen, die nach der bedingungslosen Annahme des Vertrags mit dem Gedanken an bewaffneten Widerstand spielten und im Juni 1919 unwiderruflich zur Republik auf Distanz gingen. Die aus den besetzten Gebieten des Rheinlandes nach Süddeutschland übergreifenden separatistischen Strömungen spielten — in den hier untersuchten Zeitungen — eine nur untergeordnete Rolle.

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//. Der Versailler Vertrag

1. Das Ereignis: Der Versailler Vertrag

Der Münchener Beobachter, nach seinem Selbstverständnis ein sozialistisches, aber radikal antibolschewistisches Blatt, sah im Versailler Vertrag das Werk von Juden und — auf Erzberger anspielend — Jesuiten, das auf die „wirtschaftliche Vernichtung" Deutschlands ziele: „Der Deutsche wird zu dem vom Ausland notdürftig ernährten und bezahlten Lohnsklaven", fürchtete das Blatt und fragte, ob „der Mann ohne Gewissen", Erzberger, den Mut aufbringen werde, „seine Unterschrift unter den 'Friedensvertrag' zu setzen". Während der Münchener Beobachter die zur Unterzeichnung bereiten Politiker, „deren 'Unannehmbar' und 'Unerfüllbar' vor Wochen ins ganze Reich mit hellem Klang hinausflog", als wortbrüchig kritisierte, würdigten die liberalen Münchner Neuesten Nachrichten „den heroischen Entschluß zur Unterzeichnung", denn das „seelisch noch mehr als körperlich zermürbte Volk" wäre unter einem feindlichen Einmarsch zerbrochen. Die Entente könne zwar die deutsche Unterschrift erzwingen, aber die „Gehirne nicht zwingen, das Unerfüllbare für erfüllbar zu halten". Der „Glaube an die Zukunft der Menschheit" bäume sich auf gegen diesen Vertrag, der den „Fluch der bösen Tat an sich" habe und dessen Unterzeichnung „der erste Schritt zu seiner Revision sein" müsse. An diejenigen, „die aus durchaus achtenswerten Gründen" die Unterzeichnung ablehnten, appellierten die Münchner Neuesten Nachrichten, „allen guten Willen, dessen sie fähig sind, an die Erfüllung des Vertrags" zu setzen. Beim deutschnationalen Lokal-Anzeiger verhallten diese Appelle ungehört. So einflußreiche Meinungsführer wie der Deutsche Offiziers-Bund oder die „Geistlichen von Groß-Berlin" wiesen im Lokal-Anzeiger die These von der alleinigen Kriegsschuld Deutschlands und die daraus abgeleitete Forderung nach Auslieferung der „Kriegsverbrecher" entschieden zurück. Das DNVPOrgan zog aus dem „Mordvertrag von Versailles [...] Recht und Pflicht" zu „einem schweigsamen, heiligen Haß nach außen" und wollte den „Stachel der Erniedrigung" den Kindern „schmerzhaft tief in die Seele pressen". Nicht nur die „Ehrenparagraphen" seien unannehmbar, sondern der Vertrag enthalte so viele unerfüllbare Bedingungen, daß die Alliierten jeden Tag die Möglichkeit hätten, „ihre schwarzen Horden auf Deutschland loszulassen". Eine Ablehnung der deutschen Unterschrift „in vollem Bewußtsein der Folgen" hätte nach Meinung des Lokal-Anzeigers „in der ganzen Welt einen ungeheueren moralischen Eindruck gemacht". Wie die DNVP, so wollte auch das Hugenberg-Blatt den

Zusammenfassung 1919

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22. Juni zum nationalen „Trauertag" machen, weil die Nationalversammlung sich an diesem Tag zur — damals nur bedingten — Unterschrift bereit erklärte. Im Ton gemäßigter, in der Sache aber ebenso entschieden, erklärte die BZ am Mittag, Deutschland wäre besser beraten gewesen, die Unterschrift zu verweigern. Die zwiespältigste Haltung zur Vertragsunterzeichnung hatte von den hier zur Diskussion stehenden Zeitungen die Germania, die sich bemühte, den Lesern das Lavieren des Zentrums zu erklären. Zunächst gingen Germania und Zentrum von einer „bedingten Unterzeichnung" unter Protest aus. Als die Entente aber jeden Vorbehalt ablehnte, sprach sich die Zentrumsfraktion mit großer Mehrheit gegen eine bedingungslose Unterzeichnung aus, weil „sämtliche kommandierenden Generäle der Reichswehr und Freiwilligenverbände" erklärt hätten, sie würden in diesem Fall ihre Kommandos niederlegen. Erst als gesichert schien, „daß die Generäle [...] auch weiterhin ihre Pflicht tun würden", habe sich das Zentrum für die bedingungslose Unterzeichnung entschieden, behauptete die Germania und stellte ihre Leser schon auf die scharfe Kritik ein, die von rechts zu erwarten sei. Einen Ausgleich mit den Rechtsparteien suchend, betonte das Blatt, die Unterzeichnung sei „durchaus keine Schmach, besonders nicht nach solchen Leistungen der äußeren und inneren Front". Im übrigen werde die Zeit „sicher mehr als ein Loch" in die harten Friedensbedingungen reißen, und auch die wirtschaftliche Lage werde sich bessern; dazu müßte allerdings „endlich einmal mit den wahnsinnigen Lohnforderungen Schluß gemacht werden". Die schwankende Haltung des Zentrums zur Vertragsunterzeichnung erklärt auch, warum die Frankfurter Zeitung erhebliche Bedenken gegen die am 21. Juni 1919 gebildete Regierung Bauer hatte. Nach der Unterzeichnung, so hoffte die Frankfurter Zeitung mit anderen demokratischen Blättern, werde auch bei der Entente die Einsicht wachsen, daß der Vertrag schnellstens revidiert werden müsse. Nur diese Gewißheit erlaube es dem Blatt, „trotz aller schwerwiegenden moralischen und überaus ernsten wirtschaftlichen Bedenken", die Regierung „mit schärfsten Worten" auch zur bedingungslosen Unterzeichnung aufzufordern. Weniger gradlinig verhielt sich der Vorwärts, dessen Redaktion Bernsteins Ausführungen zum Vertrag als verharmlosend zurückwies. Vor allem Stampfer hielt „die Unterzeichnung für eine moralische Katastrophe, die noch viel schlimmere Folgen haben werde als die Nichtunterzeichnung". Falls die Unterzeichnung jedoch an den „Ehrenpunkten" scheitern sollte, so die im rechten Lager kaum nachvollziehbare Auffassung des Vorwärts, müßte

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77. Der Versailler Vertrag

man eben auch die „Kriegsschuldthese" und die Forderung nach „Auslieferung der Kriegsverbrecher" akzeptieren. Da man gegen den gesamten Vertrag Protest eingelegt habe, wäre es eine Abschwächung dieses Protestes, „wenn man nun nochmal" gegen „einzelne und dazu höchst unglücklich herausgesuchte Punkte" protestieren wollte. Mit deutlicher Kritik an der SPD-Fraktion betonte die Redaktion, sie werde es im Gegensatz zur Fraktion „stets ablehnen", im Vertrag „ 'ein unbedingtes Gesetz, eine unerschütterliche Grundlage'" einer neuen Friedensordnung zu sehen. Der „erpresserische Zwang", unter dem die deutsche Unterschrift erfolgt sei, mache den Vertrag „von vornherein für die Entente wertlos". Der „sogenannte Friedensvertrag" sei nicht mehr „als ein Fetzen Papier", und man werde „nicht ruhen, [...] bis dieses Schanddokument [...] vernichtet und zerrissen am Boden liegt". Kaum aussagekräftige Bemerkungen zum Versailler Vertrag finden sich in der Roten Fahne: Das Blatt war zwischen dem 9. Mai und 12. Dezember 1919 verboten.

2. Republik und Rechtsradikalismus Mit eingängigen Propaganda-Formeln operierte der Münchener Beobachter gegen Republik und parlamentarische Demokratie, gegen die „kapitalistische Weltordnung", und präsentierte seinen Lesern eine Programmatik, die auf einen grundlegenden Umbau der gesellschaftlichen Ordnung nach den Prinzipien des „wahren", des „deutschen Sozialismus" zielte. Demgegenüber zeigten die Münchner Neuesten Nachrichten in ihrer gesamten Berichterstattung, daß sie auf dem Boden der Regierungskoalition von SPD, Zentrum und DDP standen, deren Regierungsaustritt das Blatt außerordentlich bedauerte. Eine klare Absage an Republik und Parlamentarismus erteilte der Lokal-Anzeiger: Der „Reichswagen" stehe buchstäblich vor dem Abgrund, und die „'Selbstregierung des Volkes1" könne ihn nicht mehr zurückhalten. Insbesondere mangele es im parlamentarischen System an der Selbstverantwortlichkeit der politischen Handlungsträger, „die einst Preußen und das Deutsche Reich zu Größe geführt" habe. Da Gold keine Farbe, sondern nur ein Metall sei, wäre auch die Einführung von „SchwarzRot-Gold" als Farben der neuen Reichsflagge von vornherein ein „Symbol der Lüge". Trotz seiner stereotypen Idealisierung des Kaiserreichs kritisierte der Lokal-Anzeiger, daß der preußische Teil Polens nicht energisch genug germanisiert worden sei. Von der im November

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1918 geäußerten Hoffnung des DNVP-Blatts, man werde mit der neuen Regierung auskommen können, war im Sommer 1919 nur noch wenig zu spüren. Ebenfalls auf Distanz zur Reichsregierung war die BZ gegangen, die 1918 Erzbergers Geschick bei den Waffenstillstandsverhandlungen noch ausdrücklich gelobt hatte, ihm jetzt aber eine zu große „Konzessionsbereitschaft" vorwarf und zu den „Ratlosen von Weimar" zählte. Die Germania rechtfertigte zwar die Regierungspolitik, aber zum „Erfüllungspolitiker" Erzberger hielt auch das Zentrums-Blatt Distanz; bedauerlich sei, daß die „nationalen Oppositionsparteien" zur Zusammenarbeit mit dem Zentrum auf „kulturellem Gebiet" nicht bereit waren. Demgegenüber wünschte die Frankfurter Zeitung keine Erweiterung der Koalition nach rechts, sondern vielmehr den baldigen Wiedereintritt der DDP in die Regierung. Da die „gegenrevolutionären alldeutschen Elemente" zum Sturm auf die Republik ansetzten und gleichzeitig „kommunistische und spartakistische Putschversuche" drohten, befand sich die Reichsregierung nach Ansicht der Frankfurter Zeitung in einer „besonders schwierigen Lage". Unbeirrt aller Attacken von rechts und links, warb das Blatt für die „soziale Republik". Den Angehörigen der Reichswehr, die — „entgegen ihrem innersten Fühlen" — auch nach Vertragsunterzeichnung ihren Dienst nicht quittierten, zollte das Blatt Lob und Dank. In ein ähnliches Hörn stieß der Vorwärts, der sein politisches Ziel im „Schutz der republikanischen Freiheit und der Demokratie" sah., als er meinte, das deutsche Volk sei „unbesiegt auf den Schlachtfeldern". Im vermeintlich bevorstehenden Entscheidungskampf gegen die „Alldeutschen" baute der Vorwärts insbesondere auf Noske, der die Errungenschaften der Republik „gegen jeden" erfolgreich verteidigen werde. Als die Unruhen in Hamburg und der Verkehrsstreik zu erheblichen innenpolitischen Spannungen führten, bat der Vorwärts die Aktivisten auf der Linken, sie möchten der Regierung Zeit zur „positiven Tätigkeit" geben. Falls die Zusammensetzung der Nationalversammlung „nicht mehr der Volksmeinung" entspreche, dann laute „die Parole nicht 'Beseitigung der Demokratie', sondern 'Neuwahl'", erklärte das SPD-Blatt. Bei den Anhängern der KPD dürfte diese Parole auf taube Ohren gestoßen sein, belegen doch die wenigen Ausgaben der Roten Fahne zwischen März und Dezember 1919, wie sehr die Kommunisten in der SPD und vor allem in Noske den „Henker der Revolution" sahen. Nach den Erfahrungen der Münchener Räterepublik warnte die Rote Fahne vor weiteren „Räteexperimenten".

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//. Der Versailler Vertrag

3. Antisemitismus und Judentum Offensiv bekannte sich der Münchener Beobachter im Sommer 1919 zum Antisemitismus, denn „wahrer Sozialismus" sei „ohnehin nichts anderes als [die] Lösung der Rassenfrage". Da es um die Bekämpfung des „jüdisch-materialistischen" Geistes gehe und nicht um die Verfolgung einzelner Menschen, sprach das Blatt sich zwar gegen „Judenhetze" aus, hielt aber „Antisemitismus" für eine geradezu christliche und sittliche Pflicht. Mit seiner Aufforderung, „wir müssen uns besinnen, daß wir vor Allem Deutsche sind und müssen wieder lernen, stolz darauf zu sein", brachte der Münchener Beobachter am Tag der Unterzeichnung des Versailler Vertrags deutlich zum Ausdruck, daß insbesondere die enttäuschten und sich vom westlichen Ausland gedemütigt fühlenden Sympathisanten und Anhänger der Rechtsparteien Zuflucht zu Parolen suchten, die in einer als trostlos empfundenen Lage suggerierten, jeder Angehörige der deutschen Nation besitze einen angeborenen Wert, den ihm keine Macht der Welt nehmen könne. Daß antisemitische Propaganda in Bayern einen besonders fruchtbaren Boden fand, machten die Münchner Neuesten Nachrichten deutlich: Die BVP übernahm einen Antrag der Bauernpartei, nach dem „israelitische Lehrer" nicht an christlichen Schulen beschäftigt werden sollten, um so den Unmut der Mitglieder abzubauen, die der BVP vorwarfen, sie habe sich kulturpolitisch zu sehr den Positionen von DDP und SPD genähert. Versteht man diesen Antrag als Ausdruck von latentem Antisemitismus, dann bleibt die Frage, warum die deutschen Zeitungen diesen Antisemitismus kaum thematisierten, wohl aber über antisemitische Ausschreitungen in Ungarn und Polen ausführlich berichteten. Auch der Berliner Lokal-Anzeiger scheint sich eine gewisse Zurückhaltung auferlegt zu haben, als er meinte, der „englische, amerikanische, französische Jude würde staunen", wenn er den „pogromlüsternen Radauantisemitismus" der Polen zu Gesicht bekäme. Spürbare Anteilnahme mit den Opfern der Pogrome in Osteuropa zeigte die BZ, die ausführlich auf die Trauer- und Protestveranstaltungen in Norwegen und England einging. In London habe, so die BZ, ein Trauerredner deutlich gemacht, daß die Juden in Polen vor allem verfolgt würden, weil sie sich weigerten, bolschewistisch zu werden. Völlig entgegengesetzt hatte die Germania im November 1918 die Pogrome gegen die polnischen Juden erklärt, als sie meinte, die polnische Bevölkerung gehe so massiv gegen die Juden vor, weil Juden überall als Träger des Bolschewismus aufträten. Im Unter-

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schied zu ihrer antijüdischen Polemik vom November 1918 war die Germania im Juni 1919 erheblich zurückhaltender, als sie sich gegen das staatliche Schulmonopol und gegen die Beschäftigung von Juden an „Konfessionsschulen" aussprach. Mit der Bemerkung, „junge Burschen und Frauen" hätten im Berliner Wedding „antisemitisch aufreizende Reden" als Signal zur Plünderung eines jüdischen Kaufhauses verstanden, deutete das Blatt an, daß Antisemitismus auch bei den landesweiten Lebensmittelunruhen eine Rolle spielte, und bestätigte damit die Auffassung der USPD, daß die Plünderungswelle von antisemitischen Kräften der Gegenrevolution gelenkt werde. Während die Frankfurter Zeitung sich nicht mit Antisemitismus auseinandersetzte, wies der Vorwärts die „antisemitischen Hetzereien" gegen Kurt Eisner zurück und befaßte sich in diesem Zusammenhang auch mit dem Antisemitismus des Schutz- und Trutzbundes. Dem Reichswehrminister empfahl das SPD-Blatt, „diesem gefährlichen Gesindel" möglichst bald das Handwerk zu legen. Die zur „Erhebungsphase 1919" herangezogenen Ausgaben der Roten Fahne enthielten keinerlei Hinweis auf die Einstellung des Zentralorgans der KPD zum Themenbereich „Antisemitismus und Judentum".

DRITTES KAPITEL

Der Putsch vom März 1920: Gescheiterte Wende?

EINFÜHRUNG: „ERHEBUNGSPHASE 1920"

Am 10. Januar 1920 trat der Versailler Vertrag in Kraft und gab dem Streit über „Gewaltfrieden" und „Erfüllungspolitik" neue Nahrung. Verhärtet waren die Fronten, nachdem Hindenburg am 18. November 1919 auch vor dem „Untersuchungsausschuß der Nationalversammlung über die Ursachen des deutschen Zusammenbruchs" die These von einem „Dolchstoß" in den Rücken des Heeres propagiert hatte1. Ziel des nationalistischen Hasses war vor allem Matthias Erzberger, „das eigentliche Scharnier der Koalition von Zentrum und SPD"2: Im Januar 1920

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„Als Hindenburg zu seiner Aussage nach Berlin kam, fanden Ovationen statt, die teilweise zu Demonstrationen gegen die Regierung und besonders gegen Erzberger wurden", erinnerte sich der damalige Reichswehrminister. Dem Vorwurf Scheidemanns, Noske habe zu allem Überfluß „eine Ehrenkompanie [...] aufmarschieren" lassen und vor der Wohnung Helfferichs, in der Hindenburg logierte, „zwei Ehrenposten" aufgestellt, entgegnete Noske: „Den Mann, der großen Volksmassen auch nach dem verlorenen Krieg der Heros blieb, respektvoll in Berlin zu empfangen, erschien mir als selbstverständlich" (Gustav Noske: Erlebtes aus Aufstieg und Niedergang einer Demokratie. Offenbach-Main 1947, S. 148f.). Ausgesprochen kritisch gegenüber dem Untersuchungsausschuß sind die Bemerkungen von Gurt Geyer (USPD): Gemeinsam mit Bethmann Hollweg und Helfferich habe er dem Ausschuß als Zuhörer beigewohnt und den Eindruck gewonnen, „daß die Parteien der Weimarer Koalition einen gänzlich aktionsunfähigen Leichnam darstellten und daß die weitere Entwicklung sich ohne sie und gegen sie abspielen werde. [...] Empört und angewidert, nicht durch die Frechheit der beiden kaiserlichen Militärs [Hindenburg und Ludendorff], sondern durch die Feigheit der Parlamentarier der Weimarer Koalition" verließ Geyer, der bereits in der Nationalversammlung „einige Erfahrungen mit der Rückgratlosigkeit und Feigheit demokratischer Abgeordneter gemacht" hatte, den Untersuchungsausschuß, als Ludendorff-Anhänger im Publikum jubelnd auf den von Hindenburg angesprochenen „Dolchstoß" reagierten (Die revolutionäre Illusion. Zur Geschichte der USPD. Erinnerungen von Gurt Geyer. Hg. von Wolfgang Benz und Hermann Graml. Stuttgart 1976, S. 135). 2 Kolb: Weimarer Republik, S. 38.

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///. Der Putsch vom März 1920

wurde das erste Attentat auf ihn verübt3. Weil ihm Helfferich eine „unsaubere Vermischung politischer Tätigkeit und eigener Geldinteressen" vorgeworfen hatte, strengte Erzberger gegen den DNVP-Führer einen Beleidigungsprozeß an, dessen Urteil jedoch in allen wesentlichen Punkten die Vorwürfe Helfferichs bestätigte; noch am selben Tag trat Erzberger, nun auch gerichtlich zum „Symbol republikanischer Korruption" gestempelt, von seinem Ministeramt zurück4. Neben diesem Sieg über das „System" konnten die Oppositionsparteien im März 1920 einen weiteren Erfolg verbuchen5: Nachdem die Nationalversammlung ihre Zustimmung zum Versailler Vertrag gegeben hatte und die Verfassung am 11. August 1919 in Kraft getreten war, hatte die Nationalversammlung die ihr gestellten Aufgaben erfüllt. Damit wäre der Weg frei gewesen zur Anberaumung der ersten Reichstagswahlen und der Neuwahl des Reichspräsidenten. Doch die Reichsregierung, der die DDP im Oktober 1919 wieder beigetreten war, verzögerte die Ausarbeitung der dafür erforderlichen Wahlgesetze „aus Furcht vor einem Rechtsruck, den sie durch eine weitere Konsolidierung der Republik vermeiden zu können hoffte"6. Aus dieser Verzögerungstaktik leitete die rechte und linke Opposition den Vorwurf ab, die „Mehrheitsparteien" würden vor der Einführung „wirklicher Demokratie" zurückschrecken, denn es sei nicht zu übersehen, daß die Zusammensetzung der Nationalversammlung überhaupt nicht mehr der Stimmung in der Bevölkerung entspreche7. In eine prekäre Lage gerieten die

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Dem 20jährigen Attentäter, Oltwig von Hirschfeld, billigte das Geschworenengericht „ideelle Motive" zu und verhängte lediglich eine ISmonatige Haftstrafe gegen ihn (dazu Epstein: Erzberger, S. 400ff.). 4 Vgl. Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, S. 95. Als der Prozeß beim Landgericht Berlin-Moabit eröffnet war, wurde „unter Beihilfe einiger Beamter des Berliner Finanzamtes" die persönliche Steuererklärung Erzbergers gestohlen und „am 22. Februar 1920 in den rechtsstehenden 'Hamburger Nachrichten'" veröffentlicht: „Erzberger, der, seitdem er Finanzminister war, die strengste Steuermoral gepredigt hatte, schien als Betrüger und Heuchler entlarvt" (Epstein: Erzberger, S. 409). 5 Daß restaurative Tendenzen auf dem Vormarsch waren, zeigt auch die Wiedereinführung der mit der Revolution abgeschafften Achselstücke im Heer (vgl. Garsten: Reichswehr und Politik, S. 86). 6 Schwabe: Der Weg der Republik, S. 96. 7 Die Reichsregierung rechtfertigte ihr Verhalten vor allem mit dem Hinweis, vor den ersten Wahlen zum Reichstag seien noch zahlreiche, bereits in Angriff genommene Gesetzesvorhaben zu erledigen.

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„Mehrheitsparteien", als DVP und DNVP Hindenburg als „überparteilichen Kandidaten aller vaterländisch und national eingestellten Kreise" am 6. März für das Amt des Reichspräsidenten ins Gespräch brachten; drei Tage später beantragten DNVP und DVP die Auflösung der Nationalversammlung zum 1. Mai 1920. Diesen Antrag konnten die Parteien der Regierungskoalition zwar gegen DNVP, DVP und USPD „niederstimmen", wie die Rote Fahne es nannte, doch weite Kreise der Öffentlichkeit sahen darin einen nicht akzeptablen Ausdruck egoistischer Parteiinteressen. Parallel zur Kampagne der Rechtsparteien für Hindenburg erhob vor allem die SPD Einwände gegen die direkte Wahl des Reichspräsidenten. Obwohl die Wahl des Präsidenten durch das Volk erst vor gut einem halben Jahr von der Nationalversammlung in der Verfassung verankert worden war, bemühte sich die „Weimarer Koalition" jetzt um den Nachweis, daß es „demokratischer" sei, den Reichspräsidenten vom Parlament wählen zu lassen. Auch dieser „Sinneswandel" mußte Opposition und Öffentlichkeit in der Überzeugung bestärken, den Regierungsparteien gehe es primär um den Erhalt ihrer Macht. In diesem spannungsreichen Umfeld8 putschten am 13. März General Lüttwitz, Korvettenkapitän Ehrhardt sowie der ostpreußische Generallandschaftsdirektor Kapp, der als führender Kopf der Nationalen Vereinigung galt9. Für die Öffentlichkeit kam dieser Putsch nicht völlig über8

Nach Ansicht der Reichsregierung kam die stärkste Bedrohung der Republik nach wie vor von links: Nachdem am 13. Januar 1920 bei einer USPD-Demonstration gegen das Betriebsrätegesetz vor dem Reichstag 42 Arbeiter erschossen worden waren, galt als sicher, daß sich die Unzufriedenheit der linken Arbeiterschaft spätestens nach der „Entmilitarisierung" des Rheinlands entladen würde, die bis zum 10. April 1920 abgeschlossen sein sollte. Zur „Mobilisierungskraft" des Streits um das Betriebsrätegesetz bei den Anhängern der Arbeiterräte von 1918/19 vgl. W. J. Mommsen: Die deutsche Revolution, S. 386ff. 9 Während nach Kolb: Weimarer Republik, S. 38 sich „seit Anfang Juli 1919 eine Gruppe von Rechtsextremisten um den General Ludendorff und Wolfgang Kapp" den gewaltsamen Sturz der Reichsregierung zum Ziel gesetzt hatte, führt Erger: Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 18 mehrere Belege an, nach denen Kapp bereits im November 1918 militärische Bündnispartner suchte, um „die Herrschaft der Arbeiterund Soldatenräte zu beseitigen". Treibende Kraft auf militärischer Seite war der Generalstabsoffizier der Garde-Kavallerie-Schützendivision, Hauptmann Pabst, der neben Oberst Bauer zu den Organisatoren der Nationalen Vereinigung zählte und bereits im Juli 1919 einen ersten Putschversuch unternommen hatte. Als Pabst seine Truppen damals nach Berlin marschieren ließ, konnte er nur noch von den „eiligst

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///. Der Putsch vom März 1920

raschend, obwohl insbesondere Noske alles tat, um diesen Eindruck zu erwecken10. Doch der seit der „Juni-Krise" 1919 schwelende Konflikt zwischen Lüttwitz und Noske hatte sich bereits dramatisch zugespitzt, als der Reichswehrminister, einer Anordnung der Interalliierten-MilitärKontroll-Kommission folgend, am 29. Februar 1920 die Auflösung der Marinebrigaden Ehrhardt und Loewenfeld anordnete. Schon am folgenden Tag erklärte Lüttwitz anläßlich einer Parade zur Feier des einjährigen Bestehens der rund 5.000 Mann starken Marinebrigade Ehrhardt öffentlich, er werde nicht dulden, daß „eine solche Kerntruppe in einer so gewitterschwülen Zeit zerschlagen wird"11. Damit hatte Lüttwitz sich in offenen Gegensatz zu Noske begeben und eine Position bezogen, von der es für ihn ohne Gesichtsverlust kein Zurück gab. Obwohl die Parteiführer von DNVP und DVP Lüttwitz von einem Putsch abrieten, blieb Lüttwitz auf Konfrontationskurs. Nachdem er am 6. und 7. März in Anwesenheit mehrerer Offiziere bei Noske massiv gegen die Auflösung der Marinebrigaden protestiert hatte, entband Noske den General am 10. März von der Kommandogewalt über die Marinebrigaden. Noch am selben Tag kam es zum endgültigen Bruch, als Lüttwitz in einer Unterredung mit dem Reichspräsidenten — an der auch Noske teilnahm — eine Reihe ultimativer Forderungen stellte, die Noske jedoch strikt ablehnte12. Da am Morgen des nächsten Tags noch kein Abschiedsgesuch

herbeigerufenen Generalen Lüttwitz und Maercker" an der weiteren Durchführung seiner Aktion gehindert werden (Wette: Noske, S. 510). Dieser erste Putschversuch von Pabst blieb nicht nur der deutschen Öffentlichkeit, sondern auch dem Reichswehrminister so gut wie unbekannt (ebd., S. 51 Iff.). 10 So schrieb der innerhalb der DNVP zur „nationalen Opposition" zählende Alexander von Freytagh-Loringhoven rückblickend, daß in Berlin „der bevorstehende Putsch schlechtweg Tagesgespräch" gewesen sei (zitiert nach Werner Liebe: Die Deutschnationale Volkspartei 1918—1924. Düsseldorf 1956, S. 149, Anm. 231). Erger: Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 131 betont, daß der konkrete Putschbeginn die meisten Mitglieder der vom Hauptmann Pabst geführten, seit Juni 1919 konspirativ tätigen Nationalen Vereinigung überrascht habe. 11 Zitiert nach Wette: Noske, S. 628. 12 Lüttwitz trug seine Forderungen „mit größter Heftigkeit und scharf" vor: „1. Sofortige Auflösung der Nationalversammlung und Neuwahlen zum Reichstage. 2. Die Einsetzung von Fachministern im Auswärtigen Amt, im Wirtschaft- und Finanzministerium. 3. Schaffung eines Oberbefehlshabers der gesamten Reichswehr in seiner Person und Absetzung Generals Reinhardt. 4. Zurücknahme der Auflösungsbefehle" (zitiert nach Erger: Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 121). Ebert sollte Reichspräsident, Noske Reichswehrminister bleiben.

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des Generals vorlag, beurlaubte Noske ihn und mahnte das Abschiedsgesuch an. Am Nachmittag des 12. März traf Lüttwitz sich mit dem Führer der 2. Marinebrigade, Ehrhardt13, um das weitere Vorgehen gegen die Reichsregierung zu besprechen14. Am Abend des 12. März informierte Noske, offensichtlich ohne seinen Konflikt mit Lüttwitz zu erwähnen, das Kabinett über Gerüchte, daß „die Marinebrigade in der kommenden Nacht das Regierungsviertel besetzen" wolle, und nannte Kapp als Führer des Putsches15: In diesem Putsch, initiiert und getragen von Lüttwitz, der Marinebrigade Ehrhardt und der strikt konservativen Nationalen Vereinigung, „wurde zum ersten Mal in praktischer Form das politische Potential einer Allianz zwischen radikalen Konservativen und völkischen Kräften demonstriert"16. Am frühen Morgen des 13. März, einen Tag nach der Urteilsverkündung im Erzberger-Prozeß, marschierte Lüttwitz mit der in Döberitz stationierten Marinebrigade nach Berlin und wiederholte seine ultimativen Forderungen. General Reinhardt hatte sich zwar als Chef der Heeresleitung für einen Einsatz der Reichswehr gegen die meuternde Marinebrigade ausgesprochen, doch Noske folgte der von der Mehrheit der Generale vorgebrachten Devise, „Truppe schießt nicht auf Truppe", um

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Die im Februar 1919 als Elitetruppe gegründete und in der Reichswehr hoch angesehene Marinebrigade Ehrhardt wurde schon im März 1919 gegen aufständische Arbeiter eingesetzt; Teile der Brigade kämpften anschließend im Baltikum (vgl. Krüger: Brigade Ehrhardt, S. l Iff. sowie Karl Brammer (Bearb.): Fünf Tage Militärdiktatur. Dokumente zur Gegenrevolution unter Verwendung amtlichen Materials. Berlin 1920, S. 8). 14 An dieser Besprechung nahm auch Kapp teil, der sich wahrscheinlich nur zufällig in Berlin aufhielt. — Während die traditionelle Bezeichnung „Kapp-Putsch" suggeriert, Kapp sei spiritus rector des Putsches gewesen, betont Erger: Kapp-LüttwitzPutsch, S. 13 die Rolle von Lüttwitz: Das „Unternehmen war ein Militärputsch und ist es bis zu seinem Scheitern geblieben. [... Deshalb] ist mindestens die Erweiterung 'Kapp-Lüttwitz-Putsch' notwendig". Die irreführende Bezeichnung „Kapp-Putsch" ist vermutlich auf Noske zurückzuführen, der allen Grund hatte, die Gefahr des von Lüttwitz ausgelösten Putsches herunterzuspielen und von seinen eigenen Versäumnissen abzulenken. Historisch korrekter wäre es wohl, vom „Lüttwitz-Putsch", vom „Militärputsch 1920" oder vom „Märzputsch 1920" zu sprechen. 15 Wette: Noske, S. 635. 16 Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 170. Zur Rolle Ludendorffs in diesem Putsch vgl. Bruno Thoss: Der Ludendorff-Kreis 1919—1923. München als Zentrum der mitteleuropäischen Gegenrevolution zwischen Revolution und Hitler-Putsch. München 1978, S. 55ff.

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///. Der Putsch vom März 1920

eine „mögliche Zerreißprobe der Reichswehr" zu vermeiden17. Dieser Auffassung schloß sich das Kabinett an, das um 4 Uhr früh zusammentrat und Verhandlungen mit Lüttwitz strikt ablehnte18: „Von der bewaffneten Macht im Stich gelassen, flohen Reichspräsident und Reichsregierung zunächst nach Dresden, später nach Stuttgart"19. Noch am selben Tag wurde in allen größeren deutschen Städten ein Aufruf zum Generalstreik bekannt, der von Ebert, den sozialdemokratischen Mitgliedern der Reichsregierung sowie dem ParteiVorsitzenden der SPD, Wels, unterzeichnet war20. Obwohl die Organisationen der Arbeiterbewegung sich auf keinen gemeinsamen Streikaufruf verständigen konnten21, sahen sich die Putschisten einer geschlossenen Streikfront und einer „abwartenden Haltung der Ministerialbürokratie" gegen-

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Bei dieser Entscheidung mag auch die Überlegung eine Rolle gespielt haben, daß es vielleicht gar nicht zur „Zerreißprobe" gekommen wäre, sondern daß der weit größere Teil der Reichswehrformationen sich Lüttwitz angeschlossen hätte. 18 Daraufhin ließ Reinhardt seine bereits in Stellung gebrachten Truppen abziehen und bat den Reichspräsidenten, ihn vom Dienst zu entheben (vgl. Wette: Noske, S. 641 sowie Huber: Verfassungsgeschichte, S. 58f.). Ebert beurlaubte Reinhardt und übertrug die „vorübergehende Wahrnehmung der Aufgaben des Chefs der Heeresleitung dem Chef des Truppenamts v. Seeckt" (ebd., S. 59). 19 Kolb: Weimarer Republik, S. 39. Da der Befehlshaber des sächsischen Wehrkreises IV, Generalmajor Maercker, der nach Dresden geflohenen Reichsregierung nicht die von Noske erwartete Loyalität entgegenbrachte, wurde noch am Abend des 13. März die sofortige Weiterreise nach Stuttgart beschlossen (vgl. Erger: KappLüttwitz-Putsch, S. 175). Bei den „Januarunruhen" 1919 hatte Noske Maercker, „der eine Vereidigung auf die Regierung zurückgewiesen hatte", zusammen mit Hauptmann Pabst als Erstem Generalstabsoffizier beim Kampf um das Vorwärts-Gebäude eingesetzt (H. Mommsen: Die verspielte Freiheit, S. 48f.). 20 Dieser (sozialdemokratische) Aufruf, ein „Dokument, das so ganz aus dem Rahmen der sonstigen Kundgebungen der 'Staatspartei der Republik' fällt" (Miller: Bürde der Macht, S. 380), löste insbesondere in der Reichswehr so starke Irritationen aus, daß die Reichsregierung „noch im Laufe des 13. März ihre Beteiligung an dem Aufruf" leugnete (Wette: Noske, S. 653). Schustereit: Linksliberalismus und Sozialdemokratie, S. 78 betont, daß die DDP nicht zum Generalstreik, sondern „als einzige politische Organisation innerhalb des gesamten deutschen Reichsgebiets zur Verteidigung der verfassungsmäßigen demokratischen Staatsordnung aufgerufen" habe. 21 „Es erschien ein gemeinsamer Aufruf des ADGB und der Arbeitsgemeinschaft der freien Angestelltenverbände (Afa) sowie je ein eigener Aufruf der USPD, der KPD und der linkssozialistisch orientierten Berliner Gewerkschaftsorganisation" (Erger: Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 197).

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über22. Während sich linksgerichtete Kräfte vor allem im Ruhrgebiet, in Sachsen und Thüringen bemühten, „den von den sozialdemokratischen Mitgliedern der Reichsregierung ausgerufenen Generalstreik zur proletarischen Revolution fortzutreiben"23, vollzog sich in Bayern ein zunächst wenig beachteter, politisch aber ausgesprochen folgenreicher Regierungswechsel24. Der Putsch von Lüttwitz war zwar nach fünf Tagen beendet, aber „daß der Putsch von keiner Seite 'niedergeschlagen' worden ist"25, daß es — vielleicht mit Ausnahme der DVP — „keine Sieger" gab26, zeigt ein kurzer Ausblick auf das Ende des Putsches27.

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Kolb: Weimarer Republik, S. 39. Vgl. hierzu auch Hermannjosef Schmahl: Disziplinarrecht und politische Betätigung der Beamten in der Weimarer Republik. Berlin 1977: „Die Berliner Ministerialbeamten wahrten beim Kapp-Lüttwitz-Putsch der Verfassung nicht primär deshalb die Treue, weil sie kurz zuvor einen entsprechenden Eid geleistet hatten, sondern weil das deutsche Bürgertum sich noch nicht völlig vom Schrecken der Novemberrevolution erholt hatte und das Unternehmen angesichts des Widerstands der streikenden Arbeiterschaft zum Scheitern verurteilt war" (S. 200). 23 Ernst Nolte: Die faschistischen Bewegungen. Die Krise des liberalen Systems und die Entwicklung der Faschismen. München 1966, S. 68f. 24 Der sozialdemokratische Ministerpräsident Hoffmann sah sich nach einer Intervention von Repräsentanten der bayerischen „Ordnungskräfte" — des Regierungspräsidenten von Oberbayern, Kahr, des Münchener Polizeipräsidenten Pöhner und des Forstrats Escherich als Leiter der 300.000 Mann starken Einwohnerwehren — beim militärischen Oberbefehlshaber Bayerns, General von Möhl, zum Rücktritt gezwungen. Mit dem Sturz Hoffmanns „hatten die bayerischen Einwohnerwehren [...] die Bühne der offiziellen bayerischen Politik" betreten (Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik, S. 273). Mitentscheidend für den Sturz der Regierung Hoffmann war die antimilitaristische Haltung der bayerischen Sozialdemokratie, die sich lange gegen die Aufstellung republikanischer Wehrverbände ausgesprochen hatte und angesichts der von den bayerischen „Ordnungskräften" repräsentierten Macht quasi kapitulierte (vgl. Thoss: Der Ludendorff-Kreis, S. 76ff.). 25 Erger: Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 300. Ähnlich äußert sich Curt Geyer, wenn er bemerkt, der Putsch sei „nicht vor der Gewalt des Generalstreiks zusammengebrochen, was heute noch die übliche Geschichtsiegende darstellt, sondern weil die Mehrheit der Generalität die Behauptung ihrer tatsächlichen Macht und das weitere Anwachsen ihrer Vormachtstellung den die weitere Entwicklung antizipierenden Zielsetzungen von Lüttwitz und Ehrhardt vorzog" (zitiert nach: Erinnerungen von Curt Geyer, S. 187f.). 26 Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 69. Dazu Erger: Kapp-Lüttwitz-Putsch, S. 222: „Die DVP kann mit ihrer klugen Politik des Ausgleichs als der eigentliche Sieger in diesem Putsch bezeichnet werden. [...] Mit außergewöhnlicher Initiative und politischer

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///. Der Putsch vom März 1920

Nachdem insbesondere Stresemann seinen politischen Einfluß auf Kapp und Lüttwitz genutzt hatte, um sie zum Einlenken zu bewegen, führten Verhandlungen zwischen Vertretern der „Gegenregierung" und Mitgliedern der Reichsregierung sowie verschiedenen Parteiführern am Abend des 16. März zu einem Durchbruch28: Schiffer, der die Reichsregierung vertrat, „beharrte zwar in der Form auf dem 'bedingungslosen Rücktritt' von Kapp und Lüttwitz; gleichzeitig aber erklärte er sich in der Sache zu einer Reihe von Zugeständnissen bereit. Das Ergebnis der Besprechung faßten die Beteiligten in einem Kompromiß zusammen, der den Rücktritt Kapps, die Niederlegung des Oberbefehls durch Lüttwitz und die Ernennung eines neuen Oberbefehlshabers durch die Reichsregierung vorsah, wohingegen der Vizekanzler die Selbstauflösung der Nationalversammlung innerhalb von vier Wochen, die baldige Volkswahl des Reichspräsidenten, die Umbildung des Reichskabinetts und den Beschluß eines Amnestiegesetzes zu empfehlen versprach"29. Nach dieser Zusicherung gab Kapp mit der öffentlichen Erklärung, „ihn leite dabei die Überzeugung, daß die 'Not des Vaterlands den Zusammenschluß Aller gegen die Gefahr des Bolschewismus verlange'", die vollziehende Gewalt am Vormittag des 17. März an den „Oberbefehlshaber" Lüttwitz zurück30. Lüttwitz beabsichtigte demgegenüber, erst

Wendigkeit hat diese Partei sich vor allen anderen um einen Ausgleich zwischen den beiden Regierungen bemüht". 27 Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 173— 197 bringt zahlreiche Details über die Verhandlungen zur Beilegung des Putsches. 28 Die in Stuttgart weilende Reichsregierung distanzierte sich öffentlich von diesen Verhandlungen, bei denen der gerade von Lüttwitz zum Major ernannte (Hauptmann) Pabst die Putschisten vertrat und Vizekanzler Schiffer als Sprecher der (alten) Regierung auftrat. An den Verhandlungen nahmen außerdem teil: „der Vorsitzende der DNVP Hergt, der preußische Ministerpräsident Hirsch (SPD), die Minister Südekum (SPD), Stegerwald (Ztr.) und Oeser (DDP), sowie der Polizeipräsident Ernst (SPD)" (Huber: Verfassungsgeschichte, S. 88). 29 Ebd. Mit diesen Konzessionen Schiffers waren die von Lüttwitz vor dem Putsch gestellten Forderung im wesentlichen erfüllt. 30 Zitiert nach ebd., S. 89. Der von Kapp geforderte „Zusammenschluß Aller gegen die Gefahr des Bolschewismus" war der Preis zur „friedlichen" Beilegung des Putsches, den die Regierung gerne zahlte, „um der Aufstände vor allem im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland Herr zu werden". Hier „setzte die Regierung [...] jene Truppen ein, die in den Tagen des Kapp-Lüttwitz-Putsches eine zumindest zwielichtig zu nennende Loyalität gegenüber Regierung und Staat an den Tag gelegt hatten. Dieser Einsatz [...] bildete sozusagen die Brücke, über welche die Reichswehr prak-

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nach der von Schiffer in Aussicht gestellten Regierungsumbildung zurückzutreten. Da Reichskanzler Bauer seinen Vizekanzler inzwischen aber ersucht hatte, „von allen weiteren Verhandlungen abzusehen", setzten die Parteiführer von DNVP, DVP, Zentrum, DDP und SPD einen „interfraktionellen Ausschuß mit dem Auftrag ein, die informellen Besprechungen mit Lüttwitz fortzusetzen"31. Am späten Nachmittag des 17. März begab Lüttwitz sich ins Reichsjustizministerium, um eine Verständigung mit den Regierungs- und Parteien Vertretern zu erzielen. Ergebnis dieser Unterredung, an der Schiffer und die Vertreter der SPD offiziell nicht teilnahmen32, war eine Bestätigung der Kapp bereits geleisteten Zusagen33. Da einige Offiziere ihren „Oberbefehlshaber" Lüttwitz während dieses Gesprächs jedoch zum Rücktritt drängten, um — angesichts der „Bedrohung von Links" — das Einvernehmen zwischen Reichswehr und Reichsregierung wiederherzustellen34, ließ Lüttwitz wenig später dem Vizekanzler sein „Abschiedsgesuch" überbringen, „der es sofort 'im Namen des Reichspräsidenten1 unter Bewilligung der gesetzlichen Pension annahm"35.

tisch unangetastet in die Nach-Kapp-Ära marschierte" (Kolb: Weimarer Republik, S. 40). 31 Huber: Verfassungsgeschichte, S. 90. 32 Die Verhandlungen hatten grotesk anmutende Züge: „Während Schiffer im Hintergrund blieb, ordnete er seinen Unterstaatssekretär Joel zu den Verhandlungen ab, die die Vorsitzenden der beiden Oppositionsparteien Hergt und Stresemann und die Vertreter der beiden Regierungsparteien Trimborn und Gothein mit Lüttwitz und Pabst führten. Die vier Vertreter der SPD Hirsch, Südekum, Göhre und Ernst nahmen währenddessen im Nebenraum Informationen entgegen, um sich durch aus dem Hintergrund übermittelte Rückäußerungen in den Gang der Verhandlungen einzuschalten" (ebd., S. 91). 33 Zu den zahlreichen Legenden, die sich um den — angeblich erfolgreich niedergeschlagenen — „Kapp-Lüttwitz-Putsch" ranken, dürfte auch die vielzitierte Flucht „von Kapp und Lüttwitz mit ihren engsten Mitarbeitern ins Ausland" zählen (hier zitiert nach Kolb: Weimarer Republik, S. 39): Zum Flughafen Tempelhof fuhr Kapp jedenfalls in offener Droschke, um von dort seine von „Offizieren der Berliner Sicherheitspolizei" organisierte „Flucht" mit dem Flugzeug nach Schweden fortzusetzen (Klaus Schönhoven: Reformismus und Radikalismus. Gespaltene Arbeiterbewegung im Weimarer Sozialstaat. München 1989, S. 37). 34 Vgl. Garsten: Reichswehr und Politik, S. 99. 35 Huber: Verfassungsgeschichte, S. 92. Die Reichsregierung zeigte sich auch den am Putsch beteiligten Mannschaften gegenüber großzügig: Die „Kapp-Regierung" hatte ihnen „eine Prämie von 50 Mark versprochen, die von der Regierung Bauer auch

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///. Der Putsch vom März 1920

Seit dem 13. März stand der Putsch im Zentrum der Berichterstattung aller Zeitungen — soweit sie nach Ausrufung des Generalstreiks und einem regional unterschiedlich verlaufenden Streik der Buchdrukker erscheinen konnten36. Vor dem Putsch befaßten sich die Zeitungen hauptsächlich mit dem „Erzberger-Prozeß", dem Streit um die Auflösung der Nationalversammlung, der Anberaumung von Neuwahlen sowie der überraschend bekundeten Bereitschaft Hindenburgs, für das Amt des Reichspräsidenten zu kandidieren. Der wirtschaftlichen Verelendung nahm sich insbesondere die Frankfurter Zeitung an, die vom Frankfurter Streikkomitee als „lebenswichtiger Betrieb" eingestuft wurde und auch während des Generalstreiks erscheinen konnte. Ein bemerkenswertes Presse-Echo fand der im Berliner Lokal-Anzeiger veröffentlichte Vorschlag des Vorsitzenden des Berliner Wohnungsamts, Ostjuden als „lästige Ausländer" in Konzentrations- oder Sammellager zu verbringen.

richtig ausgezahlt wurde, was einen schneidigen Leutnant zu dem bekannt gewordenen begeisterten Ausruf veranlaßte: 'Für 50 Mark stürze ich jede Regierung, im Abonnement billiger'" (Schulze: Freikorps, S. 66). 36 Nach Ende des Buchdruckerstreiks kamen die Zeitungen zu unterschiedlichen Terminen wieder auf den Markt; zur Analyse herangezogen wurden jeweils alle Ausgaben der ersten Woche nach Wiedererscheinen.

Der Völkische Beobachter Zweimal pro Woche erscheinend, verzichtete das seit dem 9. August 1919 als Völkischer Beobachter17 herausgegebene Blatt fast vollständig auf eine aktuelle Berichterstattung und hatte den Charakter einer „Zweitzeitung", die durch und durch antisemitisch war38. Nach dem Putsch, dessen Ende Dietrich Eckart und Hitler nach einem Flug in die Reichshauptstadt miterlebten, forderte der Völkische Beobachter dezi-

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Vom Völkischen Beobachter wurden die Ausgaben zwischen dem 28. Februar und 6. April 1920 untersucht. Unmittelbar nach dem Putsch erschienen zwei Nummern als nur einseitiges Flugblatt. Seit dem 1. April 1920 erschien der Völkische Beobachter dreimal pro Woche. 38 Sexistische Untertöne der antisemitischen Propaganda des Völkischen Beobachters waren 1920 nicht zu überhören. Vgl. etwa den am 6. März veröffentlichten Brief, den der Student Karl Braßler an die Leitung der Münchener Universität gerichtet hatte: „Den hohen akademischen Behörden die nachstehenden furchtbaren Tatsachen zur Kenntnis zu geben, [...] hat mich ein sehr großer Teil der an der Münchener Universität studierenden deutschen Kommilitonen beauftragt. [...] Wir klagen [...] an: den Studierenden der Zahnheilkunde [...], daß er einem Christenmädchen die Ehre nahm und sie, als sie ihm ein Kind gebar, mit Geldabfindung laufen ließ. Wir klagen denselben Studenten an, daß er ein zweites Christenmädchen für seine wüsten Ausschweifungen mißbrauchte. Wir klagen denselben Studenten an, daß er ein drittes Christenmädchen, einer Krankenschwester und Tochter eines höheren bayerischen Offiziers, der Frauenehre beraubt hat und sie, als sie ihm ein Kind gebar, schmählich sitzen ließ". Wie Braßler betonte, sollte nicht nur auf diesen „einen angeführten Fall krassester Verseuchung deutschen Blutes" hingewiesen werden, sondern es unterläge „gar keinem Zweifel, daß hier in den Verbrechen des jüdischen Studenten keine 'Jugendstreiche [...]' zu suchen sind. Da ist System, gottverdammte Absicht, gemeines Wollen". Braßler, einer der heftigsten antisemitischen Agitatoren im Münchener Hochschulbereich, hatte Ende Sommersemester 1919 eine deutschvölkische Studentengruppe gegründet. Nach seiner Verhaftung wegen eines Erpressungsversuchs betätigte er sich seit 1922 als nationalsozialistischer Propagandaredner (Lohalm: Völkischer Radikalismus, S. 168f.).

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diert zu politischer Parteinahme auf. Emphatisch wurde die von Hindenburg signalisierte Bereitschaft begrüßt, das Amt des Reichspräsidenten zu übernehmen. Im Frühjahr 1920 berichtete das Blatt ausführlich über die NSDAP, wobei insbesondere Hitlers Propaganda Beachtung fand39.

1. „War Jesus ein Jude?"*

Zeigte der Völkische Beobachter bei seinen außenpolitischen Betrachtungen einen gewissen Realismus41, so offenbaren die in mehreren Folgen abgedruckten Beiträge zur Frage „War Jesus ein Jude?" den verstiegenen Dogmatismus der Völkischen42: Unmöglich könne „Jesus Christus [...] in der Gestalt eines Rassejuden auf Erden gewandelt sein", denn „zweifellos wählte sich der ewige Gott Vater und der Heilige Geist zur Menschwerdung des Sohnes nicht den Typus der Verworfenheit, den unreinen, unheiligen Judenleib, sondern den [am] höchsten entwickelten und reinsten, den schönsten und erhabensten; das war und ist bis heute der arisch-indogermanische Rassentypus". Im übrigen sei der in den Evangelien aufgeführte „Stammbaum des Gottessohnes [...] für Jesus völlig belanglos, da er nur seinen Pflegevater" Josef betreffe. Weil aber Jesus die Menschwerdung des Heiligen Geistes sei, könne höchstens die „Rassezugehörigkeit" von Maria etwas über Christus aussagen. Der Name „Maria" sei aber nicht jüdisch; es hätten „im jüdischen Staat

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Als Hitler z.B. am 4. März 1920 im großen Saal des Hofbräuhauses über „Die Wahrheit über den Gewaltfrieden von Brest-Litowsk und den Frieden der Versöhnung von Versailles" sprach, war, wie der Völkische Beobachter feststellte, die Versammlung „ungewöhnlich stark besucht, ein Beweis, daß die Bestrebungen der deutschen Arbeiterpartei immer mehr und mehr gewürdigt werden" (die Nomenklatur wechselte noch zwischen Nationalsozialistischer Deutscher Arbeiterpartei und [nur] Deutscher Arbeiterpartei). 40 Artikel-Überschrift in der Ausgabe vom 28. Februar 1920. 41 Das Blatt sah z.B. in Rußland einen möglichen Handelspartner und meinte, „nie und nimmer darf sich Deutschland aus Sorge vor der bolschewistischen Gefahr in einen Angriffskrieg gegen Rußland treiben lassen" (Ausgabe vom 28. Februar 1920). 42 Ähnlich abstrus war die Polemik „Noch einmal Professor Einstein" vom 13. März 1920. Der Verfasser, „phil. Karl Braßler", glaubte, den Nachweis führen zu können, daß Einstein nicht der Entdecker der „Raumzeitlichkeitstheorie (Relativitätstheorie)" sei.

Der Völkische Beohacbter

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[... ja auch] nicht-jüdische Rassen" gelebt43. Und um ganz sicher zu gehen, hieß es im letzten Beitrag dieser Reihe: „Ob Jesus Christus Jude oder Nichtjude war, ist an sich gleichgültig. Daß er aber auf Grund der angeführten Beweise weder rassisch noch geistig als Jude angesprochen werden darf, muß klar sein"44.

2. Gegen die Bevorzugung von Juden Mochte es sich bei der Frage nach dem „Stammbaum des Gottessohnes" eher um eine abstrakt-akademische Diskussion gehandelt haben, so war die Agitation gegen die Juden erheblich konkreter: „Hinaus mit den Fremdlingen!" lautete die rigorose Devise des Völkischen Beobachters^. Triumphierend meldete das Blatt, „gerade jene Stellen, die lange Zeit hindurch aufs schärfste gegen uns Stellung nahmen, sehen sich jetzt gezwungen, unseren Standpunkt zu teilen. [...] In Berlin hat vor kurzem der Herr Polizeipräsident, der Genösse Ernst, verschiedene Anordnungen getroffen, um den Augiasstall zu säubern"46. Aus einer amtlichen Erklärung des Berliner Polizeipräsidenten zitierte das völkische Organ: „Man braucht also gar nicht antisemitischen und antibolschewistischen Gründen nachzuspüren, die die Ausweisungsmaßnahmen angeblich begründen; der Selbsterhaltungstrieb des eigenen Volkes erfordert die Entfernung aller unnötig und verbotswidrig sich hier aufhaltender Fremdlinge"'. Durch diese „amtliche Rückendeckung" bestärkt,

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Am 10. März präzisierte der Völkische Beobachter: „Maria ist ein arisches Wort. Maria ist die 'Mehrerin1, die 'Rechtmacherin1. f...] Auch der Name Jesus Christus selbst ist arischen Ursprungs". 44 Ebd. Einen Rest Unsicherheit mag der Autor verspürt haben: Nichts beweise, daß Jesus „Jude war, und alles spricht dafür, daß er Nichtjude und zwar ein Arier war". — Das spätere Reichsministerium für Volksaufklärung und Propaganda betrachtete diese Frage pragmatischer: Am 13. Mai 1938 wurde „die gesamte deutsche Presse [...] angewiesen, sich mit dieser Fragestellung nicht mehr zu beschäftigen. Das Problem ist nach 2.000 Jahren nicht mehr zu entscheiden, und durch die ausführliche Behandlung werden die religiösen Spannungen nur verstärkt" (Sammlung Brammen BAK, ZsglOl/11, fol365). 45 So die Schlagzeile der Titelseite vom 3. März 1920. 46 Der Berliner Polizeipräsident beabsichtigte die Ausweisung aller aus den östlichen Nachbarstaaten illegal eingewanderten Ausländer; Juden hatten an dieser Gruppe einen Anteil von 90 Prozent (vgl. hierzu Maurer: Ostjuden, S. 231).

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meinte der Völkische Beobachter, notwendiger „als Razzien im Armeleuteviertel [dem Berliner Scheunenviertel] wäre es, einmal die ganze Gegend um den Kurfürstendamm abzusperren und in dem ganzen Millionenviertel eine gründliche Durchsuchung vorzunehmen"47. Neben seiner prinzipiellen Kritik an der „Überfremdung"48 empörte den Völkischen Beobachter, daß den jüdischen Kultusgemeinden Mehl für das rituelle Osterfest zur Verfügung gestellt wurde. Diese Mehllieferungen waren auch Gegenstand einer Resolution der „Deutschen Arbeiterpartei". Als die Münchner Neuesten Nachrichten über diese Resolution berichteten, wurden sie umgehend vom Völkischen Beobachter „berichtigt": „Ein Versehen der 'Münchener Neuesten'. Wider Erwarten brachte sie einen Bericht über die erste öffentliche Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei49, wobei ihr aber gleich ein Versehen unterlief, das einer kräftigen Richtigstellung bedarf. Sie schreibt nämlich: 'Eine Entschließung, die scharf gegen die Zuweisung von über 40.000 Pfund Weizenmehl zur Verarbeitung von Matzen protestiert, usw.' Die Entschließung spricht nicht von über 40.000 Pfund, sondern von 40.000 Zentnern Weizenmehl. Unseres Wissens handelt es sich sogar um 40.000 Tonnen"50. Vor dem Hintergrund der andauernden Ernährungskrise

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In München sei es bereits soweit, „daß sogar die lammfromme Tagespresse das Gruseln lernt. Mit weinerlicher Stimme konstatiert z.B. die 'Münchener Zeitung' [...], daß in München 30.000 Fremdlinge am vollbesetzten Tische schlemmern. Sie rechnet aus, daß sie in der Woche 132.000 Pfund Fleisch wegessen. [...] Klingt es da nicht wie Hohn", empörte sich der Völkische Beobachter, „wenn man erfährt, daß ein Rechtsanwalt 3.000 Mark Honorar dafür verlangt oder bekommen hat, daß er einem Ausländer die Aufenthaltserlaubnis beschafft hat?" (Völkischer Beobachter vom 3. März 1920). 48 Vgl. etwa den Beitrag „Aus Garmisch-Jerusalem", in dem ein Urlauber seine Eindrücke aus Garmisch-Partenkirchen schilderte und u.a. monierte, daß „Judenjünglinge, unverkennbare Rassevertreter", gemeinsam mit „christlichen Mädchen" Urlaub machten (ebd.). 49 Nach Phelps: Hitler als Parteiredner, S. 289ff., Dok. l fand bereits im Dezember 1919 eine öffentliche Versammlung der Deutschen Arbeiterpartei (Ortsgruppe München) statt. 50 Völkischer Beobachter vom 3. März 1920. Grob gerechnet, wären bei 40.000 Tonnen etwa anderthalb Zentner Mehl auf jeden jüdischen Einwohner Deutschlands gekommen. Nach Phelps (Hitler als Parteiredner, S. 292ff., Dok. 2) hatte Hitler am 24. Februar 1920 als Versammlungsvorsitzender eine Entschließung verlesen, „in der gegen die Zuweisung von 40.000 Ztr. Weizenmehl an die israelitische Kultusgemeinde protestiert wird, während Tausende kein Krankenbrot bekommen".

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agitierte das Blatt immer wieder gegen die vermeintlich privilegierte Lebensmittelversorgung der jüdischen Bevölkerung51. Daneben spielte die Versorgung mit Wohnraum eine herausragende Rolle in der Propaganda des Völkischen Beobachters: „In deutschen Blättern war die unsagbare Berliner Wohnungsnot auf die heuschreckenartige Zuwanderung russischer und polnischer Juden zurückgeführt worden. Das 'Israelitische Wochenblatt1 in Hamburg ist über diese Feststellung unzufrieden. Es sagt, die Wohnungsnot sei weniger durch die Ostjuden als vielmehr durch die baltischen Barone verursacht, und man möge lieber diesen zu Leibe rücken". Dazu meinte der Völkische Beobachter knapp: „Die Balten sind Kulturverteidiger, und die Ostjuden sind als Bolschewisten Kulturzerstörer"52. Obwohl seit Ende November 1919 „12.000 — ohne Ühertreibung: zwölfiausend — einheimische Familien in Berlin wohnungslos" seien, würde „täglich ein halbes Hundert Neuanmeldungen von eingewanderten Ostjuden [...] einlaufen". Dabei müsse berücksichtigt werden, „daß neben diesen angemeldeten Einwanderungen eine weit größere Zahl von Ostjuden nach Berlin gelangt, die unerlaubterweise die Grenze überschritten haben und sich infolgedessen überhaupt nicht anmelden". Doch die absoluten Zahlen seien nicht einmal die eigentliche Gefahr: „Daß diese ungebetenen Gäste aber die Lungentuberkulose, Kleiderläuse, Krätze und sonstige erfreuliche Gaben mitbringen", konnte nach Meinung des Völkischen Beobachters niemandem entgangen sein. Deshalb müsse der preußische Innenminister, der die illegale Einwanderung von Ostjuden „legalisiert" habe, um so stärker kritisiert werden53.

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Vgl. vor allem die Artikel: „Weizenmehl und Extrazucker für Juden" (6. März) sowie „Weizenmehl für Juden — Sägespänebrot für Deutsche" (13. März). Offensichtlich wollte auch Kapp vom gängigen Antisemitismus profitieren: Am 16. März erließ er eine Erklärung, nach der „das Mehl, das die alte Regierung für die Juden zu Ostern reserviert hatte, [...] beschlagnahmt und [...] an die Arbeiter verteilt" werden sollte. Dieses Mehl war allerdings „schon drei Wochen vorher zu Mazzes verbacken" (Brammen Fünf Tage Militärdiktatur, S. 23). 52 Ausgabe vom 6. März 1920. Vgl. dazu auch den Beitrag „Der Ausverkauf Deutschlands" im Völkischen Beobachter vom 28. Februar. 53 Ausgabe vom 6. März 1920. „Bei dieser geradezu entsetzlichen, von Minister Heine in Berlin eingeschlagenen Politik und bei der Lässigkeit, die sein Kollege in München bisher in solchen Dingen an den Tag gelegt hat", hätten „die deutsch-völkischen Kreise" allen Anlaß, sich um die „Abstellung solcher Landplagen" zu bemühen (ebd.). Zum „Heine-Erlaß" vgl. Maurer: Ostjuden, S. 255, 266 sowie 270ff.

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Da über „Endziel und Aufgabe der deutschvölkischen Bewegung gegenüber dem Judentum" verschiedene Auffassungen bestünden, hielt das Blatt es für erforderlich, „grundsätzliche Klarheit zu schaffen". Dies sei „umso notwendiger, als [...] in einer der Hochburgen des 'Antisemitismus', in München, eine Kundgebung veranstaltet wurde, die infolge der unrichtigen Zielsetzung so gut wie nichts erreichte. [...] Es wäre vielleicht nicht zweckmäßig", so der Völkische Beobachter, „über den Fehlgriff einer Gruppe, die doch mit uns Schulter an Schulter gegen den gemeinsamen Feind kämpft, in der Öffentlichkeit zu sprechen, wenn nicht tiefgreifende grundsätzliche Bedenken uns dazu zwingen würden. [...] Es handelt sich [...] um das Endziel der deutschvölkischen Bewegung in der Ostjudenfrage und in der Judenfrage überhaupt": Die Deutschvölkische Arbeitsgemeinschaft München habe in einer Resolution gefordert, „die Nationalversammlung möge gesetzlich veranlassen, daß die [...] Entschließungen des preußischen Innenministers über die Einwanderung von Ostjuden in das Deutsche Reich außer Kraft gesetzt werden. Die seit Beginn des Weltkrieges ohne amtliche Einreiseerlaubnis ein[ge]wanderten Ostjuden sollen in ihre früheren Wohnländer zurückgewiesen, die Einwanderungen von Ostjuden jeder Art überhaupt verboten werden". Diese Resolution, so der Völkische Beobachter, sei vollkommen verfehlt, „weil wir heute mit aller Entschiedenheit verlangen müssen, daß alle Juden, die nach dem 1. August 1914 zu uns kamen, sofort und innerhalb kürzester Frist ausgewiesen werden54. Ohne irgendwelche Rücksicht, ob sie nun gesetzliche Formalitäten erfüllt haben oder sonst spitzfindigen juristischen Ansprüchen genügen. Heute ist mit halber Arbeit gar nichts geholfen. Es muß ganze Arbeit gemacht werden. [...] Solche Maßnahmen wären z.B. die Einführung von Judenlisten in jeder Stadt, bzw. in jeder Gemeinde, sofortige Entfernung der Juden von allen Staatsämtern, Zeitungsbetrieben, Schaubühnen, Lichtspieltheatern usw. — kurz gesagt — es muß dem Juden jede Möglichkeit genommen werden, weiterhin seinen unheilvollen Einfluß zu üben. Damit die beschäftigungslosen Semiten nicht insgeheim wühlen und

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Ausgabe vom 10. März 1920. „Die ganze Entschließung" sei „einfach für die Katz", klagte das Blatt. „Aber ganz abgesehen davon, halten wir es für viel vordringlicher und notwendiger, daß die einzelnen Ortsgruppen danach streben, zunächst in ihrer näheren Heimat [·.·] das ostjüdische und jüdische Ungeziefer überhaupt mit eisernem Besen auszufegen" (ebd.).

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hetzen können, wären sie in Sammellager zu verbringen. [...] Es gibt nur eines: ganze Arbeit zu machen"^.

3. Der langersehnte Putsch Endlich sei „der Tag gekommen, an dem die Herrschaft der 'Revolutionsregierung1 zu Ende geht", begeisterte sich der Völkische Beobachter, nachdem in Berlin „entschlossene, deutsch gesinnte Männer die Führung übernommen" hatten56. Es habe sich gezeigt, „daß das deutsche Volk sich nicht mehr länger von einer Handvoll landfremder Juden ausbeuten lassen will". Doch offensichtlich wurde diese Ansicht in der Öffentlichkeit nicht uneingeschränkt geteilt, denn das Blatt bemühte sich spürbar, den Staatsstreich zu rechtfertigen: „Es wird behauptet, es handle sich um einen 'monarchistischen Putsch1, um die Revolte einer Junkerclique57. Das ist Schwindel. Die Männer der neuen Regierung sind als deutsch gesinnte, aufrechte Charaktere bekannt. Nur deshalb werden sie verleumdet, und deshalb sind sie den Juden und der bisher regierenden Judenschutztruppe verhaßt. [...] Mit der Herrschaft des Judentums wird es allerdings bei den neuen Männern zu Ende sein". Von der neuen Regierung lägen bislang zwar nur zwei Verlautbarungen vor, aber „gegenüber den aufgeblasenen Redensarten, mit denen wir

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Ebd. Auch der Schutz- und Trutzbund forderte in einer Annonce, Juden in Sammel- oder „Schutzlager" zu verbringen (vgl. die Ausgabe vom 24. März 1920): „Nehmt Juden in Schutzhaft, dann herrscht Ruhe im Land. Juden hetzen zum Spartakismus. Juden wiegeln das Volk auf. Juden verhindern, daß Deutsche sich verständigen. Juden drängen sich überall an die Spitze. Juden wuchern mit Lebensmitteln. Juden verschieben Heereswäsche nach Polen. Darum: Fort mit den jüdischen Machern und Unruhestiftern! Deutschland den Deutschen!" 56 Vgl. die (ohne Datum) als Nr. 22 herausgebrachte Titelseite, die kurz nach Bekanntwerden des Putsches gedruckt wurde. 57 Ebd. Es sei nicht wahr, „daß die neuen Staatsmänner Junker sind und eine Junkerdiktatur erstreben. Gerade wir wären in diesem Falle die schärfsten Gegner. Diktatur vielleicht schon. Aber dann nur gegen die Blutsauger, die seit Jahr und Tag am Mark des deutschen Volkes zehren, die uns das letzte Hemd vom Leibe reißen und ins Ausland verschachern. Und gegen diese rufen wir seit Jahr und Tag nach einem Diktator, der mit eiserner Faust durchgreift".

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bisher von jeder neuen ' Volks'regierung übergössen wurden, sind diese beiden Kundgebungen ein Lichtblick"58. Als der Generalstreik diesen unverhofften „Lichtblick" überschattete, spitzte sich für den Völkischen Beobachter alles auf die Frage zu: „Deutschland deutsch oder jüdisch?"59 Das Blatt rief die Schrecken der Räterepublik in Erinnerung und versuchte, für die Putschisten zu trommeln: „Erinnert Euch an die Tage der Rätediktatur im März und April 1919! Erinnert Euch an die brutale Diktatur, welche damals von einer Handvoll landfremder Juden ausgeübt wurde. [...] All diese Tage des Entsetzens, all die Taten vertierter Verbrecher drohen sich auf viel größerer Stufenleiter zu wiederholen". Waren nach Überzeugung des Völkischen Beobachters schlechterdings die Juden für das Scheitern des Rechtsputsches verantwortlich, so rief die „Judenpresse" seine besondere Kritik hervor: „Woher erhielten wir während der letzten 5 Tage Mitteilungen über die Vorkommnisse? Wer versorgte die sogenannte Generalstreikleitung mit Nachrichten? Die jüdische 'Frankfurter Zeitung1 und die jüdelnde 'Münchener [!] Neueste Nachrichten'. [...] Deshalb ist es ein Gebot der Pflicht für jeden Deutschen, die Judenpresse künftighin in keiner Weise mehr zu unterstützen"™.

