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German Pages 278 Year 2020
Heiner Bielefeldt, Michael Wiener Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Edition transcript | Band 6
Im Gedenken an Asma Jahangir (1952-2018)
Heiner Bielefeldt (Prof. Dr. Dr. h.c.) ist Inhaber des Lehrstuhls für Menschenrechte und Menschenrechtspolitik an der Universität Erlangen-Nürnberg und gehört zu den führenden Menschenrechtsexperten in Deutschland. Von 2003 bis 2009 war er Direktor des Deutschen Instituts für Menschenrechte sowie von 2010 bis 2016 Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit des UNO-Menschenrechtsrats. Für sein Engagement im Rahmen der Vereinten Nationen erhielt er 2017 das Bundesverdienstkreuz Erster Klasse. Michael Wiener (Dr. LL.M.) arbeitet als Human Rights Officer im UNO-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf. Darüber hinaus ist er Visiting Fellow am Kellogg College der Universität Oxford. Zusammen mit Heiner Bielefeldt und Nazila Ghanea erhielt er 2019 den Premio Alberigo Senior Book Award für ihren juristischen Kommentar über die internationale Religionsoder Weltanschauungsfreiheit.
Heiner Bielefeldt, Michael Wiener
Religionsfreiheit auf dem Prüfstand Konturen eines umkämpften Menschenrechts
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. © 2020 transcript Verlag, Bielefeld All rights reserved. Published by arrangement with the University of Pennsylvania Press, Philadelphia, Pennsylvania. None of this book may be reproduced or transmitted in any form or by any means without permission in writing from the University of Pennsylvania Press. Alle Rechte vorbehalten. Die Verwertung der Texte und Bilder ist ohne Zustimmung des Verlages urheberrechtswidrig und strafbar. Das gilt auch für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Verarbeitung mit elektronischen Systemen. Umschlaggestaltung: Kordula Röckenhaus, Bielefeld Korrektorat: Sophie Hanisch, Bielefeld Übersetzung aus dem Englischen (»Religious Freedom Under Scrutiny«) durch die Autoren Druck: Majuskel Medienproduktion GmbH, Wetzlar Print-ISBN 978-3-8376-4997-0 PDF-ISBN 978-3-8394-4997-4 https://doi.org/10.14361/9783839449974 Gedruckt auf alterungsbeständigem Papier mit chlorfrei gebleichtem Zellstoff. Besuchen Sie uns im Internet: https://www.transcript-verlag.de Unsere aktuelle Vorschau finden Sie unter www.transcript-verlag.de/vorschaudownload
Inhalt
1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Einleitung .......................................................................... 9 Ein »klassisches« Menschenrecht in der Kontroverse ............................................ 9 Ambivalente politische Reaktionen .................................................................... 11 Erinnerung an Moses Mendelssohn .................................................................... 14 Religionsfreiheit als Menschenrecht – zur Doppelthese dieses Buches ..................... 17
Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens? ................... 23 Varianten von Universalismuskritik .................................................................. 23 Reformulierung des menschenrechtlichen Universalismus .....................................28 Menschenrechtliche Konturierung der Religionsfreiheit ........................................ 34 Impliziter protestantischer Bias? ......................................................................40 2.4.1 Vorrang der Innerlichkeit? ...................................................................... 41 2.4.2 Einseitiger Individualismus? .................................................................. 43 2.4.3 Orientierung am freikirchlichen Paradigma? ..............................................46 2.5 Auf dem Weg zu einem neoliberalen Markt der Religionen? .................................... 49 2.6 Menschenrechtspraxis als Kultur des Hinhörens ...................................................52 2. 2.1 2.2 2.3 2.4
Freiheit zur Unfreiheit? ............................................................ 55 Liberale Vorbehalte gegen ein Freiheitsrecht .......................................................55 Freiheit zur Selbstfindung ............................................................................... 57 Inhaltliche Dimensionen der Religionsfreiheit ..................................................... 61 Die freiheitssichernde Funktion von »Schranken-Schranken«.................................62 Entkernung des Freiheitsrechts? ...................................................................... 68 3.5.1 Ehrschutz für Religionen?...................................................................... 68 3.5.2 Vorrang kollektiver Identitäten?............................................................... 71 3.5.3 Instrument interreligiöser Harmonie? ....................................................... 73 3.5.4 »Freedom from religion«? ...................................................................... 75 3.6 Brücke zwischen Religion und Freiheit ............................................................... 76
3. 3.1 3.2 3.3 3.4 3.5
4. 4.1
Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit ....................................... 81 Religionsfreiheit versus Gleichberechtigung?....................................................... 81
4.2 4.3 4.4 4.5 4.6 4.7
Gleichheit der Menschen, nicht der Religionen .....................................................82 Differenzfreundliche Gleichheit ........................................................................84 Direkte, indirekte und strukturelle Diskriminierungen ........................................... 86 »Reasonable accommodation« als Bestandteil komplexer Gleichheit ...................... 88 Die Behindertenrechtskonvention als Vorreiterin ................................................ 93 Der Beitrag der Religionsfreiheit zur Antidiskriminierungspolitik ............................. 94
5. 5.1 5.2 5.3
Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle.............. 97 Menschenrechtliche Anliegen in Konflikt ............................................................. 97 Benachbarte Rechte: Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit..................................100 Konfliktkonstellationen zwischen Religionsfreiheit und »Gender« .......................... 108 5.3.1 Falsche Berufungen auf die Religionsfreiheit ............................................ 110 5.3.2 Angemessener Umgang mit schwierigen Konfliktsituationen ....................... 112 5.3.3 Diskriminierende Strukturen im Innern der Religionsgemeinschaften ............ 115 5.3.4 Überwindung abstrakter Polarisierungen.................................................. 119 5.4 Die produktive Rolle der Religionsfreiheit .......................................................... 122
6. 6.1
6.2 6.3 6.4 6.5
Religionsfreiheit und säkularer Staat ............................................ 125 Zum Einstieg: drei Länderbeispiele ...................................................................125 6.1.1 Kasachstan ........................................................................................125 6.1.2 Bangladesch .......................................................................................126 6.1.3 Dänemark ..........................................................................................128 Die verwirrende Vielfalt der Säkularitätskonzepte .............................................. 130 Exklusive und inklusive Säkularität .................................................................. 131 Säkularismus als verkapptes Glaubensbekenntnis?............................................. 135 Die Religionsfreiheit als kritischer Maßstab rechtsstaatlicher Säkularität ................ 139
7.4
Verletzungen der Religionsfreiheit ................................................147 Zum Einstieg: einige Impressionen ................................................................... 147 Exemplarische Problemfelder .......................................................................... 152 Typische Motive für Verletzungen der Religionsfreiheit ........................................158 7.3.1 Durchsetzung religiöser Wahrheits- bzw. Reinheitsansprüche ......................158 7.3.2 Wahrung nationaler Identität .................................................................160 7.3.3 Kontrollobsessionen autoritärer Regierungen .......................................... 163 7.3.4 Überlappungen und weitere Faktoren ......................................................165 Die betroffenen Menschen .............................................................................168
8. 8.1 8.2 8.3
Religionsfreiheit vor Gericht: Vergleich globaler und regionaler Rechtsprechung . 173 Auf dem Weg zu einem »Ökosystem« der Menschenrechte? .................................. 173 Vermeidung von »Forum-Shopping« ................................................................. 178 Der UN-Menschenrechtsausschuss: Aufgaben und Kompetenzen ............................ 179
7. 7.1 7.2 7.3
8.4 8.5 8.6 8.7 8.8
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte................................................182 Religiöse Symbole im öffentlichen Leben ...........................................................185 Religionsunterricht in der öffentlichen Schule ....................................................189 Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen ............................................... 192 Koordination und Inspiration ...........................................................................196
Gewalt im Namen der Religion .................................................... 199 Die Frage nach dem Beitrag der Religionsfreiheit ............................................... 199 Apologetische Reflexe ...................................................................................201 Essentialistische Gewaltzuschreibungen .......................................................... 204 Ernstnehmen menschlicher Verantwortung ...................................................... 207 Schwierigkeiten und Möglichkeiten religionsinterner Kritik .................................. 208 Positive Beiträge der Religionsgemeinschaften: vom Rabat Plan of Action zur Beiruter Erklärung........................................................................................ 212 9.7 Zur Relevanz politischer Faktoren .................................................................... 215 9.8 Die Rolle der Religionsfreiheit ......................................................................... 219 9.8.1 Bestandteil von Rechtsstaatlichkeit ........................................................ 219 9.8.2 Ermutigung innerreligiöser Reformen .................................................... 222 9.8.3 Interreligiöse Gesprächskultur .............................................................. 224 9.8.4 Faire Religionskritik im öffentlichen Diskurs ........................................... 228 9. 9.1 9.2 9.3 9.4 9.5 9.6
10.
10.6 10.7
Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte: zur kritischen Wächterfunktion der Religionsfreiheit ........................................... 233 Die Gegenperspektive: Menschenrechte in den Religionen ................................... 233 Substanzielle Affinitäten................................................................................ 235 Konfliktträchtige Differenzen ......................................................................... 238 Pluralistische Koexistenz in Respekt der Menschenwürde .................................... 242 Autorität in Selbstbescheidung: der nicht-doktrinäre Geltungsvorrang der Menschenrechte ......................................................................................... 247 Durchsetzung der Menschenrechte im Innern der Religionsgemeinschaften? .......... 250 Zur Wächterfunktion der Religionsfreiheit innerhalb der Menschenrechte ............... 256
11.
Danksagung ...................................................................... 259
12.
Literaturverzeichnis .............................................................. 261
10.1 10.2 10.3 10.4 10.5
1. Einleitung
1.1
Ein »klassisches« Menschenrecht in der Kontroverse
Die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit1 gilt weithin als ein »klassisches« Menschenrecht. Sie findet sich in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 genauso wie im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 – in beiden Dokumenten als Artikel 18. Die im Rahmen des Europarats entstandene Europäische Menschenrechtskonvention von 1950 enthält die Religionsfreiheit in Artikel 9.2 Regionale Systeme des Menschenrechtsschutzes mit ähnlichen Garantien bestehen innerhalb der Organisation der Amerikanischen Staaten und innerhalb der Afrikanischen Union. Nicht zuletzt gehört die Religionsfreiheit zum Kernbestand zahlreicher nationaler Verfassungen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland ist sie in Artikel 4 gewährleistet. Kurz: Sie ist juristisch solide und breit verankert. Das Prädikat des »Klassischen« wird der Religionsfreiheit außerdem gern aufgrund ihrer Geschichte zuerkannt. Ende des 19. Jahrhunderts brachte Georg Jellinek die These auf, die Religionsfreiheit sei das Ur-Menschenrecht, das andere Menschenrechte – Pressefreiheit, Versammlungsfreiheit, Fairness im Gerichtsverfahren usw. – nach sich gezogen habe.3 In seiner erstmals 1895 erschienenen Studie 1
2
3
Auf Englisch: »freedom of thought, conscience, religion or belief«. Wenn wir im Folgenden meist abgekürzt von »Religionsfreiheit« sprechen, soll der weite Anwendungsbereich dieses Menschenrechts gleichwohl nicht aus dem Blick geraten. Religion steht exemplarisch für die identitätsstiftenden Grundüberzeugungen der Menschen und für die von dorther getragene Lebenspraxis. Vgl. dazu Näheres in Kapitel 2.3. Nicht zu verwechseln ist die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) mit der EUGrundrechtecharta von 2000, die im Rahmen des Lissabonner Vertrags 2009 in Kraft getreten ist. Sie bindet die EU-Organe sowie die Mitgliedsstaaten der EU bei der Durchführung europäischen Rechts. Die EU-Grundrechtecharta enthält die Religionsfreiheit in Artikel 10. Vgl. Georg Jellinek, »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«, in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. Aufl. 1974, S. 1-77.
10
Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
zum Ursprung der Menschen- und Bürgerrechte verwies er auf die Geschichte europäischer Glaubensflüchtlinge, die in der »Neuen Welt« Schutz vor religiöser Verfolgung gesucht hatten. Hinter der Idee der Menschenrechte sah Jellinek vor allem religiöse, näherhin protestantische Interessen am Werk, die von Amerika ausgehend schließlich auch nach Europa übergegriffen hätten. Damit stieß er vor allem in Frankreich auf Widerspruch, das sich als Mutterland der Menschenrechte ansah. Eine Generation später führte Ernst Troeltsch die Jellinek-These modifiziert weiter. In seiner Studie über die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen (1912) sprach auch er der Religionsfreiheit eine katalysatorische Wirkung für die Formierung der Menschenrechte im Ganzen zu.4 Inzwischen findet die Vorstellung, dass es ein Ur-Menschenrecht gebe, aus dem sich dann andere Rechtsforderungen entwickelt hätten, in der Geschichtswissenschaft zwar kaum noch Zustimmung. Auch die Religionsfreiheit kann diese Rolle nicht beanspruchen. Dass sie von Anfang an eine wichtige Rolle für die Formierung der Menschenrechtsidee spielte, bleibt gleichwohl unbestritten. Der Begriff eines »klassischen« Menschenrechts klingt nach kanonischem Status, ehrwürdiger Geschichte und solidem Konsens. Wer es in den Kreis der Klassiker geschafft hat, ist damit, so scheint es, alltäglichen Rivalitäten weitgehend enthoben. Wenn man von einem solchen Verständnis ausgeht, könnte man allerdings zweifeln, ob die Religionsfreiheit tatsächlich als »klassisch« gelten kann. Nach wie vor sorgt sie für politische Polarisierungen. Manfred Nowak nennt sie »a particularly controversial right.«5 Auf der einen Seite findet die Religionsfreiheit breite Zustimmung. In der Rechtsprechung vieler Staaten ist sie fest verankert; einige Regierungen treten auch in ihren Außenbeziehungen bzw. in den Vereinten Nationen für ihre Durchsetzung ein; Parlamentarierinnen und Parlamentarier haben über die Kontinente hinweg Bündnisse zugunsten dieses Freiheitsrechts geschaffen. Auf der anderen Seite stößt die Religionsfreiheit aber auch auf Vorbehalte und Widerstände. Zu den Gegnern gehören, wenig überraschend, autoritäre Regierungen, denen dieses Menschenrecht aufgrund seines scharfkantigen Freiheitsanspruchs suspekt ist. Manche Regierung sieht ihre eigene politische Legitimation als Hüter religiöser Rechtgläubigkeit oder als Schutzpatron eines national-religiösen Erbes gefährdet. Andere fürchten politische Kontrollverluste, die dann drohen, wenn Menschen sich die Freiheit nehmen, ihre Angelegenheiten in Sachen von Glauben und Glaubenspraxis gemeinschaftlich selbst zu regeln. Auch innerhalb der Religionsgemeinschaften gibt es neben entschiedener Zustimmung nach wie vor Skepsis oder offene Ablehnung. Da die Religionsfreiheit die freiheitliche 4 5
Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1912, S. 760-768. Manfred Nowak, U.N. Covenant on Civil and Political Rights: CCPR Commentary, Kehl und Straßburg: N.P. Engel, 2. Aufl. 2005, S. 408.
1 Einleitung
und egalitäre Stoßrichtung, die den Menschenrechtsansatz insgesamt definiert,6 für die Bereiche von Gewissensüberzeugung, Weltanschauung, Glauben und Religionspraxis spezifiziert, stellt sie religiöse bzw. religionspolitische Hegemonien in Frage. Ihr ist ein Provokationspotenzial eigen, das mit den landläufigen Vorstellungen des »Klassischen« zuletzt vielleicht doch nicht ganz zusammenpasst.
1.2
Ambivalente politische Reaktionen
Wie beunruhigend die Religionsfreiheit sein kann, zeigt sich nicht zuletzt in der doppelbödigen Rhetorik mancher Staaten. Nicht selten zielt sie darauf ab, dieses Menschenrecht durch restriktive Interpretationen politisch »in den Griff« zu bekommen, seinen kritischen Geltungsanspruch zu domestizieren und seine freiheitsrechtliche und egalitäre Stoßrichtung relativierend abzufangen.7 Manche Regierungen verbinden eine vordergründige Zustimmung zur Religionsfreiheit mit dem Generalvorbehalt, dass nur »echte« Religionen und ihre Angehörigen in den Genuss dieses Freiheitsrechts kommen dürften. Andere setzen bei der religiösen Praxis an, die in den Bahnen des »Normalen« verbleiben müsse, was den staatlichen Instanzen wiederum weitreichende Kontrollmöglichkeiten eröffnet. Ein nochmals anderer Weg besteht darin, Religion von vornherein ins Private zu verbannen oder öffentliche Manifestationen exklusiv an bestimmte dafür eigens vorgesehene Orte – Kirchen, Tempel, Moscheen – zu binden. Hinzu kommt, dass auch manche formell »säkularen« Staaten die Religionsfreiheit eng in nationalistische Narrative oder restriktive Leitkulturvorstellungen einspannen, um innerhalb der nationalen Religionslandschaft Abstufungen von Akzeptanz und staatlicher Förderung vornehmen zu können. Weit verbreitet ist schließlich die Verwechslung von Religionsfreiheit mit einer diffusen Toleranzpolitik, die bestehende Hegemonien lediglich »weicher« gestaltet, statt sie im Interesse der Gleichberechtigung aller prinzipiell anzugehen. Nun macht man vergleichbare Erfahrungen auch im Kontext anderer Menschenrechte. Wer sich beispielsweise für Meinungsfreiheit oder Versammlungsfreiheit einsetzt, stößt nicht selten auf eine ähnlich doppelbödige politische Rhetorik, die in den robusteren Fällen darauf hinausläuft, die völkerrechtlich oder verfassungsrechtlich zugesagten Rechte durch Generalvorbehalte gleich wieder zu kassieren. Menschenrechte stören vor allem aufgrund ihres prononcierten Freiheitsanspruchs. Im Fall der Religionsfreiheit kommt allerdings ein weiterer Faktor hinzu, der ebenfalls zu Verunsicherungen führen kann: die Religion. Innerhalb des 6 7
Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998. Näheres dazu unten, in Kapitel 3.5.
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12
Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Menschenrechtsschutzes eröffnet die Religionsfreiheit den Raum für die Artikulation religiöser bzw. weltanschaulicher Überzeugungen, Interessen, Bedürfnisse und Praktiken. Dabei geht es nicht nur um Fragen des inneren Glaubens, sondern auch um Lebensgestaltung in Übereinstimmung mit religiösen oder weltanschaulichen Postulaten. Die Religionsfreiheit beschränkt sich außerdem nicht darauf, die Position des Individuums zu stärken, sondern schließt ebenso gemeinschaftliche und infrastrukturelle Dimensionen religiöser Praxis mit ein. Die alte Gretchenfrage »Wie hältst du es mit der Religion?« treibt auch moderne Gesellschaften um. Immer wieder zeigt sich dabei, dass Religion gleichermaßen fasziniert und polarisiert. In den Religionen kommen grundlegende Fragen des Menschseins zu Wort. Sie spannen die menschliche Existenz in größere Sinnzusammenhänge ein. Religionen bieten dazu einen unerschöpflichen Reichtum an Erzählungen, Gleichnissen und Metaphern. Sie schaffen Orientierungen nicht nur für Individuen, sondern auch für größere Gemeinschaften und entfalten Prägekraft für ganze Kulturlandschaften. Zugleich haben die Religionen in Geschichte und Gegenwart immer wieder Anlass zu Spaltungen und Ausgrenzungen geboten. In ihrem Namen werden Kriege geführt, Bomben platziert und Menschen gegeneinander aufgehetzt.8 Für das Zusammenleben in der modernen pluralistischen Gesellschaft sind unterschiedliche religiöse Identitäten deshalb gleichermaßen Chance und Herausforderung, Auftrag und Zumutung. Die ambivalenten Reaktionen, die das Thema Religion in der Öffentlichkeit auslöst, werfen manchen Schatten auch auf die Religionsfreiheit. Selbst in den liberalen Gesellschaften des Westens findet dieses Freiheitsrecht oft eine eher verhaltene Aufnahme, bei der sich Zustimmung und Skepsis mischen. Vermutlich ist die Religionsfreiheit das einzige »klassisch-liberale« Menschenrecht, das derzeit in den liberalen Milieus Westeuropas nicht ungebrochen auf Unterstützung zählen kann. Manchmal richten sich die Vorbehalte spezifisch gegen bestimmte religiöse Gemeinschaften, deren Einfluss, so die Befürchtung, durch die Religionsfreiheit unangemessen gestärkt werden könnte. Hierzulande betrifft dies primär den Islam, gelegentlich aber auch kleinere Religionsgemeinschaften, denen das Stigma der »Sekte« anhängt. Daneben kommen auch grundsätzlichere Anfragen zu Wort. Stehen die Religionen dem Anspruch moderner Freiheit und Gleichberechtigung nicht oft im Wege? Bilden sie nicht vielfach die letzten Bastionen patriarchaler Wertvorstellungen, die mit modernen Postulaten der Geschlechtergerechtigkeit inkompatibel sind? Besteht womöglich ein fundamentaler Widerspruch zwischen der Kultur der Aufklärung, aus der die Menschenrechtsidee historisch entstanden ist, und religiösen Traditionen, gegen die sich Aufklärung und Menschenrechte konflikthaft durchsetzen mussten? 8
Vgl. dazu Näheres in Kapitel 9.
1 Einleitung
Im Englischen liegt es nahe, den Begriff »human rights« eng mit »humanism« zu assoziieren, also mit einem Begriff, der, im englischen Sprachgebrauch weit mehr als im Deutschen, meist in religionskritischer Absicht verwendet wird.9 Dies kann in eine antagonistische Zuordnung münden, wonach die »human rights« in das Lager von Humanismus und Aufklärung gehören, während das Recht auf »religious freedom« der Gegenseite zugeschlagen wird oder sogar in den Verdacht gerät, Projekten der Gegenaufklärung Rückenwind zu geben. Hinzu kommt der verbreitete Eindruck, die Religionsfreiheit öffne klientelistischen Sonderinteressen Tür und Tor und passe von daher von vornherein nicht in den Zusammenhang universaler und egalitärer Menschenrechte. Handelt es sich bei der Religionsfreiheit also um einen Rechtstitel, der zwar aus historischen Gründen in die maßgeblichen Menschenrechtsdokumente Eingang gefunden hat, dort aber, systematisch gesehen, eigentlich gar nichts zu suchen hat?10 Die Religionsfreiheit steht derzeit jedenfalls von mehreren Seiten her unter Druck. Die größten Hindernisse ihrer konsequenten Verwirklichung bestehen nach wie vor in Gestalt des politischen, kulturellen und religiösen Autoritarismus, der mit dem Freiheits- und Gleichheitsanspruch der Menschenrechte von vornherein auf dem Kriegsfuß steht. Dies darf nicht aus dem Blick geraten. Bei der Religionsfreiheit kommt freilich hinzu, dass ihr paradoxerweise auch von liberaler Seite manchmal Skepsis entgegenschlägt, und zwar in einer Weise, wie das bei den Rechten auf Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder dem Recht auf Bildung kaum denkbar erscheint. Selbst innerhalb der Menschenrechtsbewegung zeigt sich nicht selten eine gewisse Unsicherheit darüber, was es denn mit dem Recht auf Religionsfreiheit eigentlich auf sich habe. Eine solche Unsicherheit wiederum mag dazu führen, menschenrechtliches Engagement in Sachen Religionsfreiheit zu hemmen oder abzuschwächen. Mary Ann Glendon bemerkt deshalb: »The greatest challenge facing defenders of religious freedom today may well be the task of convincing people in a secular age that religious freedom is an important human right worth defending at home and abroad.«11
9 10
11
Näheres dazu unten, in Kapitel 10.3. Während der öffentlichen Debatte um die religiös motivierte Knabenbeschneidung, ausgelöst durch ein Gerichtsurteil vom Mai 2012, waren solche Vorstellungen häufig zu vernehmen. Vgl. dazu Heiner Bielefeldt, »Der Kampf um die Beschneidung. Das Kölner Urteil und die Religionsfreiheit«, in: Blätter für Deutsche und Internationale Politik (2012) S. 63-71. Mary Ann Glendon, »Is Religious Freedom an ›Orphaned‹ Right?«, in: Malcolm D. Evans/Peter Petkoff/Julian Rivers (Hg.), The Changing Nature of Religious Rights under International Law, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 1-8, hier S. 2.
13
14
Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
1.3
Erinnerung an Moses Mendelssohn
Die gerade beschriebene komplexe Diskurskonstellation ist alles andere als neu. Bereits Moses Mendelssohn, der zu Unrecht fast vergessene jüdische Aufklärer des 18. Jahrhunderts,12 musste sich in seinem Engagement für die Emanzipation der jüdischen Minderheit gegen unterschiedliche Gegner durchsetzen. Auf der einen Seite schlug er sich mit hartnäckigen anti-jüdischen Vorurteilen herum, die über die Jahrhunderte hinweg die Rechtfertigung dafür geboten hatten, den Juden allenfalls eine Nischenexistenz am Rande der Gesellschaft zu konzedieren. Im Kampf gegen Vorurteile und alle Formen des politischen, gesellschaftlichen, kulturellen und religiösen Autoritarismus wusste sich Mendelssohn im Bunde mit anderen europäischen Aufklärern, insbesondere seinem lebenslangen Freund Lessing.13 In Mendelssohns Schriften klingt auf der anderen Seite immer wieder die Sorge durch, dass die Aufklärung auch ihrerseits zu neuen Verengungen führen könnte, etwa zur Abwertung historisch gewachsener religiöser Vielfalt im Namen einer »natürlichen Religion« oder »Vernunftreligion«, um die sich viele zeitgenössische Aufklärer bemühten. »Ich fürchte«, schreibt Mendelssohn an Kant, »die Philosophie hat ihre Schwärmer, die ebenso ungestüm verfolgen und fast noch mehr auf das Proselytenmachen gesteuert sind als die Schwärmer der positiven Religion.«14 Immer wieder deckt Mendelssohn neue Homogenisierungstendenzen auf, so etwa die Neigung rationalistischer Aufklärungsphilosophen, »alle Lichter auslöschen zu müssen, um die völlige Beleuchtung ungeteilt aus dem Lichte der Vernunft strömen zu lassen.«15 In seiner Abhandlung Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum (1783) wirbt er für einen echten Pluralismus, der die historische Vielfalt der Religionen nicht nur als Relikt der Vergangenheit betrachtet, sondern um der Menschen und ihrer Freiheit willen wertschätzen kann: »Brüder! Ist es euch um wahre Gottseligkeit zu tun, so lasset uns keine Übereinstimmung lügen, wo Mannigfaltigkeit offenbar Plan und Endzweck der Vorsehung ist. Keiner von uns denkt und empfindet vollkommen so, wie sein Nebenmensch; warum sollen wir denn einander durch trügliche Worte hintergehen? […] Warum 12 13 14 15
Vgl. Christoph Schulte, Die jüdische Aufklärung. Philosophie, Religion, Geschichte, München: C.H. Beck, 2002. Vgl. Vera Forester, Lessing und Moses Mendelssohn. Geschichte einer Freundschaft, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2010. Brief Mendelssohns an Kant vom 16. Oktober 1785; zitiert nach Kant, Briefwechsel, Auswahl und Anmerkungen von Otto Schöndorfer, Hamburg: Meiner, 1972, S. 272. Moses Mendelssohn, Morgenstunden oder über das Dasein Gottes, Stuttgart: Reclam, 1979, S. 144. Die Bemerkung richtet sich gegen Hermann Samuel Reimarus, dessen Fragmente posthum von Lessing herausgegeben wurden.
1 Einleitung
uns einander in den wichtigsten Angelegenheiten unseres Lebens durch Mummerei unkenntlich machen, da Gott einem jeden nicht umsonst seine eigenen Gesichtszüge eingeprägt hat?«16 Mendelssohn gehört zu den Entdeckern dessen, was man später die »Dialektik der Aufklärung« nennen sollte. Gemeint ist die Gefahr, dass aufklärerisches Emanzipationspathos in neue Formen uneingestandener kultureller und politischer Hegemonie umschlagen kann. Als Angehöriger einer religiösen Minderheit muss Mendelssohn Zeit seines Lebens erfahren, dass eine solche Gefahr nicht nur hypothetisch besteht. Verachtung schlägt den Juden nämlich nicht nur von Seiten des zeitgenössischen Christentums entgegen; auch manche Aufklärer bleiben reserviert und assoziieren das Judentum mit Bildungsferne, Engstirnigkeit und ängstlichem Ritualismus.17 Der Vorwurf der »Verstocktheit der Juden«, ein altes christliches Motiv des Antijudaismus, findet seine Fortsetzung in der antijüdischen Polemik innerhalb der Aufklärungsphilosophie. Die Engherzigkeit der Juden – »the narrow spirit of the Jews« – sei allgemein bekannt, betont beispielsweise David Hume.18 Auf Kopfschütteln stößt weithin die Idee des auserwählten Volkes. Sie habe den Juden »den Hass aller zugezogen«, schreibt der exkommunizierte Jude Spinoza, der seinen ehemaligen Glaubensgenossen somit vorhält, ihre gesellschaftliche Ghettoisierung selbst verschuldet zu haben.19 Auch er greift damit ein altes antijüdisches Motiv auf, das nun aber im Tonfall religionskritischer Aufklärung daherkommt. Zu heftigen antijüdischen Ausfällen neigt Voltaire, der – selbst übrigens ein überaus geschickter Finanzspekulant – gern mit dem Klischee vom jüdischen Wucherer und Betrüger spielt.20 Obwohl Kant mit antijüdischen Vorwürfen zurückhaltender umgeht, repräsentiert in seiner Religionsphilosophie das Judentum den Gegentypus zu jener vergeistigten, aufgeklärten Religiosität, nach der er selbst strebt: Es steht für Partikularismus, Obskurantismus und veräußerlichte Riten. Kant kommt deshalb zu dem Verdikt, dass »das Judentum als solches in seiner Reinheit genommen, gar keinen Religionsglauben« enthalte.21 16
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21
Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, gemeinsam mit der Vorrede zu Manasseh Ben Israels »Rettung der Juden« neu ediert von David Martyn, Bielefeld: Aisthesis, 2001, S. 31-136, hier S. 133. Vgl. Markus Kneer, Die dunkle Spur im Denken. Rationalismus und Antijudaismus, Paderborn: Schöningh, 2003. David Hume, The Natural History of Religion, Standford: Stanford University Press, 1956, S. 50. Baruch de Spinoza, Theologisch-politischer Traktat, Hamburg: Meiner, 1976, S. 63. Vgl. Voltaire, »Candide oder Der Optimismus«, in: Sämtliche Romane und Erzählungen, Frankfurt a.M.: Insel, 1976, S. 283-390, hier S. 381: »Man ließ einen Juden kommen, dem Candide einen Diamanten für fünfzigtausend Zechinen verkaufte, der eigentlich hunderttausend wert war; aber der Jude schwor bei Abraham, dass er nicht mehr geben könne.« Immanuel Kant, Die Religion innerhalb der Grenzen der bloßen Vernunft, Akademie-Ausgabe Bd. VI, Berlin 1907, S. 187.
15
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Aus der Erfahrung einer von allen Seiten angefeindeten Minderheit heraus macht sich Mendelssohn für das Menschenrecht der Religionsfreiheit stark. Gegen repressive Maßnahmen, die der Aufrechterhaltung religionspolitischer Hegemonien dienen, verlangt er strikte Zwangsfreiheit in Fragen religiösen Glaubens: »Weder Kirche noch Staat haben also ein Recht, die Grundsätze und Gesinnungen der Menschen irgendeinem Zwang zu unterwerfen. Weder Kirche noch Staat sind berechtigt, mit Grundsätzen und Gesinnungen Vorzüge, Rechte und Ansprüche auf Personen und Dinge zu verbinden […]. Selbst der gesellschaftliche Vertrag hat weder dem Staate noch der Kirche ein solches Recht einräumen können. Denn ein Vertrag über Dinge, die ihrer Natur nach unveräußerlich sind, ist an und für sich ungültig, hebt sich von selbst auf.«22 Neben politischen Repressionen, denen die Juden in Gestalt von Ansiedlungsverboten, Heiratsbeschränkungen und demütigenden Sonderabgaben ausgesetzt sind, stehen Mendelssohn auch die Gefahren vor Augen, die von manchen Strömungen der Aufklärung drohen könnten. Insbesondere warnt er vor der Idee, eine nach Vernunftprinzipien entworfene vermeintlich »natürliche Religion« solle künftig das einigende religiös-moralische Band der Gesellschaft bilden – mit der Konsequenz, dass sich der traditionelle religiöse und konfessionelle Pluralismus immer mehr erübrige, um schließlich zu verschwinden. Er sieht in solchen Zielsetzungen die Quelle neuer Unfreiheit: »Im Grunde kann eine Glaubensvereinigung, wenn sie je zu Stande kommen sollte, keine anderen als die unseligsten Folgen für Vernunft und Gewissensfreiheit haben.«23 Das Thema Religionsfreiheit bietet auch heute noch die Gelegenheit, oft übersehene Facetten einer »Dialektik der Aufklärung« aufzudecken. Darin besteht die Aktualität des Moses Mendelssohn. Das Ziel der Kritik kann nicht darin bestehen, das Erbe der Aufklärung zu diskreditieren, dem die Menschenrechtsbewegung viel verdankt. Stattdessen geht es darum, Aufklärung selbstkritisch weiterzuführen, damit sie nicht zur Quelle neuer kultureller Assimilierungstendenzen wird. Wie zur Zeit Mendelssohns führt die Religionsfreiheit zur Frage nach dem angemessenen Umgang mit Pluralismus, und zwar mit einem Pluralismus, der über das hinausgeht, was im Mainstream der mehr oder weniger aufgeklärten Gesellschaft als noch irgendwie »normal« gilt. Die Beschäftigung mit der Religionsfreiheit führt daher zu Grundsatzfragen des Verständnisses von Aufklärung, Liberalität und säkularer Menschenrechtskultur. Wie stehen die normativen Prinzipien des politischen Liberalismus zu traditionellen religiösen Wertvorstellungen und Überzeugungen? Was ist die Aufgabe des Staates in diesem Spannungsfeld? Hat der freiheitliche Rechtsstaat ein Mandat, Religionsgemeinschaft auch intern zu »liberali22 23
M. Mendelssohn, Jerusalem, a.a.O., S. 68. M. Mendelssohn, Jerusalem, a.a.O., S. 132.
1 Einleitung
sieren«, oder würde er auf diese Weise die ihm gesteckten Grenzen überschreiten? Bergen religiöse Manifestationen im öffentlichen Raum Gefahren für die politische Kultur eines modernen säkularen Staates, oder können die Religionsgemeinschaften öffentliche Beiträge für eine inklusiv verstandene staatliche Säkularität leisten?
1.4
Religionsfreiheit als Menschenrecht – zur Doppelthese dieses Buches
Ziel des vorliegenden Buches ist es, zur normativen Konturierung der Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte beizutragen. Anders als in einem zusammen mit unserer Kollegin Nazila Ghanea verfassten, vor einigen Jahren veröffentlichten juristischen Kommentar, der die Gewährleistungen der Religionsfreiheit im Detail und anhand von Beispielen aus der internationalen Judikatur analysiert,24 geht es uns hier vor allem um Grundsatzreflexion. Im Zentrum der Überlegungen steht eine doppelte These: Zum einen wollen wir aufzeigen, dass die Religionsfreiheit ein Menschenrecht ist, zum anderen möchten wir ihre Unverzichtbarkeit innerhalb des Menschenrechtsansatzes erweisen. Beide Aspekte gehören zusammen, wenn wir von der Religionsfreiheit als Menschenrecht sprechen. Zunächst zur ersten Hälfte unserer Doppelthese. Es wäre trivial, wollten wir uns mit der Feststellung begnügen, dass die Religionsfreiheit zu den Menschenrechten gezählt wird, wie schon ein flüchtiger Blick auf einschlägige Rechtsdokumente zweifelsfrei deutlich macht. Die Pointe unserer Überlegungen besteht vielmehr im Nachweis, dass die Religionsfreiheit exakt derselben Systematik folgt, die den Menschenrechtsansatz im Ganzen definiert. Die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte umreißt in Artikel 1 das normative Profil der Menschenrechte mit dem vielzitierten Satz: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«25 Diese normative Struktur gilt ohne Abstriche auch für die Religionsfreiheit. Wie alle Menschenrechte ist sie ein universales, freiheitliches und egalitäres Recht, gegründet im gebotenen Respekt vor der Würde jedes Menschen. Wir legen somit Widerspruch ein gegen die in vielen Varianten vorgebrachte Einschätzung, dass die Religionsfreiheit in die Systematik der Menschenrechte nicht sinnvoll hineinpasse, weil sie von Haus aus klientelistisch ausgerichtet sei, mit dem Freiheitsanspruch der Menschenrechte ganz oder teilweise kollidiere und eher auf Differenz als auf Gleichheit ziele. 24 25
Vgl. Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016. UN-Generalversammlung Resolution 217 (III) vom 10. Dezember 1948, https://www.ohchr. org/EN/UDHR/Pages/Language.aspx?LangID=ger, abgerufen am 12. November 2019.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Dass die Religionsfreiheit ins Gesamt der Menschenrechte hineingehört, kann man auch von der anderen Seite her lesen: Ohne Ernstnehmen der Religionsfreiheit wären die Menschenrechte unvollständig. Dies ist die zweite Hälfte unserer Doppelthese. Wer meint, die Religionsfreiheit habe innerhalb eines aktualisierten Menschenrechtsansatzes eigentlich nichts mehr verloren, schwächt damit die Kohäsion und Überzeugungskraft der Menschenrechte im Ganzen. Diese würden eine wesentliche Dimension ihrer »Menschlichkeit« einbüßen, wenn sie die religiösen und weltanschaulichen Aspekte des Menschseins gleichsam abblenden würden. In den Kapiteln 2 bis 4 ist jeweils eines der genannten Definitionsmerkmale der Menschenrechte leitend: Universalismus, Freiheit und Gleichheit. Um die Religionsfreiheit als universales Menschenrecht zu fassen, stellen wir in Kapitel 2 zunächst heraus, dass die Religionsfreiheit sich nicht unmittelbar auf Religionen oder Weltanschauungen bezieht, sondern diese stets vermittelt über die Menschen in den Blick nimmt. Subjekte der Religionsfreiheit sind die Menschen, nicht die Religionen oder Weltanschauungen als solche. Nur auf der Grundlage dieser Klarstellung kann die Religionsfreiheit konsistent als universales Menschenrecht konzipiert werden. Kapitel 3 ist dem freiheitsrechtlichen Anspruch gewidmet, der zwar schon im Begriff der Religionsfreiheit angesprochen ist, in seinen systematischen Konsequenzen aber oft unter-reflektiert bleibt. In diesem Zusammenhang unternehmen wir außerdem eine Kritik politischer Projekte, die darauf abzielen, die emanzipatorische Orientierung der Religionsfreiheit relativistisch abzufangen oder ideologisch umzudeuten. Das Komplementärprinzip, nämlich die menschenrechtliche Gleichheit, bildet den Gegenstand der Überlegungen in Kapitel 4, in dem vor allem auch versteckte Formen von Diskriminierung diskutiert werden, auf die es wirksame menschenrechtliche Antworten noch zu erarbeiten gilt. In Kapitel 5 stellen wir die Religionsfreiheit in den Kontext anderer Menschenrechte. Als zwei Testfälle greifen wir die Meinungsäußerungsfreiheit und Forderungen nach Gendergerechtigkeit auf. Anhand dieser beiden Beispiele wollen wir deutlich machen, dass sich die Religionsfreiheit – wenngleich nicht immer spannungsfrei – sinnvoll in das Gesamt der Menschenrechte einfügt. In Kapitel 6 geht es um die menschenrechtliche Konturierung staatlicher Säkularität. Wir plädieren für ein Modell nicht-doktrinärer, inklusiver Säkularität, wonach dem Staat die Aufgabe zukommt, einen offenen Raum für die diskriminierungsfreie Entfaltung der Vielfalt religiöser und weltanschaulicher Orientierungen zu schaffen. Die beiden darauffolgenden Kapitel sind stärker deskriptiv angelegt und beschäftigen sich mit Herausforderungen der Praxis. Kapitel 7 gibt einen Überblick über Verletzungen der Religionsfreiheit in aller Welt. Dabei müssen wir uns mit einer typologischen Darstellung begnügen. Sie soll für das Problem sensibilisieren, dass viele Formen der Missachtung der Religionsfreiheit unter dem Radar öffentlicher Aufmerksamkeit bleiben – nicht zuletzt deshalb, weil es an Bewusstsein für die Vielfältigkeit von Verletzungen fehlt. Kapitel 8 vermittelt
1 Einleitung
einen exemplarischen Überblick über die Rechtsprechung internationaler Organe zur Religionsfreiheit. Wir vergleichen dabei Entscheidungen des in Genf ansässigen UN-Menschenrechtsausschusses mit dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. In diesem Kontext weisen wir auf die Gefahr hin, dass sich die Rechtsprechung in Genf und in Straßburg teils unterschiedlich, manchmal gar gegensätzlich entwickelt, was normativen Fragmentierungsprozessen und problematischen Praktiken eines »Forum-Shopping« Vorschub leisten kann. In Kapitel 9 stehen Gewaltakte, die im Namen der Religion begangen werden, zur Debatte. Vor allem interessiert uns dabei die Frage, welchen Beitrag die Religionsfreiheit leisten kann, um religiös unterlegte Gewalt zu überwinden. Wir sehen die Rolle der Religionsfreiheit vor allem darin, dass sie gegen verbreitete essentialistische Lesarten des Verhältnisses von Religion und Gewalt stets systematisch auf die handelnden Subjekte fokussiert und dadurch fatalistische Zuschreibungen aufbricht. Im abschließenden Kapitel 10 wird es dann noch einmal grundsätzlich. Bedeutung kommt der Religionsfreiheit – über ihre praktische Schutzwirkung hinaus – auch darin zu, dass sie den säkularen Menschenrechtsansatz für Gewissensüberzeugungen, weltanschauliche Orientierungen und individuelle wie gemeinschaftliche religiöse Praxis ausdrücklich offenhält. Auf diese Weise erinnert sie immer wieder daran, dass die Menschenrechte selbst weder eine religiöse Heilslehre noch eine umfassende Weltanschauung sind. Auch in dieser Wächterfunktion gegen etwaige Tendenzen einer Sakralisierung der Menschenrechte ist die Religionsfreiheit unverzichtbar.26 Abschließend noch ein Wort zu uns selbst. Wir verstehen uns als Menschenrechtspraktiker mit besonderem, aber keineswegs exklusivem Interesse 26
Wenigstens kurz wollen wir an dieser Stelle unsere Position zum Thema Gender-gerechter Sprache darlegen. Wir teilen das Anliegen, mehr Gerechtigkeit in Genderfragen auch über einen sensiblen Sprachgebrauch zu erreichen, bleiben aber reserviert gegenüber Projekten, die eine bestimmte Variante von Gender-gerechter Sprache in völliger Konsequenz meinen durchziehen zu können. Der Preis dafür scheint uns oftmals recht hoch zu sein: Entweder leidet der Sprachfluss, oder die Schrift wird mit Sternchen oder Unterstrichen überfrachtet, was die Lesbarkeit beeinträchtigt. Aus diesen Schwierigkeiten wollen wir nun allerdings nicht ableiten, dass man den Status quo einfach fortschreiben sollte. Mit lapidaren Fußnotenhinweisen, wonach mit der männlichen grammatischen Form stets auch weibliche Wesen mit gemeint seien, können wir uns erst recht nicht anfreunden. Wir bekennen uns deshalb zu einem gewissen Eklektizismus: Manchmal verwenden wir Doppelformen, manchmal Partizipialkonstruktionen; gelegentlich bieten sich auch elegantere Wege an. Oft genug schlägt dann aber doch auch das traditionelle generische Maskulinum durch, dessen Hegemonie wir immer wieder auch durchkreuzen. Dass wir keine dieser Möglichkeiten konsequent durchhalten, ist uns bewusst. Vollkommen zufrieden sind wir mit unserem Umgang mit dem Thema Gender-sensibler Sprache deshalb nicht. Eine eindeutig bessere Alternative haben wir bislang aber noch nicht gefunden.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
an der Religionsfreiheit. Einer von uns beiden (Michael Wiener) ist seit 2006 im UN-Hochkommissariat für Menschenrechte in Genf als »human rights officer« tätig und hat in dieser Funktion über viele Jahre hinweg die UNSonderberichterstattung für Religions- und Weltanschauungsfreiheit unterstützt, nachdem er auch seine Dissertation über das Mandat des Sonderberichterstatters verfasst hatte.27 Der andere Autor (Heiner Bielefeldt) hatte zwischen 2010 und 2016 das Mandat des UN-Sonderberichterstatters über Religions- und Weltanschauungsfreiheit inne. Die Erfahrungen, die wir – teils gemeinsam, teils unabhängig voneinander – zum Thema Religionsfreiheit sammeln konnten, weisen von daher nicht zufällig einen starken Bezug zu den Vereinten Nationen auf. Wir haben nicht nur die einschlägigen Menschenrechtsgremien der Weltgemeinschaft von innen her im Detail kennen gelernt, sondern auch Fact-Finding Missionen der Vereinten Nationen in unterschiedlichen Regionen der Welt durchgeführt und uns dabei exemplarisch auf verschiedene religionskulturelle, politische und rechtliche Kontexte eingelassen. Die Grundsatzüberlegungen, die wir in diesem Band vorstellen möchten, stützen sich insofern auf praktisches Engagement und langjährige Erfahrungen. Unser Ziel besteht darin, auch andere Menschen zu mehr Aufmerksamkeit und Engagement zugunsten der Religionsfreiheit – stets im Gesamt der Menschenrechte – zu motivieren. Wir möchten dieses Buch dem Andenken an Asma Jahangir (1952-2018) widmen, die wir beide kennenlernen durften. Einer von uns (Michael Wiener) unterstützte sie mehrere Jahre lang bei der Ausübung ihres UN-Mandats zur Religionsfreiheit. Der andere von uns beiden (Heiner Bielefeldt) folgte ihr in diesem Amt nach. Über Jahrzehnte hinweg hat Asma Jahangir sich für die Religionsfreiheit eingesetzt, und zwar gleichermaßen in ihrem Heimatland Pakistan wie auf internationaler Ebene. Sie erfuhr für ihr Engagement nicht nur Anerkennung, sondern sah sich wiederholt auch massiven Drohungen, bis hin zu Morddrohungen, ausgesetzt. Von 2004 bis 2010 hatte Asma Jahangir das Amt der UN-Sonderberichterstatterin über Religions- und Weltanschauungsfreiheit inne. Sie machte sich für einen ganzheitlichen Menschenrechtsansatz stark, in dem Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Minderheitenrechte und andere menschenrechtliche Themen – trotz unverkennbarer Spannungen – systematisch zusammengehören. Von diesem Verständnis her legte sie Widerspruch ein sowohl gegen Fragmentierungstendenzen innerhalb der Menschenrechte als auch gegen autoritäre Umdeutungen der Religionsfreiheit in Richtung eines Ehrschutzes für Religionen. Ihre Überzeugung fasste sie einmal in folgende Worte: »There is always hope in the fight for human rights. There are always possibilities to gain terrain in 27
Vgl. Michael Wiener, Das Mandat des UN-Sonderberichterstatters über Religions- oder Weltanschauungsfreiheit, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2007.