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Ebd. Hieß es in der ersten Deklaration der „neuen Regierung" lediglich, daß „die gesamte Staatsgewalt auf den [...] Generallandschaftsdirektor Kapp-Königsberg übergegangen" und Lüttwitz zum Militäroberbefehlshaber und Reichswehrminister berufen sei, so befaßte sich die zweite Verlautbarung vor allem mit der Nationalversammlung: Der Versuch, die Wahlen zu verzögern, „widerspricht dem Volkswillen. Die eben beschlossene Verfassung wird willkürlich [...] wie ein Fetzen Papier behandelt. [...] Die Nationalversammlung wird hiermit aufgelöst". 59 So die Überschrift der zweiten (undatierten) Titelseite, die während des Generalstreiks herausgegeben wurde. Nach einer Notiz der Münchner Neuesten Nachrichten (Abendausgabe vom 20. März) riefen zwei Flugblätter des Schutz- und Trutzbundes große Empörung hervor, weil sie „unter schwersten Ausfällen gegen die Reichsregierung [...] eine Rechtfertigung des Kappschen Staatsstreiches versuchten. Vielfach wurde beobachtet, daß Motorradfahrer oder die Insassen schnellfahrender Kraftwagen die Blätter unter die Menge warfen; auch Angehörige der Reichswehr wurden als Verteiler festgestellt". Es sei für die Münchener Polizei symptomatisch, daß beide Flugblätter „irrtümlich" genehmigt worden seien. „Die Praxis, die seit dem Beginn des Berliner Umsturzes für Verbote oder Genehmigungen angewandt wurde, macht den unliebsamen Eindruck, als sei an einigen Stellen der Irrtum System gewesen", meinten die Münchner Neuesten Nachrichten. M Zweite (undatierte) Titelseite des Völkischen Beobachters.

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Nach Ende des Putsches kritisierte das Blatt die deutschvölkischen Verbände, die „zur allgemeinen Überraschung" nicht in das Geschehen eingegriffen hätten61: „Sollen die deutschvölkischen Verbände lediglich auf dem Standpunkte der üblichen Vereinsmeiereien bleiben und lediglich theoretisch Judengegner sein und den deutschvölkischen Gedanken in geheimen Konventikeln leise besprechen, dann ist es allerdings nicht notwendig, daß sie sich bei politischen Umwälzungen betätigen. Will man aber, daß die völkische Bewegung einen wirklichen Erfolg hat, will man, daß der deutschvölkische Gedanke auf wirtschaftlichem, kulturellem, sozialem und politischem Gebiet tatsächlich durchgedrückt wird, dann kommt man ganz von selber zu dem Schluß: bei politischen Ereignissen oder gar bei politischen Umwälzungen dürfen die Deutschvölkischen künftighin unter gar keinen Umständen mehr beiseite stehen. Wir gehen sogar soweit, daß wir sagen, die deutschvölkischen Verbände hätten die Pflicht gehabt, sich bei den letzten Umwälzungen an die Spitze zu stellen"62. Der neugebildeten bayerischen Koalitionsregierung von BVP, Bauernbund und Demokraten unter dem Ministerpräsidenten von Kahr, dessen Antisemitismus schon 1920 Aufsehen erregte63, stand der Völkische Beobachter skeptisch gegenüber; ihm war Kahrs Antisemitismus nicht radikal genug64. Positiver bewertete das Blatt die Tätigkeit des 61

Dem Völkischen Beobachter sei es „infolge des Generalstreiks fast unmöglich gewesen, mit besonderen Nummern oder mit Flugblättern herauszukommen. Nur unter Aufwendung unverhältnismäßig hoher Kosten und mit großer Mühe" sei es schließlich gelungen, „in einseitigen Nummern unseren Standpunkt in die Öffentlichkeit zu bringen" (Ausgabe vom 24. März 1920). 62 Ebd. Auch Hitler kritisierte am 29. März 1920 „in einem Diskussionsabend das fehlgeschlagene Kapp-Lüttwitz-Unternehmen, weil Militär 'nie der Träger' einer nationalen Umsturzbewegung sein, sondern 'den Volkswillen nur stützen' könne" (Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. 53). 63 Vgl. Maurer: Ostjuden, S. 403ff. sowie Reiner Pommerin: Die Ausweisung von „Ostjuden" aus Bayern 1923. Ein Beitrag zum Krisenjahr der Weimarer Republik. In: VfZ34(1986), S. 311-340. 64 Vgl. die Ausgabe vom 27. März 1920: „Es schien anfangs, als ob der neue Ministerpräsident, Dr. v. Kahr, etwas mehr Vernunft besäße. In seiner ersten kurzen Antrittsrede hat er am 16. März geäußert: 'Weiter ist notwendig strenges Einschreiten gegenüber Verfremdung und Verhinderung der Zuwanderung von Stammesfremden, Reinhaltung unseres Volkes von fremden Elementen'. [...] Es scheint, daß sofort gegen diese einzig mögliche Stellungnahme ein Gegenstoß unternommen wurde", denn in seiner „ausführlichen Darlegung der Regierungsgrundlagen" habe Kahr nichts

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Münchener Polizeipräsidenten Pöhner65, während es der Reichsregierung vorwarf, sie habe sich „in ihrer an Aberwitz grenzenden Angst vor einem Putsch von rechts den streikenden Gewerkschaften unterworfen", denen „ein 'entscheidender Einfluß auf die wirtschafts- und sozialpolitischen Gesetze1 eingeräumt" worden sei66. Da die den Gewerkschaften eingeräumten Rechte nicht verfassungskonform seien, forderte das Blatt zum Widerstand auf: „Eine Reichsregierung, die sich jedes Einflusses von vornherein zugunsten einer Straßendiktatur begibt, hat kein Recht auf Existenz. Im ganzen Reich muß sich einmütig der Wille kundgeben, sich dieser Diktatur des Berliner Asphaltproletariats nicht zu beugen"67.

mehr zu diesem Thema verlauten lassen. Es gebe „für diesen krassen Gesinnungswechsel kein Wort, das ihn scharf genug verurteilte". 65 Zur Kritik der Münchner Neuesten Nachrichten und der (sozialdemokratischen) Münchener Post an Pöhner meinte der Völkische Beobachter (ebd.): „Wir sind auch keine Freunde dieses Polizeipräsidenten. Er hat den Deutsch völkischen das Leben sauer genug gemacht. Aber wenn wir auch Gegner sind, so müssen wir gegenüber den von der Judenpresse erhobenen Vorwürfen dennoch Herrn von Pöhner das Eine lassen: Er hat in dem ihm übertragenen Amte mit jener Gewissenhaftigkeit gearbeitet, die, Gott sei Dank, in unserer Beamtenschaft immer noch zu finden ist". 66 Um den Generalstreik beizulegen, unterzeichneten Vertreter der drei Regierungsparteien sowie Vertreter des „ADGB, des AFA, des Deutschen Beamtenbundes und der Berliner Gewerkschaftskommission" am 20. März ein — von USPD und KPD abgelehntes — Protokoll. Trotz einiger Abmilderungen gegenüber den ursprünglichen Forderungen der Gewerkschaften stand dieses Protokoll „in Widerspruch zur Verfassung, indem es den gewerkschaftlichen Verbänden einen maßgeblichen Anteil an den verfassungsmäßig dem Parlament und der Regierung zustehenden Kompetenzen einräumte" (Huber: Verfassungsgeschichte, S. 99). 67 Ausgabe vom 31. März 1920.

II Die Münchner NeuestenNachrichten Innenpolitisch befanden sich die Münchner Neuesten Nachrichten im Frühjahr 1920 auf Kurs der DDP; außenpolitisch vertrat das Blatt eine „nationale" Position. Während über BVP und Zentrum, vor allem aber über Erzberger68, kühl und distanziert berichtet wurde, betrachtete das Blatt die SPD mit verhaltener Zustimmung und lehnte USPD und KPD strikt ab69. Relativ breiten Raum widmete das Blatt der Diskussion über die Einwanderung von Ostjuden70. Vor dem Putsch befaßten sich die Münchner Neuesten Nachrichten ausführlich mit den Folgen des Versailler Vertrags und mit Versorgungsproblemen71. Nach dem „Rücktritt"

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Es entspräche „dem gesunden öffentlichen Empfinden [...], daß eine so vielfach bloßgestellte Persönlichkeit nicht an verantwortungsvoller und exponierter Stelle weiterhin das Reich vertreten kann", meinte das Blatt nach der Urteilsverkündung im Erzberger-Prozeß (Morgenausgabe vom 13. März 1920). 69 Vgl. etwa die bissige Polemik „Lebensmittelknappheit und Demonstrationsabsichten", in der die Münchener USPD kritisiert wurde, weil sie — „um Blutvergießen zu verhindern" — nur Frauen und Kinder zu einer Demonstration aufgerufen hatte (Morgenausgabe vom 11. März 1920). 70 Eine unterschwellige Kritik an „Ostjuden" äußerte sich häufig in beiläufigen Formulierungen: „Die Wormser Polizei hat eine fünfköpfige Silberschmugglerbande, sämtliche Galizier, darunter zwei Frauen, festgenommen" (Morgenausgabe vom 6. März 1920). 71 Vgl. etwa den Leitartikel „Ein zweiter Maynard Keynes" in der (einzigen) Ausgabe vom 6./7. März 1920: Der ehemalige Diplomat George Young habe in einem soeben erschienenen Buch den tiefen Eindruck, den Maynard Keynes „mit seiner unwiderleglichen Verurteilung des Friedensvertrages in England gemacht hat", sehr verstärkt. So habe Young gemeint, „wenn das heutige Deutschland 'eine merkwürdige Mischung von Alt und Neu ist', so trifft die Verantwortung dafür nicht das deutsche Volk, sondern die Alliierten. Mit ihrer Fortsetzung der Blockade und mit ihrem Friedensvertrag haben sie ihr Bestes getan, um 'das neue Deutschland zu morden und das alte wiederzubeleben'". Angetan von diesem Plädoyer für Deutschland, zitierte das Blatt auch Passagen wie: „Wir hätten aus Deutschland eine rassenverwandte

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von Lüttwitz und Kapp war das Engagement für Republik und Verfassung Dreh- und Angelpunkt der Berichterstattung, die sich vorrangig mit der politischen Veränderung in Bayern auseinandersetzte.

1. Alltäglicher Antisemitismus72 Nach Aussage der Münchner Neuesten Nachrichten waren „antisemitische Straßenkundgebungen" in München 1920 nicht ungewöhnlich. Am 7. März erregte eine Demonstration jedoch größeres Aufsehen73: Nachdem sich „einige hundert Menschen" versammelt hatten, sprachen zwei Vertreter der Deutschvölkischen Arbeitsgemeinschaft, Justizrat von Zezschwitz und Schulrat Rohmeder, „gegen die Einwanderung und die Duldung der Ostjuden", wobei „die Zuweisung von Weizenmehl an die Juden zur Bereitung von Osterbrot und die Sonderzuteilung von Zucker" besonders kritisiert wurden. Obwohl beide Redner betonten, daß man strikt legal vorgehen müsse, gerieten die aufgestauten Emotionen von Demonstranten und Polizei außer Kontrolle, als ein Reichswehrsoldat „einen Stoß Flugblätter gegen die Sonderzuweisungen in die Menge" warf. Da das Verteilen von Flugblättern verboten war, „nahm die Schutzmannschaft den Reichswehrsoldaten fest [...] Die Demonstranten umringten [daraufhin] die Schutzleute und befreiten den Soldaten. Die aufgebotenen Schutzleute erwiesen sich als machtlos. [...] Die Flugblätter wurden weiter verteilt". Als die Demonstration sich vor die Feldherrnhalle verlagerte, sah die Polizei sich gezwungen, ein Maschinengewehr aufzubauen, was die empörte Menge mit Rufen wie „bezahlte Judenknechte" quittierte. Während die Demonstranten dazu übergingen, einige „anwesende Juden durch Hand-

Grenzprovinz des Angelsachsentunis machen können und eine Mauer gegen die asiatische Flut, die über die russischen Ebenen wieder gegen Europa heranrollt". 72 Das Blatt brachte gelegentlich wenig spektakuläre Hinweise zum Antisemitismus in Bayern: Als ein Student dem Münchener Stadtrat in einer „Versammlung gegen die Ostjuden" vorwarf, er begünstige „beim Zugang an die Universitäten fremde Elemente auf Kosten der deutschen Studenten", legte der Bürgermeister gegen diese Behauptung „entschiedene Verwahrung" ein, denn „bei den letzten Beratungen mit den Professoren der Hochschulen sei gerade von den Vertretern der Stadt das Ersuchen gestellt worden, mit den Ausländern an den Hochschulen möglichst aufzuräumen" (Morgenausgabe vom 10. März 1920). 73 Vgl. die (einzige) Ausgabe vom 8. März 1920.

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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greiflichkeiten zu vertreiben", wurde eine Delegation vom bayerischen Innenminister Endres zu einem Gespräch empfangen. Über den Verlauf des Gesprächs berichtete von Zezschwitz den Demonstranten: „In der Unterredung habe Minister Endres zugesichert, die Forderungen morgen dem Ministerrat bekanntzugeben. (Rufe: 'Weg mit dem Maschinengewehr!1) Die Forderungen lauteten: Unbedingtes Einreiseverhot für alle Ausländer, soweit nicht zwischenstaatliche amtliche Gründe vorliegen. (Rufe: 'Aha!') Ausweisung aller Ausländer, besonders der Ostjuden, die seit dem 1. Oktober 1918 (Stürmische Zwischenrufe: '1914!') eingereist sind"74. Hatten die Münchner Neuesten Nachrichten sich zunächst jeder Kommentierung enthalten, so thematisierten sie am nächsten Tag das Verhältnis von „Politik und Straße": „Straßenkundgebungen und Umzüge scheinen allmählich zu einem unentbehrlichen Bestandteil der Münchner Sonntags Vergnügungen werden zu sollen", aber man beweise nationale Gesinnung „nicht allein durch Absingen vaterländischer Lieder", hieß es mit unübersehbarer Kritik an einem Eklat im Berliner NobelHotel Adlon 75. Derjenige erweise „seinem Vaterland den schlechtesten Dienst, der [...] die Sicherheitsorgane des Staates beschimpft und selbst die unmündige Jugend zur Gesetzesübertretung anleitet. Ernste politi-

74

Ebd. Justizrat Willibald von Zezschwitz war Münchener Ortsgruppenleiter des Deutschvölkischen Schutz- und Trutzbundes (Lohalm: Völkischer Radikalismus, S. 243). Zezschwitz, der gleichzeitig Mitglied der NSDAP und enger Freund Eckarts war, vertrat Hitler im Dezember 1921 vor Gericht, als dieser ein Verfahren gegen den Verfasser und Verbreiter des Flugblatts „Adolf Hitler — Verräter" angestrengt hatte (ebd., S. 434, Anm. 41a). 75 Vgl. die (einzige) Ausgabe vom 8. März 1920: „Zu einem schweren Zusammenstoß kam es in der vergangenen Nacht [...] zwischen dem Prinzen Joachim Albrecht von Preußen [...] und anderen deutschen Gästen auf der einen und drei Mitgliedern der französischen Militärmission [...] auf der anderen Seite. Als [...] die Kapelle [...] 'Deutschland, Deutschland über alles' spielte, erhoben sich die deutschen Gäste, während die Franzosen sitzen blieben. Der Prinz, der mit einem neben ihm sitzenden früheren russischen Staatsrat bereits einige Flaschen Wein getrunken hatte, sprang erregt auf und rief den Franzosen zu: Aufstehen, sonst raus. Da der Aufforderung keine Folge geleistet wurde, warf der Prinz eine Blumenvase nach dem Mitteltisch, wo die Ausländer saßen. Andere Gäste folgten seinem Beispiel". In einer über WTB verbreiteten Meldung bestritt der Prinz zwar, an der Rauferei beteiligt gewesen zu sein, aber aufgrund von Zeugenaussagen ließ der Reichswehrminister ihn in Schutzhaft nehmen.

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///. Der Putsch vom März 1920

sehe Probleme löst man nicht mit lärmenden Straßenkundgebungen"76. Dann wandte sich das Blatt der inhaltlichen Seite zu: „Die Überflutung Deutschlands mit wurzellosen, land- und artfremden Elementen aus Galizien oder den russischen Randstaaten ist in der Tat eine Frage, der jeder ernste Politiker seine Sorge zuwenden muß; schon vor Jahr und Tag, bald nach der Revolution, haben die 'M.N.N.' darauf hingewiesen, daß das Ostjudentum eine überaus ernste Gefahr für unser Volk zu werden beginnt. Mit den Schlagworten des landläufigen Antisemitismus ist sie nicht zu lösen, auch nicht mit hetzerisch aufgebauschten [...] Zahlenangaben über eine Bevorzugung der jüdischen Bevölkerung in der Lebensmittelzuweisung77. [...] Dem Ostjudenproblem kann und muß man mit ernsteren, stichhaltigeren Gründen zuleibe rücken. Darüber befinden sich mit den Demonstranten wohl alle Verständigen in Deutschland in Übereinstimmung, daß der Zustrom von Ostjuden, der seit der Revolution begonnen hat78, zu den unerfreulichsten Erscheinungen unserer Zeit gehört. Gerade von einsichtigen Vertretern der eingessenen Judenschaft ist schon des öfteren betont worden, daß die Überschwemmung Deutschlands mit ostjüdischen Zuwanderern samt ihren stark östlichen Kulturbegriffen nicht geeignet ist, die Abwehr der antisemitischen Propaganda zu fördern. Solange das deutsche Volk unter den drückendsten Entbehrungen zu leiden hat und solange Schieber und Ausbeuter aller Rassen und Bekenntnisse vereint aus seiner Haut sich Riemen zu schneiden mühen, besteht auch bei weitherzigster Toleranz kein Grund, Deutschland zu einem Tummelplatz für unliebsame Gäste aus dem Osten werden zu lassen"79.

76

Morgenausgabe vom 9. März 1920. Um diesbezügliche Gerüchte und Spekulationen einzudämmen, hatte der Münchener „Lebensmittelreferent" im Namen der Stadtverwaltung erklärt: „Die Reichsgetreidestelle hat für die Osterversorgung der jüdischen Bevölkerung des gesamten Reiches mit Matze Weizenmehl zur Verfügung gestellt. [...] Auf Antrag erhalten rituell lebende Juden in dieser Zeit insgesamt 5 Pfund Matze, nicht rituell lebende Juden 31/2 Pfund Matze. Zum Ausgleich hierfür wird an den Brotkarten der mit Matze versorgten Juden ein Abzug von insgesamt 4 1/2 Pfund Brot [...Jgemacht" (zitiert nach der Abendausgabe vom 9. März 1920). 78 Durch die Verknüpfung von „Revolution" und „Zustrom von Ostjuden" stellten die Münchner Neuesten Nachrichten den Begriff „Revolution" hier in einen negativen Kontext. 79 Abendausgabe vom 9. März 1920. 77

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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Neben den Münchener Demonstrationen gegen die Ostjuden erregten antisemitische Ausschreitungen in Passau die bayerische Öffentlichkeit: Am 2. März sollte dort das Schauspiel „Kurt Eisner" als geschlossene Vorstellung für die freien Gewerkschaften aufgeführt werden. In dem überfüllten Theater waren „auf der Galerie, im ersten Rang und im Parkett [...] Reichswehrsoldaten und Studenten verteilt". Als sich der Vorhang hob, „wurden Rufe laut: 'Aufhören! Nicht weiterspielen! Schluß machen!1" Da man die Aufführung nicht abbrach, „wurde der Lärm lauter, in den sich nun die Pfeifen der Reichswehrsoldaten sowie einige Kindertrompeten mischten. Es fielen Reizgasbomben". Ein namentlich festgestellter Hauptmann der Reichswehr „schrie mit Leibeskräften: 'Nieder mit der Judenbande!' 'Nieder mit Eisner!' 'Haut die Judenbande zum Teufel!' Die Arbeiter beschwichtigten so gut es ging". Als dann erste Schüsse fielen, wurde die Vorstellung abgebrochen, „und nun ging ein Höllenlärm los. [...] Im ersten und zweiten Rang pflanzten die Reichswehrleute Bajonette auf und verkleidete Offiziere schlugen mit Reitpeitschen und Knüppeln auf die Menge ein"; die Fenster des Saals wurden „mit mörderischem Maschinengewehrfeuer" belegt. Nach den Exzessen im Theater kam es auf der Straße zu „Verhaftungen und Mißhandlungen"80.

2, Der Putsch gegen Republik und Demokratie

In ihrer Morgenausgabe vom 13. März meldeten die Münchner Neuesten Nachrichten, in Berlin seien „umstürzlerische Umtriebe einer rechtsradikalen Gruppe aufgedeckt worden". Die „Verschwörung extrem-reaktionärer Heißsporne zum Sturze der verfassungsmäßigen Regierung" habe einen „sehr ernsten Charakter". Zu den Zielen der Putschisten meinte das Blatt, die „Wonführer haben den von ihnen aufgereizten Leuten vorgeredet, es handle sich um keine Gegenrevolution, sondern 'nur' um die Erzwingung der Besetzung der Ministerien mit 'Fachleuten'"81. Es sei „kaum nötig, darauf hinzuweisen, daß das Unter-

80 81

Ebd.

Die Forderung nach Fachministern sei „ein Schlagwort, mit dem in letzter Zeit, namentlich im Anschluß an den Prozeß Erzberger, viel gearbeitet" werde, meinte das Blatt. Überhaupt falle auf, „daß das ganze Unternehmen auf den Tag mit der Urteils-

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///. Der Putsch vom März 1920

nehmen der Reaktion selbst dann, wenn es an irgendeinem Punkte einen Augenblickserfolg erzielen sollte, zum Scheitern bestimmt ist". In der Wochenendausgabe vom 13./14. März war dieser Optimismus verflogen. Flugblattartig präsentierten die Münchner Neuesten Nachrichten unter der fünfspaltigen Überschrift „Reaktionärer Umsturz in Berlin"82 die wichtigsten Ereignisse: „Einzug der gegenrevolutionären Truppen in Berlin ohne Widerstand — Die Regierung Bauer außerhalb Berlins — Generallandschaftsdirektor Kapp Reichskanzler — General v. Lüttwitz Wehrminister — Keine Änderung der Dinge in Bayern". Mit resignativem Unterton hieß es: „In Berlin ist der Versuch unternommen worden — und bis zur Stunde geglückt — mit einer vor den Toren Berlins liegenden, rund 6.000 Mann starken Truppe, die gestern hätte aufgelöst werden sollen, und unter untätigem Beiseitestehen der Berliner Reichswehrformationen die bisherige Regierung zu stürzen"*3. Über die Auswirkungen des Berliner Putsches auf die bayerische Politik erhielten die Leser am Montag, dem 15. März, erste Informationen. Der bayerische Ministerrat sei am Samstag „mit Vertretern der Landtagsparteien und dem Führer des Reichswehrgruppenkommandos IV, General Möhl, zur Beratung" zusammengetreten und habe eine Proklamation erlassen, „die durch die M.N.N. in den ersten Nachmittagsstunden angeschlagen wurde" und die sich von den Berliner Ereignissen distanzierte: „Anordnungen neuer ziviler und militärischer Gewalthaber in Berlin sind in Bayern nicht zu befolgen. Die bayerische Staatsregierung handelt in Übereinstimmung mit den anderen süddeutschen Regierungen". Eine völlig neue Situation sei entstanden, als „eine geschlossene Offiziersversammlung" sich abends der Haltung des bayeri-

verkündung im Erzbergerprozeß zusammenfällt" (Morgenausgabe vom 13. März 1920). 82 Selbst zweispaltige Überschriften waren bei den Münchner Neuesten Nachrichten eine Rarität. 83 „Man ist in der Tat versucht, an der politischen Begabung der deutschen Nation zu verzweifeln", meinte das Blatt und zitierte aus dem „Programm des Staatsstreichs" u.a.: „Deutsche Ehre und Ehrlichkeit sollen wieder hergestellt werden. [...] Die Regierung wird den Friedensvertrag unter Wahrung der Ehre des deutschen Volkes und des Landes und der deutschen Arbeitsfähigkeit ausführen, soweit es möglich ist [...] Die Regierung wird die Finanz- und Steuerhoheit der Bundesstaaten auf verfassungsmäßiger föderalistischer Grundlage wieder herstellen. Sie wird die Kriegsanleihen sicherstellen und ihre demnächstige Rückzahlung einleiten. Sie wird zu dem Grundgesetz der wirtschaftlichen Freiheit zurückkehren" (Morgenausgabe vom 15. März 1920).

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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sehen Oberkommandierenden Möhl nicht anschloß, „sondern in ihrer Mehrheit der Kappschen Regierung wesentlich mehr Sympathien" entgegenbrachte84. In einer anschließenden Sitzung des Ministerrats, an der auch General Möhl, Polizeichef Pöhner und Regierungspräsident Kahr teilnahmen, habe Pöhner erklärt, die Polizei könne „angesichts der Haltung eines Teils der Offiziere und der am Samstag aufgebotenen Zeitfreiwilligen-Formationen [...] den Gang der Dinge" nicht aufhalten. Seiner Empfehlung, die vollziehende Gewalt dem General Möhl zu übertragen, habe sich die Mehrheit der Anwesenden angeschlossen. Gegen die Stimme des Ministerpräsidenten Hoffmann (SPD) habe der bayerische Ministerrat dem General das „Amt eines Staatskommissars" übertragen und ihm Kahr als Regierungskommissar zur Seite gestellt. Bis auf den Ministerpräsidenten Hoffmann, der zurückgetreten sei, würden die Mitglieder der alten Regierung ihre Geschäfte zunächst kommissarisch weiterführen. Als die Münchener Streikkommission von dieser Vereinbarung erfuhr, habe sie den Generalstreik ausgerufen85.

3. Rückblick auf das „reaktionäre Abenteuer" Durch den Generalstreik und einen anschließenden Buchdruckerstreik fast eine Woche am Erscheinen gehindert, konnten die Münchner Neuesten Nachrichten am 21. März den „Zusammenbruch der Gegenrevolution" melden. Der Rückblick auf die vergangene Woche war wenig erfreulich: „Die Ausschreitungen der Baltikumleute haben natürlich Gegenausschreitungen der Menge hervorgerufen, und so ist in den letzten Tagen Blut in Strömen geflossen", schrieb das Blatt, noch bevor das volle Ausmaß der Kämpfe im Ruhrgebiet und Mitteldeutschland absehbar war86. Die „Haltung der rechtsstehenden Parteien" sei „äußerst zweifelhaft" gewesen, und man habe den Eindruck gewinnen können, daß die „Leitung der Deutschen Volkspartei im ersten Augenblick sogar noch deutlicher nach der Seite des Herrn Kapp und seiner Hintermän-

84

Garsten: Reichswehr und Politik, S. 109 nennt Ernst Rohm einen der „Rädelsführer", die versuchten, Möhl „zu einem aktiven Eintreten für Kapp zu zwingen". 85 Morgenausgabe vorn 15. März 1920 86 Vgl. die (einzige) Ausgabe vom 21. März 1920.

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///. Der Putsch vom März 1920

ner geneigt war als die der Deutschnationalen Volkspartei"87. Erst „als der Zusammenbruch des Unternehmens nicht mehr zu verkennen war", hätten die Führer von DVP und DNVP „Fühlung mit den anderen Parteien" aufgenommen. Es müsse aber anerkannt werden, „daß in verschiedenen Landesteilen" beide Parteien „vom ersten Augenblick an [...] gegen das hochverräterische Unternehmen Stellung nahmen". Den Vorwurf, das Reichswehrministerium habe die heraufziehende „Gefahr vollkommen verkannt", konnte das Blatt Noske nicht ersparen88. Die politische Veränderung in Bayern beurteilten die Münchner Neuesten Nachrichten zunächst sehr zurückhaltend. Das Blatt zählte zwar nicht zu den Anhängern des ehemaligen Ministerpräsidenten Hoffmann89, aber es übte massive Kritik an den Umständen der „Regierungsumbildung": „Zeit und Ursache dieses Kabinettswechsels müssen jedem mißfallen, der die Grundsätze der freien Selbstbestimmung des Volkes ernst nimmt. Daß der Befehlshaber der bayerischen Reichswehr [...] den Schutz der Regierung nicht mehr glaubte verbürgen zu können, daß das Ministerium diesem Druck glaubte nachgeben zu müssen durch Übertragung der vollziehenden Gewalt auf den Gruppenkommandanten, daß wiederum dieser Entschluß den Ausbruch des Generalstreiks, der tags zuvor noch mit Dreiviertelmehrheit abgelehnt worden war, nach sich zog, — das alles waren Umstände, die der Entscheidungsfreiheit der bayerischen Regierung unwürdige Fesseln auferlegten, den Geist der Demokratie, der unser Staatsleben beherrschen sollte, aufs bedenklichste verletzten. [...] Von [...] einer Militärdiktatur in Bayern zu sprechen, wäre" nach Auffassung des Blatts „wohl ein allzu starker Ausdruck für das Tatsächliche; aber kein ernsthafter Poli-

87

Kapp und der zum Kultusminister ernannte Traub gehörten der DNVP an. Der aus der „freireligiösen Bewegung" stammende ehemalige Pfarrer Gottfried Traub war außerdem Herausgeber der Eisernen Blätter, einer für die „gehobenen Schichten" konzipierten alldeutsch-völkischen Wochenschrift. Nach seiner „Flucht" wurde Traub im April 1921 Ordinarius für alte Geschichte in Göttingen (vgl. Maurer: Ostjuden, S. 201f.). 88 (Einzige) Ausgabe vom 21. März 1920. Nach seinem Rücktritt würdigte das Blatt Noske als einen „Mann, dessen Tatkraft [...] bei den Januarkämpfen des vergangenen Jahres [...] die Rettung der Demokratie vor der Diktatur zu danken war". 89 „Die Pflicht der Objektivität gebietet festzustellen", so die Münchner Neuesten Nachrichten, „daß Herr Hoffmann sich zu dem obersten bayerischen Staatsamt sicherlich nicht gedrängt hat — gerade in Kreisen der Bayerischen Volkspartei sollte man das am besten wissen — und daß er ebensowenig an seinem Platze klebte" (ebd.).

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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tiker wird leugnen wollen, daß dieses Ende der Regierung Hoffmann einen recht fatalen Beigeschmack hatte". Auf Protest stieß insbesondere die Antrittsrede Kahrs, weil sie „jedes scharfe Wort gegen den Berliner Staatsstreich und seine Urheber vermissen"Fließ9C'.

'Ebd.

m Der Berliner Lokal-Anzeiger Im Frühjahr 1920 hatte das Hugenberg-Organ seine publizistische Offensive gegen die Reichsregierung und die Preußische Staatsregierung verstärkt. Als politische Gegner betrachtete das Blatt alle Parteien links der D W91. Generell ausländerfeindlich92, agitierte der Lokal-Anzeiger vor dem Hintergrund der wirtschaftlichen Misere93 insbesondere gegen die ostjüdische Zuwanderung. Nach dem Zusammenbruch des Putsches hielt das Blatt den Linksparteien und Gewerkschaften vor, sie würden den Generalstreik zur Durchsetzung eigener Interessen ausnutzen.

91

Ein Kommentar des Lokal-Anzeigers in der Morgenausgabe vom 12. März 1920 spiegelt das seit November 1918 stark angewachsene Selbstvertrauen der Rechtsparteien: „Während der ganzen Kriegszeit lagen die Dinge so, daß die Regierung sich vor den Mehrheitsparteien, die Mehrheitsparteien vor den Sozialdemokraten, die Sozialdemokraten vor den Unabhängigen und die Unabhängigen schließlich vor Liebknecht fürchteten. Nach der Revolution ist nichts anders geworden, nur ist bei den Mehrheitsparteien eine neue Angst hinzugetreten: die Angst vor der 'Reaktion', wie Demokraten und Sozialdemokraten das Wiedererwachen des Volkes zu nationalem Bewußtsein zu nennen pflegen". 92 Besonders häufig waren antifranzösische Beiträge; vgl. etwa den Artikel „Kartoffeln oder schwarze Besatzung" in der Abendausgabe vom 5. März 1920: Der französische Kommandant von Oppenheim habe bekanntgegeben, „daß jeder Landwirt je einen Zentner Kartoffeln und jeder andere Bürger je nach Lage seiner Verhältnisse Kartoffeln abzuliefern habe. Zugleich teilt er mit, daß die schwarze Besatzung nach Oppenheim kommen werde, wenn die Ablieferung nicht pünktlich erfolge". — Die strikt antifranzösische Haltung des Lokal-Anzeigers war charakteristisch für die öffentliche Grundstimmung in Deutschland; sie durchzog alle Parteien und basierte auf den antifranzösischen Klischees des Kaiserreichs, die mit dem Waffenstillstand und dem Versailler Vertrag ihre augenscheinliche Rechtfertigung erhalten hatten. Eine hiervon dezidiert abweichende Position vertrat Georg Bernhard, der Chefredakteur der Vossischen Zeitung. 93 Die im Lokal-Anzeiger abgedruckten Leserbriefe befaßten sich vorrangig mit der Lebensmittelknappheit.

Der Berliner Lokal-Anzeiger

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/. „Lästige Ausländer" ins „Konzentrationslager"

„Die galizisch-polnische Einwanderung in Berlin" betitelte Laporte, Vorsitzender des Wohnungsamts Berlin, einen Beitrag94, der dokumentiert, daß nicht nur radikal antisemitische Blätter Sprachrohr für antijüdische Kampagnen waren, sondern daß Antisemitismus 1920 auch im (rechten) Bürgertum verwurzelt war. „Die Frage der galizisch-polnischen Einwanderung" errege „die Gemüter in immer steigendem Maße", bemerkte der Autor, der bereits in einem Beitrag vom 5. Dezember 1919 „die Internierung derjenigen galizisch-polnischen Einwanderer verlangt" hatte, „die nicht zu produktiver Arbeit zu bewegen" seien. „Hervorragende Männer wie Prof. Einstein" hätten „im Namen der Menschlichkeit gegen jede Internierungsabsicht [...] protestiert und dabei auch auf den üblen Eindruck einer derartigen Maßnahme im Ausland hingewiesen. Demgegenüber", so Laporte, müsse festgestellt werden: „Die Frage hat mit Antisemitismus, auch in verkapptester Form, nicht das geringste zu tun, sondern ist lediglich vom praktischen, volkswirtschaftlichen und soziologischen Standpunkt aus zu betrachten"95. Die „etwas sentimentale Annahme, der größte Teil" der „galizischen Einwanderer habe aus Pogromfurcht die Heimat verlassen", hielt der Vorsitzende des Berliner Wohnungsamts für „völlig haltlos, mindestens aber stark übertrieben [...], da nachweisbar die meisten der Berliner Zuwanderer aus Gegenden stammen, in denen niemals ein Pogrom stattgefunden hat" und, wie Laporte sofort hinzufügte, „hoffentlich auch in Zukunft nicht stattfinden wird". Dem Einwand, das Jüdische Arbeitsamt Berlin würde vielen ostjüdischen Zuwanderern Arbeit und Unterkommen vermitteln96, wurde entgegnet, daß das Jüdische Arbeitsamt „doch nur die Fälle bearbeiten kann, die ihm vom Polizeipräsidium [...] überwiesen werden. Das [sei] aber, wie einwandfrei feststeht, fraglos 94

Abendausgabe vom 5. März 1920. In einem Atemzug mit dieser formalen Abgrenzung von dem, was als „RadauAntisemitismus" verpönt war, sprach Laporte davon, daß „80 bis 90 Prozent der unliebsamen Einwanderer der jüdischen Rasse angehören", und stellte die Frage, was das Ausland unter vergleichbaren Bedingungen wohl mit Deutschen machen würde, „obwohl es sich hier um eine kulturell sehr hochstehende Bevölkerungsschicht handelt". 96 Nach einer Verfügung Heines vom 1. November 1919 sollte dem Jüdischen Arbeitsamt vor jeder Ausweisung Gelegenheit gegeben werden, „für die Betreffenden eine nutzbringende Beschäftigung und Unterkommen zu finden" (zitiert nach ebd.). 95

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///. Der Putsch vom März 1920

nur ein Bruchteil aller Fälle, da die meisten östlichen Einwanderer es vorziehen, sich unangemeldet hier aufzuhalten"97. Im übrigen dauere die „Bearbeitung des einzelnen Falles von Seiten des Arbeitsamts etwa 6 bis 8 Wochen. Während dieser Zeit aber ist oft der Betreffende schon zu Wohlstand, meist auf Schieberweise, gelangt und hat kein Bedürfnis mehr danach, die sicher sonst segensreiche Tätigkeit" des Jüdischen Arbeitsamts in Anspruch zu nehmen. Außerdem würden die Ostjuden, entgegen anderslautenden Gerüchten, den engen Wohnungsmarkt stark belasten98. Auch könne die kriminelle Seite des Problems nicht übersehen werden99: „Jeder Deutsche, welcher Rasse oder Religion er auch angehört", so die Forderung von Laporte, „muß meiner Ansicht nach verlangen, daß unsere Staatsbehörden dieses soziale Krebsgeschwür zur

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„Bei einer Recherche" sei festgestellt worden, „daß von 79 Galiziern in einem Hause [nur] 19 polizeilich angemeldet waren". Daß sich zahlreiche Zuwanderer ohne polizeiliche Anmeldung in Deutschland aufhielten, belegt Maurer: Ostjuden, S. 29 Iff. 98 Im Winter 1919/1920 waren in Berlin rund 20.000 Personen als Wohnungssuchende registriert. „Die Zahl der verfügbaren Wohnungen [... war] so gering, daß nur ein ganz bescheidener Teil" der Wohnungssuchenden eine Unterkunft erhalten konnte. „Die Folgen eines nicht ganz dringenden Zuzuges, nämlich Obdachlosigkeit, hat sich jeder selbst zuzuschreiben", warnte das „Gemeinde-Blatt der Haupt- und Residenzstadt Berlin. Organ für die gesamte Gemeindeverwaltung und Gemeindeinteressen". Berlin 1920, S. 502. Auf diese Wohnungsnot anspielend, meinte Laporte: „Auch der Einwand, daß die Galizier [...] keinerlei nennenswerte Beschränkung des Wohnungsvorrats verursachten, zieht nicht. Denn abgesehen von der großen Seuchengefahr [...] macht sich die Besetzung größerer Wohnungen und besserer Hotels durch diese Zuwanderer immer mehr bemerkbar [...], während deutsche Reisende nächtelang nach einer Unterkunft suchen müssen". Wie Laporte hinzufügte, sei ihm persönlich berichtet worden, „daß Galizier schon eine Anzahl von besseren Wohnungen der westlichen Vororte bevölkern, daß galizische Händler jeden erreichbaren Laden mieten, um ihn unter der Bedingung teurer Abstandszahlungen weiterzuvermieten". " „Jüdische Freunde" hätten ihm „mit großer Entrüstung erzählt, daß man geradezu von einer Verschlechterung der Börsenmoral durch die Geschäftspraktiken dieser Leute sprechen könnte. Beweiskräftig aber", so Laporte, „dürften vor allem die amtlichen Feststellungen des Polizeipräsidiums sein. Demnach waren die sämtlichen während des letzten halben Jahres in einer Polizeiinspektion einer Straftat überführten ausländischen Verbrecher [...] ausschließlich jüdische Galizier". Nach den Razzien der letzten Woche im Scheunenviertel dürfte „wohl auch dem größten Menschenfreund" klar sein, „daß die Duldung nicht nur Schwäche, sondern Verbrechen am eigenen Volkstum bedeutet".

Der Berliner Lokal-A nzeiger

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Heilung bringen, und wenn es auch durch die für den einzelnen unbequeme vorläufige Internierung geschehen sollte"100. Zur Errichtung von Sammel- oder Internierungslagern für „lästige Ausländer" äußerte sich der Lokal-Anzeiger häufiger. Am 7. März meldete das Blatt, es bestünden Pläne, auf einem Truppenübungsplatz „in Thüringen ein Konzentrationslager für lästige Ausländer" zu errichten101. Einige Tage später griff der Wohnungsverband Groß-Berliner Gemeinden diese Frage auf und forderte eine „Zwangseinquartierung" der „lästigen Ausländer"102. Der vom Wohnungsverband geäußerten „Entrüstung darüber, daß gegen die lästigen, hier gänzlich zwecklosen und sogar schädlichen Ausländer [...] nichts geschieht", pflichtete der Lokal-Anzeiger bei: „Die Regierung versagt auch auf diesem Gebiet wie auf fast allen anderen. [...] Wenn wir eine wirkliche Leitung unseres öffentlichen Lebens hätten", so das Blatt, „dann dürften diese unerwünschten fremden Elemente erst gar nicht ins Land hereingelangen. Und wenn dies ihnen doch gelungen ist, dann müßten sie schubweise wieder über die Grenze zurückbefördert werden103. Auch die Unterbringung in 'Konzentrationslagern', von der jetzt geredet — aber auch nur geredet — wird", schien dem Lokal-Anzeiger „ein zweifelhaftes Mittel. Denn das Ende vom Liede wird sein, daß uns die Herrschaften, nachdem sie einige Zeit das Konzentrationslager geziert haben, doch wieder im Lande erhalten bleiben"104. In einer Hinsicht war die Skepsis des Lokal-Anzeigen unangebracht: Nach Ende des „Märzputsches" konnte das Blatt unter der Überschrift

100

Unmittelbar neben den Ausführungen Laportes war folgende Meldung über „Juden als 'Ausländer' in Polen" abgedruckt: In Warschau seien „alle Juden, die in den früher russischen Gebieten Polens ansässig sind und in den russischen Akten nicht als Bürger eingetragen waren, [...] als 'Ausländer' erklärt worden. Ihnen wird die polnische Staatsangehörigkeit verweigert. Neuerdings wurden sie sogar ausgewiesen, und ihr Besitz fällt an den polnischen Staat. In Warschau wurde ihnen befohlen, die ihnen gehörenden Häuser binnen 24 Stunden zu räumen [...] In der Provinz geht es ihnen noch schlimmer". 101 (Sonntags-)Ausgabe vom 7. März 1920. 10J Abendausgabe vom 10. März 1920. 103 In der „Zurückbeförderung" der Ostjuden sah der Lokal-Anzeiger den einzigen Weg zur Lösung der „Judenfrage"; der Zionismus war dem Hugenberg-Organ suspekt (vgl. den Beitrag „Gegen den Judenstaat" in der Abendausgabe vom 11. März 1920). 104 Abendausgabe vom 10. März 1920.

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///. Der Putsch vom März 1920

„Die lästigen Ausländer in ein Konzentrationslager" melden, daß nach einer großen Razzia von den „über 1.000 festgenommenen [Personen ...] 600 in das 'Halbmondlager1 nach Zossen überstellt" worden waren. Vermutlich um die Akzeptanz der Internierung zu erhöhen, betonte der Lokal-Anzeiger, daß sich unter den Abgeschobenen „viele Ausländer" befänden, „die bolschewistischer Umtriebe verdächtig sind und denen auch eine Beteiligung an den Unruhen nachgewiesen werden konnte [...] Dieses Vorgehen der Behörden, nicht nur von der Bevölkerung, sondern auch von dem früheren Polizeipräsidenten Eugen Ernst dem Ministerium des Innern dringend nahegelegt, dürfte wohl die größte Genugtuung wecken". Man habe es nie „verstehen können, daß die Regierung in einer Zeit, da die einheimische Bevölkerung unter der Wohnungsnot und Nahrungsmangel leidet, [sich] gerade gegen zweifelhafte ausländische Elemente so nachgiebig" zeigte105.

2. Zwei Welten: Erzberger und Hindenburg Erzberger, als Inkarnation aller Fehler der parlamentarischen Demokratie bereits vor der Urteilsverkündung in seinem Prozeß gegen Helfferich vom Lokal-Anzeiger vorverurteilt106, diente dem HugenbergOrgan als Aufhänger für eine Generalabrechnung mit dem „neuen System"107: „Herr Erzberger [ist] ein toter Mann [...] Der Mann ist erledigt, und man wartet nur noch den Urteilsspruch des Gerichts ab, um ihm dann noch die unvermeidliche letzte Grabrede zu halten"108. Im

105

(Sonntags-)Ausgabe vom 28. März 1920. Der Berliner Polizeipräsident Ernst war wegen seiner positiven Haltung zum Putsch abgesetzt worden. 106 Vgl. den Prozeß-Bericht in der Abendausgabe vom 5. März 1920. Das für Erzberger vernichtende Gerichtsurteil machte der Lokal-Anzeiger in einem Extrablatt publik. 107 So der von Samuel Breslauer verfaßte Artikel „Das alte und neue System" in der Ausgabe vom 8. März 1920 (erschienen als Der Montag. 108 Die Demagogie des Lokal-Anzeigers wird auch im Bericht über die Schlußworte von Erzberger und Helfferich deutlich: „Der Herr Reichsfinanzminister Erzberger wird gerufen, tritt hinter das Pult, hält seine Schlußrede und leitet sie ein mit dem — zu erwartenden — Bäumleinverwechseln. Sein Leitfaden ist: In mir bekämpft die Reaktion den Mann der Demokratie, das Versunkene den Fortschritt, das Korrupte das neue, blühende Leben. [...] Dr. Helfferich macht zuerst sehr kurz das ab, was Herr Erzberger an Verschiebung des Beweisthemas beigebracht hat. Dann spricht er zur

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Unterschied zur Gegenwart habe „unter dem kaiserlichen Regime die Reinheit der höchsten Staatswürdenträger niemals ernsthaft angezweifelt" werden können. „Hier hat erst die Aera Erzberger109 zu neuen Anschauungen und Gewohnheiten geführt, und von dem Beginn dieser Aera Erzberger datiert in Wahrheit das neue System, nicht erst von den herrlichen Tagen der Novemberrevolution". Seit damals sei „der Einfluß des Herrn Erzberger und seiner Getreuen auf allen Gebieten" gewachsen, „und eine schwache Regierung wurde durch eine noch schwächere abgelöst, bis nach außen unsere Niederlage, im Innern die Revolution ihren Weg nehmen konnte". Jetzt müsse mit dieser Politik endlich Schluß gemacht werden, „nicht um irgendeiner Machtverschiebung die Wege zu bereiten, die [...] kommen wird, [...] weil die Unfähigkeit der heutigen Regierungsmänner für das Amt, das sie sich angemaßt haben, gar nicht zu überbieten ist", sondern um endlich wieder Aussicht auf eine bessere Zukunft zu haben110. Von der völligen Inkompetenz der Regierenden überzeugt111, reklamierte der Lokal-Anzeiger für sich eine politisch saubere Grundeinstellung. „Die Angst vor Neuwahlen" war z.B. ein Artikel überschrieben, der fragte, „gibt es etwas, das undemokratischer wäre als ein Parlament, das mit dem Volkswillen im Widerspruch steht? Und gibt es irgendeinen Zweifel, daß ein jetzt vom deutschen Volke zu wählendes Parlament ein ganz anderes Aussehen zeigen würde als die Nationalversammlung?"112 Das Bestreben der SPD, den Reichspräsidenten nicht durch das

Sache. Seine Motive ...? Sie sind doch so einfach: einen Reichsschädling zu beseitigen, das galt es ihm. Erzbergers Person — was schert sie ihn, soweit sie nicht untrennbar mit seiner Politik verbunden ist? Persönlicher Haß [...] als Leitmotiv ...? Sehr unglaubhaft [...] Aber daß er Achtung vor Erzberger empfände — nein, das behauptet Helfferich nicht" (Morgenausgabe vom 9. März 1920). 109 Die „Ära Erzberger" habe am 19. Juli 1917 begonnen, als der Reichstag der Friedensresolution zustimmte. 110 (Der Montag) Ausgabe vom 8. März 1920. 111 Vgl. z.B. den Beitrag „Reichsgericht und 'Kriegsverbrecher'" in der Morgenausgabe vom 6. März 1920. In dieselbe Kerbe schlug ein Zitat des Lokal-Anzeigers von General Groener, der nach dem Putsch meinte, er habe der Regierung „schon vor vielen Monaten ihre Lage klar gemacht. Ich habe ihr gesagt, daß ich sie innerhalb zweier Stunden wegfegen könnte, daß sie nichts wert sei, sondern allein danach trachte, ihre Parteisuppe nicht kalt werden zu lassen" (Abendausgabe vom 24. März 1920). 112 Abendausgabe vom 10. März 1920.

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///. Der Putsch vom März 1920

Volk wählen zu lassen, sei ein „Anschlag gegen die Verfassung"113: Um eine Kandidatur Hindenburgs, „des ruhmgekröntesten Deutschen"114, zu verhindern, seien SPD, Zentrum und DDP zum Verfassungsbruch bereit, denn sie fürchteten, daß das Volk „einer unpolitischen Kandidatur — etwa derjenigen des Feldmarschalls von Hindenburg — vor irgendeinem Auserwählten der Mehrheitsparteien den Vorzug geben könnte"115. Ein von den Mehrheitsparteien „gewählter Präsident wäre aber wirklich nichts weiter als ein im Grunde überflüssiger Schnörkel an der neuen deutschen Reichsfassade, eine willen- und wesenlose Puppe in der Hand der Parteien [...] Damit schwände auch die letzte Möglichkeit eines kleinsten Gegengewichtes gegen die einseitige und rücksichtslose Parteiherrschaft, die uns die Revolution in Deutschland gebracht hat. [...] Aber die Mehrheitsparteien spielen mit dem Volk, ganz wie ihre Interessen es erfordern. Am Volke wird es sein, zu entscheiden, ob und wie lange es sich dieses gewissenlose Spiel noch gefallen lassen will"116. Von der aussichtsreichen Kandidatur des National-Heroen angeregt, forderte der Lokal-Anzeiger kategorisch: „Es ist politische Pflicht, unverzüglich für die Ablösung der provisorischen Gewalten durch verfassungsmäßige Sorge zu tragen. Die Wahl eines neuen, eines endgültigen Reichspräsidenten ist das erste Gebot. [...] Schleunigste Anberaumung der Wahl also! Und ist sie erst anberaumt — [...], daran, daß Generalfeldmarschall von Hindenburg mit überwältigender Mehrheit zum Reichspräsidenten gewählt werden wird, haben wir nicht den geringsten Zweifel"117.

113

„Das wäre abermals eine Änderung der in Weimar beschlossenen Verfassung", monierte das Blatt. „Welches Mißtrauensvotum gegen das deutsche Volk würde es aber bedeuten, wenn das höchste verfassungsmäßige Recht, das die Revolution ihm gebracht hat, jetzt wieder genommen würde" (Abendausgabe vom 11. März 1920). 114 (Sonntags-)Ausgabe vom 7. März 1920. 115 Da in völkischen Kreisen der Begriff „Auserwählter" häufig als Synonym für „Jude" benutzt wurde, könnte auch der Lokal-Anzeiger in diese Richtung gezielt haben. 116 Abendausgabe vom 11. März 1920. 117 (Sonntags-)Ausgabe vom 7. März 1920. Vgl. auch den Beitrag „Die Angst vor Hindenburg" in der Morgenausgabe vom 12. März 1920.

Der Berliner Lokal-Anzeiger

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3. Der Putsch — kaum verdeckte Sympathien Die ersten Gerüchte über einen unmittelbar bevorstehenden Putsch spielte der Lokal-Anzeiger als propagandistische Übertreibungen herunter: „Wenn man den amtlichen Nachrichten der Regierung trauen darf, so haben wir es also hier mit einer richtiggehenden, im Dunkeln schleichenden, ganz unheimlichen 'Verschwörung1 zu tun. Die Öffentlichkeit hat zwar von diesen Vorgängen [...] bisher nicht das mindeste bemerkt", so das Blatt, „aber die Wachsamkeit der Regierung ist durch die andauernden Umsturzbemühungen auf der Linken noch lange nicht so sehr in Anspruch genommen, daß sie nicht auch die ihr Von rechts her drohenden' Gefahren gerade noch im letzten Augenblick aufdecken könnte. Diese ganze Art der Veröffentlichung scheint uns freilich nicht völlig frei zu sein von etwas Scheinheiligkeit und etwas Übertreibung"118. Zu den Schutzmaßnahmen der Regierung meinte das Blatt119, es scheine, „als ob die gegenrevolutionäre Gefahr sensationeller aufgeputzt worden ist, als sie es tatsächlich verdient". Vielleicht habe „die Regierung das von ihrem Standpunkt begreifliche Verlangen, die Aufmerksamkeit von der großen Einbuße an Prestige abzulenken, die ihr aus dem kläglichen Ende des Erzbergerprozesses erwachsen ist", psychologisierte das Hugenberg-Blatt. Die Regierung habe „ja selbst zugegeben, daß die rechtsstehenden Parteien als solche mit all diesen Dingen nichts zu tun haben, aber sie rechnet [...] damit, daß im Volke das unverantwortliche und unbedachte Treiben einiger weniger Heißsporne der ganzen Rechten aufs Kerbholz geschrieben wird. Und das ist offenbar die Absicht, die man merkt, und durch die man nicht nur verstimmt, sondern argwöhnisch wird". Die militärischen Gegenmaßnahmen seien jedenfalls vollkommen übertrieben, denn bis zum Redaktionsschluß sei, „wie 118

Vgl. den Aufmacher „Putschversuche in Berlin? Schutzhaftbefehle gegen Männer der Rechten" in der Abendausgabe vom 12. März 1920. 119 Nach Informationen des Lokal-Anzeigers hatte der Reichswehrminister „den strikten Befehl gegeben, daß jeder Annäherungsversuch an Berlin mit voller Waffengewalt zu verhindern" sei. Der preußische Minister des Innern sei „ersucht worden, die Einwohnerwehren Berlins unverzüglich aufzubieten, denn die verantwortlichen Stellen sind der Überzeugung, daß, wenn in diesen Nächten um den Besitz der Reichshauptstadt gekämpft werden müßte, es darüber zu sehr scharfen Waffengängen kommen [würde], und daß das Gesindel der Reichshauptstadt sich diese Gelegenheit nicht entgehen lassen würde, um seine Raub- und Mordinstinkte nach Kräften zu befriedigen" (Morgenausgabe vom 13. März 1920).

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///. Der Putsch vom März 1920

ja voraussehbar war, von keiner dieser umfangreichen militärischen Vorsichtsmaßnahmen irgendwelcher Gebrauch" gemacht worden120.

4. Die Reaktion auf den gescheiterten Putsch 121

Der Lokal-Anzeiger thematisierte zwar „die Lehren der letzten politischen Tragödie"122, im Mittelpunkt dieser Betrachtungen stand jedoch „der unmittelbar nach Ausführung des Militärputsches von Kapp und Lüttwitz begonnene Generalstreik", der, wäre „es nach dem Willen der Regierung Bauer gegangen", bereits erheblich früher beendet worden wäre. „Die Streikleitung machte jedoch [...] die Aufhebung von Bedingungen abhängig [...] In der Hauptsache handelt es sich hierbei um die Einräumung eines entscheidenden Mitbestimmungsrechtes [...] der Arbeiter, Angestellten und Beamten bei der Neubildung der Reichs- und Staatsregierung". Trotz nach wie vor deutlicher Sympathien für Kapp und Lüttwitz, denen das Blatt „lautere Absichten" unterstellte, befürchtete der Lokal-Anzeiger nun negative Rückwirkungen des Putsches auf die „nationale Sache". Jetzt sei es „doppelt heilige Pflicht aller national-

120

Abendausgabe vom 12. März 1920. Zu den Sicherungsmaßnahmen Noskes und der preußischen Regierung vgl. Wette: Noske, S. 641. 121 In der ersten Ausgabe, die nach dem Putsch und dem Ende des BuchdruckerStreiks erscheinen konnte, hieß es in einer „Mitteilung an die Leser": „Ein Militärputsch, ein Generalstreik, ein blutiger Aufruhr von bisher in Deutschland unerhörter Ausdehnung" seien seit dem 13. März „über unser armes Vaterland hinweggebraust" (Morgenausgabe vom 24. März 1920). 122 So eine Überschrift in der Morgenausgabe vom 24. März 1920. Seine eigene Rolle während des Putsches verschleierte der Lokal-Anzeiger so gut es ging: „In einzelnen Fällen [...] wurden unsere Aushängekästen von nichtortsangesessenen Agitatoren angegriffen und der Inhalt unserer Aushänge bemängelt. Daß man außerdem unter Mißbrauch unseres Namens und unserer Firma auch mit offenkundigen Schwindelnachrichten arbeitete, um bestimmte Teile der Bevölkerung untereinander zu verhetzen, soll hier noch besonders festgenagelt werden", behauptete das Blatt. Demgegenüber schrieb die Frankfurter Zeitung noch während des Putsches (Abendblatt vom 16. März 1920): „Ganz in den Dienst Kapps hat sich der 'Berliner Lokal-Anzeiger' gestellt, der seit längerer Zeit von der Schwerindustrie ausgehalten wird. In seinen Anschlagekästen verbreitet er die falschen Nachrichten des Herrn Kapp. Das erklärt sich [...] dadurch, daß die Pressestelle Kapps, die während der letzten Tage schon vier- oder fünfmal ihren Leiter gewechselt hat, jetzt in den Händen eines Redakteurs des 'Berliner Lokal-Anzeigers', des Herrn Harnisch, liegt".

Der Berliner Lokal-Anzeiger

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denkenden Männer und Frauen, sich den Blick aufs Ganze nicht durch den höchst beklagenswerten Vorgang trüben zu lassen. Es gilt das Vaterland. Wer es nicht glaubt, der sehe sich doch nur an, wie die Sozialdemokratie, von den noch weiter links stehenden Parteien gar nicht zu reden, diesen Putsch für ihre Parteizwecke ausgenutzt hat, wie sie politische Forderungen aller Art und Bedingungen stellt, die sachlich in gar keinem Zusammenhang mit dem Putsch stehen". Es sei „ein wahrer, aber leider begreiflicher Hohn", monierte das Blatt — nicht zu unrecht —, „daß jetzt die Regierung die Kappsche Forderung nach sofortiger Ausschreibung der Wahlen für den Reichstag mit wahrer Begeisterung aufgreift"123.

123

„In hoffentlich falscher psychologischer Spekulation", so das DNVP-Organ, „rechnet die Regierung auf die Naivität und das kurze Gedächtnis der Wähler, die, erzürnt und erschreckt über diesen Putsch, die Mißwirtschaft und Sünden des bisherigen Regimes vergessen" (ebd.).

IV Die BZ am Mittag Außenpolitisch war für die BZ am Mittag eine scharf antipolnische und antifranzösische Haltung charakteristisch124. Zur „Judenfrage" bzw. der ostjüdischen Einwanderung äußerte sich die BZ ebenso zurückhaltend wie zum Prozeß Erzbergers gegen Helfferich. Wirtschaftspolitischen Fragen wie den Versorgungsproblemen125 und dem Verfall der Währung126 maß das Ullstein-Blatt großes Interesse bei. Nach dem Putsch warf die BZ der Reichsregierung mangelnde Wachsamkeit gegenüber den Staatsstreichplänen von rechts vor, kritisierte jedoch ebenso die Streikbereitschaft der „Revolutionären Obleute" und den Aufstand der „Roten Armee" im Ruhrgebiet.

124

Als z.B. ein französischer Soldat in der Nähe von Berlin beim Wildern erschossen wurde, schrieb die BZ: „Wir haben bereits [...] auf das vielfach ungehörige und herausfordernde Verhalten französischer Soldaten und Offiziere [...] hingewiesen" (Ausgabe vom 10. März 1920). Am 11. März beanstandete die BZ, daß französische Soldaten kurz vor der Abstimmung über den Verlauf der deutsch-dänischen Grenze in Flensburg mehrere deutsche Fahnen eingezogen hätten. 125 So in der Ausgabe vom 6. März 1920: „Die Fischerflotte schon wieder ohne Kohle. Eine Einstellung der Fischzufuhr" drohe. Im Allgäu gebe es nur noch ganz wenige Kuraufenthalte, weil die Versorgung nicht sichergestellt sei; „die vollständige Sperrung des Fremdenverkehrs steht für die nächste Zeit in Aussicht". Selbst Heiraten sei nahezu unerschwinglich, denn alles müsse „wegfallen, was als Luxus oder Annehmlichkeit gelten darf; unter 'Leben' darf man heute nur die Befriedigung des rein animalischen Triebes nach Nahrung begreifen". 126 Kurz vor dem Putsch meldete die BZ eine „Markhausse", die mit Gerüchten über eine internationale Anleihe in Verbindung gebracht wurde. Außerdem habe man in Bankkreisen den Eindruck, „daß der Rücktritt Erzbergers [...] dem Ausland keineswegs unwillkommen ist" (Ausgabe vom 12. März 1920).

Die BZ am Mittag

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1. Außenpolitisches Feindbild: Die Polen

Die in fast allen bürgerlichen Zeitungen spürbare Ausländerfeindlichkeit hatte sich im Frühjahr 1920 bei der BZ zu einem regelrechten antipolnischen Syndrom verdichtet127. Überschriften wie „Polnische Hungerblockade gegen Danzig" signalisierten unmißverständliche Feindschaft gegen den Nachbarstaat128. Gelegentlich schwang in der antipolnischen Berichterstattung auch ein schillernder Unterton mit, der durch Reizwörter wie „Galizien" ins Spiel gebracht wurde: Als „Typhusgefahr für Europa" apostrophiert und so zu einer unmittelbaren Gefahr für jeden Leser stilisiert, schrieb die BZ, Polen gehe „nach allen Anzeichen [...] der schlimmsten Typhusepidemie in der Weltgeschichte entgegen und wird ganz Europa verseuchen, wenn nicht sofort eine Blockade dagegen errichtet wird. [...] Die bolschewistischen Heerführer schicken [...] ihre Typhuskranken in Panzerwagen an die polnische Grenze, um sie los zu werden. [...] Flüchtlinge erzählen fürchterliche Dinge von der Notlage, in der sich Tausende der Betroffenen ohne medizinische Hilfe, ohne Arznei in den primitivsten Unterkünften befinden. [...] In Galizien sind allein 46 Ärzte, soweit bekannt, bisher an der Epidemie gestorben"129. Welche Dimensionen der Nationalitätenkampf zwischen Deutschen und Polen angenommen hatte, erhellen die „polnischen Episoden" der 5Z130: Während einer Volksschulprüfung wurden die Schulkinder von ihren Müttern nach und nach aus der Schule geholt. „Es ergibt sich, daß die Thermosflasche, die der eine [deutsche] Schulrat an einem Riemen um den Leib trägt, von den durch eine skrupellose Agitation verhetzten Dörflern für eine — Giftflasche gehalten worden ist. Der geschäftstüchtige polnische Volksrat hat die Parole ausgegeben: 'Der Kreisarzt ist mit seinem Gehilfen da, die Einwohner zu vergiften1. [...] Einen Tag später. Die drei Herren kommen, diesmal ohne Thermosflasche [...] An der 127

Neben Polen und Franzosen traf die Kritik der BZ auch Holländer, die in Berlin zahlreiche Immobilien erwarben. So hieß es z.B. in einer kleinen Notiz: „Berlin W. wird holländisch. Das Haus Motzstraße 68 ist gleichfalls an einen Holländer [...] verkauft worden. Wir schlagen vor, Berlin W. in 'Holländisches Viertel' umzutaufen" (Ausgabe vom 5. März 1920). Am 6. März brachte die BZ eine weitere Meldung aus dem „Holländischen Viertel" über erneuten Grunderwerb durch Holländer. 128 Ausgabe vom 5. März 1920. 125 Ebd. 130 Vgl. die Ausgabe vom 6. März 1920.

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///. Der Putsch vom März 1920

Schultür steht der Rektor mit einer langen, verlegenen Miene. Und berichtet: 'Es tut mir sehr leid. Im Dorf geht das Gerücht, drei Männer machen die Gegend unsicher und bespritzen die Schulkinder mit Gift. In Krassow sind bereits drei davon gestorben'". Wie die BZ empört feststellte, mußte „auch die Religion [...] als Mittel dienen, den Haß zu säen. Seit einiger Zeit führt eine von den polnischen Geistlichen protegierte Schauspielertruppe in oberschlesischen Orten das Weihnachtsspiel 'Bethlehem Polski' auf. In diesem Machwerk", so die BZ, stehe eine von Engeln umgebene Krippe, zu der Schulkinder zur Anbetung kämen. Dann setze folgender Dialog ein: „Engel: Was hast Du da in der Hand? Kind: Ein Gesangbuch [...] Engel: Du blutest ja. Kind: Der Lehrer schlug mich, weil ich Polnisch sprach". Hatte die antipolnische Berichterstattung der BZ einen starken nationalistischen Akzent, so stand das Blatt dem National-Heroen Hindenburg ausgesprochen reserviert gegenüber.

2. „Präsident Hindenburg?"™

„Man müßte den Streit um Hindenburg vermeiden", riet die BZ und war bereit, ihm „nachzusehen, daß er einmal in entschuldbarer Kränkung, sozusagen in Ehrennotwehr, das ungeheuerliche Wort wiederholt hat: das deutsche Heer sei von hinten erdolcht worden". Damit aber war die Konzilianz des Ullstein-Blatts erschöpft. Mit „aller Ehrerbietung gegen den verdienten Heerführer" unterstrich die BZ, „daß ein Mann, der sich dieses Schlagwort zu eigen machen konnte, nicht dazu taugt, Präsident der deutschen Republik zu werden". Zu den Verfechtern einer Kandidatur Hindenburgs meinte das Blatt, „es gibt, Gott sei's geklagt, in diesem immer noch unpolitisierten Deutschland eine Kraft, die stets das Gute will und stets das Böse schafft". Neben negativen Auswirkungen auf die Außenpolitik sah die BZ im Falle einer Präsidentschaft Hindenburgs auch innenpolitische Gefahren: Wenn „der Heerführer Hindenburg nicht ohne Ludendorff zu denken war, so ist zu befürchten, daß hinter dem Präsidenten Hindenburg ein Einbläser

131

So die Überschrift eines Kommentars in der Ausgabe vom 8. März 1920.

Die BZ am Mittag

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stehen würde, der ihn zu folgenschweren Entschlüssen veranlassen könnte"132. Die kritische Beurteilung Hindenburgs korrespondierte mit der konsequenten Verurteilung der Rauferei im Hotel Adlon. Die „Untersuchung über die bedauerlichen Ausschreitungen" sei zwar „noch in der Schwebe, aber soviel kann und muß schon heute gesagt werden, daß sich die Urheber dieses Exzesses" nicht nur durch einen „betrüblichen Mangel an Wohlanständigkeit" auszeichneten, sondern daß sie sich „auch an nationaler Würde und nationalem Verantwortlichkeitsgefühl schuldig gemacht haben. Ein Platz wie der Speisesaal des Hotels Adlon, in dem seit Jahr und Tag eine international sehr gemischte Gesellschaft verkehrt, ist an sich nicht der Ort zu patriotischen Kundgebungen [...] Auch die Entschuldigung zu großen Alkoholgenusses ist hinfällig", meinte die BZ, „man betrinkt sich als erzogener Mensch nicht in einem öffentlichen Lokal"133.

3. Der Putsch und seine Folgen In ihrer letzten Ausgabe vor dem Putsch meldete die BZ am 12. März — irrtümlich — die Verhaftung des Hauptmanns Waldemar Pabst und die Festnahme Kapps134. Als das Blatt knapp zwei Wochen nach dem

132

Ebd. Im übrigen stelle sich die Frage, „warum soll Hindenburgs Ruhestand gestört werden? Es ist wahrhaftig ein otium cum dignitate. Muße in Würde. Aber glaubt nur: diese Würde ist untrennbar von der Muße". 133 Ausgabe vom 8. März 1920. Wie die BZ ausführte, hätten zahlreiche deutsche Gäste, „darunter auch der zufällig in demselben Saale speisende Kapitän Ehrhardt f...] sich in ritterlichster Weise der Damen angenommen", die am Tisch der französischen Militärkommission saßen, „und auch auf die angreifenden deutschen Gäste beruhigend einzuwirken versucht". IM Pabst wurde nicht verhaftet, sondern fand, nachdem er ebenso wie Kapp vom Polizeipräsidium über die drohende Verhaftung informiert worden war, Unterschlupf bei der Marinebrigade in Döberitz (Wette: Noske, S. 634). Zu Hauptmann Pabst meint Schulze: Freikorps, S. 39, Anm. 18, er sei „ein eigensinniger und unbeeinflußbarer Charakter" gewesen, „was sich gelegentlich in Einsätzen [...] äußerte, die nicht im Sinne der Regierung, wenn nicht sogar direkt regierungsfeindlich waren"; als „regierungsfeindlich" läßt sich sicher der Putschversuch vom 21. Juli 1919 charakterisieren. Nachdem ihm „schon der Mord an Liebknecht und Rosa Luxemburg keine Strafe eingetragen hatte" (Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 40f.), war auch dieser

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///. Der Putsch vom März 1920

Putsch und dem Buchdrucker-Streik wieder erschien, warf es der Reichsregierung vor, sie habe „mit der bloßen Neubesetzung einiger Ministerposten" nicht die richtigen Konsequenzen aus dem Putsch gezogen: „Die Regierung scheint sich nicht klar zu sein, welches große Maß an Schuld man ihrer Sorglosigkeit und Ahnungslosigkeit an dem von Kapp herbeigeführten Unglück Deutschlands beimißt135. Weiteste Volkskreise hätten eine Reform an Haupt und Gliedern erwartet". Daneben warf das Blatt der „militärischen Leitung Berlins" vor, „noch immer nicht erfaßt" zu haben, „was die Grundursache der anhaltenden Beunruhigung Groß-Berlins ist: gerade das Übermaß militärischer Sicherung. Was unsere Nerven in den letzten stürmischen Tagen am meisten angriff, war das Bewußtsein, daß unsere Frauen und Kinder jede Stunde des Tages an geladenen Maschinengewehrrohren und an Flintenläufen im Anschlag vorbeigehen mußten. Davon ist ein außerordentlicher Widerwille gegen jeden Schießprügel zurückgeblieben"136.

Putschversuch für ihn ohne Konsequenzen geblieben. Zu Pabst vgl. auch Gumbel: Vier Jahre politischer Mord, S. 12. 135 So beklagte die BZ, daß die Lebensmittelpreise seit dem 13. März um fast 50 Prozent gestiegen seien. Schon die Tage des Putsches hätten „einen außerordentlichen Ansturm auf alle Lebensmittelgeschäfte [gebracht], die binnen weniger Stunden ziemlich leergekauft waren". Auch nach Abbruch des Generalstreiks sei keine schnelle Besserung zu erwarten, denn beim „Ausbruch des Putsches sind zunächst alle überseeischen Lebensmittelsendungen durch die Verschiffer in holländischen und dänischen Häfen angehalten worden". — Als „Streik gegen die Toten" brachte das Blatt folgende Meldung: „Sogar die Totengräber haben sich beim Generalstreik beteiligt und ließen die Leichen in den Friedhofshallen sich anhäufen. Erst kurz vor Abbruch des Generalstreiks nahmen sie ihre Tätigkeit wieder auf mit der Begründung, daß es sich um einen [...] lebenswichtigen Betrieb handle" (Ausgabe vom 25. März 1920). 136 Vgl. den Beitrag „Handgranaten in der Garderobe abgeben" (ebd.). Nachdem die Alliierten auf der Konferenz von Spa (5.—16. Juli 1920) die beschleunigte Entwaffnung der Zivilbevölkerung (!) gefordert hatten, wurden auf Grundlage des „Entwaffnungsgesetzes" vom 7. August 1920 bis Ende des Jahres folgende Waffen abgegeben: „932 Geschütze, Minenwerfer und Flammenwerfer; über 18.000 Maschinengewehre, 1.680 Maschinenpistolen und über 2,2 Millionen Gewehre und Karabiner; über 78.000 Revolver und Pistolen, über 85.000 Handgranaten und über 46 Millionen Stück Handfeuermunition" (Huber: Verfassungsgeschichte, S. 158).

v Die Germania Außenpolitisch mit großen Vorbehalten gegenüber Polen137, der Tschechoslowakei138 und den Entente-Staaten, vertrat die Germania eine rechtsliberale, etatistische Innenpolitik139, deren Prägung durch den Katholizismus nicht zu übersehen war140. Über den Prozeß Erzbergers berichtete das Blatt sehr distanziert, steigerte sein Engagement aber, als der für Erzberger negative Prozeßausgang absehbar war141. Erstaunlich 137

Vgl. z.B. den besonders drastischen Artikel „Wie die Polen deutsche Kinder berauben" (Morgenausgabe vom 13. März 1920). 138 Die zwangsläufig Völkerhaß evozierende Diktion der Beiträge „Not der Deutschen in Böhmen" (Morgenausgabe vom 11. März 1920) und „Deutschenhetze in Brunn" (Abendausgabe vom selben Tag) wäre wohl auch von der nationalsozialistischen Pressezensur nach 1933 nicht beanstandet worden. 1J ' „Das Zentrum als eine Verfassungs- und Rechtspartei lehnt grundsätzlich jede gewaltsame Staatsumwälzung ab. Es hat diese Haltung gegenüber der Novemberrevolution von 1918 eingenommen und sich erst nachher an der Neubildung der Regierung beteiligt, als durch die Januarwahlen von 1919 ein neuer Rechtsboden für den politischen Wiederaufbau unseres Vaterlandes geschaffen war" (Morgenausgabe vom 25. März 1920). 140 Vgl. etwa den Bericht über die Hauptversammlung des Rheinischen Bauernvereins: „Gegenüber der Tatsache, daß aus der Reichsverfassung sowie in der Eidesformel der Name Gottes ausgemerzt ist", erhob der Vereinsvorsitzende „die Forderung des christlichen Staats und der christlichen Schule. Demokratie sei nicht gleichbedeutend mit Republik; ein echter Demokrat kann ein ebenso überzeugter Monarchist sein!" (Abendausgabe vom 6. März 1920). 141 Die „Entlastungsoffensiven" gegen die Anti-Erzberger-Polemik der DNVP waren keinesfalls immer überzeugend, wie der Beitrag „Der 'Jude' Erzberger" zeigt: „Einen besonderen Trumpf" glaube die deutschnationale Presse mit der Behauptung ausspielen zu können, „Erzberger sei jüdischer Herkunft oder gar selbst getaufter Jude [...] Um diesem Gerede ein Ende zu machen", habe sich eine Zeitung an das für Erzberger zuständige Pfarramt gewandt und die Bestätigung erhalten, daß die Eltern Erzbergers als geachtete Katholiken in Buttenhausen lebten (Abendausgabe vom 11. März 1920). Die Notwendigkeit einer solchen „Ehrenrettung" verspürte auch der

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///. Der Putsch vom März 1920

nationalistisch waren die Berichte über die Volksabstimmung zum deutsch-dänischen Grenzverlauf142. Mit Antisemitismus befaßte sich das Zentrums-Blatt im März 1920 nur am Rande.

1. Neuwahlen und der Kandidat Hindenburg Wie die Reichsregierung, so lehnte auch die Germania den Antrag der Rechtsparteien auf Auflösung der Nationalversammlung zum 1. Mai ab, denn zunächst müßten „die dringendsten Vorlagen" wie „die Steuergesetze, die Beamtenbesoldungsreform, die Wahlrechtsvorlagen und der Etat" beraten werden143. Offensichtlich ging es dem Blatt aber auch darum, dem Auflösungsantrag seine propagandistische Wirkung zu nehmen: Der Antrag von DVP und DNVP diene „einseitig parteipolitischen Interessen", meinte die Germania und fragte, „ob die Zusammensetzung des ehemaligen preußischen Landtages jemals der Volksstimmung entsprochen hat und was die damaligen Konservativen, die heutigen Deutschnationalen, getan haben, um diesem Übelstand abzuhelfen". Der Zweck ihres Manövers sei „sehr durchsichtig", denn „unter dem Druck der wirtschaftlichen Not ist die allgemeine Stimmung ohne Zweifel sehr schlecht. [...] Da hat es eine rücksichtslose Opposition leicht, die Mißstimmung politisch auszubeuten"144.

Vorwärts, als er unmittelbar nach der Ermordung Erzbergers im August 1921 betonte, Erzberger sei „dem Stamme nach Schwabe". 142 So hieß es in einem Beitrag zur Abstimmung in der Zweiten Zone (Morgenausgabe vom 12. März 1920): „Die Deutschen treiben nach dänischem Geschrei eine Propaganda, die zwingt. [...] Sie zwingt die Herzen und nicht die Kanaille im Menschen. Die Deutschen gehen soweit, 'Iphigenie' [...] aufzuführen. Wundervoll und titanengroß hob sich der deutsche Geist über der Festversammlung empor. Eine heilige Welle drang siegreich gegen den Lärm des Tages". Nach der Abstimmung feierte derselbe Autor den Tag des ersten „deutschen politischen Sieges seit Versailles" wie folgt: „Gute, leuchtende nordische Nacht in Flensburg, in der man wieder an den deutschen Gedanken glauben lernte! [...] Man kann die Wahrheit des Blutes nicht umlügen, wir haben es immer geglaubt" (Abendausgabe vom 26. März 1920). 143 Morgenausgabe vom 7. März 1920. 144 Morgenausgabe vom 7. März 1920. In der Morgenausgabe vom 10. März 1920 prophezeite die Germania den Zusammenbrach der Lebensmittelversorgung in den rechtsrheinischen Städten innerhalb der nächsten Wochen.

Die Germania

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Als DVP und DNVP mit der Kandidatur Hindenburgs einen überraschenden Trumpf ausspielten, stimmte die Germania in den Chor der bürgerlichen Zeitungen ein, denen diese Kandidatur zwar politisch unangenehm war, die sich aber scheuten, den „Mythos Hindenburg" zu demontieren: „Der Generalfeldmarschall sollte allen guten Deutschen zu hoch stehen, als daß er in die parteipolitischen Kämpfe hineingezogen wird. [...] Die Folge wären erbitterte Kämpfe um die Person des verehrten Heerführers, dessen Ansehen darunter nur leiden kann und bei einer möglichen Wahlniederlage geradezu erschüttert werden würde"145. Angesichts der emporschwappenden Welle nationaler Begeisterung, die nicht zuletzt durch die Kandidatur Hindenburgs ausgelöst wurde, hielt die Germania es für angeraten, die Koalition des Zentrums mit DDP und SPD ausführlicher zu begründen: „Wenn sich die Dinge erst rückschauend im Zusammenhang überblicken lassen, werden auch sicher viele Gegner" des heutigen Kurses „ehrlich anerkennen müssen, daß das Zusammenarbeiten der drei Parteien [...] das Reich vor dem drohenden Untergang bewahrt" habe. Als sei die Koalition akut gefährdet, resümierte die Germania das eine um das andere Mal: „Es gibt keine andere Mehrheit in der Nationalversammlung, die genügend starke Tragfähigkeit für eine ersprießliche Tätigkeit besitzt. [...] In rechtsstehenden Blättern ist zwar der Hoffnung Ausdruck gegeben worden, daß mit dem Ausscheiden Erzbergeri [...] die Koalitionsregierung einen tödlichen Schlag erhalten werde! [...] Aber auch diese Hoffnung wird sich [...] als eine Illusion erweisen. In der Fraktion herrscht Einstimmigkeit darüber, daß nur die Fortsetzung der Koalitionspolitik das einzig Mögliche ist"146.

2. Der rechtsradikale Putsch

Unter der Überschrift „Ein rechtsradikaler Putschversuch vereitelt" brachte auch die Germania am Abend des 12. März erste Informationen

145

Vgl. die unscheinbar präsentierte Meldung „Hindenburg als Präsidentschaftskandidat?" in der Morgenausgabe vom 7. März 1920. Zufrieden registrierte die Germania, daß sich „das Hauptblatt der Deutschen Volkspartei", die Kölnische Zeitung, ebenfalls gegen eine Kandidatur Hindenburgs ausgesprochen habe (Abendausgabe vom 10. März 1920). 146 Morgenausgabe vom 11. März 1920.

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///. Der Putsch vom März 1920

zum Putsch. In Berlin habe „seit einiger Zeit das Treiben einer rechtsradikalen Klique eingesetzt, deren Bestrebungen auf einen gesetz- und verfassungswidrigen Umsturz hinauslaufen", zitierte das Blatt aus einer amtlichen Erklärung und fügte hinzu, „Gerüchte, daß im Döberitzer Lager Truppen für den Ausmarsch ausgerüstet in Alarmbereitschaft gelegen hätten, die dem Reichswehrkommando nicht unterstanden, sind falsch. In Döberitz lag zuletzt die Marine-Brigade Ehrhardt, die vor einigen Tagen aufgelöst und zum größten Teil zur Marine überführt worden ist"147. In der Morgenausgabe vom 13. März — Berlin war zu diesem Zeitpunkt schon besetzt — klang die Germania pessimistischer, hatte doch „die Putschbewegung einen größeren Umfang angenommen, als man zunächst erwarten konnte". Nach allen vorliegenden Informationen seien „führende und verantwortliche Persönlichkeiten [...] weniger an der Bewegung beteiligt als eine Anzahl von Leuten, besonders von Offizieren, die infolge des Krieges und der Revolution materiell und ideell Einbuße erlitten haben", stellte die Germania fest. „Wenn die Bewegung erst jetzt bekannt geworden ist, so liegt es daran, daß es sich um Männer handelt, die mit erstklassigen Erfahrungen ausgerüstet sind. Es muß jetzt unter allen Umständen vermieden werden, daß eine Besetzung Berlins durch Meuterer zustande kommt. Der Reichswehrminister hat deshalb dem Chef der Heeresleitung Preußens mitgeteilt, daß im Falle von Zusammenstößen unbedingt die Waffengewalt angewendet werden muß. Andererseits wird die Schwierigkeit nicht verkannt", so die Germania, „daß die Reichswehrtruppen sich unter Umständen nur sehr schwer entschließen werden, auf frühere Kameraden zu schießen". Die von den Putschisten drohende Gefahr sei „auch dann noch groß genug, wenn [...] sich herausstellen sollte, daß hinter den Umsturzplänen nur eine kleine Gruppe von Rechtsbolschewisten steht. Und zwar deshalb, weil deren Versuche, Truppenteile in ihren Dienst zu stellen, nach Lage der Sache gar nicht so aussichtslos erscheinen"148.

147

Abendausgabe vom 12. März 1920. Diese Falschmeldung bezeugt die Leichtfertigkeit, mit der die Sicherheitsorgane, aber auch die Presse auf den von Lüttwitz angekündigten Widerstand gegen die Auflösung der beiden Marinebrigaden reagierten. 148 Morgenausgabe vom 13. März 1920. Wie der Lokal-Anzeiger, so betonte auch die Germania den vorrangig militärischen Charakter der Putschbewegung.

Die Germania

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Nach „Überwindung der Gegenrevolution"149 verdichtete die Germania zahlreiche Mosaiksteinchen zu einem die politische Führung, vor allem Noske stark belastenden Bild: „Die planmäßige Vorbereitung der Kapprevolution reicht viele Wochen zurück. Sie wurde ermöglicht durch einige Maßnahmen, zu denen sich Noske auf Zureden seiner militärischen Berater bestimmen ließ150. Zuerst war dies die Aufrechterhaltung der Marinebrigade, die sich bei der Bekämpfung der spartakistischen Gegenrevolution sehr nützlich erwiesen hatte151. Dann die Erlaubnis an die Baltikumtruppen, soweit sie eine bürgerliche Existenz gefunden hatten, bis zum 15. März in ihren Lagern versammelt zu bleiben und zwar im Besitz der Waffen. [...] So kam der 12. März heran, der den konservativen Vorstoß in der Nationalversammlung gegen die Weitertagung dieses Parlaments brachte. Der Auflösungsantrag wurde abgelehnt. Dieser Umstand und ein Vorstoß in der sozialdemokratischen Presse zugunsten einer Wahl des Reichspräsidenten durch das Parlament [...] gaben den militärischen Verschwörern [...] Agitationsmittel zur Bearbeitung der Truppe [...] Gegenüber den vielfach verbreiteten irrigen Ansichten muß betont werden", so die Germania in ihrer Rückschau, „daß die Truppen des Generals Reinhardt bereit waren, gemäß ihren eidlich übernommenen Pflichten, die Verfassung und die Regierung zu schützen"152. 149

So die ganzseitige Schlagzeile in der Abendausgabe vom 24. März 1920. Auf einer Kölner Zentrumssitzung gab es allerdings auch Stimmen, die mit dem Putsch sympathisierten: „Was Scheidemann und Ebert durften, durften Kapp und Lüttwitz auch. [...] Wenn Kapp bestraft werden soll, dann auch die Helden der Novemberrevolution 1918" (zitiert nach Morsey: Zentrumspartei, S. 305). 150 So sei Noske bereits „vor Wochen von verschiedenen Stellen darauf hingewiesen [worden], daß aus den Berliner Regimentern planmäßig alle republikanisch gesinnten Offiziere entfernt würden. Er fügte sich auch in diesem Punkt den Vorstellungen seiner militärischen Umgebung und ließ es geschehen" (Abendausgabe vom 24. März 1920). 151 Auch die Germania beurteilte die „historischen Verdienste" von Lüttwitz positiv. Er habe jedoch „in staatsverbrecherischem Übermut [...] selbst all die großen Verdienste annulliert, die er sich vor Jahresfrist durch die Rettung Berlins vor dem Bolschewismus erworben hatte" (Morgenausgabe vom 25. März 1920). 152 Abendausgabe vom 24. März 1920. In einem Brief an seine Frau meinte Groener, Reinhardt sei als Chef der Heeresleitung „bei der 'Beseitigung der alten militärischen Errungenschaften' weiter [gegangen ...], als 'selbst die Sozialdemokraten (es) zu tun wagen würden'" (zitiert nach Werner Maser: Friedrich Ebert der erste deutsche Reichspräsident. Eine politische Biographie. München 1987, S. 196). Gegenüber Po-

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///. Der Putsch vom März 1920

Der Putsch sei „das Schlimmste, was dem deutschen Volke in seiner elenden Lage nach dem verlorenen Kriege passieren konnte"153. Allerdings hätten die Einzelstaaten „mit erfreulicher Entschiedenheit [...] sofort die Kapp und Lüttwitz wissen lassen, daß [...] sie [...] treu zur alten Regierung und zum verfassungsmäßigen Recht stehen würden. Mit nicht minder lückenloser Geschlossenheit hat endlich auch das deutsche Volk in seiner erdrückenden Mehrheit den Verfassungsbruch von rechts abgelehnt und praktisch bekämpft". Der „fast automatisch" einsetzende Generalstreik habe den Gegenrevolutionären zu erkennen gegeben, „daß sie wirtschaftlich das Vaterland mit jedem Tage [...] in tieferes Elend stürzen würden". Nachdem Kapp und Lüttwitz sich zurückgezogen hätten, sei zwar „ihr Staatsstreich gegenstandslos geworden, leider aber nicht der Generalstreik", der „im Augenblick des Abgangs der Putschisten [...] ebenso automatisch [hätte] aufhören müssen, wie er begonnen hatte, weil er sein Ziel vollständig erreicht hatte154. Im größten Teil des Reiches geschah das auch, nicht aber in Berlin!". Mit den „acht Forderungen, die zwischen den in Berlin anwesenden Parteiführern und den Ge-

len blieb Reinhardt jedoch der preußisch-wilhelminischen Machtstaatspolitik verhaftet (vgl. Broszat: Zweihundertjahre deutsche Polenpolitik, S. 203). 153 Eine Schilderung von Dr. Herschel, MdR, über einen nächtlichen Spaziergang durch das am 15. März noch vom Generalstreik lahmgelegte Berlin gibt einen Eindruck vom „alltäglichen" Antisemitismus: „Nur wenige Redner treten für das alierneueste System ein. Sie werden abgelehnt, zumeist mit Lachen und höhnischen Bemerkungen. Nur, wer antisemitische Wendungen braucht, findet ab und zu Anklang. Die judenfeindliche Strömung ist offenbar groß, aber die Wut über den Staatsstreich und die Furcht vor der Entwicklung zum Bolschewismus ist größer. [...] Einzelne sind skeptisch: 'Die alte Regierung hat gelogen, die neue lügt auch!' sagt einer zu einem Kappschen Erlasse. Ein anderer: Ob Willem, Ebert oder Kapp, zu fressen wollen wir haben.' Darauf eine Frau: 'Woll'n Se so eenen Prinzen, der im Adlon mit die Gläser schmeißt?' 'Ach was, Hauptsache, die Juden müssen weg!' 'Na, Sie können sie doch nicht totschlagen.' 'Nein, aber sie brauchen doch nicht so dicht in der Regierung zu sitzen.' 'Diese Bolschewisten von rechts sind viel schlimmer wie die Juden.' [...] So schwirrt es durcheinander. 'Straße frei!' Ein scharfes Kommando. Eine Streifschar im Stahlhelm, das Hakenkreuz des judenfeindlichen Hammerbundes darauf gemalt, treibt die Gruppen auseinander" (Abendausgabe vom 25. März 1920). 154 Morgenausgabe vom 25. März 1920. Hier meinte die Germania, der „einzige wesentliche Unterschied zwischen der Münchener Rätediktatur und der Berliner Militärdiktatur" sei die Tatsache, daß Kapp und Lüttwitz „bedingungslos ihren Rücktritt erklärt [hätten], bevor man sie mit Waffengewalt, Blutvergießen und Zerstörungen dazu zwingen mußte".

Die Germania

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werkschaften vereinbart wurden", konnte sich die Germania arrangieren, kritisierte aber, daß „den Berliner Radikalen [...] dieses Entgegenkommen noch nicht weit genug" gehe. Es sei aber im Interesse aller, „den Bogen weder von rechts noch von links zu überspannen". Deshalb sei eine „Rückkehr zur Koalitionspolitik der verflossenen Monate" ratsam, erklärte das Blatt in Richtung Sozialdemokratie, deren linker Flügel stark zu einer „reinen Arbeiterregierung" tendierte155.

3. Aufstände im Ruhrgebiet, in Sachsen und Thüringen Daß die Aufständischen der Reichswehr in zahlreichen Gefechten überlegen waren156 und ihr Zulauf157 ungebrochen anhielt158, über155

Am 18. März hatten die Gewerkschaften die Fortsetzung des Generalstreiks bis zur Verwirklichung ihres Neun-Punkte-Programms proklamiert. Als der zur Einstellung des Generalstreiks ausgehandelte Kompromiß unterzeichnet wurde, war der 9. Punkt entfallen, da Noske inzwischen zurückgetreten war. Dieser Sieg der Gewerkschaften über Noske war „in der Tat ein Pyrrhussieg", meint Gotthard Jasper: Der Schutz der Republik. Studien zur staatlichen Sicherung der Demokratie in der Weimarer Republik 1922—1930. Tübingen 1963, S. 31, denn die Koalition war nach dem Rücktritt Noskes kaum noch in der Lage, auf die Reichswehrführung Einfluß zu nehmen. 156 Bei Remscheid z.B. erlitten Reichswehrtruppen in einem „mörderischen Kreuzfeuer [...] furchtbare Verluste [...] Die Überlebenden, etwa 1.500 Mann, die sich in wilder Flucht [...] ins besetzte Gebiet retten konnten, wurden dort von englischen Truppen in Empfang genommen, entwaffnet und in Sicherheit gebracht" (Morgenausgabe vom 25. März 1920). 157 Die Germania ging davon aus, daß vor allem finanzielle Aspekte den Kampf in der „Roten Armee" attraktiv machten: Nach einer Anordnung des Roten Vollzugsrates in Duisburg erhielten Mitglieder der Arbeiter-Kampftruppen „nicht weniger als 65 Mark täglichen Sold sowie Verpflegung und Ersatz für Kleidungsstücke" (ebd.). Da die Angehörigen der meuternden Marinebrigade einen (von der Reichsregierung ausgezahlten) Sold von 50 Mark pro Tag erhielten, scheinen die 65 Mark für die „Mitglieder der Arbeiter-Kampftruppen" jedoch nicht exorbitant hoch gewesen zu sein. 158 Dazu eine Meldung der Kölnischen Zeitung: Im nördlichen Teil Düsseldorfs „glaubt man heute mitten in einer Mobilmachung vor dem Kriege zu stehen. Lange Kolonnen von Männern und Jünglingen, zum Teil begleitet von Frauen und Mädchen, ziehen nach dem Kasernenviertel. [...] Wenn man im Aktionsausschuß in Hagen, wo die Zentrale der ganzen Bewegung liegt, gestern angegeben hat, daß die Rote Armee im Industriegebiet schon eine Stärke von 120.000 Mann erreicht habe, so ist

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///. Der Putsch vom März 1920

raschte die Germania. Auch über die Verbissenheit, mit der etwa 10.000 Arbeiter in Dortmund gegen das 1.200 Mann starke Korps Lichtschlag kämpften, war die Germania erstaunt: „300 Tote und Verwundete wurden am Ende der Straßenschlacht gezählt, die damit endete, daß das Korps Lichtschlag und die Polizei- und Bürgertruppen die Waffen streckten". In Essen forderten „etwa 2—3.000 Spartakisten" ultimativ, die Sicherheitspolizei solle sich ergeben, andernfalls würde man das Rathaus mit 10,5cm-Geschützen und Minenwerfern angreifen. Als „die grüne Polizei [...] mit allen Waffen und in allen Ehren" aus Essen abzog, wurde sie vereinzelt mit Feuer belegt; in dem dann entstehenden Gemetzel wurde „ohne Erbarmen niedergestochen und erschlagen". Doch nicht nur im Ruhrgebiet war die Lage der Reichswehr prekär, sondern auch in Sachsen und Thüringen schienen alle Dämme gegen die „rote Flut" zu brechen159: In Thüringen hätten die bewaffneten Arbeiter „gleich die Oberhand" erhalten, während die Kämpfe im benachbarten Sachsen denen im Ruhrgebiet an Grausamkeit kaum nachstünden: In Leipzig warf ein Militärflugzeug „nachmittags Bomben auf den Johannisplatz"; ein anderes Flugzeug, „das Erkundungen vornehmen sollte, wurde von den Arbeitern abgeschossen. [...] Das Volkshaus, der Sitz der Arbeiterkampfleitung, wurde [...] nach Artillerievorbereitung von den Zeitfreiwilligen mit Reichswehrunterstützung im Sturm genommen. Es ging in Flammen auf. [...] Nach privaten Ermittlungen dürften sich die Opfer bei den Kämpfen auf über 150 Tote und über 250 Verwundete stellen"; allein aus Dresden meldete die Germania 54 Tote, aus Flauen sieben, und im thüringischen Gotha hatte man die Bestattung von 173 Toten vorbereitet160.

diese Behauptung heute nicht mehr zu bezweifeln" (zitiert nach der Abendausgabe der Germania vom 25. März 1920). 159 Nach anfänglichen Erfolgen der Aufständischen setzte sich die Reichswehr überall durch. Miller: Bürde der Macht, S. 405, spricht von einem förmlichen „Rachezug des Militärs". 160 Alle Angaben aus der Morgenausgabe vom 25. März 1920. In Berlin sei die Zahl der Todesopfer „noch nicht genau festgestellt", aber man habe bis zum 22. März knapp 50 Tote gezählt, hieß es in der Abendausgabe vom 25. März.

VI

Die Frankfurter "Zeitung Die Frankfurter Zeitung orientierte sich nach dem Putsch von Lüttwitz und Kapp noch stärker nach links und plädierte für die Einbeziehung von Teilen der USPD in die Reichsregierung. Ausgesprochen scharf kritisierte das Blatt die von Stresemann geführte DVP161. In erklärter Feindschaft zu den Flügelparteien DNVP und KPD setzte sich das Blatt so konsequent für die demokratische und soziale Ausgestaltung der Republik ein, daß auch in wirtschaftspolitischen Berichten häufig soziale Aspekte im Vordergrund standen. Auch wenn die Frankfurter Zeitung sich im Frühjahr 1920 nur selten mit Antisemitismus befaßte, so lehnte sie ihn doch entschieden ab162.

161

Zur Präsidentschaftskandidatur Hindenburgs meinte das Blatt, es handele sich hierbei „in Wirklichkeit um eine Sache der deutschnationalen Partei, die es sehr geschickt verstanden hat, die sogenannte Deutsche Volkspartei hier wie bei anderen Gelegenheiten vor ihren Karren zu spannen" (Abendblatt vom 8. März 1920). Am 12. März kritisierte die Frankfurter Zeitung (erstes Morgenblatt) erneut „die immer mehr nach rechts hin neigende Deutsche Volkspartei". Auch für einen Demokraten wie Theodor Heuß „war Stresemann der Erzopportunist, ein politischer Kondottiere, und die DVP eine Sammlung von Opportunisten ohne Prinzipien außer dem des wirtschaftlichen Liberalismus" (Modris Eksteins: Theodor Heuß und die Weimarer Republik. Ein Beitrag zur Geschichte des Liberalismus. Stuttgart 1969, S. 122). 162 Im Bericht über einen Mord, dem angeblich „antisemitische Motive" zugrunde lagen, betonte das Blatt, es könne „schon heute auf die gefährlichen Wirkungen hingewiesen werden, die die skrupellose Verhetzung, wie sie von antisemitischer Seite betrieben wird, auf geistig und moralisch schwache Menschen haben kann" (Abendblatt vom 11. März 1920). Bei Schülern und Studenten waren nach Ansicht der Frankfurter Zeitung antisemitische Einstellungen besonders verbreitet (vgl. das zweite Morgenblatt vom 12. März sowie das Abendblatt vom 13. März 1920, in dem auch eine längere Meldung über Antisemitismus in Posen gebracht wurde).

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///. Der Putsch vom März 1920

1. Wirtschaftliches Elend und soziale Not Wie sehr der Alltag in den ersten Jahren nach Kriegsende vom Kampf ums bloße Überleben bestimmt war und vor welchem wirtschaftlichen Szenario die entscheidenden politischen Weichenstellungen der frühen Weimarer Republik erfolgten, veranschaulicht ein Bericht der Frankfurter Zeitung über den „Kindertod in Europa"163: „In dem ruhelosen Jagen nach der für das bare Weiterleben notwendigen Mindestzahl von Kalorien, welches das Dasein des größten Teils der europäischen Menschheit heute ausfüllt, ist das Kind am übelsten" dran, konstatierte der Autor, der die Folgen der herrschenden Unterernährung in die Zukunft fortschrieb und zu einer Horrorvision ausgestaltete. Es könne dann „in großen Kulturländern eine früher unbekannte Rasse von Schwächlingen und Minderwertigen geben [...] Es klingt entsetzlich, aber der Gedanke wird von ernsthaften Menschenfreunden gelegentlich doch erwogen, ob es [...] nicht besser wäre, hingehen zu lassen, was schon lebensschwach ist und alle Kraft an die Rettung der wirklich lebensfähigen zu setzen, damit wenigstens nicht künftige Geschlechter als Krüppel und Kretine zur Welt kommen". Unterstrichen wurde die Schilderung des Elends mit dem Hinweis, in Deutschland seien rund sechs Millionen Kinder unterernährt und allein in Berlin seien 30.000 Kinder tuberkulös; in einem Leipziger Krankenhaus stünden pro Tag für „95 Kinder ein und einviertel Liter Milch zur Verfügung"164. Noch schlimmer grassierte das Elend in Osteuropa: „Wenn das Kinderelend in Deutschland zum Himmel schreit, [...] so dürfen wir keineswegs verkennen, daß es in den meisten Gebieten östlich von uns noch schlechter bestellt ist. Es ist peinvoll, Zeuge zu sein, [...] wie in der Elendskonkurrenz das über all dem Schauderhaften allmählich stumpf werdende Interesse durch besonders ergreifende Tatsachen geschärft werden muß, so wie die Krüppel an den Türen der Kirchen Roms ihre Gebrechen wirkungsvoll zu entfalten gelernt haben"165. Als hätte der Verfasser eines Berichts über die Leipziger Messe diesen Beitrag über den „Kindertod in Europa" gelesen, schrieb er: Wie die Nahrungsmittelgeschäfte auf der Messe „von Delikatessen strotzen und in den Restaurationen die ausge-

163

Erstes Morgenblatt vom 6. März 1920. Ebd. Zum Elend in Wien vgl. den Artikel „Das sterbende Wien" im zweiten Morgenblatt vom 12. März 1920. 165 Erstes Morgenblatt vom 6. März 1920. 1M

Die Frankfurter Zeitung

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wähltesten Sachen zu haben sind [...], so schimmert auch ganz Leipzig im Lichte nicht nur verschwenderisch erleuchteter Schaufenster, sondern auch die Beleuchtungsmittelindustrie macht sich in riesigen Salonstehlampen [...] diesmal ganz besonders geltend. Aber wir möchten gar so gern etwas mehr Kochgas haben und wären so zufrieden, wenn in unserer engen Zelle wieder eine Petroleumlampe freundlich brannte!"166. Bei der skizzierten Not erklären sich die reichsweiten Lebensmittelunruhen fast von selbst: So wurde z.B. auf einer von den freien Gewerkschaften organisierten Massenkundgebung in Köln „gegen die ungeheure Verteuerung der Lebensmittel protestiert und die Herbeischaffung größerer Mengen Lebensmittel sowie energischer Kampf gegen das Schieber-, Wucherer- und Prassertum gefordert". Nach Ende der Veranstaltung „zogen wilde Banden durch die Straßen, drangen in die Weinund Konzertlokale ein, plünderten und forderten die Schließung der Lokale. In größeren Lebensmittelgeschäften wurden die Fensterscheiben zertrümmert und die Läden ausgeraubt". Zur Aufrechterhaltung der Ordnung mußte „ein außerordentliches Aufgebot von Schutzleuten und englischer berittener Polizei" eingesetzt werden167.

2. Gegen die Kandidatur Hindenburgs In ihrer ersten Meldung zur Kandidatur Hindenburgs schrieb die Frankfurter Zeitung1^, „Inhalt und Beweisführung" der hymnischen Artikel der Rechtspresse zur Kandidatur Hindenburgs ließen erkennen, „daß eine Zentralstelle dabei geistig befruchtend gewirkt hat. Übereinstimmend wird hervorgehoben, Hindenburg sei der Retter, er genieße das Vertrauen aller Volksteile und verkörpere in seiner Person das nationale Programm, das wir zu unserer Wiedergesundung gebrauchten". Es sei „traurig", meinte die Frankfurter Zeitung, „zu erleben, wie dieser erste deutsche Feldherr" sich zu „einem solchen Täuschungsversuch gegenüber dem deutschen Volke" mißbrauchen lasse. „Jeder, der die Au-

166

Zweites Morgenblatt vom 7. März 1920. Zweites Morgenblatt vom 13. März 1920. Zur Durchmischung politischer und sozialer Protestaktionen mit Plünderungen vgl. weiter unten die Ausführungen zum Vorwärts und zur Roten Fahne. as (einzige) Morgenblatt vom 8. März 1920. 167

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///. Der Putsch vom März 1920

gen offen hat, sieht, daß es sich hier um eine deutschnationale Parteisache handelt. Vielleicht ist wirklich der Feldmarschall selbst der einzige, der das nicht sieht"169. Auch wenn Hindenburg „ein recht unpolitischer Mensch" sei, müsse die Frage, ob „er deshalb ein unpolitischer Reichspräsident" sein könne, klar verneint werden. Der innenpolitische „Burgfrieden", mit dem die DNVP für die Kandidatur Hindenburgs werbe, sei „reine Illusion"170. Die Überzeugung, Hindenburgs Kandidatur sei von der DNVP lanciert, verdichtete sich, als ein Abgeordneter der Deutschnationalen auf einer Parteiversammlung erwähnte, die DNVP habe Hindenburg die Kandidatur angetragen171. Daraufhin habe der Feldmarschall sich „eine Bedenkzeit erbeten und bei seinem Kaiser, dem er den Treueid geschworen hatte, die Genehmigung zur Annahme eingeholt". Fast zeitgleich mit dieser Erklärung veröffentlichte die Wochenschrift Deutsche Politik Passagen aus einem Interview, das Oberst Bauer172 einer amerikanischen Zeitung im Dezember 1919 gegeben hatte: „Unsere Absicht", meinte der Oberst in diesem Interview, „ist die Wiederherstellung der deutschen Monarchie nach britischem Muster173. Unser Programm enthält die Wahl

169

Vgl. den Kommentar im Abendblatt vom 8. März 1920. Ebd. Besonders verärgert war die Frankfurter Zeitung, weil der Vorsitzende des Reichsbürgerrats sich massiv für die Wahl Hindenburgs ausgesprochen hatte: „Der Reichsbürgerrat entwickelt sich unter seinem neuen Präsidenten, dem früheren preußischen Minister des Inneren und Hinderer einer rechtzeitigen und zeitgemäßen Wahlreform in Preußen, Herrn v. Loebell, offenbar immer mehr zu einer deutschnationalen Agitationszentrale" (zweites Morgenblatt vom 7. März 1920). 171 Ygj_ Jen Beitrag „Die Präsidentschaftskandidatur Hindenburgs" im zweiten Morgenblatt vom 11. März 1920. 172 Oberst Bauer galt als „der intimste Mitarbeiter des Generals Ludendorff und des Feldmarschalls Hindenburg im Großen Hauptquartier". Auch der am Vorabend des Putsches von Lüttwitz und Kapp steckbrieflich gesuchte Bauer konnte nach einer Warnung durch das Berliner Polizeipräsidium untertauchen (vgl. Wette: Noske, S. 634). 173 Bereits im ersten Morgenblatt vom 7. März schrieb die Frankfurter Zeitung, es dürfte „über die Geistesbeschaffenheit der Klasse, die heute in Pommern und Brandenburg laut nach der Monarchie schreit, wirklich keine Illusionen mehr geben [...] Wir haben es erlebt, daß diese Klasse in der bittersten Not Deutschlands lieber alles zu Grunde gehen ließ, ehe sie ihr verfaultes Dreiklassenwahlrecht preisgab. [...] Man gibt mit Recht dem letzten Kaiser sehr viel Schuld am Unglück. Aber eigentlich ist er doch keiner von dem Kaliber, das große Völker [...] zu ruinieren imstande ist [...] Er hat die innere Unwahrheit im deutschen Staatsleben von einem sehr viel größeren, 170

Die Frankfurter Zeitung

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Hindenburgs zum Präsidenten [...]; ein Plebiszit des deutschen Volkes über die Frage 'Monarchie oder Republik?': die Erhebung des Kronprinzen Friedrich Wilhelm [...] auf den Thron, wenn das Plebiszit für die Monarchie ausfällt, was wir glauben". Da Bauer in dem Interview auch erklärte, „die Monarchisten seien fest entschlossen, mit ihren Absichten offen hervorzutreten", war für die Frankfurter Zeitung klar, daß Hindenburg als Reichspräsident „die Wegleuchte für die Wiederherstellung der Monarchie" sein sollte174.

3. Kritisch betrachtet: Erzberger

Mit unterschwelliger Sympathie würdigte die Frankfurter Zeitung unmittelbar nach der Urteilsverkündung ein weiteres Mal die von Erzberger inaugurierte Finanzpolitik. Ein Zufall habe „es gefügt, daß gerade in den Tagen, da der Ausgang des Prozesses gegen Helfferich einen dunklen Schatten wirft auf Herrn Erzbergers politisch-parlamentarische Tätigkeit, sein großes finanzielles Reformwerk, mit dem er sich ein bleibendes Verdienst um den Ausbau des neuen Deutschland in wahrhaft demokratischem und sozialem Geiste gesichert hat, der Vollendung entgegenreift"175. Das für Erzberger negative Urteil überraschte die Frankfurter Zeitung nicht, hatte doch schon die Staatsanwaltschaft „in ihren Plädoyers den Helfferichschen Wahrheitsbeweis in allen entscheidenden Punkten als geglückt" anerkannt176. Das „war bereits ein Urteil, ein Urteil über Erzberger, und das Gericht hat es bestätigt". Während

von Bismarck, übernommen [...] Die brüllenden Royalisten von heute, die abwechselnd 'Seine Majestät Hurra!' und 'Juden raus!' rufen, sehen so aus, wie sie gestern und vorgestern aussahen". 174 Oberst Bauer sei damals „stark gerüffelt" worden, meinte die Frankfurter Zeitung, weil er „die Pläne der Monarchisten vorzeitig verraten hatte. Anscheinend waren damals die Abmachungen mit der Deutschen Volkspartei noch nicht vollendet und bei den deutschnationalen Organen bestand offenbar die Sorge, die Kandidatur Hindenburgs könne durch die Offenheiten Bauers gefährdet werden" (zweites Morgenblatt vom 11. März 1920). 175 Vgl. das Abendblatt vom 12. März 1920. In dieser Ausgabe brachte die Frankfurter Zeitung nur eine unkommentierte Fünf-Zeilen-Meldung über den Prozeßausgang; m der folgenden Ausgabe waren etwa zwei Drittel des Gesamtumfangs dem Prozeß gewidmet. 176 Erstes Morgenblatt vom 13. März 1920.

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///. Der Putsch vom März 1920

Helfferich lediglich 300 Mark Geldstrafe wegen Beleidigung zahlen müsse, werde Erzberger „mit seinem Minister-Portefeuille, mit seiner Stellung als Parteiführer" zahlen müssen. Bedauerte die Frankfurter Zeitung einerseits, daß „der Helfferichsche Kampfruf 'Fort mit Erzberger'" nun doch seine Erfüllung finden würde177, so kritisierte sie andererseits Erzbergers Geschäftsgebaren massiv. „Er hat das nicht gewahrt, was die Demokratie, und zwar sie mehr als jede andere Staatsform, als erste Voraussetzung jedes öffentlichen Wirkens fordern muß: die Reinlichkeit des persönlichen, privaten Wandels". Allerdings seien auch Erzbergers Verdienste unbestreitbar: „Er hat das Zentrum zu der Koalitionspolitik geführt und dadurch den festen Regierungsblock der drei Mehrheitsparteien mitgeschaffen [...] Und darauf gestützt, hat er dann in den verhängnisschweren Weimarer Junitagen des letzten Jahres [...] mit klarer Einsicht und nie ermüdender Energie die Entscheidung für die Unterzeichnung durchgesetzt — eine historische Tat, die ihm glühenden Haß zugezogen hat und von der doch heute schon auch den damaligen Verneinern erkennbar werden könnte, daß sie in Wirklichkeit die Rettung Deutschlands [bedeutete], soweit sie eben nach dem verlorenen Kriege noch zu bewerkstelligen war"178.

4. Der verbrecherische Überfall auf die Republik Überlagert von den Berichten und Kommentaren zum Urteil im Prozeß Erzberger—Helfferich, brachte auch die Frankfurter Zeitung am Abend des 12. März ihre erste Notiz über „Umtriebe gegen die Republik" und befaßte sich im folgenden Morgenblatt ausführlich mit diesem

177

Unter diesem Titel hatte Helfferich unmittelbar nach Unterzeichnung des Versailler Vertrags eine Artikelserie in der Kreuz-Zeitung und danach als Broschüre veröffentlicht. Ein Teilabdruck der Broschüre „Fort mit Erzberger!" findet sich bei Epstein: Erzberger, S. 396f. 178 Für den Vorwurf Helfferichs, „durch Erzberger haben wir den Krieg verloren", hatte die Frankfurter Zeitung nur mitleidigen Spott: „Ach nein, daran ist Herr Helfferich selbst unendlich mehr schuld und diejenigen, die heute seine Freunde sind". Selbst wenn Erzberger seine Steuererklärungen gefälscht haben sollte, „so hätte Deutschland bei aller grotesken Verwerflichkeit solchen Handelns weniger Schaden davon als von den falschen statistischen Erklärungen, die der korrekte Herr Helfferich vor der Reichstagskommission abgab, um die Volksvertretung zum Ubootkrieg zu überzeugen, den er vorher selbst bekämpft hatte!" (ebd.).

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Thema, das über eine Woche im Mittelpunkt jeder Ausgabe der Frankfurter Zeitung stand179. Gleich nach dem Einmarsch der putschenden Verbände in Berlin rief das Blatt zum Widerstand auf: „Gewaltige Kundgebungen des Volkes aller Stände müssen unverzüglich das ganze Reich erfüllen. Die Anhänger der Parteien der Mehrheit und darüber hinaus alle, die politische Vernunft haben, müssen vortreten und den verderblichen Einfluß in der Reichshauptstadt verdammen. Der demokratische Geist muß sich mächtig erheben, und seine Losung muß heißen: Schutz der neuen Verfassung, der deutschen Republik, Kampf gegen die Reaktion, Entschlossenheit bis zum Äußersten". Wie die Frankfurter Zeitung mehrfach unterstrich, sei die Demokratie „allzu langmütig" gewesen, „weil sie in ihren Mitteln demokratisch blieb, auch politischen Verbrechern gegenüber —, allzu nachsichtig gegen die Führer der Reaktion, die sie in [...] der Reichswehr zu neuer Macht kommen ließ". Das Vorgehen der Putschisten müsse jetzt „die Demokratie, das demokratische Bürgertum an erster Stelle, zur Besinnung rufen, es muß uns alle aufrütteln, es muß uns zur Tat aufrufen"180. Obwohl der „verbrecherische Überfall" auch am nächsten Tag noch „nicht über die Grenzen Berlins hinausgedrungen" war, wiederholte die Frankfurter Zeitung ihre Forderung nach massiver Gegenwehr181. Mit aller Macht müsse gegen den Putsch vorgegangen werden, zumal nicht auszuschließen sei, „daß der Gewaltakt der Rechtsextremen [...] manche Linksextremen aufstachelt für die 'Diktatur des Proletariats'"182. Während aus Berlin gemeldet wurde, die „Setzer der Berliner Druckereien weigern sich, die Aufrufe der neuen Regierung zu drucken", war es in Frankfurt bereits mehrfach zu Kämpfen „zwischen Arbeitern und grüner Polizei" gekommen. Ruhig blieb zunächst nur „der verfassungstreue Süden", zu dem die Frankfurter Zeitung auch Bayern zählte, nachdem 179

Wie auch die Frankfurter Zeitung erwähnte, hatte Kapps Vater „als achtundvierziger Demokrat in den Jahren der nachmärzlichen Reaktion nach Amerika [...] auswandern müssen" (erstes Morgenblatt vom 14. März 1920). 180 Abendblatt vom 13. März 1920. 111 Erstes Morgenblatt vom 14. März 1920. 192 Zweites Morgenblatt vom 14. März 1920. „Auch die Wanderredner sind zur Stelle, die von der Liga zur Bekämpfung des Bolschewismus ausgebildet worden sind. Sie reden auf die Volksmengen ein, daß die Valuta in den nächsten Tagen sinken werde, weil die Juden große Angstverkäufe nach dem Auslande tätigen würden. Antisemitismus und Monarchismus, das sind die Grundfesten der neuen Machthaber".

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///. Der Putsch vom März 1920

„der Münchener Reichswehrgeneral Moehl [...] sich der bayerischen Regierung rückhaltlos zur Verfügung gestellt" hatte183. Da auch nach zwei Tagen die „einzige Macht" der Putschisten „auf den wenigen tausend eidbrüchigen Mannschaften [beruhe], mit denen sie einstweilen noch die Reichshauptstadt terrorisieren", glaubte die Frankfurter Zeitung, „daß Herr Kapp und seine Genossen nicht dem Siege, sondern dem tatsächlichen Zusammenbruch nahe scheinen"184. Als positives Zeichen wertete das Blatt, daß auf einer Sitzung der Unterstaatssekretäre der Reichsministerien „eine Reihe der anwesenden Unterstaatssekretäre erklärte, daß sie auf dem Boden der Deutschnationalen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei ständen. Trotzdem müßten sie es ablehnen, den Herrn Kapp und seine Anhänger zu unterstützen"185. Vor übertriebenem Optimismus warnte die Frankfurter Zeitung eindringlich. Meldungen über bewaffneten Widerstand gegen die Putschisten, aber auch gegen verfassungstreue Reichswehrtruppen und Einwoh-

183

Ebd. Im ersten Morgenblatt vom 16. März berichtete die Frankfurter Zeitung jedoch: „Wie verlautet, haben die Reichswehr und die Zeitfreiwilligenverbände der Münchener Garnison bereits fast sämtlich m telegraphischen Kundgebungen Herrn Kapp gehuldigt". 184 Erstes Morgenblatt vom 15. März 1920. Einer Fehleinschätzung unterlag die Frankfurter Zeitung, als sie meinte, die Meldung, daß die beiden Sozialdemokraten Hörsing (Oberpräsident der Provinz Sachsen) und Winnig (Oberpräsident Ostpreußens) „zu den neuen Berliner Machthabern übergegangen" seien, wäre lediglich ein propagandistisches Manöver der Kapp-Leute; Winnig hatte sich offen zu den Putschisten bekannt. 185 Ebd. Zur kritischen Haltung des linksliberalen Blatts gegenüber der DVP und Stresemann, der „während des sogenannten Kapp-Putsches eine höchst unrühmliche Rolle" spielte (Wolfgang Michalka in: Ders. und Marshall M. Lee [Hgg.]: Gustav Stresemann. Darmstadt 1982, S. X), paßt die Bemerkung, es gäbe auch in der Reichswehr „noch Männer, [...] die nicht dulden, daß durch eine Soldateska das Deutsche Reich in einem Chaos zusammenbreche. In der Deutschen Volkspartei scheinen sie allerdings nicht zu sitzen. Sie erläßt einen Aufruf, der sich zwar nicht offiziell für Herrn Kapp ausspricht, der aber auch kein Wort der Verurteilung gegen die Rebellion in Berlin findet. Das nimmt nicht wunder, wenn man die engen Beziehungen ihres Führers Dr. Stresemann zu Oberst Bauer und zu General Ludendorff kennt". Auszüge der Rechtfertigungsschrift „Die Märzereignisse und die Deutsche Volkspartei", mit der Stresemann sich gegen die insbesondere von der Frankfurter Zeitung und dem Berliner Tageblatt erhobenen Vorwürfe gegen seine Person wehren wollte, sind abgedruckt in: Gustav Stresemann. Schriften. Hg. von Arnold Harttung. Berlin 1976, S. 260—267.

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nerwehren häuften sich so sehr, daß nach Ansicht der Frankfurter Zeitung die Gefahr von links der von rechts kaum nachstand: „In manchen Landesteilen hat [...] die Kunde von dem Kappschen Staatsstreich bei den Unabhängigen erst recht den Gedanken aufkommen lassen, [...] als Antwort auf die militaristische Reaktion zu der zweiten, proletarischen Revolution aufzurufen. Es ist nicht zuviel gesagt, wenn wir aussprechen: Leben und Dasein unseres Volkes hängt, wie von der Niederzwingung der Kappschen Revolte, so auch davon ab, daß dieser Gedanke nirgends zur Tat werde"186. Unverständlich erschienen dem Blatt die Aufstandsversuche der Räteanhänger, da doch selbst russische Kommunisten zugegeben hätten, „daß die Nachahmung des russischen Beispiels in unserem dichtbevölkerten, auf höchste Industrietätigkeit angewiesenen Lande wirtschaftlich-sachlich unmöglich" sei. Zunächst müsse die durch den Putsch bedrohte Freiheit verteidigt werden, riet die Frankfurter Zeitung. „Haben wir erst wieder die Demokratie und die Republik, [...] dann werden wir über ihren Ausbau [...] reden können. Dann soll [...] wirklich werden, was wir alle erstreben: das soziale Gemeinwesen, das alle seine Bürger in Freiheit, Gerechtigkeit und menschlicher Würde zu einer wahren, lebenerfüllten Gemeinschaft zusammenschließt. [...] Noch ist die deutsche Freiheit, ohne die das Leben nicht lebenswert ist, durch Verräter bedroht. Und solange dies ist, kann nur eines gelten: Kampf gegen sie, Kampf mit den schärfsten Mitteln für die Freiheit und das Recht!"187 Überzeugt, daß der Putsch zum Scheitern verurteilt sei188, lehnte die Frankfurter Zeitung jeden Kompromiß mit den Putschisten ab189 und setzte der vom Minister für Wiederaufbau (Geßler/DDP) empfohlenen

186

Abendblatt vom 15. März 1920. Ebd. 188 Beeindruckt zeigte sich das Blatt vom Generalstreik: In Berlin ruhe „der Verkehr [...] völlig, und auch die wilden Fuhrwerke, die sonst einen Verkehrsstreik zu einer verhältnismäßig leicht zu ertragenden Unbequemlichkeit machten, fehlen vollkommen im Straßenbild [...] Deutschnationale Frauen und deutschnationale Schüler laufen zwar hinter den durch die Straßen mit Musik ziehenden Militärkommandos her. Aber aus den Blicken und Gesten und aus den sehr deutlichen Äußerungen der großen Mehrzahl der Berliner Bevölkerung spricht schroffste Ablehnung" (zweites Morgenblatt vom 16. März 1920). 189 Im ersten Morgenblatt vom 19. März meinte das Blatt, „ein Sieg der von Kapp und Lüttwitz geführten Reaktion wäre nicht so schlimm gewesen wie ein durch Kompromiß errungener Sieg der Demokratie". 187

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Kabinettserweiterung nach rechts eine „Verbreiterung nach links" entgegen, die „durch eine Verständigung mit den Teilen der Unabhängigen, die die Lebensgefährlichkeit bolschewistischer Experimente einsehen", erreicht werden sollte190. Empört war das Blatt, als Vizekanzler Schiffer erklärte: „Generallandschaftsdirektor Kapp ist, um den inneren Frieden herbeizuführen, zurückgetreten. Aus dem gleichen Grunde hat General von Lüttwitz sein Abschiedsgesuch eingereicht. [...] Zwischen führenden Mitgliedern der Mehrheitsparteien, der Deutschnationalen Volkspartei und der Deutschen Volkspartei besteht Übereinkunft über folgende Punkte: 1. Die Wahlen zum Reichstag sollen spätestens im Juni d. J. stattfinden; 2. Die Wahl des Reichspräsidenten erfolgt nach Maßgabe der Reichsverfassung durch das Volk; 3. Eine alsbaldige Umbildung der Reichsregierung wird für erforderlich gehalten"191. Diese Erklärung, in den Augen der Frankfurter Zeitung eine Kapitulation vor den Putschisten, sei „im höchsten Grade befremdend. Herr Kapp ist nicht 'zurückgetreten' (und nun gar: zur Herbeiführung des inneren Friedens!), sondern er ist gestürzt, unmöglich gemacht worden, und er wie Herr Lüttwitz müßten von Rechtswegen schon festgenommen sein. Vor allem aber: Was besagt die 'Übereinstimmung' führender Mitglieder der Parteien [...]? Über die drei Punkte ließe sich an sich sehr wohl reden192. [...] Daß eine Umbildung der Reichsregierung erforderlich ist, ist klar, allerdings, wie wir sogleich hinzufügen möchten, ganz gewiß nicht durch Hinzunahme der 190

Abendblatt vom 16. März 1920. Zitiert nach dem zweiten Morgenblatt vom 18. März 1920. Eugen Schiffer, einer der Spitzenrepräsentanten bürokratischer Kontinuität während der Revolution, hatte eine spürbare Abneigung gegenüber seinen sozialdemokratischen Kabinettskollegen: Er habe „'ein feines Schmerzgefühl' [... empfunden], wenn er im Berliner Schloß die SPD-Minister ihren Nachtisch-Likör einnehmen sah, in Räumen, in die sie 'ihrem Auftreten, ihrem Gehaben [!] und ihrer Tätigkeit' nach nicht paßten". Es habe ihn verdrossen, „wenn er ausgerechnet Noske und David, beide doch 'ruhige, verständige und gemäßigte Männer1, in privater Runde 'von Preußen als einem Räuberstaat, von Bismarck als einem Verbrecher, vom alten Kaiser als einer geistlosen Dekorationsfigur' reden hörte, ohne Rücksicht auf 'die Empfindungen, die wir für Preußen und seine Heroen hegen1" (zitiert nach Hellmut Seier: Nationalstaat und sozialer Ausgleich als schlesische Motive des Nationalliberalen Eugen Schiffer. In: Jahrbuch der schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau. Bd. 27 [1986], S. 185—222 [hier S. 185 und 216]). 192 Vor allem die „Beschleunigung der Neuwahlen" hätte jetzt „in der Tat sehr vieles für sich", meinte das Blatt und betonte, daß es die „Präsidentenwahl durch das Volk [...] immer befürwortet" habe (ebd.). 191

Die Frankfurter Zeitung

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Rechtsparteien, sondern umgekehrt durch einen sehr zu wünschenden Ruck nach links"193. In scharfer Abgrenzung zu Schiffer betonte die Frankfurter Zeitung, daß die in Stuttgart weilende Reichsregierung versichert habe, „alle Gerüchte, [...] als sei die Reichsregierung zu Zugeständnissen an die Berliner Staatsstreichler bereit und verhandle über solche, [seien] unwahr"'. Im festen Glauben, es hätte keine Verhandlungen zwischen Regierung und Putschenden gegeben, meinte das Blatt: „Das deutsche Volk hat durch die Großartigkeit seiner Auflehnung die Berliner Staatsstreichler zu Fall gebracht und unerhört wäre es", so das Blatt im Konjunktiv, „wenn irgendein Politiker an verantwortlicher Stelle die Größe dieses Sieges dadurch abgeschwächt hätte, daß er es der Reaktion ermöglichte, von erfüllten Bedingungen der Meuterer zu reden"194. Hatte die Frankfurter Zeitung anfänglich die Rolle des republikanischdemokratischen Bürgertums im Kampf gegen die Putschisten noch gelobt, so fiel das Urteil nach dem Putsch differenzierter aus: „Bleiben wir ehrlich! Die Schuld der Berliner Hochverräter ist groß. Aber es besteht eine große Mitschuld weiter Teile des deutschen Bürgertums1^. In ihrer Abneigung gegen die neuen Steuern, in ihrem Ärger über die wirtschaftlichen Nöte unserer Zeit haben sie sich in den letzten Monaten in völliger politischer Verblendung nach rechts orientiert. Als ob die Republik den Krieg verschuldet habe, wurde der demokratische Staat für alle

193

Ebd. Auch hier kritisierte die Frankfurter Zeitung die DVP: „In einem Augenblick [...], in dem die überwältigende Mehrheit des deutschen Volkes sich mit erbitterter Entschlossenheit zum Kampf gegen den Staatsstreich sammelte, in dem selbst die Deutsch-Nationalen sich, wenigstens äußerlich, mit Vorsicht zurückhielten — in diesem Augenblick hat die Partei des Herrn Dr. Stresemann nichts Eiligeres zu tun, als sich auf den beliebten Boden der Tatsachen zu stellen und die 'neue Regierung' des Herrn Kapp ausdrücklich anzuerkennen" (erstes Morgenblatt vom 18. März 1920). 194 Ebd. 195 Erstes Morgenblatt vom 19. März 1920. Mitschuldig sei aber auch die Entente: „Wer jetzt etwa in Frankreich, Amerika oder England die schwere Schuld der aufrührerischen Teile der Reichswehr der jungen deutschen Demokratie zur Last legen möchte, der vergesse doch nicht, daß es die Sieger von Versailles waren, die uns die Schaffung einer mit dem Volk verwachsenen Miliz [...] verwehrten und statt dessen die Bildung einer Söldnertruppe, die [...] leicht zum willenlosen Werkzeug skrupelloser militärischer Führer werden kann, verlangten. [...] Nichts konnte den Anhängern der alten Ordnung bei uns an sich so geeignet erscheinen, die Demokratie im deutschen Volke zu diskreditieren, wie das Verhalten der Sieger gegenüber dem gänzlich zusammengebrochenen Deutschland" (Abendblatt vom 18. März 1920).

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///. Der Putsch vom März 1920

wirtschaftlichen Folgen des Krieges in den Anklagezustand versetzt. Eine niederträchtige Hetze gegen die Koalitionsregierung trat in Erscheinung. [...] Anstatt einer maßlosen Erbitterung gegen das alte System, das uns in das furchtbare Unglück geführt hat, beobachteten wir eine von Tag zu Tag steigende Erregung gegen den neuen Staat. So konnten die 'starken Männer' der äußersten Rechten sich dem Glauben hingeben, daß ihre Zeit gekommen sei"196.

I%

Erstes Morgenblatt vom 19. März 1920.

VII

Der Vorwärts Im Ausbau von Republik und Demokratie sah auch der Vorwärts sein politisches Ziel. Der für Erzberger fatale Ausgang seines Prozesses gegen Helfferich, die Rauferei im Hotel Adlon sowie die Kandidatur Hindenburgs zählten zu den zentralen Themen, mit denen das SPDBlatt gegen alldeutsch-monarchistische Strömungen in Verwaltung und Reichswehr mobil machte197 und gegen Antisemitismus vorging198. Nach dem Putsch verfolgte der auf einen Ausgleich mit der USPD bedachte Vorwärts den bewaffneten Widerstand gegen reaktionäre Reichswehreinheiten mit Sympathie.

1. „Der Hindenhurgrummel"199

„Mit echt Helfferichscher Regiekunst entsteigt der alldeutschen Presse die Nachricht, daß Hindenburg für die Präsidentschaftswahl

197

Aus einem westpreußischen Blatt zitierte der Vorwärts unter dem Titel „Reichswehr-Antisemitismus" folgende Annonce: „'Ein guterhaltener Kutschwagen ist bei der 1. Komp. [...] zu verkaufen. Juden ausgeschlossen [...]' Man beachte wohl", so der Vorwärts, „daß diese Provokation in Westpreußen erscheint, wo es bei der Volksabstimmung auf jede Stimme für Deutschland, auch auf die [der] recht zahlreichen Juden ankommt" (Morgenausgabe vom 12. März 1920). 198 Die Forderung des Lokal-Anzeigers, Juden in Sammellager zu verbringen, lehnte der Vorwärts kategorisch ab: „Obwohl wir uns keineswegs der Notwendigkeit verschließen", so das SPD-Organ, „in Anbetracht der großen Wohnungsnot den Zustrom nach Berlin einzudämmen, so können wir doch nicht dringend genug vor einer Unterbringung lästiger Ausländer in Konzentrationslagern warnen" (Abendausgabe vom 10. März 1920). Auf die von Seeckt angeordnete und am 27. März 1920 durchgeführte „'großzügige Aktion' gegen die sogenannten 'lästigen Ausländer'" reagierte der Vorwärts empört (vgl. die [einzige] Ausgabe vom 28. März 1920). 199 So die Überschrift eines Beitrags in der Morgenausgabe vom 8. März 1920.

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III Der Putsch -vom März 1920

kandidieren wird", meinte der Vorwärts und fuhr selbstbewußt fort: „Wir haben niemals Lust verspürt, dem geschlagenen Feldherrn seinen Mißerfolg vorzuhalten und würden es auch jetzt nicht tun, wenn er in der Haltung verharrte, die einem Manne geziemt, der den größten und verlustreichsten Krieg der Weltgeschichte zum unglücklichen Abschluß für Deutschland gebracht hat". Falls er aber tatsächlich den Anspruch erheben sollte, „an die Spitze des Landes zu treten", wären die Sozialdemokraten gezwungen, „dem Hindenburg der deutschnationalen Legende den wirklichen Hindenburg öffentlich gegenüberzustellen"200. Der Vorwärts beließ es nicht bei der Drohung, sondern setzte sogleich zur Demontage des Generals an: Im Unterschied zu den vertraulichen Mitteilungen aus Hindenburgs nächster Umgebung sei „das große Publikum [...] fest davon durchdrungen, daß Hindenburg der leitende Kopf" der deutschen Kriegsführung gewesen sei, „weil man diesen Kopf auf Seifenverpackungen, Bonbonpapieren, Taschentüchern, kurz überall abgebildet sah. Die Kinder glaubten an Hindenburg, weil sie ihn zu Weihnachten als Lebkuchen geschenkt bekamen. Aber schließlich beruht Feldherrngröße auf anderen Dingen als auf Lebkuchen und Schnupftüchern". Selbst wenn Hindenburg „auf militärischem Gebiet mehr gewesen wäre als ein durchschnittlicher preußischer General", müsse man fragen, was befähige „ihn selbst dann, die politische Leitung des Reiches zu übernehmen", denn er habe sich „stets als Urteils- und gedankenloses Sprachrohr Reventlowscher und Helfferichscher Einflüsterungen erwiesen. Sein geistiger Horizont in politischen Fragen war der eines beliebigen alldeutschen Stammtisches. [...] Hindenburg war und ist aber vor allem der Exponent der alldeutschen Militär- und Zivilkaste. [...] Eine Präsidentschaft Hindenburgs wäre das Ende der gewaltigen Bewegung zur Revision des Friedensvertrages, die jetzt im Ausland täglich an Kraft gewinnt"201. Die zunehmend aggressivere Polemik gegen die deutschnationalen Protagonisten Hindenburgs zeigt, daß der Vorwärts die Kandidatur Hindenburgs als einen zentralen Angriff auf die Republik verstand. „Niederträchtiger ist seit dem Juli 1914 nicht mehr mit dem Schicksal des deutschen Volkes Schindluder gespielt worden als durch diesen Hindenburgrummel", resümierte der Vorwärts und präsentierte seinen Lesern Auszüge aus einem schwerindustriellen Blatt, der Post: „'Ein Deutscher 200 201

(Einzige) Ausgabe vom 7. März 1923. Ebd.

Der Vorwärts

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Kaiser konnte sich einmal versehen: kein in- oder ausländischer Würdenträger hätte sich erlaubt, auch nur die Nase zu rümpfen. Herr Eben mag als Reichspräsident auch das Klügste sprechen oder schreiben: es ist immer Herr Ebert, der es gesprochen oder geschrieben hat'"202. Diese Invektive gegen den ersten Repräsentanten der Republik kommentierte der Vorwärts mit der Bemerkung, es sei gar nicht die „Wertung der Persönlichkeit oder fachliche Leistung [...], worauf es diesen Leuten ankommt, sondern der Klimbim und das Trara sind für sie der Weisheit letzter Schluß. Mit diesem Nimbus verstand es Wilhelm II. allerdings, sich trefflich zu umgeben, jedoch wird schon die heutige Geschichtsforschung nicht mehr behaupten können, daß er trotz dieses Heiligenscheines einen anderen Eindruck als den eines Scheinheiligen machte"203. Weniger geschliffen waren die Argumente, mit denen der Vorwärts sich für die Wahl des Reichspräsidenten durch die Nationalversammlung einsetzte: Die demokratische Fraktion habe eine indirekte Wahl „schon während der Verfassungsberatung vorgeschlagen", und auch das Berliner Tageblatt sei „schon seit langem mit dankenswertem Eifer" für eine Wahlrechtsänderung eingetreten. Außerdem habe sich die Reichsregierung bereits zu einer Zeit mit der Wahlrechtsfrage befaßt, als „die Kandidatur Hindenburgs noch nicht proklamiert war". Die Wahl des Präsidenten durch das Volk sei „in Wirklichkeit nur eine scheinrepublikanische, sich dem Monarchismus wieder stark annähernde Einrichtung", denn „der aus mehreren hundert Personen bestehenden Volksvertretung wird der eine vom Volk gewählte Mann gegenübergestellt, der sieben Jahre im Amt bleibt, während die Volksvertretung alle vier Jahre zu erneuern ist. So besteht die Gefahr, daß der vom Volk gewählte Präsident während seiner langen Amtsdauer seinen Wählern und der Volksvertretung gegenüber ein übertriebenes Machtbewußtsein entwikkelt"204. 202

Zitiert nach der Morgenausgabe vom 8. März 1920. Ebd. 204 Abendausgabe vom 11. März 1920. Auch in der Abendausgabe vom 12. März bestritt der Vorwärts, daß sein Eintreten für eine indirekte Wahl irgendetwas mit Hindenburg zu tun habe: „Um dem allmählich etwas abgeleierten Argument, wir fürchteten uns vor der Hindenburgkandidatur, ein neues hinzuzufügen, spricht die 'Tägliche Rundschau' von der Wiedereinführung 'indirekter Wahlen', für die der Vorwärts begeistert eintrete. Wahlen, 'die er früher unter dem alten System aufs schärfste [··.] bekämpft hatte'". Auf diese „Fälschung und Irreführung" entgegnete der Vorwärts, es habe sich bei den indirekten Wahlen im Kaiserreich um „ein ausgeklü203

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Mochten diese Einwände und Bedenken auch richtig sein, so war doch nicht nur entscheidend, durch wen der Reichspräsident gewählt wurde, sondern seine Machtfülle war das eigentliche Problem. Die Behauptung des Vorwärts, bei einer Wahl durch das Parlament wäre der Präsident „vor den üblen Anfechtungen" geschützt, denen er „bei einer alle Leidenschaften aufwühlenden Volkswahl notwendigerweise ausgesetzt" wäre, dürfte die Kritiker einer indirekten Wahl jedenfalls kaum überzeugt haben. „Je mehr die Leidenschaften sich erhitzen", so die Argumentation des Vorwärts, „desto wahrscheinlicher wird es, daß gegen Kandidaten, die dem einen oder dem anderen Volksteil mißliebig sind, die schlimmsten Anschuldigungen erhoben werden. [...] Der Reichspräsident soll aber [...] nach seiner Wahl [...] das gesamte Volk nach innen und außen repräsentieren. [...] Der Mann, dem solche Aufgaben zufallen, wird besser in engerem Kreise auserwählt, wo man seine Würdigkeit in vertraulicher Beratung gewissenhafter prüfen kann". Wie der Vorwärts jedoch einräumte, hatte die Kandidatur Hindenburgs den „ursprünglichen Standpunkt" der Sozialdemokraten „nicht verändert, sondern [...] nur [...] bestärkt"205.

2. „Gegen die Radaupatnoten «206 Den „Raufexzeß im 'Adlon'" brachte der Vorwärts als groß aufgemachte Titelgeschichte207: Unter „Führung des Hohenzollernprinzen Joachim Albrecht" habe eine „aristokratische Knüppelgarde eine ruhig und anständig dasitzende Gesellschaft von Franzosen [...] überfallen und auf das übelste zugerichtet". Der seit gut zwei Wochen als „Abendstammgast" im Adlon weilende Hohenzoller hätte es „von vornherein darauf angelegt [...], einen Raufexzeß mit den Ausländern herbeizuführen", und habe deshalb jeden Abend von der Kapelle „Deutschland, geltes System kompliziertester Wahlmethoden zum Zwecke der Entrechtung der breiten Volksmassen gehandelt". Jetzt handele es sich „nicht um direkte oder 'indirekte' Wahlen, sondern um das Verhältnis zwischen der direkt gewählten Volksvertretung und dem Reichspräsidenten". 205 Abendausgabe vom 11. März 1920. 206 Schlagzeile der Morgenausgabe vom 10. März 1920. 207 Morgenausgabe vom 8. März 1920. Schon der Untertitel „Ein betrunkener Prinz prügelt anständige Personen" signalisiert, daß dieser Beitrag auf propagandistische Wirkung zielte.