1 Einleitung
the protection of victims. There is always ground to turn a negative situation into a positive one.«28
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http://newslinemagazine.com/magazine/learned-valuable-lessons-taught/, abgerufen am 12. November 2019.
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2. Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
2.1
Varianten von Universalismuskritik
Im 21. Jahrhundert kann sich der Geltungsanspruch der Menschenrechte nicht länger auf »selbst-evidente Wahrheiten« oder transhistorisch gedachte Naturrechtsprinzipien stützen. Wie andere normative Konstrukte stehen auch die Menschenrechte offensichtlich nicht jenseits historischer Kontingenz. Sie sind geprägt von regional-spezifischen Erfahrungen, verwoben mit politischen oder gesellschaftlichen Interessen und durchzogen von unterschiedlichen kulturellen Deutungen. Gleichwohl formulieren sie einen Anspruch auf universale Geltung – über geographische, politische, kulturelle, religiöse und andere Grenzen hinweg. So heißt es in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte der Vereinten Nationen von 1948 programmatisch: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Mit einer ähnlichen All-Aussage beginnt zuvor bereits die Präambel der UN-Erklärung, wenn sie von der gebotenen »Anerkennung der inhärenten Würde […] aller Mitglieder der menschlichen Familie« spricht. Die meisten Artikel der Erklärung, deren Titel im Englischen prägnanter als im Deutschen »Universal Declaration« lautet, beginnen mit dem Wort »everyone«. Im Falle des Verbots von Folter oder Sklaverei schlägt das »everyone« in ein nicht weniger kategorisches »no one« um. Mit diesem Anspruch auf Geltung für den Menschen schlechthin – und ergo für alle Menschen gleichermaßen – steht und fällt die Menschenrechtsidee. Um es mit Udo di Fabio zu sagen: »Menschenrechte sind universal – oder sie sind gar nicht.«1 Genau dieser Anspruch auf universale Geltung hat indes von Anfang an Skepsis, Kritik und offene Opposition auf den Plan gerufen. Ein Jahr vor Verabschiedung der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte veröffentlichte die American Anthropological Association eine Stellungnahme, in der die Sorge zum Ausdruck kam, 1
Udo di Fabio, »Menschenrechte in unterschiedlichen Kulturräumen«, in: Günter Nooke/Georg Lohmann/Gerhard Wahlers (Hg.), Gelten Menschenrechte universal?, Freiburg: Herder, 2008, S. 63-97, hier S. 63.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
die Proklamierung universaler Menschenrechtsstandards könne die Vielfalt kultureller Lebensformen gefährden, weil der vermeintliche Universalismus faktisch an westlichen Wertvorstellungen orientiert bleibe.2 In einer Studie für die UNESCO verwies Claude Lévi-Strauss im Jahr 1952 ebenfalls auf spezifisch westliche kulturelle und historische Voraussetzungen der Menschenrechtsidee und bezweifelte die Sinnhaftigkeit des Versuchs, auf solcher Grundlage weltweite normative Standards zu etablieren.3 Eine ähnliche Position beziehen Adamantia Pollis und Peter Schwab in einem viel zitierten Aufsatz, der seine Botschaft schon im Titel trägt: »Human rights – a Western construct with limited applicability«.4 Kritik am Universalismus der Menschenrechte kommt aus unterschiedlichen politischen Lagern. Während konservative Skeptiker fürchten, die Einforderung universaler Rechte könne die nach wie vor bestehenden kulturellen Differenzen leichtfertig überspielen und damit ungewollt die Risiken eines »clash of civilizations« erhöhen,5 äußern Vertreterinnen und Vertreter postkolonialer Studien den Verdacht, die Menschenrechte stünden in der Kontinuität einer eurozentrischen mission civilisatrice.6 Auch die Zielsetzungen der Kritik variieren erheblich. Manche radikale Dekonstruktion erinnert an den aggressiven Demaskierungsgestus Carl Schmitts, der in universalistischen Normen nichts anderes als Verschwörung wittert: »Wer Menschheit sagt, will betrügen.«7 Andere plädieren hingegen für mehr Behutsamkeit und Bescheidenheit bei der Artikulierung von Menschenrechten, um damit deren Plausibilität und interkulturelle Akzeptanzchancen zu erhöhen. Die Kritik am Universalismus der Menschenrechte richtet sich – nicht überraschend – auch auf die Religionsfreiheit. Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte formuliert ein universales Recht, das wiederum für alle Menschen 2
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Vgl. American Anthropological Association, »Statement on Human Rights«, in: American Anthropologist, Vol. 49 (1947), S. 539-543, hier S. 539: »How can the proposed Declaration be applicable to all human beings, and not be a statement of rights conceived only in terms of the values prevalent in the countries of Western Europe and America?« Die American Anthropological Association hat ihre Position später allerdings deutlich revidiert, und zwar vor allem in Reaktion auf Menschenrechtsverletzungen. Vgl. Karen Engle, »From Skepticism to Embrace«, in: Human Rights Quarterly, Vol. 23 (2001), S. 536-559. Vgl. Claude Lévi-Strauss, »Rasse und Geschichte«, neu abgedruckt in: Ralf Konersmann (Hg.), Kulturphilosophie, Leipzig: Reclam, 1996, S. 168-221. Vgl. Adamantia Pollis and Peter Schwab, »Human Rights: A Western Concept with Limited Applicability«, in: dies. (Hg.), Human Rights: Cultural and Ideological Perspectives, New York: Praeger, 1979, S. 1-18. Vgl. Samuel P. Huntington, The Clash of Civilizations and the Remaking of World Order, New York: Simon & Schuster, 1996, S. 70-72. Vgl. Makau Mutua, »Savages, Victims, and Saviors: The Metaphor of Human Rights«, in: Harvard International Law Journal, Vol. 42 (2001), S. 201-245. Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen (Fassung von 1932), Berlin: Duncker & Humblot, 1963, S. 55. Schmitt beruft sich dabei auf ein Wort von Proudhon.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
weltweit gelten soll: »Jeder hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, sowie die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung allein oder in Gemeinschaft mit anderen, öffentlich oder privat durch Unterricht, Praxis, Gottesdienst und Einhaltung von Geboten zu manifestieren.«8 Um kaum einen Bestandteil der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wurde im Vorfeld so heftig gerungen wie um Artikel 18. Streit entzündete sich vor allem am expliziten Hinweis auf das Recht auf Religionswechsel – konzentriert im Reizwort »change«. Der Vertreter Saudi-Arabiens in den Vereinten Nationen beschwor die Zeiten der Kreuzzüge und des europäischen Kolonialismus und sah im Entwurf des Artikels 18 einen erneuten Versuch der westlichen Staaten, die Völker der Welt zu bevormunden.9 Mit dieser Position fand er übrigens keineswegs den ungeteilten Beifall der islamisch geprägten Staaten; entschiedener Widerspruch gegen die saudische Haltung kam damals etwa von Pakistan.10 Bis heute steht das Recht auf Religionswechsel im Zentrum politischer und rechtlicher Auseinandersetzungen um die Religionsfreiheit. In vielen islamisch geprägten Staaten ist es strafrechtlich verboten, einen Muslim in seinem Glauben zu erschüttern, und einige Staaten kriminalisieren darüber hinaus auch den Akt der Konversion als solchen. Hindu-Nationalisten sehen im Recht auf Religionswechsel einen Anschlag auf die Integrität der indischen Nation und fordern strafrechtliche Maßnahmen gegen »Verführung« zum Religionswechsel, wie sie auf der Ebene einiger indischer Einzelstaaten bereits seit längerem bestehen. Manche Repräsentanten der russisch-orthodoxen Kirche bezeichnen die bloße Präsenz protestantischer Gruppen auf russischem Boden bereits als illegitime Invasion »ausländischer Sekten«, gegen die der Staat vorgehen müsse. Der Streit um die Freiheit zum Religionswechsel illustriert exemplarisch, dass der Religionsfreiheit ein enormes Irritationspotenzial eigen ist. Wie vielleicht kein anderes Menschenrecht bringt sie gesellschaftliche, politische, kulturelle, religiöse und weltanschauliche Selbstverständnisse in die Krise. Sie schneidet in lebens8
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Im Englischen lautet Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte wie folgt: »Everyone has the right to freedom of thought, conscience and religion; this right includes freedom to change his religion or belief, and freedom, either alone or in community with others and in public or private, to manifest his religion or belief in teaching, practice, worship and observance.« In einigen deutschen Übersetzungen wird das Verb »to manifest«, mit dem eine weit gefasste Praxis eröffnet wird, mit »bekennen« oder »bekunden« wiedergegeben; in unserer eigenen Übersetzung orientieren wir uns jedoch an der englischen Fassung. Vgl. UN Doc. A/C.3/SR.127, S. 404. Saudi-Arabien wurde damals übrigens von einem libanesischen Christen, Jamil Baroodi, diplomatisch vertreten. Vgl. UN Doc. A/PV.182, S. 890. Der damalige Außenminister Pakistans, Mohammed Zafrullah Khan, entstammte der Ahmadiyyah Muslim Community, die vom pakistanischen Parlament später (1974) als häretisch definiert wurde.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
weltliche Gewohnheiten und Selbstverständlichkeiten hinein und löst nicht selten Verlustängste aus. Ist dies legitim? Zweifel bestehen nicht nur auf Seiten der »üblichen Verdächtigen«, d.h. jener religiösen Traditionalisten oder Nationalisten, die bestehende religionspolitische Hegemonien gegen Kritiker, Dissidentinnen, Konvertiten und den Einfluss »fremder« Religionen abschotten möchten. Hinter manchen skeptischen Anfragen steht auch der Verdacht, dass die Religionsfreiheit ihrerseits Ausdruck einer uneingestandenen Hegemonie sein könnte. Verdeckt die Sprache des menschenrechtlichen Universalismus womöglich neue Formen religionspolitischer Dominanz – etwa den Versuch, einen bestimmten Typus von Religion weltweit durchzusetzen? Verbirgt sich hinter der Religionsfreiheit das Projekt zur Schaffung einer menschenrechtskompatiblen »guten Religion«, während andere Formen von Religiosität als »schlechte Religionen« abgewertet werden? Geht es vielleicht sogar darum, einem »protestantischen« Paradigma, das die Innerlichkeit des persönlichen Glaubens als die eigentliche Dimension des Religiösen privilegiert, weltweit zum Durchbruch zu verhelfen? Verbindet sich in der Religionsfreiheit somit westlich-hegemoniales Rechtsdenken mit der Dominanz eines ebenfalls westlich geprägten Verständnisses von Religiosität? Solche kritischen Fragen sind an sich nicht neu, werden in letzter Zeit aber in neuer Schärfe aufgeworfen. Exemplarisch dafür ist ein unter dem Titel »Politics of Religious Freedom« erschienener Sammelband, herausgegeben von Winnifred Fallers Sullivan und anderen.11 Die Autorinnen und Autoren kommen aus unterschiedlichen Wissenschaftsdisziplinen: Religionswissenschaft, Politikwissenschaft, Ethnologie und Rechtswissenschaft. Was sie eint, ist eine ausgeprägte Skepsis gegenüber der Religionsfreiheit. In verschiedenen Varianten kommen Bedenken zu Wort, die Religionsfreiheit ziele auf eine globale Vereinheitlichung der Religionslandschaft, und zwar in Richtung eines irgendwie »protestantischen« Religionsverständnisses.12 Eine andere Befürchtung geht dahin, dass ein in Analogie zum ökonomischen Neo-Liberalismus gefasstes Marktmodell des Religiösen propagiert werde, dem weniger marktgängige Religionen letztlich zum Opfer fallen müssten: »Freedom here too readily comes to mean freedom for the powerful to exercise their power against the vulnerable (as in the free market).«13 Die vermeintliche Universalität der Religionsfreiheit entpuppt sich in dieser Sichtweise mithin als ein von handfesten Partikularinteressen gesteuertes Herrschaftsprojekt, in dem sich neoliberale Unternehmer, evangelikale Missionare 11 12 13
Vgl. Winnifred Fallers Sullivan/Elizabeth Shakman Hurd/Saba Mahmood/Peter G. Danchin (Hg.), Politics of Religious Freedom, Chicago: University of Chicago Press, 2015. Vgl. die Hinweise zu Abschnitt 2.4 innerhalb des vorliegenden Kapitels. Michael Lambek, »Is Religion Free?«, in: W. F. Sullivan et al. (Hg.), a.a.O., S. 289-300, hier S. 299.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
und politische Lobbyisten verbünden, um die Welt nach ihren Vorstellungen zu formen. Das vorliegende Kapitel greift diese fundamentale Anfrage an den Sinn der Religionsfreiheit auf. Ziel unserer Ausführungen ist es, den menschenrechtlichen Universalitätsanspruch im Recht auf Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit kritisch zu verteidigen. Dabei verstehen wir unter den Menschenrechten diejenigen grundlegenden Rechte, die dem Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins zukommen – und die deshalb allen Menschen gleichermaßen gebühren. Um eine Definition von James Griffin zu bemühen: ein Menschenrecht ist »a right that we have simply in virtue of being human«.14 Das Gegenteil wären solche Rechte, die an partikulare Vorleistungen, Rollen, Statuspositionen oder Mitgliedschaften gebunden wären. Die einzige »Mitgliedschaft«, die im Kontext der Menschenrechte zählt, ist die Zugehörigkeit zur »human family«,15 wie es in der Präambel der Allgemeinen Erklärung heißt.16 Genau dieser Universalismus, der die Menschenrechte im Kern definiert, kann heute allerdings nicht mehr als selbstverständlich gelten. Denn die kritischen »Dekonstruktionen«, denen die Idee der Menschenrechte von unterschiedlichen Perspektiven her – Gender-Studies, Postkolonialismus, Poststrukturalismus, Postmoderne, kritischer Geschichtswissenschaft usw. – unterzogen worden ist, haben vormalige Selbstverständlichkeiten erschüttert. In Abschnitt 2.2 des vorliegenden Kapitels bemühen wir uns daher zunächst darum, eine »post-dekonstruktivistische« Sichtweise der Menschenrechte zu skizzieren, die die vorgebrachten kritischen Einwände aufnimmt und darauf reagiert. Die Menschenrechte sollen demnach als Bestandteil einer Konflikt- und Lerngeschichte begriffen werden, die stets auch von Widersprüchen und Ambivalenzen durchzogen bleibt. Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte, an dem wir dezidiert festhalten wollen, ist mithin keine ungebrochene Gegebenheit, sondern fungiert als normative Leitidee und zugleich imaginärer Zielpunkt eines historisch unabgeschlossenen Lernprozesses, der die Bereitschaft zu Selbstkritik, Reformen und Adaptionen voraussetzt.17 In Abschnitt 2.3 beziehen wir dieses Verständnis von Universalität sodann auf das Menschenrecht der Religionsfreiheit. 14 15 16
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James Griffin, On Human Rights, Oxford: Oxford University Press, 2008, S. 2. In der offiziellen deutschen Übersetzung verblasst die Metapher der »human family« merkwürdigerweise zur »menschlichen Gemeinschaft«. Deshalb sind universale Rechte mehr als internationale Rechte. In der Diskussion um die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte bestand René Cassin im Oktober 1948 darauf, die Erklärung sei »expression of the rights of all the peoples of the world and not only of the fiftyeight nations then constituting the United Nations« (UN Doc. A/C.3/SR.92). Vgl. Heiner Bielefeldt, Philosophie der Menschenrechte: Grundlagen eines weltweiten Freiheitsethos, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 1998; Michael Wiener, »Universal Freedom of Religion or Belief: A Reality Check Through the Lens of the EU Guidelines«, in: Ben Schewel/Erin K. Wilson (Hg.), Religion and European Society: A Primer, Chichester: WileyBlackwell, 2019, S. 171-182.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Angesichts zahlreicher Missverständnisse stellen wir heraus, dass die Religionsfreiheit nicht etwa Religionen – religiöse Identitäten, religiöse Werte oder die Reputation von Religionen – schützt, sondern vielmehr Menschen und ihre Freiheit. In den Abschnitten 2.4 und 2.5 gehen wir dann näher auf zwei spezifische Einwände ein, nämlich, dass die Religionsfreiheit ein »protestantisches« Paradigma von Religiosität propagiere bzw. dass sie einem neoliberalen Religionsmarkt zum Durchbruch verhelfe. Abschnitt 2.6 fasst die Überlegungen abschließend zusammen und identifiziert von dorther einige praktische Aufgaben.
2.2
Reformulierung des menschenrechtlichen Universalismus
Wer partikularistische Motive hinter universalistischen Normen oder Ideen aufdecken will, wird leicht fündig. Universalismus »in Reinkultur« mag es in der Mathematik geben, in Fragen von Recht und Politik ist er vermutlich unmöglich. Auch Menschenrechtspolitik findet nicht in einem Machtvakuum statt, sondern bewegt sich im Kräftefeld unterschiedlicher Interessen und Positionen. Nirgendwo zeigt sich dies deutlicher als im UN-Menschenrechtsrat, wo alte Bündnisse beschworen, neue Koalitionen geschmiedet und wackelige Kompromissformeln gefunden werden, die oft genug niemanden wirklich zufriedenstellen. Macht- und Interessenspolitik zeigt sich auch im Umgang mit dem Recht der Religionsfreiheit: Anschuldigungen wegen Christenverfolgung im Nahen Osten werden mit dem Verweis auf islamophobe Tendenzen in Europa gekontert, und der Vorwurf eines »double standard of morality« ist allgegenwärtig. Politisch motivierter Religionsklientelismus ist Realität, und nicht selten bedient er sich auch der Sprache der Menschenrechte. Damit nicht genug: Partikularinteressen durchziehen nicht nur die praktische Menschenrechtspolitik; sie schlagen auch auf das Menschenrechtskonzept selbst durch. Vor allem im historischen Rückblick wird deutlich, dass das imaginäre Subjekt der Menschenrechte – der Mensch an sich – stets mit allerlei Partikularismen eingefärbt war: er hatte faktisch eben doch Geschlecht, Hautfarbe und sozialen Status.18 Wenn im ausgehenden 18. Jahrhundert die »rights of man« oder die »droits de l’homme« proklamiert wurden, zeigt schon der Wortlaut, dass das Subjekt der Menschenrechte fast immer männlich gedacht war. Auch besitzbürgerliche und bildungsbürgerliche Grundannahmen gingen unreflektiert oder absichtlich in die Formulierungen mit ein. Bis vor einigen Jahrzehnten kamen außerdem die Lebenswelten von Menschen mit Behinderungen im Menschenrechtsdiskurs fast nie vor – sonst hätten Metaphern wie »aufrechter Gang« nicht 18
Vgl. Ute Gerhard et al. (Hg.), Differenz und Gleichheit. Menschenrechte haben (k)ein Geschlecht, Frankfurt a.M.: Ulrich Helmer Verlag, 1990.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
so beliebt werden können. Und es verstand sich von selbst, dass das Subjekt der Menschenrechte nicht schwul oder lesbisch sein konnte. Erst in der Retrospektive sehen wir die Verengungen und Ausgrenzungen, die aus solchen mehr oder minder unreflektierten Vorannahmen resultieren. Viele Überblicksdarstellungen zur Genese der Menschenrechte sind zudem auch heute noch hoffnungslos eurozentrisch. Wenn sie die Menschenrechte als gleichsam natürliches Resultat bestimmter europäischer Traditionen – stoisches Naturrecht, englische Magna Charta, französische Aufklärung – konstruieren, blenden sie nicht nur historische Konflikte, Widersprüche und Halbherzigkeiten aus, sondern verleihen den Menschenrechten unter der Hand immer noch einen Hauch von »white man’s burden«.19 In der nach wie vor dominanten Geschichtserzählung der Menschenrechte wird oft auch der Reformation eine wichtige Rolle zugesprochen, weil in ihr »die Fahne des freien Geistes« aufgestellt worden sei, wie Hegel schreibt.20 Vor allem für die Entwicklung der Religionsfreiheit galt die Reformation lange Zeit als der entscheidende Durchbruch, weshalb Georg Jellinek – ein deutscher Rechtsgelehrter und Historiker aus der Zeit des Wilhelminismus – die Franzosen mit der These verärgern konnte, der Ursprung der modernen Menschenrechte liege nicht etwa in Paris, sondern in Wittenberg.21 Letztlich ging es im erbitterten Streit um die Jellinek-These freilich nur um innereuropäische Ownership-Rivalitäten, also Varianten innerhalb ein und derselben eurozentrischen Vereinnahmung der Menschenrechte. Was ist die Konsequenz aus diesen kritischen Beobachtungen? Eine Möglichkeit besteht darin, den Universalismus der Menschenrechte preiszugeben. Dies scheint die Pointe der meisten eingangs erwähnten Kritikerinnen und Kritiker zu sein. Die historische Prägung durch die europäische Kultur sei so grundlegend, dass der Universalitätsanspruch der Menschenrechte letztlich nur auf Kulturimperialismus hinauslaufen könne. Was gegen die Menschenrechte im Allgemeinen eingewandt wird, bezieht Winnifed Fallers Sullivan spezifisch auf die Religionsfreiheit: »The Impossibility of Religious Freedom«, lautet der vielsagende Titel ihrer Monographie. Sie geht davon aus, dass die Religionsfreiheit notwendigerweise eine Vorentscheidung darüber voraussetze, welche Art von Religion denn anerkannt und geschützt werden solle: »The right kind of religion, the approved religion, is always that which is protected, while the wrong kind, whether popular or unpo19 20 21
Vgl. Nikita Dhawan (Hg.), Decolonizing Enlightenment. Transnational Justice, Human Rights and Democracy in a Postcolonial World, Opladen: Budrich, 2014. Georg Wilhelm Friedrich Hegel, Vorlesungen über die Philosophie der Geschichte,Werke Bd. 12, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1979, S. 496. Vgl. Georg Jellinek, »Die Erklärung der Menschen- und Bürgerrechte«, wieder abgedruckt in: Roman Schnur (Hg.), Zur Geschichte der Erklärung der Menschenrechte, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2. Aufl. 1974, S. 1-77.
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pular is always restricted or even prohibited.«22 Exklusiver Religionsklientelismus sei der Religionsfreiheit gleichsam von Haus aus eingeschrieben, die deshalb niemals ein universales Menschenrecht sein könne. Was folgt daraus für die Praxis? »Beyond religious freedom«, heißt ein Buch von Elizabeth Shakman Hurd, die mit Sullivan eng zusammenarbeitet.23 Wie das angekündigte »Jenseits« der Religionsfreiheit konkret aussehen soll, erfährt man darin aber nicht. Die Preisgabe des normativen Universalismus, so sie denn ernst gemeint ist, läuft auf die Annahme hinaus, dass die Differenz der partikularen Positionen und Interessen unüberbrückbar bleibt; sie wäre die letzte politische Wirklichkeit, mit der man dann klarkommen müsste. Genau dies war die Intention Carl Schmitts, der sich dafür stark machte, dass politische Gegner einander gleichsam mit offenem Visier konfrontieren, ohne zu, wie er meinte, verlogenen universalistischen Konzepten Zuflucht zu nehmen.24 Übertragen auf den Umgang mit Religionsdifferenz hieße dies, dass wir uns damit abfinden müssten, uns wechselseitig unser Nicht-Verstehen, unsere inkompatiblen Interessenspositionen, Werte und Vorurteile kundzutun. Mehr wäre letztlich weder möglich noch sinnvoll. Gewiss, wir alle stecken in unseren partikularen lebensweltlichen Kontexten, deren kulturelle, religiöse und sonstige Prägungen uns niemals vollständig transparent werden können.25 Davon auszugehen, dass jeder seine Befangenheiten (»biases«) hat, denen man letztlich nie ganz entrinnen kann, hätte immerhin den Vorzug der Ehrlichkeit. Gegenüber einem naiven Universalismus, der die eigene politische Lebenswelt, Kultur oder Religiosität schlicht als Weltmodell ausgibt, mag solche epistemologische und normative Bescheidenheit sympathischer sein. Fraglich bleibt jedoch, wie sich Zusammenleben organisieren lässt, wenn man im Ernst daran festhält, dass es übergreifende normative Referenzen nicht gibt und jeder Versuch, übergreifende Standards zu schaffen, von vornherein zum Scheitern verurteilt ist. Bleibt es dann bei einem irrationalen Kampf »der Götter der einzelnen Ordnungen und Werte«, von dem schon Max Weber meinte, dass er letztlich unentrinnbar, zugleich aber auch unentscheidbar sei?26 Müssen wir uns auf ein bloßes Nebeneinander rivalisierender Partikularitäten – Ethnien, Kulturgruppen, Religionsgemeinschaften – einstellen, die allenfalls über Grenzverläufe miteinander reden? 22 23 24 25 26
Winnifred Fallers Sullivan, The Impossibility of Religious Freedom, Princeton: Princeton University Press, 2005, S. 154. Elizabeth Shakman Hurd, Beyond Religious Freedom. The New Global Politics of Religion, Princeton: Princeton University Press, 2015. Vgl. C. Schmitt, a.a.O., S. 67. Vgl. Helmuth Plessner, »Die Frage nach der Conditio Humana« (ursprünglich 1961), in: Gesammelte Schriften, Bd. VIII, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 1980, S. 136-217. Max Weber, »Wissenschaft als Beruf«, in: Wolfgang J. Mommsen/Wolfgang Schluchter (Hg.), Werke, Bd. I, Studienausgabe, Tübingen: Mohr Siebeck, 1994, S. 1-25, hier S. 17.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
Eine solche Konsequenz wird zwar gern im Tonfall eines nüchternen Realismus formuliert; man kann sich aber fragen, wie realistisch sie tatsächlich ist – vor allem dann, wenn sich unterschiedliche Gruppen ein gemeinsames Territorium teilen müssen. Der Pluralismus der Religionen, Weltanschauungen, Ideologien manifestiert sich ja nicht nur im »Pluriversum« der Staatenwelt, auf das Carl Schmitt sich bezog,27 sondern auch inmitten der einzelnen Gesellschaften; er durchzieht Stadtviertel, Betriebe und oft genug auch Familien. Wenn unaufhebbare »diversity« zu den Grundzügen modernen Zusammenlebens gehört, sprechen aber selbst Gesichtspunkte eines pragmatischen Realismus dafür, solche Differenzen zumindest kommunikativ zu artikulieren und kommunikativ auszuhandeln – oder, vorsichtiger formuliert: jedenfalls beständige Versuche in diese Richtung zu unternehmen. Es gibt keine Garantie dafür, dass entsprechende Projekte erfolgreich sind und sich Missverständnisse und Konflikte kommunikativ stets bewältigen lassen. Eine gleichsam »stumme Andersheit« kann der Gestaltung des Zusammenlebens aber nicht dienlich sein. Gerade die Erfahrung irreversibler Differenz der Weltsichten, Prägungen und Orientierungen kann daher zum Movens werden, über die Grenzen hinweg miteinander zu kommunizieren und Modi sinnvollen Zusammenlebens auszuhandeln.28 Was haben die Menschenrechte in diesem Zusammenhang zu bieten? Nach Michael Ignatieff sind sie mittlerweile zur »lingua franca of global normative thought« geworden.29 Eine international etablierte normative Sprache zur Verfügung zu haben, mag nützlich sein, trifft aber noch nicht den eigentlichen Kern der Sache. Menschenrechte wollen mehr sein als ein bloßes Medium normativer Aushandlungsprozesse. Sie stehen nämlich für die Einsicht, dass es elementare Voraussetzungen sinnvollen Miteinander-Sprechens und Miteinander-Handelns gibt, die ihrerseits letztlich nicht ohne Weiteres verhandelbar sind. Allem voran zählt dazu der Respekt vor der Würde des Menschen als Verantwortungssubjekt. Er schwingt als zumeist unausgesprochene Voraussetzung mit, wenn Menschen Verbindlichkeiten, gleich welcher Art, miteinander eingehen. Ob sie einen Mietvertrag unterzeichnen, sich gemeinsame Vereinsregeln geben, als Abgeordnete einen Gesetzesentwurf debattieren oder im Gespräch einander Dinge anvertrauen, von denen sie nicht möchten, dass sie weitererzählt werden – sobald normative Erwartungen aneinander ins Spiel kommen, sind diese zumindest implizit von einem Anspruch wechselseitigen Respekts getragen, ohne den normative Verbindlichkeiten weder entstehen noch aufrechterhalten werden könnten. Die Würde des Menschen als 27 28 29
C. Schmitt, a.a.O., S. 67. Vgl. Heiner Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Frage steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg: Herder, 2011. Michael Ignatieff, Human Rights as Politics and Idolatry, Princeton: Princeton University Press, 2001, S. 53.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Verantwortungssubjekt besteht bei alldem nicht in individuellen Fähigkeiten oder Vorleistungen, die von Person zu Person variieren könnten, sondern bezeichnet eine grundlegende Statusposition, die konsequenterweise alle Menschen gleichermaßen umfasst. Im Abschlusskapitel werden wir diesen Gedanken noch einmal aufgreifen und mit weiterführenden Erläuterungen versehen.30 Nicht nur das Grundgesetz für die Bundesrepublik Deutschland, sondern auch die ein halbes Jahr zuvor verabschiedete Allgemeine Erklärung der Menschenrechte (Dezember 1948) setzt nicht zufällig mit dem Bekenntnis zur Menschenwürde ein, die allen Menschen gleichermaßen als »inhärent« zuerkannt wird. Übrigens hatte bereits im Mai 1948 die 9. Internationale Konferenz von Amerikanischen Staaten in Bogota die Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen verabschiedet, deren Präambel die Formulierung von Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte vorwegnahm: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.«31 Dieses lateinamerikanische Beispiel mag als Indiz dafür herhalten, dass die universalen Menschenrechte keineswegs ungebrochen und exklusiv auf europäischen Einfluss zurückzuführen sind.32 Was folgt aus alledem systematisch? Die soeben angestellten Überlegungen haben nicht zum Ziel, skeptische Einwände gegen universale Rechte schlicht abzuweisen oder gar ein für alle Mal zu widerlegen. Letzteres wäre aussichtslos. Zwar lässt sich die Idee universaler Menschenrechte durchaus mit Argumenten plausibilisieren; sie lässt sich aber nicht in Analogie zu einer mathematischen Beweisführung als zwingend notwendig »beweisen«. Deshalb werden Zweifel und Einwände wohl niemals ganz verschwinden. Das ist gut so. Denn für die Praxis der Menschenrechte können Zweifel hilfreich sein, da normativer Universalismus, wie oben ausgeführt, nie »in Reinkultur« existieren kann. Selbst der Versuch, die unhintergehbaren Prämissen sinnvollen Miteinander-Redens zu formulieren und politisch-rechtliche Konsequenzen daraus zu ziehen, geschieht ja seinerseits stets in bestimmten Sprachen (zum Beispiel in den sechs offiziellen UNO-Sprachen),33 und Begriffe wie Menschenwürde, Freiheit und Gleichheit erwecken stets unterschiedliche historische Konnotationen. Auch die üblichen Techniken internationaler Verrechtlichung mögen ihre historische Pfadabhängigkeit haben. Menschenrechte stehen offenbar nicht schlicht jenseits kontextueller Partikularitäten. Es gibt 30 31
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Vgl. Kapitel 10.4. Während die Amerikanische Erklärung der Rechte und Pflichten des Menschen noch den Begriff »men« für »Menschen« verwendet, ersetzt die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte diesen herkömmlichen Sprachgebrauch durch »human beings«. Vgl. Kathryn Sikkink, »Latin American Countries as Norm Protagonists of the Idea of International Human Rights«, in: Global Governance, Bd. 20 (2014), S. 389-404; Amitav Acharya, »Who Are the Norm Makers? The Asian-African Conference in Bandung and the Evolution of Norms«, in: Global Governance, Bd. 20 (2014), S. 405-417. Arabisch, Chinesisch, Englisch, Französisch, Russisch und Spanisch.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
nicht den »archimedischen Punkt«, von dem aus wir die gesamte Landschaft kultureller Lebenswelten mit unbefangenem Blick überschauen und ein für alle Mal ordnen könnten. In diesem Sinne gilt es, einen naiven, ungebrochenen Universalismus zu überwinden, der davon ausgeht, mit einem bestimmten Set von Normen und Standards sei der Universalitätsanspruch der Menschenrechte eindeutig und abschließend eingelöst und könne fortan unmittelbar auf sämtliche Gesellschaften, Situationen und Fälle schlicht angewendet werden. Wenn im historischen Rückblick immer wieder offensichtlich wird, wie stark dem imaginierten Subjekt der universalen Menschenrechte stets doch auch partikulare Züge anhafteten, gibt dies Anlass zur Bescheidenheit, nämlich zur Vermutung, dass künftige Generationen unser heutiges Menschenrechtsverständnis ähnlich kritisch sehen dürften. Warum sollte heute gelingen, was in der Vergangenheit nie konsequent möglich war? Nicht nur die praktische Verwirklichung, sondern schon die Formulierung der Menschenrechte bleibt offenbar »work in progress« und verlangt die Bereitschaft zu immer wieder neuen Korrekturen, Adaptionen und Reformulierungen.34 Der normative Universalismus der Menschenrechte markiert keinen übergeschichtlichen Standpunkt. Wohl aber steht er für das immer wieder neue Bemühen, Borniertheiten konkret zu überwinden, Vorurteile kommunikativ aufzusprengen, die Basis für grenzüberschreitende Kommunikation zu erweitern und die Voraussetzungen sinnvollen Miteinander-Handelns institutionell durch die Garantie fundamentaler Rechte eines jeden und einer jeden abzustützen. Dieses Projekt bleibt, der Natur der Sache entsprechend, unabgeschlossen. Wir haben vorhin darauf hingewiesen, dass im historischen Rückblick vielfältige Vereinseitigungen in den Blick kommen, die den Formulierungen der Menschenrechte seit der Virginia Bill of Rights von 1776 und der Déclaration des Droits de l’Homme et du Citoyen von 1789 bis zur Allgemeinen Erklärung von 1948 und den in ihrem Gefolge entstandenen UN-Menschenrechtskonventionen anhafteten. Die Vergegenwärtigung vergangener Vereinseitigungen mahnt zur Skepsis gegenüber vollmundigen Universalitätsbehauptungen in der Gegenwart. Allerdings kann man die Geschichte auch so lesen, dass sich Vereinseitigungen und Vorurteile doch sukzessive haben abbauen lassen. Frauenrechtsaktivistinnen ist es gelungen, den Menschenrechtsdiskurs dadurch auszuweiten, dass sie verstärkt Unrechtserfahrungen in der privaten Sphäre, die zuvor weitgehend außer Acht gelassen worden waren, auf die Agenda setzten. Menschen mit Behinderungen haben Ausgrenzungen durch verschiedene »Sonderinstitutionen« zum Menschenrechtsthema gemacht und eine eigene Konvention zur Gewährleistung von Barrierefreiheit und 34
Vgl. Imke Leicht, Wer findet Gehör? Kritische Reformulierungen des menschenrechtlichen Universalismus, Opladen: Verlag Barbara Budrich, 2016.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Inklusion auf den Weg gebracht.35 Jüngere Formulierungen des allgemeinen Diskriminierungsverbots führen auch Alter und sexuelle Orientierung in der Liste verbotener Anknüpfungspunkte für Ungleichbehandlung an.36 Hier zeigen sich entscheidende Durchbrüche. Außerdem hat die Geschichtswissenschaft damit begonnen, traditionelle Genealogien der Menschenrechte auf den Prüfstand zu stellen und eurozentrische Lesarten der Menschenrechtsgeschichte aufzusprengen. Zivilgesellschaftliche Organisationen sehen es als ihre Aufgabe an, die Doppelbödigkeit regierungsamtlicher Menschenrechtsrhetorik aufzudecken. Kurz: Der normative Universalismus der Menschenrechte kann sich nur als »work in progress« bewähren. Menschenrechtskritik kann einer solchen beständigen Bewährungsprobe dienlich sein. Statt im Stile Carl Schmitts die Idee des Universalismus von vornherein als hoffnungslos verlogen zu diskreditieren, kann Kritik dazu beitragen, den Anspruch der Menschenrechte behutsamer, bescheidener und präziser zu formulieren und das Projekt menschenrechtlicher Normierung für neue Einsichten, Entdeckungen, Unrechtsnarrationen, Reformen und Anpassungen offen zu halten.