Der Vorwärts

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Deutschland über alles" spielen lassen. Während die anwesenden Deutschen „gewöhnlich" aufstanden, wie der Vorwärts einschränkend bemerkte, blieben die Ausländer sitzen. „Da die Ausländer meist einen sehr großen Teil der Gesellschaft bildeten, hielten sich der Prinz und sein Anhang noch so ziemlich zurück [...] Am Sonnabend nun erschien der Prinz mit einem größeren 'Gefolge', das sich an verschiedene Tische verteilte. [...] Da die Sache diesmal organisiert war", stand beim allabendlichen Deutschland-Lied „fast alles auf"; lediglich die Tischgesellschaft des französischen Hauptmanns blieb sitzen. „Der schon stark bezechte Zollernsproß brüllte nach dem Franzosentisch hinüber: 'Aufstehen! Aufstehen!' [...] Er ergriff sodann einen Armleuchter mit brennenden Kerzen und wollte ihn auf die blaß und unbeweglich dasitzenden Franzosen schleudern, als ihm ein Kellner in den Arm fiel". Im Stil eines Boulevardblatts fuhr der Vorwärts fort: „Die Würfe des Prinzen" seien „das Signal zu einem allgemeinen Angriff* gewesen. „Es wurde zunächst ein Trommelfeuer von Gläsern und Tellern eröffnet, worauf man zum Nahangriff überging. [...] Inzwischen hörte man durch den unbeschreiblichen Tumult immer wieder die Stimme des Prinzen brüllen: 'Schlagt sie tot, die Hunde, schlagt sie tot!'" Auch wenn die Redaktion behauptete, es widerstrebe ihr, „diese Sache, die im Grunde eine ordinäre Kriminalaffäre ist, zu einer Parteisache zu machen", so ging sie unverzüglich daran, sie auszuschlachten: „Die Hohenzollernfamilie ist in einer Vermögensauseinandersetzung mit dem preußischen Volk begriffen, das durch den Krieg, den ein Hohenzoller angestiftet und verloren hat, in furchtbarste Not geraten ist. Wenn dieses notleidende Volk nun erfährt, daß Hohenzollernprinzen noch immer Geld genug besitzen, um sich bei Adlon [... mit] besten Weinen zu betrinken und dann nach ihrer Art 'internationale Politik' zu machen, so wird sich ihm daraus der unwiderstehliche Schluß ergeben, daß es notwendig ist, solche Herrschaften durch energische Maßnahmen zu etwas mehr Mäßigkeit zu erziehen". Offensichtlich von der „Werbewirksamkeit" des Eklats im Adlon überzeugt, meldete der Vorwärts auf der Titelseite der nächsten Ausgabe die über den Hohenzollern verhängte Schutzhaft und spekulierte über die Höhe der Strafe208.

208

Abendausgabe vom 8. März 1920. Die widersprüchlichen Aussagen der Zeugen über diesen Vorfall kommentierte der Vorwärts lakonisch: So etwas „sei fast bei jeder Wirtshausschlägerei" zu beobachten.

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3. Mit dem Generalstreik zu Tode gesiegt? Zur Meldung, daß „ein reaktionäres Komplott aufgedeckt" sei, meinte der Vorwärts beruhigend, „schon die Einsperrung" der Adlon-Randalierer „durfte als Zeichen dafür genommen werden, daß die Regierung entschlossen ist, dem Übermut reaktionärer Umtriebe ein Ziel zu setzen"209. Als dann jedoch gegen Mitternacht bekannt wurde, die Döberitzer Truppen marschierten bereits nach Berlin, sah der Vorwärts „Die Republik in Gefahr"210: Die Putschisten planten, so das Blatt, in der Nacht vom Sonnabend zum Sonntag „die Regierungsgebäude mit meuternden Truppen zu besetzen, angeblich um an Stelle einiger den Drahtziehern mißliebiger politischer Minister 'Fachminister1 zu setzen. Indes, wenn man schon dazu übergeht, in die Rechte des Reichspräsidenten und der Nationalversammlung mit Maschinengewehren und Flammenwerfern einzugreifen, wird man sich natürlich nicht lange bei solchen Kleinigkeiten aufhalten. Das Ergebnis wäre Sturz der Republik, Sprengung der Nationalversammlung, Einsetzung einer Militärregierung, die sich auf einige Tausend Schwerbewaffneter stützt. [...] Kommt es soweit, dann wird es hart auf hart gehen, es wird Blut fließen, und es kann Augenblicke geben, in denen das Leben der Republik an einem Faden zu hängen scheint". Dieses Szenario sei aber die ungünstigste aller Möglichkeiten; im günstigsten Fall könnte die Regierung sich auf alle Reichswehreinheiten verlassen, und den Putschisten wäre ihre Machtbasis entzogen. Trete aber der andere Fall ein, wäre „für die Masse der Arbeiterschaft die Zeit gekommen, ihr Gewicht in die Waagschale [...] zu werfen. Sie müßte dann mit der Waffe der Arbeitsverweigerung [...] der gegenrevolutionären Regierung das Regieren unmöglich machen"211. Den Zusammenbruch des Putsches feierte der Vorwärts mit der Schlagzeile „Der Generalstreik siegreich beendet!" und rückte die Verdienste der „organisierten Arbeiter" in den Mittelpunkt seines Rückblicks212. Doch trotz des „siegreichen" Generalstreiks dauerten „in eini-

209

Abendausgabe vom 12. März 1920. So die Schlagzeile der letzten Ausgabe vor dem Putsch (Morgenausgabe vom 13. März 1920). 211 Ebd. 212 Abendausgabe vom 22. März 1920. Skeptischer urteilt James M. Diehl: Von der „Vaterlandspartei" zur „Nationalen Revolution": Die „Vereinigten Vaterländischen Verbände Deutschlands (VWD)" 1922-1932. In: VfZ 33 (1985), S. 617-639 (hier 210

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gen Teilen des Reichs [...] die Zusammenstöße zwischen Truppen und Arbeitern" an. Diese Kämpfe müßten schnellstens eingestellt werden, denn den „Ludendorff, Lüttwitz und Genossen" sei daran gelegen, in der allgemeinen Verwirrung unterzutauchen. Erschreckend sei das Verhalten von Teilen der Reichswehr: „Offiziere, die um die Folgen ihrer verräterischen oder zweideutigen Haltung besorgt sind, stürzen sich begeisterungsvoll in den 'Kampf gegen den Bolschewismus' und sind mit Vergnügen bereit, Arbeiter ohne Unterschied der Parteizugehörigkeit zu massakrieren, um ihre eigene Haut zu retten". Ruhe und Ordnung müßten zwar wiederhergestellt werden, aber das dürfe „nicht Wiederherstellung des Zustandes von vorher bedeuten", sondern nach den zurückliegenden Erfahrungen müsse die Politik „einen mächtigen Ruck nach links" machen213. „Die Regierung muß umgebildet werden, und vor allem: Noske kann nicht Reichswehrminister bleiben!'™ Trotz der Belastung durch Noskes Unachtsamkeit meinte der Vorwärts, die SPD könne „mit gesteigerter Kraft und mit Aussicht auf durchschlagende Erfolge in die Reichstagswahlen eintreten, die nun spätestens für den Juni zu erwarten sind. Es wird bei diesen Wahlen wirklich nicht darauf ankommen, die Wahl von einem Dutzend Unabhängiger zu verhindern, sondern vielmehr darauf, eine starke, unbedingt zuverlässige republikanische Mehrheit sicherzustellen [...] Alle Kraft gegen rechts!" laute die Parole215.

S. 619): Der Putsch habe „im Hinblick auf seine Nachwirkung [...] mehr zur Schwächung als zur Stärkung der Republik" beigetragen, „da er die Angst des Mittelstandes vor der Linken wieder entfachte und die Anhänger der Republik entzweite". 213 Auch „die bürgerlichen Parteien werden einsehen müssen, daß gegen die Arbeiter, die die Republik gerettet haben, nicht regiert werden kann", meinte der Vorwärts in seiner Abendausgabe vom 22. März 1920. Schulze: Freikorps, S. 298 mißt der Streikbewegung weniger Bedeutung bei: „Ob der Generalstreik den Kappisten überhaupt besonders lästig geworden ist, kann bezweifelt werden". 214 Noskes Schicksal sei tragisch: „Als Mann ohne Falsch und Arg lebte er in einer Umgebung des Verrats und der Zweideutigkeiten und trug immer noch eine lächelnde Zuversicht zur Schau, als sich die Meuterei an den Toren Berlins erhob" (Abendausgabe vom 22. März 1920). Garsten: Reichswehr und Politik, S. 102 unterstreicht weniger die „Tragik" der Person Noskes, sondern sieht in der Tatsache, daß Noske „außer Reinhardt und einer Handvoll jüngerer Offiziere" keine Offiziere gefunden habe, „die bereit waren, sich für die Republik zu schlagen", einen Teil der „Tragik der Weimarer Republik". 215 Abendausgabe vom 22. März 1920.

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Im Zuge dieser Links-Orientierung der SPD berichtete der Vorwärts zunehmend über „reaktionären Terror"216: Nachdem sich z.B. in Köpenick und Adlershof „die Arbeiterschaft gegen die Putschisten bewaffnet" hatte, griffen die Arbeiter — ohne vom Zusammenbruch des Putsches zu wissen — Reichswehreinheiten an, die „nicht zu Lüttwitz gehörten". Nach „einem stundenlangen blutigen Feuerkampf" rückten die Reichswehrtruppen in Köpenick ein und nahmen „standrechtliche Erschießungen" vor, „obwohl die Arbeiterschaft vorher die Waffen freiwillig niedergelegt hatte"217. Mochten die Vorkommnisse in Köpenick auch auf speziellen „Mißverständnissen" beruhen, in zahlreichen Fällen ließen sich nur schwer halbwegs plausible Erklärungen für das Verhalten der Reichswehr finden. Nach zuverlässigen Meldungen aus dem Republikanischen Führerbund218 lag noch fast eine Woche nach Putsch-Ende „im Sportpalast an der Potsdamer Straße eine unbekannte Truppe, die am Stahlhelm das Hakenkreuz führt, also Baltikumer"219. Konnten Anhänger der Republik an den Reichswehrstellen verzweifeln, die gleich nach dem Putsch den republikanischen „Kampfwagenpark" in Dahlem auflösten, so waren sie fassungslos, als auch der republikanische „Kampf-

216

Besonders brutal ging Major Buchrucker in Cottbus vor: Er sperrte „einige hundert Frauen und Kinder ein, ließ sie auf nassem Stroh schlafen und zwang sie jeden Morgen mit Peitschenhieben, 'Heil dir im Siegerkranz' zu singen" (Abendausgabe vom 24. März 1920). 1923 war Buchrucker, inzwischen offiziell aus dem Heeresdienst entlassen, maßgeblich an der Aufstellung von knapp 20.000 Freiwilligen beteiligt, die mit Unterstützung der Reichswehr in der Provinz Brandenburg stationiert wurden, um bei einem Vordringen der ins Ruhrgebiet einmarschierten Franzosen und Belgier, aber auch im Falle innerer Unruhen die Reichswehr zu entlasten (vgl. Garsten: Reichswehr und Politik, S. 179f.). 217 Abendausgabe vom 24. März 1920. Auch aus Grünau ging dem Vorwärts „die kaum glaubliche Meldung zu, daß dort [...] noch immer ein Standgericht [...] tagt, das heute früh einen angeblichen 'Bolschewisten' zum Tode verurteilte" (ebd.). 218 Zum 1919 gegründeten Republikanischen Führerbund, zu dessen Vorsitz Personen wie Erich Kuttner (vom Vorwärts) und Otto Strasser zählten, vgl. Garsten: Reichswehr und Politik, S. 82ff. 219 Morgenausgabe vom 24. März 1920. Zur selben Zeit hielten „wieder die deutschnationalen Studenten und Kriegsreserveoffiziere" Wache auf dem Anhalter Bahnhof, und auch in der Belle-Alliance-Kaserne lagen „Zeitfreiwillige mit dem AntisemitenKreuz" (ebd.). In der Abendausgabe vom selben Tag berichtete der Vorwärts, daß es vor dem Sportpalast schon zu Zusammenstößen gekommen sei und daß eine beim Viehmarkt einquartierte Truppe ebenfalls das Hakenkreuz trage. „Ja selbst vor dem Reichswehrministerium stehen Hakenkreuz-Ritter Posten".

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Wagenpark" in Lankwitz aufgelöst und ein Teil seiner Bestände ausgerechnet der Marinebrigade Ehrhardt zugeführt wurde220. Zunehmend schärfer rief der Vorwärts nach Gerechtigkeit: „Hunderte, vielleicht Tausende liegen dahingestreckt, aber von den Hauptschuldigen ist keiner dabei, kein einziger!"221 Der Generalstreik habe zwar „der Verschwörung das Genick gebrochen — leider nicht den Verschwörern". Es dürfe aber nicht „dabei sein Bewenden haben, daß unschuldige Arbeiter als 'Spartakisten' standrechtlich erschossen worden sind, während die Schurken in Uniform und Zivil, die dieses namenlose Elend angerichtet haben, am Ende noch entwischen". Die Schwierigkeiten, „die einer raschen, energischen Verfolgung der Verbrecher entgegenstehen", seien unübersehbar: „Die Regierung ist in Ambulanz begriffen und daher nicht voll aktionsfähig222, der Beamtenapparat ist in Verwirrung und mit Elementen durchsetzt, die nur gegen den Umsturz von links den nötigen Eifer zu entwickeln verstehen, die bewaffnete Macht [...] ist von teils gerissenen, teils naiven Führern in eine Einheitsfront 'gegen den Bolschewismus' gedrängt worden, während in einer Einheitsfront gegen die Reaktion allein die rasche Rettung des Staates läge"223. Den militärischen Stellen müsse endlich klargemacht werden, „daß in einer Situation wie der gegenwärtigen alle Leisetreterei, alle Diplomatie, aller Respekt vor Namen und Uniformen ein Unheil ist, das sich aufs furchtbarste rächen muß". Mit dem Hinweis, falls es der Reichswehr „an geeigneten Kräften [fehle], so sind organisierte Arbeiter in unbegrenzter Zahl bereit, sich sofort in militärische Formatio-

m

Morgenausgabe vom 24. März 1920. Diese Meldung sei „fast unglaublich, aber es liegen sichere Beweise dafür vor" (ebd.). Auch das Döberitzer Lager blieb als Hort der Putschisten erhalten: „Zeitfreiwillige und reaktionäre Studenten [...] pilgern nach Döberitz, um sich dort in die ausliegenden Listen eintragen zu lassen", die von der „Zentrale der Gegenrevolution [...] unter dem Deckmantel der 'Bekämpfung des Bolschewismus'" ausgelegt waren (Abendausgabe vom 24. März 1920). 221 Ebd. 221 Gemeint war die zeitraubende Rückkehr von Regierung und Nationalversammlung aus Stuttgart nach Berlin. Nach Otto Gessler: Reichswehrpolitik in der Weimarer Zeit. Stuttgart 1958, S. 215 hatte insbesondere Ebert Bedenken, „allzu schnell mit der Reichsregierung in den Hexenkessel von Berlin zurückzukehren". 223 Man scheine „an leitenden militärischen Stellen [...] eine geradezu wahnsinnige Angst vor scharfem Zugreifen zu haben", konstatierte der Vorwärts (ebd.).

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nen einreihen zu lassen", bekundete der Vorwärts seine Bereitschaft zum energischen Durchgreifen224. Als aus Hamburg und Schwerin „Neue Vorbereitungen der Gegenrevolutionäre" gemeldet wurden, die Neubildung der Reichsregierung und der Preußischen Staatsregierung aber noch nicht abgeschlossen war225, schrieb der Vorwärts zornig: „Eine Woche ist seit Kapps und Lüttwitz1 Abgang schon verflossen, aber das Volk wartet vergeblich darauf, daß nun endlich auch die Regierung Kapp-Lüttwitz aufhöre. [...] Die Reichsminister sind aus Stuttgart zurückgekommen, sie haben sich beim Volke mit höflichen Worten für Liebe und Treue bedankt und im übrigen regiert das Militär ungehindert weiter, nur daß es sich jetzt rohe Übergriffe und Willkürakte nicht mehr im Namen der Regierung KappLüttwitz erlaubt, sondern im Namen der rechtmäßigen Regierung, auf deren Boden 'fest und treu' die Herren Generale, Obersten und Majore angelangt sind, die in der Frühe des 13. März ihren Mannschaften tränenerstickte Ansprachen hielten von der herrlichen Zeit, die nun dank der meuternden Lüttwitzer angebrochen sei"226. An einigen Orten im Reich hätten die Kämpfe gegen die Putschisten zwar einen „tatsächlichen Umschwung" erzeugt227, aber schon bemühe man sich in der Reichswehr, „die Macht einer in jeder Beziehung unzuverlässigen Offiziersklique wieder aufzurichten. Vor allem in Berlin ist [...] so gut wie gar nichts zur Änderung der tatsächlichen Machtverhältnisse geschehen. [...] Im Ge224

So der von Friedrich Stampfer gezeichnete Kommentar in der Morgenausgabe vom 25. März 1920. In der folgenden Abendausgabe veröffentlichte der Vorwärts „Eine Erklärung des Zentralkomitees" der USPD mit acht Voraussetzungen für eine Regierungsbeteiligung der Unabhängigen und stellte fest, daß sich gegen die Forderungen der USPD „vom sozialdemokratischen Standpunkt aus nicht das geringste" einwenden lasse. Einer „Arbeiterregierung" versagten allerdings DDP und Zentrum ihre Unterstützung ebenso, wie die USPD eine Kooperation mit den bürgerlichen Parteien ablehnte. 225 Abendausgabe vom 25. März 1920. Über die angekündigten Regierungsumbildungen war das SPD-Blatt sichtlich verärgert und forderte „eine viel radikalere Umbildung sowohl der Reichs- als [auch] der preußischen Regierung". 226 Ebd. Der zitierte Kommentar erschien unter dem Titel „So geht es nicht weiter!" 227 „So in Kiel, aus dem der meuternde General von Levetzow verdrängt wurde, und wo reaktionäre Offiziere ihres Posten enthoben worden sind. In Hamburg, wo die republikanische Sicherheitswehr [...] die meuternden Bahrenfelder Zeitfreiwilligen und die aus Stade angerückten Baltikumer zu Paaren trieb. In Mecklenburg [... und in] Westfalen, wo das Freikorps Lichtschlag [...] aufgerieben und der zweifelhafte General Watter in die Defensive gedrängt wurde" (ebd.).

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genteil, die militärische Position der Republik hat sich seit dem 13. März noch verschlechtert. In den Tagen der Kapp-LüttwitzRegierung haben die treuesten und besten Elemente der Reichs- und Sicherheitswehr den Dienst verweigert. Sie sind fast ausnahmslos entwaffnet und aus ihren Truppenteilen entfernt worden. Jetzt verweigern Lüttwitz-Offiziere, die mit einer Schnelligkeit die Farbe wechseln, um die sie jedes Chamäleon beneiden könnte, den treugebliebenen Leuten die Wiedereinstellung. Ja, einige besitzen sogar die Dreistigkeit, [...] Treugebliebene wegen 'Disziplinlosigkeit' in Haft zu nehmen". Selbst wenn die in Berlin kursierenden Gerüchte, „daß die Baltikumer in einigen Tagen zurückzukehren gedenken", nicht zutreffen sollten, so bleibe doch die Frage: „Was will die Regierung eigentlich machen, wenn die Meuterei wieder einsetzt?"228

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Ebd. Als der Vorwärts sich bei der Berliner Sicherheitspolizei erkundigte, warum zwei Vertrauensleute noch nicht wiedereingestellt seien, erhielt er „den klassischen Bescheid, die Maßregelung erfolge nicht wegen republikanischer Gesinnung, sondern weil die beiden in einer gegen die Bestimmungen verstoßenden Form versucht hätten, eine Versammlung der Mannschaften zu veranstalten. Natürlich handelte es sich um eine Versammlung in den kritischen Tagen, die den Zweck hatte, [...] die Treue der Sicherheitspolizei zu festigen". Während republikanische Kräfte nach dem Militärputsch systematisch aus der Armee entfernt wurden (Garsten: Reichswehr und Politik, S. 106ff.), wurden zahlreiche Offiziere der Brigaden Ehrhardt und Loewenfeld von der Marine übernommen. Sie übertrugen „den Geist, der die Marinebrigaden beseelt hatte, in die Reichsmarine". Loewenfelds Beteiligung am Putsch habe seine Karriere in der Marine „eher gefördert als gehindert", meint Garsten (ebd., S. 110).

vm Die Rote Fahne Die enge Beziehung der Roten Fahne zu ihrer Basis zeigte sich im März 1920 in zahlreichen Instruktionen zu den bevorstehenden Betriebsratswahlen, in Berichten über die Arbeit der Gewerkschaften und, nach dem Militärputsch, in Berichten über den Verlauf der Streikbewegung. Befand sich die KPD in einem spürbaren Konkurrenzverhältnis zur USPD229, so wurden die Mehrheitssozialisten230 und die (anderen) bürgerlichen Parteien als politische Gegner bekämpft. Den Ausgang des Erzberger-Prozesses verstand die Rote Fahne vor allem als Ausdruck der gefestigten Reaktion231.

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„In den Kreisen der unabhängigen Arbeiter wetterleuchtet es", schrieb die Rote Fahne z.B. am 8. März 1920. „Kampfunlustig, niedergedrückt, wie die deutschen Arbeiter im Augenblick sein mögen, so heruntergekommen sind die Berliner Arbeiter [...] denn doch nicht, daß sie den Geist der Kautskys und Hilferdings, der die unabhängige Partei gegenwärtig vollständig beherrscht, ohne Würgen schlucken könnten". Der Referenz an die USPD-Anhänger folgte der Schlag gegen die Parteispitze: „Wer die politische Geschichte der Unabhängigen seit November verfolgt, der weiß, daß sie in nichts anderem besteht, als in dem ständigen Zeugen von Mißgeburten, von Kreuzungen zwischen schlecht verstandenen kommunistischen Gedanken und beharrlich mitgeschleppten sozialdemokratischen Gedankenfetzen". 230 „Was wir dem 'Vorwärts' und seinen Mannen zum Vorwurf machen, ist dies: ihr täuscht den Proletariermassen vor, daß es so etwas wie eine über den Klassen stehende Regierung gibt. Ihr spannt die mißleiteten Proletarier vor den Wagen des Kapitalismus, ihr gebraucht die Macht, die euch von den Proletariern überlassen wurde, gegen das Proletariat für die bürgerliche Gesellschaft" (Ausgabe vom 27. März 1920). 231 Bei Meldungen zum Prozeß Erzbergers ging es der Roten Fahne primär um eine Kritik an den Justizbehörden: „Auch diese Gewalt des alten Regimes, die die demokratische Republik hatte stehen lassen, um sie gegen das Proletariat zu verwenden, offenbart jetzt ihre geschichtliche Dialektik. Sie wendet sich gegen die demokratischen Herren von gestern und sucht Anschluß an die militärischen Herren von vorgestern und von morgen" (Ausgabe vom 11. März 1920).

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1. Sirenenklänge In Deutschland könne man die anscheinend „paradoxe Entwicklung eines Putsches" miterleben, „der sich in fast unmerklichen Etappen vollzieht", behauptete das Zentralorgan der KPD und verdichtete prägnante Indizien zu einem schlüssigen Bild232: „Die Sache begann mit der sogenannten Auslieferungskrise233. Das Ludendorfflager siegte, fast ohne einen Finger zu rühren". Eine weitere Etappe sei „der Prozeß Erzberger" gewesen, der erwiesen habe, „daß auch die Justiz in alter Treue zu Ludendorff und Hindenburg" stehe234. Während das politische Ende Erz-

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Vgl. den Kommentar „Der schleichende Putsch" in der Ausgabe vom 4. März 1920. 233 Gemeint war die von den Alliierten geforderte Auslieferung der als „Kriegsverbrecher" eingestuften Deutschen. Um das den Alliierten vorbehaltene Recht der Auslieferung zu umgehen, verabschiedete die Nationalversammlung am 13. Dezember 1919 ein Gesetz, das die Verfolgung von Kriegsverbrechern und Kriegsvergehen dem Reichsgericht in Leipzig zusprach. Nachdem der Oberste Rat der Alliierten eine Liste mit 895 auszuliefernden „Kriegsverbrechern" überreicht hatte, führten deutsche Proteste dazu, daß die Alliierten sich am 13. Februar 1920 „probeweise" mit der Verfolgung deutscher Kriegsverbrecher vor dem Reichsgericht in Leipzig einverstanden erklärten. — Zwischen Mai und Juli 1921 kam es dort (nach Huber: Verfassungsgeschichte, S. 22ff.) zu neun Verfahren gegen zwölf Angeklagte, von denen sechs verurteilt wurden. Zwei Seeoffiziere, denen vorgeworfen wurde, sich einem Befehl zur Versenkung von Rettungsbooten nicht widersetzt zu haben, erhielten nach einem Aufsehen erregenden Prozeß je vier Jahre Haft. Im Januar 1922 wurden sie von Hermann Fischer und Erwin Kern, die maßgeblich an der Ermordung Rathenaus beteiligt waren, aus der Haft befreit (vgl. dazu Ernst von Salomon: Die Geächteten. Gütersloh o.J. [1930], S. 316ff.). Der an der Ermordung Rathenaus beteiligte Salomon erlebte im März 1920 auch die blutige Niederlage, die sich die Baltikumer beim Kampf gegen die republikanische Sicherheitswehr in Hamburg zugezogen hatten (zu diesem Kampf vgl. die Abendausgabe des Vorwärts vom 25. März 1920). 234 „Wenn der 'Vorwärts' mit süßsaurer Miene die Frage aufwirft, ob er die 'Unbefangenheit' des Staatsanwalts in Sachen Erzberger als einen Fortschritt oder als einen Rückschritt bezeichnen soll, so ist das pure Heuchelei", meinte die Rote Fahne. „Tatsache ist, daß die Justizbürokratie noch völlig in wilhelminischen Traditionen [...] steht", denn der Staatsanwalt habe „im Helfferichprozeß eine Anklagerede gegen den Kläger Erzberger gehalten, die von den Mehrheitsparteien empfunden wird, als wären sie mit der Klopfpeitsche bearbeitet worden [...] Was von der Rechtssicherheit in der kapitalistischen Republik zu halten ist, hat die Straffreiheit der Mörder Lieb-

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bergers absehbar sei, marschiere „das Ludendorfflager in aller Gemächlichkeit einen Schritt weiter seiner Thronbesteigung zu. Das Zurückweichen der Regierungskoalition vor den Ludendorffern und ihr Eintritt ins Kabinett vollzieht sich unter der Maske der Einführung von Fachministern [...] Das, was überall sonst in Gestalt einer akuten Krise, in der Form des Putsches auftritt, [...] wird in Deutschland [...] so farblos und unmerklich vor sich gehen, daß die Verschiebung kaum bemerkt wird. Es ist der 18. Brumaire in Pantoffeln und Schlafrock". Zwar hätten die Mehrheitssozialisten mit ihren Verbalattacken gegen die Reaktion „einen kühnen Anlauf unternommen", aber als sie merkten, daß die bürgerlichen Koalitionspartner ihnen bei einem Regierungsaustritt „keine Träne nachweinen" würden, sei es bei diesem halbherzigen Anlauf geblieben. Wegen der Passivität, „bei der die Ebertrepublik angelangt ist", werde sich das bestehende Kräfteverhältnis der Klassen nach der Seite hin verschieben [...], die politische Aktivität entwickelt", prophezeite die Rote Fahne1**'.

2. Hindenburg: Kandidat der Reaktion Von einem Reichspräsidenten Hindenburg versprach sich die Rote Fahne eine Zuspitzung der gesellschaftlichen Spannungen und damit verbesserte Chancen für den revolutionären Kampf. Der „Schlächter von Masuren" stehe zwar noch auf der alliierten „Kriegsverbrecherliste"236, aber der KPD sei es gleichgültig, ob er ausgeliefert werde oder

knechts, Luxemburgs, Jogiches usw. hinlänglich erwiesen" (Ausgabe vom 4. März 1920). 2)5 Ebd. 236 Hatten Noske und der preußische Kriegsminister Reinhardt sich bereits am 19. Juni 1919 mit rund dreißig Offizieren über ihre Haltung gegenüber dem Versailler Vertragswerk ausgetauscht und dabei auch die militärischen Chancen einer Wiederaufnahme der Kriegshandlungen erörtert, so prüfte das Truppenamt nach Überreichung der „Kriegsverbrecherliste" vom 3. Februar 1920 ebenfalls die „Möglichkeiten der Wiederaufnahme des Kampfes [...], wobei die Absicht bestand, im Westen an die Weser zurückzugehen, im Osten [...] Posen anzugreifen, wofür die Lage günstig war, da die Polen nur noch mit schwachen Kräften an ihrer Westgrenze standen, die Masse ihrer Verbände aber gegen den im Gange befindlichen sowjetrussischen Aufmarsch bereit hielten" (Hans Meier-Welcker: Seeckt. Frankfurt am Main 1967, S. 250).

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nicht. Entscheidend sei, daß die Deutschnationalen offenbar „die Zeit für reif halten, „sich der Ebertiner zu entledigen". Sie hätten „Exzellenz von Hindenburg dazu ausersehen, den Platz 'Friedrich des Vorläufigen' einzunehmen". Es sei mit „der größten Wahrscheinlichkeit anzunehmen, daß Hindenburg Fritz Eberts Stelle besetzen, daß die ausgesprochene Militärdiktatur mittels des Stimmzettels etabliert wird"237. Ihre Auffassung vom zielstrebigen Vormarsch der Reaktion sah die Rote Fahne durch den Eklat im Hotel Adlon bestätigt238. Dieser Vorfall sei „ein Warnungssignal, das den nahen Sturm ankündigt", der „Noske und die Seinen wie Strohhalme zerknicken wird". Aber „angesichts der Reglosigkeit", in der das Proletariat selbst „den stärksten Nackenschlägen gegenüber" verharre, werde wohl auch dieses Signal ignoriert werden. Hatte die Rote Fahne einen Reichspräsidenten Hindenburg noch vor wenigen Tagen gewissermaßen als Hefe für den revolutionären Gärungsprozeß betrachtet, so akzentuierte sie nach dem Exzeß im Adlon die Gefahren des deutschnationalen Vormarsches239: „Als Mann des Plebiszits wird nunmehr Hindenburg von seinen Getreuen hervorgeholt, und das Echo, das diese Kandidatur in der Presse der Regierungskoalition findet, beweist, daß hier weder der Wille noch die Kraft vorhanden [...] ist, um dem Götzenbild Hindenburgs zu widerstehen. Vom 'Vorwärts1 bis zur 'Vossischen Zeitung' wird das Idol des deutschen Imperialismus beschworen, von der Kandidatur abzusehen. [...] Denn sie selbst sind es ja gewesen, die vom ersten Tage der Revolution ab Hindenburgs Standbild wieder aufgerichtet [... und] die Legende von dem unpolitischen General [...] neu erzeugt haben". Jetzt stehe diese Legende riesengroß da und werde auf die herabstürzen, die sie aufgerichtet haben. Die liberale Presse versuche zwar „den Sturm zu beschwören, 257

Ausgabe vom 8. März 1920. Zur Frage von Neuwahlen hatte die Rote Fahne eine dezidierte Position: „Die Generalpächter der Demokratie haben heute vor ihrer Anwendung Furcht, wohl wissend, daß der Tag der Neuwahlen das Ende ihrer Regierungsherrschaft bedeutet" (ebd.). 238 Vgl. die Ausgabe vom 10. März 1920. 239 Vgl. „Hindenburgs Standbild" (ebd.). Auch die locker formulierte Einleitung konnte tief erliegende Befürchtungen nicht überdecken: „Der genagelte Hindenburg [ein während des Krieges errichtetes Monument], der ungeschlacht und hölzern am Königsplatz in Berlin steht, vor der Siegessäule, die ironisch auf ihn herabschaut, und gegenüber dem Reichstag, den er en canaille behandelte, soll auf Abbruch ins Ausland verkauft werden: er geht in den allgemeinen deutschen Ausverkauf ein".

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indem sie auf die schweren außenpolitischen Konflikte hinweist, die Hindenburgs Thronbesteigung bedeuten würde", aber man dürfe sich nicht darüber täuschen, daß „die öffentliche Meinung der liberalen Presse" nicht mehr die Stimmung der Bourgeoisie wiedergebe, „sondern allerhöchstens die der kleinen Clique, die mit den regierenden Volksmännern verbunden ist. Die große Masse der Bourgeoisie [...] lechtzt [!] danach, die auf den französischen Schlachtfeldern entschiedene Machtfrage von neuem zur Entscheidung zu stellen. Das wird schwerlich von heute auf morgen gehen, aber daß [man sich] vorbereitet, darüber kann kein Zweifel bestehen"240.

3. Politik ohne Perspektive: Die „Scheidemänner" Auf die Errichtung einer Diktatur des Proletariats eingeschworen241, warf die Rote Fahne der SPD mangelhaftes Demokratieverständnis vor: Obwohl der Antrag der Rechten auf Auflösung der Nationalversammlung „von der Koalitionsmehrheit niedergestimmt" wurde, gebe es „über die Rechtsfrage" keinen Zweifel. „Das Mandat der Nationalversammlung ist längst abgelaufen. [...] Alle 'Gründe1 [...] für die Verlängerung der Lebensdauer dieser Nationalversammlung sind bloße Ausflüchte. Kein Mensch zweifelt daran, daß der [...] Grund der Verlängerung [...] nichts anderes ist als die Verlängerung der Existenz der gegenwärtigen Koalitionsregierung". Der „Scheidemannschaft" müsse „vollkommen klar sein, daß Neuwahlen sie von der politischen Bildfläche wegfegen". Das Klammern an die Mandate sei „eine Politik des kurzsichtigen Parteiegoismus", denn „die Weigerung dieser Nationalversammlung, sich zu Grabe zu legen", gebe „den Rechtsparteien den Trumpf in die Hand, daß sie den demokratischen Gedanken vertreten gegenüber der sich demokratisch nennenden Regierung"242. 240

Ebd. Mit „Pogromübungen" überschrieb die Rote Fahne am 11. März 1920 eine Übersicht reaktionärer Ausschreitungen und meinte, „das sind die Schatten, die das Ludendorffregiment vorauswirft. [...] Die Flämmchen, die [überall ...] aus dem Boden dringen, zeigen an, daß ein kolossaler Brandherd nationalistischer Pogromhetze nahe am Ausbruch ist". 241 In ihrer Ausgabe vom 8. März 1920 stellte die Rote Fahne kurz und bündig fest: „Diktatur ohne Gewalt ist Unsinn". 242 Ausgabe vom 12. März 1920. Die Behauptung, man müsse „noch irgendwelche 'demokratischen Errungenschaften'" sichern, bevor „die Flut von rechts kommt", sei

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Dieses Argument sei „von nicht zu unterschätzendem Gewicht bei den breiten Massen der mittleren und kleineren Bourgeoisie". Die Ludendorffer hätten überhaupt „keinen Anlaß, den Lauf der Dinge zu überstürzen. Sie können mit ziemlicher Zuversicht [darauf] rechnen, daß sie auf legalem Wege zur Macht gelangen". Im Unterschied zur USPD, die mit der Rechten für die Auflösung der Nationalversammlung stimmte, meinte das Zentralorgan der KPD, „der entscheidende Gesichtspunkt" könne „auch in dieser Frage nur sein, die Krise der Bourgeoisie zu beschleunigen. Je größer der Abstand wird zwischen der Zusammensetzung des Parlaments und den Machtverhältnissen außerhalb des Parlaments, umso wahrscheinlicher wird eine akute Zuspitzung der inneren Krisis. Die revolutionäre Arbeiterklasse hat [...] daher nicht das mindeste Interesse [...] an einer frühzeitigen Ansetzung der Neuwahl"243. Trotz ihrer unentwegten Warnungen vor dem „schleichenden Putsch" scheint die Rote Fahne vom tatsächlichen Putsch überrascht worden zu sein244. Hatte die KPD sich nur mit Zögern dem Generalstreik angeschlossen, so wünschte die Rote Fahne nach dem „Berliner Übereinkommen" einen neuen Generalstreik zur Unterstützung des Widerstands im Ruhrgebiet. KPD und Rote Fahne forderten zwar die vollständige politische „Ausschaltung des Bürgertums"245, doch die unter Einschluß gewerkschaftlich orientierter Mitglieder des Zentrums und der DDP diskutierte „Arbeiterregierung" betrachtete das Zentralorgan der KPD nicht ohne Sympathie: Auch „wenn wir [...] keinen Augenblick verhehlen, daß die Arbeiterregierung den Kommunismus nicht bringen wird, so sind wir doch des Glaubens, daß diese Arbeiterregierung der wirkliche Ausdruck des derzeitigen Wollens und der derzeitigen Kräfteverhältnisse des Proletariats sei. Und in diesem Sinne werden wir diese Regierung respektieren. Wir werden nicht aufhören, auch unter dieser Regierung um die Seele des Proletariats zu kämpfen, aber kei-

„keinen Pfifferling wert", denn ein reaktionärer Reichstag würde „so oder so kurzen Prozeß machen". 243 Ebd. 244 Brachten alle hier untersuchten Berliner Zeitungen schon am Abend des 12. März erste Gerüchte über einen bevorstehenden Putsch, so befaßte die Rote Fahne sich nicht einmal in ihrer Ausgabe vom 13. März mit dem — inzwischen erfolgten — Einmarsch der Marinebrigade. 245 Vgl. die in der Roten Fahne vom 26. März 1920 abgedruckte Erklärung der KPD.

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ner von uns dächte daran, ehe wir der Proletarier Seelen gewonnen haben, die Regierung zu stürzen"246.

4. Antisemitismus ist kein Thema, Ähnlich wie der Vorwärts, der Antisemitismus im März 1920 vor allem im Kontext politischer Auseinandersetzungen mit den Deutschnationalen ansprach, verhielt sich die Rote Fahne. Damit hatte auch sie Antisemitismus zwar genuin negativ definiert, doch es ist evident, daß die gesamte Linkspresse sich nur selten mit antijüdischen Strömungen auseinandersetzte und das Wort „Jude" fast peinlich vermied247. Als die Rote Fahne z.B. die Meldung des Lokal-Anzeigers kommentierte, auf dem Truppenübungsplatz im thüringischen Ohrdruf solle „ein Konzentrationslager für lästige Ausländer" eingerichtet werden, fehlte jeder Hinweis, daß dieses Lager vor allem Juden aus Osteuropa aufnehmen sollte: „Deutschland ist von einer ausländischen Schakalmeute überlaufen, die im Bunde mit seelenverwandten geschäftstüchtigen Inländern mit der letzten beweglichen Habe des ruinierten Wirtschaftskörpers einen wucherischen schamlosen Handel treibt", konstatierte das Blatt. „Aber diese Elemente sind es nicht, gegen die sich der Zorn der Ebertrepublik oder der deutschen Bourgeoisie richtet. [Sondern] Arme Teufel, die durch den kapitalistischen Hexensabbat aus den Fugen geraten, aus Heim und Heimatland vertrieben, Ausländer, die eine polizeiwidrige politische Überzeugung haben", so die Rote Fahne, „sollen nach dem Willen der Ebertregierung einer Hammelhorde gleich in Konzentrati-

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* Ebd. Diese Form „legaler Opposition" war am 21. März 1920 auf einer Sitzung der KPD-Zentrale beschlossen worden; zwei Tage später wurde sie vom Zentralausschuß und im April vom 4. Parteitag der KPD mißbilligt; die Mißbilligung wiederum wurde von Lenin im Juli 1920 scharf kritisiert (vgl. Miller: Bürde der Macht, S. 387f.). 247 Eine Ausnahme bildet — in gewisser Weise — der Beitrag „Der ewige Jude" (Rote Fahne vom 1. April 1920): „Ehrhardt und seine Mannen ziehen nach Lockstedt. Unterwegs bleiben sie stecken, angeblich weil Arbeiter sie nicht durchlassen wollen; in Wirklichkeit, weil sie im offenen oder geheimen Einverständnis der Müller-Regierung den drohenden Generalstreik in Berlin niederschlagen wollen. Nun sollen sie am 1. April von neuem von Döberitz nach Lockstedt wandern [...] So wandert Ehrhardt hin und her durch Deutschland: Ein Ahasver mit Panzerwagen und dem Hakenkreuz auf dem Helm".

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onslagern untergebracht werden"248. Auch die umfangreichen Razzien gegen „jüdisch aussehende Fremde" in Berlin verstand die Rote Fahne nicht primär als Ausdruck von Antisemitismus: „An die tausend 'jüdisch aussehende Fremde1 wurden verhaftet unter dem Vorwand der Schieberei und mit der Andeutung des Verdachtes bolschewistischer Umtriebe. [...] Was beweist diese Tatsache? Sie beweist, daß die Kappenzunft noch Macht in Hülle und Fülle hat, trotzdem oder vielmehr eben weil die Kappen-Obersten verschwunden sind"249.

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Ausgabe vom 8. März 1920. Ausgabe vom 29. März 1920. Nach Ende des Putsches konnte die DNVP in zahlreichen Städten einen bemerkenswerten Zustrom neuer Mitglieder verzeichnen (vgl. Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 203). 249

IX „Erhebungsphase 1920": Zusammenfassung

Die der Weimarer Koalition nahestehenden Zeitungen konzentrierten ihr publizistisches Engagement im März 1920 auf spektakuläre Ereignisse wie die Rauferei im Adlon und lenkten den Blick auf die fast täglichen Exzesse rechtsradikaler Reichswehr- und Freikorpsmitglieder, die als „Hakenkreuzler" bezeichnet wurden. Gleichermaßen grenzten sich diese Blätter gegenüber der USPD und KPD ab, wünschten jedoch nach Ende des Putsches die Einbeziehung der Unabhängigen in eine „Arbeiterregierung". Selbst bei regierungsfreundlichen Blättern wie der Frankfurter Zeitung stieß die Absicht der Koalitionsparteien, die Nationalversammlung nicht aufzulösen und den Reichspräsidenten nicht von der Bevölkerung wählen zu lassen, auf Unverständnis und Ablehnung. Die von DVP und DNVP ins Spiel gebrachte Kandidatur Hindenburgs für das Amt des Reichspräsidenten wurde insbesondere vom Völkischen Beobachter und vom Berliner Lokal-Anzeiger unterstützt. Diese beiden Blätter waren auch über das für Erzberger negative Urteil im Prozeß gegen Helfferich hocherfreut. Sie sahen erhebliche Teile ihrer politischen Ziele von Kapp und Lüttwitz vertreten und unterschieden sich von den anderen Zeitungen dieser Studie vor allem durch ihre Forderung nach Konzentrationslagern für „lästige Ausländer", wie die Chiffre für Ostjuden lautete.

L Das Ereignis: Der Putsch vom März 1920 Überzeugt, Kapp werde der „Herrschaft des Judentums" ein schnelles Ende bereiten, veröffentlichte der Völkische Beobachter „unter Aufwendung unverhältnismäßig hoher Kosten und mit großer Mühe" zwei Flugblätter und wies den Vorwurf, es handele sich um einen „monarchistischen Junkerputsch", entschieden zurück. Aus dem „Rücktritt" von Kapp und Lüttwitz zog das Blatt den Schluß, die

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„Deutschvölkischen" hätten die Pflicht, sich zukünftig bei ähnlichen „politischen Umwälzungen" an die Spitze zu stellen. Zum verfassungsrechtlich umstrittenen Abkommen zwischen Vertretern der Reichsregierung und der Gewerkschaften zur Beilegung des Generalstreiks meinte das Blatt, „eine Reichsregierung, die sich jedes Einflusses [...] zugunsten einer Straßendiktatur begibt, hat kein Recht auf Existenz". Freundlicher wurde die neugebildete bayerische Regierung beurteilt, wenngleich der Antisemitismus von Kahr dem Blatt nicht radikal genug war. Demgegenüber meinten die Münchner Neuesten Nachrichten, der Regierungswechsel in Bayern habe einen „fatalen Beigeschmack", zumal Kahr in seiner Antrittsrede „jedes scharfe Wort gegen den Berliner Staatsstreich f...] vermissen" ließ. An der „Leitung der Deutschen Volkspartei" übte das Blatt Kritik, weil sie zunächst noch stärker als die DNVP mit Kapp und seinen Hintermännern sympathisierte. Positiv wurde vermerkt, daß „in verschiedenen Landesteilen" die Front „gegen das hochverräterische Unternehmen" von der „äußersten Rechten bis zu den Unabhängigen reichte". Trotz dieser erfreulichen Tatsache erwarteten die Münchner Neuesten Nachrichten vom „Berliner Gewaltstreich" eine Radikalisierung der innenpolitischen Auseinandersetzung und waren versucht, „an der politischen Begabung der deutschen Nation" zu verzweifeln. Eine ausgesprochen fragwürdige Rolle während des Putsches spielte der Lokal-Anzeiger, dem zahlreiche Zeitungen vorwarfen, er habe sich uneingeschränkt in den Dienst der Putschisten gestellt. Tat das DNVP-Blatt die ersten Putsch-Gerüchte noch als ein „leicht durchschaubares Manöver" der Regierung ab, so unterstellte das Blatt Kapp und Lüttwitz auch nach Ende ihres Putsches „lauterste Absichten", bemühte sich jetzt aber, den Vorwurf einer Kooperation mit den Putschisten zu entkräften. Nutznießer des Putsches seien, das betonte der Lokal-Anzeiger mehrfach, die „Linksparteien", die Gewerkschaften sowie die Aufständischen im Ruhrgebiet und in Mitteldeutschland. Den Gewerkschaften habe die Reichsregierung eine so entscheidende Mitsprache bei Regierungsneubildungen eingeräumt, daß „die freie Selbstbestimmung des Parlamentes [...] abermals eine erhebliche Einschränkung erfahren" habe. Die BZ am Mittag faßte sich kürzer und warf der Regierung vor, sie habe überhaupt keine Vorstellung davon, „welches große Maß an Schuld man ihrer Sorglosigkeit" beimesse. Enttäuscht war die BZ, weil die Regierung „mit der bloßen Neubesetzung einiger Ministerposten" nicht die notwendigen Konsequenzen aus dem Putsch gezogen habe. Weiteste Kreise der Bevölkerung hätten eine „Reform an Haupt

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und Gliedern" erwartet. Die Aufständischen im Ruhrgebiet hielt das Ullstein-Blatt für „bewaffnete Terroristen", von denen selbst „die den Unabhängigen angeschlossene Arbeiterschaft" möglichst bald befreit werden wolle. Die Germania charakterisierte den Putsch als „das Schlimmste, was dem deutschen Volke in seiner elenden Lage nach dem verlorenen Kriege passieren konnte", und lobte die süddeutschen Staaten, die „treu zur alten Regierung" standen. In der Vereinbarung zur Beilegung des Generalstreiks sah auch die Germania „einen weiteren Ruck nach links" und konstatierte mit Unbehagen, daß diese Abmachung „den Berliner Radikalen" noch immer nicht weit genug ging. Die Frankfurter Zeitung, die zu „gewaltigen Kundgebungen" gegen die Putschisten aufgerufen und „Entschlossenheit bis zum Äußersten" geforderte hatte, sprach resümierend von einer großen „Mitschuld weiter Teile des deutschen Bürgertums", das sich in den letzten Monaten „in völliger politischer Verblendung nach rechts orientiert" habe. Empört und fassungslos reagierte das Blatt auf die Erklärung Schiffers, Kapp sei zurückgetreten, „um den inneren Frieden herbeizuführen", und aus dem gleichen Grund habe Lüttwitz „sein Abschiedsgesuch eingereicht". Die inhaltlichen Punkte, über die führende Politiker der Mehrheitsparteien, der DVP und der DNVP sich mit der „Gegenregierung" verständigt hatten (Neuwahlen, Regierungsumbildung und Wahl des Reichspräsidenten durch das Volk), schienen der Frankfurter Zeitung zwar diskutabel, daß aber Vertreter der Reichsregierung mit den Putschisten über die (friedliche) Beilegung des Putsches verhandelt haben sollten, schien dem Blatt undenkbar: Das deutsche Volk habe den Staatsstreich zu Fall gebracht, und „unerhört wäre es, wenn irgendein Politiker an verantwortlicher Stelle [...] es der Reaktion ermöglichte, von erfüllten Bedingungen der Meuterer zu sprechen". Wie die Frankfurter Zeitung, so forderte auch der Vorwärts eine Beteiligung der Unabhängigen an der Regierung. Nach einer kurzen Siegeseuphorie kritisierte das SPD-Organ, daß sich „die militärische Position der Republik" nach dem 17. März „noch verschlechtert" habe: Überall in Berlin seien „Hakenkreuz-Truppen" zu sehen, demokratische Kampfgruppen würden aufgelöst, und ihre Bestände kämen teilweise zur Marinebrigade Ehrhardt. Das Lager in Döberitz sei zur Pilgerstätte für „Zeitfreiwillige und reaktionäre Studenten" geworden, die sich dort anwerben ließen, um Arbeiter zu massakrieren, während die Reichswehr es ablehne, die unter Kapp und Lüttwitz entlassenen regierungstreuen Soldaten wieder einzustellen. In aller Ausführlichkeit sprach die Rote Fahne von der Gefahr

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eines „schleichenden Putsches": Der „Sieg Ludendorffs" in der Frage der Auslieferung „deutscher Kriegsverbrecher", der Ausgang des Prozesses Erzbergers gegen Helfferich, die Präsidenten-Kandidatur Hindenburgs, der Adlon-Eklat sowie die Forderung nach „Fachministern" seien Schritte des „schleichenden Putsches", des „18. Brumaire in Pantoffeln und Schlafrock". Obwohl das Zentralorgan der KPD vor einem nahen Sturm warnte, wurde es vom Militärputsch doch überrascht. Nach dem Putsch zog die Rote Fahne eine insgesamt negative Bilanz, als sie meinte, die „Kappenzunft" habe „noch Macht in Hülle und Fülle", vielleicht sogar gerade deshalb, „weil die Kappen-Obersten verschwunden sind".

2. Republik und Rechtsradikalismus Für den Völkischen Beobachter stand außer Frage, daß die Minister der Republik ihr Amt ausschließlich als Gehaltsquelle betrachteten. Deshalb sei auch für Personen wie Erzberger „der Parlamentarismus der günstigste Nährboden". Das Blatt, das für die politische Durchsetzung des deutschvölkischen Gedankens „auf allen Gebieten" kämpfte, rief die Bevölkerung auf, sich der „Diktatur des Berliner Asphaltproletariats nicht zu beugen", schon gar nicht, nachdem die Reichsregierung sich „in ihrer an Aberwitz grenzenden Angst vor einem Putsch von rechts den streikenden Gewerkschaften unterworfen" habe. Eine völlig andere Position vertraten die Münchner Neuesten Nachrichten, die in einem Bericht über die fragwürdigen Umstände der Regierungsumbildung in Bayern davon sprachen, daß eigentlich „der Geist der Demokratie [...] unser Staatsleben beherrschen sollte". Einer der wichtigsten Wortführer, die nach „dem kläglichen Ende des Erzbergerprozesses" zum Frontalangriff auf Republik und Parlamentarismus übergingen, war der Berliner Lokal-Anzeiger, der mit seiner antirepublikanischen Propaganda im März 1920 den Völkischen Beobachter fast in den Schatten stellte: Seit der Friedensresolution von 1917 — und verstärkt nach dem November 1918 — seien die Parteien nur noch reiner „Selbstzweck". Die „einseitige und rücksichtslose Parteiherrschaft" sei auch für die verfassungswidrige Absicht der SPD verantwortlich, den Reichspräsidenten nicht durch das Volk wählen zu lassen. Da die Mehrheitsparteien es außerdem ablehnten, die Nationalversammlung aufzulösen, konnte das Blatt mit großer Zustimmung rechnen, als es fragte, ob es etwas gäbe, „das undemokratischer wäre als ein Parlament, das mit dem Volkswillen im Widerspruch

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steht". Auch wenn die regierungskritische BZ auf explizite Bekenntnisse zur Republik verzichtete, so lehnte das Ullstein-Blatt die Kandidatur Hindenburgs für das Amt des Reichspräsidenten doch entschieden ab. Wie die BZ erklärte, tauge ein Mann, der sich das Schlagwort vom „Dolchstoß in den Rücken des Heeres" zu eigen machen konnte, nicht dazu, „Präsident der deutschen Republik zu werden". Und da „der Heerführer Hindenburg nicht ohne Ludendorff zu denken war", müsse befürchtet werden, „daß hinter dem Präsidenten Hindenburg ein Einbläser stehen würde, der ihn zu folgenschweren Entschlüssen veranlassen könnte". Gemessen an dieser kühlen Ablehnung, argumentierte die Germania erheblich pathetischer, wenn sie von der „Person des verehrten Heerführers" sprach, „der allen guten Deutschen zu hoch stehen sollte", um „in parteipolitische Kämpfe hineingezogen" zu werden. Das Zentrumsblatt vertrat zwar die Politik der Regierungskoalition, ihre Neigung, die Koalition nach rechts zu erweitern, war jedoch kaum zu übersehen. „Das Zentrum als eine Verfassungs- und Rechtspartei lehnt grundsätzlich jede gewaltsame Staatsumwälzung ab", lautete die Formel, mit der die Germania sich vom Staatsstreich distanzierte und darauf verwies, daß sie auch die Umwälzungen der Revolution erst anerkannt habe, als die Nationalversammlung gewählt war. Im Gegensatz zur Germania und zum Vorwärts plädierte die Frankfurter Zeitung für die Wahl des Reichspräsidenten durch die Bevölkerung. Das linksliberale Blatt, das in der Kandidatur Hindenburgs eine „Wegleuchte für die Wiederherstellung der Monarchie" sah, rief unmittelbar nach Bekanntwerden des Putsches zur Unterstützung der Republik auf: „Der demokratische Geist muß sich mächtig erheben, und seine Losung muß heißen: Schutz der neuen Verfassung, der deutschen Republik, Kampf gegen die Reaktion, Entschlossenheit bis zum Äußersten". Jetzt gehe es vorrangig darum, die „durch Kapp bedrohte Freiheit" zu verteidigen. „Haben wir erst wieder die Demokratie und die Republik", so die politische Perspektive der Frankfurter Zeitung, „dann soll [...] wirklich werden, was wir alle erstreben: das soziale Gemeinwesen, das alle seine Bürger in Freiheit, Gerechtigkeit und menschlicher Würde zu einer wahren [...] Gemeinschaft zusammenschließt". Gegen die Kandidatur Hindenburgs engagierte sich auch der Vorwärts, der diesem Exponenten „der alldeutschen Militär- und Zivilkaste" das geistige Niveau eines „beliebigen alldeutschen Stammtisches" attestierte. Nach dem Putsch hoffte das SPD-Organ, es werde politisch „einen mächtigen Ruck nach links" geben. In radikalerer Diktion als zuvor kritisierte der Vorwärts

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die „Leisetreterei" der Regierung gegenüber den rechtsradikalen Kräften: „Der Verschwörung" sei zwar „das Genick gebrochen — leider nicht den Verschwörern", konstatierte das Blatt und beklagte, daß „Übergriffe und Willkürakte" nun nicht mehr im Namen von Kapp und Lüttwitz, „sondern im Namen der rechtmäßigen Regierung" stattfänden. Die Rote Fahne ging vor dem Putsch davon aus, daß die Verzögerung von Neuwahlen aus einem „kurzsichtigen Parteienegoismus" resultiere. Gleichzeitig hatte das Blatt aber „nicht das mindeste Interesse [...] an einer frühzeitigen Ansetzung der Neuwahl", denn je größer der Abstand „zwischen der Zusammensetzung des Parlaments und den Machtverhältnissen außerhalb des Parlaments" werde, desto stärker spitze sich die innere Krise zu. In diesem Sinne verzichtete das Zentralorgan der KPD zunächst auch darauf, sich den Aufrufen zum Generalstreik anzuschließen. „Für die in Schmach und Schande untergegangene Regierung der Mörder Karl Liebknechts und Rosa Luxemburgs" wollte das Blatt ebensowenig kämpfen wie für „die demokratische Republik, die nur eine dürftige Maske der Diktatur der Bourgeoisie" sei. Als sich nach dem Putsch die Möglichkeit einer „Arbeiterregierung" abzeichnete, legte das Blatt weniger Wert auf eine „Zuspitzung der inneren Krisis" und meinte, kein Kommunist dächte je daran, diese Regierung zu stürzen, „ehe wir der Proletarier Seelen gewonnen haben".

3. Antisemitismus und Judentum In die Diskussion über die „Judenfrage" hatte der Völkische Beobachter 1920 mit seinem Sexismus a la Streicher und seinen Ausführungen über den „arischen Stammbaum" von Jesus Christus eine neue Dimension gebracht. Vor dem Hintergrund einer äußerst schwierigen Versorgungslage und einer vor allem in München breiten Ablehnungsfront gegenüber Juden nutzte das Blatt die Lieferung von „Ostermehl" konsequent für seine antisemitische Propaganda. Alle nach 1914 eingewanderten Juden, so die Forderung des Völkischen Beobachters, seien in Internierungs-, Sammel- oder Konzentrationslager zu bringen und von dort aus „innerhalb kürzester Frist" auszuweisen. Jede Stadt und Gemeinde müsse „Judenlisten" anlegen und für die „sofortige Entfernung der Juden von allen Staatsämtern, Zeitungsbetrieben" usw. sorgen. Daß derartige Forderungen Widerhall in der Bevölkerung fanden, belegt nicht nur die von Kapp am 16. März angeordnete Beschlagnahmung des

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III. Der Putsch vom März 1920

„Ostermehls", sondern auch der Hinweis der Münchner Neuesten Nachrichten, daß „antisemitische Straßenkundgebungen" in München „allmählich zu einem unentbehrlichen Bestandteil der [...] Sonntagsvergnügungen'' zu werden drohten. Das Blatt warnte ausdrücklich vor dem Entfachen antisemitischer Emotionen und berichtete in allen Einzelheiten über den von „Hakenkreuzlern" provozierten „Passauer Theaterskandal'', betonte aber gleichzeitig, die Redaktion habe schon „bald nach der Revolution" darauf hingewiesen, daß „die Überflutung Deutschlands mit wurzellosen, land- und artfremden Elementen aus Galizien oder den russischen Randstaaten" eine „überaus ernste Gefahr für unser Volk zu werden beginnt". Von dieser Gefahr war auch der Berliner Lokal-Anzeiger überzeugt, der Konzentrationslager für alle „lästigen Ausländer" forderte, die nach Kriegsbeginn eingewandert und „nicht zu produktiver Arbeit zu bewegen" seien; die schon vor Kriegsbeginn in Deutschland lebenden Juden galten als „einheimische Juden" und wurden als Kronzeugen für die negativen Einflüsse der „galizisch-polnischen Zuwanderer" zitiert. Die Ostjuden seien ein „Krebsgeschwür", meinte der Lokal-Anzeiger, und ihre Duldung im Reich sei ein „Verbrechen am eigenen Volkstum". Die aus dem Ullstein-Verlag stammende BZ war gewiß nicht antisemitisch, bestärkte aber möglicherweise mit ihrem Hinweis auf die fürchterliche Typhus-Epidemie in Rußland und Galizien das Gerede des Völkischen Beobachters von den Ostjuden als „Trägern von Lungentuberkulose, Kleiderläusen und Krätze"; schließlich behauptete auch der Lokal-Anzeiger, von den ostjüdischen Einwanderern gehe eine unmittelbare „Seuchengefahr" aus. Die Germania mied diesen Themenbereich im März 1920 weitgehend und beschränkte sich auf die für sie anscheinend wichtige Klarstellung, daß Erzberger nicht Jude sei. In einem Bericht über das nächtliche Berlin während des Generalstreiks hieß es, auf den Straßen hätten nur die Reden „ab und zu Anklang" gefunden, die „antisemitische Wendungen" enthielten. Die Frankfurter "Zeitung warnte zwar nachdrücklich vor den „gefährlichen Wirkungen, die die skrupellose Verhetzung, wie sie von antisemitischer Seite betrieben wird, auf geistig und moralisch schwache Menschen", vor allem auf Jugendliche und Schüler habe, aber im März 1920 scheint das Blatt dem Antisemitismus der Völkischen noch keine größere Bedeutung beigemessen zu haben. Auch der Vorwärts befaßte sich nicht näher mit Antisemitismus, meinte jedoch, er könne „nicht dringend genug vor einer Unterbringung lästiger Ausländer in Konzentrationslagern warnen". Als der Vorwärts über die von Seeckt veranlaßte Razzia vom 27. März,

Zusammenfassung 1920

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eine „'großzügige Aktion1 gegen die sogenannten 'lästigen Ausländer'", berichtete, setzte er mit seinen Anführungszeichen sichtbare Akzente. Die Abschiebung von rund 600 Ostjuden ins Konzentrationslager bei Zossen kommentierte die Rote Fahne mit der Bemerkung, solche Lager seien für Personen errichtet worden, „die eine polizeiwidrige Überzeugung haben". Diese Bemerkung zur politischen Einstellung der abgeschobenen Juden, die mit dem Hinweis des Lokal-Anzeigers übereinstimmt, viele der Abgeschobenen seien „bolschewistischer Umtriebe verdächtig", legt die Vermutung nahe, daß es sich bei den Razzien im Scheunenviertel nicht nur um Maßnahmen gegen „kriminelle Elemente" oder Ostjuden handelte, sondern daß diese Razzien auch als Schlag gegen das Rekrutierungspotential des „Bolschewismus" verstanden werden können.

VIERTES KAPITEL

Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

EINFÜHRUNG: „ERHEBUNGSPHASE 1921"

Nach dem Putsch von Lüttwitz und Kapp hatte die Regierung Bauer am 26. März 1920 ebenso ihren Rücktritt erklärt wie die Preußische Staatsregierung. Am 27. März bildete der bisherige Außenminister Müller ein neues Kabinett der Weimarer Koalitionsparteien1, und am 29. März wurde unter dem bisherigen Landwirtschaftsminister Otto Braun die preußische Regierung neugebildet2. Unter dem neuen Chef der Heeresleitung, General Hans von Seeckt3, vollzog sich der Umbau der Reichswehr zum „Staat im Staate"4. Die mit dem Putsch vom März 1920 erzwungenen Reichstagswahlen brachten am 6. Juni 1920 für die Weimarer Koalition, vor allem für die DDP und SPD ein niederschmetterndes, die weitere Geschichte der Republik maßgeblich bestimmendes Ergebnis5: SPD, DDP und Zentrum erhielten zusammen nur noch 44

1

In dieser von der Sozialdemokratie geführten Reichsregierung überließ die SPD, froh das „undankbare Amt" des Reichswehrministers los zu sein, das Wehrministerium dem Nürnberger Oberbürgermeister Otto Geßler (DDP), der lediglich als „Vernunftrepublikaner" galt. 2 Braun, der auch wieder das Landwirtschaftsministerium übernahm, wurde zunächst nur mit dem „Präsidium" des preußischen Kabinetts betraut (Schulze: Otto Braun, S. 298). 3 Er habe Seeckt „nie über den Weg getraut", bemerkte Noske gegenüber Geßler und riet ihm, er möge „sich sobald wie möglich Seeckt vom Halse" schaffen (Noske: Erlebtes, S. 166). 4 Zur „Ära Seeckt" und der „Entpolitisierung" der Reichswehr vgl. Otto-Ernst Schüddekopf: Das Heer und die Republik. Quellen zur Politik der Reichswehrführung 1918 bis 1933. Hannover 1955, S. 115ff. 5 Verglichen mit der Wahl zur Nationalversammlung vom 19. Januar 1919 hatte die SPD fast die Hälfte ihrer Wähler verloren, blieb aber mit knapp 22 Prozent noch immer stärkste Fraktion vor der USPD, die sich von 5 Prozent auf 17,9 Prozent steigern konnte. Die erstmals an einer reichsweiten Wahl teilnehmende KPD kam auf 2,1 Prozent. Die DDP verlor mehr als die Hälfte ihrer Wähler und fiel von 18,5 Prozent auf 8,3 Prozent zurück. Während die DVP ihren Stimmenanteil von 3,9 Prozent mehr als verdreifachte und 13,9 Prozent erzielte, gelang der DNVP eine Steigerung von 10,3 Prozent auf 15,1 Prozent. Der Stimmenrückgang des Zentrums von 19,7

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

Prozent statt der bisherigen 76 Prozent aller Mandate6. Da die Sozialdemokratie sich zur „politischen Abstinenz" entschied7, um nicht den Unabhängigen und Kommunisten die Rolle der linken Opposition zu überlassen, übernahm die am 25. Juni 1920 unter dem Zentrumspolitiker Fehrenbach gebildete Minderheitsregierung von Zentrum, DDP und DVP die Regierungsgeschäfte und konnte sich bis zu ihrer Demission im Mai 1921 auf eine weitgehende Tolerierung durch die SPD stützen8. Rund fünf Wochen nach der Juniwahl beschloß der erste Reichstag der Republik ein Amnestiegesetz, das Straffreiheit für alle Vergehen zusicherte, die im Zusammenhang mit dem März-Putsch von 1920 sowie den Aufständen im Ruhrgebiet und Mitteldeutschland standen9;

Prozent auf 13,6 Prozent geht zum größten Teil auf die Abspaltung der BVP zurück, die als eigenständige Partei an der Wahl teilnahm und 4,4 Prozent erzielte (vgl. Kolb: Weimarer Republik, S. 252). Bei dieser ersten Reichstagswahl stimmten vor allem Frauen für die rechten Parteien, wie das Abstimmungsverhalten von knapp 850.000 Wählern zeigt: Das Zentrum erhielt 59 Prozent seiner Stimmen von Frauen, die DNVP 56 Prozent und die DVP 51 Prozent; dementsprechend erhielten die anderen Parteien ihre Stimmen vor allem von Männern: die DDP 53 Prozent, die SPD 57 Prozent, die USPD 59 Prozent und die KPD 63 Prozent (vgl. Liebe: Deutschnationale Volkspartei, S. 130, Anm. 75). Noch dramatischer als im Reichsdurchschnitt war der Verlust für die SPD in Berlin: Die Partei fiel hier von 36,4 Prozent auf 17,5 Prozent und war damit deutlich schwächer als die USPD, die sich von 27,6 Prozent auf 42,7 Prozent steigerte; die KPD erhielt in Berlin 1,3 Prozent der Stimmen (vgl. Hans J. Reichhardt: Kapp-Putsch und Generalstreik. März 1920 in Berlin. „Tage der Torheit, Tage der Not". Berlin 1990, S. 30, Anm. 84). 6 Mit der Reichstagswahl vom Juni 1920 war „der kaum begonnene Versuch des staatspolitischen Parteienkompromisses" gescheitert (Morsey: Zentrumspartei, S. 320). 7 Ebd., S. 335. 8 Da die SPD aus Loyalität zur Weimarer Republik auf eine extreme Oppositionsrolle verzichtete, „wurde sie zu einem Zwitter von Oppositions- und Regierungspartei. Es bildete sich ein Stil der Tolerierungspolitik heraus, der für die Weimarer Republik kennzeichnend werden sollte" (Kastning: Deutsche Sozialdemokratie, S. 61). ' Gurt Geyer nahm als Vertreter der USPD an den Sitzungen des Ausschusses der Nationalversammlung teil, der die Haltung von Reichswehroffizieren während der Märztage 1920 überprüfen sollte. Nach Geyer waren „weder der neue Reichswehrminister Gessler, noch das Reichswehrministerium, noch der Reichspräsident und die Generalität, noch die Abgeordneten der Weimarer Koalition, noch die Abgeordneten der Rechten [...] im mindesten an einer Überprüfung der Haltung der Offiziere im Kapp-Putsch interessiert" (Erinnerungen von Curt Geyer, S. 189). Auch Jasper: Der Schutz der Republik, S. 33 kommt zu keinem positiveren Ergebnis, wenn er fest-

Einführung 1921

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von der Amnestie ausgenommen waren lediglich „Urheber und Führer" des Putsches sowie Teilnehmer an Kapitalverbrechen10. Wichtigste Aufgabe des Kabinetts Fehrenbach war die Regelung der Reparationsfrage. Auf der Konferenz von Spa (5. bis 16. Juli 1920) konnte sich die Reichsregierung mit den Alliierten zwar über den Umfang der deutschen Kohlelieferungen, über die Reduzierung des deutschen Heeres und die Entwaffnung der Zivilbevölkerung verständigen, aber die Alliierten waren nicht bereit, über ihre auf 269 Milliarden Goldmark bezifferten Reparationsforderungen zu verhandeln. Der Konflikt mit den Alliierten verschärfte sich, als die Reichsregierung die auf der Pariser Konferenz (24. bis 29. Januar 1921) fixierten Reparationsforderungen als „unerfüllbar" ablehnte. Die daraufhin von Reichsaußenminister Simons auf der Londoner Konferenz am 1. März unterbreiteten Gegenvorschläge wies der englische Premier Lloyd George zurück und forderte ultimativ die Anerkennung der Pariser Beschlüsse. stellt, „die Liquidierung des Kapp-Putsches [sei] ein für die Republik sehr wenig erfreuliches Thema" geblieben (Kritik an Jasper übt Morsey: Zentrumspartei, S. 401, Anm. 10). 10 Mit der Verkündung des Gesetzes trat am 4. August 1920 auch die Strafbefreiung in Kraft. Der Entwurf der DNVP für ein Amnestie-Gesetz war noch über die Koalitionsvorlage hinausgegangen und forderte, „unter Berufung auf die von der Regierungsseite bei der Beendung des Kapp-Lüttwitz-Putschs gegebene Zusage, eine auch die 'Urheber und Führer' einschließende Amnestie" (Huber: Verfassungsgeschichte, S. 162). Die Hauptverhandlung vor dem Leipziger Reichsgericht gegen drei am Putsch maßgeblich Beteiligte begann am 7. Dezember 1921: Jagow erhielt fünf Jahre Festungshaft wegen Hochverrats, wobei die Richter ihm „selbstlose Vaterlandsliebe" als mildernden Umstand anrechneten; im Dezember 1924 wurde er begnadigt (zum Prozeß vgl. Karl Brammer [Bearb.]: Verfassungsgrundlagen und Hochverrat. Beiträge zur Geschichte des neuen Deutschlands. Nach stenographischen Verhandlungsberichten und amtlichen Urkunden des Jagow-Prozesses. Berlin 1922). Wangenheim und Schiele wurden aufgrund des Amnestie-Gesetzes vom 4. August 1920 freigesprochen. Lüttwitz und Oberst Bauer hatten sich nach Ungarn abgesetzt, Kapp nach Schweden, und Oberst Pabst, dem der spätere Reichspräsident Hindenburg gestattete, seinen im Putsch erworbenen Dienstgrad eines Majors beizubehalten, befand sich in Österreich (vgl. Wette: Noske, S. 677). Den gegen Ehrhardt verhängten Haftbefehl erforderlichenfalls mit militärischer Gewalt zu vollstrecken, lehnte Seeckt ab. Wahrscheinlich begab Ehrhardt sich Anfang Mai 1920 mit Wissen militärischer Stellen nach Bayern und stand — trotz des Haftbefehls — im Herbst 1923 wieder auf der Soldliste der Reichswehr (vgl. Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 66f.). 1925 erließ Hindenburg eine „Generalamnestie", die „auch für Urheber und Anführer" des Putsches galt (Reichhardt: Kapp-Putsch, S. 27).

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

Als die Reichsregierung das Ultimatum verstreichen ließ, begannen alliierte Truppen am 8. März 1921 mit der Besetzung von Düsseldorf, Duisburg und Ruhrort; die deutsche Zollgrenze lag damit am Rhein11. „Erfüllung des Friedensvertrags von Versailles in den Grenzen des Möglichen — aber nicht mehr", sei die Devise der deutschen Politik, betonte Simons am 12. März 1921 in seinem Rechenschaftsbericht vor dem Reichstag, der mit einer Mehrheit von 267 gegen 49 Stimmen von USPD und KPD seiner Genugtuung darüber Ausdruck verlieh, daß die Regierung „die Ablehnung der Pariser Bedingungen der Unterwerfung unter die unerfüllbaren Forderungen vorgezogen" habe12. Um einen drohenden Einmarsch der Alliierten zu verhindern, wandte sich die Reichsregierung mit der Bitte um Vermittlung an die Regierung der Vereinigten Staaten, die jedoch am 3. Mai erklärte, die deutschen Vorschläge seien keine „für die alliierten Regierungen annehmbare Grundlage", um über die Höhe der Reparationen zu verhandeln. Damit war der von einer breiten Reichstagsmehrheit unterstützte Versuch gescheitert, die aus dem Versailler Vertrag abgeleiteten Forderungen auf ein „erfüllbares" Maß zu begrenzen. Am 4. Mai trat das Kabinett Fehrenbach zurück; einen Tag später forderte das auf sechs Tage befristete Londoner Ultimatum der Alliierten die „vorbehaltlose und bedingungslose Bereitschaft" Deutschlands zur Erfüllung der Pariser Beschlüsse und drohte die Besetzung des Ruhrgebiets an13. Einen Tag vor Ablauf des Ultimatums, am 10. Mai 1921, ernannte Ebert die unter dem 41jährigen Wirth gebildete Minderheitsregierung von Zentrum, DDP und SPD14, die unmittelbar nach Regierungsübernahme ihre Bereitschaft zur Annahme der Pariser Beschlüsse bekundete15: „Nach Wort-

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Vgl. Krüger: Versailles, S. 102ff. sowie Gerd Meyer: Die Reparationspolitik. Ihre außen- und innenpolitischen Rückwirkungen. In: Weimarer Republik 1918—1933, S. 327-342 (hier S. 332ff.). 12 Zitiert nach Huber: Verfassungsgeschichte, S. 174. 13 Vgl. ebd., S. 191. 14 Der Eintritt der SPD in die Regierung „konnte ihr kaum neue Sympathien einbringen, zumal die KPD aus propagandistischen Gründen der Außenpolitik ihre Zustimmung versagte. Somit war die Mehrheitssozialdemokratie wieder einmal nicht nur den Angriffen der Rechten, sondern auch der Linken ausgesetzt" (Kastning: Deutsche Sozialdemokratie, S. 67). 15 Die politische Situation wies zahlreiche Parallelen zum Juni 1919 auf, als die Nationalversammlung über die Annahme des Versailler Vertrags zu entscheiden hatte. Während die DDP 1919 aber aus der Regierung ausschied, „begnügte" sich die DDP-

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laut und Sinngehalt war diese Erklärung ein Akt bedingungsloser Unterwerfung"16. Mit der von den Alliierten geforderten Auflösung der Wehrverbände sowie mit dem Aufstandsversuch im mitteldeutschen Industrierevier mußte sich die Reichsregierung im Frühjahr 1921 nach rechts gegen die vor allem von der bayerischen Regierung unterstützten Einwohnerwehren behaupten, nach links gegen die „revolutionäre Offensive" der KPD17. Die im Zuge der „Märzaktion 1921" von der KPD organisierten Streiks und Aufstände in Hamburg und im Ruhrgebiet brachen zwar relativ schnell zusammen, aber im Mansfelder Gebiet um Halle gelang es Max Hoelz18, einen Aufstand zu entfachen19, der erst nach erbitterten Kämpfen niedergeschlagen wurde20. Als ausgesprochen vertrackt erwies

Reichstagsfraktion jetzt damit, die Bereitschaft der Regierung Wirth zur Annahme der Pariser Beschlüsse mehrheitlich zu mißbilligen. Der Reichstag stimmte mit 220 gegen 172 Stimmen (bei einer Enthaltung) für die Annahme des alliierten Ultimatums. 16 Huber: Verfassungsgeschichte, S. 197. Daß diesem „Kabinett der Unterwerfung" mit Gradnauer und Rathenau zwei Juden angehörten, fand seinen Niederschlag in der Polemik der Rechtspresse; daneben wurde vor allem Schiffer als getaufter Jude und „Erfüllungspolitiker" attackiert. 17 Nach Spaltung der 890.000 Mitglieder starken USPD auf dem Parteitag in Halle (Oktober 1920) hatten sich 300.000 USPD-Mitglieder der KPD angeschlossen, die erst dadurch eine Massenbasis bekam (zu den in der Literatur häufig unterschiedlichen Zahlenangaben vgl. Angress: Kampfzeit der KPD, S. 105f.). Die „kommunistische Offensivtheorie" und die „Märzaktion" von 1921 sind ausführlich dargestellt von Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde. Vgl. ergänzend Eisner: Das Verhältnis der KPD zu den Gewerkschaften S. 113ff., Angress: Kampfzeit der KPD, S. 140ff. sowie Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, S. 126ff. 18 Koch-Baumgarten: Aufstand der Avantgarde, S. 160 bezeichnet Hoelz als „Sozialrebellen", während Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, S. 120 ihn einen „proletarischen Freikorpsführer" nennt. Wolfgang Rüge: Deutschland von 1917 bis 1933. Berlin 1967, S. 174 meint, Hoelz hätte sich 1920 „noch nicht von anarchistischen Vorstellungen gelöst", und Manfred Gebhardt: Max Hoelz: Wege und Irrwege eines Revolutionärs. Berlin 1983, S. 13 mag „ihn nicht anders sehen" denn als seinen Genossen. " Bei den Landtagswahlen vom Februar 1921 hatte die KPD im Wahlbezirk Halle rund 197.000 Stimmen erhalten, die USPD war auf 75.000 Stimmen gekommen, die SPD hatte lediglich 70.000 Stimmen erhalten (vgl. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, S. 127). 20 In einem Manifest vom 22. März rief Hoelz die Arbeiterschaft zur „Entwaffnung der Bürgerwehr, der Polizei und der Reichswehr, zur Beschlagnahme aller erreichba-

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

sich die von den Alliierten geforderte Auflösung der Wehrverbände, denn bereits vor der für den 20. März anberaumten Volksabstimmung waren in Oberschlesien blutige Kämpfe zwischen polnischen Nationalisten und deutschen Einwohnerwehren entbrannt, die mit Duldung der Reichsregierung von Freikorps unterstützt wurden: Militärische Freiwilligen-Verbände wie das Freikorps Oberland und das Freikorps Roßbach waren am 21. Mai 1921 an der Erstürmung des Annabergs in Schlesien maßgeblich beteiligt21. Unbeschadet der Zusammenarbeit zwischen Reichswehrstellen und den militärischen Freiwilligen-Verbänden erließ Ebert am 24. Mai eine Notverordnung, nach der es verboten war, sich „ohne Genehmigung der zuständigen Dienststellen [...] zu Verbänden militärischer Art zusammenzuschließen"22. Nahezu zeitgleich gab Kahr englischem und französischem Druck nach und erklärte sich mit der Entwaffnung der bayerischen „Selbstschutzverbände" einverstanden, überließ deren Durchführung jedoch der Reichsregierung: Zahlreiche Wehrverbände und „Geheimorganisationen", vor allem die seit Mai 1920 reichsweit operierende „Organisation Escherich" („Orgesch"), unterliefen, toleriert von der bayerischen Regierung, das Verbot bewaffneter „SelbstschutzVerbände". Neben der mitgliederstarken Organisation des Forstrats Escherich bekam die deutsche Öffentlichkeit im Sommer 1921 konkre-

ren Gelder, zur Sprengung der Eisenbahnlinien, der Gerichtsgebäude und der Gefängnisse [sowie] zur Befreiung der Gefangenen auf" (zitiert nach Huber: Verfassungsgeschichte, S. 180). Zur Radikalität des Kampfes vgl. auch Schulze: Freikorps, S. 77, Anm. 27: Ein „kommunistisches Plakat" verkündete „in Halle ganz lakonisch, wenn die Reichswehr im Anmarsch sei, 'werden wir sofort die ganze Stadt anzünden und die Bourgeoisie abschlachten'". 21 Der Kampf um den Annaberg gab auch „der Brigade Ehrhardt Gelegenheit, sich wiederum als Kampftruppe zu sammeln. [...] Mit heimlicher Unterstützung offizieller Stellen" betrieb Kapitänleutnant von Killinger die Reorganisation der Brigade, die — mit 300.000 Mark aus Mitteln des Auswärtigen Amts — als „Regiment Süd" in einer Stärke von 1.000 Mann aufgestellt wurde. Nach dem Einsatz in Oberschlesien wurde der Ausbau einer eher im Untergrund arbeitenden Organisation, die sich nach dem Decknamen Ehrhardts „Organisation Consul" nannte, energisch vorangetrieben, jedoch „nicht nur, um eine neue 'Brigade Ehrhardt' für den Grenzschutz aufzustellen, sondern auch, um einen geheimen nationalistischen Wehrverband zu schaffen, der den [...] Kampf 'gegen das Produkt der November-Revolution, gegen die Verfassung von Weimar' wirksam aufnehmen konnte" (Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 76ff.). 11 Zitiert nach Huber: Verfassungsgeschichte, S. 205.

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tere Hinweise auf die Tätigkeit der „Organisation Consul" (OC): Erstes Opfer der „Organisation Consul" wurde der am 9. Juni 1921 in München ermordete USPD-Führer Karl Gareis. Nachdem Erzberger am 29. Juni 1921 bekundet hatte, er wolle sich wieder aktiv in die Politik einschalten, übergab Manfred von Killinger Anfang August zwei Mitgliedern seines „Ordens", Heinrich Schulz und Heinrich Tillessen, einen nicht unterschriebenen Zettel mit dem Befehl, „den Reichsfinanzminister a.D. Erzberger zu beseitigen"23. Nicht die bei „Befehlsverweigerung" und Verrat drohende Feme veranlaßte die beiden, die als Mitglieder der Marinebrigade Ehrhardt auch am Putsch vom März 1920 beteiligt waren, den Mordauftrag auszuführen, sondern ihr „Haß gegen Erzberger und die angeblich von Juden, Freimaurern und Jesuiten dominierte Weimarer Republik"24. Der am 26. August 1921 im Schwarzwald verübte Mord fand in weiten Teilen der deutschen Rechtspresse ein positives Echo.

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So die 1950 protokollierte Erinnerung von Heinrich Schulz (vgl. Epstein: Erzberger, S. 435). Killinger teilte den beiden Attentätern mit, der (geheime) „Germanenorden", dem sie kurz zuvor beigetreten waren und der in dem kaum entwirrbaren Beziehungsgeflecht zwischen der „Organisation Consul" und dem deutschvölkischen Schutz- und Trutzbund angesiedelt war, habe sie für diese Aktion ausgelost (Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 89). 24 Epstein: Erzberger, S. 434. Charakteristisch für Killinger und seine Mitstreiter war eine radikal antibürgerliche Haltung mit latenten Sympathien für den „Bolschewismus": Als die Marinebrigade Ehrhardt 1920 vor ihrer Auflösung stand, war man „in der Sturmkompagnie des Kapitänleutnants von Killinger [...] eisern entschlossen, überraschend aufzubrechen und Seite an Seite mit den Russen die polnische Armee in Stücke zu hauen", wie ein Offizier der Brigade erklärte (zitiert nach Schulze: Freikorps, S. 64).

Der Völkische Beobachter Das jetzt als „Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands" erscheinende NS-Organ25 grenzte sich im Sommer 1921 strikt von allen völkischen Mitstreitern ab und nutzte jede Möglichkeit zur Polemik gegen andere Parteien und deren Mitglieder, wobei ein auffallender Unterschied zwischen der „jüdisch-bolschewistischen Führungsclique" der KPD und deren „idealistischen, kampfentschlossenen" Anhängern sowie zwischen den Führern der DNVP und deren Mitgliedern gemacht wurde26. Im Zentrum der Hetze stand Matthias Erzberger.

l Die „Lösung der Judenfrage" Wann immer möglich, wies das „Kampfblatt" der NSDAP auf die „jüdische Gefahr", den „Ansturm des jüdischen Heuschreckenzuges"

25

So die Unterzeile im Kopf des Blattes, das seit Dezember 1920 im Besitz der NSDAP war. Nachdem es innerhalb der Führung der NSDAP zu heftigen Kontroversen über die von Hitler abgelehnte Vereinigung der NSDAP mit anderen „nationalen und sozialistischen" Parteien gekommen war, trat Hitler am 11. Juli 1921 aus der Partei aus. Grundlage für seinen Wiedereintritt am 29. Juli war der Rücktritt des Parteiausschusses, dessen Neuwahl sowie die Wahl Hitlers zum 1. Vorsitzenden mit „diktatorischer Machtbefugnis zu sofortiger Zusammenstellung eines Aktionsausschusses, der die rücksichtslose Reinigung der Partei von den in sie [...] eingedrungenen fremden Elementen durchzuführen hat" (so Hitlers Forderung, hier zitiert nach Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. 126). 26 Vgl. z.B. den Artikel von Alfred Rosenberg „Was wir wollen, wen wir wollen" in der Ausgabe von 25. August 1921. Die Haltung der NSDAP zur DNVP hatte Rosenberg in seinem Beitrag „Zum deutschnationalen Parteitag in München" (Ausgabe vom 1. September 1921) dargelegt: „Die Millionen Stimmen mögen bei den 'Deutschnationalen' bleiben, Hunderttausend Männer aber mögen zu uns kommen".

Der Völkische Beobachter

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hin, und empfahl — mit Paul de Lagarde —, „auch wenn einige zart besaitete" Leser erschrecken sollten, eine einfache Rezeptur: „Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht 'erzogen', sie werden so rasch wie möglich unschädlich gemacht"27. Auf die Frage, „wie denn die Nationalsozialisten sich eigentlich die Lösung der Judenfrage vorstellen", meinte Hermann Esser, der zu dieser Zeit neben Hitler aktivste Parteiredner, „daß die erste Etappe des zu erreichenden Zieles die Schaffung eines Fremdengesetzes sein müsse, durch das die Juden selbstverständlich des Rechtes verlustig gehen würden, sich in öffentlichen Ämtern zu betätigen. Sodann", fuhr Esser fort und umriß die nächste Etappe, „müsse man die rücksichtslose Anwendung eines dem deutschen Volksempfinden entsprechenden Strafgesetzes durchsetzen, um alle Äußerungen jüdischen Geistes bei den zahlreich vom Judentum in die Welt gesetzten Bastarden zu verhindern und außerdem den in viele deutsche Volksgenossen dank der jahrzehntelangen jüdischen Verseuchung eingefressenen, elenden Wucher- und Händlergeist auszutreiben"28. Selbst wenn Essers Ausführungen über die „zweite Etappe" noch verschwommen waren, die „rücksichtslose Anwendung eines dem deutschen Volksempfinden entsprechenden Strafgesetzes" ließ prinzipiell jede Möglichkeit offen29.

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Völkischer Beobachter vom 11. August 1921. Zum Bild von Juden als Krankheitserregern vgl. Alexander Bein: Der moderne Antisemitismus und seine Bedeutung für die Judenfrage. In: VfZ 6 (1958), S. 340—360, besonders S. 358ff. sowie ders.: „Der jüdische Parasit". Bemerkungen zur Semantik der Judenfrage. In: VfZ 13 (1965), S. 121-149. n Vgl. die Rubrik „Aus der Bewegung" vom 25. August 1921. Auch Rosenberg forderte im letzten Beitrag seiner Reihe „Antisemitismus. Eine wirtschaftliche, politische, nationale, religiöse und sittliche Notwendigkeit" vergleichbare Konsequenzen: „Durchs ganze Land muß die eine Forderung gehen: Hinaus mit den Juden aus allen Parteien, Nichtigerklärung sämtlicher Staatsbürgerrechte aller Juden und Halb Juden, Ausweisung sämtlicher Ostjuden, strengste Beaufsichtigung der einheimischen [...] Mit festem Willen ist dies möglich. [...] Geschieht es nicht, so hat keine der heute noch lebenden Generationen mehr die Aussicht, einmal wieder im deutschen Vaterland zu leben" (Ausgabe vom 21. August 1921). " Bereits am 16. September 1919 hatte sich Hitler in einem Brief, den er im Auftrag des Hauptmanns Karl Mayr, des Leiters der Abteilung Ib/P („Nachrichtenabteilung" und „Presse- und Propagandaabteilung") beim Reichswehrgruppenkommando 4, geschrieben hatte, ähnlich ausgedrückt (vgl. Ernst Deuerlein: Hitlers Eintritt in die Politik und die Reichswehr. In: VfZ 7 [1959], S. 177—227 [hier S. 203f.J.

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

Mit wessen Hilfe die Nationalsozialisten „alle Äußerungen jüdischen Geistes" austreiben wollten, erläuterte Alfred Rosenberg wenig später30: Zwar habe „der unselige 9. November 1918" einem großen Teil des „betrogenen Volkes plötzlich die Binde von den Augen" gerissen, und vielerorts seien antijüdische Vereinigungen entstanden, „die nach und nach im deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund" aufgegangen seien, aber dieser Bund habe den Fehler gemacht, „über allen Parteien schweben" zu wollen; deshalb habe er „keine scharf umrissenen eindeutigen Forderungen" erheben können, und auch heute noch lasse er eine klare politische Zielsetzung vermissen. Demgegenüber habe die NSDAP „einen anderen Weg" eingeschlagen. Ihr „klares Programm [...], das in seinen Zielen jeder ehrliche Deutsche unterschreiben" könne, habe die NSDAP zur „Kampfpartei" gemacht, die keinesfalls davor zurückschrecke, „nach Erschöpfung 'gesetzlicher Mittel' auch rücksichtslosen Eingriff in das unser Volk zerstörende Treiben zu fordern". Selbstsicher schrieb Rosenberg: „Die Entwicklung hat der Arbeiterpartei recht gegeben. Über den Schutz- und Trutzbund regt sich die Judenschaft ernstlich nicht mehr auf, die Nationalsozialisten aber, die man nicht mehr totschweigen kann, sind jetzt die bestgehaßte und die volkstümlichste Partei Münchens und Bayerns. Sie werden es auch bald im Norden sein". Bei diesem Erfolg stoße die Überlegung, erneut „überparteiliche Verbände zu gründen", bei den Nationalsozialisten auf Ablehnung, denn die bisherige Entwicklung habe den Weg der NSDAP bestätigt, wie auch der Zulauf neuer Mitglieder zeige: „Die Kommunisten haben sich beklagt, die Nationalsozialisten nähmen ihnen ihre Mitglieder ab31; in der Deutschnationalen Volkspartei wiederum trauerte ein Referent [...] darüber, dieselben Nationalsozialisten machten ihr durch ihre scharfe völkische Propaganda die Jugend abspenstig; namentlich nehme 30

Völkischer Beobachter vom 25. August 1921. Vom Umfang seiner Beiträge stand Rosenberg dem „Hauptschriftleiter" Dietrich Eckart kaum nach; stilistisch fiel er jedoch weit hinter den wortgewaltigen, eindringlich formulierenden und geschickt argumentierenden Eckart zurück. 31 Ebd. Besonders zahlreich dürften Übertritte von der KPD zur NSDAP zu dieser Zeit nicht gewesen sein, denn der Völkische Beobachter vermerkte mit Genugtuung, wenn einzelne Kommunisten der NSDAP beitraten (vgl. z.B. den Bericht über eine öffentliche Versammlung der Ortsgruppe Stuttgart in der Ausgabe vom 11. August 1921). Gordon: Hitlerputsch, S. 24, Anm. 8 betont, daß zahlreiche „Führer der völkischen Bewegung der frühen Periode" von linken Parteien zur NSDAP gestoßen seien; auch Hermann Esser kam von der SPD.

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der klare Antisemitismus den Deutschnationalen den Wind aus den Segeln"32. Zielstrebig machte sich die NSDAP daran, aus den Reihen von DNVP und KPD neue Mitglieder zu rekrutieren, denn selbst wenn „die Kommunistenführer Lumpen und Juden" seien, so müsse man die Parteimitglieder doch zu den „aktivsten und hingebungsvollsten Teilen" des deutschen Volkes rechnen: „Dies sind Leute aus dem Holze der Männer von der Somme und den Masurensümpfen"33. Diese „Kämpfer" sollten in der NSDAP ebenso ihren Platz finden wie „die Studenten und Offiziere, die Ingenieure und Doktore[n ...], die sich darüber klar geworden sind, daß mit ausgedienten Exzellenzen wie Hergt, mit parlamentarischen Jongleuren wie Stresemann, und mit blutlosen Rechenmaschinen wie Helfferich Deutschland nie und nimmer aus dem Sumpf gezogen werden kann". Die Partei wolle „alles, was Saft und Kraft im deutschen Volke" habe, „sammeln und organisieren". Aber auf „die Millionen Mitläufer, am allermeisten [...] auf die satten Demokraten" verzichte die NSDAP gleichermaßen wie auf die „MSP, die längst zum Teufel gejagt worden wäre, wenn die 'Alldeutschen' nicht gestört hätten"34.

32

Die DNVP und die ihr angegliederte Bayerische Mittelpartei reagierten auf die Abwanderung zahlreicher Anhänger zur NSDAP mit einer stärkeren Akzentuierung ihrer antisemitischen Programmatik (vgl. Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 294 und 300ff.). Der NSDAP war außerordentlich am Zustrom jüngerer Mitglieder gelegen (vgl. etwa den vom Vorsitzenden des „Turnund Sportausschusses" unterzeichneten Aufruf „An unsere deutsche Jugend" im Völkischen Beobachter vom 14. August 1921). Zur Rolle, die das Protestpotential dieser Generation für den Aufstieg der NSDAP spielte, vgl. Michael H. Kater: Generationskonflikt als Entwicklungsfaktor in der NS-Bewegung vor 1933. In: GG 11 (1985), S. 217—243 sowie Peukert: Weimarer Republik, S. 9Iff. 53 Ausgabe vom 21. August 1921. Zur Polemik gegen die DNVP und deren Führer vgl. auch den von Dietrich Eckart verfaßten Artikel „Gebt uns den Barabas!" in der Ausgabe vom 14. September 1922. M Ausgabe vom 25. August 1921. Vermutlich bezieht sich dieser Hinweis auf die „Alldeutschen" auf den März 1920, als die DNVP Kapp nicht in dem Maße unterstützte, wie die Putschisten es gehofft hatten. Die Sozialdemokraten kamen im Vergleich zu den Mitgliedern der DDP im Völkischen Beobachter noch einigermaßen gut davon, denn, so hieß es an anderer Stelle, „in den sozialdemokratischen Parteien sind durchschnittlich bloß die Führer verlogen, in der demokratischen Partei durchschnittlich auch die Mitglieder" (Ausgabe vom 28. August 1921).

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

2. Der „ Zentrumsjude " Erzberger

Im Sommer 1921 stand das Zentrum in der Hauptschußlinie des Völkischen Beobachters: Wirth und Erzberger als Exponenten des linken Parteiflügels wurden auf nahezu jeder Seite angegriffen; vor allem Erzberger sah sich persönlichen Verleumdungen ausgesetzt. Seine seit dem Frühjahr 1921 diskutierten gesellschaftspolitischen Vorstellungen einer „christlichen Solidarität"35 stempelte der Völkische Beobachter zu einem „Bündnis mit dem Judentum auf Kosten des deutschen Volkes"36. Daß Erzberger seine Rückkehr in die aktive Politik angekündigt hatte, obwohl die laufenden Ermittlungen wegen Steuerhinterziehung noch nicht abgeschlossen waren37, schlachtete das Blatt weidlich aus: Man scheine „beinahe erpicht darauf zu sein, die schäbigsten Charaktere im Reich in die Regierung hineinzubringen"38. Eine Bestätigung dafür sah das NS-Organ in der Ernennung des „ehemaligen Oberlehrers Dr. Hemmer", des „Privatsekretärs Erzbergers und Bearbeiters von dessen Prozeßangelegenheiten im Spezialbureau des Buttenhäusers", zum Chef der Reichskanzlei39. Hemmer als Chef der Reichskanzlei und „Dr. Wirth, der gelehrige Schüler" Erzbergers, „jenes qualifizierten Prinzips des Bösen", sollten nach Überzeugung des Völkischen Beobachters die Rückkehr „des moralisch Gerichteten" in die Reichsregierung vorbereiten. „Damit hätte die das Geschenk von Deutschland bekommen, was ihr am liebsten wäre: den alles bewilligenden Erzberger". Es werde „nicht

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Vgl. zu diesem Konzept Epstein: Erzberger, S. 417ff. So in der Ausgabe vom 11. August 1921. 37 Erzberger hatte diesen Prozeß in Form eines Dienstaufsichtsverfahrens selbst angestrengt. 38 Ausgabe vom 11. August 1921. Dieser mit „Hsj" gezeichnete Beitrag stammte von Hannsjörg Maurer, der zu den „führenden Propagandisten und Organisatoren" des deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbundes in Niederbayern zählte und Hauptschriftleiter war, als die NSDAP den Völkischen Beobachter im Dezember 1920 übernahm (Lohalm: Völkischer Radikalismus, S. 306). 39 Den von Erzbergers Geburtsort Buttenhausen abgeleiteten Begriff „Buttenhäuser" benutzte das Blatt ausgesprochen gern. Von der Arbeit an der Finanzreform beansprucht, hatte Erzberger während seines Prozesses gegen Helfferich im Frühjahr 1920 zwei jüngere Mitarbeiter, Hemmer und Driesen, beauftragt, Material für einen journalistischen Gegenangriff auf Helfferich zusammenzutragen. „Die Nachlässigkeit und Ungenauigkeit" dieses Materials wurde vor Gericht ausgiebig erörtert (Epstein: Erzberger, S. 396). 36

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mehr lange dauern", so das Blatt, dann läge die Führung des Reiches nur noch beim Zentrum und bei Juden, dann säßen „in der Regierung des Deutschen Reiches [...] dessen schlimmste Feinde und Verräter, die Deutschland um einen Pfifferling an jeden verkaufen, der es haben will. Soweit muß es anscheinend kommen, ehe der deutsche Michel die Schlafmütze mit dem Richterbarett vertauscht und seine lange Pfeife mit dem Fallbeil für die Brut"40. Aber auch wenn das Blatt sich gelegentlich weniger blutrünstig gab, so ist es doch reinster Euphemismus, seine vulgär-drastische Ausdrucksweise als „volkstümlich" zu bezeichnen41. Unter der Überschrift „Juda und das Zentrum" berichtete das NS-Organ z.B., warum eine kürzlich gehaltene „Rede des Herrn Oberlehrers Dr. Wirth, Freiheitskanzler Deutschlands", im Berliner Tageblatt positiv besprochen worden sei: „Weil der Zentrumsmann Wirth die Betölpelungsphraseologie des jüdischen Handbuchs für deutsche Politik bereits in unübertrefflicher Weise beherrscht, darum streut ihm das Judenblatt seinen Weihrauch". Dieser Weihrauch allerdings stinke, denn er stamme „vom Mist jüdischer Wüstenkamele"42. Gewissermaßen als Legitimation seiner derben Ausdrucksweise brachte der Völkische Beobachter auf derselben Seite zwei in Kasten gesetzte und mit Vignetten verzierte Zitate von Martin Luther und Thomas von Aquin, auf die sich das Blatt mehrfach berief43. 40

Vgl. den Artikel „Ein neuer Pionier Erzbergers oder die Juden- und die Lehrerschaft in Berlin" (Ausgabe vom 11. August 1921). 41 Gerhard Schulz etwa nennt Dietrich Eckart, den zu dieser Zeit führenden Kopf des Völkischen Beobachters, einen „volkstümlichen nationalistischen bayerischen Poeten" (vgl. ders.: Revolutionen und Friedensschlüsse 1917—1920. München 1967, S. 193). Dieser „volkstümliche Poet" befaßte sich unter der Überschrift „Allerhand Achtung" mit drei Fotos aus dem Illustrierten Blatt, „von denen jedes dieselbe fette, sich grausam abmühende Jüdin im Hürdensprung auf einem edlen Renner zeigt. Daneben steht: 'Frau E. Oppenheimer [...] auf ihren Springpferden1. Ein Jude gleichen Namens und ebenfalls aus Frankfurt hat uns als 'Engländer' während des Weltkrieges nach allen Regeln der Bosheit geschädigt [...] Ob jene herrliche Reiterin verwandt mit ihm ist, möge dahingestellt bleiben; uns fesselt heute nur der Name eines ihrer Pferde, ein Name, wie er ähnlich noch nie für Sportzwecke gebraucht wurde. 'Deutsche Ehre' heißt er. Entschuldigt, wenn ich etwas barsch / Euch über diesen Fall belehre: / Ein dicker jüd'scher Weiberarsch / hat unter sich die deutsche Ehre!" (Ausgabe vom 28. August 1921). 42 Völkischer Beobachter vom. 11. August 1921. 43 Ebd. Das Luther-Zitat lautete: „Sollen wir der Juden Lästerung nicht teilhaftig werden, so müssen wir geschieden sein und sie aus unserem Lande vertrieben werden.

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

Für den Völkischen Beobachter bildeten Zentrum und Juden eine solche Einheit, daß er die beiden Begriffe gelegentlich synonym benutzte, sie miteinander verschmolz und von „Zentrumsjuden"44 und „Zentrumshebräern"45 sprach. Mochten die Nationalsozialisten Zentrum und Judentum auch noch so häufig gleichsetzen, um die „jüdische" Qualität des Zentrums zu betonen, ihr Antisemitismus fand trotzdem keinesfalls überall Zustimmung: In Stuttgart sprach der Ortsgruppenvorsitzende Ulshöfer in einer öffentlichen Versammlung zum Thema „Der Frieden von Versailles, die Ursache unseres Unglücks". Bei seinen „oft von stürmischem Beifall unterbrochenen Ausführungen" kam Erzberger „besonders schlecht" weg und wurde „einer vernichtenden Kritik unterzogen". Irritiert vermerkte der Völkische Beobachter, daß dem Redner, „solange er die undeutsche, unsoziale Haltung der Regierung und deren Trabanten einer scharfen Kritik unterzog, [...] auch die anwesenden international denkenden Arbeiter zustimmten], als Pg. Ulshöfer aber in logischer Weiterentwicklung seiner Ideen auf die Judenfrage zu sprechen kam, herrschte eine kleine Unruhe"46. Offensichtlich akzep-

Das ist der nächste und beste Rat, der beide Parteien [...] sichert". Das Zitat Thomas von Aquins fügte sich ebenfalls nahtlos in die inhaltliche Aussage des Blattes ein: „Auf dem Fahrzeuge, auf dem sie sich mit den Christen eingeschifft haben, spielen die Juden eine eigentümliche Rolle. Während die Christen das Schiff zu bedienen beschäftigt sind, berauben die Juden die Vorratskammern und bohren das Schiff an. [...] Zwingt die Juden, die Reisenden und die Matrosen zu entschädigen, deren Güter sie gestohlen haben, und kettet sie dann an die Ruder". 44 Am 18. August in dem Artikel „Wer wird Zentrumsvorsitzender?". 45 So am 21. August („Der Bastard von Weimar ..."). Der Völkische Beobachter sprach auch von „Kitzinger Weinjuden" und von „Wein-Hebräern", die angeblich „durch einen bezahlten armen Teufel eine Schlägerei provozieren" ließen, um zu verhindern, daß Hermann Esser in Kitzingen über „Die Teuerungsproteste, ein Judenschwinäel" reden konnte (Ausgabe vom 1. September 1921). 46 Ausgabe vom 11. August 1921. Ulshöfer selbst war Arbeiter und zählte zu der kleinen Delegation der Stuttgarter Ortsgruppe des Schutz- und Trutzbundes, die sich im April 1920 nach München aufmachte, um über die NSDAP die Arbeiterschaft für den Schutz- und Trutzbund zu mobilisieren: Schon am 7. Mai 1920 hielt Hitler seine erste Rede in Stuttgart. Am nächsten Tag wurde eine Ortsgruppe der NSDAP gegründet, der alle führenden Persönlichkeiten des Schutz- und Trutzbundes in Stuttgart beitraten (Lohalm: Völkischer Radikalismus, S. 312). Zu den 1918/19 entstandenen völkisch-antisemitischen Zirkeln, die — wie hier in Stuttgart — häufig in der NSDAP aufgingen, vgl. Broszat: Der Nationalsozialismus, S. 16; zur ersten Rede Hitlers in Stuttgart vgl. ebd., S. 18.

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tierten nicht alle Zuhörer den hier dargelegten Zusammenhang zwischen dem Versailler Vertrag und der „Judenfrage"47.

3. Die Ermordung Erzbergers Über die Ermordung Erzbergers berichtete das völkische Blatt erstmals am 1. September. Unter der ganzseitigen Überschrift „Das Nahen des Würgers. — Erzberger + + + " sprang dem Leser aber zunächst eine mit dicken Balken umrandete Ankündigung einer „Riesenprotest-Kundgebung'' ins Auge, auf der Adolf Hitler im Zirkus Krone über „Judenherrschaft und Volksbetrug" sprechen wollte. Vergleichsweise unscheinbar nahm sich daneben der von Dietrich Eckart verfaßte Kommentar „Erzberger" aus. Einleitend wurde Dr. Heim zitiert, der „heimliche König Bayerns" und Vorsitzende der BVP48, der einmal bemerkt haben sollte — „leider nur in seinen vier Wänden" —, daß die Revolution „das Werk der Juden und Schulmeister" gewesen sei und daß „an ihre Spitze die Eitelsten der Eitlen" geschwemmt worden seien. Im Sinne eines naturwüchsigen, gerechten Geschichtsverlaufes, so Eckart zur Ermordung Erzbergers, habe nun „blitzschnell das rächende Schicksal die Schulmeisterseele Matthias Erzberger zurück in die Tiefe" gewirbelt: „An seiner skrupellosen Eitelkeit ging er zugrunde, an nichts ande-

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Es gibt aber auch zahlreiche Hinweise, daß auf NSDAP-Veranstaltungen fest mit antisemitischer Agitation gerechnet wurde: Am 24. Februar 1920 sprach z.B. Dr. Dingfelder vor etwa 2.000 Personen im Münchener Hofbräuhaus auf einer Parteiversammlung (der noch DAP), ohne „das Wort Jude [...] in den Mund zu nehmen", wie ein Bericht des Münchener Polizei-Nachrichtendienstes vermerkte. Sprach Dingfelder von „Kapitalisten", dann tönte es ihm — vielleicht von Parteiclaqueuren — aus der Versammlung entgegen: „Juden". Als danach Hitler sprach und das antisemitische „Programm der deutschen Arbeiterpartei" verlas, kam es zwar zu Tumulten, aber bei der Abstimmung einer Entschließung, „in der gegen die Zuweisung von 40.000 Ztr. Weizenmehl an die israelitische Kultusgemeinde auf das Schärfste protestiert" wurde, hätte „es niemand wagen dürfen, dagegen zu stimmen" (zitiert nach Phelps: Hitler als Parteiredner, S. 292). 48 Georg Heim „wirkte ebenso echt als volkstümlicher, wesensverbundener Redner im Dunstkreise einer altbayerischen Bauernversammlung, wie er auch als charmanter und geistvoller Plauderer im Diplomatensalon seine Zuhörer bestechen konnte. Seine Herbheit ging bis ins Grobschlächtige, das brutale Formen annehmen konnte" (Schwend: Bayern zwischen Monarchie und Diktatur, S. 62).

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

rem [...] Er war ein Lump"49. Damit war die Ermordung Erzbergers für den Völkischen Beobachter zunächst abgehakt. Der Kommentar hatte für den Völkischen Beobachter jedoch ein Nachspiel: Aufgrund der unmittelbar nach dem Tode Erzbergers verfügten „Verordnung des Reichspräsidenten zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung"50 verbot das Reichsministerium des Innern am 30. August den Völkischen Beobachter51, vermochte zunächst aber nicht, dieses Verbot in Bayern durchzusetzen52. In der ersten Ausgabe nach dem schließlich doch durchgesetzten Verbot hob die Schriftleitung hervor, man habe das Blatt nur aus Rücksicht auf den Drucker, „der ebenfalls unter Strafe genommen worden wäre, [...] zurückgehalten"53. Da die Rechtsgrundlage für die Zeitungsverbote in der Öffentlichkeit umstritten war54, bot sich dem „Kampfblatt" der Nationalsozialisten ein günstiger Resonanzboden, um auf die „jüdischen Urheber" dieser „Unterdrückungsmaßnahme" hinzuweisen: „Inzwischen", so polemisierte das Blatt, „mußte der Reichsminister des Innern, Dr. Gradnauer, selbst zugeben, daß das Verbot ein ungesetzliches war. Die

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Ausgabe vom 1. September 1921. Vgl. RGBL 1921. Teil I, S. 1239. Nach Jasper: Der Schutz der Republik, S. 37 löste weniger der Mord als solcher die Verordnung aus, sondern „vielmehr die befürchtete Reaktion der Arbeiterschaft". 51 Auch die Blätter des deutschnationalen Abgeordneten Wulle sowie der Miesbacher Anzeiger waren von den ersten Zeitungsverboten betroffen; wenig später wurde auch der Berliner Lokal-Anzeiger verboten. 52 Die Meldung, der Völkische Beobachter erscheine trotz des Verbots, fand in der deutschen Presse starken Widerhall: Die demokratischen Blätter empfanden es als Provokation, daß die bayerischen Behörden das Verbot des Miesbacher Anzeigers und des Völkischen Beobachters „nicht zur Ausführung" brachten. Der Völkische Beobachter selbst höhnte, „ein telegrafisches Verbot" könne schließlich jeder absenden, er beabsichtige jedenfalls nicht, sein Erscheinen einzustellen (vgl. hierzu das Abendblatt der Frankfurter Zeitung vom 2. September, die Abendausgabe der Germania vom 1. September sowie die Abendausgaben des Vorwärts vom 1. und 2. September 1921). 53 Ausgabe vom 14. September 1921. 54 Die formale Rechtsgültigkeit der Verbote wurde zwar allgemein anerkannt, aber von den hier untersuchten Zeitungen bezweifelten vor allem die Münchner Neuesten Nachrichten und der Berliner Lokal-Anzeiger die Verträglichkeit dieser Verordnung mit demokratischen Rechtsgrundsätzen, da die strafrechtliche Anwendung eines erst nach der Tat kodifizierten Straftatbestands gegen den Rechtsgrundsatz „nulla poena sine lege" verstoße. 50

Der Völkische Beobachter

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Depesche des Herrn Levi-Lewald55 enthielt sogar eine glatte Verdrehung. In der offiziellen Verordnung hieß es nämlich: 'Wer zu Gewalttaten auffordert oder anreizt usw.'; flugs hatte Herr Levi ein 'Wer zu Gewalttaten aufgefordert usw. hat' daraus gemacht. Judenpraktiken"56. Auch das vierzehntägige Verbot des Völkischen Beobachters hatte keine nachhaltige Wirkung, denn bereits die Titelseite der ersten Ausgabe nach dem Verbot gab Anlaß zu einem neuen, weniger umstrittenen Verbot57: Dietrich Eckart hatte die aus Protest gegen die Ermordung Erzbergers im Berliner Lustgarten abgehaltene Demonstration kommentiert und sich dabei über die Rede des Reichskanzlers empört: „Nichts ist für den seelischen Urgrund Dr. Wirths bezeichnender als sein Wort: 'Wenn es jetzt zu einer Auseinandersetzung zwischen Bürgertum und Proletariat kommen sollte, so werde ich auf Seiten des Proletariats stehen'58. Ein innerlich freier Mensch, d.h. einer, der den Schein dieser Welt [...] viel zu sehr durchschaut, als daß er sich nach ihm zu verzehren vermöchte, ein solcher [Mensch] kann wohl auf seiten einzelner 'Proletarier' stehen und wird es auch, wenn er dort seinesgleichen wittert", meinte Eckart, „nie und nimmermehr aber auf Seiten des Gestfraiproletariats, der urteilslosen Masse. Wer dies tut, ja sogar wie Dr. Wirth sich offen dazu bekennt, der hat sein Schwergewicht da, wo

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Die Depesche, in der dem Völkischen Beobachter sein Erscheinungsverbot übermittelt wurde, war mit „Lewald" gezeichnet. Das Blatt fügte dem Namen „Lewald" sofort den jüdisch klingenden Appendix „Levi" hinzu. Lewald hatte am 15. März 1920 von der „Regierung Kapp" ein Telegramm erhalten, nach dem „alle Dienstgebäude sofort zu flaggen hätten und zwar 'schwarz-weiß-rot oder Kriegsflagge'. Das Telegramm erhielt von der Hand des Unterstaatssekretärs Lewald den Vermerk: 'Dieser Anordnung ist nicht Folge zu leisten'" (Brammen Fünf Tage Militärdiktatur, S. 55). Wegen seines entschlossenen Auftretens während des Putsches — am 16. März forderte Lewald z.B. General Lüttwitz auf, seinen Posten aufzugeben und seine Truppen aus Berlin abzuziehen — sandten Ebert und Reichskanzler Bauer dem Unterstaatssekretär ein Dankestelegramm (vgl. ebd., S. 63f.). 56 Für die Frage, ob die Nationalsozialisten mit dieser Art von Polemik und Agitation Erfolg hatten, dürfte es kaum eine Rolle spielen, ob die zitierte Depesche im Völkischen Beobachter (Ausgabe vom 14. September 1921) korrekt wiedergegeben war. 57 Dieses Verbot wurde vom Bayerischen Ministerium des Innern ausgesprochen (vgl. die Ausgabe des Völkischen Beobachters vom 1. Oktober 1921). 58 Auch von zahlreichen Anhängern des Zentrums wurde dem Reichskanzler diese Aussage verübelt (vgl. Morsey: Zentrumspartei, S. 405 sowie Jasper: Der Schutz der Republik, S. 38).

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

es auch die Herde hat, im Nichtigen, im Gemeinen, kurz gesagt im Jüdischen"59. Noch verärgerter war Eckart über eine Rede des Reichskanzlers auf der Tagung der Groß-Berliner Zentrumsorganisation. Dort sollte Wirth „unter stürmischem Beifall dem Hebräer Rathenau" nachgesagt haben, er hätte „dem deutschen Vaterlande und dem deutschen Volke bisher schon mehr genützt als die ganze Stadiongesellschaft zusammen60. 'Jawohl!1 rief er [Reichskanzler Wirth] aus, 'Rathenau ist ein Jude. Er ist seinem Glauben und seinem Gott treu geblieben, und wir als Katholiken müssen vor einem solchen Manne erst recht den Hut ziehen'". Dieses Plädoyer für Rathenau nutzte Eckart zum Frontalangriff gegen den Reichskanzler: „Oberflächlicher", so der „völkische Poet", könne man „nicht urteilen. Die alte Geschichte: Kein Streber gelangt über den Schein der Dinge hinab zur Tiefe; nichts wie Geschäftigkeit, der Drang vorwärts zu kommen, und daher nur Naschen an allem, ein hilfloses Durcheinander flüchtiger Eindrücke. Leere Vielwisserei, Schulmeistere!, Erzbergerei". Anschließend berief Eckart sich auf seinen katholischen Glauben als Kronzeugen gegen den Reichskanzler: „Ich bin Katholik, Herr Dr. Wirth, und gerade deshalb verbitte ich es mir auf das entschiedenste, daß Sie in Ihrer unkatholischen Seichtigkeit den katholischen Namen mißbrauchen, um damit Ihre Abhängigkeit von der jüdischen Macht vor sich und der Welt zu bemänteln". Auf das häufiger abgedruckte Zitat Thomas von Aquins anspielend, meinte Eckart: „Das russische Schiff ist bereits versenkt, das deutsche nach allen Regeln der

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Ausgabe vom 14. September 1921. Diese psychologisierende Beurteilung der Masse verweist auf Gustave Le Bon: Psychologie der Massen. Leipzig 1919. Zu Hitlers Rezeption von Le Bon vgl. Alfred Stein: Adolf Hitler und Gustave Le Bon. Der Meister der Massenbewegung und sein Lehrer. In: GWU 6 (1958), S. 362—368 sowie Werner Maser: Hitlers Mein Kampf. Entstehung, Aufbau, Stil, Änderungen, Quellen, Quellenwert, kommentierte Auszüge. München und Esslingen 1966 (besonders S. 83ff.); zu Masers „Lesefehlern" vgl. die kritischen Hinweise in der VfZ 21 (1973), S. 334—336 sowie Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. l If. Tyrell bringt zahlreiche Argumente, daß Hitler die Thesen von Le Bon durch die Lektüre einer Schrift des Münchener Nervenarztes J. R. Roßbach kennengelernt haben dürfte, die in München 1919 unter dem Titel „Die Massenseele, Psychologische Betrachtungen über die Entstehung von Volks-(Massen)-Bewegungen (Revolutionen)" erschienen war (ebd., S. 54ff.). 60 Mit „Stadiongesellschaft" war der „Frontkämpfertag" vom 25. August im Berliner Stadion gemeint (vgl. dazu die Ausführungen zum Berliner Lokal-Anzeiger).

Der Völkische Beobachter

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Kunst angebohrt; hörbar für jeden, der nicht ganz von Gott, und zwar buchstäblich, verlassen ist, braust schon die rote Flut durch die Kielräume; nichtsdestoweniger überschlagen sich Unmengen sogenannter Katholiken im stürmischen Beifall vor einem Schwadroneur, der das Haupt der jüdischen Bohrkolonne wie ein leuchtendes Vorbild feiert"61.

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Ausgabe vom 14. September 1921.

Die Münchner Neuesten Nachrichten Die Tendenz der ehemals liberal-demokratischen Münchner Neuesten Nachrichten brachte der Völkische Beobachter 1921 auf folgenden Punkt: „Dem Bolschewismus den Pelz waschen, aber das Judentum, das dahintersteckt, nicht naßmachen", sei die „schöne Taktik" der Münchner Neuesten Nachrichten, „seitdem sie sich getrieben fühlen, der nationalen Richtung ihrer neuen Besitzer62 wenigstens einigermaßen Rechnung zu tragen, mit anderen Worten, nicht, wie ehedem, nur auf den Daniel, sondern zuweilen auch auf den HanieP Rücksicht zu nehmen"64. In diesem Sinne präsentierten die Münchner Neuesten Nachrichten sich 1921 als ausgesprochen rechts-orientiertes Blatt, das offen gegen die Reichsregierung und den „Geist der Republik" Front machte.

" Zu den Besitzveränderungen bei den Münchner Neuesten Nachrichten hieß es im Abendblatt der Frankfurter Zeitung vom 2. September 1921: „Die Reaktion ist zu einer Zeit, in der der Boden nach dem Räteabenteuer besonders günstig schien, nach Bayern künstlich importiert worden. Da sie bisher über kein einziges journalistisches Organ verfügte, mußten norddeutsche Großindustrielle zwei bisher liberal-demokratische Organe, die 'München-Augsburger Abendzeitung' und die 'Münchner Neuesten Nachrichten', kaufen". Da auch der Völkische Beobachter die veränderten Besitzverhältnisse aufmerksam registrierte, ist die Behauptung von Anton Betz, dem ehemaligen Chefredakteur der Münchner Neuesten Nachrichten, es sei in Bayern „so gut wie unbekannt" geblieben, daß „der Verlag von Knorr & Hirth der Ruhr-Schwerindustrie gehörte" (ders.: Die Tragödie, S. 22), mehr als fragwürdig. Auch anderen Beobachtern waren die Besitzveränderungen der beiden einflußreichen Münchener Zeitungen nicht verborgen geblieben (vgl. etwa: Berichte des Gesandten Moser von Filseck, S. 63f. sowie die [Sonntags-]Ausgabe des Vorwärts vom 28. August 1921). 63 Dieses Wortspiel zielte auf Franz Haniel, den Vorsitzenden des Aufsichtsrats der Gutehoffnungshütte, die einen maßgeblichen Anteil am Verlag von Knorr & Hirth erworben hatte. 64 Völkischer Beobachter vom 18. August 1921.

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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1. Das Trio Eisner, Harden, Erzberger

Kurt Eisner, Maximilian Harden und Matthias Erzberger verkörperten den politischen Gegner, an dem sich das Blatt unter der plakativen Überschrift „Der große Betrug — Unveröffentlichte Dokumente" seitenlang rieb65. Die Kontroverse um die „Eisnerschen Enthüllungen", die von Eisner edierten Dokumente deutscher Diplomatie vom Juli 1914, hatte sich zu einer förmlichen „Pressefehde" ausgeweitet, nachdem der Münchener Historiker Karl Alexander von Müller66 in den Süddeutschen Monatsheften geschrieben hatte, Eisner habe die Quellen nicht nur sinnentstellend gekürzt, sondern er habe sie vorsätzlich gefälscht. Der Entente hätten diese Enthüllungen als Beweis für die deutsche Kriegsschuld und als Rechtfertigung für den Versailler Vertrag gedient67. Lief vor allem die Presse der USPD, an ihrer Spitze die Münchener Morgenpost, gegen diese Auslegung der „Eisnerschen Enthüllungen" Sturm, so ließen die Münchner Neuesten Nachrichten ihre Überzeugung einer vorsätzlichen Fälschung vom Vorsitzenden der Fraktion der DDP im Bayerischen Landtag, dem Münchener Archivdirektor Dr. Pius Dirr68, untermauern69: Nach Dirr wollte Eisner zunächst durch „ein

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Vgl. die Ausgabe der Münchner Neuesten Nachrichten vom 20./2l. August 1921. Die Polemik gegen das „Eisnersche Schuldbekenntnis" wurde in mehreren Ausgaben fortgesetzt. 66 Bei Karl Alexander von Müller hatte Hitler (nach Maser: Frühgeschichte der NSDAP, S. 134) „wahrscheinlich" an den vom Reichswehrgruppenkommando 4 organisierten Kursen „Die deutsche Geschichte seit der Reformation" und „Die politische Geschichte des Krieges" teilgenommen; vgl. auch Deuerlein: Hitlers Eintritt in die Politik, S. 182: „Karl Alexander von Müller erzählt, er habe seinen Schulkameraden Mayr, den Leiter der Nachrichten- und Propagandaabteilung beim Münchener Reichswehrgruppenkommando, auf Hitlers rhetorisches Naturtalent aufmerksam gemacht". 67 Von Müllers Beitrag „Neue Urkunden" war in der Juli-Ausgabe der Süddeutschen Monatshefte erschienen (S. 49—52); die gesamte Ausgabe war dem Thema „Der große Betrug" gewidmet. 68 Auch Pius Dirr zählte — wie Karl Alexander von Müller, Gottfried Feder und Karl Graf Bothmer — zu den Rednern, die im Juni 1919 vom Leiter der Abteilung Ib/P des Bayerischen Reichswehrgruppenkommandos, Mayr, mit der Durchführung der „Vortragsveranstaltungen für Offiziere und Mannschaften" betraut worden waren (vgl. Ernst Deuerlein: Der Hitler-Putsch. Bayerische Dokumente zum 8./9. November 1923. Stuttgart 1962, S. 27).

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

deutsches Schuldbekenntnis eine versöhnliche Stimmung bei der Entente scharfen. [...] Zugleich aber sollte den aus dem alten Regime übrig gebliebenen politischen Kräften, die nach der Münchner Anschauung noch völlig in veralteten und verderblichen Auffassungen und Praktiken befangen waren, der Garaus gemacht werden"70. Als Beleg brachten die Münchner Neuesten Nachrichten einen bislang unveröffentlichten Bericht des „von der Münchner revolutionären Regierung bestellten Berliner Gesandten Dr. Muckle", in dem Muckle Eisner über ein Gespräch mit Maximilian Harden informierte und vorschlug, Harden, „schon seines Ansehens wegen, das er auf Seiten der Entente" genieße, als Delegierten Deutschlands zu den Friedensverhandlungen zu schicken71. Der vor allem in München heftig umstrittene Revolutionsführer Eisner und der weit über Berlin hinaus bekannte Herausgeber der Zukunft, Maximilian Harden72, waren der deutschen Öffentlichkeit so sehr als „Juden" vertraut, daß es keines besonderen Hinweises bedurfte, um die anhaltende Kontroverse um diese beiden Personen mindestens assoziativ in die Nähe von Judenfeindschaft zu rücken; eine Anspielung auf

69

Münchner Neueste Nachrichten vom 20./21. August 1921. Dirr war Vorsitzender des vom Bayerischen Landtag eingesetzten „Ausschusses für die Prüfung bayerischer Dokumente über den Weltkrieg und die deutsche Außenpolitik". Das Ergebnis seiner Studien konnte er 1922 veröffentlichen: „Bayerische Dokumente zum Kriegsausbruch und zum Versailler Schuldspruch. Im Auftrage des Bayerischen Landtags hg. von Dr. P[ius] Dirr. München 1922" (hier benutzt in der 3. Auflage. München/Berlin 1925). 70 Eisner hatte damit insbesondere Erzberger und Scheidemann gemeint (vgl. hierzu auch Falk Wiesemann: Kurt Eisner. Studie zu einer politischen Biographie. In: Bayern im Umbruch, S. 387-426 [hier S. 409ff.J. 71 Münchner Neueste Nachrichten vom 20./21. August 1921. In diesem Bericht Muckles wurde Erzberger als „süddeutscher Scheidemann" charakterisiert, der „bei allem Fleiße seiner Aufgabe nicht von ferne gewachsen" sei. 72 Als bekannt wurde, daß Harden die Zukunft zum 1. Oktober einstellen würde, befaßte sich die Frankfurter Zeitung in ihrem zweiten Morgenblatt vom 24. August 1921 mit der Zukunft und Maximilian Harden: „Der Stil" der Zukunft habe „in zunehmendem Maße an der Eigenunart des Herausgebers" gelitten, und nachdem Harden sich „für das Bismarckische" entschieden hätte, habe er während des Krieges die Fronten gewechselt: „Es gibt Leute, die ihm glauben und die Wandlung aus einer seelischen Erschütterung erklären", meinte die Frankfurter Zeitung. „Wer aber könnte sich vermessen, zu behaupten, dies oder das oder irgend was an Harden sei echt? Vielleicht weiß er selbst nicht, wie viel Theater in ihm, dem einstigen kleinen Schauspieler, zurückgeblieben ist".

Die Münchner Neuesten Nachrichten

327

Religions- oder „Rassezugehörigkeit"73 vermieden die Münchner Neuesten Nachrichten ebenso konsequent, wie sie ihre Ablehnung von Sozialisten und „Neuberliner Regierungsweisheit" offen ausdrückten74. So hieß es in einem längeren Zitat aus der 1919 veröffentlichten Schrift „Maximilian Harden am Pranger", Harden sei „schuldig am Kriege, [...] schuldig an der deutschen Niederlage [...] und [...] schuldig am Versailler Schandfrieden"75, denn er sei „der einzige, der die Schuld der Alldeutschen76 und der Unabhängigen77 in seiner Person kombiniert, der einzige auch, dessen Schuldkonto noch durch die erschwerenden Umstände eines nur durch die Kriegskonjunktur zu erklärenden Gesinnungswechsels und einzig dastehenden heuchlerischen Pharisäertums erhöht wird. Wer heute Deutschland zum Kriege drängt, und morgen dem geschlagenen Deutschland den Krieg als ein unerhörtes Verbrechen anrechnet, wer es heute auffordert, die schärfsten Kriegsmittel anzuwenden, und morgen es für die wirkliche Anwendung schmäht und lästert, wer es heute lockt, seinen Machtbereich auf den ganzen Kontinent auszudehnen, und morgen der Entente hilft, es zu zerkleinern und zu zerstükkeln, der ist — Harden selbst hat das Wort auf den verwandlungsfrohen Erzberger geprägt — ein 'Gesinnungsschieber' von geradezu grotesker Art"78.

73

Der Begriff „Rasse" war auch den Münchner Neuesten Nachrichten nicht fremd: In einer Glosse über „Polens Zukunft" sprach das Blatt bezüglich der Polen von „Problemen ihrer Rasse" (Abendausgabe vom 25. August 1921). Im übrigen dokumentiert die ausführliche Darstellung von „Erblichkeitsforschung und Rassenhygiene" (Morgenausgabe vom 27. August 1921) die zeitgenössische Diktion und Weltsicht auch in diesem Blatt. 74 Vgl. die Abendausgabe vom 2. September 1921. 75 Vgl. den Artikel „Falschmünzer sucht Dollar! oder Unempfindsame Reise des M. H. nach Amerika" in der Morgenausgabe vom 25. August 1921. 76 „Den Alldeutschen wird man vorwerfen können, daß sie gleich Harden auf den Präventivkrieg hingearbeitet haben; dafür aber sind sie der Sache ihres Volkes bis zum letzten Augenblick treu geblieben" (ebd.). 77 „Die unabhängigen Sozialisten wird man nicht von der Schuld freisprechen dürfen, daß sie aus ihrer auf die Weltrevolution spekulierenden Illusionspohtik heraus das Spiel der Entente gleich Harden gespielt haben; dafür sind sie wieder von Anfang an Gegner des Krieges gewesen" (ebd.). 78 Ebd.

328

IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

2. Trotz des Mordes: Kritik an Erzberger Ihrer „nationalen Richtung" blieben die Münchner Neuesten Nachrichten auch nach der Ermordung Erzbergers treu. Der ehemalige Reichsfinanzminister sei zwar „einem Verbrechen zum Opfer gefallen", und das „menschliche Gefühl" verurteile eine solche Tat, aber „die Ehrfurcht vor dem Tode" dürfe „nicht hindern, die Dinge so anzusehen, wie sie sind"79: „Ehrgeiz, gepaart mit rücksichtslosem Vorwärtsstreben und Vorwärtsdrängen, führten schon in den ersten Reichstagsjahren des jungen Abgeordneten ernsthafte Krisen im Zentrum herbei; der rechte Flügel rückte weit von Erzberger ab. Der Krieg erst brachte dem Zentrum die endgültige Kraftprobe und Erzberger den endgültigen Sieg". Die „Friedensresolution", seine Unterschrift unter den Waffenstillstandsvertrag, seine Finanzreform, „an deren Reform wir noch lange zu tun haben werden"80, sowie die gerichtlich festgestellte Vermengung öffentlicher und privater Geschäfte hielten die Münchner Neuesten Nachrichten dem ermordeten Zentrumspolitiker vor.

79

„Der Tod durch Mörderhand [...] wird bei dem einen und dem anderen das harte Urteil wohl mildern", hieß es im Leitartikel, aber das dürfe „das geschichtliche Bild [...] nicht verwischen und entstellen" (Morgenausgabe vom 27. August 1921). Doch selbst die Münchner Neuesten Nachrichten mußten „gestehen, daß die Haltung einiger Blätter der Rechtsultras anläßlich der Ermordung Erzbergers menschlich widerwärtig war und Empörung auch dann hervorrufen muß, wenn man, wie wir es tun, in Erzberger einen der größten Schädlinge des deutschen Volkes sieht und deswegen auch keinen Anlaß hat, dem Toten zu verzeihen, was der Lebende an der Nation verbrach" (Abendausgabe vom 31. August 1921). 80 Erzbergers Steuer- und Finanzreform stieß insbesondere auf den Widerstand der von Bayern geführten süddeutschen Länder, die in der Verlagerung der Steuer- und Finanzhoheit auf das Reich einen schweren Eingriff in ihre staatliche Hoheit sahen. Die von Erzberger in nur wenigen Monaten durchgeführte Reform wurde allerdings nicht umgehend „reformiert", wie zeitgenössische Kritiker forderten, sondern dieses „große finanzpolitische Reformwerk" ist auch heute noch Grundlage des Steuer- und Finanzwesens der Bundesrepublik (vgl. Alex Möller: Reichsfinanzminister Matthias Erzberger und sein Reformwerk. Bonn 1971, S. 30, 35, 62 sowie 66). Nach Theodor Eschenburg: Matthias Erzberger. Der große Mann des Parlamentarismus und der Finanzreform. München 1973, S. 8 war Erzbergers Finanzreform die „nächst der Einführung des Parlamentarismus [...] weitaus bedeutendste Reform" seit der Reichsgründung. Zum Widerstand der süddeutschen Länder gegen Erzbergers Finanzreform vgl. Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik, S. 185ff.

Die Münchner Neuesten Nachrichten

329

Ihre publizistische Offensive gegen Eisner, Harden und Erzberger ergänzten die Münchner Neuesten Nachrichten durch scharfe Angriffe auf die Reichsregierung, die sich in dem Maße steigerten, wie sich der Konflikt zwischen Berlin und dem seit der Räterepublik unter permanentem Ausnahmezustand regierten Bayern zuspitzte: So charakterisierten die Münchner Neuesten Nachrichten die von Sozialisten und Kommunisten angekündigten öffentlichen Protestversammlungen und Demonstrationen gegen die „Teuerungswelle" als „Unehrlichkeit und Doppelzüngigkeit derer, [...] die aus Gründen der politischen Hetze die Lebensmittelteuerung der Regierung Kahr zur Last legen wollen"81. Unter dem unmittelbaren Eindruck der Ermordung Erzbergers schränkte das Blatt seine unzweideutigen Äußerungen gegenüber Sozialisten aller Couleur vorübergehend ein, um wenig später um so heftiger die Reichsregierung zu kritisieren, die am 29. August die „Verordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" erlassen hatte. Die formale Rechtsgültigkeit der Verordnung stand nach Auffassung der Münchner Neuesten Nachrichten zwar „gemäß den Bestimmungen des Artikel 48 der Reichsverfassung außer Zweifel"82, aber es wären „ernsthafte Warnungen auch nach links zu richten gewesen"83. Für die gesamte Presse sei die Verordnung „außergewöhnlich schwerwiegend", weil bei den „Sozialisten" die Neigung bestünde, „Staatsautorität und Autorität ihrer Parteiführer als etwas Identisches zu betrachten". Ohne die „Möglichkeit einer Beschwerde an eine richterliche Instanz" schaffe die Verordnung „die vollständige Rechtlosigkeit der Presse und [...] einen Zustand, wie er in Deutschland seit 1848 nicht mehr" bestanden

81

Abendausgabe vom 25. August 1921. In Hessen, Baden und Württemberg, so das Blatt, seien die Lebensmittelpreise trotz einer Regierungsbeteiligung von Sozialisten höher als in Bayern; vor allem aber gelte das für die „rein sozialistische Regierung mit Mehrheitssozialisten, Unabhängigen und Kommunisten" in Sachsen. „Vollends aber in der allein bestimmenden Reichsregierung, die alle Anordnungen auf dem Lebensmittelgebiet trifft oder unterläßt, sind die Sozialisten ausschlaggebend. Was soll also die Hetze gegen die Regierung Kahr?" (ebd.). 82 Morgenausgabe vom 31. August 1921. 83 Morgenausgabe vom 30. August 1921. In der Morgenausgabe des folgenden Tags hieß es: „Auf beiden Seiten ist [...] viel gesündigt worden. Die Aufpeitschung der politischen Leidenschaften bis zum Siedepunkt, die persönliche Verunglimpfung und Schmähung politischer Gegner, die Aufreizung zu Gewalttaten und Ausschreitungen — dieses Schuldkonto belastet den Linksradikalismus noch mehr als den Rechtsradikalismus".

330

IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

habe84. Auch als eine Verordnung des Reichspräsidenten das Tragen militärischer Uniformen unter Strafe stellte85, stieß das bei den Münchner Neuesten Nachrichten auf tiefes Unverständnis: Der Erlaß habe „mit Recht in weitesten Kreisen des Volkes lebhaftestes Befremden hervorgerufen" und könne nicht anders bezeichnet werden als ein „Schlag ins Gesicht aller jener Volksgenossen [...], die mehr als vier Jahre lang im Kampf gegen eine Welt von Feinden die Heimaterde verteidigt, die für das Vaterland gestritten und geblutet haben". Rein formal sei gegen „die rechtliche Zulässigkeit des Verbots" nichts einzuwenden, „da der Reichspräsident auf Grund Art. 48 der Reichsverfassung überhaupt alles verfügen" könne, aber wenn „eine Neuberliner Regierungsweisheit" glaube, „mit derartigen Willkürmaßnahmen die Erinnerung an die große Zeit deutscher Wehrhaftigkeit" auslöschen zu können, dann täusche sie sich gewaltig86. Da die „demokratischen Parteien", das Zentrum und die DDP, sich veranlaßt gesehen hätten, einem Ausnahmegesetz zuzustimmen, bestünde die konkrete Gefahr, daß das „unnatürliche Bündnis der beiden prinzipiell demokratischen Parteien [...] mit der grundsätzlich antidemokratischen Partei, nämlich der Mehrheitssozialdemokratie", fortgesetzt werden könnte. Ursprung dieses „unnatürlichen Bündnisses" sei der 84

Morgenausgabe vom 31. August 1921. Im übrigen sei es ein neuer „Beweis für die doppelte Moral sozialistischer Politik", wenn die „gesamte sozialistische Presse, die vor dem Kriege Ausnahmegesetze grundsätzlich verdammt" habe, nun die Verordnung des Reichspräsidenten begrüße. 85 Nach Meier-Welcker: Seeckt, S. 311 hatten insbesondere die verabschiedeten Generale von der Goltz und von Waldersee auf dem Frontkämpfertag im Berliner Stadion „heftige Angriffe gegen die Reichswehr gerichtet", was Seeckt „in seiner Entrüstung" veranlaßte, „die ganze Veranstaltung als zweiten Kapp-Putsch" zu bezeichnen. Auf diesen Vorfall sei die Verordnung zurückzuführen, mit der „den verabschiedeten Offizieren, mit wenigen Ausnahmen, das Recht zum Tragen der Uniform entzogen wurde". ''Abendausgabe vom 2. September 1921. Die „Ungeheuerlichkeit des UniformVerbotes" komme einer unehrenhaften Entlassung aus der Armee gleich, und im Strafgesetzbuch trete „der Verlust des Rechtes zum Tragen der Uniform" nur als „selbstverständliche Folge [...] bei Verurteilung zu Zuchthaus und bei Aberkennung der bürgerlichen Ehrenrechte" auf, schimpfte das Blatt. Auch Rosenberg: Geschichte der Weimarer Republik, S. 94 meint kritisch, „die Republikaner hätten [...] die Erhaltung der wertvollen und ehrenhaften militärischen Tradition durchaus zu ihrer Aufgabe machen können. Indessen überließ man, auch auf diesem stimmungsmäßig so wichtigen Gebiet, die Führung den Rechtsparteien".

Die Münchner Neuesten Nachrichten

331

Putsch von Kapp und Lüttwitz, der „einen völligen Keil zwischen die nichtsozialistischen Parteien getrieben" habe. Wie damals, so wollten die Sozialisten jetzt wieder die „politische Spannung" nutzen und erneut „einen Keil treiben zwischen die Nichtmarxisten und erreichen, daß diese in zwei Gruppen zerfallen, nämlich diejenigen, die sich grundsätzlich zur Demokratie bekennen, und diejenigen, denen man unterschieben kann, daß sie gegen die Demokratie, besonders aber gegen die Republik seien"87.

87

Abendausgabe vom 31. August 1921,

Der Berliner Lokal-Anzeiger Am 1. September 1921 wurde das Hugenberg-Organ — wie auch der Völkische Beobachter — aufgrund der Verordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit verboten. Das Berliner DNVP-Blatt zeichnete sich durch seine strikte Ablehnung der Reichsregierung aus. Obwohl sich Antisemitismus beim Lokal-Anzeiger während dieser „Erhebungsphase" kaum empirisch nachweisen läßt, waren seine nationalistischen, militaristischen und restaurativen Tendenzen auch Nährboden für Antisemitismus.