2.3
Menschenrechtliche Konturierung der Religionsfreiheit
Der Religionsfreiheit kam – und kommt – eine wichtige Rolle für die Entwicklung der Menschenrechte zu. Solange politisch-rechtliche Ordnungsvorstellungen, wie im Zeitalter des europäischen Konfessionalismus, unmittelbar dem Selbstverständnis einer bestimmten Konfession entsprangen, war ein Zusammenleben mit Andersgläubigen auf gleicher Augenhöhe praktisch ausgeschlossen. Wie auch hätte eine substanzielle Verständigung gelingen können, wenn die einen auf das päpstlich beglaubigte Naturrecht setzten, während die anderen im Papst den »Antichrist« sahen? Vertreibungen, Diskriminierung oder gar Zwangsbekehrungen wurden allenfalls durch Phasen pragmatischer Toleranzpolitik abgelöst, auf die aber letztlich nie Verlass sein konnte. Angesichts nicht enden wollender gewaltsamer Konflikte lernte man allmählich, den entstandenen innerchristlich-konfessionellen – später auch religiösen und weltanschaulichen – Pluralismus als irreversibles Faktum zu begreifen und zur Grundlage einer neuen, pluralistischen Ordnungsstruktur zu machen.37 Echte Akzeptanz von Pluralismus muss aber mehr sein als eine bloß resignative Hinnahme einer nicht mehr zurückzuschraubenden Spaltung. Genau hier setzt die Religionsfreiheit ein. Sie basiert auf der Annahme, dass es eben doch einen 35
36 37
Vgl. die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, verabschiedet von der UN-Generalversammlung am 13. Dezember 2006 und in Kraft getreten am 3. Mai 2008. Vgl. Art. 21 der EU-Grundrechtecharta, die am 1. Dezember 2009 in Kraft getreten ist. Vgl. Ernst Cassirer, Die Philosophie der Aufklärung, Hamburg: Meiner, 1998, S. 219.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
gemeinsamen Nenner gibt, der sich durch die diversen konfessionellen Positionierungen hindurch zieht, nämlich die Tatsache, dass sie stets von Menschen getragen werden. Es sind Menschen, die unterschiedliche religiöse Überzeugungen entwickeln, pflegen, bekennen oder auch verändern, und es sind Menschen, die sich von solchen Überzeugungen ggf. auch lebenspraktisch leiten lassen, sei es für sich allein oder in Gemeinschaft mit anderen. Dieser Ansatzpunkt lässt die genannten Differenzen und die daraus resultierenden Konflikte nicht verschwinden, erlaubt es aber, sie politisch-rechtlich zu zivilisieren. Dies geschieht dadurch, dass alle Menschen – in Anerkennung ihrer Würde als Verantwortungssubjekte – das Recht haben sollen, nach ihren Überzeugungen in Freiheit zu leben, sofern dies mit dem gleichen Recht der Anderen kompatibel ist. Soweit in nuce die Leitidee, die der Religionsfreiheit zugrunde liegt. Die Idee gleicher Freiheit für alle Menschen trägt den Menschenrechtsansatz im Ganzen, zu dem die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit als ein unverzichtbarer Bestandteil gehört. Die Religionsfreiheit als Menschenrecht zu verstehen, hat eine wichtige Konsequenz, deren Ignorierung den Grund mancher Missverständnisse bildet: Rechtssubjekte sind nicht die Religionen als solche, sondern die Menschen, die sie bekennen (oder auch nicht bekennen) und danach leben (oder auch nicht). Etwas überspitzt formuliert: Die Religionsfreiheit beschäftigt sich nur insofern mit Religion, als sich Menschen mit Religion beschäftigen. Nur vermittelt über die Menschen – Individuen und Gemeinschaften – gelangt Religion überhaupt in den Fokus menschenrechtlicher Wahrnehmung und Gestaltung.38 Wer hingegen Religion als solche rechtlich schützen wollte, müsste vorweg die Frage beantworten, welche Religionen denn schutzwürdig sein sollten. Die Namen Gottes – oder der Götter – aber sind vielfältig, und in manchen Traditionen kommt Gott überhaupt nicht vor; prophetische Religionen, die über den Rang der Propheten streiten, stehen neben Religionen, die von Propheten nichts wissen; und was dem einen als heilig gilt, ist für den anderen womöglich blasphemisch oder schlicht nicht nachvollziehbar. Wie kann eine Rechtsordnung mit solch konfliktträchtiger Vielfalt umgehen, ohne selbst parteiisch zu werden? Sullivans kategorische Antwort lautet: überhaupt nicht. Denn, wie sie schreibt: »legal protection for ›religion‹ anywhere demands a definition of religion«.39 Jede Definition aber, 38
39
Dies übersieht zum Beispiel Lorenzo Zucca, »Freedom of Religion in a Secular World«, in: Rowan Cruft/S. Matthew Liao/Massimo Renzo (Hg.), Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 388-406. Mit der Frage »whether religion deserves special protection« (a.a.O., S. 389) verstellt sich Zucca von vornherein jedes sinnvolle Verständnis der Religionsfreiheit als Menschenrecht. W. F. Sullivan, Impossibility, a.a.O., S. 151. Vgl. ganz ähnlich auch E.S. Hurd, Beyond Religious Freedom, a.a.O., S. 53.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
so ihr Verdikt, werde notwendigerweise partikularistisch sein, weshalb die angeblich universale Religionsfreiheit notwendig auf Religionsklientelismus hinauslaufe. Von daher versteht sich der Titel ihres Buches: »The Impossibility of Religious Freedom«. Sullivan hätte Recht, wenn es bei der Religionsfreiheit um einen direkten rechtlichen Schutz von Religion ginge; genau dies ist aber gerade nicht der Fall. Ihre Kritik ignoriert den Charakter der Religions- oder Weltanschauungsfreiheit als Menschenrecht. Ausgangspunkt der Religionsfreiheit ist das Selbstverständnis der Menschen, die den Schutz der Religionsfreiheit für sich in Anspruch nehmen. Die Definition des Schutzbereiches dieses Menschenrechts nimmt insofern die SelbstDefinition der Betroffenen mit auf; ihr kommt eine entscheidende Rolle zu.40 Wie wir gleich sehen werden, ergeben sich daraus weitere komplizierte Fragen, und das Selbstverständnis der Betroffenen kann letztlich nicht immer allein den Ausschlag geben. Es steht gleichwohl unverzichtbar am Anfang jeder Bemühung, den Anwendungsbereich der Religionsfreiheit zu klären, und es kann niemals übersprungen werden, wenn es darum geht, die Konturen der Religionsfreiheit fallspezifisch immer wieder neu zu justieren. Wenn die Selbstdefinitionen der Menschen den Ausgangspunkt der Religionsfreiheit bilden, folgt daraus, dass ihr Anwendungsbereich weit gesteckt sein muss. Die Religionsfreiheit bildet keineswegs eine bloße Verlängerung jener historischen Toleranzpolitik Europas, die im Ausburger Religionsfrieden (1555) zunächst zwei Konfessionen – Katholiken und Lutheraner – erfasste, im Westfälischen Frieden (1648) dann um die Reformierten ergänzt wurde und zu der sukzessive weitere Konfessionen oder Religionen hinzu kamen. Wenn auch heute noch manche Staaten in ihren Verfassungen »Religionsfreiheit« versprechen, diese dann aber auf einige vorab festgelegte Religionen beschränken, hat dies mit einem menschenrechtlichen Ansatz nichts zu tun. Im Kontext der Menschenrechte kann religiöse Vielfalt nicht vom Staat nach Belieben definiert, d.h. erlaubt und dann wieder eingehegt werden, sondern sie wird zunächst und zuvörderst durch die Menschen – ihre Selbstverständnisse und ihre Praxis – definiert. Damit aber öffnet sich der Raum für eine Vielfalt, die letztlich jeden staatlich vorgegebenen Kanon legitimer Optionen überschreitet. Sie sprengt auch den Begriff der »Religions«-Freiheit im engeren Sinne auf, der konsequenterweise mindestens durch den Doppelbegriff der »Religions- oder Weltanschauungsfreiheit« ersetzt werden müsste,41 was im Deutschen allerdings recht schwerfällig klingt (und deshalb auch im vorliegenden Text nicht 40
41
Vgl. Gerard Bouchard/Charles Taylor, Building the Future: A Time for Reconciliation; Abridged Report, Gouvernement du Québec, 2008, S. 57f. Bouchard und Taylor sprechen hier von einer »subjektiven Konzeption der Religion«, die in der jüngeren Rechtsprechung zur Religionsfreiheit zum Durchbruch gekommen sei. Zur Terminologie vgl. Michael Wiener, Das Mandat des UN-Sonderberichterstatters über Religions- oder Weltanschauungsfreiheit – Institutionelle, prozedurale und materielle Rechtsfragen, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2007, S. 4ff.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
durchgängig verwendet wird). Im Englischen hat sich die Doppelformel »freedom of religion or belief« weitgehend etabliert, wobei der Begriff »belief« auch nichtreligiöse weltanschauliche Positionen umfasst, was sprachlich nicht unmittelbar einleuchtet.42 Die französische Fassung ist klarer und lautet »liberté de religion ou de conviction«. Eine weite, offene Interpretation von Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte fordert auch der für das Monitoring dieses Pakts zuständige UN-Ausschuss, genannt Menschenrechtsausschuss.43 In seinem »General Comment« Nr. 22 aus dem Jahr 1993 heißt es: »Article 18 protects theistic, non-theistic and atheistic beliefs, as well as the right not to profess any religion or belief. The terms ›belief‹ and ›religion‹ are to be broadly construed. Article 18 is not limited in its application to traditional religions or to religions and beliefs with institutional characteristics or practices analogous to those of traditional religions.«44 Bereits im Jahr 1960 hatte der Sonderberichterstatter Arcot Krishnaswami im ersten thematischen UNO-Bericht über Diskriminierung in Religionsangelegenheiten den Begriff »Religion oder Weltanschauung« dahingehend verstanden, dass er neben verschiedenen Formen des Theismus auch andere Weltanschauungen wie Agnostizismus, Atheismus und Rationalismus umfasst.45 Es überrascht nicht, wenn ein solch offenes, weites Verständnis unterschiedlich motivierte Bedenken auf den Plan ruft. Eine immer wieder geäußerte Befürchtung geht dahin, dass die Religionsfreiheit leicht zum Deckmantel für gefährliche Organisationen werden könnte. Dagegen gibt es allerdings Möglichkeiten konkreter Beschränkungen, worauf wir im nächsten Kapitel noch eingehen werden. Für die hier anstehende Diskussion über den Universalitätsanspruch wichtiger ist ein anderer Einwand, nämlich die Befürchtung, dass die so offen formulierte Religionsund Weltanschauungsfreiheit durch Überbeanspruchung ihre Konturen verlieren könnte – mit der Konsequenz einer Inflationierung und Trivialisierung von Rechtsforderungen. Nach dem im Jahr 2001 durchgeführten nationalen Zensus in Eng42 43 44 45
Der Sprachgebrauch ist etwas unglücklich, weil viele Atheisten oder Agnostiker sich ausdrücklich als »non-believers« bezeichnen. Zu seinen Aufgaben und Kompetenzen vgl. die Ausführungen in Kapitel 8.3. UN Human Rights Committee, General Comment Nr. 22, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.4, Ziffer 2. Zur Funktion der General Comments vgl. auch die Ausführungen unten, Kapitel 8.3. Vgl. Arcot Krishnaswami, Study of Discrimination in the Matter of Religious Rights and Practices, New York 1960, UN Doc. E/CN.4/Sub.2/200/Rev.1, S. 1. Vgl. auch Michael Wiener, Das Mandat des UN-Sonderberichterstatters über Religions- oder Weltanschauungsfreiheit, a.a.O., S. 260f. Eine ausführliche Würdigung der Berichterstattung von Krishnaswami findet sich bei Hans G. Kippenberg, Regulierungen der Religionsfreiheit. Von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Baden-Baden: Nomos, 2019, S. 46-57.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
land und Wales sollen sich mehr als 390.000 Menschen (ca. 0,75 Prozent) als Anhänger einer »Star Wars-Religion« bezeichnet haben.46 Sollen sie für den Fan-Club einer Sciencefiction-Serie die Religionsfreiheit in Anspruch nehmen können?47 Wie steht es um die »Pastafaris«, die angeblich »das große Spaghetti-Monster« verehren und darauf bestehen, sich für offizielle Dokumente mit einem Nudelsieb auf dem Kopf fotografieren zu lassen?48 Und was wäre, wenn holländische Coffee Shops einen Antrag auf Registrierung als Religionsgemeinschaft stellen würden, um den Verkauf von Drogen als liturgische Praxis ausgeben zu können? Offenbar geraten wir hier in schwierige Gewässer. Ronald Dworkin hält die Probleme, die sich aus dem weit gespannten Verständnis von Religions- und Weltanschauungsfreiheit ergeben, für letztlich unlösbar: »Once we break the connection between a religious conviction and orthodox theism, we seem to have no firm way of excluding even the wildest ethical eccentricity from the category of protected faith.«49 Gibt es einen Weg, der die Offenheit des universalistisch gedachten Rechts auf Religionsfreiheit aufrechterhält, ohne in Trivialitäten abzurutschen? Können wir den Anwendungsbereich dieses Rechts so fassen, dass es greifbare Konturen behält, ohne in irgendeinen staatlich definierten Kanon legitimer Religionen zurückzufallen? Weder die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 noch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte von 1966 enthalten Definitionen von »Religion« oder »Weltanschauung«, und auch der bereits zitierte General Comment plädiert lediglich für ein weites Verständnis, ohne dies näher inhaltlich zu konturieren. Einen gewissen Hinweis gibt immerhin die »Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung« der Vereinten Nationen vom 25. November 1981. In der Präambel heißt es, dass »Religion oder Weltanschauung, für denjenigen der sie bekennt, eines der grundlegenden Elemente seiner Lebensvorstellung« darstellt. Damit wird festgehalten, dass es bei der Religionsfreiheit um »grundlegende« Fragen geht, die für die betreffenden Personen von existenzieller Wichtigkeit sind. Eine nähere Präzisierung findet sich in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte. In seiner Judikatur verwendet der Straßburger Gerichtshof seit Anfang der 1980er Jahre eine Formel, wonach eine Sichtwei46
47
48 49
Vgl. Office for National Statistics, Census 2001 Summary theme figures and rankings – 390,000 Jedi There Are, 13 February 2003 (www.ons.gov.uk/ons/dcp171780_225970.pdf, abgerufen am 12. November 2019). Beim darauffolgenden Zensus im Jahr 2011 halbierte sich die Anzahl der »Jedi Knights« in England und Wales, allerdings stellte sie die größte Gruppe in der Kategorie »No religion«. Wenn diese rhetorische Frage in der Tat ein »Nein« nahelegt, so soll damit natürlich nicht bestritten werden, dass andere Freiheitsrechte – etwa die Meinungsfreiheit oder Kunstfreiheit – auch Fan-Aktionen zugunsten von »Star Wars« stützen. Vgl. www.venganza.org/about/, abgerufen am 12. November 2019. Ronald Dworkin, Religion without God, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2013, S. 24.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
se »a certain level of cogency, seriousness, cohesion and importance« aufweisen müsse, wenn sie als Ausdruck der Religions- und Weltanschauungsfreiheit gelten soll.50 Mit dem Begriff der »cogency« wird das Moment von Dringlichkeit, ja Unbeliebigkeit angesprochen, das eine identitätsstiftende Überzeugung auszeichnet. Der Begriff »cohesion« formuliert die Erwartung, dass sich eine solche Überzeugung ganzheitlich und auch lebenspraktisch manifestiert. Die Begriffe »seriousness« und »importance« bedürfen wohl keiner weiteren Erläuterung. Zusammengenommen sollen die vier Komponenten der Formel eine prinzipielle Offenheit für ganz unterschiedliche religiöse oder weltanschauliche Grundüberzeugungen mit dem Interesse verbinden, etwaige Tendenzen zur Inflationierung und Banalisierung abzufangen. In ähnliche Richtung weisen Überlegungen von Jocelyn Maclure und Charles Taylor, die darauf abstellen, die Religionsfreiheit schütze sinnstiftendes Engagement religiöser oder auch nicht-religiöser Art, sofern es für die moralische Identität der Betroffenen wesentlich sei.51 Cole Durham und Brett Scharffs berufen sich bei ihren Überlegungen auf Paul Tillich, der Religion als das definiert, was einen Menschen »unbedingt angeht«.52 Auch Ronald Dworkin, der sich selbst zu einer nicht-theistischen Religiosität in der Tradition Spinozas bekennt, betont den ganzheitlichen, die Lebenspraxis des Menschen umgreifenden Anspruch grundlegender Überzeugungen. Es handele sich um »convictions that one cannot isolate from the rest of one’s life. They engage a whole personality. They permeate experience: they generate pride, remorse, and thrill.«53 Auch wenn die Selbstartikulation der Menschen stets den Einstieg bildet, muss es möglich sein, ggf. kritische Rückfragen zu stellen und nicht jedes selbst gewählte »Label« kommentarlos als Ausdruck der Religionsfreiheit hinzunehmen. Andernfalls droht sich dieses Menschenrecht in Trivialitäten zu verlieren. Die von Straßburg entwickelte Formel – »cogency, seriousness, cohesion and importance« – steht für den Versuch, einen gangbaren Weg zu einem universalistischen Verständnis der Religionsfreiheit zu weisen, in dem die Gesichtspunkte von Offenheit einerseits und Konturierung andererseits pragmatisch miteinander versöhnt werden.Was das dann konkret bedeutet, wird in Antwort auf immer wieder neue Herausforderungen und Anfragen von Fall zu Fall entschieden. Die Konturen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit bleiben insofern offen und beweglich und zugleich an nachvollziehbaren formalen Kriterien orientiert. 50 51 52 53
EGMR, Campbell & Cosans v. United Kingdom (appl. 7511/76 & 7743/76) vom 25. Februar 1982. Vgl. Jocelyn Maclure/Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011, S. 121-129. Vgl. W. Cole Durham/Brett G. Scharffs, Law and Religion. National, International, and Comparative Perspectives, New York: Aspen, 2010, S. 46. R. Dworkin, a.a.O., S. 11.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
2.4
Impliziter protestantischer Bias?
Kritikerinnen und Kritiker der Religionsfreiheit mögen sich durch die vom Straßburger Gerichtshof entwickelte Formel womöglich in ihrem Verdacht bestätigt sehen, dass die Religionsfreiheit – bei aller prätendierten Offenheit – doch faktisch an einem sehr spezifischen, nämlich protestantisch geprägten Verständnis von Religion Maß nimmt. Die von Georg Jellinek dereinst aufgestellte These, wonach es der Reformation zu verdanken sei, dass Vorstellungen von Gewissens- und Religionsfreiheit prominent in die Menschenrechte Eingang gefunden haben, schlägt somit gleichsam als Vorwurf zurück. Beispielsweise behauptet Robert Yelle, die Religionsfreiheit privilegiere eine Vorstellung von Religion, die auf den Vorrang des persönlichen, innerlichen Glaubens vor äußeren rituellen Praktiken setze: »This understanding of religion has commonly – and, I believe, correctly – been traced to tendencies that became dominant during the Reformation, as signaled by the Protestant critique of the Catholic ritual economy of salvation.«54 Auch Elizabeth Shakman Hurd betrachtet die Orientierung an modernen, post-protestantischen Begriffen von Religion als konstitutiv für das Recht auf Religionsfreiheit, dessen universales Freiheitsversprechen sie deshalb als illusionär ansieht.55 Obwohl frei von solcher Polemik, sieht auch Ronan McCrea in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zur Religionsfreiheit ein »protestantisches« Motiv am Werk: »The individualised view of religious freedom […] is most consistent with a Protestant vision of religion as primarily a matter of the individual’s belief and conscience.«56 In solchen kritischen Positionierungen zur Religionsfreiheit wird der Begriff des »Protestantischen« in aller Regel typologisch verwendet. Er bezeichnet dann nicht nur spezifische konfessionelle Ausprägungen des Christentums, sondern wird analog auch auf Reformbewegungen innerhalb des Islams, des Buddhismus, des Hinduismus und anderer religiöser Traditionen angewendet.57 Drei Aspekte stehen dabei im Vordergrund: (1) der Vorrang der Innerlichkeit, also des existenziellen Glaubens gegenüber äußerer ritueller Praxis; damit verbunden 54 55 56
57
Robert Yelle, »Imagining the Hebrew Republic. Christian Genealogies of Religious Freedom«, in: W. F. Sullivan et al. (Hg.), The Politics of Religious Freedom, a.a.O., S. 17-28, hier S. 18. Vgl. Elizabeth Shakman Hurd, »Believing in Religious Freedom«, in: W. F. Sullivan et al. (Hg.), The Politics of Religious Freedom, a.a.O., S. 45-56, hier S. 50. Ronan McCrea, »Religion, Law and State in Contemporary Europe: Key Trends and Dilemmas«, in: Marie Claire Foblets et al. (Hg.), Belief, Law and Politics: What Future for a Secular Europe?, London: Ashgate, 2014, S. 91-98, hier S. 92. Vgl. Friedrich Wilhelm Graf, Götter Global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München: C.H. Beck, 2014, S. 141f.: »In diesem Sinne hat das Protestantische in den Religionsgeschichten weit über die Grenzen des Christentums hinaus eine starke religionskulturelle Prägekraft zu entfalten vermocht.«
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
(2) die Orientierung am Individuum, dem gegenüber kommunitäre Interessen eher in den Hintergrund treten; und schließlich (3) eine Form gemeinschaftlicher Organisation, die von überzeugten Mitgliedern getragen wird.
2.4.1
Vorrang der Innerlichkeit?
Die Vermutung, dass die Religionsfreiheit die Dimension der Innerlichkeit privilegiere, hat zunächst durchaus starke Argumente für sich. In den internationalen Verbürgungen der Religionsfreiheit ist bemerkenswerterweise immer zugleich von »Gewissensfreiheit« (»freedom of conscience«) die Rede, womit ein Zusammenhang zwischen Religion und Gewissen gestiftet wird, der alles andere als trivial ist. In der Rechtsprechung und in juristischen Kommentaren ist die Komponente der Gewissensfreiheit gleichwohl lange Zeit eher vernachlässigt worden. Im Kontext gewissensbedingter Verweigerungen (nicht nur im Bereich von Militärdienst) hat sie jüngst vermehrt Aufmerksamkeit gefunden.58 Hinzu kommt, dass die innere Dimension des Glaubens und Gewissens einen bedingungslosen, »absoluten« Schutz findet, der für äußere Manifestationen nicht gilt. So jedenfalls ist Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 angelegt, der die Verbürgungen der Allgemeinen Erklärung von 1948 juristisch näher ausdifferenziert.59 Die Kommentierungen unterscheiden gemeinhin zwischen dem »forum internum« und dem »forum externum« der Religionsfreiheit (auch wenn diese Begrifflichkeit im Wortlaut der einschlägigen Rechtstexte selbst nicht vorkommt). Während die äußeren Manifestationen einer Religion oder Weltanschauung – in Gestalt von Gottesdienst, Einhaltung von Geboten, Praxis und Unterricht – unter Umständen von Staats wegen beschränkt werden können, sofern die für etwaige Schrankenziehungen vorgeschriebenen Kriterien eingehalten werden,60 gilt dies für die innere Dimension einer Religion oder Weltanschauung bemerkenswerterweise nicht. Ihre Gewährleistung unterliegt keinerlei legitimen Beschränkungen von Seiten des Staates, nicht einmal in Krisen und Notstandssituationen. Der Schutz des forum internum der Religionsfreiheit ist damit ähnlich stark formuliert wie das Folterverbot oder das Verbot der Sklaverei, die ebenfalls einschränkungslos gelten. Schreibt die Religionsfreiheit somit also eine Hierarchisierung fest, die dem typisch protestantischen Primat der Innerlichkeit – auf Kosten äußerer Manifestationen des Religiösen – entspricht? Diesen Verdacht äußert neben vielen ande58
59 60
Vgl. Grégor Puppinck, »Conscientious Objection and Human Rights: A Systematic Analysis«, in: Brill Research Perspectives in Law and Religion, Bd. 1 (2017), S. 1-75; vgl. auch die Ausführungen unten, in Kapitel 8.7. Ähnlich auch die Struktur der Religionsfreiheit in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention und anderen Verbürgungen. Dazu Näheres im Kapitel 3.4.
41
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
ren beispielsweise Saba Mahmood.61 Ein Blick auf die Praxis der Religionsfreiheit zeigt indes, dass man mit schnellen Schlussfolgerungen vorsichtig sein sollte. Denn in der Befassung nationaler und internationaler Gerichte, Ombudsinstitutionen, Advocacy-Gruppen und nicht zuletzt auch der spezialisierten UN-Organe geht es häufig gerade um Anliegen aus dem Bereich des forum externum: um religiöse Kleidung wie Kopftuch oder Turban; die Präsenz religiöser Symbole, etwa von Kruzifixen, in öffentlichen Institutionen wie Schulen oder Gerichten; religiös motivierte Knabenbeschneidung; religiöse Erziehungsrechte von Eltern und ihre Grenzen; Möglichkeiten zur Einhaltung religiöser Speisevorschriften in der Schule und am Arbeitsplatz; das rituelle Schächten von Tieren; den Umgang mit religiöser und weltanschaulicher Vielfalt in öffentlichen Schulen; die Gestaltung des schulischen Religionsunterrichts und Möglichkeiten individueller Freistellung; die religiöse Sozialisation von Kindern und Jugendlichen in Familie und Gemeinde; Bedingungen für den Erwerb kollektiver Rechtspersönlichkeit durch Religionsgemeinschaften; Baugenehmigungen für Kirchen, Moscheen und Synagogen; Regelungen zum Glockenläuten oder zum Muezzinruf; die autonome Bestellung religiöser Würdenträger (Priester, Imame, Rabbiner, Mönche, Nonnen usw.); die Einrichtung von Friedhöfen und Grabstätten; Feiertagsregelungen und ihre Auswirkungen auf religiöse Minderheiten; staatliche Maßnahmen gegen religiösen Hass; Bedingungen interreligiöser Kommunikation und Kooperation; Förderprogramme zugunsten religiöser Minderheiten oder indigener Völker; Mitwirkung an Rundfunkräten; caritative Einrichtungen in religiöser Trägerschaft; die Personalpolitik kirchlicher Krankenhäuser und vieles mehr. Bei der Religionsfreiheit geht es nicht ausschließlich um Fragen individueller Spiritualität und Überzeugung, sondern – gewiss nicht weniger – auch um die individuelle und gemeinschaftliche Lebenspraxis, Autonomieansprüche von Gemeinden und angemessene Infrastrukturentwicklung usw. Von einer einseitigen Konzentration auf die Innerlichkeit des persönlichen Glaubens und Gewissens oder gar einer daraus resultierenden Abwertung »bloß äußerer« Manifestationen kann keine Rede sein.62 Der besonders ausgeprägte Schutz des forum internum zielt denn auch keineswegs auf einen abstrakten Vorrang der Dimension der Innerlichkeit. Ein Staat, der sich darauf beriefe, genuine Religiosität sei eine Sache persönlicher Herzensfrömmigkeit, weshalb äußere Rituale, kommunitäre Zeremonien und religiöse Infrastruktur belanglos seien oder gar aus der Öffentlichkeit verschwinden sollten, würde damit die Religionsfreiheit nicht verwirklichen, sondern verletzen. Denn zur 61 62
Vgl. Saba Mahmood, Religious Difference in a Secular Age. A Minority Report, Princeton: Princeton University Press, 2016, S. 155-157. Vgl. Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 92-305.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
Religionsfreiheit gehört konstitutiv die Freiheit zur vielfältigen sichtbaren und hörbaren Bekundung von Religion, und zwar nicht nur im Privaten, sondern auch in der Öffentlichkeit. Warum dann aber der besonders ausgeprägte Schutz des forum internum? Zur Beantwortung dieser Frage müssen wir hier kurz einen Gesichtspunkt einfügen, der ausführlicher im folgenden Kapitel erörtert werden soll: die Kriterien für die Rechtfertigung etwaiger staatlicher Beschränkungen der Religionsfreiheit.63 Die prinzipiell eingeräumte Möglichkeit, der Religionsfreiheit von Staats wegen konkrete Schranken zu setzen, unterliegt nämlich ihrerseits einer kritischen Gegenprüfung anhand vorgegebener Kriterien. Diese bestehen nicht nur aus formalen Bedingungen und Auflagen, sondern enthalten auch definitive inhaltliche Markierungen, die gleichsam die schlechthin nicht-überschreitbaren »roten Linien« des Menschenrechtsansatzes definieren. Genau darum geht es beim absoluten Schutz des forum internum – aber auch bei einigen anderen ähnlich absolut formulierten Verboten wie dem Folterverbot oder dem Verbot der Sklaverei. Selbst Notstandsargumente rechtfertigen beispielsweise keine Folter oder Versklavung, die die Menschen vollends verdinglichen; genauso wenig können sie jemals rechtfertigen, dass Menschen zwangskonvertiert oder Formen von Gehirnwäsche unterworfen werden, die darauf abzielen, sie als eigenständige Subjekte zu vernichten. In diesen »roten Linien« kommt die Prämisse des Menschenrechtsansatzes, nämlich der Respekt vor dem Menschen als Verantwortungssubjekt, in besonders dichter Weise zum Ausdruck. Das absolute Verbot von Zwangsmaßnahmen im Bereich des forum internum der Religionsfreiheit steht also keineswegs isoliert da. Schon vom Wortlaut her weist es direkte Parallelen zu den genauso apodiktischen Verboten von Folter bzw. Sklaverei auf. In dieser breiteren Perspektive, die auch andere apodiktische Verbotsnormen berücksichtigt, wird der Eindruck einer »typisch protestantischen« Privilegierung der Innerlichkeit dann doch zumindest erheblich relativiert.
2.4.2
Einseitiger Individualismus?
Bestätigt die systematische Fokussierung auf den Menschen als Subjekt der Religionsfreiheit nicht den Verdacht, dass hier zuletzt ein »individualistisches« Verständnis vorliegt, das vielleicht doch am ehesten mit einer typisch protestantischen Religionsauffassung kompatibel ist? Die Vorstellung, die Menschenrechte seien Ausdruck eines einseitig individualistischen Menschenbildes gehört zum längst »klassisch« gewordenen Arsenal der Menschenrechtskritik. Schon Hegel bestimmte den Liberalismus und die durch ihn propagierten Freiheitsrechte vom »Prinzip der Atome, der Einzelwillen« her,64 und Marx sah in den Menschenrechten nichts 63 64
Vgl. dazu Kapitel 3.4. Vgl. G.W.F. Hegel, Philosophie der Geschichte, a.a.O., S. 534.
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anderes als die Rechte wechselseitiger »Absonderung« der Menschen gegeneinander, die sich auf diese Weise vereinzeln und vereinsamen.65 Ähnliche Vorbehalte finden sich in der katholisch-konservativen Menschenrechtskritik, in jüngeren Stellungnahmen der Russisch-Orthodoxen Kirche, und sie existieren genauso unter islamischen, hinduistischen oder buddhistischen Vorzeichen, die auf je eigene Weise immer wieder das Leitmotiv vom gemeinschaftszerstörenden Individualismus variieren. Auch die jüngere Debatte um »Asian Values« schlug einmal mehr in diese Kerbe, insofern sie asiatische Traditionen von Gemeinschaftsloyalität gegen einen asozialen Individualismus stellte, der von den Menschenrechten angeblich befördert werde.66 Nun handelt es sich bei den Menschenrechten in der Tat um Rechte, die für jeden Menschen schlicht aufgrund seines Menschseins – nämlich um der Würde des Menschen willen – anerkannt sind und geschützt werden. Insofern kommen sie jedem einzelnen Menschen zu, und zwar vorgängig zu spezifischen Gruppenzugehörigkeiten. Dies ist für das Verständnis der Menschenrechte unaufgebbar. Wer sie als »Individualrechte« bezeichnet, liegt also nicht falsch – auch wenn diese Formulierung leicht missverstanden wird. Aus dem Begriff des Individualrechts zu folgern, es gehe um die Herauslösung des Menschen aus kommunitären Beziehungen und Loyalitäten, wäre jedoch ein Fehlschluss. Denn alle Menschenrechte weisen gemeinschaftliche Bezüge auf, ja sie zielen geradezu darauf ab, freiheitliche Formen von Gemeinschaftlichkeit zu ermöglichen und zu stützen. Dazu nur einige Beispiele: Die Meinungsfreiheit beschränkt sich keineswegs auf die individuelle Freiheit zur Meinungsäußerung, sondern sichert zugleich die Bedingungen des demokratischen Diskurses in einem freiheitlichen Gemeinwesen; sie ist gleichsam das Ur-Recht des demokratischen Miteinanders. Versammlungsfreiheit und Vereinigungsfreiheit können offensichtlich von isolierten Individuen gar nicht wahrgenommen werden, sondern eröffnen Möglichkeiten des freien Zusammenschlusses, die für die Demokratie unverzichtbar sind. Im Wirtschafts- und Arbeitsleben spielen Verbände und Gewerkschaften eine zentrale Rolle, deren Betätigungsfreiheit wiederum durch spezifische menschenrechtliche Gewährleistungen abgestützt werden. Das Recht auf Schutz von Ehe und Familie stellt in noch einmal viel dichterer Weise ein gemeinschaftsbezogenes Recht dar; es soll Familien unter anderem davor bewahren, gegen ihren Willen auseinandergerissen zu werden – zum Beispiel in Flüchtlingslagern oder Asylaufnahmezentren. Soziale Rechte gewährleisten die faire Teilhabe an Bildung, Gesundheitsversorgung sowie 65 66
Vgl. Karl Marx, »Zur Judenfrage« (1834), in: Marx-Engels-Werke, Bd. 1, (Ost-)Berlin: DietzVerlag, 1970, S. 347-377, hier S. 364. Kritisch dazu Amartya Sen, Human Rights and Asian Values, New York: Carnegie Council on Ethics and International Affairs, 1997, S. 7-32.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
am Arbeitsmarkt; wiederum geht es offensichtlich um den Menschen als soziales Wesen. Auch die Habeas-Corpus-Rechte verfolgen nicht zuletzt das Ziel, Menschen vor Situationen einer »incommunicado«-Haft zu bewahren, sie also dagegen zu schützen, aus der Beziehungsgemeinschaft der Menschen völlig herausgerissen zu werden. Man könnte die Liste der Beispiele verlängern, an denen deutlich wird, dass die Menschenrechte gerade nicht auf die »Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückgezogener Monade« zielen,67 wie Marx einst meinte. Das Gegenteil ist der Fall. Wenn jedem einzelnen Menschen die grundlegenden Rechte garantiert werden, verbessert dies zugleich die Voraussetzungen für freie Gemeinschaftsbildungen. Die Religionsfreiheit spiegelt genau diese Struktur wider. Über die individuelle Glaubens- und Bekenntnisfreiheit hinaus umfasst sie auch die Freiheit zu gemeinschaftlicher Religionsausübung, hat also ebenfalls wesentlich kommunitäre Dimensionen, wie sich an zahlreichen Beispielen aus der Rechtspraxis illustrieren lässt. In Theoriedebatten über die Menschenrechte findet nach wie vor ein Aspekt zu wenig Beachtung, der die Praxis der Menschenrechte seit jeher entscheidend geprägt hat, nämlich dass diese den Menschen nicht nur gegen die Überwältigung durch ein Kollektiv, sondern auch gegen unfreiwillige Ausgrenzung schützen sollen. In einem Klima politischer Einschüchterung durch autoritäre Regime trauen sich Menschen meist nicht, sich politisch zusammenzuschließen und gemeinsam für Veränderungen einzutreten. In einem von Homophobie geprägten Umfeld können Lesben und Schwule schwerlich angstfrei ihre Partnerschaft leben. Menschen ohne legalen Aufenthaltstitel neigen zur Kontaktvermeidung, um die Risiken von Entdeckung und Ausweisung zu minimieren; nicht selten führt dies dazu, dass sie selbst in medizinischen Notfällen keinen Arzt aufsuchen. In Staaten, die sich als Hüter religiöser Rechtgläubigkeit inszenieren, fühlen sich Menschen mit anderen religiösen oder nicht-religiösen Orientierungen oft unter Druck, ihre Überzeugungen zu verheimlichen, um sich selbst und andere nicht zu gefährden. Für solche Situationen erzwungener Vereinzelung wollen Menschenrechte Abhilfe schaffen. Sie zielen generell auf angstfreie Beziehungen und stützen freie Formen von Vergemeinschaftung. Dass sich gleichwohl hartnäckig das Klischee hält, Menschenrechte seien »apathetic to communal aspirations«,68 ist schwer nachvollziehbar. Nicht der immer wieder beschworene Gegensatz von Individuum versus Gemeinschaft macht die Pointe der Menschenrechte aus. Stattdessen geht es um Freiheit versus Autoritarismus; das ist die eigentliche Frontstellung. Indem die Menschenrechte freie Gemeinschaftsbildung in vielfältigen Sozialstrukturen – von der Ehe und Familie über Vereine und politische Parteien bis hin zu 67 68
K. Marx, a.a.O., S. 354. So S. Mahmood, a.a.O., S. 51.
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Religionsgemeinschaften – fördern, richten sie sich gegen autoritäre, bevormundende Kollektivismen einerseits und gegen erzwungenen sozialen Ausschluss andererseits. Menschenrechtswidrig wären demnach Familienformen, die auf erzwungener Eheschließung basieren oder Volksdemokratien ohne Pressefreiheit und ohne Freiheitsrechte der Opposition. Ebenfalls inakzeptabel aber wären eine Wirtschaftspolitik, die die dauerhafte Exklusion von Arbeitslosen zynisch oder schulterzuckend hinnähme oder eine gesellschaftliche Praxis, die Menschen mit geistigen Behinderungen vom öffentlichen Leben absondert. Auch für die Religionsfreiheit ist die kommunitäre Dimension keineswegs nur eine äußere Hülle von sekundärer Bedeutung. Gegründet in der unantastbaren Würde jedes einzelnen Menschen, gewährleistet die Religionsfreiheit zahlreiche Rechte des Miteinanders. Sie garantiert die Freiheit der Menschen, sich zu versammeln und dauerhaft zu einer Gemeinschaft zu verbinden, gemeinsame Gottesdienste zu feiern, sich caritativ zu betätigen, Schulen und Trainingsinstitutionen einzurichten, Kontakte zu befreundeten Gemeinden im Inland sowie im Ausland zu pflegen und vieles mehr. Wichtig ist, dass all dies ohne Zwang geschehen soll. Sofern es sich um religiöse Minderheiten handelt, kommen neben der Religionsfreiheit auch noch spezifische Minderheitenrechte ins Spiel, die ebenfalls starke Gemeinschaftsbezüge aufweisen.
2.4.3
Orientierung am freikirchlichen Paradigma?
Mit dem Hinweis auf starke kommunitäre Aspekte der Religionsfreiheit ist der Vorwurf einer Orientierung am protestantischen Paradigma freilich noch nicht vom Tisch. Liegt der Religionsfreiheit womöglich die Leitvorstellung eines durch individuelle Mitgliedschaft konstituierten Gemeindetypus zugrunde, wie er historisch wiederum am prägnantesten vom Protestantismus vertreten wird? Nimmt die Religionsfreiheit also einseitig an einem »Protestant understanding of ›the church‹« Maß, wie Peter Danchin argwöhnt?69 Bekanntlich weisen die historischen Formen, in denen sich religiöses Gemeinschaftsleben manifestiert, eine große Bandbreite auf. Manche Zusammenschlüsse zeigen eher offene Netzwerkstrukturen und sind nicht einmal auf Dauer angelegt; daneben gibt es Mitgliedschaftskirchen bzw. Mitgliedschaftsgemeinden, denen Menschen aus freiem Entschluss beitreten, die sie aber auch ohne Weiteres wieder verlassen können; in andere Gemeinschaften wird man aber typischerweise hineingeboren, und es besteht die Erwartung lebenslanger Zugehörigkeit; und manche Religionsgemeinschaften kennen die Möglichkeit frei gewählter Mitgliedschaft überhaupt nicht. Auf der einen Seite des Spektrums funktionieren Religi69
Peter G. Danchin, »Religious Freedom in the Panopticon of Enlightenment Rationality«, in: W. F. Sullivan et al. (Hg.), The Politics of Religious Freedom, a.a.O., S. 240-252, hier S. 251.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
onsgemeinschaften ähnlich wie Vereine; am anderen Ende des Spektrums ähneln sie hingegen ethnischen Gruppen, die sich wesentlich durch gemeinsame Herkunft definieren. Die Religionsfreiheit gibt solchen fundamental unterschiedlichen Selbstverständnissen Raum. Sie zielt keineswegs darauf ab, die Mitgliedschaftskriterien in Richtung eines freikirchlichen Modells zu verändern oder gar weltweit zu vereinheitlichen. Wenn das orthodoxe Judentum von der Regelvermutung ausgeht, dass man als Jude von einer jüdischen Mutter geboren wird und andere Wege zum Judentum nur als Ausnahmen offenstehen, wird die Religionsfreiheit daran nichts ändern. Sie bietet keinen Titel dafür, solche traditionellen Selbstverständnisse von außen her zu verändern oder Reformen der Zugehörigkeitskriterien gar mit staatlicher Macht durchzusetzen. Ändern lassen sie sich nur von innen her, nämlich von den Angehörigen der Religionsgemeinschaft selbst – sofern sie dies wollen. Überlappungen zwischen Religion und Ethnizität zeigen sich auch in anderen Gruppierungen, etwa bei Aleviten, Drusen oder Jesiden. Sie sehen traditionell keine Möglichkeit der Mitgliedschaft durch Konversion vor, sondern kennen im Prinzip nur geborene Angehörige. Auch in der Vorstellungswelt vieler indigener Völker bilden Spiritualität, Gruppenloyalität und gemeinsamer »ethnischer« Ursprung einen integralen Zusammenhang. Wiederum ist es gerade nicht das Ziel der Religionsfreiheit, solche Zusammenhänge zu zerschneiden. Gemäß der Logik der Menschenrechte gilt der Respekt traditioneller Zugehörigkeitskriterien freilich unter der Bedingung der Zwangsfreiheit.70 Die Nagelprobe dafür ist die Freiheit zum Religionswechsel. Zwar bleibt es den Religionsgemeinschaften überlassen, über Kriterien des Eintritts – etwa durch Geburt, Adoption, Eheschließung, Glaubensprüfung, eingeschriebene Mitgliedschaft usw. – selbständig zu entscheiden. Dies kann auch darauf hinauslaufen, die Möglichkeit frei gewählter Mitgliedschaft generell abzulehnen, wie dies für einige Gemeinschaften gilt. Den Austritt können und dürfen die Religionsgemeinschaften aber letztlich nicht verhindern. Sie können eine Abkehr bedauern und der Hoffnung Ausdruck geben, dass die sich wegbewegenden Menschen dereinst in den Schoß der Gemeinschaft zurückfinden. Zwangsausübung in diese Richtung ist ihnen aber von der Religionsfreiheit her verwehrt. Notfalls muss der Staat diesbezüglich eingreifen und Konvertiten oder »Apostaten« gegen interne Drohungen oder Gewalt in Schutz nehmen. Für die Religionsgemeinschaften hat die Freiheit des Austritts eine beunruhigende Konsequenz. Sie müssen prinzipiell damit klarkommen, dass Menschen sich von ihrem Glauben abwenden und ihre Gemeinschaft verlassen können. Insbesondere für strukturschwache Gruppierungen, darunter indigene Völker, ergeben sich aus dieser Forderung zusätzliche Härten. Der Assimilationsdruck, dem 70
Vgl. H. Bielefeldt/N. Ghanea/M. Wiener, Freedom of Religion or Belief , a.a.O., S. 75-91.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
sie sich angesichts von Globalisierungs-, Modernisierungs- und Urbanisierungsprozessen ausgesetzt sehen, betrifft auch ihr spirituelles und religiöses Erbe, das vielerorts akut bedroht oder bereits in Teilen unwiderruflich verloren gegangen ist. Arvind Sharma fordert daher ein Recht auf Freiheit von Konversion: »One should be free not to convert, and one should remain free from any pressure to convert. In other words, freedom of religion consists as much of the freedom to retain one’s religion as to change it […].«71 Sharma scheint indes zu übersehen, dass die von ihm gewünschte Erweiterung der Religionsfreiheit längst existiert. Die Freiheit zum Glaubenswechsel impliziert schon begriffsnotwendig, dass ein solcher Akt niemals unter Zwang zustande kommen darf und Menschen demnach gleichermaßen frei sind, an ihrem angestammten Glauben festzuhalten. Diese Selbstverständlichkeit kommt ausdrücklich auch im oben zitierten General Comment Nr. 22 des für den Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte zuständigen UN-Ausschusses zu Wort.72 Das Problem besteht nicht etwa darin, dass die Religionsfreiheit als solche die Möglichkeit, einem angestammten Glauben auch weiterhin anzugehören, unterminiere. Vielmehr liegt die eigentliche Herausforderung darin, dass manche Religionsgemeinschaften, insbesondere indigene Völker, oftmals nicht über ausreichende Ressourcen verfügen, um einem externen Assimilierungsdruck standzuhalten. Hier hat der Staat Unterstützung zu leisten. Diese Pflicht ergibt sich aus den einschlägigen Verbürgungen von Minderheitenrechten und den Rechten indigener Völker. Beispielsweise verlangt die 1992 verabschiedete UN-Erklärung über die Rechte von Personen, die nationalen bzw. ethnischen, religiösen und sprachlichen Minderheiten angehören, dass die Staaten durch angemessene Maßnahmen »günstige Bedingungen« schaffen, damit Angehörige von Minderheiten ihre Kultur, Sprache, Religion, Traditionen und Bräuche gemäß ihrem Selbstverständnis weiterentwickeln können.73 Nach langen Debatten verabschiedete die UN-Generalversammlung im Jahre 2007 ferner eine umfassende Erklärung über die Rechte indigener Völker.74 Darin sind umfangreiche und regelmäßige Konsultationen mit indigenen Völkern über alle sie betreffenden Fragen vorgesehen. Auch hinsichtlich ihrer religiösen und spirituellen Traditionen sollen sie sich ihrem Selbstverständnis entsprechend entwickeln können – sofern sie dies wünschen.75 Die Religionsfreiheit ist somit längst auch in den Diskursen über Minderheitenrechten bzw. über die Rechte indigener Völker angekommen. Wie 71 72 73 74 75
Arvind Sharma, Problematizing Religious Freedom, Dordrecht: Springer, 2012, S. 89. Vgl. ähnlich auch S. Mahmood, a.a.O., S. 178. General Comment Nr. 22, Ziffer 5. Vgl. UN Doc. A/RES/47/135, Artikel 4 Absatz 2. Eine detaillierte Erörterung findet sich in H. Bielefeldt/N. Ghanea/M. Wiener, Freedom of Religion or Belief, a.a.O., S. 439-465. Vgl. UN Doc. A/RES/61/295. Vgl. Artikel 12 der Erklärung über die Rechte indigener Völker.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
genau sie in diesen Kontexten angemessen konzeptualisiert und verwirklicht werden soll, ist allerdings noch lange nicht geklärt. Vor allem, was den Umgang mit indigenen spirituellen Traditionen angeht, stehen uns wohl noch weitreichende Lern- und Veränderungsprozesse bevor.
2.5
Auf dem Weg zu einem neoliberalen Markt der Religionen?
Neben der Vermutung, hinter der Religionsfreiheit stehe ein protestantisches Paradigma, äußern Kritikerinnen und Kritiker gelegentlich auch den Verdacht, dieses Freiheitsrecht ziele auf die Durchsetzung einer neoliberalen Marktlogik im Feld religiöser und weltanschaulicher Konkurrenz. So behauptet Talal Asad, Amerika sehe es als seine Mission an, »to free religion as it frees property, that is, as an object that can be negotiated and exchanged without any legal obstacles«76 . Nach Elizabeth Shakman Hurd diene die Religionsfreiheit der Etablierung eines religiösen Marktes, »where the believer or nonbeliever can shop for, among other things, religion«77 . Der Zentralbegriff, an dem sie diese Marktlogik meint festmachen zu können, ist der Begriff der Wahlfreiheit, auf Englisch knapp und schneidend: »choice«.78 In Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte von 1966 ersetzt der Begriff »choice« den Begriff des Religionswechsels (»change«), der trotz erheblicher Widerstände Eingang in die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 gefunden hatte. Bei den Verhandlungen über den Internationalen Pakt kam es zu ähnlichen Kontroversen. Man einigte sich schließlich auf eine Formulierung, wonach die Religionsfreiheit unter anderem die Freiheit umfasst, »eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen«.79 Diese Formulierung im ersten Absatz von Artikel 18 wird im zweiten Absatz noch einmal aufgegriffen, um die Wahlfreiheit im forum internum, wie bereits dargestellt, mit besonderem, nämlich »absolutem« Rechtsschutz auszustatten. So heißt es kategorisch: »Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine 76 77 78 79
Talal Asad, Formations of the Secular: Christianity, Islam, Modernity, Standford: Standford University Press, 2003, S. 147. Elizabeth Shakman Hurd, »Believing in Religious Freedom«, in: W. F. Sullivan et al. (Hg.),The Politics of Religious Freedom, a.a.O., S. 45-56, hier S. 52. Vgl. a.a.O., S. 49. Hurd sieht eine religiöse Psychologie am Werke, derzufolge ein autonomes Subjekt »chooses and enacts beliefs«. Inhaltlich ist dies gleichbedeutend mit dem Recht auf Religionswechsel. Vgl. auch General Comment Nr. 22, Ziffer 5.
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Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.«80 Am zentralen Begriff »choice« machen sich immer wieder Kritik und Unbehagen fest, scheint dieser Begriff doch der Welt der shopping malls zu entstammen. Der Eindruck, hier stehe eine Verständnis Pate, das die Religion als bloßes Konsumgut auf einem Wellness-Markt handhabt, mag daher zunächst naheliegen. Auch Befürworter der Religionsfreiheit tun sich mit dem Begriff »choice« gelegentlich schwer. So insistiert Patrick Riordan: »Religious faith is not a choice like other choices, and it is of such significance in social life that it warrants particular attention.«81 Ähnlich bemerkt Roger Trigg: »A religion typically makes demands on its adherents. They are believed to be not only of their making but are obligations imposed on them. That is very different from the ›subjective‹ choice made because I feel like it, and impose it on myself.«82 Julian Rivers findet den Begriff ebenfalls anstößig. Er schreibt: »Focusing on autonomy in the sense of freedom of choice reflects a false view of the person as an unencumbered chooser of what to believe and how to live.«83 Solche Kritik unterstellt, dass mit dem Begriff »choice« ein bestimmtes Menschenbild oder eine bestimmte Auffassung von Religion verbunden sei. Das ist aber keineswegs der Fall. Denn es handelt sich bei diesem Begriff um einen juristischen Terminus und nicht um ein theologisches oder religionsphänomenologisches Prädikat. Seine Funktion besteht nicht darin, religiöse Gefühle, Erlebnisse oder Interessen zu beschreiben (wofür dieser Begriff in der Tat völlig ungeeignet wäre), sondern einen Raum strikter Zwangsfreiheit rechtlich zu markieren. In diesem spezifischen juristischen Bezugsfeld – und nur hier – entfaltet der Begriff seinen Sinn. Er steht deshalb keineswegs in Widerspruch zu theologischen Begriffen wie »Berufung« oder »Auserwählung«, die vordergründig das Gegenteil von Wahlfreiheit signalisieren, sich aber auf einer ganz anderen Ebene bewegen und deshalb unbenommen bleiben. Es ist keineswegs paradox, wenn ein Zeuge Jehovas sich bei der Verweigerung des Militärdienstes einerseits auf »das Diktat (!) seines Gewissens« beruft, das ihm letztlich keine Wahl (»no choice«) lasse, und andererseits vom Staat Respekt vor seiner persönlichen Entscheidungsfreiheit (»freedom of choice«) 80 81
82 83
Auf Englisch: »No one shall be subject to coercion which would impair his freedom to have or to adopt a religion or belief of his choice.« Patrick Riordan, »Which Dignity? Which Religious Freedom?«, in: Christopher McCrudden (Hg.), Understanding Human Dignity, Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 420-434, hier S. 429. Roger Trigg, Equality, Freedom & Religion, Oxford: Oxford University Press, 2012, S. 106. Julian Rivers, »Justifying Freedom of Religion: Does Dignity Help?«, in: Christopher McCrudden (Hg.), Understanding Human Dignity, Oxford: Oxford University Press, 2013, S. 405-419, hier S. 415.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
einfordert. Menschliches Leben ist nicht eindimensional. Wir werden darauf im folgenden Kapitel noch näher eingehen.84 Die hier geleistete Klarstellung hat nichts Mysteriöses. Analoge Erfahrungen gibt es auch in anderen Lebensbereichen, etwa im Kontext von Partnerschaft oder Eheschließung. Wiederum handelt es sich um existenzielle Fragen, die für die meisten Menschen nicht nach einer schnöden Marktlogik verlaufen. Die Menschenrechte, die sich spezifisch auf Ehe, Partnerschaft und Familie beziehen, zielen denn auch keineswegs darauf ab, diese Themen einem rational-choiceKalkül zu unterwerfen, wie es in der Ökonomie üblich ist. Wenn der Begriff »choice« dennoch Sinn ergibt, ja unverzichtbar ist, dann wiederum in seiner spezifischen Funktion, Zwangsverhältnisse zu überwinden. Da für viele junge Menschen weltweit – vor allem Mädchen und junge Frauen – Zwangsverheiratung nach wie vor eine reale Bedrohung darstellt, bleibt die Durchsetzung von »Wahlfreiheit« eine wichtige menschenrechtliche Aufgabe. Genau hier hat der Begriff »choice« seinen Sitz im Leben, und zwar wiederum als eine juristische Kategorie, nicht als Beschreibung persönlicher Erwartungen oder Erfahrungen, für die sich völlig andere Begriffe und Metaphern anbieten. Wenn eine junge Frau gegenüber dem sozialen Druck ihrer Umwelt auf Respekt ihrer eigenen freien Entscheidung besteht, hat sie sich damit noch lange nicht zu einer neoliberalen Marktlogik bekannt. Dasselbe gilt auch für die Religionsfreiheit. Insofern ist es nicht überzeugend, wenn Elizabeth Shakman Hurd behauptet: »Contemporary international religious freedom advocacy both presupposes and produces the neoliberal religious subject of the religious economies model: a rational, voluntary religious actor who seeks out the religious options that suit her best.«85 Diese Interpretation schließt fälschlicherweise von einer spezifisch juristischen Kategorie, die eine ganz bestimmte Funktion – nämlich die Garantie von Zwangsfreiheit – erfüllt, auf eine umfassende »neoliberale« Ideologie. Außerdem entspricht diese Interpretation nicht der Praxis der Religionsfreiheit, in der es immer wieder um Fragen geht, die für die Betroffenen identitätsstiftende, existenzielle Bedeutung haben und insofern letztlich »unbeliebig« sind. Manche Menschen nehmen für ihre Überzeugungen erhebliche Nachteile in Kauf, erleiden Diskriminierungen auf dem Arbeitsmarkt, werden gesellschaftlich stigmatisiert oder landen sogar im Gefängnis. Mit Konsuminteressen auf einem neoliberalen Wellness-Markt hat dies nicht viel zu tun. Wer meint, die Religionsfreiheit von einer ökonomistischen rational-choice-Logik her erfassen zu können, greift daher nicht nur kategorial daneben, sondern lässt vor allem auch den Respekt gegenüber den betroffenen Menschen vermissen. 84 85
Vgl. Kapitel 3.2. E.S. Hurd, »Believing in Religious Freedom«, in: W. F. Sullivan et al. (Hg.), The Politics of Religious Freedom, a.a.O., S. 45-56, hier S. 52.
51
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
2.6
Menschenrechtspraxis als Kultur des Hinhörens
Das Recht, schreibt Marc DeGirolami in seinem Buch »The Tragedy of Religious Freedom«, fügt sich nicht zu einem »nahtlosen Gewebe« zusammen.86 Das gilt gerade auch für das Recht auf Religionsfreiheit, das ein kompliziertes Unterfangen bleibt. Schon der Versuch seiner konsistenten Formulierung wirft etliche Fragen auf, und im weit schwierigeren Bemühen um die praktische Verwirklichung wird man erst recht mit Hindernissen rechnen, sich auf Grenzphänomene einlassen und manche Ungereimtheit vorläufig in Kauf nehmen müssen. Das Ziel kann nicht darin bestehen, »one-size-fits-all«-Lösungen durchzusetzen, wie Stephen Hopgood behauptet.87 Der Universalitätsanspruch der Menschenrechte zielt nicht auf Uniformität. Vielmehr geht es darum, die bestehende und sich entwickelnde Vielfalt religiöser oder weltanschaulicher Orientierungen, Prägungen, Überzeugungen und Praktiken auf der Grundlage allseitigen Respekts vor der Würde der Menschen politisch-rechtlich zu gestalten. Die Grundmelodie des Menschenrechtsansatzes – gleiche Würde und gleiche Freiheit aller Menschen – durchwirkt auch die Religionsfreiheit. Was das dann jeweils konkret bedeutet, gilt es immer wieder erneut herauszufinden. Menschenrechtsarbeit ist auch auf der konzeptionellen Ebene »work in progress«. Wer im Geiste Carl Schmitts und anderer radikaler Kritiker jedes normativen Universalismus aus den unbestreitbaren Brüchen menschenrechtlicher Theorie und Praxis Kapital in ideologiekritischer Absicht schlagen will, wird immer irgendwo fündig werden. Eine Ausgestaltung der Religionsfreiheit, die dem Verdacht klientelistischer Verengungen und »biases« gänzlich enthoben wäre, wird es wohl nie geben können. Es stellt sich allerdings die Frage, was aus solcher Diagnose folgt. Wenn der menschenrechtliche Referenzrahmen, innerhalb dessen die Modi des Zusammenlebens in einer irreversibel religionspluralistischen Welt erarbeitet werden können, zerbrechen sollte, werden die zu lösenden praktischen Probleme nicht verschwinden. Alternative Wege, die durch Buchtitel wie »Beyond religious freedom« suggeriert werden, entpuppen sich schon ob ihrer schieren Abstraktheit schnell als Fata Morgana.88 Denn praktische Leitlinien, wie mit den sich aufdrängenden Konfliktfragen – Kopftuch in der Schule, Knabenbeschneidung, Kreuze in öffentlichen Gebäuden, religiös motivierte Asylgesuche, Konversion, Missionstätigkeit usw. – umzugehen sei, findet man dort nicht. 86 87 88
Marc O. DeGirolami, The Tragedy of Religious Freedom, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2013, S. 219. Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, Ithaca/London: Cornell University Press, 2013, S. 2. Vgl. M. O. DeGirolami, a.a.O., S. 40.
2 Universaler Standard oder verkappte Hegemonie des Westens?
Zuschreibungen, die die Religionsfreiheit dadurch de-legitimieren wollen, dass sie ein dominant »protestantisches« Paradigma am Werke sehen, erweisen sich bei näherer Betrachtung als keineswegs so plausibel, wie dies oft unterstellt wird. Gewiss, in der Geschichte der Religionsfreiheit spielen protestantische Gruppen von Anfang an eine große Rolle. Vor allem gilt dies für die »Stiefkinder der Reformation«, wie Ernst Troeltsch die meist marginalisierten Gruppen von Täufern, Spiritualisten und sonstigen »Sektierern« genannt hat. Ob das primär an ihrer Theologie oder eher an hautnahen Erfahrungen von Stigmatisierung, Schikane und Verfolgung lag, sei dahingestellt. Solche Erfahrungen und Prägungen haben Eingang in die Geschichte der Formierung der Religionsfreiheit gefunden, und manches davon klingt bis heute nach. Daraus zu schließen, das Menschenrecht der Religionsfreiheit sei primär Ausdruck spezifisch protestantisch-individualistischer Vorstellungen von Religiosität, wäre allerdings mindestens voreilig. Denn der Blick auf die Praxis der Religionsfreiheit zeigt, dass es keineswegs darum geht, kommunitäre und zeremonielle religiöse Praxis gegenüber der inneren Herzensfrömmigkeit abzuwerten, ein eng individualistisches Verständnis von Religion zu propagieren oder sämtliche Formen der Gemeindebildung an protestantisch-freikirchlichen Modellen zu bemessen. Noch weniger überzeugen kann die Zuschreibung einer neoliberalen Marktlogik; denn mit ökonomistischen rational-choice-Vorstellungen hatte die Religionsfreiheit nie viel gemein. Die in ihrem Namen freigesetzte Vielfalt der religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen, Praktiken und Gemeindeformen ist keineswegs dasselbe wie die Propagierung eines marktförmigen spirituellen Konkurrenzkampfes, bei dem vulnerable Gemeinschaften, etwa indigene Völker, am Ende des Tages unter die Räder geraten müssten. Ganz im Gegenteil stellt sich von der Religionsfreiheit her gerade die Aufgabe, Gemeinschaften in vulnerablen Situationen gezielte Infrastrukturunterstützung zu geben, die ihnen eine eigenständige Entwicklung erlaubt – sofern sie dies wollen. Unsere Gegenkritik an den diskutierten Einwänden soll nicht auf die Apologie der derzeitigen Praxis hinauslaufen. Bei der Konzeptionalisierung und Implementierung der Religionsfreiheit gibt es nach wie vor Schwachpunkte und Leerstellen, und weiterer Reformbedarf ist offensichtlich. Dazu hier nur einige Beispiele: Zu wenig Aufmerksamkeit hat bislang die Religionsfreiheit von »domestic workers« gefunden, d.h. der meist weiblichen Hausangestellten, die im öffentlichen Leben wenig sichtbar sind und deren rechtlicher Status häufig prekär ist.89 Ob und inwieweit sie Respekt für ihre religiösen Überzeugungen erfahren, bleibt vielen Zufällen überlassen. Eine andere immer noch zu wenig beachtete Gruppe bilden Atheisten und Agnostiker. Zwar ist im Prinzip klar, dass auch sie unter den Schutz der 89
Vgl. den Bericht über Libanon, UN Doc. A/HRC/31/18/Add.1, Ziffern 81-83.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Religionsfreiheit fallen, die ja auch die Freiheit zu nicht-religiösen oder anti-religiösen Weltsichten umfasst. Was in der Theorie anerkannt ist, kommt aber in der Praxis nach wie vor zu kurz. Die derzeit vermutlich schwierigsten konzeptionellen Fragen betreffen die religiösen Vorstellungen und Praktiken indigener Völker.90 Denn die bislang etablierten Kategorien der Religionsfreiheit lassen sich nicht ohne Weiteres auf indigene Forderungen anwenden, etwa ganze Großlandschaften als heilige Orte anzuerkennen und gegen den Zugriff ökonomisch potenter Interessen zu schützen. Welche Rückwirkungen auf die Konturen der Religionsfreiheit die hier anstehenden Klärungsprozesse haben werden, wird sich noch zeigen. Um die erforderliche Adaptionsoffenheit der Menschenrechte zu wahren, braucht es eine Kultur sorgfältigen Hinhörens. Jede produktive Menschenrechtspraxis – auch im Bereich der Religionsfreiheit – beginnt mit dem Hinhören, d.h. dem sensiblen Sich-Einlassen auf immer wieder neue, oft überraschende Geschichten von Unterdrückung, Stigmatisierung und Ausschluss. Die Kultur des Hinhörens verlangt Offenheit, nicht nur für verschiedene Inhalte, sondern auch für unterschiedliche Artikulationsformen – darunter solche Artikulationen, die sich nicht einer der dominanten Weltsprachen bedienen, abseits akademischer Diskurse verlaufen und ihre Absichten womöglich eher im Modus indirekter Andeutungen vorbringen. Der Universalismus der Menschenrechte lässt sich auch als Postulat verstehen, die Weiterentwicklung menschenrechtlicher Normen und Prinzipien so offen und inklusiv wie möglich zu gestalten: im Wissen darum, dass jede Stimme zählt – auch die Stimme derer, die angemessen wahrzunehmen wir vielleicht noch nicht gelernt haben.
90
Vgl. Makau Mutua, »Proselytism and Cultural Integrity«, in: Tore Lindholm/W. Cole Durham, Jr./Bahia G. Tahzib-Lie (Hg.): Facilitating Freedom of Religion or Belief: A Deskbook, Leiden: Martinus Nijhoff Publishers, 2004, S. 651-668.
3. Freiheit zur Unfreiheit?
3.1
Liberale Vorbehalte gegen ein Freiheitsrecht
Dass die Religionsfreiheit in religiös traditionalistischen Kreisen bis heute auf manche Vorbehalte stößt, überrascht nicht. Für Verunsicherungen sorgt vor allem das Recht, den Glauben zu wechseln oder ganz abzulegen. Fragen von Weltsicht und Lebensorientierung, die das historische Selbstverständnis von Nationen und ganzen Kulturregionen geprägt haben und für den generationenübergreifenden Zusammenhalt der Gesellschaften von sinnstiftender Bedeutung sind, werden damit scheinbar in das Belieben des Einzelnen gestellt – so jedenfalls ein typisches Motiv konservativer Skepsis. Überraschender ist die Beobachtung, dass die Religionsfreiheit auch in liberalen Kreisen gelegentlich ambivalente Reaktionen auslöst. Sie ist vermutlich das einzige »klassisch-liberale« Menschenrecht, das in den diversen liberalen Milieus Westeuropas nicht durchgängig Zustimmung findet. Manche Vorbehalte resultieren aus Missverständnissen – etwa der Unterstellung, dass die Religionsfreiheit als Freibrief für Aufrufe zu religiös motivierter Gewalt fungieren könnte; wie wir noch sehen werden, ist dies falsch.1 Das Problem besteht aber nicht nur in Unkenntnis und Missverständnissen. Viele Menschen sind verunsichert, wenn sie sich mit einem Pluralismus konfrontiert sehen, der über das hinausreicht, was man in liberalen Kreisen gewohnt ist. Zwar definieren sich liberale Gesellschaften durch die Akzeptanz von Vielfalt, einschließlich religiöser und weltanschaulicher Vielfalt. Wenn religiöse Identitäten aber mit starken Geltungsansprüchen einhergehen, sich lebenspraktisch manifestieren und auf öffentliche Sichtbarkeit drängen, kann es mit der liberalen Akzeptanz schnell vorbei sein. »Gott ist gefährlich«2 , behauptet Ulrich Beck in einem Essay in der ZEIT. Darin vermerkt er ironisch: »Die Gesundheitsminister warnen: Religion tötet. Religion darf an Jugendliche unter 18 Jahren nicht weitergegeben werden.« 1 2
Vgl. insbesondere die Ausführungen in Kapitel 9, in dem wir das Potenzial der Religionsfreiheit zur Verhinderung bzw. Überwindung von religiös unterlegter Gewalt diskutieren. So die Überschrift des Essays von Ulrich Beck in der ZEIT vom 20. Dezember 2007, www.zeit.de/2007/52/Essay-Religion, abgerufen am 12. November 2019.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Selbst wenn diese Bemerkung witzig gemeint sein sollte, schafft sie sicherlich keine guten Voraussetzungen für die Wertschätzung der Religionsfreiheit. Der Angst religiöser Traditionalisten vor freiheitsrechtlichen Ansprüchen in Fragen des Glaubens und der Glaubenspraxis korrespondiert die komplementäre Sorge mancher Liberaler, dass die Religionsfreiheit die Einflugschneise für freiheitswidrige Bestrebungen, für Fundamentalismus und Obskurantismus werden könnte. Bei allen Unterschieden stimmen beide Seiten in einem Punkt überein: Religion und Freiheit, so scheint es, passen nicht leicht zusammen. Diese Vorstellung findet sich auch im akademischen Schrifttum. So behauptet Winnifred Fallers Sullivan: »It is the peculiar nature of religion itself to restrict freedom.«3 Und sie folgert daraus: »To be religious is not to be free, but to be faithful.«4 Nach Michael Lambek handelt es sich bei der Religionsfreiheit um ein in sich widersprüchliches Unterfangen, dessen Scheitern gleichsam vorprogrammiert sei: »Hence, the very idea of freedom of religion is paradoxical; it is the freedom to be unfree in a particular kind of way.«5 Im vorliegenden Kapitel möchten wir den freiheitsrechtlichen Kern der Religionsfreiheit systematisch beleuchten und dabei zugleich aktuelle Gefährdungen ansprechen. Dass die Religionsfreiheit als ein Freiheitsrecht verstanden und gehandhabt werden muss, klingt zwar vordergründig wie eine Tautologie, ist aber, wie die gerade zitierten Einwände zeigen, alles andere als trivial. In Abschnitt 3.2 zeigen wir, dass menschliche Freiheit keineswegs eindimensional ist und die Möglichkeit beinhaltet, sich zwangsfrei von grundlegenden Überzeugungen religiöser oder nicht-religiöser Art tragen und »bestimmen« zu lassen. Danach wenden wir uns der rechtlichen Ausgestaltung der Religionsfreiheit zu. Nach einem kurzen Überblick über die unterschiedlichen Dimensionen freiheitsrechtlicher Gewährleistung (in Abschnitt 3.3) diskutieren wir (in Abschnitt 3.4) die Problematik etwaiger staatlicher Beschränkungen der Religionsfreiheit. Wichtig ist uns die Klarstellung, dass Beschränkungen nur im Rahmen der dafür vorgesehenen Kriterien legitim sein können. Anschließend beschäftigen wir uns (in Abschnitt 3.5) mit politischen Tendenzen, die darauf hinauslaufen, die Religionsfreiheit um ihren freiheitsrechtlichen Kern zu bringen. Dies geschieht etwa dann, wenn man die Religionsfreiheit in Richtung eines »Ehrschutzes« für bestimmte Religionen verbiegt, sie mit Projekten kollektiven Identitätsschutzes amalgamiert, sie kurzschlüssig mit interreligiösem Frieden gleichsetzt oder sie schlicht auf die Privatsphäre beschränkt. Am Ende des 3 4 5
Winnifred Fallers Sullivan, The Impossibility of Religious Freedom, Princeton: Princeton University Press, 2005, S. 155. Ebd., S. 156. Michael Lambek, »Is Religion Free?«, in: Winnifred Fallers Sullivan/Elizabeth Shakman Hurd/Saba Mahmoud/Peter G. Danchin (Hg.), Politics of Religious Freedom, Chicago: University of Chicago Press, 2015, S. 289-300, hier S. 298.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
Kapitels (in Abschnitt 3.6) wird die eingangs gestellte Grundsatzfrage nach dem Verhältnis von Religion und Freiheit noch einmal aufgegriffen.
3.2
Freiheit zur Selbstfindung
Kann es eine Freiheit zur Unfreiheit geben? In der Philosophie der europäischen Aufklärung wurde diese Frage gern an den Beispielen der Sklaverei und der Unterwerfung unter eine absolute Herrschaft diskutiert. Darf der Mensch sich aus freien Stücken in Sklaverei begeben, sich also gleichsam selbst verkaufen? Darf er sich mit Haut und Haaren der Gnade eines absoluten Herrschers überantworten, dem die Befugnis zukäme, willkürlich über Leben, Leib und Seele seiner Untertanen zu verfügen? Abstrakter formuliert: Darf der Mensch in einer solchen Weise von seiner Freiheit Gebrauch machen, dass er damit willentlich jeden zukünftigen Freiheitsgebrauch preisgibt? Kants Antwort ist ein dezidiertes Nein. Wenn ein Mensch sich per Vertrag einem anderen Menschen rückhaltlos unterwerfen würde, gäbe er sich als Verantwortungssubjekt auf, womit ipso facto die Geltungsbedingungen jeglichen Vertrags erloschen wären. Es gibt, so folgert Kant, die »unverlierbaren Rechte«, die der Mensch »nicht einmal aufgeben kann, wenn er auch wollte«6 . Ähnlich ist die Position Moses Mendelssohns: »Denn ein Vertrag über Dinge, die ihrer Natur nach unveräußerlich sind, ist an und für sich ungültig, hebt sich von selbst auf.«7 Dass es sich bei den Menschenrechten um »unveräußerliche«8 Rechte handelt, betont auch die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte in ihrer Präambel. Auch die Religionsfreiheit ist kein Rechtstitel für die Etablierung von Unfreiheit, sonst hätte sie ihren Anspruch als Menschenrecht verspielt. Ihre zentrale Funktion besteht gerade darin, Zwangsverhältnisse in Fragen des Gewissens, der Religion und der Weltanschauung zu verhindern bzw. zu überwinden, und zwar auch im Inneren der Religionsgemeinschaften selbst. Gewaltdrohungen gegen Dissidenten oder Konvertiten können niemals legitim sein – ganz gleich welche theologischen Argumente oder Autoritäten dafür in Anschlag gebracht werden mögen. Wenn religiös motivierte Vigilantengruppen Druck ausüben, um Menschen – insbesondere Frauen und Mädchen – zu einem vermeintlich »gottgefälligen« Lebenswandel zu zwingen, wäre dies keine Manifestation der Religionsfreiheit, sondern 6 7
8
Immanuel Kant, Über den Gemeinspruch: Das mag in der Theorie richtig sein, taugt aber nicht für die Praxis, Akademie-Ausgabe Bd. VIII, Berlin 1912, S. 304. Moses Mendelssohn, Jerusalem oder über religiöse Macht und Judentum, gemeinsam mit der Vorrede zu Manasseh Ben Israels »Rettung der Juden« neu ediert von David Martyn, Bielefeld: Aisthesis, 2001, S. 31-136, hier S. 68. So der erste Satz der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, der von »gleichen und unveräußerlichen Rechten aller Mitglieder der menschlichen Familie« spricht.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
ein Missbrauch, der abgestellt werden muss. Dasselbe gilt für manipulative Psychopraktiken, durch die Mitglieder einer Gruppe in Abhängigkeit von ihren religiösen Vormündern gebracht werden. Wenn es nötig ist – und sofern die rechtsstaatlichen Voraussetzungen dafür vorliegen – muss der Staat in die Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften eingreifen, um Zwangsfreiheit wirksam durchzusetzen. Eine Nagelprobe dafür ist die effektive Freiheit zum Austritt aus einer Religionsgemeinschaft. Wo diese Mindestvoraussetzung nicht besteht – und dafür gibt es immer noch viele Beispiele – kann von Religionsfreiheit keine Rede sein. Als Menschenrecht kann die Religionsfreiheit nur zwangsfreie Formen von Religiosität anerkennen.9 Die Verhinderung des Zwangs bedeutet, positiv gewendet, die Gewährleistung von Entscheidungs- oder Wahlfreiheit: »freedom of choice«.10 Artikel 18 Absatz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte bekräftigt die Freiheit jedes Menschen, »eine Religion seiner Wahl zu haben oder anzunehmen«. Diese Freiheit eigener »Wahl« wird in Absatz 2 sodann vor jeglicher Zwangseinwirkung geschützt, die – ganz gleich von wem ausgehend oder zu welchen Zwecken ausgeübt – in jedem Fall illegitim ist: »Niemand darf einem Zwang ausgesetzt werden, der seine Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung seiner Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.« Wie der für das Monitoring dieses Paktes zuständige UN-Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte klargestellt hat, umfasst die Wahlfreiheit auch die Möglichkeit, einen bestehenden Glauben durch einen anderen zu ersetzen.11 Es gibt demnach auch die »negative« Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung abzulegen. Die Entscheidungsfreiheit verschwindet auch dann nicht, wenn ein Mensch einmal seine Wahl getroffen hat. Denn Freiheit impliziert die Möglichkeit zu Korrekturen, Modifikationen und Revisionen. Wer aus freien Stücken ins Kloster geht, behält die Freiheit zum Austritt, und die Freiheit der Konversion umfasst auch die mögliche ReKonversion. Das Verbot der Zwangsausübung in diesem gesamten Bereich, das auch Drohungen mit empfindlichen Nachteilen mit abdeckt, stellt eine der we9 10
11
Letztlich gilt die Anerkennung, wie bereits dargestellt, nicht der Religion als solcher, sondern den Menschen, die sie in Freiheit bekennen und praktizieren. Bereits am Ende des vorigen Kapitels haben wir uns kurz mit dem Begriff »choice« beschäftigt. Die Überlegungen knüpfen daran an, verfolgen aber eine anders gerichtete Zielsetzung und sind deshalb keineswegs redundant. Während es uns im vorigen Kapitel primär darum ging deutlich zu machen, dass der Begriff »choice« eine unverzichtbare rechtliche Funktion innehat und sich auf diese Weise menschenrechtlich begründen lässt, wollen wir im Folgenden positiv herausstellen, dass zu einem umfassenden Freiheitsverständnis auch Aspekte gehören, die über die abstrakte Wahlfreiheit (»choice«) gerade hinausgehen. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr. 22, Ziffer 5. Der entscheidende englische Begriff in diesem Abschnitt lautet »replace«. Klarer könnte die Freiheit zum Religionswechsel nicht bekräftigt werden.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
nigen »absoluten« Normen des internationalen Menschenrechtsschutzes dar, vergleichbar dem absoluten Folterverbot und dem absoluten Verbot der Sklaverei. Wo Menschen keine Wahlfreiheit (»choice«) haben, kann von Freiheit keine Rede sein. Die Wahlfreiheit bildet eine unverzichtbare Komponente menschlicher Freiheit. Hier insbesondere hat das Recht seine Funktion. Um mit Kant zu sprechen, kann Rechtszwang nur dann legitim sein, wenn er als »Verhinderung eines Hindernisses der Freiheit« dazu dient, menschliche Wahl- bzw. Entscheidungsfreiheit zu ermöglichen.12 Die Freiheit der Wahl, so wichtig sie ist, macht allerdings nicht schon das Ganze menschlicher Freiheit aus. Dazu gehört auch die Erfahrung, dass Menschen sich von ihren Überzeugungen »bestimmen lassen«, was – sofern kein Zwang mit im Spiel ist – nicht nur mit der Freiheit kompatibel ist, sondern das intensivste Freiheitserlebnis sein kann. Jede echte Überzeugung ist durch ein eigentümliches Moment des »Unbeliebigen« charakterisiert; sie hat stets einen Aspekt von »hier stehe ich, ich kann nicht anders«. Dies gilt nicht nur für den Bereich des Religiösen. Ähnliche Erfahrungen kann man auch in anderen Lebensbereichen machen, etwa in Fragen von Partnerschaft, Freundschaft oder Familie; denn auch die Treue zu nahestehenden Menschen hat eine Komponente von »Unbeliebigkeit«. Wir haben auf diese Parallele bereits im letzten Kapitel hingewiesen. Auch moralische Prinzipien entwickelt man nicht, indem man die Optionen an den Knöpfen abzählt oder schlicht den Zufall entscheiden lässt. Und wer das Glück hat, eine erfüllende Arbeitstätigkeit auszuüben, wird diese im wahrsten Sinne als »Beruf« verstehen und damit einen Begriff verwenden, der sich bekanntlich von »Berufung« herleitet. Freie Selbstbestimmung heißt nicht abstrakte Bestimmungslosigkeit, sondern Zwangsfreiheit im Finden der je eigenen Bestimmung. Die Rechtsordnung kann dazu nur indirekt beitragen, indem sie die äußeren Bedingungen dafür, nämlich die Freiheit von Zwang – positiv: die Wahlfreiheit – gewährleistet. Das Suchen, geschweige denn das Finden, der eigenen Bestimmung kann das Recht dem Menschen jedoch nicht abnehmen. Hier sind dem Recht Grenzen gewiesen, die es nicht überschreiten darf. Die von der Rechtsordnung zu sichernde Freiheit der »Wahl« soll damit nicht als Äußerlichkeit trivialisiert werden. Sie bleibt unverzichtbar, und zwar ein Leben lang. Lebenslagen können sich ändern, Überzeugungen können ihre Kraft verlieren, manche getroffene Entscheidung harrt der Revision. Bei aller Unverzichtbarkeit macht die Wahlfreiheit aber niemals das Gesamtfeld menschlicher Freiheit aus, die sonst im bloßen Potenzialis verharren würde. Ein Leben im Modus lediglich abstrakter Möglichkeiten wäre vermutlich ein verfehltes Leben, ja es wäre nicht einmal wirklich gelebt. Die oben zitierte Bemerkung »to be religious is not to be free, but to be faithful« baut einen Gegensatz auf, der nicht nur lebensfremd, sondern letztlich frei12
Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. VI, Berlin 1907, S. 231.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
heitsfeindlich ist. In Treue zu seinen Überzeugungen zu stehen, kann Ausdruck intensivster Freiheitserfahrung sein, sofern kein äußerer Zwang dahinter steht. Wiederum gilt dies nicht nur für die Dimension von Religion und Weltanschauung, sondern auch für andere existenzielle Bereiche menschlichen Daseins. Begriffe wie »Berufung«, »Bestimmung«, »Erwählung« stehen zwar vordergründig in Spannung zur Wahl- und Entscheidungsfreiheit des Menschen. Sie können mit dieser dennoch völlig kompatibel sein, insofern sie sich nämlich auf unterschiedlichen Ebenen menschlicher Freiheitserfahrung bewegen. Ein überzeugter Militärdienstverweigerer mag gegenüber staatlichen Behörden auf seine Entscheidungsfreiheit pochen und gleichzeitig kundgeben, dass für ihn selbst in dieser Frage kein pragmatischer Spielraum bestehe. Darin liegt kein Widerspruch. Für eine Angehörige der Baha’i-Religion mag die Einhaltung der Fastenwochen im März eine religiöse Pflicht sein, der sie in Freiheit nachkommen will. Und für manchen überzeugten Atheisten ist öffentliche Religionskritik mehr als ein bloß intellektuelles Spiel, nämlich geradezu eine persönliche Berufung. Sicherlich gibt es immer wieder Grenzfälle, bei denen sich nicht leicht ausmachen lässt, ob in concreto ein Akt von Freiheit vorliegt oder ob nicht doch auch Zwangswirkungen am Werke sind. Ob eine junge Frau das islamische Kopftuch aus freier Überzeugung trägt oder letztlich doch vor allem sozialem Milieu-Druck nachgibt, mag manchmal zweifelhaft sein, und selbst für die Betroffene kann es diesbezüglich Unklarheiten geben. Wenn eine Kopftuchträgerin bekundet, »sie könne nicht anders«, mag dies je nach Kontext zweideutig klingen. Ähnliche kritische Rückfragen mögen sich aufdrängen, wenn sich ein katholischer Priesteramtskandidat oder ein buddhistischer Mönch in jungen Jahren für das Zölibat entscheidet. Und ob ein spiritueller Ratgeber tatsächlich nur »Rat gibt« oder auch bevormundet und manipuliert, ist im Einzelnen nicht immer leicht festzustellen. Mit solch zweideutigen Phänomenen angemessen umzugehen, verlangt Sensibilität und genaues Hinhören. Wenn Menschen sich von religiösen oder anderen Überzeugungen »bestimmen lassen«, ist dies jedoch per se weder pathologisch noch Beweis einer Unfreiheit, sondern womöglich eine gelungene Manifestation freier Selbstbestimmung – genauer: Zwangsfreiheit im Finden der eigenen Bestimmung, die dann auch lebenspraktisch relevant wird.13 Wer Religion allein deswegen in die Sphäre der Unfreiheit verweist, weil sie existenzielle Prägekraft für menschliches Leben – für Individuen und Gemeinschaften – entwickeln kann, zeigt ein erschreckend eindimensionales Verständnis von Freiheit, das im Übrigen gerade denen in die Hand spielt, die die Freiheit als Seichtigkeit verunglimpfen und durch zwangsbewehrte 13
Diese existenzielle Dimension von Freiheit betont insbesondere auch Karl Jaspers, Von der Wahrheit, München: Piper, 3. Aufl. 1983, S. 109f.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
Autoritäten ersetzt sehen möchten. Dem Satz »to be religious is not to be free, but to be faithful« hätte auch der Großinquisitor zustimmen können.
3.3
Inhaltliche Dimensionen der Religionsfreiheit
Bei der Religionsfreiheit handelt es sich um ein Freiheitsrecht mit vielen Facetten. Sie geht weit über jene Gottesdienstfreiheit (»freedom of worship«) hinaus, die sich bis heute in manchen Verfassungsordnungen findet; und sie bezieht sich, wie schon dargestellt, nicht nur auf religiöse Überzeugungen und Praktiken, sondern auch auf weltanschauliche Positionen und persönliche Gewissensüberzeugungen. Das Recht der Religionsfreiheit schützt die Freiheit der Menschen, in Fragen von Religion und Weltanschauung ihren eigenen Weg zu finden; ihre Überzeugungen – oder auch Zweifel – offen zu kommunizieren oder auch für sich zu behalten; ihren Glauben zu bewahren, zu entwickeln oder auch zu wechseln; sich einer Religionsgemeinschaft anzuschließen oder eine solche zu verlassen; neue Vereinigungen zu bilden oder in der angestammten Gemeinschaft zu verbleiben; religiöse Rituale allein oder in Gemeinschaft mit anderen auszuüben; öffentliche Religionskritik zu formulieren oder die Religion gegen solche Kritik öffentlich zu verteidigen; die eigenen Kinder den familiären Überzeugungen entsprechend zu erziehen; religiöse oder weltanschauliche Literatur zu erwerben, auch aus dem Ausland zu importieren und sie in der Gesellschaft zu verbreiten; das Leben allein und zusammen mit anderen nach den eigenen Glaubensvorschriften zu gestalten; religiöse Infrastrukturen in Gestalt von Kirchen, Moscheen, Tempeln, Schulen oder caritativen Organisationen aufzubauen und vieles mehr. Die Religionsfreiheit ist ein Recht von Individuen wie von Gemeinschaften (auch institutionell verfassten Gemeinschaften), und sie hat private wie öffentliche Dimensionen. Sie beschränkt sich keineswegs auf Fragen persönlicher Überzeugung und Spiritualität, sondern beinhaltet auch Fragen der Lebensführung, etwa Kleidungs- und Speisevorschriften, sowie institutionelle und infrastrukturelle Aspekte religiösen bzw. weltanschaulichen Lebens.14 Jede Aufzählung der einzelnen Komponenten bleibt schon deshalb unvollständig, weil in Antwort auf konkrete Unrechtserfahrungen immer wieder neue schutzwürdige Aspekte der Religionsfreiheit artikuliert und auf diese Weise »entdeckt« werden können. Freiheitsrechte sind dadurch definiert, dass sie die Entscheidung, ob und wie jemand von seiner Freiheit Gebrauch macht, den betroffenen Menschen überantworten. Deshalb gilt neben der »positiven« Religionsfreiheit auch die »negative« Religionsfreiheit, nämlich das Recht, sich religiös oder weltanschaulich nicht zu 14
Vgl. Paul M. Taylor, Freedom of Religion. UN and European Human Rights Law and Practice, Cambridge: Cambridge University Press, 2005, S. 203-222.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
betätigen, nicht zu interessieren, nicht zu bekennen, sich keiner Glaubensgemeinschaft anzuschließen, religiöse Speisevorschriften für sich selbst zu ignorieren, das Ersuchen um Auskünfte in Sachen Religion oder Weltanschauung zurückzuweisen usw. Positive und negative Religionsfreiheit gehören wie zwei Seiten einer Medaille zusammen. Sie sind beide gleich wichtig, und jeder Versuch, sie in eine Rangordnung zu bringen oder sie gegeneinander auszuspielen, würde den freiheitlichen Charakter dieses Menschenrechts insgesamt verdunkeln.