1. Ungebrochener Monarchismus

„Wenn das Bekenntnis treuer Liebe zum Vaterlande", wie es anläßlich der Fahnenweihe des deutschnationalen Jugendbundes zum Ausdruck gekommen sei, „im deutschen Lande überall lebendig wäre, könnten wir getrost auf die Zukunft unsere Hoffnung setzen". Diese Worte von Otto Dibelius, in zwei Ausgaben des Lokal-Anzeigers abgedruckt88, veranschaulichen die politische Tendenz des deutschnationalen Blatts. Offensichtlich war aber das „Bekenntnis treuer Liebe zum Vaterlande" nicht überall so lebendig wie in den Reihen des deutschnationalen Jugendbundes, denn die groß aufgemachte Berichterstattung über den „Frontkämpfertag" im Berliner Stadion vom 25. August war eher eine sehnsuchtsvolle Reminiszenz vergangener Herrlichkeiten als ein zuversichtlicher Blick in die Zukunft89. Wie Generalmajor a.D. Graf

88

Vgl. die (Sonder-)Ausgabe des Berliner Lokal-Anzeigers vom 22. August 1921 sowie die Abendausgabe desselben Tages. " Der vom Nationalverband Deutscher Offiziere und dem Verband nationalgesinnter Soldaten organisierte „Frontkämpfertag" sollte eine Gegendemonstration zu der einige Wochen vorher abgehaltenen Veranstaltung „Nie wieder Krieg!" sein.

Der Berliner Lokal-A nzeiger

333

von Waldersee, erster Vorsitzender des Nationalverbandes Deutscher Offiziere, in seiner Eröffnungsansprache ausführte, hatte Hindenburg, der „Ehrenprotektor" der Veranstaltung, zwar von einer persönlichen Teilnahme abgesehen, „weil er Berlin nicht liebe", aber seine Grußbotschaft fand ebenso die Zustimmung der Anwesenden wie ein Telegramm des (ehemaligen) Kaisers, für den sein Sohn Prinz Eitel Friedrich von Preußen gleichsam als Statthalter erschienen war. Folgt man den Ausführungen des Lokal-Anzeigers, dann untermauerten Ludendorff und General von der Goltz90 in ihren Reden die Botschaft, die in großen Lettern über dem Stadioneingang prangte: „Im Felde unbesiegt"91. Das Interesse des Berliner Lokal-Anzeigers für derlei Veranstaltungen war nicht auf Berlin oder Preußen beschränkt. Seinen Bericht über eine von der Bayerischen Mittelpartei organisierte Feier anläßlich des Namenstages des Königs von Bayern und zum Gedenken an die „Lothringer Schlacht"92 setzte der Lokal-Anzeiger unter die Überschrift „Huldigung für die Wittelsbacher" und verlieh mit dem Festredner der Hoffnung Ausdruck, „daß die Erkenntnis der Vorzüge der monarchischen Staatsform gegenüber der republikanischen" sich in „immer weiteren Kreisen des Volkes" Bahn brechen möge. Der Hinweis, unter den „andächtigen Kirchgängern" des Festgottesdienstes hätten sich auch „die in München anwesenden Prinzen des Königshauses, die alte Hofgesellschaft, Generale, Offiziere und Staatsbeamte" befunden, gab dieser Darstellung monarchistischer Idylle einen verklärenden Anstrich93.

90

Nach Diehl: Von der Vaterlandspartei zur Nationalen Revolution, S. 624, Anm. 25 nahm von der Goltz nach seiner Rückkehr aus dem Baltikum am Putsch vom März 1920 teil und erließ als Kommandant des Verteidigungsabschnitts Berlin den Befehl, „alle Streikführer auf der Stelle zu erschießen". 91 Berliner Lokal-Anzeiger, Morgenausgabe vom 25. August 1921. Der Vorwärts resümierte nach dem „Frontkämpfertag" selbstkritisch, von republikanischer Seite sei „viel zu lange der Fehler begangen worden, die groben und gröbsten Geschichtslügen der Alldeutschen mit Achselzucken durchzulassen, weil man sich auf das Gedächtnis der Bevölkerung" verlassen habe, die „doch alles selber miterlebt" hätte. In Zukunft werde die Redaktion, „wie das in letzter Zeit schon mehrfach geschehen" sei, „den geflissentlich verbreiteten Geschichtslügen systematisch mit authentischem Material entgegentreten" (Abendausgabe vom 25. August 1921). 92 In der „Lothringer Schlacht" stoppte die 6. Armee zwischen dem 20. und 22. August 1914 den Vormarsch französischer Truppen und zwang sie zum Rückzug. 93 Abendausgabe vom 25. August 1921.

334

IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

2. Die Agitation nach dem Mord Über die Hälfte der Titelseite umfaßte der Kommentar, in dem das Blatt sich am 27. August mit der Ermordung Erzbergers auseinandersetzte. Zwar wurde der Gedanke ausgesprochen, es könne sich bei den Tätern „um Wegelagerer gewöhnlichen Schlages gehandelt haben, denen gerade in diesen südlichen Gegenden des Reiches schon wiederholt Männer des öffentlichen Lebens zum Opfer gefallen" seien, „aber", so fuhr das Blatt fort, „die größere Wahrscheinlichkeit spricht doch wohl dafür, daß es politische Gegnerschaft gewesen ist, die diesen Schlag geführt und damit einen derjenigen Männer getroffen hat, die von großen Kreisen des deutschen Volkes mit in erster Reihe für den furchtbaren Zusammenbruch des Reiches verantwortlich gemacht werden"94. Die sich anschließenden Überlegungen modifizierte der Lokal-Anzeiger in seinen späteren Berichten nur noch geringfügig: „Alles, was zu Erzberger gestanden hat, wird [...] schon heute seine Stimme erheben über den politischen Schurkenstreich, der hier geführt worden ist. Die Kommunisten, die sich eben jetzt auf ihrem Parteitag in Jena ganz offen zu jeder Art von Bürgerkrieg gegen alles, was nicht auf Moskau schwört, bekannt haben95, die Unabhängigen wie die Mehrheitssozialisten, die jede Vergewaltigung ihrer politischen Gegner [...], jeden Rechtsbruch, wenn sie ihn nur als 'revolutionären Akt' firmieren können, beschönigen und verteidigen, ja als verdienstlich feiern, sie werden die volle Schale ihrer — ach so ungemein sittlichen Entrüstung über die Parteien ausgießen, die sie für die Ermordung Erzbergers verantwortlich machen möchten"96. Vor diesem Hintergrund reagierte der Lokal-Anzeiger ausgesprochen empört, als der Polizeipräsident in Potsdam eine vom Jugendbund der DNVP geplante „Erinnerungsfeier an die Schlacht von Tannenberg" unterfreiem Himmel verbieten wollte: „Was als 'provokatorische' Demon94

So der Kommentar „Das Verbrechen" in der Morgenausgabe vom 27. August 1921. Die Frankfurter Zeitung schrieb in ihrem Abendblatt vom 27. August, „unter den Organen der äußersten Rechten" lasse nur der Lokal-Anzeiger politische Beweggründe für den Mord gelten. 95 Hier ging der Lokal-Anzeiger mit der Realität etwas großzügig um: Der Parteitag in Jena hatte sich von der „Offensivtheorie" der „Märzaktion" losgesagt und war wieder zur „Einheitsfrontpolitik" zurückgekehrt (vgl. Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, S. 126ff.). 96 Lokal-Anzeiger, Abendausgabe vom 27. August 1921.

Der Berliner Lokal-A nzeiger

335

stration der rechten Seite zu gelten habe, darüber werden natürlich in jedem Falle die Herren von der Linken zu entscheiden haben. 'Provokatorische' Demonstrationen von der Linken müssen", so klagte das Blatt, „selbstverständlich von der Rechten mit strammer Ergebenheit hingenommen werden"97. Von „strammer Ergebenheit" war jedoch wenig zu spüren, als der Lokal-Anzeiger über die Tannenbergfeier, die nicht unter freiem Himmel, sondern in einem Saal stattfand, und über Gegendemonstrationen der Linken berichtete98. Die Verordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung sowie den gleichzeitig erlassenen „Aufruf der Reichsregierung" hielt das Blatt für „juristische Ungeheuerlichkeiten, wie sie 'dem freiesten Lande der Welt' sehr eigentümlich anstehen"99. Die für den Verstoß gegen ein Zeitungsverbot angedrohte Geldstrafe von bis zu 500.000 Mark wäre nach Ansicht des Hugenberg-Organs „für Schieber und Wucherer" angebrachter gewesen100. Da die Reichsregierung „die Freiheit der Überzeugung, die Freiheit des Wortes" nur noch für diejenigen gelten lassen wolle, „die von den patentierten Hütern der neuen Verfassung zur Mitarbeit am Wiederaufbau des Reiches zugelassen" seien, habe sie „zwei Klassen deutscher Staatsbürger" geschaffen101. Im Unterschied zu den Münchner Neuesten Nachrichten unterteilte der Berliner Lokal-Anzeiger das parteipolitische Spektrum nicht in die quasi 97

(Sonntags-)Ausgabe vom 28. August 1921. USPD und KPD hatten zum „Massenaufmarsch in Potsdam" aufgerufen, um dort gegen die Tannenbergfeier zu demonstrieren. Da „dem Rufe der Unabhängigen und Kommunisten [...] Tausende gefolgt" waren, so die Germania in ihrer rückschauenden Betrachtung, war „ein blutiger Sonntag in Potsdam" sehr wahrscheinlich. „Einige Demonstranten, die anscheinend etwas zu viel getrunken hatten", seien über Passanten hergefallen und hätten auf sie eingeschlagen, „weil sie schwarz-weiß-rote Rosetten in den Knopflöchern" getragen hätten (Abendausgabe der Germania vom 29. August 1921). 99 Morgenausgabe des Lokal-Anzeigers vom 30. August 1921. 100 Publizistische Schützenhilfe im Kampf „gegen Schieber und Wucherer" bezog das Blatt von der NSDAP: In seiner Morgenausgabe vom 27. August veröffentlichte der Lokal-Anzeiger folgende, von der Telegraphen-Union verbreitete Meldung: „Die von der national-sozialistischen Partei in München im Zirkus Krone einberufene Versammlung nahm eine Entschließung an, in der die bayerische Regierung aufgefordert wurde, unverzüglich für Wucher- und Schiebertum die Todesstrafe einzuführen. Weiter wird darin gefordert, daß alles Schiebergut ohne Verzögerung beschlagnahmt und den Notleidenden zugeführt werden soll". 101 Morgenausgabe vom 30. August 1921. 98

336

IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

monolithischen Blöcke „Demokraten" und „Sozialisten", sondern er unterschied zwischen Demokraten und Sozialisten einerseits sowie einem „bürgerlichen Block" jenseits von Demokraten und Sozialisten: „Die demokratische Presse" bescheinige der Reichsregierung, „daß sie mit der Aufhebung wichtigster Grundrechte der Deutschen, deren Gewährung der Weimarer Verfassung als ewiger Ruhm angedichtet wurde, auf dem richtigen Wege sei, und ermuntert sie, nun aber auch ganze Arbeit zu machen und mit fester Hand für unbedingte Durchführung der Verordnung zu sorgen. [...] Die sozialistische Presse, Vorwärts und Freiheit, findet die Aufhebung der Presse, Vereins- und Versammlungsfreiheit natürlich auch in Ordnung, ist sie doch in der Hauptsache ihr Werk und soll sie [doch] auch dazu dienen, politische Gegner mundtot zu machen, denen man, nur auf die allgemeinen Waffen des politischen Kampfes gestützt, sich nicht länger gewachsen fühlt"102. Trotz aller Polemik des Lokal-Anzeigers, aus seiner Perspektive war es logisch, gegen die „Beschränkung der Presse- und Versammlungsfreiheit" zu protestieren. Bei seiner Kritik an der Reichsregierung brachte das Blatt durchaus zutreffende Analysen der „Republik ohne Republikaner"103: „Kindlich der Glaube, mit solchen Gewaltmitteln die überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes zur Liebe für die Republik, zur Freundschaft für die Demokratie erziehen zu können. [...] Unterdrückungen der Preß-, der Rede- und Vereinsfreiheit sind aber, wie doch gerade die heutigen Regierungsparteien immer und überall behauptet haben, das ungeeignetste Mittel, um Haß in Liebe, Auflehnung in Gehorsam zu verwandeln"104. Mit der Begründung, er habe einen Artikel aus dem verbotenen Miesbacher Anzeiger abgedruckt105, wurde der

102

Ebd. Beendet wurden diese Ausführungen mit der häufig wiederholten Wendung, insbesondere die Sozialdemokratie hätte alle „Lehren aus dem Sozialistengesetz" vergessen. 103 So die Zwischenüberschrift einer Polemik gegen den Vorwärts (Morgenausgabe vom 30. August 1921). 104 Abendausgabe vom 29. August 1921. 105 Zum Miesbacber Anzeiger, der auch „in Berlin an jedem Straßenkiosk" gekauft werden konnte (Frankfurter Zeitung, Abendblatt vom 2. September 1921), vgl. Sieglinde Kirmayer: Der „Miesbacher Anzeiger" — Heimat- und Kampfblatt 1874—1950. Ein Beitrag zur Geschichte der bayerischen Provinzpresse. Diss. phil. München 1956 (von den ca. 180 Textseiten dieser bei d'Ester eingereichten Arbeit umfaßt die Zeit zwischen 1933 und 1945 nur eine Seite). Auch Kershaw (Der HitlerMythos, S. 41) wird der politischen Tendenz des Miesbacher Anzeigers nicht gerecht,

Der Berliner Lokal-Anzeiger

337

Berliner Lokal-Anzeiger am 1. September 1921 vom Reichsminister des Innern für 14 Tage verboten106.

wenn er das Blatt als „BVP-nahe" charakterisiert: In rund 170 Beiträgen polemisierte etwa Ludwig Thoma im Miesbacher Anzeiger gegen Republik und Demokratie, gegen Juden und insbesondere gegen Erzberger (vgl. Ludwig Thoma: Sämtliche Beiträge aus dem „Miesbacher Anzeiger" 1920/21. Hg. von Bernhard Gajek. München 1989, S. 36ff., 44ff., 64ff., 159ff., 376ff. und 387ff.). l das zweite Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 2. September 1921.

IV

Die BZ am Mittag In den Tagen vor dem Mord an Erzberger gab sich die BZ politisch nahezu farblos: Das Blatt kritisierte die von Erzberger in Gang gebrachte Steuerreform107, befaßte sich vergleichsweise intensiv mit der steigenden Not108, brachte ab und an eine strikt antibolschewistische Polemik109 und war nach wie vor antipolnisch und antifranzösisch eingestellt110. Mit dem Thema „Antisemitismus — Judentum" befaßte sich die BZ in dieser „Erhebungsphase" nicht. Seinem Boulevardcharakter trug das Blatt mit zahlreichen Kriminal- und Mordberichten Rechnung.

107

Die von Erzberger im Juli 1919 eingebrachten Steuerreformvorschläge gingen nicht, wie es weite Teile der Öffentlichkeit wissen wollten, auf ihn persönlich zurück, sondern „der sehr fähige Staatssekretär Stefan Moesle" hatte sie konzipiert (Epstein: Erzberger, S. 381). los Vgl. etwa den Bericht über die sozialen Hintergründe einer „Brandstiftung bei der Aktien-Gesellschaft für Anilin-Fabrikation" (Ausgabe vom 25. August 1921). 109 So im Beitrag „Bolschewisten" (Ausgabe vom 24. August 1921): „Während die Hungersnot aus Rußland eine Wüste zu machen droht, lassen sich die Diplomaten des bolschewistischen Rußland im Ausland wohl sein. Nach einem1 Bericht aus Riga fand dort kürzlich eine große Modenschau statt, bei der die elegantesten Toiletten prämiert wurden. Der erste und zweite Preis fielen dabei an Frau Joffe und Frau Fürstenberg, die Gattinnen des bekannten Volksbeauftragten und des bolschewistischen Gesandten in Litauen. Schade, daß die russische Zensur diese interessante Nachricht unterdrücken wird. Die verhungernden Russen würden gewiß mit Interesse von diesem 'diplomatischen Erfolg' Kenntnis genommen haben". 110 Vgl. etwa den Beitrag „Das Brot wird billiger — in Frankreich": „Während in Deutschland der Brotpreis eben erst sehr wesentlich erhöht werden mußte, kann man in Frankreich an einen Abbau des Brotpreises gehen, solche Ziffern sprechen eine deutliche Sprache für die wirtschaftlichen Verhältnisse in dem armen Frankreich und dem noch immer nicht genug amputierten und belasteten Deutschland" (Ausgabe vom 22. August 1921).

Die BZ am Mittag

339

1. Kritik an der Steuerpolitik Ohne Matthias Erzberger namentlich zu erwähnen, förderte auch das Ullstein-Blatt mit einem geschliffenen Kommentar über die „Steuerhochflut"111 das „Anti-Erzberger-Syndrom": „Ein dickes Paket neuer Steuergesetzentwürfe mit zahllosen Paragraphen, Ziffern, Tabellen, Erläuterungen! Man braucht eigentlich einen Spezialurlaub, um sich durch das Gewirr hindurchzufinden, und einen Nachurlaub, um sich von dieser erschöpfenden Arbeit zu erholen". In die Ecke werfen könne man diese Entwürfe aber leider nicht, „denn die Paragraphen und Zahlen [...] bedeuten, wenn sie später ins Reichsgesetzblatt kommen sollten, sehr viel, sehr unangenehmes, sehr einschneidendes [...] Sie kreisen uns von allen Seiten ein, umschlingen uns, binden uns die Hände [...] Diese langweiligen Paragraphen sind sehr tückisch". Die beabsichtigte Erhöhung der Verbrauchssteuern sei aber schon deshalb fragwürdig, weil neue Lohnforderungen „immer und notwendig mit Steuererhöhungen Hand in Hand" gehen. Über die Reform der Vermögenssteuer brauche man sich allerdings noch keine Gedanken machen, da sie ja „erst in ein paar Jahren kommen" solle. Bis dahin aber, so die mit der Steuerpolitik ausgesprochen unzufriedene BZ, werde „das deutsche Steuersystem schon wieder dreimal umgeworfen und umgestaltet sein"112.

2. Der Mord Unmittelbar nach dem Mord an Erzberger rückte die BZ, die wie viele andere Zeitungen einen „Sonderberichterstatter" zum Tatort in den Schwarzwald geschickt hatte, die jahrelange Hetze gegen den Zen-

111

Ausgabe vom 20. August 1921. Ebd. Verfechter der Steuererhöhung würden darauf hinweisen, daß viele Raucher mit 10—15 Prozent ihres Einkommens für Zigaretten mehr Geld für ihre Sucht als für ihre Miete ausgäben, aber täten die Raucher das, „wenn das Bedürfnis nicht sehr stark wäre", fragte die BZ. „Das Zeltleben und der Hunger der Kriegszeit haben uns in noch viel höherem Grade als früher zum Rauchervolk gemacht. Die Vernunft rät zu radikaler Einschränkung. Aber es ist nicht nur eine Vernunfts-, sondern auch eine Stimmungs- und Verstimmungsfrage, die in letzter Linie sogar politische Bedeutung besitzt". 112

340

IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

trumspolitiker in den Mittelpunkt ihrer Berichterstattung113. Trotz ihrer Kritik am Politiker Erzberger scheint der Mord die BZ aufgerüttelt zu haben, denn das Blatt bezog nach dem Mord immer deutlicher Position für die Republik. Erstaunlich aber ist, daß die BZ sich einer redaktionellen Kommentierung weitgehend enthielt und ihre eigene Haltung eher durch Personen wie den Reichstagspräsidenten Lobe114 oder den „Reichsminister a.D. Koch" beschreiben ließ, der für das Ullstein-Blatt einen Kommentar zum Mord verfaßte. Zur häufig kritisierten „Charakterschwäche" Erzbergers meinte Koch: „Erzberger wollte das Gute. Die Zeit, in der er lebte, aber auch eigene Fehler haben ihn oft verhindert, es zu erreichen. Erzberger hatte Verantwortungsfreudigkeit und den Mut zur Unpopularität. [...] Indem Erzberger den Mut hatte, als einer der Führer der Demokratie einen Waffenstillstand zu schließen, den auch die Militärs für nötig hielten und den zu schließen ihre Aufgabe war, hat er die Vergeßlichkeit mancher Militärs gefördert und die Demokratie in ihrer Geburtsstunde in den Augen Kurzsichtiger schwer belastet"115. Neben dieser Würdigung beschränkte sich Koch auf eine ausgesprochen defensive Verteidigung des Ermordeten: „Erzberger war nicht korrupt. Ich wage es zu sagen. Gewiß hat er in bäuerlicher Art, die Vorteile mitnimmt, die am Wege liegen, manchmal gehandelt, wie es guten Überlieferungen, die wir hochhalten wollen und müssen, 113

In der Sonntagsausgabe vom 28. August, zwei Tage nach dem Mord, fanden sich in der BZ nur auf der dritten Seite zwei kleine Meldungen über den Fortgang der polizeilichen Ermittlungen; die erste Seite stand, wie jede Sonntagsausgabe, ganz im Zeichen des Sports. 114 In einer von der BZ abgedruckten Erklärung des Reichstagspräsidenten hieß es u.a.: „Die Wurzel des Attentats führt unzweifelhaft auf die maßlosen Anfeindungen zurück, denen Erzberger wegen seiner Besitzbesteuerung und wegen des Abschlusses des Waffenstillstands ausgesetzt war. Attentate dieser Art", so Lobe, „werden aber auch angeregt durch die überaus milde Beurteilung, welche die Schmähung deutscher Regierungsmänner und führender Politiker der Linken durch die Gerichte gefunden haben, auch durch die Tatsache, daß frühere Mordtaten entweder gar keine Sühne gefunden oder doch überaus milde beurteilt wurden, wie die des Prinz Arco in München [des Mörders von Eisner, der wie Hitler in Landsberg einsaß] und des Hirschfeld, der den ersten Schuß auf Erzberger abgab". 115 Erzberger habe „seine Hauptarbeit geleistet in der Übergangszeit. In dieser Zeit, [...] wo in einer Stunde Verantwortlichkeiten zu übernehmen waren, über die der Politiker alten Stils Monate gebrütet hätte, konnte seine Art sich mit ihren Vorzügen und Fehlern ausleben. Aber es war eine Zeit, in der Popularität oder auch nur Verständnis nicht zu gewinnen war" (ebd.).

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widerspricht. Aber wer [...] bei seinem Einfluß und seiner Stellung sich unrechtmäßig bereichern wollte, braucht sich nicht damit aufzuhalten, bei Medikamenten-Aktien ein paar hundert Mark zu verdienen"116. Als bekannt wurde, daß Oltwig von Hirschfeld, der Erzberger-Attentäter vom Januar 1920, „auf Urlaub" aus dem Gefängnis entlassen war, brachte die BZ eine harsche Kritik an der deutschen Justiz: „Das Gericht hatte ihn mit der gnädigen Strafe von 18 Monaten Gefängnis belegt, also nicht viel mehr, als im monarchistischen Deutschland zu gewärtigen war, wenn er sich bei einem Hoch auf S.M. nicht von seinem Stuhl erhob. Das Gericht hatte zu seinen Gunsten angenommen, daß er den Mordanschlag aus 'idealen Motiven1 unternommen habe. In dem Falle Oltwig von Hirschfeld scheint nun aber auch die Strafvollstrekkung auffallend gnädig gewesen zu sein. Mörder, auch solche, denen ihr Unternehmen nicht ganz nach Wunsch geglückt ist, pflegt man nicht nur um der Sühne halber in festen Gewahrsam zu nehmen, sondern auch, damit sie es so bald nicht wieder tun. Herr Oltwig von Hirschfeld dagegen hat nach kurzer Freiheitsbeschränkung wegen einer angeblichen Krankheit vier Monate Urlaub erhalten, obwohl die preußische Gefängnisverwaltung über sehr gute Krankenanstalten verfügt, in denen ein krank gewordener oder ein sich krank stellender Verbrecher besser geheilt werden" könne als in jenem Dorf bei Naumburg, in dem sich Hirschfeld bei Verwandten aufhielt. „Hunderte gehen in Gefängnissen dem Tode entgegen", resümierte die BZ, „ohne daß man sie auch nur acht Tage beurlaubt. Es ist bekannt, daß man oft kranke Redakteure, trotz dringender Gefahr nicht beurlaubt hat, sogar sonst ziemlich harmlosen politischen Gesetzesverächtern nicht einmal einen Tag Urlaub gewährte, um an das Sterbebett der Mutter, der Frau oder des Kindes treten zu können. Aber Herrn Oltwig von Hirschfeld hat man beurlaubt, und zwar gleich auf vier Monate"117.

116

Ebd. In der Auslandspresse wurden die politischen Aspekte des Mordes stärker betont, wie ein Zitat aus dem Pariser Blatt Le Matin zeigt: „Es ist dies der 315. Mord, den die geheime militärische Organisation seit dem Waffenstillstand begangen hat. [...] Die deutschen Militaristen bilden keine politische Partei, sondern eine Bande von Mördern" (zitiert nach der BZ vom 27. August 1921). 117 Ausgabe vom 30. August 1921.

v Die Germania Mit besonderer Schärfe wandte sich das Zentrumsblatt im Sommer 1921 gegen den „furor evangelicus", die „Katholikenhetze" der Deutschnationalen118. Dominierte vor der Ermordung Erzbergers in der Auseinandersetzung mit der DNVP die konfessionelle Komponente, so trat nach dem Mord die politische Dimension in den Vordergrund. Nicht ohne Sympathie berichtete das Blatt über die jüdische Minderheit.

1. „Katholikenhetze" und die „ostjüdische Gefahr"

Die Angriffe der deutsch-völkischen, aber auch der deutschnationalen Presse gegen die „katholische Rasse"119 weisen etliche Parallelen zu den 118

Vgl. die Abendausgabe der Germania vom 25. August 1921: Der Reichsbote, die in konservativ-protestantischen Kreisen tonangebende Zeitung, hatte einen „wüsten Schmähartikel" veröffentlicht, in dem hohe kirchliche Würdenträger als „päpstliche Spione und Hetzer" bezeichnet wurden. Da der Reichsbote für seinen „Schmähartikel" jedoch „zahlreiche Zustimmungserklärungen" — vor allem von Geistlichen und Lehrern — erhalten hatte, forderte die Germania: „Kein Katholik kann der deutschnationalen Volkspartei angehören". Mit dieser Haltung war das Blatt deutlich von den rechtskonservativen Strömungen im Zentrum abgerückt, die — wie der im September 1921 zur DNVP (und im Juni 1933 zur NSDAP) übergetretene Martin Spahn — eine stärkere Kooperation zwischen Zentrum und Deutschnationalen anstrebten: Der rechte Zentrumsflügel lehnte die vom „Berliner Jude[n] Preuß" ausgearbeitete Verfassung als „westlerischen Konstitutionalismus" ab und sah in der DNVP die geeignete Partei, „um mit den Mitteln des Parlamentarismus das parlamentarische System selbst zu bekämpfen" (Gabriele Clemens: Martin Spahn und der Rechtskatholizismus in der Weimarer Republik. Mainz 1983, S. 86 sowie S. 182). 119 Vgl. den Beitrag der Germania zur „Kulturkampfhetze in Mecklenburg" (ebd.): „Als vor ungefähr einem halben Jahre das jetzige mecklenburgische Kabinett [...] gebildet wurde, hat die rechtsdeutschnationale Meckl. Warte des Reichstagsabg. von Graefe-Goldebee den volksparteilichen Ministerkandidaten Freiherr von der Ketten-

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Angriffen der Nationalsozialisten gegen die „verjudeten Kleriker" während des „Kirchenkampfes" auf und verweisen auch auf Wurzeln der späteren Resistenz von Katholiken gegen die totalitäre Ideologie der Nationalsozialisten120. Die deutschnationale Agitation gegen Zentrum und Katholizismus, die ungehemmte „Katholikenhetze"121, die Katholiken zu Menschen zweiter Klasse degradierte, all' das mochten gute Gründe für die Redaktion der Germania sein, ihre Haltung gegenüber der jüdischen Minderheit zu überdenken: Während der „Erhebungsphase" Erzberger findet sich in der Germania jedenfalls nicht jener nur halb verdeckte Antisemitismus, der noch 1918 in den jüdischen Namenszusätzen der russischen Revolutionäre zum Ausdruck kam. Im Gegenteil, die Germania ließ im Sommer 1921 beim Thema „Judentum — Antisemitismus" einen bislang unbekannten Ton mitschwingen und zeigte, trotz einiger Passagen, die diffamierend oder latent antisemitisch

bürg zu Fall gebracht, indem sie in einem Leitartikel bemerkte, daß Freiherr von der Kettenburg Katholik sei und er müsse in seinem Herzen dem Zentrum angehören. Obgleich damals selbst einsichtige Deutschnationale erklärten, man könne doch nicht behaupten, daß es eine 'katholische Rasse1 gäbe, haben sich die Rechtsdeutschnationalen nicht von diesem Standpunkte abbringen lassen, und Freiherr von der Kettenburg mußte im Interesse des religiösen Friedens von der Deutschen Volkspartei fallen gelassen -werden [...] Aber dies schien den Kulturkämpfern nicht zu genügen, denn der Führer der mecklenburgischen Landwirtschaft war ja auch nur 'Katholik' [...] Deshalb traten vor zwei Monaten die hier zu jeder Zeit bereiten wie berüchtigten deutschnationalen Verleumderzentralen in Aktion, und in den ersten Tagen des vorigen Monats war der 'Katholik' Franz Janzen als ein zur 'katholischen Rasse' gehöriger Mann erledigt". 120 Zum Widerstand katholischer Bevölkerungskreise nach 1933 vgl. z.B. Heinz Hurten: Selbstbehauptung und Widerstand der katholischen Kirche. In: Der Widerstand gegen den Nationalsozialismus, S. 240—253; Klaus Schönhoven: Der politische Katholizismus in Bayern unter der NS-Herrschaft 1933—1945. In: Bayern in der NSZeit. Bd. V. München 1983, S. 541—646 sowie Evi Kleinöder: Verfolgung und Widerstand der katholischen Jugendvereine. Eine Fallstudie über Eichstätt. In: Bayern in der NS-Zeit. Bd. II. Teil A. München 1979, S. 175-236. 121 Ursache der „Katholikenhetze", so die Germania in ihrer Abendausgabe vom 22. August 1921, sei u.a. die „tiefe Erschütterung" des Protestantismus. Hofften „gewisse Leute" noch während des Krieges, der Protestantismus werde nach dem siegreichen Kriegsende „die herrschende religiöse und kulturelle Macht werden", so stürzte „der Summepiskopat der Fürsten [...] mit den weltlichen Thronen". Während „eine Massenflucht weiter Volkskreise aus den Reihen des Protestantismus" einsetzte, sei „das Ansehen der katholischen Kirche" gewachsen, und das Papsttum stelle „zurzeit eine moralische Macht [dar], die kaum jemals größer" gewesen sei.

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

waren, das Bemühen, den Juden und ihrer Lage Verständnis entgegenzubringen. „Der Antisemitismus in Deutschland", hieß es in der redaktionellen Einleitung zu einem umfangreichen Beitrag über „Die Ostjuden in Deutschland"122, habe „nicht wenige neue Nahrungszufuhr durch das verstärkte Auftreten von Ostjuden, jenen gewiß in mancher Beziehung vielfach nicht gerade sympathischen Zeitgenossen aus Rußland, Polen und Galizien erfahren. Der Hetze gegen diese Leute, wodurch sich besonders die Rechtspresse" auszeichne, habe sich die Germania jedoch „nie angeschlossen", weil das „unvereinbar mit christlicher Gesinnung" sei. Im übrigen sei dem Blatt die „Ostjudengefahr in Deutschland nie so groß erschienen", wie sie dargestellt werde. Der dann folgende Beitrag begann mit der Feststellung, daß sich in der deutschen Öffentlichkeit „um die Tatsache der zahlenmäßig schwachen und im Rahmen des Ganzen gesehen absolut belanglosen Zuwanderung von Ostjuden ein wahrer Mythos gebildet" habe, denn ein Großteil dieser Leute sei nur auf der „Durchwanderung", die eingestandenermaßen noch einige Zeit beanspruchen könne; aber auch um diese Personengruppe kümmerten sich das Arbeiterfürsorgeamt der jüdischen Organisationen und das Jüdische Arbeitsamt. Sodann müsse bedacht werden, hieß es weiter, daß zur „Erfüllung des Hindenburgprogramms eine relativ große Anzahl von ostjüdischen Arbeitern zwangsweise in die deutsche Kriegsindustrie" gebracht worden sei. Diese Personen seien „bei Eintritt der Demobilmachungsbestimmungen aus ihren Arbeitsstätten hinausgewiesen" worden, könnten aber „zum großen Teil nicht in ihre Herkunftsländer zurück". Insgesamt könne man die in Deutschland lebenden Ostjuden in drei deutlich voneinander abgrenzbare Gruppen unterteilen: Das „Arbeiterelement" mit „zirka 15.000 Leuten, von denen der größte Teil qualifizierte Industriearbeiter und Handwerker" seien und von denen einige Tausend „heute noch im rheinisch-westfälischen Industriebezirk, teils im Bergbau, teils in Fabriken", aber auch in der Landwirtschaft tätig seien. Die zweite Gruppe bildeten die Durchwanderer nach Nordamerika, von denen „nur ein kleiner Teil" gezwungen sei, „sich einige Wochen lang in Deutschland aufzuhalten". Der Umfang dieser Gruppe

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Abendausgabe vom 19. August 1921. Dieser namentlich gekennzeichnete Artikel stand zwar nicht unter der inhaltlichen Verantwortung der Germania, doch signalisiert der große Raum, der ihm zur Verfügung gestellt wurde, daß der Inhalt den Ansichten der Redaktion im wesentlichen entsprochen haben muß.

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sei „natürlich sehr schwer zu erfassen". Ein dritter Grund für die Anwesenheit von Ostjuden seien „einmal die immer wiederkehrenden Pogrome in ihren Herkunftsländern und andererseits kriegerische Verwicklungen" dieser Länder. Allerdings sei die Zahl der eigentlichen Pogromflüchtlinge nicht so hoch wie die „der Deserteure und Refrakteure"12i. Da nur ca. 13 Prozent der insgesamt etwa 55.000 in Deutschland lebenden Ostjuden im Handelsgewerbe tätig seien, entspreche „das Gerede von der Masseneinwanderung der galizischen Händler und Schieber den Tatsachen in gar keiner Weise"124. Auch weitere Beiträge, die Rückschlüsse auf die Einstellung der Germania zum Bereich „Antisemitismus und Judentum" erlauben, hatten einen positiven Grundton: In der Kritik zu einer Aufführung des „Jüdischen Künstlertheaters" aus Wilna war die Rede von einem „wohlverdienten, begeisterten Erfolg, in den auch die gern einstimmten, denen die ostjiddische Kultur nicht Mutterboden" sei125. Ein anderer Beitrag befaßte sich mit den „knallroten Anschlägen" der NSDAP, auf denen „schwerstes Geschütz gegen den bitter gehaßten" Erzberger aufgefahren werde und mit denen Adolf Hitler, „der sattsam bekannte Radauantisemit", zu einer Veranstaltung im Zirkus Krone einlud126: „Wie kann die Polizei solch groben Unfug dulden, und findet Herr Pöhner noch immer nicht den Mut, gegen diesen anstößigen und aufreizenden Plakatunfug einzuschreiten", fragte die Germania in offensichtlicher Verkennung der politischen Gemeinsamkeiten des Münchener Polizeipräsidenten mit dem Führer der NSDAP127.

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Zu der häufig erhobenen Forderung, wenigstens diese Gruppe auszuweisen, hieß es: „Für eine Ausweisung kämen sie sowohl aus völkerrechtlichen Gründen nicht in Frage, wie auch aus dem Grunde, daß Deutschland schließlich doch kein Interesse daran haben kann, die Armee seines zum mindesten unfreundlichen polnischen Nachbarn durch gewaltsame Zusendung von Soldaten zu verstärken"(ebd.). >M Ebd. Diese Aussage wurde stark relativiert durch Meldungen, in denen die Germania immer wieder Juden im Zusammenhang mit Schiebereien erwähnte. So hieß es etwa in einem Bericht über „Millionen-Mehlschiebungen" in Berlin-Mariendorf, daß die Helfershelfer des Hauptschuldigen „alles Galizier" seien (zweite Morgenausgabe vom 1. September 1921). 125 Abendausgabe vom 2. September 1921. 126 Erste Morgenausgabe vom 3. September 1921. Die zahlreichen Erwähnungen Hitlers und der NSDAP in den Zeitungen dieser Studie belegen, daß die „Hitler-Partei" schon 1921 kein unbeschriebenes Blatt mehr war. 127 Ebd.

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

2. Kritik an „bayerischen Verhältnissen" Das Erstaunen der Germania über den „aufreizenden Plakatunfug" in München ist nicht zuletzt deshalb schwer nachvollziehbar, weil die Germania knapp eine Woche zuvor geschrieben hatte, daß es eine „deutschnationale Mörderzentrale geben" müsse, von der „die lange Reihe von Attentaten gegen der Rechten unbequeme Gegner planmäßig vorbereitet worden" sei128 und die, wie der USPD-Abgeordnete Dittmann auf der „Kundgebung für die Republik" ausführte, „ihren Sitz in München" habe129. Und es war ebenfalls die Germania, die sich kritisch über die „Revolverblätter der deutschnationalen Propaganda" geäußert130 und ihr Befremden darüber ausgedrückt hatte, daß die „Bayerische Staatszeitung, das amtliche Organ der bayerischen Regierung", sich nicht scheute, Erzberger „selbst noch im Tode zu beschimpfen"1*1. Bei der bayerischen Politik, so das Blatt, müsse man generell fragen, „wie sich 128

Zweite Morgenausgabe der Germania vom 27. August 1921. Zweite Morgenausgabe vom 1. September 1921. Die DNVP erstattete wegen dieser Behauptung Anzeige gegen Dittmann und die Freiheit, aus der die Germania diese Passage zitierte. 130 So im Leitartikel „Das Opfer der deutschnationalen Hetze" vom 27. August 1921 (zweite Morgenausgabe). In der Abendausgabe desselben Tages wurde die Germania noch deutlicher: „Wer die Gemüts- und Geistesverfassung kennen lernen will, in der die politischen Morde gedeihen, der werfe einen Blick in das lediglich mit der Zange anzufassende Organ des Herrn Reinhold Wulle [...] Dieses üble Hetzblatt hat ganz systematisch mit jene Atmosphäre erzeugt, in der Messer und Revolver als erlaubte Mittel des politischen Kampfes erscheinen". — Wulle war Hauptschriftleiter der in der Tradition des Alldeutschen Verbandes stehenden Deutschen Zeitung. 1922 trat er „aus der DNVP aus und wurde einer der Führer der Deutschvölkischen Freiheitspartei" (Liebe: Deutschnationale Volkspartei, S. 145, Anm. 189). Neuer Hauptschriftleiter der Deutschen Tageszeitung wurde Max Maurenbrecher, ein „von Hause evangelischer Pfarrer". Im Mai 1921 hatte Maurenbrecher Hitler in München einen kurzen Besuch abgestattet: „Das Interesse des namhaften Mitglieds der Deutschnationalen Volkspartei und des Alldeutschen Verbandes [illustriert] die Tatsache, daß die politisch-soziale Reaktion den allmählich populärer werdenden Propagandisten des nationalen Sozialismus für brauchbar zu halten begann" (Tyrell: Vom Trommler zum Führer, S. 117). 131 Zweite Morgenausgabe vom 30. August 1921. Ähnlich äußerte sich Reichskanzler Wirth in seiner Grabrede: „Nach so großen Taten für das Vaterland bringen es Deutsche fertig, noch am offenen Grabe den Toten zu schmähen. Ich erinnere nur an eine Zeitung in Süddeutschland, die sich Staatszeitung nennt" (zitiert nach der zweiten Morgenausgabe vom 1. September 1921). 129

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die bayerischen Katholiken dazu stellen. [...] Man sollte doch meinen, daß ihnen allmählich ein Licht aufgehen müßte, wohin der Wegführt, den die bayerische Politik geht"m. Davon, „daß in Bayern fortgesetzt nach zweierlei Maß gemessen wird, daß man die Organe der Linken unterdrückt und gleichzeitig die Blätter der Rechtspresse ungeschoren zur Gewalt, zur Auflehnung gegen die Reichsverfassung, zum Morde auffordern läßt", war die Germania prinzipiell überzeugt. Empört reagierte sie auf die „Dokumente menschlicher Verkommenheit"133, auf den „Jubel über den Meuchelmord"134, der nicht klammheimlich, sondern mit unverhohlener Genugtuung ausgedrückt wurde135: Kurz vor dem Mord an Erzberger hatte z.B. die deutschnationale Schwarzwälder Volkswacht136 ein „Gedicht" veröffentlicht, das den Mörder von Gareis als „tapferen Helden" pries, das brutal forderte, „schlagt dem Wirth den Schädel ein", und das dafür eintrat, „den Walter [!] Rathenau, die gottverfluchte Judensau", abzuknallen137. Solche Haßtiraden fielen in Deutschland auf fruchtbaren Boden, wie die zahlreichen Briefe „deutschnationaler und alldeutscher Gesinnungshelden" belegen, die bei der Germania eintrafen und in denen „der teuflischen Freude über die Ermordung Erzbergers Ausdruck" verliehen wurde138. Vor allem aber sind die Jubelausbrüche auf öffentlichen Veranstaltungen139, in „zahlreichen studentischen Klubs und Kneipen"140, in Straßen132

Zweite Morgenausgabe vom 30. August 1921. So die Unterzeile eines Artikels in der zweiten Morgenausgabe vom 31. August 1921. 1)4 Abendausgabe vom 29. August 1921. 135 Das Spandauer Tageblatt etwa brachte im Anschluß an die Meldung von der Ermordung Erzbergers eine „offene Aufforderung zur Ermordung [Helmut] von Gerlachs", des Herausgebers der Welt am Montag (ebd.). 136 Dieses deutschnationale Blatt wurde im Juni 1933 als NS- Wacht „neugegründet" (vgl. Hortlof Biesenberger: Der „Schwarzwälder Bote" in den Jahren 1930—1950. Diss. phil. München 1953, S. 34). 137 Ygj_ Jie Abendausgabe der Germania vom 27. August 1921. 138 Abendausgabe vom 29. August 1921. 139 Auf der Gründungsfeier einer Ortsgruppe des deutschnationalen Jugendbundes führte der „Geschäftsführer der Deutschnationalen Volkspartei u.a. aus: 'Wie ich soeben lese, ist der dicke, feiste, vierschrötige (allgemeine Heiterkeit. Zurufe: Sehr gut! Heil! usw.) Reichsverderber Erzberger erschossen worden (Minutenlanges Händeklatschen; Heil-Rufe). Wir freuen uns darüber, daß Deutschland von einem seiner Schädlinge befreit ist (Beifall). Wir tragen die volle Verantwortung für diese Tat. Es ist durchaus christlich, wenn wir unsere Freude darüber ausdrücken, denn was man als 133

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bahnen141 oder einfach „auf der Straße"142 beredtes Zeugnis für den Zustand der politischen Kultur in den ersten Jahren der Weimarer Republik143. „Es scheine allmählich in Deutschland gefährlicher zu sein, mit demokratischer Gesinnung herumzulaufen, als mit Wertgegenständen", zitierte die Germania aus der Basler National-Zeitungw.

Böses erkannt hat, muß man beseitigen' (Allseitige Zustimmung). Die Ansprache wurde mit dem Liede 'Heil Dir im Siegerkranz' geschlossen" (ebd.). In der „Grotenburg" (am Hermannsdenkmal) veranlaßte „eine Anzahl wildgewordener Rechtsbolschewisten" eine Kapelle, ihr Konzert zu unterbrechen und „unter dem tosenden Beifall rasender Nationalisten" einen Jubeltuscb" auf die Ermordung Erzbergers zu spielen (erste Morgenausgabe vom 31. August 1921). 140 Auch hier wurden, wie die Germania in ihrer zweiten Morgenausgabe vom 31. August 1921 berichtete, „Verherrlichungsreden auf den Mörder gehalten" und förmliche Freudenfeiern zelebriert. Lieder wie „Nun danket alle Gott für diesen braven Mord. / Den Erzhalunken, scharrt ihn ein, / heilig soll uns der Mörder sein, / die Fahne schwarz-weiß-rot!" hätten zur Umrahmung derartiger „Jubelfeiern" gedient. 141 Ähnliche „Erlebnisse konnte man in diesen letzten Tagen in Berlin hundertfach haben. Ausdrücke wie 'Gott sei Dank, daß das Schwein kaputt ist' und ähnlicher Färbung wurden mit Behagen gegrunzt. Auf einer elektrischen Straßenbahn sagte ein sehr 'fein' gekleideter Herr zu seinem Nebenmann: 'Gott sei Dank, jetzt brauchen wir weniger Steuern zu bezahlen!'" (ebd.). 142 Reichstagspräsident Paul Lobe berichtete z.B., wie er vor der Auslage eines Extrablatts „Unter den Linden" hörte: „So, der wird kein Unheil mehr anrichten". Als Lobe die Personalien des entsprechenden Herrn polizeilich feststellen ließ, entpuppte sich „ein pensionierter Gerichtsassessor" (ebd.). 143 Vergleichbare Berichte finden sich in der Frankfurter Zeitung, im Vorwärts und in der Roten Fahne zuhauf. 144 Germania vom 31. August 1921. Mit ähnlicher Tendenz hatte sich die Karlsruher Zeitung zur Ermordung von Gareis geäußert: Es sei „im südlichen Bayern, vor allem aber in München, kein Mensch mehr seines Lebens sicher [...], der sich unterfängt, eine linksgerichtete Politik zu betreiben" (zitiert nach Benz: Süddeutschland in der Weimarer Republik, S. 309).

VI

Die Frankfurter Zeitung Zeigte die Frankfurter Zeitung einen leicht nationalen Anstrich, als sie sich im August 1921 mit den deutschen Reparationslasten befaßte, so setzte sie sich nach dem Mord an Erzberger kompromißlos mit der „nationalistischen Hetze", mit der reaktionären Justiz sowie der bayerischen Politik auseinander und verstärkte ihr Engagement für die soziale und demokratische Ausgestaltung der Republik. Mit Antisemitismus beschäftigte sich die Frankfurter Zeitung auch im Sommer 1921 nur beiläufig.

1. Für die Politik der Reichsregierung

Ein „Anwachsen der Opposition" hielt die Frankfurter Zeitung für wahrscheinlich, nachdem sich „der politische Erfüllungswillen der Reichsregierung" im Anschluß an das Londoner Ultimatum vom Mai 1921 „in konkreten Lasten" ausdrücken ließ und die Deutschen „zu Parias der Welt" gestempelt seien145. Da auch John Maynard Keynes in einer vielbeachteten Artikelfolge zu dem Schluß gelangt war146, Deutschland könne die ihm aufgebürdeten Lasten unmöglich tragen, das gesamte Reparationsabkommen müsse in absehbarer Zeit überarbeitet werden, meinte die Frankfurter Zeitung, „die Stellung des Kabinetts Wirth wird in den nächsten Monaten nicht leicht sein". Aber es gehe weniger um das Kabinett Wirth, als vielmehr um die Frage, „wie lange

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Frankfurter Zeitung, zweites Morgenblatt vom 21. August 1921. Die Artikelfolge von Keynes erschien seit dem 20. August in der Deutschen Allgemeinen Zeitung, die Frankfurter Zeitung befaßte sich eingehend mit den Ausführungen des britischen Nationalökonomen. 146

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

noch die deutsche Politik von republikanisch-demokratischem Geiste getragen" werde147. Überzeugt, daß bei den derzeitigen außen- und wirtschaftspolitischen Belastungen jede „demagogische Phrase" den Belangen Deutschlands nur schaden könne, daß es keine realistische Alternative zur „Erfüllungspolitik" gebe, wandte sich das Blatt — in der Aussage entschieden, im Ton verhalten — gegen die „rechtsstehende Presse" und „ihr geistiges Oberhaupt", Helfferich148: „Wenn die 'Kreuzzeitung1 als Sprachrohr der alten Konservativen vor kurzem die Dolchstoßlegende vom militärischen auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen und die Absicht, die Reparationsleistungen ernstlich zu erfüllen, als den Versuch hinzustellen wagte, nunmehr auch die deutsche Wirtschaft zu entwaffnen und den Feinden auszuliefern", dann richte sich „eine solche Kampfesweise in den Augen jedes anständig Denkenden ganz von selber"149. Eine „schlimmere Vaterlandslosigkeit" als die „Ablehnung jeder sachlichen Mitarbeit" konnte es nach Auffassung der Frankfurter Zeitung gar nicht geben. Dürfe man sich wundern, fragte das Blatt, „wenn angesichts solch nichtswürdigen Versagens die für die Geschicke des Landes verantwortlichen Männer" schließlich dazu übergehen würden, „auf das Ja oder Nein dieser Saboteure keine Rücksicht mehr zu nehmen?"150 Bei ihrer Auseinandersetzung mit der Rechten wagte sich das liberale Blatt gelegentlich weit auf „gemeinsames", nationales Terrain vor: Mit 147

Zweites Morgenblatt vom 21. August 1921. Abendblatt vom 22. August 1921. 149 Die hier zum Ausdruck gebrachte Überzeugung, die Bevölkerung würde die überzogene Propaganda der Rechten mehr oder weniger automatisch ablehnen, teilte die Frankfurter Zeitung mit allen demokratischen Organen, vor allem mit dem Vorwärts. 150 Ebd. Zu diesen „Saboteuren" zählte das Blatt auch Alfred Hugenberg, der im Berliner Lokal-Anzeiger einen zweiteiligen Leitartikel veröffentlicht hatte. Wie Hugenberg ausführte, hätte Reichstagspräsident Lobe vernünftigerweise gegen die Annahme des Londoner Ultimatums plädiert. Nachher jedoch hätten „die Scheidemänner und Erzberger in der mehrheitssozialistischen Partei" gesiegt. Die DNVP aber kapituliere nicht, sie trotze dem Londoner Ultimatum: „Unmögliches darf nicht versprochen, darf nicht in die Form von Steuergesetzen gebracht werden! Gegenüber Unmöglichem müssen wir an der Mahnung Helfferichs festhalten, die Wahrheit zu sagen und der Welt klarzumachen, daß Unerfüllbares gefordert wird" (Berliner Lokal-Anzeiger, Morgenausgabe vom 23. August 1921; der zweite Teil erschien in der Abendausgabe des folgenden Tages). 148

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dem Satz „die große Masse der Angehörigen aller Parteien sind gute Deutsche "wurde z.B. der anonym veröffentlichte Bericht „einer rheinischen Persönlichkeit" über „Nationalistische Fehlgriffe im besetzten Gebiet" eingeleitet. Nachdem der Verfasser der Bevölkerung im besetzten Gebiet „die Intensität und Reinheit ihres Deutschtums" attestiert hatte, konstatierte er einen bedauerlichen „Mangel politischer Tradition in Deutschland", der sich darin äußere, daß die beiden Rechtsparteien DNVP und DVP es wagen dürften, „den Begriff des Nationalen für sich ganz besonders in Anspruch zu nehmen". Dabei sei doch insbesondere der SPD und dem Zentrum „die Abweisung aller hochverräterischer Versuche im besetzten Gebiet [gemeint waren die separatistischen Bestrebungen] zu danken". Zwar wolle er nicht „den guten Glauben und die ehrliche Empörung" der rechtsstehenden Presse bestreiten, aber deren Rheinlandberichterstattung schade den Belangen der Bevölkerung ebenso wie die „eigentliche nationalistische Hetze [...], die von beiden Rechtsparteien leider auch [...] im besetzten Gebiet getrieben" werde151. Am Ende seiner Ausführungen befaßte sich der Autor schließlich mit der Frage, wie die Bevölkerung im Rheinland auf Antisemitismus reagiere: „Am wenigsten Einfluß" habe im besetzten Gebiet „der antisemitische Teil der deutschnationalen Propaganda. Dafür [... schmiede] das gemeinsame Schicksal der Fremdherrschaft" die Bevölkerung „doch zu sehr aneinander"152. Auch habe man im Rheinland „heute vielleicht mehr Gefühl als [...] im unbesetzten Gebiet für die erschreckende Paral151

Erstes Morgenblatt der Frankfurter Zeitung vom 26. August 1921. Als Vertreter der „rechtsstehenden Presse" wurden die Tägliche Rundschau und die Deutsche Zeitung sowie Maurenbrecher und Wulle namentlich erwähnt. Mit einer für die Frankfurter Zeitung ungewöhnlichen Polemik brachte der (unbekannte) Autor folgendes Zitat: „Die kürzliche Mitteilung des 'Berliner Tageblattes', daß Herr Wulle [...] alle Feldzüge an seinem Schreibtisch im Hinterland mitgekämpft hat, wird wohl kaum an unseren nationalistischen Stammtischen die Runde machen. Dabei hält jenes Blatt ihm mit Recht zu Gute, daß er geographisch der berufene Mann sei, über die 'Erdolchung' der Front von hinten zu urteilen" (ebd.); der Vorwärts brachte diese Sottise — ohne Bezug auf das Berliner Tageblatt — bereits in seiner Morgenausgabe vom 19. August 1921. 152 Offensichtlich empfand der Autor die (gemeinsame) Feindschaft gegenüber den französischen Besatzern als so gravierend, daß dadurch mögliche Differenzen zwischen dem „deutschen" und dem „jüdischen" Bevölkerungsteil überlagert wurden. Zu dieser Form von „Gruppenfeindschaft" vgl. Fritz Bernstein: Der Antisemitismus als Gruppenerscheinung. Versuch einer Soziologie des Judenhasses. (Nachdruck) Königstein/Taunus 1980, S. 135ff.

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

lelität der Verleumdung und Verfolgung des Boche mit der jahrhundertelangen Geschichte der Juden in West- und Osteuropa. In der Regel [... sei] die rheinische Bevölkerung auch zu weltkundig und geistig lebendig, um den grotesken Unsinn, der so oft in antisemitischen Hetzreden [... stecke], nicht herauszuspüren"153.

2. Gegen „nationalistische Hetze"

Verglichen mit der Vehemenz, mit der etwa die Freiheit, das Berliner Organ der Unabhängigen, ihren Unmut über den Miesbacher Anzeiger und seine „schmutzige Demagogie" artikulierte, war die auf Ausgleich bedachte Berichterstattung der Frankfurter Zeitung vor der Ermordung Erzbergers weit gemäßigter; die deutlich schärfere Sprache nach dem Attentat ist jedoch nicht zu übersehen: „Die Art, wie man Erzberger verfolgte, [... sei] ein Verbrechen" gewesen154; er sei ein „Opfer gemeiner Verhetzung geworden"155; der Miesbacher Anzeiger sei „ein Blättchen, dessen sich die anständigen Katholiken" schämten, aber er sei „nicht das einzige Papier, auf dem die Sprache des Stallknechts gepflegt" werde156. Aus der „Presse der Rechten, von volksparteilichen Organen bis zu dem völkischen Hetzblatte des Abgeordneten Wulle [habe sich] tagtäglich eine Flut persönlicher Verleumdungen und niederträchtiger Beschimpfungen" ergossen157; man könne von einem regelrechten „Kesseltreiben" 153

Ganz ähnlich urteilte Fritz Bernstein (ebd., S. 9) von Holland aus: „Selbst die geräuschvollen Manifestationen des nahen deutschen Antisemitismus machen trotz unzweifelhaft vorhandener Bedrohlichkeit auf Fernerstehende einen vorwiegend grotesken Eindruck und reizen nicht zu leidenschaftlicher Gegenwehr". 154 Erstes Morgenblatt vom 27. August 1921. 155 Zweites Morgenblatt vom 27. August 1921 (sinngemäß auch im Abendblatt vom selben Tag). 156 Vgl. hierzu Kirmayer: Miesbacher Anzeiger, S. 165: Als es zu einem förmlichen Verfahren vor dem Schwurgericht München wegen der zahlreichen Ausfälle des Miesbacher Anzeigers gegen Republik und Reichsflagge gekommen war, wurde der verantwortliche Redakteur mit der „Erklärung", das Blatt müsse sich aufgrund der sozialen Zusammensetzung und Bildung seiner Leser einer „derben Sprache" bedienen, freigesprochen. 157 Frankfurter Zeitung, zweites Morgenblatt vom 28. August 1921. Zur Reaktion von Reinhold Wulle auf die Ermordung Erzbergers meinte die Frankfurter Zeitung in ihrem Abendblatt vom 29. August 1921: „Der deutschnationale Abg. Wulle stellt in seinem Blatte diesen Mord als einen natürlichen Akt der Lynchjustiz hin und spricht

Die Frankfurter Zeitung

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gegen Erzberger sprechen158; sein Tod sei die „blutige Ernte der frevelhaften nationalistischen Hetze"159; Erzberger sei „nicht das erste Opfer des von den Rechtsradikalen aller Schattierungen geführten Feldzuges", und er werde „auch nicht das letzte Opfer" sein, „wenn die von einzelnen Organen der Reaktion ganz offen betriebene Mordhetze [...] unter der schweigenden Duldung der Behörden und Gerichte der Republik noch länger" anhalte160. Die am 29. August erlassene Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz der Republik kommentierte die Frankfurter "Zeitung eindeutig positiv: „Wenn eine in ihrem Wesen demokratische Regierung zu solchen außergewöhnlichen Maßnahmen" greife, dann müsse „sie der Ansicht sein, daß Gefahr drohe und eine Verzögerung nicht angängig sei". Es sei jedoch fraglich, ob die Verordnung so ausgeführt werde, wie sie gemeint sei, „daß nicht etwa nur kommunistische Hetze gegen den Staat verhindert werde, sondern auch die heute viel gefährlichere der Nationalisten". Die Redakteure der Frankfurter Zeitung sahen sich jedenfalls in einer ihnen ungewohnten Rolle: „Das hätten wir uns freilich nicht träumen lassen, daß wir selber einmal die Praxis der Staatsanwälte zu milde finden würden"161.

von den Mördern als jungen Leuten, die, wenn das Schicksal es wolle, ihr Los mit Anstand auf sich nehmen würden". In der völkisch-nationalistischen Zeitschrift Die Krone hieß es, Erzberger habe „leider noch das Glück gehabt, von einer ehrlichen Kugel gefaßt zu werden, statt den strafrechtlichen Tod des Hochverräters zu erleiden" (zitiert nach Rudolf Morsey: Matthias Erzberger (1875—1921). In: Zeitgeschichte in Lebensbildern. Mainz 1973, S. 103—112, hier 103). 158 Zweites Morgenblatt vom 28. August 1921. 159 (Einziges) Morgenblatt vom 29. August 1921. 160 Zweites Morgenblatt vom 28. August 1921. 161 Abendblatt vom 30. August 1921.

Der Vorwärts Sich dem linken Flügel der SPD verbunden fühlend, verteidigte das SPD-Zentralorgan im Sommer 1921 die Politik des Kabinetts Wirth162, suchte aber gleichzeitig eine gemeinsame Handlungsgrundlage mit der USPD und — nach dem Mord verstärkt — auch mit der KPD163. Den deutsch-völkischen Antisemitismus thematisierte das Blatt zwar häufig, kritisierte ihn aber nur als Teil rechtsextremer Propaganda.

1. Gegen „rechtsholschewistiscbe Hetze"

Hatte der Vorwärts anläßlich des „Frontkämpfertags" im Berliner Stadion noch einräumen müssen, er habe dem reaktionären Treiben in

162

Differenzen zur Reichsregierung gab es insbesondere bei der Steuerpolitik. So opponierte der Vorwärts gegen die „Entwürfe der neuen Steuervorlagen", weil mit ihnen ein Teil der Reparationslasten auf die Bevölkerung abgewälzt werde. Die gesamte erste Seite der Morgenausgabe vom 20. August stand unter der Überschrift „Erdrückende Verbrauchssteuern", die erste Seite der (Sonntags-)Ausgabe vom 21. August 1921 unter der Überschrift „Unzulängliche Besitzsteuern". 163 Legt man die politischen Aussagen des Vorwärts vom Sommer 1921 zugrunde, dann läßt sich die Bemerkung von Hagen Schulze: „Belastend für die Bereitschaft der SPD, sich entschlossen für das Weimarer Staatswesen einzusetzen", sei das traditionelle Rollenverständnis der SPD als Oppositionspartei sowie ihre Furcht vor der drohenden Konkurrenz von USPD und KPD gewesen (Die SPD und der Staat von Weimar. In: Stürmer: Die Weimarer Republik, S. 272—286 [hier S. 283]), nur bedingt aufrechterhalten. Nach der Ermordung Erzbergers suchten SPD und USPD „die Übereinstimmung in der Beurteilung der politischen Lage" (so die Presseerklärung nach einer Besprechung der Vertreter beider sozialistischen Parteien, hier zitiert nach der Morgenausgabe des Vorwärts vom 30. August 1921). Nach dieser Erklärung war gerade zum Schutz der Republik „ein gemeinsames Handeln beider Parteien zu einem unbedingten Erfordernis" geworden.

Der Vorwärts

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Deutschland zu lange zu wenig Aufmerksamkeit gewidmet164, so scheinen die Schüsse auf Erzberger ihn aus seiner Lethargie aufgeschreckt zu haben165: „Erst wenn jenes ganze Geschmeiß von Monokelträgern, Wichsstudenten und Hakenkreuzlern mit dem Revolver in der Hosentasche und Hurraschreiern von der politischen Arena hinweggefegt ist", so der Vorwärts unmittelbar nach dem Mord166, „erst dann wird die Luft in Deutschland moralisch gereinigt sein". Unter der Parole „Krieg den Mörderparteien!"167 stand der Vorwärts so sehr im Zeichen des „Abwehrkampfes der Republik"168, daß die Rote Fahne meinte, das SPDBlatt solidarisiere sich „vollkommen mit Erzberger", während die Reaktion der Zentrumspresse auf den Mord „auffallend kühl" ausfalle169. Der DNVP, der DVP170 und dem provozierenden „Treiben der blutbesudelten Hakenkreuzler und Stahlhelmleute"171, die „wohl öffentlich den Mörder verleugnen, aber gerne seinen Dolch arbeiten lassen", kündigte der Vorwärts den „schonungslosestefn], erhittertstefn] Kampf an172. „Jede

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Abendausgabe vom 25. August 1921. Nur wenige Stunden nach dem Attentat hatte der Vorwärts ein Extrablatt „Nationalistischer Mord" in Berlin verteilen lassen. 166 Morgenausgabe vom 27. August 1921 (die Germania zitierte diese Passage in ihrer Abendausgabe vom selben Tag). 167 Diese Parole war Aufmacher der Abendausgabe vom 27. August 1921. 168 Schlagzeile der Morgenausgabe vom 30. August 1921. '"Abendausgabe der Roten Fahne vom 27. August 1921. Die reservierte Haltung der Zentrumspresse erklärte die Rote Fahne mit der Absicht des Zentrums, „den Schlag als gegen Erzberger persönlich geführt darzustellen, damit das Zentrum und die Regierung Wirth den von der Konterrevolution hingeworfenen Fehdehandschuh nicht aufzunehmen" brauchten. Auch die Münchner Neuesten Nachrichten betonten das Engagement des Vorwärts: „Wenn man in den letzten Tagen die sozialistische Presse las, so konnte man meinen, Herr Erzberger sei einer der bedeutendsten sozialdemokratischen Führer, nicht aber ein Zentrumsmann gewesen" (vgl. den Kommentar „Die Republik in Gefahr?" in der Abendausgabe vom 31. August 1921). 170 Daß DNVP und DVP nach Auffassung des Vorwärts eine politische Interessengemeinschaft bildeten, spiegelt sich auch in einer Marginalie des SPD-Organs zu den Münchner Neuesten Nachrichten: Das Blatt werde jetzt „von dem bekannten Geldschatz gespeist [...], der 'nicht parteiischen, sondern nationalen Zwecken dienen soll'. Es handelt sich hier um die Gelder, die an die fünfzigprozentig deutschnationalen und fünfzigprozentig deutschvolksparteilichen Zeitungen bei genügendem Wohlverhalten abfließen" (vgl. die [Sonntags-JAusgabe vom 28. August 1921). 171 Abendausgabe vom 29. August 1921. 172 Morgenausgabe vom 27. August 1921. 165

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

Demonstration dieser Seite" wollte das SPD-Blatt „mit einer zehnfach größeren Gegendemonstration" beantwortet wissen: „Wie jene tagtäglich mit Hakenkreuz und Schwarz-weiß-rot demonstrieren, so wollen wir bei jeder Gelegenheit unser Bekenntnis zur Republik und Freiheit zur Schau tragen. Ihre provozierenden Gespräche in Straßenbahn und Eisenbahn sollen nicht stillschweigend angehört werden, sondern jeder einzelne soll den Mut haben, darauf die gebührende Antwort zu erteilen. Wir wollen bei jeder Gelegenheit zum Ausdruck bringen, daß wir in dem Tragen eines Hakenkreuzes ein offenes Bekenntnis zum Mordbanditentum sehen. [...] Eine Welle der Verachtung und des Zornes muß das gesamte feige Mördergesindel nebst seinem Anhang von der öffentlichen Bildfläche hinwegfegen" m. Einen Anstrich von „Klassenkampf" verlieh der Vorwärts dem Mord an Erzberger mit dem Hinweis, die Hauptursache dieser Bluttat sei das Steuersystem, das der ermordete Zentrumspolitiker als Reichsfinanzminister durchgesetzt habe174. Schuldig an dem Mord seien auch die nationalistisch eingestellten Richter, die im Februar 1920 einen Oltwig von Hirschfeld mit der Begründung, aus seinem Attentat gegen Erzberger spreche eine „ideale Gesinnung", zu lediglich einem Jahr und sechs Monaten Gefängnis verurteilt hatten175. Nicht minder schuldig seien jene Richter, die eine „zweimalige nachdrückliche Aufforderung zum Mord an Männern wie Professor Einstein und Hello v. Gerlach usw" mit „ganzen 1.000 M Geldstrafe" geahndet hatten: „Diese Richter, die im Banne politischer Voreingenommenheit sich nicht überwinden konnten, Mordversuch und Mordaufforderung gebührend zu bestrafen", seien „die Hauptschuldigen an der Erscheinung, daß in Deutschland sich

173

Abendausgabe vom 27. August 1921. Für das Bürgertum war nach Ansicht des Vorwärts „das neue Steuersystem mit gewaltiger Staffelung nach oben hin [...] viel schlimmer als die Friedensresolution von 1917, [...] viel schlimmer als der Waffenstillstand von 1918. In ihren heiligsten Gefühlen getroffen, erhoben sich Geldsack und Grundbesitz gegen den Mann, der es wagte, als bürgerlicher Politiker ihre Rechte auf Dividenden so schnöde zu kürzen" (Morgenausgabe vom 27. August 1921). 175 Ebd. In der Abendausgabe vom selben Tag dokumentierte der Vorwärts mit einem Zitat aus dem Amswalder Anzeiger, wie im Januar 1921 „nach dem ersten Attentat auf Erzberger [...] in der deutschnationalen Presse ganz öffentlich das Bedauern ausgesprochen [wurde], daß das Attentat nicht tödlich verlaufen sei". 174

Der Vorwärts

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eine reaktionäre Mordtat an die andere reiht". Die Hetztätigkeit der Rechtsparteien treibe Deutschland „fascistischen Zuständen"entgegen176. Dezidierter waren die Ausführungen von Otto Braun, der sich im Vorwärts mit der Frage befaßte, wie die Sozialdemokratie sich konkret verhalten solle177: „Starke Worte, Beschwörungen und Proteste" seien „nutzlos", denn dafür sei „die chauvinistisch-putschistische Verseuchung bereits zu weit vorgeschritten"178. Da es den Anschein habe, als bekämen die recht, die behaupteten, in Deutschland sei im November 1918 „nur halbe Arbeit gemacht" worden, würde Reden allein jetzt nicht mehr helfen179. „Hier kann nur die Tat helfen, nur durch brutale Rücksichtslosigkeit kann das Unheil in seinem Lauf noch aufgehalten, Deutschland vor einem blutigen Bürgerkrieg bewahrt werden". Deshalb

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Morgenausgabe vom 27. August 1921. Auch der Vorstand der SPD rief zur Demonstration im Lustgarten mit der Parole auf: „Dem Fascistenregiment der Hakenkreuzler und Stahlhelmleute muß ein Ende gemacht werden" (Ausgabe vom 28. August). 177 Vgl. seinen Leitartikel „Klarheit" in der (Sonntags-)Ausgabe vom 28. August 1921 (Teile des Artikels sind abgedruckt bei Schulze: Otto Braun, S. 341f.). 178 Braun verwies u.a. auf die unzähligen Fälle, in denen die neue Reichsflagge als Symbol der Republik „offen in den Schmutz getreten" wurde. So habe sich „ein von der Republik bezahlter Pfarrer" geweigert, „unter der Fahne der Republik" eine Gedenkrede für die Kriegsopfer zu halten: „Wir müssen ferner sehen, wie die Marine weiter mit der schwarz-weiß-roten Flagge fährt und hohnlachend sich auf ihre Berechtigung, diese Flagge bis zum 1. Januar 1922 zu führen, berufen kann", so Braun, „weil unsere Industrie offenbar so leistungsunfähig ist, daß sie zwei Jahre zur Anfertigung der neuen republikanischen Flaggen braucht". 179 Diese Formulierung bezog sich auf einen in der Öffentlichkeit stark beachteten Artikel der „rechtssozialistischen Stampferschen Korrespondenz" (so die Terminologie der Roten Fahne): „Vielleicht", hieß es in der Korrespondenz, „trifft uns alle ein Teil von Schuld an dem an Erzberger verübten Meuchelmord. Wir sind, wie es scheint, nach der Revolution viel zu anständig gewesen: wenn ein paar von den Hauptschuldigen am Unglück des deutschen Volkes, die sich heute am frechsten gebärden, wenn die Helfferich und Ludendorff, wenn die Westarp und Tirpitz Bekanntschaft mit der Laterne gemacht hätten, nun, dann wäre wahrscheinlich seitdem viel weniger Blut geflossen, als wir es leider [...] erleben mußten" (zitiert nach der Roten Fahne, Abendausgabe vom 2. September 1921). Der Völkische Beobachter griff diese Ausführungen natürlich auf: „Die Sozialistische Korrespondenz des Juden Stampfer schreibt neuerdings, es sei ein Fehler gewesen, daß man Tirpitz, Ludendorff und andere nicht an die Laterne gehängt habe. Keine Aufforderung zum Mord? Nein, das ist die Sprache Preuß-Brauns-Gradnauer und der Wirth-Germania! Infolgedessen ist sie verfassungsmäßig" (Ausgabe vom 14. September 1921).