3.4
Die freiheitssichernde Funktion von »Schranken-Schranken«
Dass die Freiheit, sofern sie sich in der sozialen Sphäre des Miteinanders manifestiert, Schranken haben muss, leuchtet unmittelbar ein, könnte sich doch eine grenzenlose Freiheit schnell als die Freiheit der Stärkeren oder Rücksichtslosen erweisen. Gerade weil der Hinweis auf notwendige Schrankenziehungen so plausibel ist, kann er indes leicht dazu missbraucht werden, den Anspruch der Freiheitsrechte von Staats wegen nach Ermessen und Belieben zurückzustutzen. Dies gilt auch für die Religionsfreiheit. Regierungen, die sich der Wahrung religionspolitischer Hegemonien verschreiben oder von autoritären Kontrollobsessionen getrieben sind, unternehmen Einiges, um die freiheitsrechtliche Stoßrichtung des Rechts auf Religionsfreiheit relativierend abzufangen. Statt auf den Anspruch der Religionsfreiheit mit einem schroffen Nein zu reagieren, ziehen sie oft eine Semantik des »JaAber« vor: Dem generellen Bekenntnis zur Religionsfreiheit folgt gleich der vordergründig sogar zutreffende Hinweis, dass die Religionsfreiheit »nicht absolut« gelten könne. Daraus werden dann weite Spielräume für staatliches Ermessen hergeleitet, die im Ergebnis dazu führen, dass die freiheitsrechtlichen Konturen der Religionsfreiheit im Nebel verschwimmen. Nun ist es in der Tat richtig, dass die Religionsfreiheit – jedenfalls in ihren äußeren, sozialen Manifestationen, dem forum externum – nicht absolut gilt. Diese Feststellung ist aber kein Freibrief für beliebige Relativierungen des Freiheitsrechts. Wenn bestimmte staatliche Schrankenziehungen legitim sein sollen, müssen sie den dafür vorgegebenen Kriterien gerecht werden, wie sie etwa in Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte niedergelegt sind.15 Für die Praxis der Religionsfreiheit ist es von entscheidender Bedeutung, die Bestimmungen zur möglichen staatlichen Beschränkung der Freiheit präzise und kontrolliert umzusetzen. Andernfalls droht das staatliche Bekenntnis zu den Freiheitsrechten zu einem belanglosen Versprechen zu verblassen, auf das 15
Ähnlich sind die Kriterien für Beschränkungen auch in Artikel 9 der Europäischen Menschenrechtskonvention bzw. in anderen regionalen Gewährleistungen der Religionsfreiheit formuliert.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
kein Verlass ist. Der sorgsame Umgang mit der Schrankenproblematik ist mithin keine bloß rechtstechnische Fragestellung, sondern ein Thema von erheblichem rechtlichem und politischem Gewicht. Hier scheiden sich in der Tat die Geister: Ein freiheitlicher Rechtsstaat definiert sich durch den systematischen Primat der Freiheit, so dass etwaige Schrankenziehungen stets am Maßstab der Freiheit gerechtfertigt werden müssen, und zwar in präziser, nachvollziehbarer und gerichtlich kontrollierter Weise. In autoritären Staaten verhält es sich tendenziell umgekehrt, nämlich dass Freiheit allenfalls als Dividende erfolgreicher Sicherheits- und Ordnungspolitik zum Zuge kommen kann, so dass man sich letztlich nie auf sie berufen, geschweige denn verlassen kann.16 In Diskussionen über die Schranken der Freiheitsrechte – also auch der Religionsfreiheit – fällt immer wieder ein Begriff, der sich in ethischen und rechtlichen Debatten großer Beliebtheit erfreut und genau deshalb mit Vorsicht betrachtet werden muss, nämlich der Begriff der »Abwägung«. Vielleicht noch höher im Kurs steht sein englisches Äquivalent: »balancing«. Beide Begriffe zeichnen sich durch eine hohe lebenspraktische Plausibilität aus, geht es doch oftmals darum, unterschiedliche Interessen in einen Ausgleich miteinander zu bringen. Der Begriff des »balancing« steht außerdem für Multiperspektivität, d.h. für einen Ansatz, der sich nicht einseitig bestimmten Gesichtspunkten verschreibt, sondern unterschiedliche Aspekte in Erwägung zieht. So weit, so gut. Ein unreflektierter Gebrauch der Metapher des »Abwägens« bzw. des »balancing« birgt jedoch Gefahren, die bedacht werden müssen. Im Kontext von Freiheitsrechten und ihren etwaigen Beschränkungen kann der Rekurs auf die Notwendigkeiten von Abwägungen zum Einfallstor für trade-offs verkommen, in denen die Substanz menschenrechtlicher Freiheit vorschnell preisgegeben wird. Zu Recht warnt Guglielmo Verdirame: »A right that is balanceable and negotiable cannot be fundamental.«17 Wenn die in den Menschenrechtskonventionen enthaltenen Schrankenklauseln als Freibrief für kriteriologisch unterkomplexe Abwägungs- und Balancierungsprozesse gelesen werden, entsteht leicht der Eindruck, der Staat könne Freiheitsrechte, Ordnungsinteressen und andere Gesichtspunkte nach Ermessen gegeneinander »verrechnen«. Viele Beispiele aus der Praxis der Staaten zeigen, dass diese Gefahr nicht nur hypothetisch besteht. Unter lockerer Berufung auf Schrankenklauseln und die Notwendigkeit pragmatischer Abwägungen kassieren viele Staaten die Substanz der versprochenen Freiheitsrechte faktisch weitgehend wieder ein. 16 17
Natürlich gibt es zwischen diesen beiden idealtypisch skizzierten Positionen Überlappungen und Grauzonen. Guglielmo Verdirame, »Rescuing Human Rights from Proportionality«, in: Rowan Cruft/S. Matthew Liao/Massimo Renzo (Hg.), Philosophical Foundations of Human Rights, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 341-357, hier S. 354.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Für die menschenrechtliche Praxis ist es deshalb von alles entscheidender Bedeutung, die Schrankenklauseln der Freiheitsrechte strikt zu interpretieren, und zwar nicht nach einer Abwägungslogik, sondern nach einer Rechtfertigungslogik. Worin besteht der Unterschied? Der Begriff der Abwägung suggeriert eine Waage, bei der zwei konkurrierende Gewichte gegeneinander ausbalanciert werden. Erwartungsgemäß liegt die angemessene Lösung dann irgendwo in der Mitte zwischen beiden. »Abwägung« suggeriert mithin die Suche nach einem Kompromiss. Die Logik der Rechtfertigung ist grundsätzlich anders gedacht. Sie verlangt, dass etwaige Schranken der Freiheit stets kontrolliert am Maßstab der Freiheitsgewährleistung zu bemessen sind.18 Dies zeigt der Wortlaut des Artikels 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Der entscheidende Terminus ist das kleine Wörtchen »nur« – »only«; denn von dorther erweist sich das Verhältnis von Freiheit und Schranken eindeutig als ein Verhältnis von Regel und Ausnahme. Nicht die Freiheit bedarf demnach der Rechtfertigung, sondern die Rechtfertigungslast obliegt umgekehrt denen, die staatliche Beschränkungen für erforderlich halten. Artikel 18 Absatz 3 bestimmt in diesem Sinne: »Die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu manifestieren, kann nur solchen Begrenzungen unterworfen werden, die gesetzlich vorgeschrieben sind und die notwendig sind, um die öffentliche Sicherheit, Ordnung, Gesundheit oder Moral oder die grundlegenden Rechte und Freiheiten anderer zu schützen.«19 Das entscheidende Adverb »nur« haben wir in diesem Zitat eigens hervorgehoben. Es wird häufig übersehen oder systematisch nicht ernstgenommen, womit dann die Schleusen für beliebige Abwägungen, Balancierungen und Relativierungen geöffnet sind.20 Laut Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts müssen etwaige Einschränkungen der Religionsfreiheit, wenn sie legitim sein sollen, einer Reihe von Kriterien genügen, die kumulativ gelten: Einschränkungen müssen zunächst gesetzlich 18 19
20
Zum Folgenden vgl. Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 551-570. »Freedom to manifest one’s religion or beliefs may be subject only to such limitations as are prescribed by law and are necessary to protect public safetay, order, health, or morals or the fundamental rights and freedoms of others.« Die offizielle deutsche Übersetzung gibt das Verb »to manifest«, wie schon in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, verkürzend mit »bekunden« wieder. Vgl. zum Beispiel Lorenzo Zucca, »Freedom of Religion in a Secular World«, in: R. Cruft/S. M. Liao/M. Renzo (Hg.), Philosophical Foundations…, a.a.O., S. 388-406, hier S. 398: »The strength of the interest protected by freedom of religion can be limited on the basis of interests of public safety, for the protection of public order, health or morals, and finally – last but not least – for the protection of the rights and freedoms of others.« Der für die Logik der Schrankenklauseln zentrale Begriff »only« ist hier bezeichnenderweise entfallen – nicht nur dem Wortlaut, sondern auch dem Sinn nach.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
vorgegeben und klar formuliert sein; sie sind damit dem Belieben der Verwaltung oder anderer Ordnungskräfte entzogen. Sie müssen ferner einem legitimen Ziel (aus einer abschließend definierten Liste möglicher Ziele) dienen. Ferner soll das Kriterium der Erforderlichkeit – enthalten im Adjektiv »notwendig« – gewährleisten, dass die jeweils am wenigsten einschneidende Beschränkung Vorrang vor etwa weiterreichenden Beschränkungsmaßnahmen hat. Der UN-Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte hat in seinem General Comment Nr. 22 zur Religionsfreiheit klargestellt, dass freiheitsbeschränkende Maßnahmen für das damit intendierte Ziel außerdem sachlich geeignet sein müssen; damit sollen rein symbolische Zwecksetzungen, wie etwa politische Demonstrationen von Entschlossenheit, ausgeschlossen sein. Schließlich betont der Ausschuss, dass Beschränkungen nicht in diskriminierender Weise angewendet werden dürfen.21 Mit Blick auf diese Liste von Kriterien sind Beschränkungen menschenrechtlicher Freiheit also gerade keine beliebigen Optionen, auf die der Staat nach freiem Ermessen zurückgreifen könnte;22 sie sind auch nicht Gegenstand beliebigen »Abwägens«, »Ausgleichens« oder »Balancierens«. Vielmehr hat der Staat, wenn er Beschränkungen der Religionsfreiheit meint vornehmen zu müssen, eine komplexe Argumentationslast zu tragen. Er muss Gründe und Belege für die Legalität, Zielgerichtetheit, Erforderlichkeit und Angemessenheit konkreter Beschränkungen vorbringen, Eingriffe in die Freiheit so gering wie möglich halten und sich mit kritischen Einwänden in der Öffentlichkeit und ggf. vor Gerichten auseinandersetzen. Auf diese Weise soll sichergestellt werden, dass die Substanz der Religionsfreiheit auch in solchen Situationen bestehen bleibt, in denen Freiheitsrechte scheinbar oder tatsächlich in Kollision mit Ordnungsinteressen oder anderen Rechtsgütern geraten. Zusätzliche Fragen können dann entstehen, wenn die Religionsfreiheit mit anderen menschenrechtlichen Ansprüchen kollidiert. Innerhalb der Liste möglicher Ziele, in deren Interesse Beschränkungen gerechtfertigt werden können, firmieren auch »die grundlegenden Rechte und Freiheiten anderer«. Wir werden uns in Kapitel 5 mit dem Problem kollidierender Rechte anhand von Beispielen noch einmal näher beschäftigen. Hier lassen wir es mit dem Hinweis bewenden, dass auch dann, wenn eine solche Kollision mit anderen Menschenrechten vorliegt, die strikte Rechtfertigungslogik voll in Geltung bleibt. Sie kann auch in solchen Konstellationen nicht zugunsten einer vagen Abwägung bzw. Kompromisssuche beiseite gefegt werden. Die erste Aufgabe für Gesetzgeber und Gerichte besteht darin, eine präzise empirische Analyse durchzuführen. Dabei könnte sich bereits heraus21 22
Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr. 22, Ziffer 8. Dies verkennt Saba Mahmood wenn sie zum Umgang mit äußeren Manifestationen der Religionsfreiheit schreibt, der Staat habe »a legitimate right to regulate and limit« diese Freiheit. Saba Mahmood, Religious Difference in a Secular Age. A Minority Report, Princeton: Princeton University Press, 2016, S. 156.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
stellen, dass der angenommene Konflikt gar nicht existiert oder jedenfalls nicht notwendig auf eine direkte Kollision hinausläuft.23 Aber selbst wenn dies der Fall sein sollte, bleibt die Aufgabe bestehen, allen im Streit stehenden Menschenrechten nach dem Maximum des jeweils Möglichen gerecht zu werden. Auch dann, wenn Abstriche tatsächlich unvermeidlich sein sollten, gilt es, Einschränkungen so schonend wie möglich durchzuführen. Wiederum kann es also nicht darum gehen, eine wie auch immer definierte »Mitte« zu finden, wie das durch die Metaphorik des Abwägens nahegelegt wird. Genauso wenig wäre es legitim, abstrakte Vorrangverhältnisse zwischen den Menschenrechten zu unterstellen, mit der Konsequenz, dass manche menschenrechtlichen Anliegen von vornherein einfach unter den Tisch fallen. Jeder Abstrich von im Streit stehenden Menschenrechten, und zwar auf allen Seiten des Konflikts, bedarf einer sorgfältig durchgeführten Rechtfertigung, nach Maßgabe der dafür vorgesehenen Kriterien.24 Der innere Bereich der Religionsfreiheit – das forum internum – ist darüber hinaus jedweder legitimen Einschränkung von vornherein entzogen.25 Artikel 18 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte bestimmt: »Niemand darf einem Zwang unterworfen sein, der seine Freiheit, eine Religion oder Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen, beeinträchtigen würde.«26 Diese Bestimmung ist aus zwei Gründen bemerkenswert. Zunächst bekräftigt sie eine Teilkomponente der Religionsfreiheit, die von Anfang an besonders umstritten war und in der Praxis bis heute umkämpft ist, nämlich die Freiheit des Religionswechsels. Das Recht zum Religionswechsel ist und bleibt ein Testfall für das Verständnis der Religionsfreiheit. Nur wenn die Freiheit zum Wechsel – einschließlich auch einer etwaigen Absage an jedwede Religion – besteht, kann im Übrigen auch das Verbleiben in einer angestammten Religion oder Weltanschauung als Ausdruck persönlicher Freiheit gelten.27 Hinzu kommt, dass diese innere Komponente der Religionsfreiheit im Internationalen Pakt über bürgerliche und 23
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Zum Beispiel sind Kopftuchverbote und damit verbundene Einschränkungen der Religionsfreiheit immer wieder mit der Annahme begründet worden, das Kopftuch symbolisiere einen untergeordneten Status der Frau. Hier ist zumindest Vorsicht gegenüber vorschnellen und generalisierenden Zuschreibungen geboten. Vgl. Näheres dazu in Kapitel 5.4. Mit anderen Worten: Einschränkungen sind überhaupt nur denkbar im Bereich des forum externum, also der nach außen gerichteten Manifestationen religiöser oder weltanschaulicher Praxis. Im Original: »No one shall be subject to coercion which would impair his freedom to have or to adopt a religion or belief of his choice.« Der Begriff »Wechsel« (»change«), der in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte noch genannt war, ist zwar aufgrund des Widerstands einiger islamischer Staaten im Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte weggefallen. Die darin gefundene Formulierung, wonach jeder das Recht hat, »eine Religion oder Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen«, meint aber in der Sache genau dasselbe. Dies hat der für das
3 Freiheit zur Unfreiheit?
politische Rechte eine besonders starke Formulierung erfährt. Das Verbot jedweden Zwangs in Fragen der inneren Überzeugung – auch beim Wechsel einer Überzeugung – erlaubt keinerlei Einschränkung, kann also weder zugunsten anderer Rechtsgüter beschränkt noch im Notstandsfall außer Kraft gesetzt werden. Die Rechtfertigungslogik selbst, nach der sich manche Beschränkungen von Freiheitsrechten ggf. plausibilisieren lassen, verlangt zugleich die Beachtung bestimmter »roter Linien«, die unter keinen Umständen überschritten werden dürfen. Nicht alles lässt sich, wenn es hart auf hart kommt, mit rhetorischen Mitteln durchdrücken. Mit dieser Einsicht unterscheidet sich die strikte Rechtfertigungslogik, für die wir hier plädieren, einmal mehr von einer diffusen Abwägungssemantik. Einen Menschen zu zwingen, seine persönliche (religiöse oder nicht-religiöse) Überzeugung zu verraten, oder ihn zu nötigen, eine Überzeugung vorzugeben, die nicht echt ist, würde die Voraussetzungen jedweden respektvollen Miteinanders zerrütten und ist daher einer möglichen Rechtfertigung nicht zugänglich. Ein solcher Zwang wäre nicht nur ein illegitimer Übergriff, sondern bedeutete nicht weniger als die Absage an die Prämisse sinnvollen Miteinanderredens und Miteinanderhandelns überhaupt, nämlich die Achtung vor der Würde des Menschen als eines Verantwortungssubjekts. Mit der Idee kommunikativer Rechtfertigung wäre dies schon gleichsam begrifflich unvereinbar. Die hier gezogene Grenze kann daher niemals zur Disposition stehen.28 Für die Schrankenklauseln, die wir hier am Beispiel der Religionsfreiheit diskutiert haben, hat die deutsche Jurisprudenz den Begriff der »Schranken-Schranken« geprägt. So sperrig dies klingt, so hilfreich ist dieser Sprachgebrauch. Er signalisiert nämlich, dass die Funktion der Schrankenklauseln gerade nicht darin besteht, einen Raum für staatliche Beschränkungen zu eröffnen, sondern ihn zu begrenzen, und zwar anhand verbindlicher Kriterien. Auf diese Weise lässt sich der opportunistischen »Ja-Aber«-Semantik vieler Staaten im Umgang mit den Menschenrechten zumindest konzeptionell ein Riegel vorschieben. Zwar gelten die Menschenrechte nicht ohne jedes Wenn und Aber; denn sie sollen in der realen Welt, also unter zumeist nicht-idealen Bedingungen zum Zuge kommen. Die Möglichkeit, die volle Substanz menschenrechtlicher Gewährleistungen konkret zu beschränken, wird aber ihrerseits unter Aufsicht genommen. Dies jedenfalls ist die Leitidee der Schrankenklauseln, die deshalb der Sache nach tatsächlich »Schranken-
28
Monitoring des Paktes zuständige UN-Menschenrechtsausschuss im bereits mehrfach zitierten General Comment Nr. 22 klargestellt. Manfred Nowak und Tanja Vospernik trivialisieren das forum internum der Religionsfreiheit, indem sie es mit der »privaten« Sphäre gleichsetzen. Vgl. Manfred Nowak/Tanja Vospernik, »Permissible Restrictions on Freedom of Religion or Belief«, in: Tore Lindholm/W. Cole Durham, Jr./Bahia G. Tahzib-Lie (Hg.), Facilitating Freedom of Religion or Belief: A Deskbook, Leiden: Martinus Nijhoff Publishers, 2004, S. 147-172.
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68
Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Schranken« sind. Als solchen kommt ihnen eine kritisch-freiheitssichernde Funktion zu.29
3.5
Entkernung des Freiheitsrechts?
Freiheitsrechtliche Substanz wird nicht nur durch eine unangemessen lockere Handhabung von Schrankenklauseln gefährdet. Es gibt darüber hinaus Versuche, die freiheitliche Ausrichtung der Religionsfreiheit prinzipiell zu unterminieren, zu vernebeln oder gar ideologisch ins Gegenteil zu verdrehen. Dies zeigt sich auch in manchen Debatten in den Vereinten Nationen. Projekte, die darauf abzielen, die Religionsfreiheit buchstäblich zu entkernen, stehen dabei unter verschiedenen Vorzeichen. Vorgetragen werden sie beispielsweise im Namen der Bekämpfung von »Religionsdiffamierungen«, zum Schutz religiöser Identitäten, zur Aufrechterhaltung eines interreligiösen Friedens oder im Interesse einer Zurückdrängung des Religiösen aus der gesellschaftlichen Öffentlichkeit.
3.5.1
Ehrschutz für Religionen?
Über mehr als ein Jahrzehnt hinweg, nämlich zwischen 1999 und 2010, legte die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC)30 in den einschlägigen Foren der Vereinten Nationen Resolutionen zur Bekämpfung von »Religionsdiffamierung« vor.31 Obwohl über diese Resolutionen erhitzte Debatten in der Menschenrechtskommission, in der Generalversammlung und im Menschenrechtsrat geführt wurden, erhielten sie jeweils eine relative Stimmenmehrheit, wenn auch mit abnehmender Tendenz (siehe Diagramm). Im Hintergrund steht die oft nachvollziehbare Verärgerung über anti-islamische Satiren und Karikaturen nach Art der dänischen Mohammed-Karikaturen. 29
30 31
In der Praxis der Rechtsprechung wird diese kritisch-freiheitssichernde Stoßrichtung der Schrankenklauseln allerdings oft verkannt. Selbst der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte lässt in seiner Judikatur zur Religionsfreiheit die gebotene Sorgfalt vermissen. Zur Kritik vgl. P. M. Taylor, Freedom of Religion, a.a.O., S. 343, sowie die Ausführungen in Kapitel 8. Mittlerweile hat die OIC (unter Wahrung ihres Akronyms) ihren Namen in »Organisation für Islamische Kooperation« (»Organization of Islamic Cooperation«) verändert. Vgl. Menschenrechtskommission Resolutionen 1999/82, 2000/84, 2001/4, 2002/9, 2003/4, 2004/6, 2005/3; Generalversammlung Resolutionen 60/150, 61/164, 62/154, 63/171, 64/156, 65/224; Menschenrechtsrat Resolutionen 4/9, 7/19, 10/22, 13/16. Vgl. dazu kritisch: Robert C. Blitt, »The Bottom Up Journey of ›Defamatation of Religion‹ from Muslim States to the United Nations: A Case Study of the Migration of Anti-Constitutional Ideas«, in: Studies in Law, Politics and Society, Bd. 56 (2011), S. 121-211.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
Der Wortlaut der OIC-Resolutionen zu »combating defamation of religions« erweist sich bei genauerer Analyse jedoch als problematisch, erweckt er doch den Eindruck, Religionen als solche sollten Rechtsschutz gegen etwaige Verletzungen ihrer Reputation beanspruchen. Damit aber wäre der menschenrechtliche Bezugsrahmen verlassen. Unübersehbar ist außerdem der autoritäre Zungenschlag, der strafrechtlich bewehrten Anti-Blasphemiegesetzen den Weg bahnen soll, die sowohl mit der Religionsfreiheit als auch der Meinungsfreiheit kollidieren würden.32 Umso wichtiger war es, dass die damalige UN-Sonderberichterstatterin über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Asma Jahangir (Mandatsinhaberin von 2004 bis 2010), auf dem Höhepunkt der Kontroversen um die dänischen Karikaturen mit einigen verbreiteten Missverständnissen aufräumte. Sie stellte klar, dass die Resolutionen zu »combating defamation of religions« mit Religionsfreiheit nichts zu tun haben. Deren Ziel ist es ja nicht, allen möglichen religiösen Interessen eine rechtssemantische Deckung zu geben. Vielmehr bewegt sich die Religionsfreiheit innerhalb einer menschenrechtlichen und freiheitsrechtlichen Logik, mit der diese Resolutionen gerade brechen. Jahangir war deutlich: »the right to freedom of religion or belief, as enshrined in relevant international legal standards, does not include the right to have a religion or belief that is free from criticism or ridicule«.33
32 33
Vgl. Jeroen Temperman, »Blasphemy, Defamation of Religions and Human Rights Law«, in: Netherlands Quarterly of Human Rights, Bd. 26 (2008), S. 485-516. Vgl. Report of the Special Rapporteur on freedom of religion or belief, Asma Jahangir, and the Special Rapporteur on contemporary forms of racism, racial discrimination, xenophobia and related intol-
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Auch Jahangirs Nachfolger Heiner Bielefeldt und weitere Sonderberichterstatter, beispielsweise der Inhaber des Mandats zu Meinungsäußerungsfreiheit, schlossen sich dieser Einschätzung an und führten die kritische Linie gegenüber den Resolutionen fort.34 Der aktuelle Mandatsinhaber über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Ahmed Shaheed (seit November 2016), hat sich ebenfalls wiederholt kritisch zu Blasphemiegesetzen geäußert und ihre Abschaffung gefordert.35 Nach mehr als zehn Jahren Auseinandersetzung verzichtete die OIC im Jahre 2011 darauf, im UN-Menschenrechtsrat erneut einen Resolutionsentwurf zum Thema »combating defamation of religions« vorzulegen. Mehrere Akteure – darunter die damalige UN-Hochkommissarin für Menschenrechte Navi Pillay, der damalige Generalsekretär der OIC Ekmeleddin İhsanoğlu sowie das US State Department unter Hillary Clinton – hatten sich im Vorfeld darum bemüht, die längst zum leeren Ritual erstarrte Konfrontation zu überwinden. Zu diesem Zweck wurde ein neues, eher konsensfähiges und produktiveres Themenfeld eröffnet, nämlich die Bekämpfung religiösen Hasses und seiner Ursachen. Die von der OIC im März 2011 im UN-Menschenrechtsrat vorgelegte Resolution trägt denn auch einen neuen, recht komplizierten Titel: »Combating intolerance, negative stereotyping and stigmatization of, and discrimination, incitement to violence and violence against persons based on religion or belief«. Sie konnte im Konsens verabschiedet werden.36 Diese Resolution 16/18 des Menschenrechtsrats wurde in der Folgezeit zum wichtigsten Referenzdokument in den einschlägigen Debatten der Vereinten Nationen. Während die vormaligen Resolutionen zur Religionsdiffamierung den Eindruck erweckten, Religionen als solche (oder jedenfalls einige von ihnen, insbesondere der Islam) sollten unter rechtlichen Schutz gestellt werden, bezieht sich Resolution 16/18 klar auf den Menschen als den Träger von Rechten gegen Stigmatisierung, Diskriminierung und Hassrede; schon der Titel der Resolution nennt eindeutig »persons« als die zu schützenden Subjekte. Damit bewegt sich Resolution 16/18 – trotz mancher semantischer Unschärfen – zumindest grundsätzlich in der Logik des Menschenrechtsansatzes.37
34 35 36 37
erance, Doudou Diène, further to Human Rights Council decision 1/107 on incitement to racial and religious hatred and the promotion of tolerance, UN Doc. A/HRC/2/3, para. 36. Vgl. UN Doc. A/HRC/31/18; A/67/357. Vgl. UN Doc. A/72/365, Ziffern 28 und 76; A/HRC/34/50, Ziffer 18; A/HRC/40/58. Vgl. UN Doc. A/HRC/RES/16/18. Wenigstens am Rande sei hier vermerkt, dass auch Strafgesetze gegenüber Hassrede menschenrechtliche Fragen aufwerfen. In vielen Staaten, insbesondere in autoritären Staaten, sind die entsprechenden Gesetze so vage formuliert, dass im Zweifel jede unerwünschte religiöse oder weltanschauliche Praxis darunter gefasst werden kann. Vgl. zu diesem Komplex die Studie von Jeroen Temperman, Religious Hatred and International Law: The Prohibition of Incitement to Violence or Discrimination, Cambridge: Cambridge University Press, 2016, insb. S. 192-203.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
Zwischenzeitlich zeichnet sich indes ab, dass die alte Debatte zur Religionsdiffamierung wieder aufleben könnte. In einer UN-Konferenz zur Umsetzung der Menschenrechtsratsresolution 16/18, die im Juni 2015 im Hauptquartier der OIC in Jeddah stattfand, traten die alten Bruchlinien zwischen Meinungsfreiheit und Ehrschutz für Religionen in neuer Schärfe hervor.38 Erschwerend hinzu kommt, dass seit einigen Jahren auch Russland international verstärkt für eine strafrechtliche Ahndung von Blasphemie eintritt und dabei gern eine vordergründige Semantik der Religionsfreiheit anschlägt. Auf diese Weise wird die Religionsfreiheit – genauer gesagt: eine verdrehte, nämlich ihrer freiheitsrechtlichen Ausrichtung beraubte »Religionsfreiheit« – zur abstrakten Gegeninstanz gegen Meinungsfreiheit und Kunstfreiheit aufgebaut. Für das Verständnis des Rechts auf Religionsfreiheit ist dies genauso verhängnisvoll wie für die Aufrechterhaltung eines ganzheitlichen Menschenrechtsansatzes. Kritische Wachsamkeit wird auch in der Zukunft notwendig bleiben.
3.5.2
Vorrang kollektiver Identitäten?
Während die autoritäre Stoßrichtung der Resolutionen zu »combating defamation of religions« einigermaßen offen auf der Hand liegt, muss man bei Forderungen nach Anerkennung oder Schutz kollektiver religiöser »Identitäten« genauer hinschauen. Der Identitätsbegriff ist in politischen und akademischen Debatten zu Menschenrechten allgegenwärtig. Dabei kann es um konservative Projekte zur Wahrung religiös-politischer Homogenität in einer Gesellschaft gehen oder auch um die Anerkennung vielfältiger Identitäten von Minderheiten, die gegen gesellschaftlichen Assimilierungsdruck geschützt werden sollen. Politisch ist der Identitätsbegriff nicht eindeutig mit einem bestimmten Lager konnotiert. Auf den deutschen innenpolitischen Debattenkontext übertragen, kann er sowohl für strammnationalistische Leitkulturkonzepte als auch für Multikulturalismus und »Diversity« stehen. In jedem Fall birgt er allerdings die Gefahr, dass die freiheitliche Komponente, die den normativen Kern des Menschenrechtsansatzes ausmacht, an den Rand der Wahrnehmung gerät. Was Habermas gegen Charles Taylors Konzept multikultureller Identitätspolitik einst zu bedenken gab, dass nämlich »der ökologische Gesichtspunkt der Konservierung von Arten« keinesfalls auf menschliche Kulturen übertragen werden dürfe,39 weil dies freiheitswidrige Konsequenzen haben könnte, bleibt als Mah38 39
Heiner Bielefeldt nahm in seiner damaligen Funktion als UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit an dieser Konferenz teil. Jürgen Habermas, »Anerkennungskämpfe im demokratischen Rechtsstaat«, in: Amy Gutmann/Charles Taylor (Hg.), Multikulturalismus und die Politik der Anerkennung, Frankfurt a.M.: Fischer, 1993, S. 147-196, hier S. 173.
71
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
nung auch hinsichtlich von Forderungen nach Anerkennung gegebener religiöser Identitäten bedenkenswert. Denn mehr noch als sonstige »kulturelle Rechte« beinhaltet die Religionsfreiheit das Recht der Menschen, sich in Fragen von Religion und Weltanschauung selbstbestimmt zu entscheiden, einen angestammten Glauben ggf. zu wechseln und andere Menschen durch Überzeugungsarbeit zu einem Glaubenswechsel einzuladen. Es geht bei der Religionsfreiheit also nicht um staatliche Anerkennung und Förderung vorgegebener religiöser Identitäten, sondern wiederum um die individuelle und kommunitäre Freiheit der Menschen, solche Identitäten selbstbestimmt zu entwickeln, zu verteidigen, zu verändern – einschließlich der Möglichkeit, sich dafür gar nicht zu interessieren. Zur Religionsfreiheit zählt darüber hinaus auch das Recht, religiöse Selbstverständnisse herauszufordern, kritische Fragen zu stellen und gewaltlose Provokationen zu formulieren. Vor allem diese Komponente kann in der beliebten Redeweise von der gebotenen Respektierung gegebener Identitäten leicht untergehen. Das Risiko von Missverständnissen nimmt zu, wenn religiöse und ethnische Identitäten miteinander verflochten werden. Dies kann darauf hinauslaufen, die Religionsfreiheit auf eine Variante der Rassismusbekämpfung zu reduzieren. Auf den ersten Blick mag ein solcher Schwenk sogar einleuchten, weil manche Phänomene wie Antisemitismus oder Islamophobie tatsächlich durch Überlappungen zwischen rassistischer und religiöser Diskriminierung gekennzeichnet sind. Aus dieser Tatsache dürfen aber keine falschen konzeptionellen Konsequenzen gezogen werden. Konstitutiv für ein freiheitsrechtliches Verständnis der Religionsfreiheit ist und bleibt der Ausgangspunkt, dass Religionen und Weltanschauungen (zumindest auch) Bekenntnisse implizieren, die einen legitimen Gegenstand kommunikativer Auseinandersetzungen bilden und in Theologien, Philosophien oder religionsrechtlichen Systematisierungen eine spezifisch reflexive Gestalt gewinnen. Für ethnische Merkmale gilt dies nicht in vergleichbarer Weise. Wenn über sie gesprochen wird, dann eher in den Modi von Beschreibung oder narrativer Selbstvergewisserung. Daraus folgt, dass religiöse oder weltanschauliche Positionen – im Unterschied zu ethnischen Merkmalen – auch Gegenstand kritischer Rückfragen werden können. Genau diese Möglichkeit kommunikativer Auseinandersetzung im Für und Wider unterschiedlicher religiöser, religionskritischer, religionsrechtlicher, philosophischer und weltanschaulicher Positionierungen bildet einen unverzichtbaren Kernbestand des Menschenrechts der Religionsfreiheit. Dieser Kern aber droht aus dem Blick zu geraten, wenn religiöse Orientierungen analog zu ethnischen Merkmalen konzipiert und primär als Elemente zur Bestimmung von Gruppenidentitäten verhandelt werden.40 Systematisch weitergedacht, dürfte dies 40
Im vorigen Kapitel haben wir in Abschnitt 2.5 herausgestellt, dass die Religionsfreiheit unterschiedlichen Selbstverständnissen von Religionsgemeinschaften und ihren Mitgliedschaftsstrukturen Raum gibt, darunter auch solchen Vorstellungen, in denen religiöse und ethnische
3 Freiheit zur Unfreiheit?
zu einer Delegitimierung nicht nur jedweder Missionstätigkeit und des persönlichen Glaubenswechsels führen; auch der Raum zulässiger Religionskritik könnte im Zuge eines solchen Ansatzes dramatisch schrumpfen. Der UN-Menschenrechtsrat kreierte im Jahre 2006 einen Ad-hoc-Ausschuss zur Prüfung möglicher ergänzender Standards zur UN-Konvention von 1965 über die Abschaffung aller Formen der Rassendiskriminierung.41 Dieser Ad-hoc-Ausschuss beschäftigt sich seitdem unter anderem mit der Frage, ob zur Bearbeitung religionsbezogener Formen von Rassismus neue völkerrechtliche Normen erforderlich sind. Die Gefahr, dass einseitig ethnisierende Lesarten von Religion auch auf das Verständnis der Religionsfreiheit durchschlagen und deren freiheitsrechtlichen Kern vernebeln, ist zweifellos gegeben.
3.5.3
Instrument interreligiöser Harmonie?
Eine Quelle weiterer Missverständnisse besteht in der Funktionalisierung der Religionsfreiheit zugunsten »interreligiöser Harmonie«. In vielen Debatten kann man erleben, dass das Thema Religionsfreiheit sehr schnell mit dem friedlichen Zusammenleben unterschiedlicher Religionen assoziiert wird. Dieser Zusammenhang ist keineswegs per se abwegig; denn die Religionsfreiheit steht als Menschenrecht durchaus für ein Friedenskonzept. Schon die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte stellt heraus, dass die Anerkennung von Menschenwürde und Menschenrechten die »Grundlage der Freiheit, der Gerechtigkeit und des Friedens in der Welt« bildet.42 Allerdings handelt es sich bei dem durch die Religionsfreiheit ermöglichten Frieden um einen eher »unbequemen« Frieden, gegründet auf dem Respekt vor den religiösen und weltanschaulichen Selbstpositionierungen der Menschen in ihrer Vielfalt. Die Religionsfreiheit schützt deshalb stets auch die Rechte von Minderheiten, von Minderheiten innerhalb der Minderheiten, von Dissidentinnen und Dissidenten, Kritikerinnen und Konvertiten sowie von Menschen mit uneindeutigen und »hybriden« religiösen Orientierungen. Eine Gesellschaft, die die Religionsfreiheit ernst nimmt, wird in der Konsequenz eine komplexe und nicht leicht überschaubare Landschaft vielfältiger religiöser und weltanschaulicher Positionen hervorbringen, die ihrerseits nicht immer nur schiedlich-friedlich nebeneinander bestehen, sondern sich gelegentlich aneinander reiben dürften.
41 42
Zugehörigkeit eng miteinander verflochten sind. Im Kontext der Diskussionen um die freiheitsrechtliche Orientierung der Religionsfreiheit geht es um etwas anderes, nämlich darum, dass die kategoriale Trennschärfe von Religion bzw. Weltanschauung nicht durch Amalgamierung mit Ethnizitätskonzepten verloren gehen darf. Die oben angestellten Überlegungen stehen damit nicht in Widerspruch. Vgl. UN Doc. A/HRC/AC.1/2/2. Hervorhebung hinzugefügt. In leicht modifizierter Form hat dieser Wortlaut auch Eingang in Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes gefunden.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Als Menschenrecht zielt die Religionsfreiheit auf einen freiheitlichen Frieden, der auch die friedliche Konkurrenz unterschiedlicher Überzeugungen freisetzt und Raum für Kritik und Gegenkritik eröffnet. Mit Konzepten einer staatlich bewachten und möglichst störungsfreien interreligiösen »Harmonie«, wie sie etwa in den ASEAN-Staaten propagiert wird, ist ein solches freiheitliches Friedenskonzept nicht kompatibel. Eine entscheidende Testfrage ist einmal mehr die Möglichkeit von Konversion und Mission. Viele Staaten – vor allem im Nahen Osten, aber auch in Teilen Süd- und Südostasiens – beschränken oder verbieten Konversion und Missionstätigkeit, wobei oft drastische Mittel von sozialem Mobbing bis hin zur strafrechtlichen Verfolgung zum Zuge kommen.43 In Extremfällen droht Konvertiten sogar die Todesstrafe. Oft geschehen die Repressalien unter Verwendung des Begriffs »Proselytismus«, der dabei mit negativen Phänomenen im Umfeld von Missionstätigkeit konnotiert, aber kaum jemals präzise definiert wird. Vorgebliches Ziel der Restriktionen ist vielfach der religiöse bzw. interreligiöse Friede in der Gesellschaft. Dasselbe Argument wird auch dazu herangezogen, bestimmte religiöse Gruppen zu drangsalieren, die – als Minderheiten, Neugründungen oder aufgrund ihrer Kontakte ins Ausland – als Bedrohung für den religiös-konfessionellen Status quo in der Gesellschaft gelten. Betroffen sind davon zum Beispiel die Ahmadis in Pakistan und Indonesien oder christliche Gemeinschaften, die etwa in nahöstlichen Staaten oft mit dem teils ungeliebten »Westen« in Verbindung gebracht werden; dies trifft insbesondere protestantische Gruppen, die als von Amerika gesteuert gelten und zudem noch als Missionskirchen verdächtigt werden.44 Wenn im Kontext der Religionsfreiheit von Frieden und Harmonie die Rede ist, gilt es wachsam zu bleiben. Denn das legitime Interesse an der – womöglich auch staatlich unterstützten – Kooperation und Kommunikation der Religionsgemeinschaften kann abgleiten in eine De-Legitimierung religiöser oder religionskritischer »Quertreiber«, selbst wenn diese die gewünschte Harmonie in gewaltfreier Form »stören« sollten. In diesem Zusammenhang erweist sich eine strikte Beachtung der Kriterien für etwaige Schrankenziehungen einmal mehr als unverzichtbar. Bei den in Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte aufgeführten möglichen Zielen findet sich denn auch bezeichnenderweise kein Hinweis auf interreligiöse oder gesellschaftliche »Harmonie« als legitimen Beschränkungsgrund.
43 44
Vgl. Ziya Meral, No Place to Call Home. Experiences of Apostates from Islam. Failures of the International Community, New Malden: Christian Solidarity Worldwide, 2008. Näheres dazu in Kapitel 7.4.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
3.5.4
»Freedom from religion«?
Autoritäre Vorstellungen einer staatlich garantierten Harmonie firmieren manchmal auch unter umgekehrten Vorzeichen, nämlich im Sinne von »freedom from religion«.45 Im Hintergrund stehen ausgesprochene oder unausgesprochene Wunschvorstellungen von einer Gesellschaft, in der die Religion keine Rolle mehr spielt oder zumindest aus der Öffentlichkeit weitgehend verschwindet. »And no religion, too«, heißt es im Refrain eines berühmten Songs, in dem John Lennon die Vision einer friedlich vereinigten Menschheit ohne Staatsgrenzen und eben auch ohne Religionen heraufbeschwört.46 Man geht sicher nicht fehl in der Annahme, dass solche Vorstellungen vor allem in weiten Teilen der europäischen Gesellschaften populär sind. Diejenigen, die für ein Heraushalten der Religion aus dem öffentlichen Leben plädieren, berufen sich gern auf die »negative Religionsfreiheit«. Nun bildet die negative Komponente, wie bereits erläutert, einen integralen Bestandteil der Religionsfreiheit, komplementär zur positiven Religionsfreiheit, und sie ist nicht weniger relevant als diese. Umso mehr fällt auf, dass die negative Religionsfreiheit bzw. »freedom from religion« nicht selten mit einer Emphase eingefordert wird, die den Eindruck erweckt, hier müsse ein neuer Rechtstitel überhaupt erst etabliert werden. Die negative Religionsfreiheit zu einem eigenen Rechtstitel neben der positiven Religionsfreiheit auszubauen, wäre jedoch genauso verwirrend, als wollte man der Meinungsäußerungsfreiheit explizit die Freiheit an die Seite stellen, eine Meinung auch nicht zu äußern, oder als wollte man die Versammlungsfreiheit um ein Recht, Versammlungen nicht zu besuchen, eigens ergänzen. Auch die Freiheit zur Eheschließung schließt der Sache nach die (»negative«) Freiheit ein, ggf. eben auch ehelos zu leben. Von einer »negativen Meinungsfreiheit«, einer »negativen Versammlungsfreiheit« oder einem eigenen Recht auf Zölibat ist – anders als von der negativen Religionsfreiheit – allerdings so gut wie nie die Rede. Die unterschiedlichen Richtungen des Gebrauchs sind im Begriff des Freiheitsrechts eben von vornherein schon angelegt. Dass im Kontext der Religionsfreiheit dies dennoch häufig ausdrücklich erklärt werden muss, zeigt einmal mehr, wie sehr der freiheitliche Charakter dieses Menschenrechts immer wieder verkannt und verbogen wird. Als integraler Bestandteil der Religionsfreiheit schützt die negative Religionsfreiheit die Menschen davor, gegen ihren Willen zu einem religiösen oder weltanschaulichen Bekenntnis oder zu entsprechenden Praktiken gedrängt zu werden. 45
46
Vgl. Amos N. Guiora, Freedom from Religion. Rights and National Security, Oxford: Oxford University Press, 2. Aufl., 2013. Der Autor befasst sich diesbezüglich mit religiösem Extremismus, siehe S. 20: »To protect civil democratic society, religious rights need to be curtailed.« Der Titel aus dem Jahre 1971 lautet: »Imagine «.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Kritisch-grenzziehende Wirkung entfaltet sie vor allem gegenüber dem Staat. Gegen ein verbreitetes Missverständnis bleibt allerdings klarzustellen, dass die negative Religionsfreiheit keinen Anspruch schafft, generell von der Konfrontation mit Religion oder Weltanschauung in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit verschont zu werden. Die für manche Menschen verstörende Präsenz sichtbarer und hörbarer religiöser Symbole gehört vielmehr zu einer freiheitlichen, pluralistischen Gesellschaft, die durch Meinungsäußerungsfreiheit, Religionsfreiheit, Vereinigungsfreiheit, Versammlungsfreiheit und andere Freiheitsrechte strukturiert wird. Eine staatlich forcierte Privatisierung des Religiösen würde demgegenüber einen starken Staat mit umfassenden Kontroll- und Zwangsbefugnissen voraussetzen; sie wäre das Ende der freiheitlichen Gesellschaft. Missverständnisse resultieren oft auch aus einer unreflektierten Verwendung der Begriffe »Neutralität«, »Säkularität« oder »Laizität«, die in Debatten um die Religionsfreiheit eine wichtige Rolle spielen und deshalb in Kapitel 6 dieses Buches noch näher diskutiert werden sollen. Hier sei nur so viel gesagt, dass diese (und ähnliche) Begriffe allesamt mehrdeutig sind. Offene bzw. freiheitsfreundliche stehen neben restriktiven Lesarten und zwischen beiden verläuft oft nur eine dünne Trennlinie. Ein inklusiv-offenes Verständnis von Neutralität, Säkularität oder Laizität weist dem Staat die Aufgabe zu, für die angstfreie und diskriminierungsfreie Entfaltung des religiösen und weltanschaulichen Pluralismus Sorge zu tragen, was dem Staat Investitionstätigkeit in vielen Politikfeldern – Schule, Medien, Infrastrukturentwicklung, Integration von Minderheiten usw. – abverlangt. Gelingen kann dies am besten in klarer Funktionsdifferenz zwischen Staat und Religionsgemeinschaften. Der institutionell befestigte Abstand zwischen Staat und Religionsgemeinschaften soll gleichsam Raum schaffen, in dem sich menschliche Freiheit in Fragen von Religion und Weltanschauung entfalten kann. Im Gegensatz zu einer solchen raum-gebenden, offenen Neutralität, Säkularität oder Laizität des Staates, kursieren aber nach wie vor auch restriktive Vorstellungen, die den öffentlichen Raum von religiösen Symbolen purifizieren und Religion möglichst in den Privatbereich abdrängen wollen. Solche engherzigen oder gar ideologischdoktrinären Tendenzen können sich nicht auf die Religionsfreiheit stützen. Sie lassen sich auch nicht im Namen der »negativen Religionsfreiheit« rechtfertigen, die überhaupt nur als Bestandteil eines umfassenden Freiheitsrechts in Sachen Religion und Weltanschauung Sinn ergibt.
3.6
Brücke zwischen Religion und Freiheit
Die Religionsfreiheit wird nicht nur, wie auch andere Menschenrechte, vielfältig verletzt. Es gibt darüber hinaus politische Tendenzen, die darauf abzielen, ihren freiheitsrechtlichen Kern zu verbiegen. Dagegen ist Wachsamkeit geboten. Außer-
3 Freiheit zur Unfreiheit?
dem sieht sich die Religionsfreiheit manchen Missverständnissen ausgesetzt, die nicht nur von Seiten religiöser Traditionalisten, sondern erstaunlicherweise auch von manchen säkularen Liberalen vorgebracht werden. Zunächst zu den Verletzungen der Religionsfreiheit in der Praxis der Staaten.47 Zur scheinbaren Rechtfertigung dient dabei oft der Hinweis auf Beschränkungsmöglichkeiten, die in den einschlägigen Menschenrechtsinstrumenten selbst enthalten seien. Dagegen haben wir klargestellt, dass die Schrankenklauseln nach dem Modell von Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte genau die gegenteilige Funktion haben: Statt den Staaten einen Ermessensspielraum dafür zu eröffnen, die Religionsfreiheit gegen andere Interessen zu verrechnen (»abzuwägen«), binden sie ggf. notwendige Beschränkungen an kontrollierbare Kriterien. Im Unterschied zu einer diffusen Abwägungssemantik gilt das Gebot strikter Rechtfertigung, und zwar derart, dass die Argumentationslast durchgängig auf die Seite der Befürworter von Einschränkungen fällt. Nicht die Freiheit ist begründungspflichtig, sondern ihre Einschränkung. So jedenfalls der Anspruch. Die Praxis der Staaten sieht oft ganz anders aus. Umso wichtiger ist ein angemessenes Verständnis der Schrankenklauseln, das den Primat der Freiheit systematisch ernst nimmt und auf konsequente Umsetzung dringt. Abgesehen von konkreten Verletzungen wird die Religionsfreiheit in ihrem Anspruch prinzipiell verfehlt, indem man sie beispielsweise zu einem freiheitswidrigen, mit scharfen Anti-Blasphemiegesetzen bewehrten »Ehrschutz« für Religionen umdeutet, sie als Bestandteil kollektiver Identitätspolitik instrumentalisiert oder sie dem Interesse an harmonischer Koexistenz einflussreicher Religionsgemeinschaften unterordnet. Dahinter stehen häufig autoritäre religionspolitische oder kontrollpolitische Zielsetzungen, besonders augenfällig in den vormaligen UN-Resolutionen zum Schutz der Religionen vor etwaigen »Diffamierungen«. Paradoxerweise sehen sich einige Liberale genau dadurch in ihrem Verdacht bestätigt, dass die Religionsfreiheit kein wirklich liberales Recht sei. Vor allem gegenüber dem urliberalen Recht der Meinungsfreiheit fungiere sie, so die Annahme, eher als eine Art konservative Gegeninstanz. Autoritäre Verbiegungen der Religionsfreiheit haben somit sogar einen doppelten Effekt. Sie verdecken nicht nur den freiheitsrechtlichen Kern dieses Menschenrechts, sondern entfremden es außerdem tendenziell jenen liberalen Lagern, die sich ansonsten als die politischen Hüter der Freiheitsrechte verstehen, allerdings bei der Religionsfreiheit oft eher ambivalent reagieren. Manche gehen so weit, die Religionsfreiheit auch in der Praxis restriktiv zu handhaben und auf die Privatsphäre zu beschränken. Missverständnisse resultieren nicht zuletzt auch aus einem unterkomplexen, verflachten Freiheitsbegriff. Wer die Freiheit schlicht auf in urbanen Milieus tonangebenden »liberalen Lifestyle« reduziert, wird auf viele Anliegen der Religions47
Über die unterschiedlichen Muster solcher Verletzungen gibt Kapitel 7.3 nähere Auskunft.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
freiheit von vornherein defensiv reagieren. Wer gar einen pauschalen Gegensatz zwischen »to be free« und »to be faithful« konstruiert, verbaut sich selbst nicht nur ein angemessenes Verständnis von Freiheit, sondern leitet damit zugleich Wasser auf die Mühlen all derjenigen Antiliberalen, die in modernen Freiheitsrechten nichts anderes als die Interessen einer hedonistischen »Spaßgesellschaft« sehen wollen.48 Schon begrifflich postuliert die Religionsfreiheit einen Zusammenhang zwischen Religion und Freiheit. Daraus ergeben sich Chancen sowohl für das Verständnis von Religion in der modernen pluralistischen Gesellschaft als auch für das Verständnis menschlicher Freiheit. Diese Chancen lassen sich allerdings nur dann ergreifen, wenn man die damit verbundenen Zumutungen annimmt. Religiösen Traditionalisten jedweder Observanz ist die Einsicht zuzumuten, dass das Zusammenleben in unseren irreversibel pluralistischen Gesellschaften nur gelingen kann, wenn der Staat allen Menschen – auch im Feld des Religiösen – ihre Freiheitsrechte garantiert. Bestimmte religiöse Wahrheitsansprüche, Traditionen, Identitäten, Praktiken, Gesetze und Institutionen unter staatliche Kuratel zu stellen und gegen Kritik, Infragestellung oder Konkurrenz zu immunisieren, würde in die Irre führen; die Folgen wären Diskriminierungen, Ausgrenzungen, gesellschaftliche Spaltungen und alle damit einhergehenden Verwerfungen. Subjekte von Rechtsansprüchen im Feld von Religion und Weltanschauungen können deshalb nur die Menschen in ihrer Freiheit sein. Menschenrechtlich geschützt ist nicht die Wahrheit der Religion, sondern die freie Wahrheitssuche der Menschen; nicht die Heiligkeit des göttlichen Gesetzes, sondern die persönliche und gemeinschaftliche Freiheit religiöser Lebensführung; nicht der Vorrang der einen wahren Kirche, sondern die Möglichkeit zur öffentlichen Manifestation vielfältiger Überzeugungen usw. Dies ist in vielen Religionsgemeinschaften noch nicht mit aller Konsequenz angekommen, geschweige denn vollumfänglich akzeptiert. Die Religionsfreiheit enthält freilich auch Zumutungen für Liberale; dies ist vielleicht die größere Überraschung. Dass der Mensch und seine Freiheit im Zentrum des Rechts stehen, scheint für liberales Denken zunächst pure Selbstverständlichkeit zu sein. Nicht immer geht dies einher mit der Einsicht, dass für viele Menschen religiöse Orientierungen und Praktiken unverzichtbarer Bestandteil ihres Selbstverständnisses sind und dass eine freiheitliche Gesellschaft dem breiten Raum geben muss. Wenn Liberalität mehr sein soll als ein bestimmter urbaner »Lifestyle«, muss sie sich nicht zuletzt im fairen und offenen Umgang mit solchen religiösen Überzeugungen und Manifestationen bewähren, die inhaltlich zu ver48
Vgl. etwa die in der Tradition Carl Schmitts durchgeführte Karikatur des freiheitlichen Rechtsstaates in: Otto Depenheuer, Selbstbehauptung des Rechtsstaates, Paderborn: Schöningh, 2007, S. 18.
3 Freiheit zur Unfreiheit?
stehen oft schwerfällt und manchmal unmöglich sein mag. Freiheit ist eben nicht nur die Freiheit innerhalb der Gleichgesinnten.
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4. Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
4.1
Religionsfreiheit versus Gleichberechtigung?
Auf der Titelseite eines vom »International Network of Civil Liberties Organisations« (INCLO) veröffentlichten Berichts findet sich das Bild zweier überkreuz stehender Wegweiser: Der eine weist den Weg zu »Religion«, der andere zu »Equality«. Gegenstand des Berichts ist das Verhältnis von Religionsfreiheit und Gleichberechtigung. Der Titel unterstellt, dass es sich um ein Spannungsverhältnis handelt: »Drawing the Line: Tackling Tensions between Religious Freedom and Equality«.1 Dass es Konflikte in diesem Feld gibt, lässt sich nicht bestreiten, kann aber auch nicht wirklich überraschen. Das Titelbild der über Kreuz stehenden Wegweiser suggeriert indes weit mehr. Es vermittelt den Eindruck, dass die beiden Ziele an entgegengesetzten Enden liegen und sich die jeweiligen Wege dorthin nirgends treffen. Wer sich für die Religionsfreiheit entscheidet, kann sich scheinbar nicht gleichzeitig für Gleichheit der Rechte aller Menschen einsetzen, und wer den Weg der Gleichheit beschreiten will, muss, so scheint es, mit der Religionsfreiheit brechen. So muss man das Bild, wenn es denn ernst gemeint sein soll, wohl interpretieren. Nach den Diskussionen zum normativen Universalitätsanspruch der Religionsfreiheit (in Kapitel 2) und zu ihrer freiheitlichen Ausrichtung (in Kapitel 3) steht nun also das Gleichheitsprinzip zur Diskussion. Wiederum handelt es sich um ein Grundsatzthema, an dessen Klärung das menschenrechtliche Verständnis der Religionsfreiheit im Ganzen hängt; denn auch die Gleichheit ist einer der Grundpfeiler, auf denen das System der Menschenrechte aufruht. Schon der erste Satz der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte macht dies deutlich, wenn er einen Zusammenhang zwischen der »Anerkennung der allen Mitgliedern der menschlichen Familie inhärenten Würde« und ihren »gleichen und unveräußerlichen Rechten«2 stiftet. 1 2
Vgl. https://ccla.org/cclanewsite/wp-content/uploads/2015/09/IN C LO-Report-Drawing-theLine-EQ-vs-FoR.pdf, abgerufen am 12. November 2019. Hervorhebung hinzugefügt.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Wenn es um das Gleichheitsprinzip innerhalb der Religionsfreiheit geht, lassen sich zwei Fragerichtungen unterscheiden. Zum einen gibt es das Problem interner Ungleichheiten innerhalb der Religionsgemeinschaften, von denen viele bis heute reine Männerbastionen sind. Dies gilt nicht nur für den Klerus vieler christlicher Kirchen, zum Beispiel der römisch-katholischen Kirche genauso wie der orthodoxen und altorientalischen Kirchen. Auch Rabbiner und Imame sind, abgesehen von jüdischen bzw. muslimischen Reformbewegungen, in aller Regel männlichen Geschlechts. Männliche Dominanz zeigt sich auch außerhalb des Kreises der Offenbarungsreligionen. Dieser Themenkomplex wird innerhalb des nächsten Kapitels angesprochen, wenn dort der Zusammenhang zwischen Religionsfreiheit und Gleichberechtigung der Geschlechter zur Klärung ansteht.3 Strittig sind zum anderen religiös motivierte Ansprüche auf besondere Berücksichtigung innerhalb der Gesamtgesellschaft, die mit dem Anspruch auf Gleichheit in Spannung zu stehen scheinen. Dies ist das Thema des vorliegenden Kapitels. Reklamieren religiöse Minderheiten nicht häufig Sonderregelungen für sich, etwa Ansprüche auf Sonderurlaub aus Anlass religiöser Feiertage oder auf spezielles Essen in Schulen und Betriebskantinen? Durchlöchern sie mit solchen Spezialforderungen nicht die allgemeine Rechtsgleichheit? Signalisiert darüber hinaus vielleicht schon der Begriff der Religionsfreiheit eine Ungleichbehandlung, nämlich die vorrangige Berücksichtigung religiöser gegenüber nicht-religiösen Weltsichten und Praktiken? »To continue to use the word [religion] in law is to invite discrimination«4 , heißt es im Vorwort eines Sammelbandes herausgegeben von Sullivan und anderen. Das Titelbild auf dem INCLO-Bericht scheint für diese Problemanzeige die Untermalung zu liefern.
4.2
Gleichheit der Menschen, nicht der Religionen
Zunächst müssen wir uns in Erinnerung rufen, dass sich der Gleichheitsanspruch nicht auf Religionen bzw. Weltanschauungen als solche bezieht, sondern auf die Menschen, die sie bekennen (bzw. nicht bekennen) und danach ihr Leben gestalten. Dies wird oft übersehen oder jedenfalls nicht systematisch ernst genommen. Wie bei allen anderen Menschenrechten firmieren bei der Religionsfreiheit letztlich die Menschen als Rechtssubjekte; es geht um ihre Würde, Freiheit und Gleichberechtigung. Ohne diese Klarstellung kann man sich die weitere Diskussion um das Gleichheitsprinzip sparen. Denn die Religionen bzw. Weltanschauungen als solche 3 4
Vgl. Kapitel 5.3.3. Winnifred Fallers Sullivan/Elizabeth Shakman Hurd/Saba Mahmood/Peter G. Danchin, »Introduction«, in: dies. (Hg.), Politics of Religious Freedom, Chicago: The University of Chicago Press, 2015, S. 1-9, hier S. 7.
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
bieten letztlich keine Ansatzpunkte, an denen sich ein Gleichheitsanspruch plausibel festmachen ließe. Was der einen Religion heiliges Gebot ist, erscheint aus der Sicht einer anderen Religion womöglich als belanglos oder gar als Sakrileg. Wie soll man hier einen gemeinsamen Nenner für verbindliche rechtliche Regelungen nach Maßgabe der Gleichberechtigung finden? Jeder Versuch ist von vornherein zum Scheitern verurteilt – es sei denn, man konzentriert sich auf die Menschen, die sich in den unterschiedlichen Religionen bzw. Weltanschauungen bewegen. Sie bilden jenen gemeinsamen Nenner, quer zur Vielfalt der Bekenntnisse und Praktiken, auf den das Recht sich sinnvoll beziehen kann. Es sind folglich stets Menschen, die einen Anspruch auf Gleichberechtigung geltend machen, und es sich Menschen, die unter Diskriminierungen aufgrund ihrer Religion bzw. Weltanschauung leiden.5 Eine systematische Orientierung am Menschen zeigt sich auch in der »Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung« der Vereinten Nationen vom 25. November 1981. So verlangt Artikel 3 der Erklärung in einer ungewöhnlich starken Formulierung: »Die Diskriminierung zwischen Menschen aufgrund der Religion oder der Weltanschauung stellt eine Beleidigung der Menschenwürde und eine Verleugnung der Grundsätze der Charta der Vereinten Nationen dar […].«6 Das Diskriminierungsverbot, das sich in allen umfassenden Menschenrechtsdokumenten findet, schließt unter den exemplarisch aufgelisteten Diskriminierungsgründen stets auch die Religionszugehörigkeit ein. So heißt es in Artikel 2 Absatz 1 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte: »Jeder hat Anspruch auf die in dieser Erklärung verkündeten Rechte und Freiheit ohne irgendeinen Unterschied, etwa nach Rasse, Hautfarbe, Geschlecht, Sprache, Religion, politischer oder sonstiger Überzeugung, nationaler oder sozialer Herkunft, Vermögen, Geburt oder sonstigem Stand.«7 5
6
7
Beispiele dafür gibt es reichlich: Angehörige der Baha’i sind in Iran von höherer Bildung ausgeschlossen; bekennende Atheisten in Jordanien stoßen auf schwer lösbare Probleme bei der Eheschließung innerhalb des religiös strukturierten jordanischen Familienrechts; muslimischen Rohingyas in Myanmar sind ökonomischen Boykotten ausgesetzt, die ihnen signalisieren sollen, dass sie in einer buddhistisch geprägten Gesellschaft nichts zu suchen haben. Auch manche der in Deutschland propagierten Konzepte von »Leitkultur« sind diskriminierend angelegt oder können jedenfalls diskriminierende Konsequenzen für Angehörige religiöser Minderheiten zur Folge haben. »Discrimination between human beings on the grounds of religion or belief constitutes an affront to human dignity and a disavowal of the principles of the Charter of the United Nations […].« Hervorhebung hinzugefügt. Auf Englisch: »Everyone is entitled to all the rights and freedoms set forth in this Declaration, without distinction of any kind, such as race, colour, sex, language, religion, political or other opinion, national or social origin, property, birth or other status.«
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
In Artikel 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte ist diese Formulierung wortwörtlich übernommen worden. Jüngere Menschenrechtsdokumente haben die historisch unabgeschlossene Liste der verbotenen Anknüpfungspunkte von Ungleichbehandlung um Behinderung, Alter und sexuelle Orientierung erweitert. An die Seite des Merkmals Religion ist im Laufe der Zeit auch die Zugehörigkeit zu einer Weltanschauung getreten, so schon im Titel der genannten UN-Erklärung von 1981 sowie in Artikel 1 der Internationalen Konvention zum Schutz der Rechte aller Wanderarbeitnehmer und ihrer Familienangehörigen aus dem Jahre 1990.
4.3
Differenzfreundliche Gleichheit
Im Kontext der Menschenrechte ist die Gleichheit systematisch mit dem Prinzip der Freiheit verknüpft. Beide erläutern einander wechselseitig. Keiner hat dies klarer formuliert als Kant. Ihm zufolge handelt es sich bei Freiheit und Gleichheit nicht um zwei separate Prinzipien, die irgendwie miteinander kombiniert oder gegeneinander ausbalanciert werden müssten, sondern um zwei Seiten ein und desselben Prinzips. Nur als Idee gleichberechtigter Freiheit aller kann nach Kant das gleichsam »angeborene« Freiheitsrecht aller Menschen ordnungsstiftende Funktion entfalten.8 Das Freiheitsprinzip findet seine Grenze demnach nicht mehr an äußeren Vorgaben – etwa an Traditionen oder Üblichkeiten –, wie das bis dato in der Regel gedacht war; die Freiheit hatte dabei die Qualität eines Privilegs, das nicht jedem zukam. Der Paradigmenwechsel besteht genau darin, dass das Freiheitsprinzip nun für alle gelten soll; sie ist nicht Privileg, sondern fundiert die allgemeinen Menschenrechte. Die Grenzen des Freiheitsprinzips können nach Kant nur durch die Freiheit selbst gesetzt werden, nämlich die gleiche Freiheit der anderen. Daher verlangt die Freiheit, um als ordnungsstiftendes, strukturgebendes Prinzip systematisch zur Geltung kommen zu können, nach der Gleichheit. Im Gegenzug bedeutet dies, dass auch die Gleichheit menschenrechtlich nur in Verbindung mit dem Freiheitsprinzip Sinn ergibt. Es geht in dieser Perspektive also gerade nicht um Gleichmacherei, Nivellierung, Konformismus, Uniformität oder Homogenität, wie oft gemutmaßt wurde, sondern um die Gestaltung einer freiheitlichen Ordnung für alle. Gleichheit zielt nicht auf Angleichung. Um es auf Englisch zu sagen: »equality« meint nicht »sameness«. Diese Klarstellung ist wichtig. Wenn man die Gleichheit als Homogenität fasst, nimmt der Begriff unvermeidlich einen engen, ja repressiven Klang an. Dazu gibt es zahlreiche Beispiele. So verkündete der Bürgermeister einer südfranzösischen Kleinstadt, in den Schulkantinen seiner Gemeinde solle fortan keine Rücksicht 8
Vgl. Immanuel Kant, Die Metaphysik der Sitten, Akademie-Ausgabe Bd. VI, Berlin 1907, S. 237f.
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
mehr auf die besonderen Bedürfnisse jüdischer und muslimischer Kinder genommen werden. Er berief sich dabei auf das Gleichheitsprinzip: die »égalité«.9 Jüdische oder muslimische Eltern, denen die Beachtung religiöser Speisevorschriften wichtig ist, müssten, sofern die Ankündigung umgesetzt würde, fortan einige Mühen aufwenden, um die von ihnen gewünschte Verpflegung ihrer Kinder in der Schule zu sichern. Eine solche Politik nimmt in Kauf, dass Kinder aus Minderheitenfamilien an gemeinsamen Schulmahlzeiten nicht mehr teilnehmen. Ein illiberal gefasstes Verständnis von »égalité« fördert somit nicht Zusammenhalt in einer multikulturellen Gesellschaft, sondern produziert Spaltungen. Wer unter den Vorzeichen einer solchen Interpretation von Gleichheit Raum für Differenz oder »diversity« schaffen möchte, könnte wiederum geneigt sein, den Gleichheitsgrundsatz generell mit Skepsis zu betrachten.10 Gleichheit und Differenz geraten dann schnell in einen Gegensatz zueinander, mit der Konsequenz, dass das Prinzip der Differenz womöglich mit dem Begriff der »Ungleichheit« amalgamiert wird. Solche Konstellationen begegnen in der Debatte nicht selten. Dabei wird auch heute noch gern eine von Aristoteles stammende Formel zitiert, wonach es darum gehe, »Gleiches gleich und Ungleiches ungleich« zu behandeln.11 Damit ist der Menschenrechtsansatz dann allerdings völlig verlassen. Gleichheit und Ungleichheit stehen in der Aristotelischen Formel als zwei Referenzpunkte auf derselben Ebene; von einem Primat des Gleichheitsprinzips kann nicht die Rede sein. Bekanntlich ging Aristoteles selbst nicht nur davon aus, dass Männer und Frauen unterschiedliche Rollen in der Gesellschaft wahrnehmen und dementsprechend ungleiche Rechte haben müssten, sondern er rechtfertigte auch die Sklaverei als eine »natürliche« Institution.12 Der Satz »Gleiches gleich und Ungleiches ungleich« steht historisch und systematisch in diesem Zusammenhang und ist damit von einem menschenrechtlichen Ansatz unüberbrückbar weit entfernt. Dass die Aristotelische Formel in vielen juristischen Abhandlungen, Lehrbüchern und Kommentaren trotzdem nach wie vor anscheinend vorbehaltlos zitiert wird, ist, gelinde gesagt, erstaunlich.13 9 10
11 12 13
BBC News vom 21. Oktober 2015; www.bbc.com/news/world-europe-34570187, Vgl. »Politics on the School Dinner Menu in France«, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. etwa W. Cole Durham, Jr., »Religion and Equality. Reconcilable Differences?«, in: W. Cole Durham, Jr./Donlu Thayer (Hg.), Religion and Equality. Law in Conflict, London and New York: Routledge, 2016, S. 185-202, hier, S. 187: »The rise of the equality paradigm is linked to a sense that political freedom is undergoing a slow loss of relevance. It is fading away.« Vgl. Aristoteles, Nikomachische Ethik, Buch V, Kapitel 6, deutsch: Reclam-Ausgabe: Ditzingen 2017, S. 125f. Vgl. Aristoteles, Politik, Buch I, deutsch: Reclam-Ausgabe, Ditzingen 2017, S. 82-87. Vgl. zum Beispiel Cécile Laborde, »Religious Accommodation and Inclusive EvenHandedness«, in Marie-Claire Foblets/Katayoun Alidadi/Jørgen S. Nielsen/Zeynep Yanasmayan (Hg.), Belief, Law and Politics: What Future for a Secular Europe?, London: Ashgate, 2014, S. 167-169.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Viele Debatten um Gleichheit versus Differenz (»equality« versus »diversity«) unterstellen damit freilich einen abstrakten Gegensatz, der im Menschenrechtskontext gerade aufgebrochen wird. Die in den Menschenrechten sowohl vorausgesetzte als auch geförderte Gleichheit ist nämlich von Haus aus eine »differenzfreundliche« Gleichheit, da sie zuletzt Maß an der Würde und Freiheit jedes Menschen nimmt. Statt alle Menschen über einen Leisten zu schlagen, besteht das Ziel darin, die Menschen gerade in ihren unverrechenbaren Besonderheiten zu achten und zu fördern: in ihren je einmaligen Biographien, in ihren persönlichen Lebensentwürfen, nicht zuletzt auch in ihre spezifischen Überzeugungen religiöser oder nicht-religiöser Art. Entscheidend ist dabei aber, dass solche Achtung des je »Besonderen« allen Menschen gleichermaßen gilt. Sie ist kein Privileg der Begünstigten, sondern allgemeines Menschenrecht. Der Europarat hat diese Einsicht griffig unter dem Slogan »all different, all equal« zusammengefasst.14 »Difference« and »equality« verweisen aufeinander und ergeben nur miteinander Sinn.
4.4
Direkte, indirekte und strukturelle Diskriminierungen
Die Diskussion zum Thema Gleichheit bzw. Diskriminierung hat sich in den letzten Jahrzehnten nicht nur hinsichtlich der verbotenen inhaltlichen Anknüpfungspunkte für Ungleichbehandlungen weiterentwickelt. Es ist außerdem das Bewusstsein dafür geschärft worden, dass über direkte Formen von Diskriminierung hinaus auch indirekte oder strukturelle Formen von Diskriminierung existieren, die für die betroffenen Menschen oft nicht weniger einschneidend wirken. Neben bewusster und absichtlicher Diskriminierung zeigen sich bei genauerem Hinsehen auch diskriminierende Effekte in bestimmten Strukturen – etwa in der Sprache, in gesellschaftlichen Normalitätsvorstellungen, in den Zugangsvoraussetzungen zu bestimmten Institutionen –, die denjenigen, die darin verstrickt sind, oft nicht einmal bewusst sein mögen. Paradoxerweise findet Diskriminierung manchmal sogar im Namen der Gleichheit – dann allerdings einer repressiv missverstandenen Gleichheit – statt, wie das soeben angeführte Beispiel aus Frankreich verdeutlicht. Auch wenn man von einem freiheitlichen und für Differenzen offenen Gleichheitskonzept ausgeht, wie es den Menschenrechten entspricht, stellt sich freilich die Frage, wie weit »diversity« in der Praxis gehen kann. Sind gesellschaftliche Ordnungsvorstellungen, einschließlich der Rechtsordnung, nicht notwendig an bestimmten Üblichkeiten orientiert, die in der Regel als »normal« vorausgesetzt werden und damit als impliziter Maßstab der Bewertung gesellschaftlicher Praxis 14
Vgl. https://www.coe.int/en/web/portal/campaignswww.coe.int/en/web/portal/campaigns, abgerufen am 12. November 2019.
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
dienen? Gerade im Kontext von Religion drängen sich dazu viele Beispiele auf, angefangen bei der Sieben-Tage-Woche über öffentliche Feiertage wie Weihnachten und Ostern bis hin zu den Vorstellungen angemessener Bekleidung. Der Rhythmus unserer alltäglichen Lebensgestaltung in Schule und Betrieb, diverse Begrüßungsund Verabschiedungsrituale, der Umgang der Geschlechter miteinander, der Fisch am Freitag in der Universitätsmensa – all dies ist geprägt von historischen Vorstellungen, in denen bewusst oder unbewusst auch bestimmte religiöse Einflüsse nachwirken.15 Selbst eine Rechtsordnung, die darauf abzielt, religiöser und weltanschaulicher Vielfalt möglichst weiten Entfaltungsraum zu bieten und Strukturen systematisch zu öffnen, bleibt faktisch stets gewissen gesellschaftlichen Standards verhaftet, die für die Mehrheit schlicht als »normal« gelten, für Minderheiten aber Probleme nach sich ziehen können. Wenn praktizierende Christen in Europa sonntags in die Kirche gehen möchten, wirft dies in der Regel keine Schwierigkeiten für sie auf, da die gesellschaftlichen Strukturen darauf ausgerichtet sind. Für Muslime, die ihr Freitagsgebet in der Moschee verrichten möchten, können sich hingegen Kollisionen mit alltäglichen Betriebsabläufen am Arbeitsplatz ergeben. Hier schlicht von »Neutralität« zu sprechen, wirkt genauso naiv wie die Vorstellung, man könnte solchen scheinbaren Selbstverständlichkeiten völlig entrinnen.16 Was folgt daraus? Eine Konsequenz dieser Überlegung besteht darin, dass es gilt, bewusst Raum für Differenz zu schaffen. So sind Schulkantinen heute vielfach gehalten, auch die Bedürfnisse von Minderheiten (neben religiösen Minderheiten gehören dazu auch überzeugte Vegetarierinnen und Vegetarier) zu berücksichtigen; Kleiderordnungen sollen flexibel sein; neben den öffentlichen Feiertagen sollte Raum für die religiösen Feiertage von Minderheiten bestehen, die ggf. Sonderurlaub in Schule oder Betrieb erhalten müssten. Die Praxis in zahlreichen öffentlichen oder privaten Einrichtungen hat sich längst auf »diversity« eingestellt. In vielen Fällen geschieht dies im Konsens aller Beteiligten. Allerdings regt sich manchmal auch Unbehagen, etwa in Gestalt des Verdachts, dass Minderheiten durch Sonderregelungen »privilegiert« würden. Die Kehrseite einer Privilegierung von Minderheiten aber wäre die Diskriminierung der Mehrheit, worüber vor allem populistische Bewegungen schon seit langem lamentieren. Häufig finden sie damit Anklang. Deshalb ist es wichtig, Klarheit zu schaffen: Wie soll das Verhältnis zwischen Gleichheit und Differenz gedacht und gehandhabt werden? Soll das Prinzip der Gleichheit nur für die Mehrheitsbevölkerung gelten, wohingegen Minderheiten sich auf den Grundsatz der Differenz berufen und Ausnahmen für sich reklamieren 15
16
Vgl. Margaret Davies, »Pluralism in Law and Religion«, in: Peter Cane/Carolyn Evans/Zoe Robinson (Hg.), Law and Religion in Theoretical and Historical Contexts, Cambridge: Cambridge University Press, 2008, S. 72-99. Eine eingehende Reflexion der unterschiedlichen Bedeutungsschichten von »Neutralität« findet sich bei Roland Pierik/Wibren van der Burg, »What is Neutrality«, in: Ratio Juris, Bd. 27 (2014), S. 496-515.
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können? Wie weit soll das aber gehen? Müssen wir hier nicht Grenzen einziehen, damit die Rechtsordnung nicht sukzessive durch Sonderregelungen durchlöchert wird? Um Antworten auf solche Fragen zu bekommen, müssen wir uns mit Maßnahmen von »reasonable accommodation« beschäftigen. Bezeichnenderweise gibt es für diesen Begriff bislang keine passende deutsche Übersetzung,17 so dass wir ihn im Folgenden auf Englisch verwenden.
4.5
»Reasonable accommodation« als Bestandteil komplexer Gleichheit
Vor mehr als fünfzig Jahren urteilte der US Supreme Court im Fall Adeil Sherbert, einer Angehörigen der Siebenten-Tags-Adventisten, die sich aus religiösen Gründen außerstande sah, am Samstag, dem wöchentlichen Feiertag ihrer Gemeinde, zu arbeiten, wie dies in ihrem Betrieb vorgesehen war. Sie hatte infolgedessen nicht nur ihren Arbeitsplatz verloren, sondern war auch von staatlichen Unterstützungsleistungen ausgeschlossen worden, weil ihre Arbeitslosigkeit nach Ansicht der zuständigen Behörden selbstverschuldet war. Die Betroffene beschritt den Rechtsweg und hatte damit schließlich Erfolg. Die Entscheidung Sherbert vs. Verner von 1963 war die Geburtsstunde einer Rechtsfigur, für die sich der Begriff »reasonable accommodation« eingebürgert hat. Anhand dieses Falles entwickelte der Supreme Court ein Test-Verfahren (den »Sherbert Test«), das aus mehreren Komponenten besteht. Zunächst geht es demnach darum festzustellen, ob sich das von der klagenden Person vorgebrachte Anliegen auf eine ernst gemeinte religiöse Überzeugung stützen kann und ob der Person durch den Staat ein Hindernis entstanden ist, ihrer Überzeugung gemäß zu leben. Sodann muss der Staat nachweisen, dass sein entsprechendes Handeln wirklich erforderlich ist und einem »compelling state interest« dient. Außerdem muss er zeigen, dass man dabei, gegenüber der betroffenen religiösen Überzeugung, in möglichst schonender Weise vorgegangen ist.18 Dieses komplexe Verfahren soll dazu dienen herauszufinden, ob eine Verletzung der Religionsfreiheit vorliegt. In der Zusammensicht der Kriterien zeigt sich übrigens, dass das Gericht die Religionsfreiheit nicht isoliert betrachtet, sondern auch andere wichtige Gesichtspunkte in eine Gesamtbewertung eines Falles aufnimmt. Die Rechtsprechung der US-Gerichte im Gefolge des Sherbert-Falles wies freilich erhebliche Pendelschläge auf.19 Mal entschieden die Gerichte zugunsten religi17
18 19
In der offiziellen deutschen Übersetzung der UN-Behindertenrechtskonvention wird »reasonable accommodation« mit »angemessenen Vorkehrungen« übersetzt. Die Komponente des Raum-Gebens, die im englischen Begriff angelegt ist, fällt damit aber völlig weg. Vgl. US Supreme Court, Sherbert v. Verner 374 US 398 (1963), Ziffern 402f. Vgl. W. Cole Durham, Jr./Brett G. Scharffs, Law and Religion. National, International, and Comparative Perspectives, New York: Aspen, 2010, S. 210-223; Martha C. Nussbaum, Liberty of Con-
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
ös motivierter Antragsteller, mal schienen sie eher von der Befürchtung getrieben zu sein, dass die Offenheit für besondere Anliegen religiöser Minderheiten die Verlässlichkeit der für alle geltenden Rechtsordnung unterminieren könnte. Besonders umstritten war lange Zeit die Frage, ob Angehörige indigener Völker in rituellen Kontexten ausnahmsweise Peyote gebrauchen dürfen, obwohl der Konsum dieser Pflanze aufgrund psychedelischer Wirkungen durch das Betäubungsmittelgesetz verboten ist.20 Nach einigem Hin und Her wurde dies in den USA unter bestimmten Bedingungen im Rahmen indigener religiöser Rituale erlaubt. An diesem Beispiel wird deutlich, dass »reasonable accommodation« auch die Freistellung von ansonsten geltenden allgemeinen Rechtsregeln beinhalten kann. Neben den USA wurde vor allem Kanada, das sich seit den 1970er Jahren in seiner Verfassung förmlich zur Pflege kultureller Vielfalt bekennt, ein Experimentierfeld in Sachen »reasonable accommodation«. Starke Aufmerksamkeit fand beispielsweise der Fall eines Jugendlichen aus der Gemeinschaft der Sikhs, der darauf bestand, den »Kirpan«, einen für die Identität der Sikhs wichtigen rituellen Dolch, im Schulunterricht zu tragen, obwohl Waffen aus Sicherheitsgründen generell aus der Schule verbannt sind. Der kanadische Supreme Court entschied zugunsten des Schülers, verlangte zugleich aber Sicherheitsvorkehrungen, nämlich das Einnähen des Kirpans in eine Jacke, der damit nicht als Waffe verwendbar sein sollte.21 In der teils erregten öffentlichen Diskussion zu diesem und weiteren Fällen erwies sich, dass in der Bevölkerung eine gewisse Verunsicherung angesichts solcher gerichtlicher Entscheidungen entstanden war. Die Regierung der kanadischen Provinz Quebec setzte daraufhin eine Kommission ein, die die Grundlagen und Grenzen von »reasonable accommodation« näher ergründen und Empfehlungen für die politische und rechtliche Praxis abgeben sollte. Die »Bouchard-Taylor«Kommission, wie sie nach ihren beiden Vorsitzenden (darunter der bekannte Philosoph Charles Taylor) benannt wurde, legte 2008 ihren Abschlussbericht vor. Die Kommission sprach sich klar dafür aus, religiösen und anderen Minderheiten durch Maßnahmen von »reasonable accommodation« entgegen zu kommen, markierte zugleich aber unerlässliche Bedingungen, die dabei zu beachten seien. Ausgangspunkt der Überlegungen der Kommission ist das Gleichheitsprinzip, das freilich nicht mit Uniformität verwechselt werden dürfe: »We can thus see that the rights to equality and freedom of religion do not necessarily have as a corollary
20 21
science. In Defense of America’s Tradition of Religious Equality, New York: Basic Books, 2008, S. 115174. Vgl. M. Nussbaum, Liberty of Conscience, a.a.O., S. 147-150; UN Doc. E/CN.4/1999/58/Add.1, Ziffern 12-13 und 60. Vgl. Supreme Court of Canada, Multani v. Commission Scolaire Marguerite-Bourgeoys and Attorney General of Quebec, 1 S.C.R. 256, 2006 SCC 6 (2006).