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IV. Matthias Erzherger: Offer nationalistischer Hetze

brauche die SPD unbedingt Klarheit, „ob die bürgerlichen Mittelparteien zu dieser Tat bereit" seien180: „Die Sozialdemokratische Partei kann nicht eine Stunde länger die Mitverantwortung tragen für eine Politik, die den Totengräbern der Republik und der Demokratie einen Freibrief gewährt und die Verteidiger der Republik den deutschnationalen Staatsanwälten und Meuchelmördern als Freiwild ausliefert. Es ist unerträglich für die Partei, daß ein sozialdemokratischer Reichsinnenminister länger die Verantwortung für die Außerkraftsetzung wichtiger verfassungsmäßiger Rechte in Bayern und Ostpreußen trägt181, die diese Gebiete zu Schlupfwinkeln der verbrecherischen nationalistischen Elemente macht und den dortigen reaktionären Gewalthabern die Möglichkeit gibt, den Kampf gegen die Republik zu fördern und das tatkräftige Eintreten für Republik und Demokratie zu unterbinden"182.

2. Leichtfertiger Umgang mit Antisemitismus? Otto Braun hatte zwar „die verhängnisvolle Indolenz der verantwortlichen Stellen gegenüber dem verbrecherischen selbstsüchtigen Treiben der Rechtsbolschewisten" gerügt, aber daß Antisemitismus wichtiger Bestandteil dieses Treibens war, hatte er — im Gegensatz zu zahlreichen anderen Artikeln im Vorwärts — nicht erwähnt. Geht man davon aus, daß die Häufigkeit, mit der ein Thema in den Zeitungen behandelt wird, Indikator für dessen tatsächliche Relevanz ist oder wenigstens anzeigt, welche Bedeutung einzelne Redaktionen diesem Thema beima-

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Braun rechnete in seinem „flammenden Aufruf" (Schulze: Otto Braun, S. 341) die DVP nicht zu den „Mörderparteien", sondern versuchte, Fühler zur DVP auszustrecken, um in Preußen das Minderheitskabinett Stegerwald durch eine Große Koalition unter Einschluß der DVP zu ersetzen (vgl. ebd., S. 342f.). 181 Hier „vergaß" Otto Braun, das über Mitteldeutschland verhängte Ausnahmerecht zu erwähnen; beifällig registrierte der Vorwärts den „Abbau des Ausnahmezustandes" in Ostpreußen (Morgenausgabe vom 30. August) und die Aufhebung des Ausnahmezustandes in Mitteldeutschland, „soweit er zurzeit noch besteht" (Morgenausgabe vom 31. August). In seiner Morgenausgabe vom 1. September konnte der Vorwärts endlich auch die Aufhebung des Belagerungszustandes in Ostpreußen melden: Damit war die Voraussetzung geschaffen, um glaubwürdiger gegen den permanenten Ausnahmezustand in Bayern argumentieren zu können. "2 (Sonntags-)Ausgabe vom 28. August 1921.

Der Vorwärts

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ßen, dann dokumentieren die vielen Hinweise, die sich im Vorwärts zum Antisemitismus finden, wie präsent Antisemitismus 1921 war. Bevorzugt bediente sich der Vorwärts antisemitischer Zitate aus dem Miesbacher Anzeiger, der Deutschen Zeitung und dem inzwischen von Wulle herausgegebenen Deutschen Tageblattm, um zu belegen, daß die Pressefreiheit von der Reaktion genutzt werde, um „Tag für Tag Jauchekübel der niedrigsten Schimpferei gegen die Regierung zu gießen"184. Trotz aller Beschimpfungen der Reichsregierung als „Judenregierung", mochten sie von Deutschnationalen185, von Mitgliedern der Arbeitsge-

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Herausgeber der Deutschen Zeitung war Heinrich Claß, der seine völkisch-nationalistischen Ideen unter dem Pseudonym Daniel Frymann (Wenn ich der Kaiser war' — Politische Wahrheiten und Notwendigkeiten. Leipzig 1912) veröffentlicht hatte. Anfang 1920 war es zum ersten Konflikt zwischen Claß und seinem Chefredakteur Wulle gekommen, nachdem Wulle Organisationen wie den Deutschvölkischen Arbeitsring und den Deutschen Herold außerhalb des unter dem Einfluß von Claß stehenden Alldeutschen Verbandes und des ihm angegliederten Schutz- und Trutzbundes aufgebaut hatte. Im Dezember 1920 begründete Claß sinkende Verkaufszahlen der Deutschen Zeitung mit den parlamentarischen und parteipolitischen Aktivitäten Wulles und ersetzte ihn durch Max Maurenbrecher. Daraufhin gründete Wulle im Frühjahr 1921 Das Deutsche Tageblatt als direkte Konkurrenz zur Deutschen Zeitung (vgl. Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 284f.). 184 Morgenausgabe vom 30. August 1921. Als Beispiel brachte der Vorwärts eine Passage aus dem Miesbacher Anzeiger zum „Entwaffnungsgesetz", die von der Deutschen Zeitung vor wenigen Tagen „ohne jeden ersichtlichen Grund" nachgedruckt worden war: „Funkspruch an alle Sau- und Regierungsjuden an der Panke, Dahme, [...] an der Havel und an der dreckigen Spree. Mit Eurem Entwaffnungs- und Entmannungsgesetz wischen wir uns die [...] Wollt Ihr's darauf ankommen lassen, dann kommt nur selber herunter, und hernach werden wir ja sehen, ob uns die beschnittenen Eunuchen der Entente Gewalt antun können. Vorläufig aber regen wir uns nicht darüber auf. Wir lassen die Berliner Saujuden gebieten und verbieten und lachen dazu. Bei uns in Bayern ist alle Tage Kirchweih, zu der die Machthaber an der Spree eingeladen sind. Es soll nur so ein galizischer Peikesjud' [gemeint war offenbar ein „Peiesjud"] kommen und uns entwaffnen wollen — den schlagen wir, daß er in keinen Sarg mehr hineinpaßt" (dieser Beitrag von Ludwig Thoma ist abgedruckt in Thoma: Beiträge aus dem „Miesbacher Anzeiger", S. 18Iff.). 185 Folgende Beispiele vom Parteitag der DNVP brachte der Vorwärts in seiner Morgenausgabe vorn 2. September 1921: Hilpert meinte zur deutschnationalen Propaganda in Bayern, „wir rufen zwar laut: 'Los von Berlin!', damit meinen wir aber das Berlin Scheidemanns, der Schieberzentrale (stürmischer Beifall), die Talmipreußen, nicht aber den alten Preußengeist". Der Abgeordnete Franz Behrens forderte: Der

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

meinschaft Roßbach186 oder von den Deutschvölkischen stammen187, die Eigenart des Vorwärts, Antisemitismus als integralen Bestandteil reaktionären Ideologiekonglomerats darzustellen und ihn als solchen auch scharf zu kritisieren, ist zwar unübersehbar, aber Antisemitismus als gesellschaftliches Phänomen, losgelöst von parteipolitischer Kontroverse und Polemik, war auch im Sommer 1921 für das SPD-Blatt kein Thema188. Wenn der Vorwärts nach der Ermordung Erzbergers schrieb, „an der Judenlegende seiner Gegner" sei „auch nicht das kleinste Körnchen Wahrheit", um damit zu unterstreichen, daß Erzberger „dem Stamme

„Marxismus und Materialismus muß durch lebendigen deutschen und christlichen Geist ersetzt werden. Von einer Regierung, die sich mit Sozialisten und Juden verbündet, ist das nicht zu erwarten". Martin Spahn, erst nach der Ermordung Erzbergers vom Zentrum zur DNVP übergetreten, forderte: „Beginnen wir den Befreiungskrieg gegen alles, was undeutsch ist" (zum spektakulären Übertritt Spahns zur DNVP vgl. Morsey: Zentrumspartei, S. 404). 186 Beim Abzug aus Litauen bildete das Freikorps Roßbach die Nachhut aller Freikorpsverbände. Aufsehen erregte, daß Roßbach es sich nicht nehmen ließ, kurz vor Erreichen der ostpreußisch-litauischen Grenze noch einen spektakulären Gegenangriff zu beginnen, um Gefangene seines Korps zu befreien (vgl. Schulze: Freikorps, S. 196). Nachdem Mitglieder der Arbeitsgemeinschaft Roßbach — „angeblich zur Sicherung der Ernteeinbringung" — in den schlesischen Kreis Trebnitz gebracht worden waren, zitierte der Vorwärts aus der Kleinen Anfrage eines sozialdemokratischen Abgeordneten: „Die Angehörigen der Arbeitsgemeinschaft Roßbach machten sich vom ersten Tage an durch provozierendes Benehmen gegenüber der Arbeiterschaft und der verfassungstreuen Bevölkerung bemerkbar, drohten, es ähnlich zu machen wie in Pommern, den Landarbeitern die Schädel einzuschlagen, und erklärten, daß sie zu gegebener Zeit nach Berlin müßten, um die Judenregierung herunterzuholen" (Morgenausgabe vom 31. August 1921). Zu den als „Arbeitsgemeinschaften" getarnten, insbesondere auf ostdeutschen Gütern untergebrachten Mitgliedern aufgelöster Freikorps vgl. auch Garsten: Reichswehr und Politik, S. 168ff. 187 Die Begriffe „Deutschvölkisch", „Deutschnational" und „Rechtsbolschewistisch" benutzte der Vorwärts oft synonym; vgl. z.B. den Artikel „Wie sie hetzten!" (Abendausgabe vom 30. August 1921), in dem „über die deutschnationale Mordhetze gegen Erzberger" auf einer „rechtsbolschewistischen Versammlung" berichtet wurde. 188 Maurer: Ostjuden, S. 225 wirft der SPD vor, nicht genügend gegen den Antisemitismus getan zu haben, und konstatiert, daß selbst bei den sozialdemokratischen Parteien antisemitischer Einfluß spürbar gewesen sei (ebd., S. 402 und 765). Auch die Rote Fahne habe die Juden nur als politische Kombattanten verteidigt (ebd., S. 227).

Der Vorwärts

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nach Schwabe" war189, dann läßt sich diese Bemerkung nur als fragwürdiger Versuch einer vermeintlich notwendigen Ehrenrettung verstehen. Von unreflektiertem Sprachgebrauch und einem fahrlässigen Umgang mit antijüdischen Stereotypen zeugt auch eine Polemik gegen die Deutschvölkischen. Wie das SPD-Blatt ausführte, hätten die Deutschvölkischen „der Deutschnationalen Partei oft den Vorwurf gemacht [...], daß ihr Antisemitismus einen verdächtigen Beigeschmack habe, weil die Deutschnationale Partei mit 'Judengeld1 finanziert werde"190 Um nun zu dokumentieren, daß der Antisemitismus der Deutschvölkischen denselben „Beigeschmack" habe, verwies der Vorwärts darauf, daß zwei Millionen Mark des zusammengebrochenen Köhn-Wettkonzerns auf ein Konto bei der Deutschvölkischen Bank eingezahlt worden seien. Die Pointe, mit der das SPD-Zentralorgan seinen Artikel „Die Geldgeber der Deutschvölkischen" abschloß, wird jedenfalls kaum einen Vorwärts-Leser zum bewußteren Umgang mit antijüdischen Stereotypen angehalten haben: „Köhn (er heißt wirklich Köhn, nicht Kohn!) scheint die Psychologie der Juden studiert zu haben an den deutschvölkischen Kreisen, zu denen er selber gehört". Selbst wenn der Vorwärts mit diesem Satz ausgedrückt hatte, daß ein „deutscher Köhn" sich nicht unbedingt von einem „jüdischen Kohn" unterscheiden mußte — das, was sie beide verband, war nach Aussage des Vorwärts „die Psychologie der Juden", und die hatte das SPD-Organ keineswegs in Anführungszeichen gesetzt191.

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Morgenausgabe vom 27. August 1921. Auch Hitler (Zweites Buch, S. 104) sprach davon, daß Erzberger „nach verschiedenen Behauptungen außerehelicher Sohn eines Dienstmädchens und eines jüdischen Dienstherrn" gewesen sei. 190 Vorwärts, Abendausgabe vom 22. August 1921. 191 Daß über diesen Sachverhalt auch korrekter berichtet werden konnte, zeigt der Schlußsatz, mit dem die Rote Fahne ihre Notiz „Deutschvölkische Geschäfte" auf den Punkt brachte: „Wahrlich ein schwerer Schlag für die Deutschnationalen und Antisemiten, die sich hier auf 'Geschäfte' eingelassen haben, die man nur bei den 'eingewanderten Galiziern der Münz- und Grenadierstraße' gewohnt ist" (Morgenausgabe vom 20. August 1921).

vm Die Rote Fahne Häufiger und vehementer als andere Zeitungen lehnte die Rote Fahne 1921 jegliche Form von Antisemitismus ab; die Tendenz, Antisemitismus in der parteipolitischen Auseinandersetzung zu instrumentalisieren, läßt sich aber auch beim Zentralorgan der KPD nicht übersehen. Daneben zeichnete sich die Rote Fahne vor allem durch ihr Bemühen aus, eine proletarische „Einheitsfront" mit den sozialdemokratischen Parteimitgliedern herzustellen192.

L Der Marxismus als „neuer Golem" Eine ausgesprochen positive Bewertung jüdischer Tradition und Mythologie gab die Rote Fahne, als sie in einem Beitrag über die von Chajim Bloch edierte Sage des Prager Golems Karl Marx mit dem Rabbi Löw, dem „Schöpfer" des Golems, verglich193: Ähnlich dem Golem, der einst „zur Rettung der geknechteten, ungerecht des Mordes beschuldigten Judenschaft zu Prag" geschaffen worden sei, habe „der neue Rabbi Löw", Karl Marx, „aus dem Urstoff der deutschen Philosophie und der Französischen Revolution" einen neuen Golem, den Marxismus, ge-

192

Nach dem Debakel des „Märzaufstandes" hatte sich die Mitgliederzahl der KPD von 350.000 auf die Hälfte reduziert (Angress: Kampfzeit der KPD, S. 205 sowie S. 254, Anm. 55). Eine Konsequenz aus dieser Entwicklung zog der III. Kongreß des EKKI im Juni/Juli 1921, als er die KPD auf die Neue Ökonomische Politik (NEP) Sowjetrußlands festlegte und einen „modus vivendi mit den kapitalistischen Staaten" suchte (Flechtheim: Die KPD in der Weimarer Republik, S. 130). Die KPD mußte ihre „revolutionäre Gymnastik" (Clara Zetkin) aufgeben und ging zur „Missionsarbeit" über (Angress: Kampfzeit der KPD, S. 229). 193 Chajim Bloch: Der Prager Golem. Von seiner „Geburt" bis zu seinem „Tod". Berlin 1920. Der Golem, ein im 16. Jahrhundert aus Lehm geschaffener Homunkulus, sollte die Prager Judenschaft vor ungerechtfertigter Verfolgung schützen.

Die Rote Fahne

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formt und ihm als Sehern, als göttliches Wort, den Zauberspruch „Proletarier aller Länder, vereinigt euch!" in den Mund gelegt194. Da sich die Sage des Prager Golems „in Deutschland bekanntlich großer Beliebtheit" erfreute und „schon zu Anfang des Krieges [...] die mystische Lehmfigur in allen Kinos" zu sehen war, konnte die Analogie zwischen Rabbi Low und Karl Marx, zwischen den verfolgten Prager Juden und den unterdrückten Proletariern, kaum anders denn als bewußte Parteinahme für die jüdische Minderheit verstanden werden195. Selbst wenn im einzelnen nicht genau zu klären ist, ob die Solidarisierung der Roten Fahne mit gesellschaftlichen Gruppen, die als „Juden" oder „Israeliten" stigmatisiert wurden, auf einer zumindest partiellen Identifikation mit den spezifischen Eigenheiten und politischen Zielsetzungen der diffamierten Gruppen basierte, so ließ doch das Selbstverständnis der KPD als Kampforganisation für das internationale Proletariat im Sommer 1921 für Rassismus keinen Raum196. Aber obwohl die

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Rote Fahne, Abendausgabe vom 22. August 1921. Die Intention des Autors, Parallelen zwischen dem 16. Jahrhundert und der Gegenwart aufzuzeigen, ist evident: Es sei „ein verifiziertes Stück der Golemsage, [...] daß einst zwei Bäckergesellen, angestiftet von mittelalterlichen, beamteten Antisemiten, das ungesäuerte Brot der Prager Judengemeinde vergifteten, um das dadurch verursachte Sterben den Bewohnern des Ghetto in die Schuhe schieben zu können und Pogromluft zu schaffen. So wirkte auch damals schon der 'Geist der Ordnung'". I% Daß die Rote Fahne sich sogar mit „christlichen Erweckungsbewegungen" solidarisieren konnte — wenn sie einen Sozialrevolutionären Charakter hatten —, belegt der Abdruck eines Artikels aus der Newyorker Volkszeitung: Ein „gebildeter Eingeborener" nach seinem Selbstverständnis ein „Prophet", hatte in Südafrika eine Anzahl Gleichgesinnter um sich gesammelt, „die sich als eine christliche Gemeinde betrachteten". Sie schufen sich eigene sanitäre Einrichtungen, einen eigenen Gesetzeskodex, betrieben Landwirtschaft und weigerten sich, Steuern zu zahlen. „Dieses durchaus erfolgreiche kommunistische Experiment" fand natürlich nicht den Beifall südafrikanischer Landbesitzer, deren Arbeitskräfte sich von der „Kommune" angezogen fühlten. Eine Deputation der Grundbesitzer erklärte den Regierungsbehörden in Queenstown, es handele sich hier um eine „Bande gefährlicher Fanatiker", um „Israeliten"; kurz darauf wurde die Siedlung vom Militär zerstört. Auch in diesem Falle solidarisierte sich die Rote Fahne mit den „Israeliten", jedoch nicht, ohne abschließend den „richtigen" Standpunkt darzulegen: Den „proletarischen Eingeborenen Südafrikas" werde die Erinnerung an die „Israeliten-Kommune" als „ein Leitstern voranleuchten, um ihnen den Weg zur Befreiung zu zeigen, und [...] dazu beitragen, daß sie sich mit ihren weißen Mitsklaven verbinden, um das kapitalistische System zu vernichten und den Kommunismus einzuführen. Begeisterung und Führung suchend nicht bei Jeho195

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

Rote Fahne alle politischen Äußerungen der „Orgesch", der Einwohnerwehr, des Stahlhelms, des Freikorps Roßbach oder anderer antisemitischer Gruppierungen sorgfältig registrierte197, eine eingehendere Beschäftigung mit deren Antisemitismus war damit nicht verbunden198. „Die 'Frontkämpferschupo' als Beschützer der ^-Demonstranten" lautete die Überschrift, unter der das Blatt z.B. einen Augenzeugenbericht über antisemitische Ausschreitungen auf dem Kurfürstendamm wiedergab: Im Anschluß an den „Frontkämpfertag" hätten sich „etwa 3000 Hakenkreuzler" zum Kurfürstendamm begeben, „wo sich ein Trupp Soldaten mit Stahlhelmen vom 'Eisernen Freiwilligen Korps' an der Spitze des Zuges" besonders hervorgetan habe. Die Stahlhelm-Soldaten hätten Lieder wie „Schmeißt die Juden raus aus unserem deutschen Lande, nach Palästina hin, simm simm. Wir wollen keine Judenrepublik, schlagt die Juden tot", „Deutschland, Deutschland über alles" und „Heil dir im Siegerkranz" gesungen199. „Ungefähr 30 berittene Schutzpolizisten" hätten die Demonstranten von beiden Seiten gedeckt und so mit ihnen „gemeinsame Sache" gemacht. Diesem Bericht hängte die Rote Fahne einen kurzen Kommentar an, in dem sie den ihr politisch relevanten Kern der Ausschreitung herausstellte: „Ein Teil der Schupo fungiert [...] als Ordner und Beschützer der preußischen Offizierskamarilla. Sie verprügelt Arbeiter, die es wagen, eine Monarchistendemonstration in der 'freiesten Republik' zu stören. [...] Für die Arbeiterschaft aber ist der geschilderte Vorgang ein bedeutsames Symptom für die immer frecher und planmäßiger auftretende Konterrevolution. Sie muß hieraus unverzüglich ihre Lehren ziehen, wenn sie nicht eines Morgens auf den

va, sondern in der Gerechtigkeit der Arbeitersache" (Abendausgabe vom 25. August 1921). 197 Vgl. etwa den Aufruf der KPD „Heraus zum Massenaufmarsch in Potsdam" (Morgenausgabe vom 28. August 1921) oder die Aufrufe zur Demonstration im Berliner Lustgarten (Abendausgabe vom 29. und Morgenausgabe vom 31. August 1921). 198 Daß die Rote Fahne Antisemitismus, zumal wenn er rassistisch begründet war, bestenfalls mit Ironie zur Kenntnis nahm, zeigt eine kurze Glosse über den Erzberger-Attentäter Oltwig von Hirschfeld, der, wie die Rote Fahne lakonisch schrieb, „sicher aus rein arischem Blute" sei, „seitdem sein Urgroßvater das 'feld' und sein Großvater das 'von1 erhielt" (Morgenausgabe vom 1. September 1921). 199 Morgenausgabe vom 26. August 1921.

Die Rote Fahne

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weißen Bajonetten des von der Goltz und Ludendorff aufwachen will"200.

2. Der Mord und das schwierige Verhältnis zur SPD201 „Die Konterrevolution gibt das Signal!" überschrieb die Rote Fahne ihre erste Meldung über die Ermordung Erzbergers202: „Erzberger war der monarchistischen Reaktion bis aufs Blut verhaßt", denn er, der während des Krieges „solange an den Sieg des deutschen Kapitals glaubte", suchte später „einen 'Verständigungsfrieden1. Das machte ihn den kriegslüsternen Monarchisten verhaßt". Nach dem politischen Zusammenbruch 1918 sei Erzberger „für die bürgerlich-demokratische Republik [...] als der für die Bourgeoisie günstigsten Liquidation der proletarischen Revolution [eingetreten]. Er wußte, daß die Bourgeoisie dem Proletariat gewisse Zugeständnisse machen müsse, um die Entfaltung der revolutionären Kräfte der Arbeiterklasse zu verhindern. Deswegen haßte ihn die Rechte, die den Arbeitern keinerlei Zugeständnisse ma-

200

Ebd. Auch dies ist ein Beispiel dafür, daß es der Roten Fahne weniger wichtig war, den offenen Antisemitismus der „Hakenkreuzler" zu thematisieren als vor der „Konterrevolution" zu warnen. 201 Kurz nach der Ermordung Erzbergers hatte die Rote Fahne zu einer großen Protestkundgebung gegen die in Potsdam geplante Tannenbergfeier aufgerufen (Morgenausgabe vom 28. August 1921): „Die USPD ruft gleich uns die Massen zum Kampf auf, die SPD folgt". Darauf antwortete der Vorwärts, die Rote Fahne bilde sich ein, „daß sie an dem Feuer tiefster Empörung der deutschen Arbeiter ihr Schmutzsüppchen kochen" könne. „Wir müssen es uns verbitten", so der Vorwärts, „von den Kommunisten eingeladen zu werden. Wir verzichten dankend darauf" (so die [Sonntags-JAusgabe vom 28. August). Am 30. August beargwöhnte der Vorwärts noch die „verdächtige Einheitsfreude" der KPD, belehrte dann in der Morgenausgabe des nächsten Tages die Kommunisten, die „aus den Erfahrungen des März 1920 [...] gelernt haben [sollten], daß putschistische Streiche von links das beste Mittel sind, der schon geschlagenen Reaktion aus der Patsche zu helfen", meinte aber gleichzeitig: „Wie immer, wenn es gegen rechts geht, wird von der reaktionären Presse der Bolschewistenschreck aus der Versenkung geholt". Und wiederum nur einen Tag später (Morgenausgabe vom 1. September) stellte der Vorwärts fest, „jedes politische Wickelkind [wisse], daß es keine kommunistische Gefahr mehr" gebe, und fuhr fort, da „unsere Kommunisten [...] zahm geworden" seien, könne man mit ihnen auch gemeinsam für die Republik demonstrieren. 202 Morgenausgabe vom 27. August 1921.

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IV. Matthias Erzberger: Opfer nationalistischer Hetze

chen wollte. Das Produkt dieser Einsicht war sein Steuerprogramm". Die Kommunisten hätten in Erzberger zwar „nie einen Vertreter der Interessen der Arbeiterschaft" gesehen, aber mit dem Mord habe „die Gegenrevolution das Signal zum Lossturm der Horden der Reaktion auf das Proletariat über die Leichen der Koalitionsregierung hinweg" gegeben. Die Justiz der Republik, das schien dem Blatt sicher, „wird die Mörder Erzbergers vor Strafe zu schützen suchen, wie sie alle konterrevolutionären Mörder, alle reaktionären Feinde der Republik geschützt hat"203. Hatte die Rote Fahne vor dem Mord die Zurückhaltung der beiden sozialistischen Parteien gegenüber dem „Orgeschrummel" kritisiert204 und ihnen vorgeworfen, sie würden „die Schranken der kapitalistischen Wirtschaft und Finanz" respektieren205 und wie alle anderen bürgerlichen Parteien politische Fragen „isolieren und möglichst auf das rein parlamentarische Gebiet" überleiten, um durch „allerlei Künste und Verabredungen hinter den Kulissen [...] die politische Aktivität der Massen abzudämpfen"206, so schlug das Zentralorgan der KPD unmittelbar nach der Ermordung Erzbergers „Alarm!"207 und streckte vorsichtige Fühler zu den Sozialisten aus, um „gemeinsam mit den Proletariern der SPD und USPD die Demonstration der Konterrevolutionäre in Potsdam" zu verhindern und die „proletarische Einheitsfront" aufzubauen208. Die blutige Demonstration in Potsdam betrachtete die Rote Fahne zwar als „Bluttaufe der neuen proletarischen Einheitsfront"209, konnte aber die tiefe Kluft zwischen den Organisationen der Arbeiterbewegung nicht übersehen: „Leider versuchte der 'Vorwärts1, der zwei Tage lang die Sprache eines Arbeiterblattes geführt hatte, [...] die sich

203 2M

Ebd.

So z.B. im Beitrag „Orgesch im sozialistischen Sachsen" (Abendausgabe vom 24. August 1921). 205 Vgl. den Kommentar „Der Weg der Partei" von A[ugust] Thalheimer (Abendausgabe vom 19. August 1921). * Vgl. die Ausführungen von Ernst Meyer zur „Steuerfrage" (Morgenausgabe vom 19. August 1921). 207 So die Überschrift eines Kommentars in der Morgenausgabe vom 27. August 1921. JOB Vgl. den Aufruf „Massen heraus! An die arbeitende Bevölkerung Groß-Berlins!" (Abendausgabe vom 27. August 1921). 209 So die Überschrift des Kommentars in der Abendausgabe vom 29. August 1921.

Die Rote Fahne

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vereinigenden Massen zu zersplittern"210. Und auch die Kundgebung für die Republik im Lustgarten verbuchte das Zentralorgan der KPD nicht unbedingt als Erfolg, obwohl Berlin „zu keiner Zeit und bei keinem Anlaß [...] einen solchen Massenaufmarsch der Arbeiterschaft gesehen" habe: „Der große einheitliche Gedanke, das große einheitliche Ziel! Der revolutionäre Charakter der Demonstration, er kam äußerlich nicht zum Ausdruck! Die roten Fahnen überall in den Zügen allein tun es nicht, und haben es noch bei keiner Demonstration getan. Auf das Kampfziel, die innere Geschlossenheit der Demonstranten kommt es an, und die fehlte [...] im Lustgarten vollkommen"211. Sucht man nach einer Erklärung, warum eine „Einheitsfront" zwar zwischen den Anhängern der Linksparteien möglich war, nicht aber zwischen den Parteispitzen, dann zeigt die unterschiedliche Einstellung von Kommunisten und Sozialisten zur parlamentarischen Demokratie die prinzipielle Grenze eines solchen Bündnisses; konträr war auch die Einschätzung der Verordnung zum Schutz der Republik: Stand die SPD vorbehaltlos hinter dieser Verordnung, so sah die Rote Fahne darin eine „neue Gefahr", eine Ausdehnung des Belagerungszustandes, „der bis jetzt über einen Teil des Reiches verhängt war, in abgeschwächter Form auf das ganze Reich"212. Mit der Verordnung habe die Republik „zu ihrer 'Notwehr gegen die Reaktion' eine scharfe und gefährliche Waffe" geschaffen, aber „sie den Mächten der Reaktion selbst in die Hand" gedrückt213. „Da die Durchführung des Erlasses in den Händen der monarchistisch gesonnenen Beamten in den Verwaltungsbehörden und den

210

Ebd. So der Kommentar „Der Massenaufmarsch im Lustgarten" (Morgenausgabe vom 1. September 1921). 212 Dieser Kommentar erschien in der Abendausgabe vom 30. August 1921 unter der Überschrift „Die neue Gefahr". 213 Ebd. 211

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

nicht weniger reaktionären Gerichten liegt, wird der Erlaß ausschließlich gegen die Kommunisten angewandt werden", meinte das Blatt214.

214

Morgenausgabe vom 1. September 1921. Nachdem ein Redakteur der Roten Fahne wegen seines Artikels „Klassenjustiz" zu drei Monaten Gefängnis verurteilt worden war, befaßte sich das Blatt in der Morgenausgabe vom 26. August 1921 ausführlich mit der deutschen Justiz: „314 Morde an Arbeitern sind nur mit 31 Jahren, 3 Monaten Haft 'gesühnt' worden, während wegen 13 im revolutionären Kampf getöteter Reaktionäre 176 Jahre, 10 Monate Zuchthaus über Arbeiter verhängt und 8 Todesurteile ausgesprochen wurden". Da der Vorwärts nur fünf Tage später aus der Schrift von J. Gumbel (Zwei Jahre Mord) vergleichbare Zahlen referierte, erstaunt, daß das SPD-Blatt die Kritik der Roten Fahne an der deutschen Justiz leichtfertig abtat.

IX „Erhebungsphase 1921": Zusammenfassung

Auf die Ermordung Erzbergers reagierten die deutschen Zeitungen ausgesprochen unterschiedlich: Während einige rechtsextreme Blätter den Mord als verständliche „Lynchjustiz" begrüßten, distanzierten sich die gemäßigteren deutschnationalen Blätter davon, nahmen den Mord aber zum Anlaß, um Erzberger schonungslos zu kritisieren. Diese Kritik ging nahtlos über in eine grundsätzliche Kritik der Politik der Weimarer Koalition seit 1918. Die regierungsnahen und linksstehenden Blätter sahen demgegenüber im Mord ein Signal für den konterrevolutionären Sturm auf die Republik. Mit Ausnahme der Roten Fahne begrüßten diese Zeitungen ausdrücklich die am 29. August erlassene Verordnung zum Schutz der Republik und forderten deren konsequente Anwendung gegen die republikfeindliche Hetze von rechts. Die rechtsstehenden Blätter lehnten die Verordnung mit der Begründung ab, sie widerspreche zentralen Verfassungsrechten. Diese Ansicht vertrat auch die Bayerische Staatsregierung, die sich weigerte, ein von der Reichsregierung ausgesprochenes Verbot bayerischer Zeitungen zu vollziehen. Hatte die Reichsregierung sich vor dem Militärputsch 1920 vor allem vorhalten lassen müssen, sie lehne demokratische Wahlen ab, weil sie um ihre Mehrheit fürchte, so lautete der Vorwurf nach der Ermordung Erzbergers, sie setze Verfassungsrechte außer Kraft, weil sie keine andere Möglichkeit mehr sehe, sich gegen die breite Oppositionsströmung zu behaupten.

1. Das Ereignis: Die Ermordung Erzbergers Im August 1921 agitierte der Völkische Beobachter in fast jeder Ausgabe gegen den „Zentrumsjuden" Matthias Erzberger. Zum Mord selbst meinte das „Kampfblatt der nationalsozialistischen Bewegung Großdeutschlands" knapp und lakonisch, „blitzschnell" habe „das rächende

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

Schicksal" Erzberger wieder „zurück in die Tiefe" gewirbelt. Schuld an seinem Tod sei ausschließlich er selbst: „An seiner skrupellosen Eitelkeit ging er zugrunde, an nichts anderem". Auch die Münchner Neuesten Nachrichten fanden kaum Worte des Bedauerns über diesen Mord. Der ehemalige Reichsfinanzminister sei zwar „einem Verbrechen zum Opfer gefallen", und das „menschliche Gefühl" verurteile eine solche Tat, aber trotz aller „Ehrfurcht vor dem Tode" müsse man die Dinge so sehen, wie sie sind. Dann entfaltete das — inzwischen von einem Industriekonsortium aufgekaufte — Blatt das Bild eines Politikers, der, von Ehrgeiz und „rücksichtslosem Vorwärtsdrängen" getrieben, schon als junger Abgeordneter „ernsthafte Krisen im Zentrum" verursacht habe. Die nächsten Posten seines Schuldkontos sahen die Münchner Neuesten Nachrichten in der „verhängnisvollen 'Friedensresolution1", dem Waffenstillstandsvertrag und der Finanzreform. Kurz: Erzberger sei einer „der größten Schädlinge des deutschen Volkes", und man habe keinen Anlaß, „dem Toten zu verzeihen, was der Lebende an der Nation verbrach". Allerdings räumten die Münchner Neuesten Nachrichten ein, „daß die Haltung einiger Blätter der Rechtsultras anläßlich der Ermordung Erzbergers menschlich widerwärtig war". Mochte der Berliner LokalAnzeiger zunächst auch nicht ausschließen, daß „Wegelagerer gewöhnlichen Schlages" die Tat verübt hätten, so war das Blatt doch überzeugt, daß die „größere Wahrscheinlichkeit" für einen politischen Mord an einem der Männer spreche, „die von großen Kreisen des deutschen Volkes mit in erster Reihe für den furchtbaren Zusammenbruch des Reiches verantwortlich gemacht werden". Die Kommunisten, die Unabhängigen und die Mehrheitssozialisten, „die jeden Rechtsbruch, wenn sie ihn nur als 'revolutionären Akt1 firmieren können, beschönigen und verteidigen", würden jetzt „die volle Schale ihrer [...] Entrüstung" über die Parteien ausgießen wollen, „die sie für die Ermordung Erzbergers verantwortlich machen möchten". Aber, so der Lokal-Anzeiger, gerade diese Parteien seien „am allerwenigsten berechtigt, in diesen Dingen den Sittenrichter zu spielen". Die BZ zählte zu den Zeitungen, die vor allem die jahrelange Pressehetze gegen Erzberger für den Mord verantwortlich machten. In einem Kommentar attestierte der ehemalige Reichsinnenminister Koch dem Ermordeten zwar eine „bäuerliche Art, die Vorteile mitnimmt, die am Wege liegen", aber von weit größerer Bedeutung war die Erklärung, Erzberger habe „Verantwortungsfreudigkeit und den Mut zur Unpopularität" besessen; er habe „als einer der Führer der Demokratie einen Waffenstillstand" geschlossen, „den auch die Militärs

Zusammenfassung 1921

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für nötig hielten und den zu schließen ihre Aufgabe" gewesen wäre. Auch die Germania machte die „Revolverblätter der deutschnationalen Propaganda", die systematisch die Atmosphäre erzeugten, „in der Messer und Revolver als erlaubte Kampfmittel des politischen Kampfes erscheinen", für das Attentat verantwortlich. Von der Behauptung der USPD ausgehend, in München gebe es eine „deutschnationale Mörderzentrale", in der „die lange Reihe von Attentaten [...] planmäßig vorbereitet worden" sei, hielt das Zentrumsblatt es für unerträglich, daß die Bayerische Staatszeitung als amtliches Regierungsorgan Erzberger „seihst noch im Tode" beschimpfte. Den bayerischen Katholiken, so die Germania, müßte „allmählich ein Licht aufgehen [...], wohin der Wegführt, den die bayerische Politik geht". Deutlicher als die Germania betonte die Frankfurter Zeitung, daß sich auch von „volksparteilichen Organen [...] tagtäglich eine Flut persönlicher Verleumdungen und niederträchtiger Beschimpfungen" über Erzberger ergossen habe. Sein Tod sei die „blutige Ernte der frevelhaften nationalistischen Hetze". Erzberger werde aber sicherlich nicht das letzte Opfer sein, wenn die „ganz offen betriebene Mordhetze [...] unter der schweigenden Duldung der Behörden und Gerichte" anhalte. Auch der Vorwärts sprach die DVP mitschuldig und meinte, „erst wenn jenes ganze Geschmeiß von Monokelträgern, Wichsstudenten und Hakenkreuzlern mit dem Revolver in der Hosentasche" hinweggefegt sei, werde die Luft in Deutschland „moralisch gereinigt" sein. Im Gegensatz zur Redaktion sprach Otto Braun in seinem Kommentar nur von den deutschnationalen „Totengräbern der Republik" und klammerte die DVP, mit der er in Preußen eine Große Koalition anstrebte, von diesem Vorwurf aus. Der Vorwärts selbst sah Deutschland „fascistischen "Zuständen" entgegentreiben und vertrat die Parole „Krieg den Mörderparteien" so radikal, daß die Rote Fahne anmerkte, das sozialdemokratische Blatt solidarisiere sich erheblich stärker mit Erzberger als die Zentrumspresse. Nach Ansicht der Roten Fahne war der Mord an Erzberger, dem Mann des „Ausgleichs" zwischen reformbereiten Kräften der Bourgeoisie und der Arbeiterklasse, „das Signal zum Lossturm der Horden der Reaktion auf das Proletariat". In einer Einheitsfront mit den klassenbewußten Arbeitern von SPD und USPD wollte die Rote Fahne sich diesem Ansturm der „Orgesch" entgegenstellen, die in Kahr und dem Münchener Polizeipräsidenten Pöhner ihre „frechsten und brutalsten Wegbereiter" habe.

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IV. Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

2. Republik und Rechtsradikalismus Den Schutz der bayerischen Behörden nutzte das „Kampfblatt" der NSDAP zur zielgerichteten Hetze gegen einzelne Regierungsmitglieder, insbesondere gegen Erzberger und Wirth, der als „Haupt der jüdischen Bohrkolonne " das „Reichsschiff" für den endgültigen Untergang präpariert habe. Daß der Völkische Beobachter im Kampf gegen das „blut- und sinnentleerte System" nach „Erschöpfung der gesetzlichen Mittel" auch andere Mittel einzusetzen bereit war, entsprach zwar gängigen Vorstellungen der extremen Rechten, war in dieser zugespitzten Form aber besonders charakteristisch für die NSDAP. Zurückhaltender argumentierten die Münchner Neuesten Nachrichten, wenn sie die „Verordnung zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung" mit der Bemerkung kommentierten, die Sozialisten würden immer „Staatsautorität und Autorität ihrer Parteiführer als etwas Identisches" betrachten. Die Verordnung sei aber nur eine der Willkürmaßnahmen der „Neuberliner Regierungsweisheit". Die Zustimmung von Zentrum und DDP zu diesem Ausnahmegesetz verstärke die Befürchtung, das „unnatürliche Bündnis" dieser „beiden prinzipiell demokratischen Parteien" mit der „grundsätzlich antidemokratischen" SPD solle fortgesetzt werden. Der Berliner Lokal-Anzeiger, der zwischen Demokraten und Sozialisten einerseits sowie einem „bürgerlichen Block" jenseits der Demokraten unterschied, kritisierte die Verordnung zum Schutz der Republik als willkürliches „Ausnahmegesetz". Den „Sozialisten" warf er vor, ihr Glaube, ihre politischen Gegner in der „Republik ohne Republikaner" mit der Aufhebung von Presse-, Vereins- und Versammlungsfreiheit mundtot machen zu können, sei kindlich, denn „mit solchen Gewaltmitteln" könne man nicht „die * überwiegende Mehrheit des deutschen Volkes zur Liebe für die Republik, zur Freundschaft für die Demokratie erziehen". Ohne sich explizit zu Republik und Demokratie zu äußern, übte die BZ massive Kritik an der deutschen Justiz, die den Erzberger-Attentäter vom Januar 1920 zur „gnädigen Strafe von 18 Monaten" verurteilt hatte und ihm bald darauf vier Monate Haftverschonung „wegen einer angeblichen Krankheit" gewährte. Schon vor der Ermordung Erzbergers hatte sich die Germania gegen die verbreitete „Katholikenhetze" gewandt und darüber geklagt, daß die DNVP sogar von einer „katholischen Rasse" spreche. Zog die Germania aus dieser Hetze den Schluß, kein Katholik könne der Deutschnationalen Volkspartei angehören, so nahm das Blatt die durch den Mord ausgelöste

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Freude zahlreicher deutschnationaler und völkischer Gruppierungen als „Dokumente menschlicher Verkommenheit" mit Betroffenheit zur Kenntnis und pflichtete der Basler National-Zeitung bei, die feststellte, „es scheine allmählich in Deutschland gefährlicher zu sein, mit demokratischer Gesinnung herumzulaufen, als mit Wertgegenständen". Die Frankfurter Zeitung sah das Problem von Republik und Demokratie in Deutschland grundsätzlicher und fragte im Zusammenhang mit der Diskussion über die Reparationsverpflichtungen besorgt, „wie lange noch die deutsche Politik von republikanisch-demokratischem Geiste getragen" werde. „Als infame Sabotage" charakterisierte das Blatt den Versuch Helfferichs, „die Dolchstoßlegende vom militärischen auf das wirtschaftliche Gebiet zu übertragen" und die „Absicht, die Reparationsleistungen ernstlich zu erfüllen", als den Versuch zu diffamieren, „nunmehr auch die deutsche Wirtschaft zu entwaffnen und den Feinden auszuliefern". Die Verordnung des Reichspräsidenten vom 29. August kommentierte die Frankfurter Zeitung zustimmend, denn „wenn eine in ihrem Wesen demokratische Regierung zu solchen außergewöhnlichen Maßnahmen" greife, sei das Ausdruck drohender Gefahr. Fraglich sei allerdings, ob mit der Verordnung „nicht etwa nur die kommunistische Hetze gegen den Staat verhindert werde, sondern auch die [...] viel gefährlichere der Nationalisten". Der Vorwärts wollte den Kampf für Republik und Demokratie nicht den staatlichen Instanzen allein überlassen, sondern appellierte nach dem Mord an seine Leser: Wie die Deutsch-Nationalen „tagtäglich mit Hakenkreuz und Schwarz-weiß-rot demonstrieren, so wollen wir bei jeder Gelegenheit unser Bekenntnis zur Republik und Freiheit zur Schau tragen". Jeder einzelne solle die „provozierenden Gespräche in Straßenbahn und Eisenbahn" nicht stillschweigend anhören, sondern „den Mut haben, darauf die gebührende Antwort zu erteilen". Auch Otto Braun fürchtete, diejenigen könnten recht bekommen, die behaupteten, in Deutschland sei im November 1918 „nur halbe Arbeit gemacht" worden. Jetzt könne das Unheil nur noch „durch brutale Rücksichtslosigkeit" aufgehalten werden. Die Rote Fahne rief ihre Anhänger zunächst nicht zu Demonstrationen zum Schutz der Republik, sondern zur Abwehr der „Konterrevolution" auf. Obwohl Berlin noch nie „einen solchen Massenaufmarsch der Arbeiterschaft" wie bei der — schließlich auch von der KPD unterstützten — Demonstration für die Republik im Lustgarten gesehen habe, vermißte das Blatt die „innere Geschlossenheit der Demonstranten". In der Verordnung zum Schutz der Republik sah die Rote Fahne, ganz anders als

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IV, Matthias Erzherger: Opfer nationalistischer Hetze

der Vorwärts, primär eine Ausdehnung des Belagerungszustandes „in abgeschwächter Form auf das ganze Reich". Mit der Verordnung habe die Regierung zwar eine „scharfe und gefährliche Waffe" geschaffen, sie aber „den Mächten der Reaktion selbst in die Hand" gedrückt.

3, Antisemitismus und Judentum Stolz verkündeten die Nationalsozialisten im August 1921, die NSDAP sei „die bestgehaßte und volkstümlichste Partei Münchens und Bayerns". Wichtigste Aufgabe der NSDAP sei die „Lösung der Judenfrage'', was nichts anderes bedeute, als Deutschland „judenrein" zu machen. Mochte sich hinter der Formel „judenrein" zunächst „nur" die Forderung nach Ausweisung aller seit 1914 eingewanderten Juden verbergen, so ließ der Völkische Beobachter offen, wie der Satz „Mit Trichinen und Bazillen wird nicht verhandelt, Trichinen und Bazillen werden auch nicht 'erzogen', sie werden so rasch wie möglich unschädlich gemacht" konkret zu verstehen sei. Die Münchner Neuesten Nachrichten brachten zwar keinen manifesten Antisemitismus zum Ausdruck, aber ihre Kampagne gegen die „Enthüllungen" Eisners und den von Harden als „Gesinnungsschieber" bezeichneten Erzberger dürften latent antisemitische Einstellungen ebenso verstärkt haben wie ihre Berichterstattung über den Zuzug von Ostjuden. Der Berliner Lokal-Anzeiger, 1920 entschiedener Protagonist der Forderung nach Sammellagern für Juden, und die BZ gaben während dieser „Erhebungsphase" keine nennenswerten Hinweise auf ihre Einstellung zum Bereich „Judentum und Antisemitismus". Demgegenüber legte die Germania ausführlich dar, daß die Rechtspresse mit ihrer Hetze gegen „das verstärkte Auftreten von Ostjuden, jenen [...] nicht gerade sympathischen Zeitgenossen", einen übertriebenen Mythos der „Ostjudengefahr" geschaffen habe. Im „ganzen gesehen", habe man es mit einer „absolut belanglosen Zuwanderung von Ostjuden" zu tun. Da von den insgesamt 55.000 Ostjuden nur etwa jeder siebente „im Handelsgewerbe tätig" sei, stimme auch „das Gerede von der Masseneinwanderung der galizischen Händler und Schieber [...] in gar keiner Weise". Über die in München angeschlagenen Plakate, mit denen „der sattsam bekannte Radauantisemit" Adolf Hitler zu Veranstaltungen der NSDAP einlud, erregte sich die Germania und fragte ignorant, wie „die Polizei solchen groben Unfug dulden" könne. Die Frankfurter Zeitung setzte sich zwar mit den „Haßgesängen" nationali-

Zusammenfassung 1921

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stischer Zeitungen wie des Miesbacher Anzeigers und des Völkischen Beobachters auseinander, ihre Ausführungen zum Antisemitismus gingen aber auch 1921 kaum über die Bemerkung hinaus, daß im besetzten Rheinland die Bevölkerung „zu weltkundig und geistig lebendig" sei, „um den grotesken Unsinn, der so oft in antisemitischen Hetzreden steckt, nicht herauszuspüren". Der Vorwärts warnte zwar vor dem Antisemitismus der Deutschvölkischen, der DNVP und der Arbeitsgemeinschaft Roßbach, aber mit antisemitischen Stereotypen ging auch das SPD-Blatt leichtfertig um, wenn es etwa von einer „Psychologie der Juden" sprach, um die Betreiber dubioser Wettgeschäfte zu charakterisieren. Wie der Vorwärts, so behandelte auch die Rote Fahne Antisemitismus kaum als eigenständiges Thema, sondern befaßte sich damit in aller Regel nur im Zuge ihrer Auseinandersetzung mit dem politischen Gegner. Indem das KPD-Organ aber das Wirken des Prager Golems mit dem Marxismus gleichsetzte, zog es eindeutige Parallelen zwischen „der geknechteten, ungerecht des Mordes beschuldigten Judenschaft zu Prag" und dem unterdrückten Proletariat; in dieser Form war das eine bemerkenswerte Solidarisierung mit jüdischer Mythologie und Geschichte.

FÜNFTES KAPITEL

Die Ermordung Rathenaus: Anschlag auf die Republik

EINFÜHRUNG: „ERHEBUNGSPHASE 1922" Nach der Ermordung Erzbergers spitzte sich der Konflikt zwischen Bayern und dem Reich zu, als der bayerische Ministerpräsident von Kahr die Durchsetzung der Verordnung des Reichspräsidenten zum Schutz der Republik vom 29. August 1921 mit der Begründung ablehnte, sie richte sich ausschließlich gegen republikfeindliche Bestrebungen von rechts und greife außerdem in die Polizeihoheit der Länder ein; im übrigen sei in Bayern ohnehin noch der am 4. November 1919 verhängte Ausnahmezustand in Kraft1. Da Kahr sich auch einem Kompromiß widersetzte, den führende bayerische Politiker mit der Reichsregierung ausgehandelt hatten, drängte die auf einen Ausgleich bedachte BVP Kahr zum Rücktritt: Am 21. September 1921 wählte der Landtag Graf Lerchenfeld (BVP) zum neuen Ministerpräsidenten, und am 28. September erließ Ebert die Zweite Verordnung zum Schutz der Republik, die nicht mehr dem Schutz von „Vertretern der republikanisch-demokratischen Staatsform", sondern dem Schutz von „Personen des öffentlichen Lebens" diente2. Trotz dieser Entschärfung im Konflikt zwischen Bayern und dem Reich ging die Republik mit schweren Hypotheken in das Jahr 1922: Der französische Ministerpräsident Briand hatte der Reichsregierung am 20. Oktober 1921 die Entscheidung der Alliierten übermittelt, nach der in Oberschlesien weit größere Gebiete abzutreten waren, als nach der Volksabstimmung vom 20. März zu erwarten war. Aus Protest gegen 1

Vgl. Huber: Verfassungsgeschichte, S. 210ff. Ebd., S. 214. Knapp drei Monate später, am 16. Dezember 1921, beantragten DNVP, USPD und KPD die Außerkraftsetzung der am 28. September erlassenen Verordnung. Diesem Antrag schloß sich auch die SPD an, während Zentrum, DDP, DVP und BVP dagegen stimmten; am 23. Dezember wurde die Verordnung außer Kraft gesetzt: „Die SPD als die stärkste Regierungspartei trug die Verantwortung dafür, daß die staatliche Exekutive in den Auseinandersetzungen der anschließenden sechs Monate ohne hinreichende Machtmittel war, um der republikfeindlichen Agitation wie der Vorbereitung neuer Gewalthandlungen entgegenzutreten", meint Huber (ebd.). 2

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K Die Ermordung Rathenaus

diesen neuerlichen „Willkürakt der Entente" demissionierte das Kabinett Wirth am 22. Oktober. Obwohl der linke Flügel der DVP bereit war, ein bürgerliches Kabinett unter Einschluß der SPD zu bilden3, und auch die SPD auf ihrem Görlitzer Parteitag — trotz erheblicher Bedenken des Gewerkschaftsflügels gegen die „Stinnes-Partei"4 — die Weichen für eine Zusammenarbeit mit der DVP gestellt hatte5, kam die insbesondere von Ebert gewünschte Große Koalition auf Reichsebene nicht zustande: Weder DVP noch DDP waren bereit, „durch Eintritt in das neue Reichskabinett die erzwungene Teilung Oberschlesiens anzuerkennen"6. Während Wirth am 26. Oktober eine Minderheitsregierung aus Zentrum und SPD bildete, gelang es Otto Braun am 5. November, in Preußen eine Regierungskoalition aus SPD, Zentrum, DDP und DVP zu bilden. Obwohl die DDP dem Kabinett Wirth formell nicht beitrat7, entsandten die Demokraten zunächst Otto Geßler als „Fachminister" in die Reichsregierung, und am 31. Januar 1922 wurde Walther Rathenau zum Außenminister berufen8. Zentrales Problem der

3

Nach Schulze: Otto Braun, S. 342 förderte der Mord an Erzberger die „Entwicklung der Deutschen Volkspartei fort von den Volkskaisertums-Ideen [...] hin zum Bekenntnis zur neuen republikanischen und demokratischen Staatsform". 4 Auf dem Görlitzer Parteitag (18. bis 24. September 1921) plädierte u.a. Eduard Bernstein für eine Kooperation mit der DVP: „Die Deutsche Volkspartei hat eine soziale Macht, sie ist eigentlich die Partei der deutschen Bourgeoisie. Hinter ihr steht die deutsche Finanz, die deutsche Großindustrie und die Intelligenz [...] Wir müssen versuchen, diese Partei an den Wagen der Republik zu spannen" (zitiert nach Kastning: Sozialdemokratie, S. 68). 5 290 Parteitagsdelegierte stimmten in Görlitz für eine Koalition mit der DVP, dagegen votierten 67 Delegierte (vor allem aus Sachsen, Hessen und Thüringen). ' Huber: Verfassungsgeschichte, S. 221. 7 Die seit den Juni-Wahlen von 1920 stark reduzierte DDP war nicht mehr willens, ohne ihre „rechtsliberale Konkurrenz", die DVP, an einer Regierung teilzunehmen. Der schwerindustrielle Flügel der DVP wiederum lehnte den Reichskanzler Wirth als „zu sozialistisch" ab (Kastning: Sozialdemokratie, S. 76). 8 Seine Berufung „war eine Sensation, denn Rathenau war Jude, — und zwar ein ungetaufter Jude, der es aus Stolz abgelehnt hatte, das Entreebillett für die europäische Kultur zu lösen, obwohl er die nordisch-germanische Rasse und ihre Prototypen nahezu anhimmelte" (Helmut Heiber: Die Republik von Weimar. München 1966, S. 95). Die zunehmende Hetze der Völkischen gegen Rathenau fand ihren Ausdruck u.a. in der Flugschrift „Rathenau, der Kandidat des Auslandes", die der Hauptgeschäftsführer des deutschen Schutz- und Trutzbundes, Alfred Roth, als Kompilation

Einführung 1922

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Reichsregierung war — neben der Suche nach einem modus vivendi mit den Alliierten, die ihre Skepsis gegenüber Deutschland nach dem Rapallo-Vertrag vom 16. April 1922 bestätigt sahen — der anhaltende Verfall der deutschen Währung. Konnte die Exportwirtschaft vom Währungsverfall profitieren und konkurrenzlos billig produzieren, so führte die Inflation gleichzeitig zu einer „Proletarisierung des Mittelstands" und einer spürbaren Reallohnsenkung: Im Sommer 1922 hatte die Mark nur noch ein Hundertstel ihres Wertes von 19149. Wie sehr Republik und Demokratie vor dem Hintergrund der ausgeprägten Wirtschaftskrise und der unübersehbaren Ohnmacht gegenüber der Entente in Mißkredit geraten waren, machte die Rechtspresse Tag für Tag deutlich. Ein Blick auf die strafrechtliche Verfolgung der beiden Erzberger-Mörder zeigt aber auch, daß es insbesondere in der „Ordnungszelle" Bayern einflußreiche Kräfte gab, die in ihrem Kampf gegen das „System" vor keinem Mittel zurückschreckten: Unmittelbar nach der Ermordung Erzbergers waren die beiden Attentäter wieder in ihr Hotel bei Griesbach zurückgekehrt10. Dort tranken sie Kaffee, diskutierten mit anderen Gästen über den inzwischen bekannt gewordenen Mord und fuhren anschließend mit dem Zug nach München. Auf dem Münchener Bahnhof erhielten sie von Manfred von Killinger falsche Pässe, die der Münchener Polizeipräsident Pöhner besorgt hatte11. Als die badische Staatsanwaltschaft auf die Spur der Mörder gestoßen war und die bayerische Polizei um deren Festnahme ersuchte, wurden die beiden Täter nicht verhaftet, sondern schriftlich zur Vernehmung vorgeladen12, woraufhin sie sich nach Ungarn absetzten13.

seiner Hetzartikel reichsweit verbreiten ließ (vgl. Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 341). 9 Heiber: Weimar, S. 98f. 10 Dazu ausführlich Epstein: Erzberger, S. 436ff. sowie Wolfgang Rüge: Matthias Erzberger. Eine politische Biographie. Berlin o.J., S. 122f. 11 Vgl. Heiber: Weimar, S. 111. 12 So Hoegner: Die verratene Republik, S. 91. 13 Kurz vor der nationalsozialistischen Machtübernahme kehrten sie nach Deutschland zurück; das gegen sie anhängige Verfahren wurde mit der Amnestie des Reichspräsidenten für politische Verbrechen vom 21. März 1933 eingestellt. Tillessen wurde im Mai 1945 in Heidelberg bei einer Routinekontrolle der amerikanischen Militärpolizei verhaftet und 1946 in Freiburg vor Gericht gestellt. Nachdem er — mit Hinweis auf die Amnestie vom März 1933 — freigelassen wurde, ließ die französische Militärregierung dieses Urteil kassieren, ihn erneut verhaften „und überwies den Fall zur

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V. Die Ermordung Ratbenaus

Killinger mußte sich im Juni 1922 zwar vor dem Offenburger Schwurgericht verantworten, aber obwohl das Gericht es als erwiesen ansah, daß er sich „sowohl vor als auch nach der Tat" mit den beiden Mördern Erzbergers getroffen hatte, sprachen die Geschworenen Killinger frei14. — Drei Tage vor Prozeß-Beginn gegen Killinger hatten zwei andere Mitglieder der weitverzweigten O.G. in Kassel ein Blausäure-Attentat auf Philipp Scheidemann verübt15; weniger als zwei Wochen nach dem Freispruch Killingers wurde Walther Rathenau am 24. Juni 1922 auf dem Weg von seiner Wohnung ins Auswärtige Amt ermordet16. Kaum ein anderes Ereignis hat die Öffentlichkeit der Weimarer Republik so erregt wie die Ermordung von Walther Rathenau17. Sein Be-

[...] Verhandlung nach Konstanz mit der ausdrücklichen Anweisung, die Amnestie des Reichspräsidenten sei als ungültig zu betrachten" (Epstein: Erzberger, S. 439). Während Tillessen jetzt zu 15 Jahren Zuchthaus verurteilt — und nach fünf Jahren auf Bewährung entlassen — wurde, verurteilte ein Offenburger Gericht den zweiten Mörder Erzbergers, Schulz, im Juli 1950 zu zwölf Jahren Zuchthaus; nach zwei Jahren war auch Schulz wieder auf freiem Fuß (vgl. Rüge: Erzberger, S. 123. Rüge meint in diesem Zusammenhang, es sei „kennzeichnend [...], daß die Bundesregierung am Ort der Bluttat von Griesbach einen Gedenkstein errichten ließ, auf dem eine lapidare Inschrift kündet: 'Hier starb Matthias Erzberger, Reichsfinanzminister, 26. 8. 1921'. Kein Wort über den Mord!"). 14 Epstein: Erzberger, S. 437f. Im Dritten Reich brachte Killinger es bis zum Ministerpräsidenten Sachsens, bevor er 1941 Deutscher Gesandter in Rumänien wurde. 1944 nahm er sich das Leben, um nicht der vorrückenden Roten Armee in die Hände zu fallen. 15 Vgl. Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 90f. 16 Die Attentäter verübten dieses Verbrechen „angeblich gegen den Willen Ehrhardts, der durch das Attentat sein auf Zusammenarbeit mit der bayerischen Regierung und der Reichswehr aufgebautes politisches Konzept bedroht sah"; trotzdem ermöglichte erst die O.G. den Tätern die Flucht (ebd., S. 91f.). Wie die Erzberger-Mörder, so waren auch die Hauptbeteiligten beim Rathenau-Mord Angehörige der Reichsmarine, die später zur Marinebrigade Ehrhardt wechselten, sich am Putsch von Lüttwitz beteiligten und Organisationen wie dem deutsch-völkischen Schutz- und Trutzbund angehörten (vgl. Hans Fenske: Konservativismus und Rechtsradikalismus, S. 148ff.; zur Motivation der Täter vgl. Salomon: Die Geächteten, S. 353ff.). 17 Dazu Shulamit Volkov: Überlegungen zur Ermordung Rathenaus als symbolischem Akt. In: Ein Mann vieler Eigenschaften. Walther Rathenau und die Kultur der Moderne. Berlin 1990, S. 99—105: „Anhänger und Gegner des Regimes konnten gleichermaßen die Republik mit seiner Person identifizieren. [...] Seine rätselhafte Persönlichkeit stand für die Republik: offen für Talente, aber voller Selbstzweifel; patriotisch, aber bereit zum Kompromiß; modern und doch ziemlich konservativ; ega-

Einführung 1922

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kenntnis zum jüdischen Glauben ließ ihn ebenso zum Opfer werden wie seine auf internationale Zusammenarbeit gerichtete „Erfüllungspolitik". Bemerkenswert ist, wie intensiv sich die deutsche Presse unmittelbar vor der Ermordung Rathenaus mit Gerüchten über einen bevorstehenden Rechtsputsch auseinandersetzte.

litär, aber voll von heftigen Kämpfen; angeblich frei von Vorurteilen und doch voller verstecktem Haß und Feindseligkeiten" (S. 104f.). Obwohl sich seit Frühjahr 1922 Hinweise auf einen möglichen Anschlag gegen Rathenau häuften, hatte er zusätzliche Sicherheitsmaßnahmen abgelehnt (vgl. Harry Graf Kessler: Walther Rathenau. Sein Leben und sein Werk. [Neuaufl.] Frankfurt am Main 1988, S. 314ff.).

Der Völkische Beobachter

Das ausgeprägte Selbstbewußtsein der Nationalsozialisten zeigte sich 1922 in dem beißenden Spott, mit dem das Zentralorgan der NSDAP seine politischen Kontrahenten überzog. Als kontrastreicher Gegensatz zum „sittlichen Impetus" der völkischen Bewegung fungierte das „verjudete Berlin". Polemiken gegen die Bayerische Staatsregierung unterschieden sich von den zahllosen Ausfällen gegen die Reichsregierung durch eine prinzipiell weniger aggressive Sprache18. Der Völkische Beobachter agitierte nicht so sehr gegen das „feindliche Ausland", sondern vorrangig gegen die „jüdisch-inspirierte Erfüllungspolitik" der Reichsregierung19.

18

Gegenüber dem bayerischen Ministerpräsidenten Hugo von Lerchenfeld, der „die für die NSDAP günstige Politik Kahrs nicht fortsetzte" (Maser: Frühgeschichte der NSDAP, S. 330), kannte der Völkische Beobachter allerdings kein Pardon: „Während der ersten Landtagswahlen nach der Revolution prangten alle Ecken Münchens mit Plakaten der Bayerischen Volkspartei, in denen alle Christen aufgerufen wurden zum Kampf gegen den Geist der 'Frankfurter Zeitung1. Ein paar Jahre später holte sich dieselbe Partei einen Ministerpräsidenten, der sich rühmte, an dieser 'Frankfurter Zeitung' mitgearbeitet zu haben" (Volkischer Beobachter vom S.Juli 1922). 19 Vgl. etwa den Aufmacher „Arbeiterverschacherung an die Hochfinanz" in der Ausgabe vom 24. Juni 1922: Da „die zur Ausplünderung des deutschen Volkes eingesetzte sogenannte Reparationskommission bekanntlich die Autonomie der Reichsbank gefordert" habe, was in Wahrheit nichts anderes sei als „die Auslieferung unserer Finanzhoheit an die internationale jüdische Hochfinanz", listete das Blatt etwa zwei Dutzend Mitglieder, Stellvertreter und Deputierte des Zentralausschusses der Reichsbank namentlich auf und fügte — bis auf zwei Ausnahmen — stets das Wort Jude" hinzu.

Der Völkische Beobachter

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1. Gegen das „verjudete Berlin"

Im Sommer 1922 standen Friedrich Ebert, Philipp Scheidemann und Walther Rathenau als „typische" Vertreter der Reichsregierung im Mittelpunkt der Kampagnen des NS-Organs. Respektlos und herausfordernd stimmte das Blatt seine Leser auf den bevorstehenden Besuch des Reichspräsidenten in München ein20: „Rüste dich, Monachia, dein König kommt zu dir! Nicht ein König von Gottes Gnaden, wohl aber einer, dem die Sonne Jehovas vom Grunewald, vom Libanon, vom Quai d'Orsay, von der Wallstreet und sogar vom nebligen London aus freundlich lächelt"21. Ebert, mit wenigen Sätzen als ein vom Wohlwollen des „internationalen Judentums" und der Entente abhängiger Politiker gestempelt, wurde konsequent zu einem unverwechselbaren, lächerlichen Typus geformt. „Die Ehrfurcht" gebiete es, höhnte das Blatt, „denkwürdige Worte aus seinem Munde der Vergessenheit zu entreißen, um allen Staatsbürgern endlich einmal den gehörigen Respekt vor der Charakterfestigkeit ihres ersten Präsidenten einzuflößen". Der Widerspruch zwischen den vom Völkischen Beobachter ausgewählten Zitaten und der Realität war kaum zu übersehen22. „An die wohllöbliche Poli-

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Zum Besuch Eberts, der die verbesserten Beziehungen zwischen Berlin und der Regierung Lerchenfeld dokumentieren sollte, gab die NSDAP ein doppelseitiges Karikaturenblatt heraus („Genösse Ebert im Jenseits"), das dem Völkischen Beobachter am 17. Juni 1922 beigelegt war. Für Dietrich Eckart, der den Text zu diesem „satirischen Bilderbogen" (so Deuerlein: Der Hitler-Putsch, S. 61, Anm. 55) geschrieben hatte, brachte das ein gerichtliches Nachspiel: „Zu der deswegen am 12. April 1923 angesetzten Hauptverhandlung vor dem Staatsgerichtshof zum Schutz der Republik erschien Eckart nicht" (ebd.), denn „vor dieses Ausnahmegericht im Roten Sachsen würden ihn keine zehn Pferde bringen" (zitiert nach Plewnia: Auf dem Weg zu Hitler, S. 91). Da die bayerischen Behörden keine Anstalten machten, den gegen Eckart verhängten Haftbefehl zu vollstrecken, konnte er ungehindert im Zirkus Krone sprechen und im Völkischen Beobachter mit einer Annonce „ein behagliches, schön gelegenes Landhaus zur Miete, evtl. Kauf suchen (Ausgabe vom 10. Juni 1922). 21 Ebd. Vielleicht sollte die sich über das gesamte Titelblatt erstreckende Schlagzeile „Heil Ebert I. unserm geliebten Landesvater" an die in Bayern vorhandenen „weißblauen" Präferenzen appellieren und einen direkten Vergleich zwischen dem „Landesvater" Ebert und den Wittelsbachern evozieren. 22 So habe Ebert noch im Mai 1919 versichert, „wir können und werden den Frieden nicht unterzeichnen: Wir wären ehrlos (!) und würdelos, wenn wir nicht unsere

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V. Die Ermordung Rathenaus

zei" wandte sich das Blatt mit der Bemerkung, man höre munkeln, „die diensteifrige Polizei" habe im Vorfeld des Ebert-Besuchs „umfassende Maßregeln ergriffen, um mit Schutzleuten, Kriminalern und Karabinieri unserm Reichspräsidenten den gehörigen Schutz angedeihen und ein begeistertes Volk auffahren zu lassen. Wir glauben", fügte der Völkische Beobachter spöttisch hinzu, „daß diese Vorsichtsmaßregeln bei der allgemeinen Begeisterung unnütz sind". Unter der Schlagzeile „Er kam, sah und siegte!" wurden in der nächsten Ausgabe der kühle Empfang des Reichspräsidenten und das große Polizeiaufgebot ausgeschlachtet: „Einige Begeisterte" hätten es sich nicht nehmen lassen, „Ebert mit Musik zu begrüßen. Da sie vermutlich nicht das Geld besaßen, um sich Silberposaunen anzuschaffen, hatten sie kleine Pfeifen mitgebracht und trillerten dem Landesvater ein Morgenständchen. Andere wieder schwenkten enthusiastisch die Badehosen (wohl in der Erinnerung an das Lichtbild mit Noske, das unsern Landesvater so populär in der ganzen Welt gemacht hat)23. Und einige Rufe wie 'Arbeiterverräter' usw. machten den vorübergehenden Ebert leise zusammenzucken24. Das begeisterte Volk ließ aber diese frechen Ruhestörer verhaften25 und fahndete den ganzen Tag weiter nach Pfeifenbesitzern"26. In einer Rückschau auf den Besuch Eberts frohlockte der Völkische Beobachter, „Fritze, dir haben sie ausgepfiffen"27. War die „rote Badehose" ein einprägsames Symbol, um den Reichspräsidenten der LacherKraft aufbieten gegen die Schmach, die uns angedroht wird. [...] Wir lehnen sie ab, mag da kommen, was da mag" (ebd.). 23 Die Berliner Illustrirte Zeitung hatte dieses Strandfoto von Ebert und Noske in Badehose am 24. August 1919 auf ihrer Titelseite veröffentlicht (abgebildet u.a. bei Wette: Noske, S. 384). 24 Daß der Völkische Beobachter den Vorwurf „Arbeiterverräter" stark betonte, ist Indiz für das Bemühen der NSDAP, sich auch als „Arbeiterpartei" zu profilieren. 25 Unter der Überschrift „Ebert-Nachklänge" brachte das Blatt in der Ausgabe vom 21. Juni 1922 einen „Augenzeugenbericht", der sich mit den Verhaftungen befaßte: Nachdem 46 Personen verhaftet und auf Lastautos verladen worden waren, stimmten sie zunächst „Die Wacht am Rhein" an, danach „Wir brauchen keine Judenrepublik", woraufhin das Singen gänzlich untersagt wurde, „da wir sonst 'wegen Widerstand' [...] gestraft würden. Trotzdem wir zwar noch nicht den vermutlich allerneuesten Paragraphen kannten, wonach das Singen nationaler Lieder 'Widerstand' wäre, schwiegen wir. [...] Eine bessere Propaganda für die Judenrepublik hätte man sich wohl kaum vorstellen können". 26 Ausgabe vom 14. Juni 1922. 27 Ausgabe vom 17. Juni 1922.