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uniformity or homogeneity.«22 Einzelfallbezogene Anpassungen könnten deshalb durchaus im Interesse des Gleichheitsprinzips sein;23 und ein differenzierter Umgang dürfe nicht einfach mit einer Vorzugsbehandlung gleichgesetzt werden: »[A] treatment can be differential without being preferential.«24 Im Interesse der Vermeidung von »undue hardship« kommen sodann die einschränkenden Bedingungen zu Wort, die beachtet werden müssten, damit Maßnahmen von »reasonable accommodation« legitim seien. Zu berücksichtigen seien etwa die generelle Zielsetzung der jeweils betroffenen Institution, die durch die gewünschten Maßnahmen anfallenden finanziellen Kosten sowie schließlich die Rechte anderer.25 Vergleichbar dem Sherbert-Test des US Supreme Court verlangt also auch die Bouchard-Taylor-Kommission einen multiperspektivischen Ansatz. Sie schaut nicht einseitig auf die Religionsfreiheit derjenigen, die spezifisches Entgegenkommen für sich selbst verlangen, sondern nimmt auch die Interessen aller anderen Betroffenen in den Blick und macht deutlich, dass neben der Religionsfreiheit weitere Menschenrechte im Spiel sein können. »Reasonable accommodation« erweist sich damit als ein komplexer Auftrag. Das Adjektiv »reasonable« wird in diesem Kontext meistens als ein pragmatischer Vorbehalt gegenüber dem Anspruch eines Entgegenkommens interpretiert, das nicht zu weit gehen dürfe und irgendwie »im Rahmen« bleiben müsse. In der Tat geht es auch darum, dass sich entsprechende Maßnahmen in der Praxis überhaupt managen lassen, weshalb pragmatische Überlegungen ihren Stellenwert haben. Pragmatismus allein reicht aber nicht aus. Sonst könnte sich der bei vielen Menschen offenbar bereits bestehende Eindruck weiter festsetzen, dass die Verantwortungsträger in Staat und Gesellschaft lediglich auf den Druck einflussreicher religiöser Minderheiten reagieren und aus Konfliktscheu immer wieder neue Kompromisse aushandeln, hinter denen sich letztlich kein grundlegendes Konzept mehr erkennen lasse. Man sollte im Postulat von »reasonableness« in der Tat mehr als nur ein pragmatisches Caveat sehen, nämlich den Versuch, die konkreten, fallbezogenen Maßnahmen zum Umgang mit wichtigen religiösen Interessen innerhalb einer Gesamtsicht als insgesamt vernünftig auszuweisen. Dabei kommt dem Gleichheitsprinzip die Funktion des entscheidenden Kriteriums zu. Wir möchten dies an22 23
24 25
Gérard Bouchard/Charles Taylor, Building the Future. A Time for Reconciliation. Abridged Report, veröffentlicht von der Regierung von Québec, 2008, S. 25. Vgl. ebd., S. 25: »According to jurists, a given right may demand adjustments in treatment that must not be equated with privileges or exemptions since they are intended to remedy a flaw in the application of a statute or a regulation.« Ebd. Vgl. ebd., S. 38: »Accommodation or adjustment requests are thus limited by: a) the institution’s aim (provide care, educate, make profit, and so on; b) the financial cost and functional constraints; c) other people’s rights.«
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
hand einer Definition von »reasonable accommodation« aufzeigen, die Gabrielle Caceres vorgeschlagen hat: »Reasonable accommodation aims at relaxing generally applicable rules in order to guarantee a more substantive equality in which the specificities of everyone are taken into account«.26 Nach dieser Formulierung zielen adjustierende Maßnahmen auf eine »substanzielle Gleichheit«, die mehr sein soll als eine lediglich »formale Gleichheit«, insofern sie existenziell wichtige besondere Lebenslagen (»specificities«) der Menschen in Betracht zieht. Bemerkenswert ist sodann aber der Begriff »everyone«, den Caceres in ihrer Definition verwendet. Maßnahmen von »reasonable accommodation« sind demnach nur dann im vollen Sinne »reasonable«, wenn sie sich im Horizont des menschenrechtlichen Universalismus plausibel gegenüber jedem Menschen begründen lassen. Das Wort »everyone« kann dabei nicht heißen, dass eine für bestimmte Menschen in bestimmten Situationen gefundene Lösung unmittelbar auf alle anderen übertragen werden soll; das wäre absurd. Stattdessen ist es so zu verstehen, dass sich eine bestimmte Lösung über den konkreten Kontext hinaus gleichsam als ein Modell verstehen lassen müsste, welches auch für ähnlich gelagerte Problemsituationen Vorbild sein könnte. Mit anderen Worten: Die impliziten Kriterien, die einer gefundenen Lösung zugrunde liegen, sollten letztlich für jeden gleichermaßen plausibel und annehmbar sein – dies jedenfalls wäre die Anforderung. Um auf das Zitat zurückzukommen: Das Wort »everyone« ist zusammen zu lesen mit dem Begriff »specificities«. Menschen haben Anspruch darauf, in ihren »Besonderheiten« – d.h. in ihren je besonderen existenziellen Bedarfslagen – Berücksichtigung zu finden; aber das gilt eben für alle, die eine entsprechend analoge Lage plausibel darlegen können. Wirklich vernünftig können Maßnahmen von »accommodation« nur sein, wenn sie mit dem Geist der Gleichheit und des menschenrechtlichen Universalismus vereinbar sind; ja mehr noch, wenn sie letztlich aus diesem Geist heraus entwickelt werden. Vordergründig betrachtet haben Maßnahmen von »reasonable accommodation« oft den Charakter von Ausnahmeregelungen. Genau betrachtet müssten sie aber mehr sein als das, nämlich gleichsam »Präzedenzfälle«. Obwohl in einem spezifischen Kontext entwickelt, weisen sie zugleich über die Kontextbedingungen hinaus und schaffen ein Modell, auf das sich auch andere Menschen in vergleichbarer Problemlage berufen können; genau darin besteht ihr Präzedenzcharakter.27 26
27
Gabrielle Caceres, »Reasonable Accommodation as a Tool to Manage Religious Diversity in the Workplace: What about the ›Transposability‹ of an American Concept in the French Secular Context?«, in: Katayoun Alidadi/Marie-Claire Foblets/Jogchum Vrielinek (Hg.), A Test of Faith? Religious Diversity and Accommodation in the European Workplace, London: Ashgate, 2012, S. 283-316, hier S. 284. Vgl. W.C. Durham, »Religion and Equality«, a.a.O., S. 190: »The carve-out made by accommodation is not a distinction made for an arbitrary reason that creates an anomalous legal exception, but one driven by the need to take a fundamental constitutional norm into account.«
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Was dabei als »vergleichbare Problemlage« gelten soll, muss von Fall zu Fall bestimmt werden. Dies verlangt Kommunikationsbereitschaft von allen Seiten: einerseits Offenheit innerhalb der Gesellschaft für die Anliegen von Minderheiten, andererseits aber auch die Bereitschaft von Angehörigen der betroffenen Minderheiten, ihre besonderen Bedarfslagen gegenüber der Gesellschaft zu erläutern und ihre Dringlichkeit zu plausibilisieren. Letzteres wäre auch deshalb wichtig, um die Befürchtung zu zerstreuen, dass »reasonable accommodation« zum Einfallstor für immer weitergehende und womöglich auch immer trivialere Forderungen werden könnte. Recht verstanden aber geht es eben nicht um Wunschlisten und persönliche Präferenzen, sondern darum, Menschen in ihren existenziellen Interessen entgegenzukommen und ihnen sonst womöglich drohende Zerreißproben zu ersparen. In der angesprochenen Figur des Präzedenzfalls verschränken sich gewissermaßen Universalität und Kontextualität. Mit Blick auf die Präzedenzwirkung jeder fallbezogenen Lösung, die bei aller Spezifizität zugleich ein Modell auch für andere in vergleichbarer Lage sein kann, wird die bloße Kontextualität überschritten. Zugleich zeigt sich, dass der normative Universalismus der Menschenrechte, anders als oft unterstellt, keineswegs kontextblind ist, sondern Sensibilität für unterschiedliche Kontexte angemessen entwickeln kann. Dass Menschen in besonderen existenziellen Bedarfslagen (ganz gleich ob es sich um Flüchtlinge, Indigene, Menschen mit Behinderungen oder Angehörige religiöser Minderheiten handelt) zusätzliche Aufmerksamkeit erfahren, ist dem menschenrechtlichen Universalismus nicht nur nicht fremd, sondern notwendig inhärent. Es geht also nicht darum, den Universalismus durch »Sonderregelungen« lediglich zu ergänzen oder gar beliebig zu relativieren, sondern darum, ihn im Blick auf die unterschiedlichen Lebenslagen der Menschen und in Kommunikation mit allen Betroffenen passgenau weiterzuentwickeln. Analog zur Verschränkung von Universalität und Kontextualität verweisen auch Gleichheit und Differenz wechselseitig aufeinander. Sie stehen weder abstrakt gegeneinander noch beziehungslos nebeneinander, sondern gehören zusammen. Nicht nur handelt es sich bei der menschenrechtlichen Gleichheit, wie bereits erwähnt, von Hause aus um eine »differenzfreundliche« Gleichheit. Im Gegenzug gilt auch, dass die je spezifischen (»differenten«) Lösungen nur dann legitim sein können, wenn sie sich im Horizont der menschenrechtlichen Gleichheit als plausibel erweisen lassen. Der differenzfreundlichen Gleichheit entspricht insofern ein gleichheitsorientiertes Verständnis von Umgang mit Differenz. Mit der immer noch erstaunlich häufig angeführten Aristotelischen Formel »Gleiches gleich behandeln und Ungleiches ungleich behandeln« hat dies nichts zu tun. Im Kontext der Menschenrechte steht die Berücksichtigung relevanter Differenzen nicht unter der Überschrift der »Ungleichheit«, sondern bildet einen
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
Bestandteil angemessen komplexer Gleichheit; nur so lässt sie sich rechtfertigen und glaubwürdig durchhalten.
4.6
Die Behindertenrechtskonvention als Vorreiterin
Anders als im nordamerikanischen Kontext haben Gesetzgebung und Rechtsprechung in Europa gegenüber Ansprüchen auf »reasonable accommodation« bislang Zurückhaltung gezeigt. Ein von der EU finanziertes Forschungsprojekt zum Umgang mit religiöser Vielfalt in ausgewählten europäischen Staaten (»RELIGARE«) formuliert den ernüchternden Befund, dass »reasonable accommodation« zugunsten religiöser Minderheiten oft nicht einmal dort zum Zuge kommt, wo dies ohne nennenswerte finanzielle und sonstige Kosten möglich wäre.28 Auch in der Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte finden sich bislang nur wenige Entscheidungen, die in die Richtung von »reasonable accommodation« weisen. Ein orthodoxer Jude, der im Kontext einer zivilrechtlichen Klage darum ersuchte, einen auf den Yom Kippur, den höchsten jüdischen Feiertag, gelegten Gerichtstermin zu verschieben, blieb erfolglos, obwohl er sein Anliegen mehr als ein halbes Jahr vor dem angesetzten Termin vorgebracht hatte. Mit seiner Beschwerde vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gegen diese Entscheidung scheiterte er ebenfalls.29 Hingegen gab das Straßburger Gericht einem Gefängnisinsassen in Polen Recht, der als überzeugter Vegetarier fleischlose Kost verlangte und sich dabei auf sein Gewissen berufen hatte.30 Eine Angestellte von British Airways konnte über den Straßburger Gerichtshof erreichen, dass sie als praktizierende Christin im Dienst eine Halskette mit sichtbarem Kreuz tragen darf, obwohl die Fluggesellschaft zunächst ihre Vorstellungen einer geschlossenen »corporate identity« dagegen gestellt hatte.31 Mit diesen Entscheidungen hat der Straßburger Gerichtshof die Tür für »reasonable accommodation« zumindest ein Stück weit aufgestoßen. Zu hoffen bleibt, dass sich die Staaten auch in Europa dem zunächst in Nordamerika entwickelten Prinzip von »reasonable accommodation« in Zukunft weiter öffnen werden. Immerhin ist dieses Prinzip mittlerweile in einer internationalen Menschenrechtskonvention verankert worden, die auch von Deutschland ratifiziert 28
29 30 31
Vgl. Marie-Claire Foblets/Katayoun Alidadi, »The RELIGARE Report: Religion in the Context of the European Union: Engaging the Interplay between Religious Diversity and Secular Models«, in: M. Foblets et al. (Hg.), Belief, Law and Politics, a.a.O., S. 11-50. Vgl. EGMR, Sessa v. Italien (appl. 28790/08) vom 3. April 2012. Vgl. EGMR, Jakóbski v. Polen (appl. 18429/06) vom 7. Dezember 2010. Vgl. EGMR, Eweida v. Vereinigtes Königreich (appl. 48420/10, 36516/10, 51671/10, 59842/10) vom 15. Januar 2015.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
wurde, nämlich in dem Übereinkommen über die Rechte von Menschen mit Behinderungen, verabschiedet von der UN-Generalversammlung am 13. Dezember 2006. Bereits die Definition in Artikel 2 des Übereinkommens zeigt, dass »reasonable accommodation« nicht etwa auf Privilegierung, sondern auf Gleichheit zielt: »›Reasonable accommodation‹ means necessary and appropriate modification and adjustments not imposing a disproportionate or undue burden, where needed in a particular case, to ensure to persons with disabilities the enjoyment or exercise on an equal basis with others of all human rights and fundamental freedoms«.32 Artikel 5 Absatz 3 verpflichtet die Staaten, die Bedingungen dafür zu schaffen, dass »reasonable accommodation« zur Anwendung kommen kann: »In order to promote equality and eliminate discrimination, States Parties shall take all appropriate steps to ensure that reasonable accommodation is provided.« Bemerkenswert ist, dass die Verweigerung von Maßnahmen, die ohne unverhältnismäßige Härten für die jeweils betroffene Institution durchführbar wären, nach dem Übereinkommen fortan als Diskriminierung bewertet werden soll.33 Die Behindertenrechtskonvention erweitert damit das Verständnis von Gleichstellung – mit Konsequenzen für jede künftige Antidiskriminierungspolitik. Auch wenn sich das Übereinkommen auf die Rechte von Behinderten konzentriert, dürfte sie auch Auswirkungen auf den Umgang mit Diskriminierung in anderen Feldern haben, nicht zuletzt auch im Kontext der Religionsfreiheit, die bei der Entwicklung des Prinzips der »reasonable accommodation«, wie dargestellt, seit dem Sherbert-Fall des US Supreme Court historisch Pate gestanden hatte.
4.7
Der Beitrag der Religionsfreiheit zur Antidiskriminierungspolitik
Ausgangspunkt dieses Kapitels waren kritische Einwände, die unterstellen, dass Religionsfreiheit und Gleichheit per se in Gegensatz zueinander stünden. »To continue to use the word [religion] in law is to invite discrimination«, so lautet der zentrale Vorwurf. Bei Licht betrachtet, ist das Gegenteil wahr: Ohne Thematisierung religiöser »diversity« kann eine menschenrechtliche Gleichheitsagenda nicht erfolgreich sein. Sie mündet entweder in die Sackgasse eines repressiven, nämlich 32 33
UN-Generalversammlung Resolution 61/106, Annex I, Artikel 2 (Hervorhebung hinzugefügt). Innerhalb des Artikel 2, der die wichtigsten Begriffe der Konvention definiert, heißt es: »›Discrimination on the basis of disability‹ means any distinction, exclusion or restriction on the basis of disability which has the purpose or effect of impairing or nullifying the recognition, enjoyment or exercise, on an equal basis with others, of all human rights and fundamental freedoms in the political, economic, social, cultural, civil or any other field. It includes all forms of discrimination, including denial of reasonable accommodation.«
4 Auf dem Weg zu einer komplexen Gleichheit
homogenisierenden Gleichheitsbegriffs oder bleibt einem sterilen Antagonismus von Gleichheit versus Differenz verfangen, in dem keines der beiden Prinzipien angemessen zum Zuge kommen könnte. Wir haben zunächst einmal mehr klargestellt, dass die Religionsfreiheit sich auf Menschen bezieht, nicht unmittelbar auf Religionen. Aufgrund des dem Menschenrecht inhärenten Universalitätsanspruchs, ist die Religionsfreiheit weit zu interpretieren und schließt auch nicht-religiöse Grundüberzeugungen mit ein. Die dem Menschenrechtsansatz immanente Gleichheitsidee zielt auf eine freiheitliche und insofern differenz-freundliche Gleichheit, die das Gegenteil von Uniformität oder Homogenität – auf Englisch: »sameness« – meint. Die schwierige Aufgabe, auch versteckte Formen von Diskriminierung zu identifizieren und zu überwinden, hat uns schließlich auf Maßnahmen von »reasonable accommodation« verwiesen, die innerhalb der UN-Behindertenrechtskonvention mittlerweile (wenn auch zunächst bezogen auf den Umgang mit dem Thema Behinderung) den Stellenwert einer international verbindlichen Menschenrechtsnorm erhalten hat. »Reasonable accommodation« steht für das Bemühen, den Stellenwert menschenrechtlicher Gleichheit in konkrete Kontexte hinein angemessen zu übersetzen. Deshalb geht es gerade nicht um die Privilegierung der Angehörigen von Minderheiten, sondern um die Überwindung der – womöglich unbeabsichtigten – besonderen Härten, die dadurch entstehen können, dass in den allgemeinen Gesetzen hegemoniale Strukturen mit diskriminierenden Wirkungen für Minderheiten oft ungebrochen durchschlagen. Vielleicht wird sich dies nicht immer verhindern lassen; es gibt keine Erfolgsgarantie für jeden einzelnen Fall. Bemühungen um »reasonable accommodation« zu verweigern hieße aber, sich mit manchen indirekten und strukturellen Diskriminierungen schlicht abzufinden. Nach Einschätzung von Martha Nussbaum liefe dies für den US-amerikanischen Kontext sogar auf eine Verletzung des verfassungsrechtlichen Verbots von »Establishment«, d.h. der Etablierung einer Art Staatsreligion, hinaus: »[T]he denial of an accommodation for the free exercise of one’s own religion is a type of de facto establishment.It means that the majority’s religion has been written into law and minorities have been denied the same opportunity to legalize their own practices.«34 Übertragen auf die Situation in Deutschland hieße die Verweigerung von »reasonable accommodation«, dass man davon absehen würde, das Menschenrecht der Religionsfreiheit als Gestaltungsauftrag zur nicht-diskriminierenden Verwirklichung für alle Menschen zu begreifen. Ohne Gleichheit könnte aber auch die Freiheit nicht gedeihen.
34
Martha C. Nussbaum, The New Religious Intolerance. Overcoming the Politics of Fear in an Anxious Age, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2012, S. 93.
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5. Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
5.1
Menschenrechtliche Anliegen in Konflikt
In den vorangegangenen Kapiteln haben wir dargestellt, dass die Religionsfreiheit genau jene Prinzipien verkörpert, die den Menschenrechtsansatz als ganzen definieren – knapp zusammengefasst in Artikel 1 der Allgemeinen Erklärung: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren.« Wie alle anderen Menschenrechte ist auch die Religionsfreiheit im Lichte dieses Satzes zu lesen. Dass dies widerspruchsfrei möglich ist, haben wir mit Blick auf den normativen Universalismus (Kapitel 2), die freiheitliche Orientierung (Kapitel 3) und den Anspruch auf komplexe Gleichheit (Kapitel 4) aufgezeigt. Die dabei geleisteten Klarstellungen können dazu beitragen, etwaige klientelistische Verengungen, antiliberale Verdrehungen und leitkulturelle, also anti-egalitäre Vereinnahmungen im Umgang mit der Religionsfreiheit aufzubrechen. Denn in der Praxis ist die universalistische, freiheitsrechtliche und gleichheitsrechtliche Konturierung der Religionsfreiheit keineswegs ein für alle Mal eingelöst; sie bleibt »work in progress« und verlangt kritische Begleitung. Obwohl die Religionsfreiheit dieselben Strukturprinzipien aufweist, die auch für alle anderen Menschenrechte gelten, wird sie oftmals als ein schwieriges, »sperriges« Recht angesehen, das sich scheinbar nicht so recht in das Gesamt der Menschenrechte einfügt. »Freedom of religion and human rights laws – awkward bedfellows«, lautet der bezeichnende Titel eines Artikels von Peter Cumper.1 Die Skepsis, die in dieser Überschrift zum Ausdruck kommt, mag aus der Erfahrung herrühren, dass Anliegen der Religionsfreiheit öfter mit anderen menschenrechtlichen Interessen zusammenstoßen. So gerät die Autonomie religiöser Institutionen in Konflikt zu Ansprüchen auf gewerkschaftliche Organisationen von kirchlichen Bediensteten. Frauen haben nicht nur in der römisch-katholischen Kirche 1
Peter Cumper, »Freedom of religion and human rights laws – awkward bedfellows«, in: M. Van den Brink/S. Burri/J. Goldschmidt (Hg.), Equality and human rights: nothing but trouble?, Utrecht: Netherlands Institute of Human Rights, 2015, S. 283-304.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
nach wie vor keine Möglichkeit, geistliche Ämter zu bekleiden. Die Gewährleistung des Zugangs zu Leistungen der reproduktiven Gesundheit – ein Bestandteil des Menschenrechts auf Gesundheit – steht in Spannung zu Verweigerungen mancher Ärztinnen und Ärzte, die sich dabei auf ihre Gewissensfreiheit berufen. Manchmal werden sogar Anti-Blasphemiegesetze, die auf die Einschränkung der Meinungsfreiheit hinauslaufen, im Namen der Religionsfreiheit verteidigt. Es gibt Fälle, in denen Menschen die Anerkennung der Gleichberechtigung von Lesben und Schwulen unter Berufung auf die Religionsfreiheit verweigern. Ob und inwieweit die Inanspruchnahme der Religionsfreiheit in solchen Fällen zu Recht geschieht, wäre jeweils im Detail zu prüfen. Prima facie ist der Befund dennoch klar: Anliegen, die unter dem Titel der Religionsfreiheit vorgebracht werden, reiben sich oft genug mit anderen menschenrechtlichen Interessen. Folgt daraus, dass die Religionsfreiheit ein Hindernis für die vollumfängliche Verwirklichung der Menschenrechte bildet? Wäre es für die Durchsetzung mancher Rechte – etwa im Gender-Bereich – vielleicht einfacher, wenn man die Religionsfreiheit ignorieren oder beiseiteschieben könnte? Wichtig für die weitere Diskussion ist zunächst die Feststellung, dass normative Konflikte im Bannkreis unterschiedlicher Menschenrechtsnormen kein Spezifikum der Religionsfreiheit sind. Man findet sie im gesamten Feld menschenrechtlicher Praxis. Die Ausübung der Forschungsfreiheit kann mit dem Schutz privater Daten kollidieren; auch hier stehen gelegentlich zwei menschenrechtliche Titel gegeneinander. Mancher Gebrauch der Meinungsfreiheit gerät mit dem Anliegen der Rassismusbekämpfung in Konflikt. Und wenn Bürgerbewegungen gegen die Einrichtung eines Flüchtlingsheims in der Nachbarschaft protestieren und damit das Menschenrecht auf Asyl in Frage stellen, berufen sie sich gerne auf ihre Versammlungsfreiheit. Solche normativen Verknotungen begegnen in zahlreichen Varianten. Menschenrechtspraxis ist seit jeher auch eine Praxis des Umgangs mit schwierigen normativen Konfliktkonstellationen. Konflikte, in denen die Religionsfreiheit involviert ist, bilden da keine Ausnahme. Nun erleidet die menschenrechtliche Reputation der Meinungsfreiheit bemerkenswerterweise auch dann keine Einbuße, wenn sie gelegentlich von Flüchtlingsgegnern in Anspruch genommen wird. Ähnliches lässt sich für die Versammlungsfreiheit sagen. Auch PEGIDA-Anhänger dürfen selbstverständlich gewaltfrei demonstrieren; selbst ihre entschiedensten politischen Gegner stimmen dem in der Regel zu. Die Ausübung von Freiheitsrechten geschieht offenbar nicht immer in »freiheitsfreundlicher« Absicht. Dies ist nicht überraschend. Freiheitsrechte können eben in unterschiedlicher Weise und mit unterschiedlichen Intentionen eingesetzt werden; dies ergibt sich aus der strukturellen Offenheit jedes Freiheitsrechts für unterschiedliche Richtungen des Gebrauchs. Zwar können den Freiheitsrechten im Rahmen der dafür vorgesehenen Kriterien notfalls Schranken eingezogen werden, etwa dann, wenn ein bestimmter Freiheitsgebrauch andernfalls unmittel-
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
bar die Rechte anderer verletzen würde. Die Ausübung der Freiheitsrechte generell von freiheitlicher Gesinnung oder einer menschenrechtsfördernden Grundhaltung abhängig zu machen, würde die Freiheit aber von vornherein unter Generalvorbehalt stellen und damit zum Kollaps bringen. Die Menschenrechte gelten eben nicht nur für liberale Menschenrechtsfreunde. Mit der daraus resultierenden Spannung muss man umzugehen lernen. Im Allgemeinen gelingt das gar nicht schlecht. Im Falle der Religionsfreiheit scheint dies jedoch schwieriger zu sein. Wenn sie gelegentlich für Interessen ins Feld geführt wird, die der Gleichberechtigung der Geschlechter oder den Emanzipationsinteressen von Lesben und Schwulen im Wege stehen, scheint dies einen mancherorts womöglich schon lange gehegten Verdacht zu bestätigen, dass dieses Recht als solches ein Problem darstelle.2 In Kapitel 3 haben wir Positionen zitiert, wonach die Religionsfreiheit ein paradoxes Recht sei, weil sie, so die Unterstellung, eine Freiheit zur Unfreiheit normiere. Solche Fehlwahrnehmungen haben ihren Grund darin, dass die Religionsfreiheit oft als Rechtstitel für die Durchsetzung religiöser Machtinteressen oder gar religiöser Hegemonien missverstanden wird. Man kann deshalb nicht genug betonen, dass die Religionsfreiheit nicht ein Recht der Religionen, sondern ein Freiheitsrecht der Menschen im weiten Feld von Religion und Weltanschauung ist. Der Gebrauch dieser Freiheit kann dabei unterschiedlich ausfallen. Er kann sich zum Beispiel mit feministischen, liberalen oder mit konservativen und gelegentlich auch ultra-konservativen Interessen verbinden. Dass sich daraus von Zeit zu Zeit Reibungen und Konflikte mit anderen menschenrechtlichen Anliegen ergeben können, lässt sich weder bestreiten, noch ist dies eigentlich verwunderlich, folgt dies letztlich aus der prinzipiellen Offenheit der Freiheitsrechte für unterschiedliche Richtungen ihres Gebrauchs. Im Folgenden möchten wir zwei exemplarische Testfälle näher beleuchten, nämlich einerseits das Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit und andererseits Spannungen zwischen Religionsfreiheit und Gleichberechtigungsansprüchen, die im Kontext aktueller Gender-Debatten zu Buche schlagen. Bei allen unleugbaren Schwierigkeiten geht es uns darum, einen ganzheitlichen Menschenrechtsansatz aufrechtzuerhalten, für den die Wiener Weltmenschenrechtskonferenz von 1993 den Begriff der »Unteilbarkeit« aller Menschenrechte geprägt hat. Die vielzitierte Formel aus dem Abschlussdokument von Wien lautet: »Alle Menschenrechte sind universal, unteilbar, aufeinander angewiesen und auf-
2
So durchgängig der Tenor bei Elizabeth Shakman Hurd, Beyond Religious Freedom. The New Global Politics of Religion, Princeton: Princeton University Press, 2015.
99
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
einander bezogen.«3 Nur innerhalb eines solchen ganzheitlichen Verständnisses kann auch die Religionsfreiheit angemessen zum Zuge kommen.
5.2
Benachbarte Rechte: Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit
Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit sind in jedem Sinne des Wortes benachbarte Rechte.4 Ihre Nachbarschaft zeigt sich schon äußerlich darin, dass sie in Verfassungstexten und regionalen oder internationalen Menschenrechtsdokumenten typischerweise direkt aufeinander folgen. Im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland finden sich diese beiden Rechte in den Artikeln 4 und 5. Die EUGrundrechtecharta führt beide ebenfalls hintereinander, als Artikel 10 und 11 auf. In der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats firmieren sie als Artikel 9 und 10. Dieselbe Struktur zeigt sich auch in den beiden anderen Instrumenten eines kontinentalen Menschenrechtsschutzes, nämlich in der Amerikanischen Menschenrechtskonvention (Artikel 12 und 13) und in der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und Rechte der Völker (Artikel 8 und 9). Im UN-Kontext stehen die beiden Rechte gleichfalls in unmittelbarer Nachbarschaft. Sowohl die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte als auch der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte listet sie unter den Artikeln 18 und 19 auf. Nur am Rande vermerkt sei, dass die Verfassung der USA beide Rechte (und außerdem noch die Versammlungsfreiheit) in ein und demselben Artikel verbürgt, nämlich im berühmten ersten Zusatzartikel (»first amendment«) von 1791 zur US-Verfassung. Weit wichtiger als diese äußerliche Nachbarschaft ist die inhaltliche Nähe beider Rechte. In vielen Situationen können sich Menschen auf beide Rechte gleichzeitig berufen – man denke etwa an die Zensur religiöser Literatur oder an Predigtverbote. Sowohl bei der Religionsfreiheit als auch bei der Meinungsfreiheit handelt es sich wesentlich um geistige und kommunikative Freiheitsrechte. Zum einen geht es bei beiden Rechten um den Schutz der persönlichen geistigen Integrität der Menschen, die ihre Meinungen und religiösen oder weltanschaulichen Überzeugungen in Freiheit ausbilden und entwickeln können sollen. Zum anderen sollen die Menschen frei sein, ihre Positionen auch nach außen hin zu kommunizieren; auch das haben beide Rechte gemeinsam. Bei beiden Rechten besteht ferner für die Dimension des forum internum ein besonders ausgeprägter Schutz. Anders als 3
4
World Conference on Human Rights (1993). Vienna Declaration and Programme of Action, UN Doc. A/CONF.157/24 (Part I), Kapitel III, Sektion I, Ziffer 5, erster Satz. Auf Englisch lautet die Formel: »All human rights are universal, indivisible and interrelated and interdependent.« Vgl. die detaillierte Analyse in: Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 481-506.
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
die nach außen gerichteten kommunikativen Akte und Manifestationen, die nach bestimmten Kriterien, wenn es denn sein muss, eingeschränkt werden können, hat der Schutz der persönlichen Integrität sowohl innerhalb des Artikel 18 als auch innerhalb des Artikel 19 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte den Rang einer absoluten Norm. Auch in dieser Hinsicht sind Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit also ähnlich strukturiert. Es mag sich daher die Frage stellen, ob wir es hier überhaupt mit zwei eigenständigen Rechten zu tun haben. Könnte man beide nicht einfach zusammenlegen und beispielsweise die Religionsfreiheit als Unterfall der Meinungsfreiheit fassen?5 Solche Vorschläge werden ab und zu vorgebracht. Damit ginge allerdings Wichtiges verloren. Während die Meinungsfreiheit persönliche Sichtweisen in aller Breite schützt, konzentriert sich die Religionsfreiheit auf diejenigen Positionen, die für die persönliche Identität, Weltsicht und Lebenspraxis eines Menschen von grundlegender, existenzieller Bedeutung sind. So gesehen, ist sie spezifischer als die Meinungsfreiheit. Zugleich gewährleistet sie die Freiheit der Menschen, sich nach ihren identitätsstiftenden Überzeugungen auch lebenspraktisch auszurichten. Dies umfasst Initiationsrituale, Speisevorschriften, Bekleidungsregeln, Familienleben, religiöse Feiern, den Bau von Gotteshäusern, die Entwicklung religiöser Infrastruktur, die Orientierung an ethischen Vorstellungen usw. Solche Manifestationen tangieren letztlich alle Lebensbereiche und gehen über die freie Meinungsäußerung deutlich hinaus. Für eine muslimische Frau mag es wichtig sein, zum Thema Kopftuch nicht nur öffentlich ihre Meinung äußern zu können, sondern das Tuch am Arbeitsplatz oder in der Universität tatsächlich zu tragen – oder auch nicht zu tragen. Und ein Zeuge Jehovas wird sich nicht darauf beschränken wollen, seine kritische Meinung zum Militärdienst zu Protokoll zu geben oder sich in Leserbriefen dazu zu verbreiten; entscheidend ist die Möglichkeit, dass er den Waffendienst in Einklang mit seiner Gewissensposition tatsächlich verweigern kann und im Endeffekt nicht zum Militär geht. Patrick Loobuyck irrt, wenn er meint: »Religious freedom ultimately adds nothing to the freedom of expression.«6 Die genannten Beispielfälle sollten ausreichend deutlich machen, dass das Proprium der Religionsfreiheit gegenüber der Meinungsfreiheit vor allem im Respekt vor den lebenspraktischen Konsequenzen einer religiösen oder weltanschaulichen Überzeugung besteht. Gegenüber der Meinungsfreiheit ist sie daher keineswegs redundant. 5
6
So Artikel 10 der Menschen- und Bürgerrechtserklärung der Französischen Revolution vom 26. August 1789, der recht religionsskeptisch klingt, auch wenn er religiöse Positionen an der Meinungsfreiheit teilhaben lässt : »Nul ne doit être inquiété pour ses opinions, même religieuses, pourvu que leur manifestation ne trouble pas l’ordre public établi par la Loi.« Patrick Loobuyck, »Critical Remarks on the Pro-Religion Apriority of the RELIGARE Project«, in: Marie-Claire Foblet/Katayoun Alidadi/Jørgen S. Nielsen/Zeynep Yanasmayan (Hg.), Belief, Law and Politics: What Future for a Secular Europe?, London: Ashgate, 2014, S. 227-236, hier S. 236.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Es bleibt gleichwohl dabei, dass die beiden Rechte, bei aller jeweiligen Eigenständigkeit, in nicht nur vordergründigem Sinne eng »benachbart« sind. Gemeinsam schützen sie die Integrität geistiger Orientierungen, die Freiheit kommunikativer Äußerungen, die Möglichkeiten der Informationsgewinnung über Grenzen hinweg und die Voraussetzungen friedlicher Auseinandersetzungen zwischen konkurrierenden Positionierungen. Damit stärken sie zugleich die diskursive Demokratie, die ohne Meinungsfreiheit, Religionsfreiheit und andere Rechte kommunikativer Auseinandersetzung nicht funktionieren könnte. Umso erstaunlicher ist der Befund, dass das Verhältnis von Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit nicht selten als Antagonismus beschrieben wird. Vor allem im Kontext von Debatten über anstößige Formen von Religionskritik – Karikaturen, satirische Darstellungen, Schmähgedichte usw. – wird immer wieder unterstellt, die beiden Rechte stünden geradezu »wesenhaft« in Konflikt zueinander. Während die Meinungsfreiheit gern als urliberales Recht gehandelt wird, das einen weiten Raum für öffentliche Provokationen, künstlerische Experimente, Satiren und Karikaturen eröffnet, kommt die Religionsfreiheit eher als Rechtstitel für Einschränkungen solcher Freiheit ins Spiel – so jedenfalls eine verbreitete Wahrnehmung. Und während die Meinungsfreiheit kritische Diskurse auch zu religiösen Themen ermöglicht, steht die Religionsfreiheit, wie es scheint, eher für die Mahnung, es mit solcher Kritik nicht zu übertreiben. Die Meinungsfreiheit gilt, überspitzt gesagt, als das Freiheitsrecht des Tabubruchs, während die Religionsfreiheit scheinbar dazu auffordert, gewisse Tabuzonen letztlich eben doch zu respektieren. Selbst strafrechtliche Sanktionen für wie auch immer definierte »blasphemische« Äußerungen, die der Meinungsfreiheit Grenzen (in manchen Ländern bedrohlich enge Grenzen!) setzen, werden gelegentlich als Maßnahmen zum Schutz der Religionsfreiheit verbucht. Obwohl der Religionsfreiheit die freiheitsrechtliche Orientierung eigentlich geradezu auf die Stirn geschrieben ist, gilt sie im Vergleich zur Meinungsfreiheit oft als »weniger liberal«, wenn nicht gar als wertkonservative Bremse gegen einen allzu weitreichenden Gebrauch der liberalen Meinungsfreiheit. Solche antagonistischen Wahrnehmungen wurden und werden auch durch manche Gerichtsurteile gefördert. Ein bekanntes Beispiel ist der vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verhandelte Fall »Otto-Preminger-Institut gegen Österreich«. Dabei ging es um den Film »Das Liebeskonzil«, in dem zentrale Figuren der christlichen Heilserzählung in mehr oder minder explizite Sex-Szenen verwickelt werden. Die österreichischen Behörden hatten den Film aus dem Verkehr gezogen, weil sie darin einen Angriff auf die Gefühle der christlichen Bevölkerung sahen. Die den Film vertreibende Organisation, das Otto-Preminger-Institut, hatte unter Berufung auf die Meinungsfreiheit gegen diese Entscheidung geklagt. In seinem Urteil vom September 1994 sprach der Straßburger Gerichtshof die Republik Österreich vom Vorwurf der Verletzung der Meinungsfreiheit frei, weil es den Schutz religiöser Gefüh-
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
le als legitimen Grund für die Einschränkung der Meinungsfreiheit wertete. In der Begründung betonte das Gericht, es sei notwendig, zwischen der Ausübung zweier grundlegender Freiheitsrechte »abzuwägen«, nämlich zwischen der Verbreitung kontroverser Inhalte einerseits und dem Recht auf Religionsfreiheit andererseits. Hier die zentrale Passage des Urteils: »The issue before the Court involves weighing up the conflicting interests of the exercise of two fundamental freedoms guaranteed under the Convention, namely the right of the applicant association to impart to the public controversial views and, by implication, the right of interested persons to take cognisance of such views, on the one hand, and the right of other persons to proper respect for their freedom of thought, conscience and religion, on the other hand.«7 Wie die Religionsfreiheit der Menschen durch die Verbreitung eines – womöglich recht geschmacklosen – Films innerhalb der geschlossenen Räume einiger weniger Programmkinos beeinträchtigt wird, wiesen die Richter allerdings nicht im Einzelnen nach. Indem die Richter aus der Religionsfreiheit einen Anspruch auf rechtlich bewehrten Schutz religiöser Gefühle herleiteten, schoben sie außerdem den freiheitsrechtlichen Kern dieses Menschenrechts beiseite. Genau dies wurde von den Richtern Palm, Pekkanen und Makarczyk scharf kritisiert. In ihrem Minderheitenvotum betonten sie, dass es ein Recht auf Schutz religiöser Gefühle in der Europäischen Menschenrechtskonvention gar nicht gebe und dieses aus der Religionsfreiheit nicht hergeleitet werden könne: »The Convention does not, in terms, guarantee a right to protection of religious feelings. More particularly, such a right cannot be derived from the right to freedom of religion, which in effect includes a right to express views critical of the religious opinions of others.«8 In einem wiederum Österreich betreffenden Urteil vom 25. Oktober 2018 kam der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte – diesmal sogar einstimmig – zum Schluss, dass die nationalen Gerichte im Fall E.S. gegen Österreich die Rechte der Klägerin auf Meinungsfreiheit sorgfältig gegen die Rechte anderer auf Schutz ihrer religiösen Gefühle und Aufrechterhaltung des religiösen Friedens in Österreich abgewogen hätten. Außerdem wurde den nationalen Gerichten attestiert, sie hätten die zulässigen Grenzen der Kritik an religiösen – in diesem Fall islamischen – Orientierungen diskutiert und dabei festgestellt, dass die Statements der Klägerin geeignet gewesen seien, berechtigte Empörung unter Muslimen auszulösen.9 In dieser jüngeren Entscheidung konzedierte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den nationalen Gerichten einen weiten Ermessensspielraum, 7 8 9
EGMR, Otto-Preminger-Institut v. Austria (appl. 13470/87) vom 20. September 1994, Ziffer 55. EGMR, Otto-Preminger-Institut v. Austria, Joint Dissenting Opinion of the Judges Palm, Pekkanen and Makardzyk, Ziffer 6. EGMR, E.S. v. Austria (appl. 38450/12) vom 25. Oktober 2018, Ziffer 57.
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den sie nicht überschritten hätten, als sie den Kläger wegen der Verunglimpfung religiöser Vorstellungen verurteilten. Wie bereits erwähnt,10 fanden ähnliche Debatten über Jahre hinweg auch in den Foren der Vereinten Nationen statt, und zwar unter den Vorzeichen der »Bekämpfung von Religionsdiffamierungen« (»combating defamation of religions«). Zwischen 1999 und 2010 hatte die Organisation der Islamischen Konferenz (OIC) regelmäßig Resolutionen unter diesem Titel eingebracht, über die dann zumeist sehr kontrovers debattiert wurde. Die fehlende Präzision in der Bestimmung der zu bekämpfenden »Diffamierungen« war ein wichtiger Grund für die Befürchtung, dass die Resolutionen zum Vorwand für massive Beschneidungen der Meinungsfreiheit werden könnten. Am Rande vermerkt sei, dass die Resolutionen meist von Pakistan vorgebracht wurden, also von einem Land, das für seine drakonischen Anti-Blasphemiegesetze bekannt ist. In Pakistan können vage umschriebene Blasphemievorwürfe sogar die Todesstrafe nach sich ziehen, die in der Tat öfter verhängt, wenn auch bislang nie tatsächlich vollstreckt wurde.11 Es gehört zu den Verdiensten von Asma Jahangir, der UN-Sonderberichterstatterin über Religions- und Weltanschauungsfreiheit von 2004 bis 2010 (die übrigens ihrerseits aus Pakistan stammte!), dass sie allen Tendenzen zur freiheitswidrigen Verdrehung der Religionsfreiheit konsequent widersprochen hat. Auf dem Höhepunkt der Auseinandersetzung um die dänischen Mohammed-Karikaturen stellte sie klar, dass die Religionsfreiheit nicht das Recht beinhalte, von Religionskritik verschont zu bleiben: »Freedom of religion primarily confers a right to act in accordance with one’s religion but does not bestow a right for believers to have their religion itself protected from all adverse comment.«12 Jahangir bezog damit eine Position, die dem zitierten Minderheitenvotum im Fall Otto-Preminger-Institut gegen Österreich ähnelt. Bei allen Unterschieden zur Meinungsfreiheit, so Jahangir, teile die Religionsfreiheit mit dieser die Grundrichtung eines kommunikativen Freiheitsrechts. Wer die Religionsfreiheit zu einer systematischen Gegeninstanz zur Meinungsfreiheit aufbaue, leiste damit nicht nur unverhältnismäßigen Beschränkungen der Meinungsfreiheit ideologische Rückendeckung, sondern verdunkele vor allem auch den menschenrechtlichen Sinn der Religionsfreiheit selbst. Asma Jahangirs Nachfolger als UN-Sonderberichterstatter haben diese Linie seit 2010 konsequent fortgeführt.13 Den inhaltlichen Zusammenhang zwischen Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit als miteinander verwandte Freiheitsrechte festzuhalten, heißt keineswegs 10 11 12 13
Vgl. Kapitel 3.5.1. Vgl. Jo-Anne Prud’homme, Policing Belief: The Impact on Blasphemy Laws on Human Rights, Washington D.C.: Freedom House, 2010, S. 69-76. Vgl. A/HRC/2/3, Ziffer 37. Vgl. UN Docs. A/HRC/31/18, Ziffern 59-61; A/71/269, Ziffern 45-46; A/HRC/34/50, Ziffer 40; A/72/365, Ziffern 26-31.