Der Völkische Beobachter

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lichkeit preiszugeben28, so sprach das Blatt ebenso konsequent von Philipp Scheidemann als von dem „Scheidemann mit der unverdorrten Hand"29. Für Walther Rathenau hatte das Zentralorgan der NSDAP keine vergleichbar prägnante Charakterisierung, aber als Jude, als Reichsminister, der den Rapallo-Vertrag mit den „verjudeten Bolschewisten" abgeschlossen hatte, und als Leiter „des größten kapitalistischen Unternehmens Deutschlands" war Rathenau ohnehin Inkarnation des nationalsozialistischen Feindbildes. Da „ausgerechnet der Großkapitalist und Hochfinanzler Rathenau" von der „gesamten sogenannten Arbeiterpresse in Schutz genommen" werde, klärte der Völkische Beobachter seine Leser über „die eigentlichen Ziele" Rathenaus auf: Schon am 25. Dezember 1909 habe Rathenau „das verkündet, was 1918 öffentliche Wahrheit geworden" sei: 300 Männer, „von denen jeder jeden kennt", seien mit dem Zusammenbruch des Deutschen Reichs „an Stelle der Kaiser und Könige" getreten, und seitdem bestimme „die internationale Hochfinanz" die „Schicksale der Welt". Rathenau, der „in Cannes für eine überstaatliche Bankierregierung" eingetreten sei, dessen Name „aber auch auf dem Vertrag von Rapallo" stehe, „der Deutschland an das bolschewistische [...] Sowjetrußland" binde, dieser Rathenau war für den Völkischen Beobachter „die Personalunion zwischen der internationalen jüdischen Hochfinanz und dem internationalen jüdischen Bolschewismus!'^ Diesem „Kandidaten des Auslandes" hätte „das deutsche Volk die organisierte Ausplünderung während des Krieges zu verdanken", denn Rathenau, „der Vertraute Wilhelms II.", hätte „alle Ämter an jüdische Volksausbeuter" verteilt, nachdem ihm „die Wirtschaftsdiktatur" übertragen worden sei. Mit dem Zitat, „wenn der Kaiser als Sieger durch das Brandenburger Tor ziehen würde, so hätte die Weltgeschichte ihren Sinn verloren", schloß sich die Argumentationskette des Völkischen Beobachters^. Schlagwortartig hatte 28

Diese eingängige Charakterisierung Eberts hatte der Völkische Beobachter vom Miesbacher Anzeiger übernommen. 29 Zur „unverdorrten Hand" vgl. oben die Einleitung zum Kapitel über den Versailler Vertrag. 30 Von der noch im Februar 1920 postulierten wirtschaftlichen Zusammenarbeit mit Rußland war in diesem Beitrag des Völkischen Beobachters nichts mehr zu spüren. 31 Dieses Zitat hatte Ludendorff schon im November 1919 als Aufhänger genutzt, um Rathenau als „Kriegsdefaitisten" zu attackieren. Rathenau, bis zum Beginn des UBoot-Krieges ein glühender Verehrer Ludendorffs, war nach dem deutschen Waffenstillstandsangebot vom 3./4. Oktober tief enttäuscht von Ludendorff und forderte

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V. Die Ermordung Rathenaus

das Blatt „die wahren Ziele Rathenaus enthüllt" und einen „typisch jüdischen Charakter" gezeichnet, wie er jedem Nationalsozialisten vertraut war: ein von der „international eingestellten Arbeiterpresse" hofierter jüdischer Großkapitalist, der mit den „jüdischen Bolschewisten" Hand in Hand arbeitete, antinational eingestellt war und „in seiner Person [...] das Zusammenarbeiten der jüdischen Führung der roten und goldenen Internationale" verkörperte32.

2. Die Reaktion auf den Mord Alle ihm zur Verfügung stehende Rhetorik bot der Völkische Beobachter auf, um sich vor dem Sturm der Entrüstung abzuschotten, der ihm nach dem Mord an Rathenau erheblich stärker ins Gesicht blies als nach der Ermordung Erzbergers: „Jetzt soll dieser Mann zum Märtyrer gestempelt und die berechtigte Empörung über das Elend unserer Tage von den Schuldigen auf andere abgelenkt werden! Widersetzt euch, deutsche Arbeiter, dieser Provokation eurer jüdischen Betrüger und fordert Antwort von eueren Führern, warum ihr eure Köpfe ausgerechnet für die Größten aller Bankgewaltigen und Börsenspekulanten hinhalten sollt. Ihr streikt und protestiert gegen die zweistündige Erhöhung der wöchentlichen Arbeitszeit; aber fällt euch nicht der Gedanke ein, euch gegen die dreißig Stunden Fronarbeit zu erheben, die ihr im Dienste des Weltkapitalismus für 'Wiedergutmachung' schuften müßt, ohne auch nur den geringsten Nutzen von dieser eurer Arbeit zu haben! Fällt euch nicht der Gedanke ein, daß die Erfüllungspolitik der Großkapitalisten und der 'Arbeiterführer' nichts anderes darstellt, als die fortgesetzte Ausplünderung von uns allen, die ehrlich arbeiten?"33

eine „Levee en masse". Wenn Rathenau sich, trotz seiner Durchhalteparolen, nach Kriegsende „dem offenen Haß der nationalistischen Rechtskreise ausgeliefert" sah, machte ihn das allerdings auch „als Republikaner glaubhafter" (Schulin: Rathenau, S. 105). 32 Völkischer Beobachter vom 28. Juni 1922. 33 Entsprach es normalerweise der Taktik von NSDAP und Völkischem Beobachter, die Vertreter der „Erfüllungspolitik" für die Wirtschaftsmisere namentlich verantwortlich zu machen, so schien es unmittelbar nach dem Rathenau-Mord wohl opportuner, nur vom ominösen „Weltkapitalismus" zu sprechen.

Der Völkische Beobachter

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Die relativ zurückhaltende Kommentierung der nach dem Mord erlassenen ersten „Verordnung zum Schütze der Republik"34 zeigt, daß der Völkische Beobachter strafrechtliche Sanktionen der Reichsregierung nicht ausschließen konnte, solange die Haltung der Bayerischen Staatsregierung zu dieser Verordnung unklar war. Das Blatt stellte zwar den neugeschaffenen Staatsgerichtshof, der in die bisherige Rechtshoheit der Länder eingreifen konnte, als verfassungswidrig dar35, aber auch hier ist nicht zu übersehen, daß der Ton vergleichsweise gemäßigt blieb36. „Eine Republik", so polemisierte das Blatt, „die durch einen Mord in Gefahr gerät, daß sogar Paragraphen der eigenen Verfassung außer Kraft gesetzt werden müssen, hat freilich alle Ursache, zu solchen Präservativen [!] zu greifen"37. Die eigene Unsicherheit überspielend, fragte das NSDAPBlatt: „Ist es eine Verächtlichmachung der Republik, [...] wenn man Rathenau angegriffen hat, der dem Prof. Keynes, der die Anschauung vertrat, Deutschland könne nicht zahlen, erwiderte, das Deutsche Reich könne das sehr wohl? [...] Ist es eine Verächtlichmachung heutiger republikanischer Sitten, wenn man es skandalös findet, daß Arbeiterblätter für solch Praktiker wie Erzberger wie für einen Heiligen eintreten? [...] Wird dadurch die Republik lächerlich gemacht, wenn wir es als unstatthaft bezeichnen, daß der Reichspräsident sich — zum Gespött der gan34

Die am 26. und 29. Juni 1922 erlassenen Verordnungen zum Schutz der Republik lehnten sich an die Verordnungen nach der Ermordung Erzbergers an. Arn 21. Juli 1922 wurden sie durch ein mit verfassungsändernder Mehrheit beschlossenes Gesetz zum Schutz der Republik ersetzt, das zunächst auf fünf Jahre befristet war und sich nicht mehr wie die „Juni-Verordnungen" ausschließlich gegen Gewalttaten von rechts richtete (vgl. Huber: Verfassungsgeschichte, S. 256). Das Gesetz zum Schutz der Republik sei „mehr aus Angst vor einer Revolution zorniger Linker als aus dem Wunsch, Rechtsradikale in Schach zu halten", verabschiedet worden, meint Diehl: Von der Vaterlandspartei zur Nationalen Revolution, S. 619, Anm. 11, 35 Die Verordnung vom 26. Juni 1922 sah die Errichtung eines Staatsgerichtshofs vor, der zuständig sein sollte „für Gewalttaten gegen die republikanische Staatsform des Reichs oder gegen Mitglieder der jetzigen oder einer früheren republikanischen Regierung des Reichs oder eines Landes". 36 Der „gemäßigte" Ton des NS-Organs ist möglicherweise auch auf die Tatsache zurückzuführen, daß Hitler am 24. Juni, dem Tag der Ermordung Rathenaus, eine Haftstrafe antrat (vgl. Maser: Frühgeschichte der NSDAP, S. 342). 37 Völkischer Beobachter vom 28. Juni 1922. Die Kritik des NSDAP-Blatts richtete sich insbesondere gegen den Paragraphen 7 der Verordnung vom 26. Juni 1922 („Diese Vorschriften sind auch anzuwenden auf die vor dem Inkrafttreten dieser Verordnung begangenen strafbaren Handlungen").

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V, Die Ermordung Rathenaus

zen Welt — in Badehosen photographieren läßt?"38 Es war typisch für die nationalsozialistische Propaganda, wie der Völkische Beobachter aus dieser Defensive zum Angriff gegen die Reichsregierung überging: Wären an der Spitze der Republik Männer, „die alles Wuchergesindel mit Stumpf und Stil ausrotteten, [...] würden sie das deutsche Volk nicht so allein lassen in seiner Stunde schwerster Knechtung, würden sie jeden unter sich, der sich das Geringste zuschulden hätte kommen lassen, rücksichtslos entfernen und nicht nach seinem Tode verteidigen (Erzberger z.B.), dann stünde das ganze deutsche Volk geschlossen hinter dieser Republik". Demagogisch, aber auch höhnisch beschloß das Blatt seine Ausführungen zum Republikschutz. „Auch wir fordern: Schutz des Staates. Aber der erste Schritt dazu wäre: Rücktritt der Männer, die das schaffende deutsche Volk durch bald vier Jahre hindurch allein gelassen haben in seiner Not"39. Als absehbar war, daß die Bayerische Staatsregierung starke Vorbehalte gegen die in Berlin verordneten Maßnahmen hatte40, und feststand, daß die geplanten Sonnenwendfeiern41 und Protestveranstaltungen anläßlich des Jahrestages der Unterzeichnung des Versailler Vertrags in Bayern nicht verboten werden würden42, setzte der Völkische

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Ausgabe vom 28. Juni 1922. » Ebd. 40 Wie schon 1921, so kritisierte die Bayerische Staatsregierung auch 1922 die Verordnung zum Schutz der Republik: „Wesentliches Gravamen war jetzt die gefährdete Justizhoheit der Länder, [...] hatte doch Bayern noch immer seine 'vorübergehend' installierten Volksgerichte, die nach dem Sommer 1919 die Taten und Untaten der Räterepublik abgeurteilt hatten und seitdem unbefangen weiterhin mit sehr drakonischen Gefängnis- und Zuchthausstrafen natürlich ausschließlich die politische Linke verfolgten und unter Druck hielten" (Heiber: Die Republik von Weimar, S. 113). 41 Die Sonnenwendfeiern hatten einen eminent politischen Charakter und dürfen keinesfalls nur als deutschtümelnde Veranstaltungen verstanden werden, wie ein Auszug aus dem Gedicht „Sonnenwende" belegt, das der Völkische Beobachter seinen Lesern mit auf den Weg gab: „Alles, was Not und Verderben gestiftet, / Was uns im innersten Marke vergiftet, / Was uns um Erde und Ehre gebracht / Und uns zum Gespött der Feinde gemacht — /Reißt's aus dem Herzen, werft's in die Glut! / Brennt sie zur Asche, die Schlangenbrut!" (Ausgabe vom 28. Juni 1922). 42 „In München wird die Protestkundgebung gegen das Versailler Schurkenstück doch stattfinden. [...] Die Reichsregierung hat durch Außerkraftsetzen wichtigster Punkte der Weimarer Verfassung und durch Maßnahmen, wie sie diktatorischer noch kein deutscher absolutistischer Kaiser oder König verfügt hat, sich vor jeder Kritik geschützt. [...] Wird die Reichsregierung nicht noch einen Erlaß erwägen, der

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Beobachter wieder verstärkt auf seine gewohnte Propaganda43. Nach Angaben des Blatts hatten in München fast 100.000 Menschen an der großen Protestveranstaltung gegen Versailles teilgenommen und „einstimmig" eine Entschließung gegen die „Schuldlüge" angenommen. Ermutigt durch diesen Erfolg hoffte das Blatt, daß sich an den „Protest gegen Versailles [...] noch einmal ein klarer Protest gegen das internationale jüdische Börsengaunertum anschließen wird, das die Hauptschuld trägt am Kriege 1914, an der Revolution 1918, am Schanddiktat von Versailles und seinen Folgen. Bis dahin", so der Völkische Beobachter, sollten alle deutschen Männer und Frauen „für die Aufklärung unseres betrogenen deutschen Volkes" arbeiten44. Der Beitrag des Völkischen Beobachters zu dieser „Aufklärung" bestand vor allem im Kampf gegen die „jüdisch-inspirierte" Republikschutzverordnung45, der das NS-Organ aber auch „positive" Aspekte abgewann: „Immerhin ist es eine Erfahrungstatsache, daß ein Kranker umso schneller stirbt, je mehr Arzte an sein Bett gerufen werden. Die 'deutsche' Republik lag schon im Wochenbett ihrer Mutter als ein totgeborenes Kind, alle Ausnahmegesetze werden daher nicht imstande sein, dieses Totenbett zum Brautbett der jüdisch-marxistischen Ehe zu machen". Die Absicht, die Republik zu schützen, sei „eine der letzten verzweifelten Maßnahmen einer dahinsinkenden Welt, einer morschen

auch die Gedankenfreiheit unter einen Staatsgerichtshof stellt?" (Ausgabe vom 28. Juni 1922). 43 Ebd. Die Schlagzeilen, mit denen das Blatt in den folgenden Ausgaben gegen Reichsregierung und Judentum antrat, waren eindeutig: „Erfolgreicher Kampf der Reichsregierung gegen die Reichsverfassung" (1. Juli), „Der Sieg der jüdischen Pest!" (8. Juli), „Wucherfreiheit: der Schutz der Republik!" (12. Juli). 44 Ausgabe vom 1. Juli 1922. Kämpferisch teilte das Blatt mit, daß Adolf Hitler, der Mann, „der alle Kraft, sein Feuer und sein Herz für diesen Kampf um deutsches Wesen eingesetzt hat, [...] von der deutschen Justiz ins Gefängnis gesperrt worden" sei. — Am 24. Juni mußten Hitler, Esser und Körner eine dreimonatige Haftstrafe wegen Landfriedensbruchs antreten: Ballerstedt, Führer des Bayernbundes, „der ziemlich extreme bayerische Forderungen vertrat" (Schwend: Bayern zwischen Monarchie und Diktatur, S. 203), konnte „während einer Rede erleben, daß Hitler, Esser und Körner auf das Podium sprangen und ihn verprügelten. Der nach dem Vorfall eintreffenden Polizei erklärte Hitler lakonisch: 'Schön, schön, der Zweck ist ja erreicht, Ballerstedt spricht nicht1" (Maser: Frühgeschichte der NSDAP, S. 287). Hitler wurde am 27. Juli vorzeitig aus der Haft entlassen. 45 Vgl. den Artikel „Der Sieg der jüdischen Pest!", der sich über die gesamte erste Seite der Ausgabe vom 8. Juli erstreckte.

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V. Die Ermordung Rathenaus

Generation"46. Trotz dieser „Zuversicht" hielt der Völkische Beobachter die politische Situation für bedenklich, denn „das innerpolitische Leben Deutschlands" hätte „in diesen Tagen verdammte Ähnlichkeit mit dem November 1918". Die Zeit schreie „förmlich nach einem Manne, der besorgter denn je um das Schicksal unseres Vaterlandes, mit fester Hand in die Höllenfahrt des Berliner Reichswagens eingreifen würde"47. Vorerst seien zwar nur die Mitglieder der Reichsregierung durch die Verordnung geschützt, demnächst würden aber wohl „mehrere Tausende Parlamentarier in diesen Halbgotthimmel einrücken; bald werden dann auch die Redakteure der Judenzeitungen drankommen"48. Es sei nicht einmal sicher, „ob Zuchthäusler und Dokumentenfälscher, die früher Mitglieder einer Regierung waren, in den Verordnungen ausgenommen" würden49.

3. Trotz Republikschutz: Ungehemmte Hetze Wurde die Verordnung zum Schutz der Republik vor allem in Preußen50 konsequent angewandt51, so konnte der Völkische Beobachter in

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Ausgabe vom 12. Juli 1922. Ausgabe vom 8. Juli 1922. Das Bild vom „Reichswagen", der dem Abgrund entgegenrast, war in der oppositionellen Presse weit verbreitet; der Berliner Lokal-Anzeiger benutzte dieses Bild besonders häufig. 48 Ausgabe vom 12. Juli 1922. 49 Höhnisch fragte das Blatt: „Darf man Herrn Eisner, den das Gericht als infamen Fälscher hinstellte, einen Schuften nennen, oder ist es nur erlaubt, vom idealen früheren bayerischen Ministerpräsidenten zu sprechen? [...] Welche Bezeichnungen gelten Matthias Erzberger gegenüber, dem vor Gericht mehrfache Vermengung von Geschäft und Politik nachgewiesen wurde [...] ?" (Ausgabe vom 8. Juli 1922). 50 Den Völkischen Beobachter empörte außerordentlich, daß in Preußen einige Zeitungen wegen ihrer antisemitischen Berichterstattung verboten wurden: „Auf Grund der Ausnahmeverordnung des Reichspräsidenten wurde [···] die 'Schlesische Volksstimme' in Breslau vom Oberpräsidenten von Niederschlesien (ehem. Hausknecht) auf die Dauer von 4 Monaten verboten. Nun gehen uns auch die Gründe zu: Sie unterstand sich, die Nichtbeseitigung der Kriegsschuldlüge als Massenmord am deutschen Volke zu bezeichnen, ferner weil sie Rathenau einen Rassefremden nannte, der nur jüdische Interessenpolitik getrieben habe" (Ausgabe vom 12. Juli 1922). 51 Am 8. Juli räumte der Völkische Beobachter ein, daß die Verordnung zum Schutz der Republik auch Konsequenzen für die NSDAP hatte: „Nachdem im Norden schon eine Reihe deutscher, d.h. antisemitischer Zeitungen beschlagnahmt worden 47

Der Völkische Beobachter

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Bayern ungestört agitieren: Friedrich Wilhelm Foerster z.B. sei „reif für Zuchthaus und Galgen"52. Die Juden seien auch deshalb „Schädlinge am deutschen Volkskörper", so der Völkische Beobachter in einer Besprechung des Buches „Die Sünde wider das Blut" von Artur Dinter, weil „Frauen, welche einmal mit fremdrassigen Männern Kinder erzeugt haben, nicht mehr imstande sind, Kinder der eigenen Rasse zur Welt zu bringen"53. Als Beweis führte das NS-Blatt u.a. zwei Veröffentlichungen von Mitarbeitern der Universitäts-Frauenklinik in Tübingen an. Dort habe ein Professor darauf hingewiesen, „daß nach Angaben der Tierzüchter eine rassereine Hündin, wenn sie einmal von einem nicht rassereinen Hunde gedeckt ist, für mehrere Würfe Bastarde hervorbringt, selbst wenn der Vater von untadelhafter Abstammung ist". Das Blatt ließ keinen Zweifel daran, daß es sich bei der „Imprägnation" um eine wissenschaftliche Erkenntnis handele: Die Besatzungszeit und die damit verbundene „Imprägnation" deutscher Frauen durch farbige Soldaten seien hoffentlich nur von kurzer Dauer, „aber die Juden haben auf diesem Wege zweifellos ungeheuren Schaden gestiftet und werden ihn weiter anrichten, denn die Zahl der unehelichen Kinder ist dank dem Unverstände unserer 'religiös vorurteilsfreien1 Mädchen nicht gering". Es sei „allerhöchste Zeit", so der Völkische Beobachter, „daß unser aller Augenmerk sich mehr auf diese Dinge richtet, und es wird eine der ersten Aufgaben des zukünftigen nationalsozialistischen Staates sein, hier mit den schärfsten Gesetzen einzugreifen, denn sonst wird unweigerlich der

sind, der Schutz- und Trutzbund, die Deutschsoziale Partei, der Jungdeutsche Orden geschlossen wurden, ist dasselbe auch in Baden geschehen. Dort ist auch die Nationalsozialistische Deutsche Arbeiterpartei verboten! Das jüdische Chaos naht, haltet fest zusammen, Nationalsozialisten, unter euch und mit allen Deutschen aller Stände und Berufe und Konfessionen". 52 Ebd. 53 Vgl. den Artikel „Imprägnation" in der Ausgabe vom 19. Juli 1922. Dinter war seit Sommer 1919 Mitglied im Beirat des Schutz- und Trutzbundes (Lohalm: Völkischer Radikalismus, S. 98). Der erste Teil der Trilogie „Die Sünde wider das Blut" erreichte bis 1921 eine Auflage von 200.000 Exemplaren (ebd., S. 126).

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V. Die Ermordung Rathenaus

Tag kommen, an dem Deutschland nur noch von Juden und einem Chaos von Mestizen bewohnt sein wird"54.

54

Völkischer Beobachter vom 19. Juli 1922. Die Bezeichnung der farbigen Besatzungstruppen als „schwarze Schmach" war in Deutschland „parteiübergreifend": Mit Ausnahme der USPD richteten bereits im Mai 1920 alle Parteien der Nationalversammlung eine gemeinsame Anfrage an die Reichsregierung, „in der die 'mißbräuchliche Verwendung der Farbigen1 als eine 'unauslöschliche Schmach' für das deutsche Volk angeprangert und darauf hingewiesen wurde, daß 'diese Wilden eine schauerliche Gefahr' für deutsche Frauen und Kinder darstellten" (Gisela Lebzelter: Die „Schwarze Schmach". Vorurteile — Propaganda — Mythos. In: GG 11 [1985], S. 37—58 [hier S. 39]). Der als Sekretär der DNVP-Fraktion in der Nationalversammlung tätige Althistoriker Ulrich Kahrstedt hatte im Sommer 1919 „die Sammlung, Erfindung und Verbreitung von Geschichten über Vergewaltigungen durch farbige Besatzungssoldaten als besonders wirksames Propagandamittel befürwortet" (Striesow: Die Deutschnationale Volkspartei und die Völkisch-Radikalen, S. 237).

Die Münchner Neuesten Nachrichten Die Münchner Neuesten Nachrichten, schon während der „Erhebungsphase 1921" im Fahrwasser der Rechten, verfochten auch 1922 ihre „Politik der nationalen Belange". Waren die umfangreichen außenpolitischen Berichte scharf antifranzösisch55 und antipolnisch56, so hob das Blatt bei seinen innenpolitischen Kommentaren hervor, daß Sozialisten und Kommunisten den äußeren Feinden an Gefährlichkeit nicht nachstünden. Diese Einstellung korrespondierte mit einer strikten Ablehnung der Reichsregierung und der „Förderung und Stärkung des bayerischen Heimatgedankens"57. In nahezu jeder Ausgabe wiesen die Münchner Neuesten Nachrichten die „dauernden Hetzereien gegen und Märchen

55

Neben den stereotypen Klagen über das „Versailler Diktat" und die „französische Vernichtungswut" kritisierten die Münchner Neuesten Nachrichten insbesondere die Verwendung farbiger Soldaten in den Reihen der Besatzungstruppen. Ein von drei Marokkanern verübter „Mord- und Sittlichkeitsanschlag" im besetzten Gebiet bot Anlaß, sich eingehender mit den „schwarzen französischen Bestien" zu befassen: „Es scheint, daß dem französischen Volk durch seine Vermischung mit den Wilden das Gefühl abhanden gekommen ist für die Schmach, daß die schwarze Rasse eine solche Rolle in Europa spielen kann. Die kulturell höherstehenden Nationen müßten endlich einmütig dagegen auftreten, daß gerade die schwarzen Teile der französischen Nation am Rhein zur Besatzung verwendet werden" (Ausgabe vom 17./18. Juni 1922). Diese Ansicht hatte bis zur Aufgabe des „passiven Widerstands" gegen die Ruhrbesetzung quasi „offiziellen Charakter" und resultierte nicht zuletzt aus der deutschen Niederlage: „Anstatt den Anspruch zu verwirklichen, zu den führenden Weltmächten zu zählen, sah man sich am Ende des Krieges selbst zum 'Kolonialstaat' degradiert" (Lebzelter: „Schwarze Schmach", S. 41). 56 Vgl. etwa den Kommentar „Die Melkkuh. Polnische Ausbeutung Oberschlesiens" (Abendblatt vom 20. Juni 1922). 57 So die programmatisch betitelten Ausführungen „Bavarica sunt, leguntur!" in der Ausgabe vom 17./18.Juni 1922.

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V. Die Ermordung Rathenaus

über Bayern" zurück und setzten sich mit den „Auswüchsen des Unitarismus" kritisch auseinander58.

1. Gegen Sozialisten

Den in Kreisen der USPD und KPD kursierenden Gerüchten, zum Jahrestag der Unterzeichnung des Versailler Vertrags sei mit einem Rechtsputsch zu rechnen, stellten die Münchner Neuesten Nachrichten ihre Überzeugung entgegen, „daß hinter der ganzen, künstlich entfachten Hetze der marxistischen Berufsdemagogen ein fester Plan" stecke59. Im Kommentar zur ersten Rede Scheidemanns nach dem Blausäure-Attentat meinte das Blatt60, Scheidemann habe „über sein Lieblingsthema: 'Der Feind steht rechts!', das er schon im Laufe der letzten Jahre in allen Variationen abgewandelt" hätte, gesprochen und dabei „dauernd das Wort 'Demokratie' im Munde" geführt. Aber was Scheidemann unter Demokratie verstehe, sei „krassester Klassenkampf61. Seine „Aufpeitschung der linksstehenden Volksteile gegen die Andersgesinnten" zeige, daß „den führenden Demagogen" daran gelegen sei, „lieber zum Kampf

58

Vgl. z.B. den Kommentar „Ein Mahnwort. Reichspräsidentenbesuch — Hetze gegen Bayern" im Morgenblatt vom 21. Juni 1922. 59 Mit einer Drahtmeldung aus Berlin über „Die Putschgerüchte" wies das Blatt die „Hetze der marxistischen Berufsdemagogen" zurück: „Die Alarmberichte der 'Freiheit' und der 'Roten Fahne' über angebliche Putschpläne der Rechten wurden im Reichskommissariat für öffentliche Ordnung als sehr übertrieben bezeichnet. Die rechtsradikale Richtung sei allerdings außerordentlich tätig und zwar unter Betonung der Völkischen' Gesichtspunkte. Aber der Staatskommissar [...] hält einen Putsch für ausgeschlossen, ebenso wird die Behauptung bestritten, daß die Regiments- und Offiziersvereine, die Stahlhelmbünde, der Jungdeutsche Orden und ähnliche Organisationen 'den Unterbau für ein der kommenden Monarchie dienendes Werk' bilden" (Morgenblatt vom 17. Juni 1922). 60 Dieser Kommentar stand unter der Überschrift: „Die Hetz-Aktion. Scheidemann: 'Der Feind steht rechts!'" (Ausgabe vom 17./18. Juni 1922). Zwei mit finanziellen Mitteln gut ausgestattete Mitglieder der Organisation Consul hatten das Blausäure-Attentat gegen Scheidemann verübt (vgl. Krüger: Brigade Ehrhardt, S. 90f.). 61 Unter dem Titel „Der Feind steht rechts", hatte Scheidemann am 7. Oktober 1919 in der Nationalversammlung eine Rede gehalten, die gemeinsam mit einer in Kassel gehaltenen Ansprache veröffentlicht wurde und eine Auflage von 200.000 Exemplaren gehabt haben soll (vgl. Scheidemann: Memoiren eines Sozialdemokraten, S. 386f.).

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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gegen die eigenen Volksgenossen" aufzurufen, als die „Ketten des Versailler Gewaltfriedens" zu sprengen62. Eine gute Gelegenheit, eine „geschlossene nationale Einheitsfront" zu dokumentieren, hätte „die geplante große Kundgebung des deutschen Volkes am 28. Juni, dem Trauertag von Versailles, geboten, bei der man jedwede parteipolitische Auseinandersetzung vermeiden wollte". Doch dieser vortreffliche Plan sei „durch den kleinlichen sozialdemokratischen Parteigeist in die Brüche gegangen, der in diesem Vorstoß gegen den Vertrag von Versailles und gegen die Kriegsschuldlüge nur eine 'Bedrohung der Republik1, eine 'Generalversammlung der Gegenrevolutionäre'" erblickt habe63. Den Unabhängigen und der Freiheit warf das industrielle Interessen vertretende Blatt vor, sie könnten nicht davon ablassen, „die Arbeiterschaft aufzuhetzen, indem sie erneut von 'Geheimorganisationen zur Wiederherstellung der Monarchie1" und einem drohenden Putsch fabeln würden64. Mit einem längeren Zitat aus der Freiheit sollte dieser „Schwindel" ad absurdum geführt werden: „'Der Plan der Verschwörung geht dahin, Bayern (natürlich!), Sachsen, Schlesien und die Ostseeprovinzen zu gemeinsamem Vorgehen zusammenzufassen. Von Bayern aus soll in allernächster Zeit losgeschlagen werden, um die Monarchie wiederaufzurichten. In Bayern ist die Zahl der Verschwörer so groß, daß man sofort einen starken Teil von ihnen nach Sachsen werfen will, um mit den dort organisierten Mitverschwörern die sozialistische sächsische Regierung zu stürzen und Sachsen zunächst mit Bayern zusammenzuketten. Chauvinistische französische Kreise (!), die auf die Zerstückelung Deutschlands spekulieren, sind in den Plan eingeweiht. Von Schlesien aus soll

62

Ausgabe vom 17./18. Juni 1922. Zugunsten der „Volksgemeinschaft" lösten die Münchner Neuesten Nachrichten auch alle „Klassengegensätze" auf: „Gerade in der Auseinandersetzung mit dem Marxismus zeigt sich, daß 'Bürger' sein nicht eine Besitzfrage, auch keine Einkommensfrage ist. Sehr viele [...] wären sehr froh, wenn sie das Einkommen eines 'Proletariers', etwa eines Monteurs oder Kohlenhauers hätten. Ganz zu schweigen von dem Einkommen der 'klassenbewußten' Führer des Proletariats. Nein! Einkommen oder Besitz macht nicht den Unterschied, sondern das Denken, die Weltanschauung, kurz das Verhältnis zu Leben, Arbeit und Gemeinschaft" (Morgenblatt vom 22. Juni 1922). 63 Morgenblatt vom 21. Juni 1922. Fiel die Kritik an der SPD sehr harsch aus, so spielte das Blatt nationalsozialistische Aktivitäten herunter und sprach z.B. nur „von unfreundlichen Aufmerksamkeiten", die dem Reichspräsidenten bei seinem Besuch in München „von rechtsradikaler Seite erwiesen wurden" (ebd.). 64 Vgl. den Artikel „Neuer 'Freiheit'-Schwindel" im Abendblatt vom 22. Juni 1922.

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gleichfalls gegen Sachsen vorgegangen werden1". Das sei natürlich alles „reine Phantasie", meinten die Münchner Neuesten Nachrichten: „Tatsache ist nur, daß mangels anderer Gelegenheiten mit solchen gänzlich erlogenen Phantastereien Unruhe geschaffen und der Boden für die Durchsetzung der eigenen, immer noch in einzelnen Köpfen spukenden Machtpläne geschaffen werden soll"65.

2. Der Jude" Walther Rathenau Zur Ermordung Rathenaus, die von weiten Kreisen der Öffentlichkeit in einen direkten Zusammenhang mit einer Rede Helfferichs im Reichstag gebracht wurde66, meinte das Blatt, dieses Verbrechen müsse „von jedem menschlich Fühlenden aufs tiefste verabscheut und bedauert werden". Es sei „ein erschütterndes Zeugnis für die schwere psychische Erkrankung des Volkes, daß immer wieder politische Wirrköpfe und fanatische Leute zur politischen Gewalttat greifen"67. Den ermordeten Außenminister beurteilten die Münchner Neuesten Nachrichten weitaus positiver als Erzberger, denn Rathenau sei „ein Mann von glänzenden Fähigkeiten, ein Intellekt von seltenen Ausmaßen" gewesen. Aber gerade Rathenaus ausgeprägter Intellekt sei nicht unproblematisch, denn „innerlich [...] war sein Denken und die ganze, den Mechanismus über alles in der Welt stellende Einstellung Rathenaus [...] nicht. Die nationalen Belange standen bei ihm unserem Gefühle nach zu weit im Hintergrunde. [...] Auf mechanischen Kräften und auf Ziffern bauend, hatte Rathenau gewiß den seiner Naturanlage entsprechend besten Willen, Deutschland wieder in die Höhe zu bringen. [...] Mit einer rein mechanistischen Weltanschauung kann jedoch wahre Größe nie verknüpft sein. Hier waren der Persönlichkeit Rathenaus die Grenzen gesetzt. Und darum fehlte ihr auch durchaus das göttliche oder dämonische Fluidum, das von den großen Führern und Errettern ihrer Völker aus-

65

Abendblatt vom 22. Juni 1922. Zu dem von Rivalität und Antipathie geprägten Verhältnis zwischen Rathenau und Helfferich vgl. Gerald D. Feldman: Der unschlüssige Staatsmann. Rathenaus letzter Tag und die Krise der Weimarer Republik. In: Ein Mann vieler Eigenschaften, S. 84-98 (hier S. 85f.). " Münchner Neueste Nachrichten, Ausgabe vom 24./25. Juni 1922. 66

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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geht"68. Wer genauer wissen wollte, warum dem ermordeten Minister „das göttliche oder dämonische Fluidum" fehlte, der fand in dem Beitrag „Walter [!] Rathenau als kulturphilosophischer und wirtschaftspolitischer Schriftsteller" weitere Hinweise: Dem „rationalistisch-mechanistisch" auf „Geisterkenntnis" und „Intellekt" ausgerichteten Rathenau blieb nach Auffassung des Autors die „wahre Seelenerkenntnis" verschlossen69.

3. Gegen die Republikschutzverordnung „Vergeßt nicht die Demokratie!"70 ermahnte das Blatt die Reichsregierung und trug neben seinen „grundsätzlichen Bedenken, die sich bei demokratischer Würdigung der Verordnung sofort ergeben", auch „Bedenken verfassungsmäßiger Art" vor. Grundsätzlich könne man „einer bestehenden Staatsform vernünftigerweise das Recht nicht bestreiten, ihre eigene Existenz sowie das Leben ihrer Repräsentanten gegen gewaltsame Vernichtung zu schützen", selbst wenn die jetzt an der Regierung beteiligten Sozialisten „seinerzeit dem monarchistischen System dieses Recht bestritten und sogar den politischen Mord in ihren Agitationsbroschüren [...] entschuldigten, ja sogar teilweise billigten". Da aber nach den letzten Äußerungen des Reichsjustizministers keinesfalls gewährleistet sei, daß die Verordnung gegen rechts und gegen links angewandt werde, müsse man zunächst verlangen, „daß die Gewalttaten von links keine andere Beurteilung finden als die Gewalttaten von rechts"71. Aber selbst wenn die Verordnung auch gegen links eingesetzt

68

Abendblatt vom 26. Juni 1922. Vgl. hierzu Thomas P. Hughes: Walther Rathenau: „system builder". In: Ein Mann vieler Eigenschaften, S. 9—31 sowie die Entgegnung von Hans Dieter Hellige: Walther Rathenau: ein Kritiker der Moderne als Organisator des Kapitalismus (ebd., S. 32—69). 69 Diese Charakterisierung befand sich „Unter dem Strich" (im Feuilleton) des Morgenblatts vom 28. Juni 1922. 70 Zwischenüberschrift des Kommentars im Morgenblatt vom 27. Juni 1922. 71 Justizminister Radbruch hatte in der Reichstagssitzung vom 25. Juni zur Vorlage der Ausnahmeverordnung gemeint: „Die Notlage, die zum Erlaß der Ausnahmeverordnung gezwungen hat, ist entstanden durch Ausschreitungen rechtsradikaler Kreise. Sie richtet sich deshalb bewußt nur gegen rechtsradikale Gewalttaten. Die lange Liste der ungesühnten Verbrechen gegen linksgerichtete Politiker läßt eine Amnestie

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werde, müsse man festhalten, daß eine Verordnung, die das Verächtlichmachen der republikanischen Staatsform unter Strafe stelle, „das demokratische Grundrecht der freien Meinungsäußerung" verletze. „Eine Verächtlichmachung republikanischer Einrichtungen als Straftat kennt die Demokratie überhaupt nicht, vielmehr steht es jedem frei, seine Meinung [...] über öffentliche Einrichtungen zu sagen. Hier verletzt die vorliegende Verordnung zweifellos nicht nur die Grundsätze des demokratischen Staatssystems, sondern ebenso die politische Zweckmäßigkeit. Sie gewinnt den Charakter eines Maulkorbgesetzes und wird infolgedessen wie jedes Maulkorbgesetz das Gegenteil von dem erreichen, was es bezweckt"72. Nach diesen grundsätzlichen Einwänden „zur Wahrung des demokratischen Standpunkts" und ihren „Bedenken verfassungsmäßiger Art" gegen den Staatsgerichtshof kamen die Münchner Neuesten Nachrichten zum — ihr wichtigen — „Kern des Problems": „Können wir mit der Reichsregierung nicht übereinstimmen in den Maßnahmen, die sie jetzt erlassen hat, so freuen wir uns andererseits, daß der Reichskanzler es nicht versäumt hat, mit energischen und klaren Worten auf die eigentliche Quelle jener unglückseligen Zustände in Deutschland hinzuweisen, aus denen diese Giftblüten des politischen Mordes erwachsen, nämlich auf den Versailler Vertrag und die Vernichtungspolitik der Entente. [...] In der Tat! Nicht Ausnahmegesetze, sondern nur die Änderung der Lebensbedingungen der deutschen Nation [...] kann dazu führen, daß der Glaube bei verwirrten Patrioten erlischt, sie müßten aus Vaterlandsliebe zum Verbrecher werden"73. Mit erstaunlicher Selbstgerechtigkeit stilisierten sich die Münchner Neuesten Nachrichten zum Hort wahrer Demokratie. „Demokratie verpflichtet!" hieß es in einem jener Kommentare, mit denen Stimmung gegen die Reichsregierung gemacht wurde: „Führende demokratische Kreise sehen jedenfalls schon jetzt mit Besorgnis", so das Blatt, „wie Sofür politische Vergehen Linksradikaler unerläßlich erscheinen" (zitiert nach dem Abendblatt vom 26. Juni 1922). 72 Morgenblatt vom 27. Juni 1922. „Die Ausdehnung auf alle früheren republikanischen Regierungen gibt ferner die Möglichkeit, sogar Kritik an Männern wie Eisner zu unterbinden", monierte das Blatt. 73 Ebd. Reichskanzler Wirth hatte in seiner Trauerrede für Rathenau auch erklärt, die Republik könnte leichter die Zustimmung der Bevölkerung finden, wenn der Versailler Vertrag nicht so drückend wäre. Indem die Münchner Neuesten Nachrichten diese Aussage hervorhoben, gaben sie der Trauerrede einen insgesamt falschen Akzent, denn der Satz „Der Feind steht rechts" war die zentrale Aussage von Wirth.

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zialisten aller Schattierungen zusammen mit Zentrumsleuten heute bereits emsig bemüht sind, dem geplanten Gesetz eine Form zu geben, die die Pressefreiheit ebenso wie die Versammlungsfreiheit in ganz Deutschland in einem derartigen Maß beschränkt, [...] daß nicht einmal mehr die Kritik dieses Maulkorbgesetzes straffrei sein werde"74. Damit hatten die Münchner Neuesten Nachrichten ihr Pulver aber noch nicht verschossen: „Demokratie oder Diktatur?" fragte das Blatt nach der Demonstration für die Republik im Berliner Lustgarten. In Wahrheit habe so gut wie niemand für die Republik demonstriert, sondern „diese Demonstration [...] bestand [...] darin, daß man Läden ausplünderte, Zeitungen wahllos demolierte, Abgeordnete mißhandelte, die mit dem Morde nicht das Geringste zu tun haben und durchaus nicht zum radikalistischen Flügel der Rechten gehören75. Kurz, man sah und sieht, wie plötzlich wieder jene aus den Tagen der Anarchie bekannten Gestalten der Pöbels [...] auftauchen"76. In engem Schulterschluß mit der bayerischen Staatspolitik schrieben die Münchner Neuesten Nachrichten: „'Die reaktionäre Ordnungszelle' Bayern zeigte sich in den letzten Tagen als so ziemlich einziger Hort einer verfassungs- und prinzipientreuen Demokratie für Deutschland. Während in vielen anderen Gegenden Deutsch-

74

Morgenblatt vom 28. Juni 1922. Auch die Münchner Neuesten Nachrichten hielten das „Sozialistengesetz" für „nicht so reaktionär" wie die „Maulkorb- und Büttelpolitik" der Reichsregierung (Morgenblatt vom 29. Juni 1922). 75 Nach einer Meldung des Wölfischen Telegraphenbüros war es im Anschluß an die Protestkundgebungen gegen die Ermordung Rathenaus „in verschiedenen Orten des Reiches zu Zwischenfällen" gekommen. „In Karlsruhe zogen nach den Kundgebungen Trupps von Arbeitern durch die Straßen und zertrümmerten Schilder mit Hoflieferanten und Kronen. Zu besonders schweren Ausschreitungen kam es vor dem Hause der Geschäftsstelle der Deutschnationalen Volkspartei. Hier wurden die Rolläden gewaltsam emporgehoben, eine große Schaufensterscheibe zertrümmert, sämtliches Mobiliar kurz und klein geschlagen und auf die Straße geschleudert. In Darmstadt wurden ebenfalls vielfach Schilder heruntergerissen und zertrümmert sowie Geschäftsinhaber mißhandelt. [...] Die Ausschreitungen haben gegen Abend an Umfang zugenommen. Die Menge drang in die Wohnungen der Abgeordneten der Deutschen Volkspartei Dingeldey und Dr. Osann ein und zertrümmerte die Wohnungseinrichtungen" (zitiert nach der Abendausgabe des Vorwärts vom 28. Juni 1922). 76 Münchner Neueste Nachrichten. Morgenblatt vom 29. Juni 1922. Schuld an den Ausschreitungen sei Radbruch, denn er wolle „jene dunklen Existenzen aus der trübsten Zeit Deutschlands" wieder freilassen, „die man glücklicherweise allmählich festgesetzt hatte. [...] Es scheint also, als ob die sozialistische Absicht dahin gehe, die Verfassung preiszugeben".

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lands das Lumpenproletariat zum 'Protest gegen den politischen Mord' und 'zum Schütze der Republik' unschuldige deutsche Staatsbürger erschlug, andere schwer mißhandelte, Läden ausplünderte, Gefängnisse und Zuchthäuser zu öffnen suchte und auf diese Weise die Reichspräsidentenverordnung 'zur Wiederherstellung der öffentlichen Sicherheit und Ordnung [...]' in ihre revolutionäre Praxis umsetzte, konnten in Bayern die staatsbürgerlichen Freiheiten nicht nur der Form nach aufrechterhalten werden. Staatsregierung und Polizeipräsidium handelten nach dem demokratischen Rechtsgrundsatz und klug, als sie die Meinungsäußerungen der letzten Tage in Form von öffentlichen Demonstrationen erlaubten77 und nur die eine, selbstverständliche Bedingung an die Erlaubnis knüpften, daß die öffentliche Ruhe und Ordnung nicht gefährdet werde"78. „In Bayern herrscht vollständige Ruhe und Ordnung", lautete die stereotype Parole der Münchner Neuesten Nachrichten79.

4. Die „guten " und die „schlechten "Juden Außer ihren Ausführungen zum Mord an Rathenau brachten die Münchner Neuesten Nachrichten, die im Lokalteil regelmäßig die jüdischen Gottesdienstzeiten anführten, in dieser „Erhebungsphase" nur zwei redaktionelle Beiträge zum Themenbereich „Judentum — Antisemitismus"80: „Ein unnötiger konfessioneller Konflikt" in Pirmasens hatte „heftige Presse-Erörterungen" hervorgerufen81: Nachdem der Stadtrat „die Einführung des Leichenhauszwanges aus wohlberechtigten hygienischen Gründen beschlossen" hatte, wurde „auf Veranlassung eines israelitischen Stadtrats [...] das Kreuz an der Spitze des Leichenhauses auf dem christlichen Friedhof entfernt unter der Angabe, der israeli77

Gemeint waren die Sonnenwendfeiern und Protestveranstaltungen gegen den Versailler Vertrag. 78 Morgenblatt vom 30. Juni 1922. 79 Vgl. den auf der Titelseite (ebd.) typographisch hervorgehobenen Beitrag „Sensation und Hetze". 80 Die von der Telegraphen-Union übernommene Meldung, daß im „sächsischen Landtag schärfste Maßnahmen zur 'Säuberung der Verwaltungsorgane von monarchistischen und antisemitischen Beamten'" angekündigt worden seien, enthält keine redaktionelle Wertung und bleibt im folgenden unberücksichtigt (vgl. das Morgenblatt vom 30. Juni 1922). 81 Morgenblatt vom 26. Juni 1922.

Die Münchner Neuesten Nachrichten

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tische Ritus verbiete die Aufbewahrung von Leichen in Gebäuden, die das Kreuz tragen". Als der Pirmasenser Oberbürgermeister die Entfernung des Kreuzes mit dem Hinweis rechtfertigte, für „die christlichen Bekenntnisse" gebe es keine „zwingende Vorschrift", ein Leichenhaus mit einem Kreuz zu versehen, der Leichenhauszwang gelte für alle Konfessionen, und deshalb müsse das städtische Leichenhaus „ein völlig neutrales Aussehen haben", meinten die Münchner Neuesten Nachrichten, es sei unbegreiflich, „wie in der jetzigen Zeit durch derartige einfältige Eingriffe höchst überflüssiger Art von städtischen Behörden Reizzustände in geradezu leichtfertiger Art geschaffen werden. [...] Im Interesse des so notwendigen Friedens zwischen der christlichen und jüdischen Bevölkerung [... sei] die frivole Geschäftigkeit des jüdischen Stadtrats aufs allerschärfste zu verurteilen; solche Taktlosigkeiten müssen ja schließlich als Provokation wirken und es ist gut, daß die jüdische Kultusgemeinde von einem solchen Verfahren abgerückt ist"82. Entscheidendes Kriterium zur Beurteilung von Juden war für die Münchner Neuesten Nachrichten, ob die gewünschte nationale Einstellung vorhanden war, wie die positive Resonanz auf eine Rede von Max Naumann, dem Begründer und Vorsitzenden des Verbandes nationaldeutscher Juden, zeigt83: Dr. Naumann widerlegte „die landläufige Meinung großer Teile des deutschen Volkes, daß das Judentum eine homogene Masse hinsichtlich seines Wesens, Blutes und der gefühlsmäßigen Einstellung sei und zerstörte gründlich das Märchen von der jüdischen Einheitsfront, indem er nachwies, daß das Judentum in drei große Schichten zerfalle: Zionisten, Zwischenschicht der Jüdisch-Nationalen und nationaldeutsche Juden. Er wies die ersteren als Feinde Deutschlands ebenso entschieden zurück wie die Zwischenschicht der JüdischNationalen, die nicht die letzte Konsequenz [aus] ihrer Einstellung zögen". Ganz im Sinne der Münchner Neuesten Nachrichten fuhr Naumann fort, als er meinte, „der nationaldeutsche Verband steht rein gefühlsmäßig in engster Verbindung mit der deutschen Kultur und Volksgemein-

82

Ebd. „Die israelitische Kultusgemeinde" hatte öffentlich erklärt, „sie habe die Wegnahme des Kreuzes nicht veranlaßt", und, so fügte das Blatt hinzu, „viele gutgläubige Israeliten" hätten „die Wiederherstellung des alten Zustandes" gefordert. 83 Morgenausgabe vom 30. Juni 1922. Zur politischen Haltung des „nationaldeutschen Juden" Max Naumann vgl. Eva G. Reichmann: Das Bewußtsein der deutschen Juden. In: Deutsches Judentum in Krieg und Revolution, S. 511—612, besonders S. 541 ff. sowie 566ff.

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V. Die Ermordung Rathenaus

schaft. Er erstrebt es, alle deutschen Juden, sofern sie von Grund auf national sind, zu sammeln und sie zu deutscher Tat der Einheitsfront des deutschen Volkes [...] einzugliedern". Dem uneingeschränkten Bekenntnis Naumanns zum „deutschen Geist" zollten die Münchner Neuesten Nachrichten Beifall, während sie die „Zwischenschicht der Jüdisch-Nationalen" ebenfalls skeptisch beurteilten. Uneingeschränkt zustimmen konnte das Blatt dem abschließenden Statement Naumanns, in dem er sich „gegen jegliche Einwanderung aus dem Osten" aussprach84.

84

Morgenausgabe vom 30. Juni 1922.

in Der Berliner Lokal-Anzeiger Seiner „borussischen" Ideologie verschrieben, unterstrich das Hugenberg-Blatt immer wieder seine „Trauer um Oberschlesien"85. In diesem Sinne reagierte der Lokal-Anzeiger sogar auf Aussagen sozialdemokratischer Politiker positiv, wenn sie nur einen antipolnischen Akzent hatten86. Zustimmend berichtete das Blatt über die zahlreichen „Trauerkundgebungen'' nationaler Verbände87, bei denen in aller Regel ein antirepublikanischer Ton mitschwang. Den „nationalen Gedanken" hob der Lokal-Anzeiger, wann immer möglich, deutlich hervor88. Die

85

So der Aufmacher in der Morgenausgabe vom 17. Juni 1922, in dem das Blatt sich mit der Abtretung von Teilen Oberschlesiens an Polen beschäftigte. Dem Thema Oberschlesien widmete der Lokal-Anzeiger mehr Raum als jede andere Zeitung dieser Studie. 86 Als Severing in einer Rede an die Landräte und Bürgermeister Oberschlesiens betonte, er sei „durchaus der Meinung, daß die Polen mit ihren Grenzen heute noch nicht zufrieden sind. Wir würden auf alle Fälle bei Angriffen der Polen auf unsere Landesgrenze die Leidtragenden sein, wenn sich in Ostpreußen, Pommern und Oberschlesien die Kräfte der Deutschen in Parteikämpfen zersplittern", meinte der LokalAnzeiger, „so selten wir mit Meinungsäußerungen des derzeitigen Preußischen Innenministers einverstanden sein können, in diesem Falle sind wir es ganz" (ebd.). 87 Ausdrücklich begrüßte das Blatt die Entscheidung des Oberkirchenrats, für alle evangelischen Kirchen Preußens am 17. Juni ein „halbstündiges Trauergeläut für Oberschlesien" anzuordnen (Abendausgabe vom 17. Juni 1922). 88 Einen Bericht über die Sonnenwendfeier des Schutz- und Trutzbundes auf den Müggelbergen, an der auch „der Verband nationalgesinnter Soldaten mit seinen gesamten Mitgliedern" teilnahm, veröffentlichte der Lokal-Anzeiger nicht nur in zwei Ausgaben, sondern das Blatt brachte ihn zusätzlich in einer Sonderausgabe (vgl. die Sonntagsausgabe vom 18. Juni, die Abendausgabe vom 19. Juni sowie die Sonderausgabe Nr. 23). In diesen drei Ausgaben erschien auch der Artikel „Deutsche Kundgebung am Wannsee", bei der — zur Erinnerung an abgetrennte, besetzte und bedrohte Gebietsteile — mehrere Ruderboote auf die Namen „Straßburg, Rhein, Mosel, Saar, Danzig, Ostpreußen, Königshütte [und] Königsberg" getauft wurden.

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V. Die Ermordung Rathenaus

„schwarz-weiß-rot" akzentuierte Berichterstattung des Lokal-Anzeigers bildet einen auffälligen Kontrast zur zurückhaltenden Kritik an der Regierungspolitik nach der Ermordung Rathenaus.

1. Gegen die „Linken" und Trauer um Wolfgang Kapp Daß die Arbeitersportler von USPD und KPD gegen die „Deutschen Kampfspiele" eine Protest-Veranstaltung im Berliner Lustgarten abhielten, wertete der Lokal-Anzeiger als „Teil der Hetze, die in letzter Zeit von der Linken gegen die Rechtsparteien begonnen" worden sei89. Zu dieser Hetze gehöre auch die Rede Scheidemanns, die er „in Ausnutzung des für ihn so glücklich verlaufenen 'Blausäure'-Attentats [...] über das Thema 'Der Feind steht rechts1 gehalten" hatte. „Natürlich fanden die üblichen Tiraden stürmischen Beifall"90, meinte der Lokal-Anzeiger und zog gegen „die linksradikalen Zwecklügen" der drei Linksparteien zu Felde91. Es sei „unmöglich, auch nur eine gedrängte Übersicht all der Lügen zu geben, mit denen gegenwärtig in den radikalen Organen geschürt wird. [...] Je faustdicker die Lüge, desto lieber ist sie ihnen, wenn sie nur geeignet ist, Unbesonnene zu Gewalttaten zu verleiten. Teile der deutschen Arbeiterschaft in derartigen Händen zu wissen, ist für jeden Vaterlandsfreund wahrhaftig ein schmerzliches Gefühl", klagte der Lokal-Anzeiger*2.

89

Sonntagsausgabe vom 18. Juni 1922. Morgenausgabe vom 17. Juni 1922. 91 In seiner Morgenausgabe vom 22. Juni brachte der Lokal-Anzeiger einen Abdruck aus der Breslauer Volkswacht, in dem ein ehemaliger Kommunist „ein unbezahlbares Sittenbild aus dem Parteileben von heute" zum besten gab: Da dieser Kommunist nach dem Märzaufstand 1921 angeblich seine Verhaftung befürchten mußte, hatte die Zentrale der KPD ihn nach Moskau abgeschoben; in Wahrheit habe man ihn jedoch dorthin geschickt, um „Valutaschiebungen" zu arrangieren. Während seiner Abwesenheit hatte er seine Wohnung der Partei zur Verfügung gestellt. Den Eindruck bei seiner Rückkehr schilderte er wie folgt: „Was ich in Breslau und namentlich in meiner Wohnung antraf, übersteigt selbst die kühnste Phantasie. Ohrenbetäubender Lärm, alberne Diskussionen, überall angetrunkene Funktionäre, verkable Zigeuner, Russen, Polen — alles durcheinander. Die Betten in ekelerregendem Zustande, kurz, eine echte KPD-Zentrale" (ebd.). 92 Abendausgabe vom 17. Juni 1922. 90

Der Berliner Lokal-Anzeiger

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Nicht weniger aufschlußreich für die politische Haltung des Hugenberg-Organs war ein Bericht über die Trauerfeier für Wolfgang Kapp. Ohne näher auf die Rolle Kapps im Putsch vom März 1920 einzugehen, berichtete das Blatt über die „weihevolle Trauerfeier [...] für den verstorbenen früheren Generallandschaftsdirektor, Wirklichen Geh. Oberregierungsrat Dr. h.c. Wolfgang Kapp, im Generallandschaftsgebäude in Königsberg [...], welcher die Kollegien der ostpreußischen Landschaft mit deren Beamten, zahlreiche bekannte Persönlichkeiten aus der Provinz Ostpreußen und viele Freunde des Dahingeschiedenen beiwohnten". Unkommentiert präsentierte das massenwirksame Flaggschiff des Hugenberg-Konzerns seinen Lesern Auszüge aus den Trauerreden: „Heimweh nach Deutschland" habe Kapp verzehrt, „als die große Tragik seines Schicksals ihn in die Verbannung schickte". Die pathetische Diktion der Trauerredner konnte der Lokal-Anzeiger problemlos übernehmen, denn sie war ihm keinesfalls aufgesetztes Pathos, sondern bildete die erforderliche Aura, um politische Ansichten zu transportieren, deren Quintessenz Kapps Nachfolger auf einen einfachen Begriff brachte: „Die ostpreußische Landschaft ist stolz darauf, daß sie den Geheimrat Kapp zu den Ihren zählen konnte. Sein Name wird mit ihrer Geschichte für alle Zeit verknüpft bleiben"93.

2. Die Einstellung zum Judentum Der Lokal-Anzeiger, bekannt für seine eindeutig antirepublikanische Grundhaltung, die auch Raum für Ausländerfeindlichkeit bot94, berich-

93

Abendausgabe vom 22. Juni 1922. Unter dem Titel „Sind wir schutzlos gegen Ausländer?" brachte das Blatt in seiner Sonntagsausgabe vom 25. Juni 1922 die Zuschrift eines Arztes, der schilderte, wie eine 62jährige, schwerkranke Dame ihn mit Spuren „brutalster Mißhandlung" aufgesucht habe: Das Wohnungsamt hatte einem türkischen Ehepaar zwei Zimmer ihrer Wohnung zugewiesen. Doch schon nach kürzester Zeit habe das Ehepaar „Besitz von der Küche" und der gesamten Wohnung genommen und die alte Dame, als sie einmal ihre Küche selbst nutzen wollte, „in brutalster Weise aus ihrer eigenen Wohnung buchstäblich hinausgeprügelt". Dieser Vorgang wurde nun keinesfalls als individuelles Fehlverhalten dargestellt, sondern die Schlußbemerkung des Arztes enthielt eine klare Schuldzuweisung: „Ist 'republikanische Verfassung' denn wirklich gleichbedeutend mit 'unbeschränktem Faustrecht', so daß nur derjenige vor Schädigung an Leib und Leben sicher ist, der sich mit den eigenen Fäusten zu schützen vermag?" (ebd.). 94

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tete im Sommer 1922 zwar regelmäßig über die Tätigkeit völkischer Gruppen95 und brachte ausführliche Berichte über deutschnationale Veranstaltungen96, aber in allen Ausgaben dieser „Erhebungsphase" enthielt sich das Blatt eines manifesten Antisemitismus. Gestützt auf eine Meldung des Evangelischen Pressedienstes, berichtete der Lokal-Anzeiger über die Wahl von 12 „nicht-christlichen" Lehrern zu Rektoren an Berliner Gemeindeschulen. Da das Provinzialschulkollegium die Wahl der 12 Lehrer nicht bestätigte, weil „die Bestimmungen des Volksschulunterhaltungsgesetzes ganz unzweideutig für evangelische Schulen evangelische Lehrer und dementsprechend auch Leiter vorschreiben", meinte der Lokal-Anzeiger, es sei unverständlich, warum „die radikale Presse" gegen „die Wahrung des einzig möglichen Rechtsstandpunktes [...] Sturm" laufe97. Das zweite Beispiel entbehrte ebenfalls einer offenen Judenfeindschaft, obwohl auch hier der gesamte Kontext auf eine antijüdische Grundhaltung schließen läßt: Anläßlich einer Diskussion über die Getreideumlage hatte der kommunistische Reichstagsabgeordnete Heydemann erklärt, die Landwirte, die niemals zuvor so glänzende Geschäfte gemacht hätten, seien dabei, „die Gegenrevolution zu organisieren und die arbeitenden Massen auszuhungern". Dem Abgeordneten Graefe (DNVP) warf Heydemann in diesem Zusammenhang eine „jüdische Abstammung" vor. Mochte dieser Vorwurf nach dem Verständnis der Leser des Lokal-Anzeigers schon deshalb wenig glaubwürdig sein, weil er von einem Kommunisten stammte, so referierte das Blatt doch ausführlich die Replik Graefes: „Die Behauptung, er sei ein Judenstämmling", habe Graefe als „orientalische Phantasie" bezeichnet und sich erboten, „dem Abg. Heidemann [!] seinen Stammbaum durch 32 Ahnen lückenlos vorzulegen, um nachzuweisen, daß kein jüdisches Blut in seinen Adern sei"98. Auch hier hatte der LokalAnzeiger nur referiert und auf eine eigene Position verzichtet; aber 95

Zu diesen Organisationen zählten der Hochschulring deutscher Art, der Bund der Aufrechten, der Verband nationalgesinnter Soldaten sowie der Schutz- und Trutzbund; sie alle wurden nach dem Mord an Rathenau in Preußen verboten. 96 Vgl. etwa die Ausführungen zum „Johannitertag in Potsdam", an dem neben Hindenburg „in seiner Eigenschaft als Ordenshauptmann [...] der Bailei Brandenburg" auch der „Herrenmeister" der Bailei, Prinz Eitel-Friedrich von Preußen, die Prinzessinnen des Hauses Hohenzollern sowie die Prinzen Oskar und August Wilhelm teilnahmen (Sonntagsausgabe vom 25. Juni 1922). 97 Abendausgabe vom 21. Juni 1922. 98 Ebd.

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wenn das Blatt unterstrich, daß Graefe angesichts dieser „Verleumdung" bereit war, seine Ahnenreihe vorzulegen, dann zeigt das, wie wichtig es war, den Vorwurf, Jude zu sein, zu entkräften. Im Gegensatz zu diesen beiden Passagen, die negative Konnotationen anklingen lassen, stellte der Lokal-Anzeiger ein durchgängig positives Umfeld zum Begriff des Jüdischen her, als er über die Feier zum 60. Geburtstag von Gustav Rickelt, dem Gründer der Genossenschaft der Bühnenangestellten, berichtete".

3. Walther Rathenau — ein ungewohntes Bild des Lokal-Anzeigers Nur wenige Stunden nach der Ermordung Rathenaus brachte der Lokal-Anzeiger erste Informationen über diese Bluttat: „Noch schwankt, von der Parteien Haß und Gunst verwirrt, sein Charakterbild, aber kein Zweifel herrscht darüber, daß mit ihm ein hochbedeutender, vom besten Willen erfüllter Mann dahingegangen ist"100. Daß der LokalAnzeiger positiv über Rathenau berichtete, weil er an sein Erscheinungsverbot nach dem Mord an Erzberger dachte, kann zwar nicht ausgeschlossen werden, aber die Kommentare nach dem Mord paßten ebensowenig zur sonstigen Berichterstattung des DNVP-Organs wie die Kritik an der „Verbrecherpolitik"101, der Rathenau zum Opfer gefallen war. Daß diese für das Hugenberg-Blatt ungewöhnliche Berichterstattung in der Öffentlichkeit mit Skepsis aufgenommen wurde, zeigt eine Notiz des Vorwärts: „Der deutschnationale 'Lokal-Anzeiger1 überschlägt sich", so der Vorwärts, „in heuchlerischer Entrüstung über die Mörder, nachdem er selbst monatelang die Hetze gegen das Reichskabinett mitgemacht hat. Es ist bezeichnend für die Anpassungsfähigkeit dieses gefähr-

" Abendausgabe vom 22. Juni 1922. Diese Würdigung ist um so bemerkenswerter, als Rickelt im November 1918 als „Interessenswahrnehmer der Schauspieler" in den Arbeiter- und Soldatenrat gewählt worden war (vgl. die BZ vom 11. November 1918). 100 Abendausgabe vom 24. Juni 1922. 101 So die Überschrift des Leitartikels der Abendausgabe vom 24. Juni 1922. In der Landtags-Debatte zur preußischen Ausnahmeverordnung befaßte sich der Abgeordnete Heß vom Zentrum mit diesem Kommentar, in dem der Lokal-Anzeiger meinte, Rathenau sei „auf dem Felde der Ehre gefallen". Diese Formulierung, so Heß, „erfüllt uns mit Ekel und Verachtung" (zitiert nach der Morgenausgabe der Germania vom 27. Juni 1922).

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liehen Blattes, daß die Besprechung der letzten Reichstagssitzungen nicht mehr wie gewöhnlich von einem der übelsten Giftmischer, J. W. Harnisch, dem einstigen 'Pressechef von Kapp, sondern von seinem Redakteur S. Breslauer verfaßt waren. Wenn die deutschvölkische Hetze ihre Früchte getragen hat, dann verschwindet stets für ein paar Wochen Herr Harnisch in der Kulisse, und es wird an seiner Stelle Herr Breslauer vorgeschickt"102. Isoliert man die Verurteilung des Mordes an Rathenau von den sonstigen Aussagen des Lokal-Anzeigers, dann ergibt sich in der Tat ein überraschendes Bild: Die „Verbrecherhand" der Mörder habe „diesmal einen Mann von reinster Gesinnung, von untadeliger Lebensführung, von vorbildlicher Vaterlandsliebe getroffen". Rathenau habe schon „am ersten Tage des Weltkrieges die Ruhe seines Privatbureaus'' aufgegeben, „um in selbstloser, aufreibendster Arbeit die Rohstoffversorgung des deutschen Heeres [...] auch für eine lange Kriegsdauer sicherzustellen"103. Auch auf die Frage, warum man Rathenau ermordet hatte, wußte der Lokal-Anzeiger eine Antwort: „Man sah in ihm eine Verkörperung des internationalen Großkapitals, den Mann jüdischer Abstammung, und glaubte ihm nachsagen zu dürfen, daß er weder imstande noch gewillt sei, die Ehre und Interessen des Deutschen Reiches dem Auslande gegenüber erfolgreich zu vertreten. [...] Gewisse Richtungen waren eben daran interessiert, den Unwillen des Volkes über unsere ohnmächtige Lage, über die unaufhörlichen Demütigungen, die wir zu erdulden haben, gerade gegen diesen Mann wachzuhalten, und es soll und es muß in diesem Augenblicke gesagt werden, daß sie sich dadurch unter allen Umständen moralisch mitschuldig gemacht haben an diesem im stillen Grunewald vergossenen Blut. Freilich gehört es ja nachgerade zum guten Ton in der deutschen Republik, seinem politischen Gegner auch die persönliche Ehre abzusprechen, und bei einer so problematischen Natur wie Erzberger mochte man schließlich manches für entschuldbar halten, was in Wirklichkeit unentschuldbar war". Mit der Ermordung Rathenaus aber, so der Kommentar Breslauers, hätten die Mörder „zugleich gegen das ganze deutsche Volk einen Streich von unabsehbarer Tragweite geführt"104.

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Vorwärts, Abendausgabe vom 28. Juni 1922. Berliner Lokal-Anzeiger, Abendausgabe vom 24. Juni 1922. 104 Ebd. Ob bei dieser positiven Würdigung die Tatsache eine Rolle spielte, daß Rathenau schon während des Kaiserreichs in den Kreisen der „Berliner Gesellschaft" 103

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Hatte der Lokal-Anzeiger das „Gesetz zum Schutz der Republik" nach dem Mord an Erzberger scharf kritisiert, so zeigte er jetzt Verständnis für die Maßnahmen der Reichsregierung: „Gleichviel, wie man sonst zu ihr stehen mag, die Notwendigkeit ungewöhnlicher gesetzlicher Maßnahmen kann der verantwortlichen Staatsleitung nach dem gestrigen Verbrechen unmöglich abgesprochen werden"105. Nachdem ein weiterer Kommentar sogar den neu geschaffenen Staatsgerichtshof und die aufschiebende Wirkung von gerichtlichen Einsprüchen gegen drohende Zeitungsverbote positiv beurteilt hatte, klang, wenn auch verhalten, die gewohnte Oppositionshaltung an: „Im übrigen braucht kaum noch gesagt zu werden, daß mit bloßen Repressivmaßnahmen allein unserem bis ins Innerste erkrankten Volkskörper keine Rettung gebracht werden kann, auch nicht der republikanischen Staatsform, die die Reichsregierung an erster Stelle bedroht sieht. Nur eine Politik, die nicht im Zeichen des Klassenkampfes steht, sondern auf wahrhafte innere Versöhnung gerichtet ist, wird den Staatswagen wieder vom Rande des Abgrundes zurückreißen können"106. Den Initiativen der Reichsregierung zum Schutz der Republik hatte der Lokal-Anzeiger zwar unerwartet viel Verständnis entgegengebracht107, aber es bleibt offen, ob das Blatt sich damit dem veränderten Meinungsklima nach dem Mord anpassen wollte oder ob die zurückhaltende Berichterstattung Ausdruck einer veränderten Einstellung zur Republik war108. ein oft und gern gesehener Gast war, bleibt offen (vgl. dazu Kessler: Walther Rathenau, S. 49ff.). 105 (Sonntags-)Ausgabe vom 25. Juni 1922; auch diese Ausführungen waren mit S[amuel] B[reslauer] gezeichnet. '