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
zu leugnen, dass es zu konkreten Konflikten kommen kann.14 Wenn im Namen der Meinungsfreiheit vorgebrachte polemische Attacken gegen bestimmte Religionen und ihre Anhängerschaft eine solche Schärfe erreichen, dass sie die gesellschaftlichen Beziehungen vergiften und ein Klima der Einschüchterung schaffen, in dem manche Menschen sich schlicht nicht mehr trauen, sich öffentlich zu ihren Überzeugungen zu bekennen, könnte dies für die Betroffenen ggf. eine Beeinträchtigung ihrer Religionsfreiheit bedeuten. Insofern sind konkrete Friktionen zwischen Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit nicht ausgeschlossen. Aus dieser Möglichkeit auf einen generellen Antagonismus zwischen beiden Rechten zu schließen, wäre aber grundfalsch. Vielmehr gilt es, auch in etwaigen Konfliktkonstellationen Wege zu finden, die allen im Streit stehenden menschenrechtlichen Ansprüchen maximal gerecht werden. Falls es erforderlich sein sollte, einem der Rechte (oder beiden) konkrete Schranken einzuziehen, müssen sämtliche dafür vorgesehene Kriterien beachtet werden: Etwaige Beschränkungen müssen in einem öffentlichen, für jeden einsehbaren Gesetz formuliert werden; sie müssen einem legitimen Ziel (aus einer abschließend definierten Liste möglicher Ziele) dienen; außerdem müssen sie für die Erreichung des jeweiligen Ziels geeignet, erforderlich und verhältnismäßig sein. Die Kriterien, anhand derer die Legitimität konkreter Grenzziehungen kritisch zu prüfen ist, fallen für Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit bezeichnenderweise sehr ähnlich aus15 – was wiederum als Hinweis auf die enge Nachbarschaft beider Menschenrechte dienen mag.16 Vor einigen Jahren führte das UN-Hochkommissariat für Menschenrechte eine Serie von Expertenworkshops durch,17 die zur Klärung der Frage beitragen sollten, wie mit der Aufstachelung zu Hassakten – darunter auch religionsbezogene Hassakte – politisch und rechtlich umzugehen sei.18 Es bestand weitgehend Einig14 15 16
17 18
Vgl. Malcolm D. Evans, »The Freedom of Religion or Belief and the Freedom of Expression«, in: Religion and Human Rights, Bd. 4 (2009), S. 197-235. Vgl. Artikel 18 Absatz 3 bzw. Artikel 19 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Ein offizieller Kommentar zur Meinungsfreiheit, den der für die Umsetzung des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte zuständige UN-Ausschuss im Jahr 2011 formuliert hat (»General Comment Nr. 34«), ist deshalb auch für das Verständnis der Religionsfreiheit relevant. Dies gilt besonders für die darin formulierte Problematisierung von Anti-Blasphemiegesetzen, die nach wie vor in vielen Staaten der Welt, übrigens auch in einigen europäischen Staaten, existieren. Vgl. UN Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr. 34, UN Doc. CCPR/C/GC/34, Ziffer 48. Um regional unterschiedliche Perspektiven zu berücksichtigen, fanden die Workshops in Wien, Nairobi, Bangkok, Santiago de Chile und Rabat statt. Die UN-Sonderberichterstatter über Meinungsfreiheit und Religionsfreiheit, zusammen mit ihrem für Fragen des Rassismus zuständigen Kollegen, wirkten an diesen Konsultationen stets mit gemeinsam erarbeiteten Stellungnahmen mit. Vgl. Joint submissions by three Special Rapporteurs Heiner Bielefeldt, Frank La Rue and Githu Muigai to the 2011 OHCHR expert workshops on the prohibition of incitement to national, racial or reli-
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keit, dass die Schwelle für strafrechtliche Verbotsregelungen hoch bleiben muss, damit die Meinungsfreiheit beim notwendigen politischen und rechtlichen Vorgehen gegen Hassmanifestationen keinen Schaden leidet. Die auf Meinungsfreiheit spezialisierte Menschenrechtsorganisation »Article 19« legte diesbezüglich einen Kriterienkatalog bestehend aus mehreren Komponenten vor.19 Dazu gehören der gravierende Charakter von Akten der Aufstachelung, die bewusste Schadensabsicht, eine zu erwartende Breitenwirkung, die Wahrscheinlichkeit von tatsächlichen Schadenswirkungen und anderes mehr. Die Ergebnisse der Workshops wurden im Oktober 2012 in Rabat in einem Abschlussdokument zusammengetragen, das als »Rabat Plan of Action« bekannt geworden ist.20 Dieser Aktionsplan beschäftigt sich keineswegs nur mit der Frage nach Sinn und Grenzen von Verbotsnormen. Wirksamer als strafrechtliche Maßnahmen, die nur in extremen und gleichzeitig eindeutigen Fällen zur Anwendung kommen dürfen, sind kommunikative Gegeninitiativen. Schlagwortartig verdichtet lautet die Botschaft von Rabat: Die beste Antwort auf »hate speech« ist »positive speech«, d.h. der gezielte Einsatz der Meinungsfreiheit im Interesse von Klarstellungen, Gegendarstellungen und öffentlichen Solidaritätsbekundungen. Wer meint, religionsbezogener Hasspropaganda am ehesten mit repressiven Mitteln begegnen zu können, droht damit nicht nur eine Dynamik sukzessiver Beschränkungen der Meinungsfreiheit auszulösen, sondern unterstützt möglicherweise ungewollt auch die Selbstinszenierungen rechtspopulistischer Politiker. Für einen Geert Wilders ist jeder wegen seinen Äußerungen angestrengte Strafprozess eine Win-win-Situation. Einen Freispruch würde er als Bestätigung seiner Position verbuchen, eine Verurteilung würde er als Ritterschlag im Kampf gegen die angebliche Hegemonie der »political correctness« entgegennehmen. Abgesehen von den prinzipiellen Gründen für einen behutsamen Umgang mit etwaigen Einschränkungen der Meinungsfreiheit sprechen also auch pragmatische Erwägungen für einen sehr behutsamen Einsatz strafbewehrter Verbotsnormen. Umso mehr sind dann aber andere Maßnahmen gefordert. Die beste Strategie etwa gegen die islamophobe Propaganda der PEGIDA-Bewegung und ähnliche Gruppierungen sind phantasievolle Gegendemonstrationen, in denen Menschen ihre Wertschätzung religiöser Vielfalt zum Ausdruck bringen. Zugleich signalisieren Solidaritätsaktionen bedrängten Minderheiten, dass sie nicht alleine dastehen und dass der öffentliche Raum nach wie vor auch ihnen frei zugänglich bleibt.
19
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gious hatred, abrufbar unter https://www.ohchr.org/EN/Issues/FreedomOpinion/Articles1920/Pages/ExpertsPapers.aspx, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. Agnès Callamard, »Towards an Interpretation of Article 20 of the ICCPR: Thresholds for the Prohibition of Incitement to Hatred – Work in Progress«, abrufbar unter www.ohchr.org/ Documents/Issues/Expression/ICCPR/Vienna/CRP7Callamard.pdf, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. UN Doc. A/HRC/22/17/Add.4, Appendix.
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Zurück zum Rabat Plan of Action. Während er die Schwelle für etwaige Verbotsmaßnahmen aus guten Gründen sehr hoch hält, plädiert der Aktionsplan für mehr Pluralismus in den Medien, offene Kontroversen, Fairness und Genauigkeit in der Berichterstattung, Phantasie und Kreativität in Kritik und Gegenkritik, außerdem Solidaritätsaktionen seitens der Zivilgesellschaft zugunsten stigmatisierter Minderheiten, interkulturelle und interreligiöse Kommunikation, gezielte Medienerziehung in den Schulen, historische Bildung zur Überwindung von Stereotypen und vieles mehr. All diese und andere kommunikative Maßnahmen setzen den Respekt der Meinungsfreiheit voraus, dessen grundlegende Bedeutung für die Entwicklung einer öffentlichen Menschenrechtskultur ausdrücklich bekräftigt wird. Deshalb rufen der Rabat Plan of Action und weitere internationale Dokumente die Staaten dazu auf, Anti-Blasphemiegesetze abzuschaffen, die nach allen Erfahrungen auf unverhältnismäßige Beschränkungen der Meinungsfreiheit hinauslaufen.21 Dahinter steht zugleich die Einsicht, dass das Strafrecht kein geeignetes Mittel ist, einen angemessenen Umgang mit religiösen Sensibilitäten und Gefühlen zu befördern.22 Zur Meinungsfreiheit stellte das Bundesverfassungsgericht in einer vielzitierten Entscheidung von 1958 fest, dass sie »in gewissem Sinn die Grundlage jeder Freiheit«23 darstellt. Diese Aussage ist wörtlich zu nehmen. Ohne Meinungsfreiheit gäbe es, streng genommen, weder Versammlungsfreiheit noch Gewerkschaftsfreiheit, weder Parteiengründungsfreiheit noch wirksame Garantien für freie Wahlen und faire Gerichtsverfahren, und ohne sie gäbe es auch keine Religionsfreiheit. Im Unterschied zu Vorstellungen einer von Staats wegen gewährten religiösen »Toleranz« geht es beim Menschenrecht der Religionsfreiheit um verbürgte Rechtsansprüche, für die Menschen auch öffentlich eintreten können. Nur wenn die Möglichkeit besteht, in einem öffentlichen Diskurs Probleme direkt anzusprechen und gegen Rechtsverweigerungen öffentlich zu protestieren, können Freiheitsrechte wirksam werden. Deshalb gilt es, die Garantie der Meinungsfreiheit auch dann durchzuhalten, wenn bestimmte Äußerungen schrill, verstörend, geschmacklos und vulgär sind. Wie Jocelyn Maclure und Charles Taylor betonen, gehört es »zum Preis des Lebens in einer Gesellschaft, die die Ausübung der Gewissens- und Meinungsfreiheit schützt«, dass wir akzeptieren müssen, »mit 21
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Vgl. Rabat Plan of Action (UN Doc. A/HRC/22/17/Add.4, Appendix, Ziffer 25); Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights« (UN Doc. A/HRC/40/58, annex II, commitment XI); Plan of Action for Religious Leaders and Actors to Prevent Incitement to Violence that could lead to Atrocity Crimes (https://www.un.org/en/genocideprevention/documents/ Plan%20of%20Action%20Advanced%20Copy.pdf, abgerufen am 12. November 2019, S. 9). Zum Rabat Plan of Action vgl. auch Hans G. Kippenberg, Regulierungen der Religionsfreiheit. Von der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte zu den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Baden-Baden: Nomos, 2019, S. 77-79. BVerfGE, Bd. 7, S. 198 (Hervorhebung im Original).
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von uns als falsch, lächerlich oder verletzend beurteilten Glaubensüberzeugungen und Praktiken konfrontiert zu werden«24 . Die angemessene Reaktion besteht in der klarstellenden öffentlichen Gegenrede, die ggf. auch laut ausfallen und auf die Straßen getragen werden kann. Dass das Gedeihen der Religionsfreiheit tatsächlich an einem Klima diskursiver Offenheit hängt, wird nicht zuletzt durch die Gegenprobe deutlich: In Ländern, in denen die Meinungsfreiheit durch drakonische Anti-Blasphemie-Gesetzgebung bedroht wird, leiden nicht zufällig vor allem religiöse Minderheiten und religiös-weltanschauliche Dissidenten darunter. Die Abschaffung solcher Gesetze liegt daher nicht nur im Interesse der Meinungsfreiheit, sondern auch der Religionsund Weltanschauungsfreiheit. Dies zeigt einmal mehr, dass sich beide Menschenrechte in derselben Sinnrichtung bewegen. Wer die Religionsfreiheit systematisch zu einer Gegeninstanz zur Meinungsfreiheit aufbaut, schwächt somit die Durchschlagskraft beider.
5.3
Konfliktkonstellationen zwischen Religionsfreiheit und »Gender«
Während antagonistische Lesarten des Verhältnisses von Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit in der Regel auf Missverständnissen beruhen, die sich durch Klarstellungen ausräumen lassen, gilt dies für das Spannungsverhältnis zwischen Religionsfreiheit und Gender-bezogenen Menschenrechtsansprüchen weit weniger.25 Vielmehr stoßen wir hier tatsächlich auf zahlreiche Konflikte, die in der Sache nicht leicht und manchmal überhaupt nicht befriedigend gelöst werden können, aber dennoch entschieden werden müssen. Der Begriff »Gender« zielt zum einen auf die Gleichberechtigung von Frauen und Männern ab. Dieses Ziel befindet sich bereits in der UN-Charta. Näher ausbuchstabiert wurde es 1979 in dem Übereinkommen zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung der Frau, nach dem englischen Titel CEDAW genannt.26 In den letzten Jahrzehnten haben sich darüber hinaus Emanzipationsansprüche aufgrund sexueller Orientierung und Gender-Identität in menschenrechtlichen Foren Gehör verschafft. Dabei geht es um freie Selbstbestimmung und Gleichberechtigung von Lesben, Schwulen, Bisexuellen, Trans-Personen und intersexuellen Menschen, für die 24 25
26
Jocelyn Maclure/Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011, S. 144. Vgl. Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 363-389; Michael Wiener, »Freedom of Religion or Belief and Sexuality: Tracing the Evolution of the Special Rapporteur’s Mandate Practice Over Thirty Years«, Oxford Journal of Law and Religion, Bd. 6/2 (2017), S. 253-267. Convention on the Elimination of All Forms of Discrimination Against Women.
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
sich international das englische Akronym »LGBTI« durchgesetzt hat.27 Die Liste der betroffenen Gruppen verweist darauf, dass die Hindernisse auf dem Wege zur Gleichberechtigung im Einzelnen sehr unterschiedlich gelagert sind. Ein wichtiges, wenn auch nicht rechtsverbindliches Dokument, bilden die YogyakartaPrinzipien über die Anwendung der internationalen Menschenrechte hinsichtlich sexueller Orientierung und Gender-Identität aus dem Jahre 2006, erweitert im Jahre 2017.28 Zu den mittlerweile schon klassischen Konflikten in diesem Feld zählen die religiös motivierten Weigerungen mancher Eltern, ihre Kinder am SexualkundeUnterricht in den Schulen teilnehmen zu lassen. Auch Widerstände gegen die Koedukation von Jungen und Mädchen, vor allem im Sport- und Schwimmunterricht, werden gern mit der Religionsfreiheit begründet. Die Frage, ob das islamische Kopftuch eine Ungleichstellung von Frauen und Männern repräsentiert, wird hierzulande seit Jahrzehnten kontrovers debattiert. Eine weitere Dimension innerhalb des Spannungsfeldes von Religionsfreiheit und Gender tut sich mit Blick auf die internen Regelungen der Religionsgemeinschaften auf. In vielen Religionsgemeinschaften bleiben Frauen von geistlichen Ämtern systematisch ausgeschlossen; nicht nur der Vatikan stellt sich bis heute als geschlossene Männerbastion dar. Unter Berufung auf die Religionsfreiheit verbietet man sich Einmischungen, obwohl der Status quo unübersehbar diskriminierend ist. Hinzu kommen in jüngerer Zeit Konflikte durch den Anspruch auf Anerkennung unterschiedlicher sexueller Orientierungen und Gender-Identitäten. In den USA toben nach wie vor regelrechte Kulturkämpfe um die Gleichberechtigung von LGBTI-Personen in unterschiedlichen gesellschaftlichen Bereichen. Die Religionsfreiheit wird dabei gern von konservativer Seite ins Feld geführt. Hoteliers, die sich weigern, Homosexuellen ein Zimmer zu vermieten, oder Standesbeamte, die eine Mitwirkung an der Verheiratung oder Verpartnerung gleichgeschlechtlicher Paare für sich ausschließen, berufen sich auf ihre Gewissens- und Religionsfreiheit. Folgt aus all dem, dass die Religionsfreiheit ein Hindernis auf dem Weg zur Gleichberechtigung von Männern und Frauen und erst recht zur vollen Emanzipation von sexuellen Minderheiten bildet? Die Konflikte im Verhältnis von Religionsfreiheit und »Gender« sind im Einzelnen so unterschiedlich gelagert, dass ein Versuch, die verschiedenen Einzelfälle inhaltlich zu diskutieren, den Rahmen eines Buchkapitels sprengen würde. Wir 27
28
Vgl. Michael O’Flaherty, »Sexual Orientation and Gender Identity«, in: Daniel Moeckli/Sangeeta Shah/Sandesh Sivakumaran (Hg.), International Human Rights Law, Oxford: Oxford University Press, 2. Aufl. 2014, S. 331-344. Oft wird das Akronym LGBTI durch ein »Q« ergänzt, das für »queer« steht. Vgl. Yogyakarta Principles on the Application of International Human Rights Law in Relation to Sexual Orientation and Gender Identity, abrufbar unter: www.yogyakartaprinciples.org, abgerufen am 12. November 2019.
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werden uns deshalb im Folgenden darauf beschränken, einige skizzenhafte Hinweise typologischer Art zu geben. Nach einigen Beispielen für illegitime Berufungen auf die Religionsfreiheit, die meist auf Missverständnissen beruht (siehe unten 5.3.1), sprechen wir exemplarisch einige Themen an, in denen normative Konflikte tatsächlich bestehen und mit Sorgfalt anhand der dafür vorgesehenen Kriterien entschieden werden müssen (5.3.2). Eine etwas anders gelagerte Frage stellt der Umgang mit diskriminierenden Strukturen im Inneren der Religionsgemeinschaften dar; denn hier sind vor allem die Gläubigen selbst aufgerufen, etwas zu ändern (5.3.3). Abschließend möchten wir dafür plädieren, die unbestreitbaren Konflikte nicht in Richtung kulturkämpferischer Polarisierung zu überziehen, weil dies für viele Menschen eine Zerreißprobe bedeuten würde, die man ihnen, wenn möglich, ersparen sollte (5.3.4).
5.3.1
Falsche Berufungen auf die Religionsfreiheit
Religionsfreiheit schützt zwangsfreie religiöse Praxis. Nicht überall dort, wo »Religion« draufsteht, ist ein ernst zu nehmender Anspruch auf Religionsfreiheit vorhanden. Zum Beispiel können »harmful practices«, wie weibliche Geschlechtsverstümmelung, Kinderehen oder Zwangsverheiratungen, niemals durch die Religionsfreiheit gerechtfertigt werden. Solche Praktiken, unter denen vor allem Mädchen und Frauen leiden, werden typischerweise vom unmittelbaren Milieu-Umfeld, oft auch den Familien, der Betroffenen durchgeführt. Ob und inwieweit solchen und anderen »harmful practices« wirklich religiöse Motive zugrunde liegen, mag im Einzelnen strittig sein; auch innerhalb der Religionsgemeinschaften stoßen dazu oft gegensätzliche Positionen aufeinander, und es ist wichtig, dies zur Kenntnis zu nehmen. Selbst wenn man aber davon ausgeht, dass religiöse Interessen im Spiel sind, scheidet eine Rechtfertigung durch die Religionsfreiheit jedoch aus. Sollte sich jemand auf die Religionsfreiheit berufen, um beispielsweise die elterliche Verheiratung von Kindern zu begründen, müssten ggf. die einschlägigen Schrankenbestimmungen von Staats wegen zur Geltung gebracht werden. Dass weibliche Geschlechtsverstümmelungen, die für die Betroffenen ein lebenslanges Trauma bedeuten, im Namen eines Menschenrechts durchgeführt werden könnten, wäre eine monströse Vorstellung. Genauso wenig kann die Religionsfreiheit ein Rechtstitel für homophobe Hassmanifestationen sein. Wenn evangelikale Prediger in Uganda oder muslimische Geistliche in Malaysia zur Hatz auf Lesben und Schwule aufrufen, hat dies mit Menschenrechten und ergo auch mit Religionsfreiheit nichts zu tun. Falls Hasspropagandisten sich dennoch auf die Religionsfreiheit berufen sollten, müssten hier wiederum die erwähnten Schrankenbestimmungen zur Geltung kommen. Zwar haben Menschen das Recht, religiös oder anders motivierte Vorbehalte, beispielsweise gegen gleichgeschlechtliche Beziehungen oder gegen die Homo-Ehe, öffentlich zu artikulieren und gewaltfrei für ihre Positionen zu werben
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
und zu demonstrieren. Aufstachelungen zu Hass-Aktionen sind aber weder von der Meinungsfreiheit noch von der Religionsfreiheit her gedeckt. In gravierenden und eindeutigen Fällen kann es notwendig sein, im Rahmen der Rechtsstaatlichkeit strafrechtlich dagegen vorzugehen. Missverständnisse kursieren ferner hinsichtlich eines staatlich durchgesetzten religiösen Familienrechts, das – anders als gelegentlich unterstellt – gerade nicht als Manifestation der Religionsfreiheit gewertet werden kann. In vielen islamisch geprägten Staaten, aber etwa auch in Indien, Israel oder in Myanmar, ist das Familienrecht durchgängig religiös strukturiert.29 Für Muslime heißt dies, dass sie ihre Ehe-, Familien-, Scheidungs-, und Erbangelegenheiten nach der Scharia regeln. Für Juden gilt die Halacha, das jüdische Gesetz, und für Christen das kanonische Recht katholischer, orthodoxer, anglikanischer oder sonstiger Observanz. Auch weitere Religionsgemeinschaften, etwa Hindus, können unter Umständen nach ihren religionsrechtlichen Vorstellungen verfahren. Diese religiös begründeten familienrechtlichen Normen orientieren sich fast durchgängig an einer traditionellen Rollendifferenz von Männern und Frauen – mit etlichen diskriminierenden Folgen für Frauen. Zugleich haben sie auch diskriminierende Auswirkungen für Atheisten, Agnostiker oder Konvertiten, die in solchen familienrechtlichen Systemen eigentlich keinen Platz haben; auch manche interreligiösen Ehekonstellationen sind von vornherein ausgeschlossen. Unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten problematisch ist vor allem aber die Tatsache, dass ein solches konfessionell strukturiertes Familienrecht von Staats wegen durchgesetzt wird; denn staatliche Durchsetzung bedeutet im Ergebnis stets die Möglichkeit – also zumindest die Androhung – staatlicher Zwangsvollstreckung religiöser Normen. Traditionalisten sämtlicher Konfessionen mögen bestrebt sein, diese Struktur beizubehalten, weil es ihnen Einfluss sichert. Auf die Religionsfreiheit können sie sich dabei aber nicht legitimerweise berufen. Denn als Freiheitsrecht ist die Religionsfreiheit mit staatlichen Zwangsmaßnahmen im Feld des Religiösen sachlich unvereinbar. Es sollte sich von selbst verstehen, dass Forderungen nach Einführung von Scharia-Strafrecht erst recht mit Religionsfreiheit nichts zu tun haben, auch dann nicht, wenn einige weithin anerkannte religiöse Autoritäten solche Forderungen unterstützen. Im Rahmen mancher Scharia-Strafrechtsvorstellungen werden homosexuelle Aktivitäten drakonisch bestraft; sie können sogar die Todesstrafe nach sich ziehen. Ob dabei religiöse Vorstellungen wie die biblische und koranische Geschichte von Sodom noch nachwirken, spielt für die menschenrechtliche Bewertung keine Rolle. Religionsfreiheit ist Menschenrecht, nicht staatlich durchgesetztes Religionsrecht. Diese an sich triviale Tatsache kann angesichts zahlloser Missver29
Vgl. Mathias Rohe, Das Islamische Recht. Geschichte und Gegenwart, München: C.H. Beck, 3. erweiterte Aufl. 2011, S. 79-99.
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ständnisse und Verwirrungen nicht oft genug eingeschärft werden. Es gibt keinen Unsinn, der der Religionsfreiheit nicht gelegentlich angedichtet wird.
5.3.2
Angemessener Umgang mit schwierigen Konfliktsituationen
Mit dem Hinweis auf irrtümliche, unsinnige bzw. illegitime Berufungen auf die Religionsfreiheit ist das Thema natürlich keineswegs erledigt. Es bleibt ein breiter Raum, in dem wir es mit komplizierten normativen Konflikten zu tun haben. Parlamente, Gerichte und andere zuständige Institutionen sind berufen, dazu Entscheidungen zu fällen. So urteilte der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte über den Fall einer Registrierungsbediensteten aus England (im deutschen Kontext würde man von einer »Standesbeamtin« sprechen), die sich als evangelikale Christin weigerte, an der Stiftung gleichgeschlechtlicher Partnerschaften mitzuwirken und deshalb ihren Job verlor. Die Beschwerdeführerin, Lilian Ladele, unterlag in diesem Fall. Das gespaltene Votum der Straßburger Richter (fünf standen dafür, zwei dagegen) zeigt aber, wie schwierig der Entscheidungsprozess war.30 Streit gibt es immer wieder auch im Kontext der »reproduktiven« Medizin. Im Oktober 2010 nahm die Parlamentarische Versammlung des Europarats eine Resolution an, die den Titel trägt: »the right to conscientious objection in lawful medical care«. Sie beschäftigt sich unter anderem mit religiös motivierten Vorbehalten gegen die Mitwirkung an bestimmten medizinischen Maßnahmen, etwa Schwangerschaftsabbrüchen.31 Mit 56 Ja-Stimmen bei 51 Nein-Stimmen und 4 Enthaltungen erhielt die Resolution die denkbar knappste Zustimmung. Das schwedische Parlament verlangte einige Monate später öffentlich die Rücknahme dieser Europaratsresolution und berief sich dabei auf die Interessen von Frauen, gesicherten Zugang zu allen Maßnahmen der Reproduktionsmedizin zu erhalten.32 Dieser un30
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Vgl. EGMR, Eweida and others v. UK (appl. 48420/10, 36516/10, 51671/10, 59842/10), vom 15. Januar 2013. Bezogen auf aktuelle kulturkämpferische Polarisierungen rund um das Thema der Homo-Ehe mahnt Maria Valero Estrellas sorgfältige Konfliktbearbeitung an. Vgl. Maria J. Valero Estrellas, »State Neutrality, Religion, and the Workplace in the Recent Case Law of the European Court of Human Rights«, in: W. Cole Durham, Jr./Donlu Thayer (Hg.), Religion and Equality. Law in Conflict, London: Routledge, 2016, S. 35-55, hier S. 45: »Conscientious objection to specific work-tasks connected with same-sex couples is an emerging and highly sensitive issue that should not be played out as an easy game of win-all or lose all.« In diesem Zusammenhang bedauert die Autorin, dass in dem oben erwähnten Ladele-Fall – anders als in manchen vergleichbaren Fällen – kein pragmatischer Kompromiss erzielt werden konnte. PACE resolution 1763 (2010). Der Resolutionstext beginnt mit den Worten: »No person, hospital or institution shall be coerced, held liable or discriminated against in any manner because of a refusal to perform, accommodate, assist or submit to an abortion, the performance of human miscarriage or euthanasia or any act which could cause the death of a human fetus or embryo, for any reason.« Vgl. www.astra.org.pl/pdf/bulletin/biuletyn_97.pdf, abgerufen am 12. November 2019.
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gewöhnliche Vorstoß belegt, wie hart umkämpft das Themenfeld ist. Nicht nur Gerichte und Parlamente, sondern auch Menschenrechtsorganisationen vertreten zu solchen Fragen oft weit auseinander liegende Positionen. Wie eine angemessene Lösung in solchen Konfliktkonstellationen aussehen soll, lässt sich meist nicht vorab von außen sagen. Viel hängt von den Besonderheiten des jeweiligen Streitfalles ab, die deshalb zunächst mit empirischer Präzision erfasst werden müssen. Auch in normativer Hinsicht ist Sorgfalt geboten. Die normativen »Verknotungen«, die sich zeigen, lassen sich in der Regel nicht mit einem beherzten Schwertstreich durchschlagen, sondern müssen gleichsam mit der Pinzette aufgelöst werden. Dabei gilt es, alle Menschenrechtsansprüche, die in einem bestimmten Fall konkret ins Spiel kommen, ernst zu nehmen, einschließlich der Kriterien für mögliche Beschränkungen, die stets präzise zu handhaben sind.33 Nicht legitim wäre es, einen der menschenrechtlichen Gesichtspunkte schon im Vorfeld dadurch preiszugeben, dass man sich an einer abstrakten Hierarchie der Rechte orientiert; denn für alle Menschenrechte gilt gleichermaßen, dass sie letztlich »unveräußerlich« sind. Sowenig es deshalb in Frage kommt, die Religionsfreiheit durch einen generellen Vorrang der Gleichberechtigung der Geschlechter oder Gender-bezogener Emanzipation schon vorweg zu entwerten, sowenig lässt sich die Religionsfreiheit als abstrakt-prioritär handhaben – mit der Folge, dass ihr andere menschenrechtliche Interessen, etwa die Gleichberechtigung der Geschlechter oder die Emanzipation sexueller Minderheiten, schlicht nachgeordnet werden könnten. In der deutschen juristischen Literatur hat sich für die hier anstehende Aufgabe der von Konrad Hesse geprägte Begriff der »praktischen Konkordanz« eingebürgert.34 Er steht für das Ziel, im Konfliktfall die verschiedenen menschenrechtliche Ansprüche so miteinander zu koordinieren und so aufeinander abzustimmen, dass sie allesamt nach Maßgabe des Möglichen maximal gewahrt bleiben. Die Leitidee der praktischen Konkordanz wendet sich damit einerseits gegen abstrakte Normhierarchien, wonach ein Recht das andere schlicht »übertrumpfen« und damit faktisch beiseite fegen könnte, und andererseits gegen die mit dem Begriff der »Abwägung« typischerweise einhergehende Vorstellung, es gelte einen Kompromiss irgendwo »in der Mitte« zwischen den konfligierenden Rechten zu suchen. Die erste Vorstellung liefe darauf hinaus, den Konflikt nach einer »winner takes all«-Logik zu entscheiden: die eine Seite bekommt hundert Prozent, die andere geht leer aus. 33 34
Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.4. Vgl. Konrad Hesse, Grundzüge des Verfassungsrechts der Bundesrepublik Deutschland, Heidelberg: C. F. Müller, 20. Auflage, Neudruck 1999, Rdn. 72; Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 190.
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Dies kann menschenrechtlich nicht legitim sein; denn der Anspruch, dass letztlich alle Menschenrechte ein unteilbares Ganzes bilden, wäre hier gänzlich aufgegeben. Die andere, nicht weniger problematische Vorstellung steht in Gefahr, menschenrechtliche Substanz nach einer »fifty-fifty«-Regel vorschnell zu opfern. Beiden gemeinsam ist die zumeist implizite Orientierung an einer Nullsummenlogik, wonach die eine Seite verlieren muss, was die andere gewinnt. Genau darin besteht das Grundproblem. Demgegenüber bricht die Leitidee der praktischen Konkordanz mit der Nullsummenlogik: Auch im Falle normativer Konflikte gilt es, auf allen Seiten die menschenrechtliche Substanz, soweit wie irgend möglich, aufrechtzuerhalten. Mit anderen Worten: jede Abweichung vom vollen Gewährleistungsgehalt der Menschenrechte – und zwar auf allen Seiten des Konflikts – bedarf einer sorgfältigen Rechtfertigung nach den dafür vorgesehenen Kriterien. In manchen Fällen mag eine genauere Betrachtung Zweifel aufwerfen, ob überhaupt eine echte Normenkollision vorliegt. Dies gilt beispielsweise für diverse Auseinandersetzungen um das Kopftuch, dem oft vorschnell zugeschrieben wird, für ein frauenfeindliches Gesellschaftsmodell zu stehen und mit Freiheit und Gleichberechtigung der Frau generell unvereinbar zu sein. Solche Zuschreibungen sind in der Regel zu pauschal, als dass sich restriktive Regelungen damit plausibel rechtfertigen ließen. Die deutsche Rechtsprechung hat in Sachen Kopftuch einige Lernprozesse hinter sich, wie vor allem die Kopftuchentscheidung des Bundesverfassungsgerichts vom Januar 2015 zeigt.35 Dabei ging es einmal mehr um das aus religiösen Gründen getragene Kopftuch von Lehrerinnen im öffentlichen Schuldienst. Auch wenn das Gericht in Erwägung zieht, dass in manchen Situationen das Kopftuch einer Lehrerin eine problematische Signalwirkung entfalten könnte, es also im Einzelfall durchaus Gründe geben mag, auf Verzicht des Kopftuches gegenüber der Lehrerin zu bestehen, hält das Gericht das von Nordrhein-Westfalen erlassene generelle Verbot im Schuldienst für unverhältnismäßig. Allein mit dem Hinweis, dass es zu Konflikten kommen könnte, eine so weitreichende Verbotsnorm zu begründen, schieße über das Ziel hinaus und sei deshalb mit der Religionsfreiheit unvereinbar. Seit jeher stellt die Schule ein besonders sensibles Konfliktfeld dar. Soll der Staat eingreifen, wenn im islamischen oder christlichen Religionsunterricht ultrakonservative Vorstellungen der Geschlechterrollen vermittelt werden? Soll die Schulbehörde auch dann auf die Durchsetzung des koedukativen Sport- und Schwimmunterrichts dringen, wenn dies für betroffene Mädchen aus religiösen Minderheiten Gefahren von Stigmatisierung und persönliche Konflikte mit sich bringt? Soll dabei ein Ganzkörperbadeanzug, der sogenannte »Burkini« zugelassen werden, oder würde dies existierende Stigmatisierungen sogar noch verstärken? 35
Vgl. BVerfGE, Bd. 138, S. 296.
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Kann es in eng begrenzten Einzelfällen Dispens vom schulischen Sexualkundeunterricht geben, wenn Eltern darauf bestehen, oder wäre es geboten, »den Anfängen zu wehren« und den hohen Stellenwert des Rechts auf Bildung zu verteidigen? Religionsfreiheit, Gleichberechtigung der Geschlechter, Elternrechte und Kinderrechte, nicht zuletzt das Recht des Kindes auf schulische Bildung sind in solchen Auseinandersetzungen in komplizierter Weise konflikthaft ineinander verwoben. Klar ist, dass die Religionsfreiheit kein Titel dafür sein kann, Kinder in ihren Bildungsrechten zu beschneiden; dies wäre mit der Idee der praktischen Konkordanz unvereinbar. Der Raum für etwaige Abstriche an der Schulpflicht, zu der natürlich auch Sport- und Schwimmunterricht sowie Sexualkunde integral gehören, bleibt eng begrenzt. Nur in äußersten Ausnahmesituationen, wenn es darum geht, Kindern und Jugendlichen eine ansonsten offensichtlich drohende existenzielle Zerreißprobe zu ersparen, könnten gewisse Konzessionen notfalls vertretbar sein.36 Dabei wäre dann aber strikt darauf zu achten, dass aus einer Ausnahmeregelung nicht unter der Hand ein Modell auch für andere wird.
5.3.3
Diskriminierende Strukturen im Innern der Religionsgemeinschaften
Zusätzliche Schwierigkeiten ergeben sich, sobald interne Regelungen der Kirchen oder anderer Religionsgemeinschaften betroffen sind. Natürlich sind die internen Angelegenheiten der Religionsgemeinschaften kein rechtsfreier Raum, aus dem sich der Staat schlicht herauszuhalten hätte. Wohl allerdings hat er die Autonomie religiöser Gemeinschaften als Bestandteil der Religionsfreiheit grundsätzlich zu respektieren. Daraus ergeben sich rote Linien, die der Staat nicht überschreiten darf. Dies gilt insbesondere für die Ausfüllung religiöser Ämter, deren Ausgestaltung allein den Religionsgemeinschaften obliegt.37 Dem Staat ist es daher verwehrt, beispielsweise das Priestertum der Frau innerhalb der römisch-katholischen Kirche mit gesetzlichen Maßnahmen durchzusetzen. Auch die CEDAWVerpflichtung, für Gleichberechtigung von Frauen und Männern in allen Bereichen der Gesellschaft zu sorgen, verleiht dem Staat kein »jus reformandi« in religionsinternen Angelegenheiten. Läuft dies im Ergebnis auf einen Vorrang der Religionsfreiheit hinaus, die hier zuletzt dann also doch eine pauschale Bremswirkung gegenüber der Gleichberechtigung der Geschlechter entfaltet? Auf den ersten Blick mag dies so erscheinen. Al36
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Der angemessene Weg besteht in jedem Fall darin, auf vertrauensbildende Maßnahmen zu setzen, etwa Elterngespräche, Schulsozialarbeit, pragmatische Arrangements bei der Durchführung bestimmter Unterrichtseinheiten, beispielsweise im Sportunterricht. Solche Fragen sind keine bloße Äußerlichkeit, sondern haben historisch immer wieder Anlass für Auseinandersetzungen, ja Spaltungen geboten. Vgl. Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief. An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 180-190.
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lerdings werden Menschenrechte nicht ausschließlich durch staatliche Durchsetzung wirksam. »Human rights travel«, sagt man gelegentlich im Englischen, und die »Reisewege« der Menschenrechte können unterschiedlich ausfallen; sie verlaufen nicht ausschließlich entlang staatlicher Durchsetzungsmaßnahmen. Längst sind die Menschenrechte auch in religiöse Selbstverständnisse eingesickert. Sie werden in theologischen Seminaren diskutiert, bilden Gegenstände von Predigten und gemeindeinternen Unterschriftenaktionen. Dass Frauen von geistlichen Ämtern ausgeschlossen sind, können beispielsweise viele Mitglieder der römisch-katholischen Kirche überhaupt nicht nachvollziehen.38 Hier haben sich Mentalitäten längst verändert, denen die Strukturen hinterherhinken. In unterschiedlichen religiösen Kontexten – in Christentum, Judentum, Islam oder Buddhismus – gibt es längst Reformbewegungen, die auf Geschlechtergleichberechtigung auch im Inneren der Gemeinschaften zielen. Die Altkatholische Kirche, die sich im Gefolge des Ersten Vatikanischen Konzils verselbständigte und deren weltweites Zentrum in Bonn liegt, hat sich zum Priestertum der Frau – nach einigen Vorlaufprozessen – endgültig 1996 bekannt.39 Innerhalb des Protestantismus hat man sich längst auch an Bischöfinnen gewöhnt und die evangelisch-lutherische Kirche in Schweden wird seit einigen Jahren von einer ursprünglich aus Westfalen stammenden Erzbischöfin geleitet.40 Nach heftigen Auseinandersetzungen haben sich mehrere protestantische Kirchen dazu durchgerungen, auch in gleichgeschlechtlichen Partnerschaften lebende Pfarrerinnen und Pfarrer zu akzeptieren. Reformrichtungen im Judentum und Islam kennen längst auch Rabbinerinnen bzw. weibliche Imame. Im April 2017 fand in Indonesien eine landesweite Konferenz islamischer Imaminnen statt, die u.a. eine klare Absage an die Praxis der Polygamie formulierte.41 Laut Ayelet Shachar setzen Frauen die vormals exklusiven Männerbastionen jedenfalls immer mehr unter Druck, was in der Regel nicht ohne heftige Auseinandersetzungen abgeht: »The challenges for feminist and other equity-seeking religious interpreters are significant. Beyond gaining access to the historically male-dominated ›temple of 38
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Wenn das Priestertum der Frau derzeit kein besonders aufregendes Thema in römisch-katholischen Gemeinden zu sein scheint, sollte dies nicht zu dem Schluss führen, der Status quo werde weithin akzeptiert. Vielleicht ist das Gegenteil der Fall, nämlich, dass viele Katholiken schon lange keine Lust mehr haben, solch anachronistische Fragen überhaupt noch ernsthaft zu diskutieren. Vgl. Daniel Bogner, Ihr macht unsere Kirche kaputt … aber wir werden das nicht zulassen, Freiburg i.Br.: Herder, 2019. Vgl. www.alt-katholisch.de/information/frauenordination.html, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. www.svenskakyrkan.se/om-arkebiskop-antje-jackelen, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. www.asianews.it/news-en/West-Java,-Muslim-women-conference-rejects-polygamy40592.html, abgerufen am 12. November 2019.
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knowledge,‹ they must work within the tradition’s hermeneutic horizons so that their re-interpretative claims cannot be dismissed as ›inauthentic‹. This path of change-from-within may take years to achieve, but the winds of change are already blowing through the world’s major religious traditions.«42 Muslimische Frauenorganisationen wie MUSAWAH, eine globale Bewegung für Gleichberechtigung der Geschlechter, stellen Scharia-Familienrechtsnormen aus feministischer Perspektive kritisch auf den Prüfstand; zugleich orientiert sich MUSAWAH an der CEDAW-Konvention. Zainah Anwar, die Leiterin der Bewegung, beklagt: »The woman’s voice, the woman’s experience, the woman’s realities have been largely silent and silenced in the reading and interpretation of the text. This human silence was mistaken as the silence of the text, as if God did not speak to women’s suffering and questioning.«43 Organisationen wie MUSAWAH, die sich kritisch mit Diskriminierungen im Kontext religiöser Normen beschäftigen, haben mit enormen Problemen zu kämpfen: Sie erleben Mobbing, werden als »Nestbeschmutzerinnen« beschimpft, und in manchen Staaten können sie aufgrund eines restriktiven politischen Klimas überhaupt nicht existieren. Dennoch sind auch sie mittlerweile zum Bestandteil internationaler religiöser Reformbewegungen geworden. Wie erwähnt, stellen die von Staats wegen mit Zwang durchgesetzten religiösen Familienrechtsnormen ein Problem für die Religionsfreiheit dar, und sie diskriminieren in der Regel zugleich Frauen. An diesem Beispiel lässt sich illustrieren, dass hier ein enormes Synergiepotenzial besteht. Die in diesem Feld engagierten innerreligiösen Reformerinnen und Reformer können sich durchaus gleichzeitig auf beide Menschenrechte berufen: die Religionsfreiheit, die den Raum auch für religionsinterne Debatten eröffnet und schützt, und die menschenrechtlich verankerte Gleichberechtigung der Geschlechter.44 42
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Ayelet Shachar, »Entangled: family, religion and human rights«, in: Cindy Holder/David Reidy (Hg.), Human Rights. The Hard Questions, Cambridge: Cambridge University Press, 2013, S. 115135, hier S. 127. Zainah Anwar, »From Local to Global: Sisters in Islam and the making of Musawah«, in: Ziba Mir-Hosseini/Kari Vogt/Lena Larsen/Christian Moe (Hg.), Gender and Equality in Muslim Family Law. Justice and Ethics in the Islamic Legal Tradition, London: Tauris, 2013, S. 107-124, hier S. 108f. Vgl. Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights«, A/HRC/40/58, annex II, commitment III: »As religions are necessarily subject to human interpretations, we commit to promote constructive engagement on the understanding of religious texts. Consequently, critical thinking and debate on religious matters should not only be tolerated but rather encouraged as a requirement for enlightened religious interpretations in a globalized world composed of increasingly multi-cultural and multi-religious societies that are constantly facing evolving challenges«. Vgl. auch commitment V über gender equality, das von religiösen Zitaten aus Talmud, Koran, Bibel, Hadith, Guru Granth Sahib und 'Abdu’l-Bahá untermauert wird. Der Hochkommissar für Menschenrechte verglich diesen Ansatz mit einer »referential bridge – instead of an ocean of divide – between faith and rights« (https://www.ohchr.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Noch recht neu sind auch Projekte von »queer theology« (ein deutsches Wort dafür existiert bislang nicht), religiöse Quellen und Tradition aus der Perspektive sexueller Minderheiten zu beleuchten. Erste Ansätze lassen sich bis in die späten 1960er Jahre zurückverfolgen. Die »Metropolitan Community Churches« begannen damals damit, gleichgeschlechtlichen Partnerschaften einen kirchlichen Segen zu geben.45 Diese Praxis hat auch in einigen alt-etablierten Kirchen Schule gemacht. So feiert die Lutherisch-Evangelische Kirche in Dänemark oder Norwegen gleichgeschlechtliche Ehen offiziell in ihren Kirchenräumen und unter Mitwirkung von Pfarrern oder Bischöfen.46 Eine neuere Exegese der berüchtigten Geschichte von Sodom stellt darauf ab, dass es dabei eigentlich um die Skandalisierung von sexueller Gewalt, nicht von Homosexualität gehe.47 Unter dem sprechenden Titel »Is green part of the rainbow?« werfen Javaid Rehman und Eleni Polymenopoulou die Frage auf, ob die Farbe des Islams – grün – mit dem Symbol der LGBTIQ-Bewegung – dem Regenbogen – vereinbar ist. Sie kommen dabei zu dem Ergebnis: »Islam in its early manifestations provided a more egalitarian and positive attitude towards homosexuality and lesbianism than did the other monotheistic religions.«48 Gewiss muss man davon ausgehen, dass solche Töne bislang nur bei einer sehr kleinen Minderheit von Muslimen positive Resonanz finden. Ob sich dies in Zukunft ändern wird, bleibt abzuwarten. Gleichwohl kann man feststellen, dass entsprechende Debatten begonnen haben49 – jedenfalls dort, wo dies angstfrei möglich ist. In solchen Reformdebatten ist die Religionsfreiheit nicht schlicht parteiisch: Sie beinhaltet nicht von Haus aus eine Präferenz für innovative, liberale, feministische oder queer-Positionen gegenüber eher konservativen, traditionalistischen oder Mainstream-Sichtweisen. Sie ist ein Recht aller Menschen, nicht nur der Progressiven, sondern auch konservativer Skeptiker. Gleichwohl trägt sie dazu bei, dass gesellschaftlich marginalisierte religiöse oder weltanschauliche Überzeugungen größere Chancen der öffentlichen Artikulation erhalten. Insbesondere in traditionalistischen Kontexten kann sie eine Eröffnung religiöser Diskurse ermuti-
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org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22504&LangID=E, abgerufen am 12. November 2019). Vgl. http://mccchurch.org/overview/ourchurches, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. www.bbc.com/news/world-europe-18363157, abgerufen am 12. November 2019; www. reuters.com/article/us-norway-gaymarriage-idUSKBN15E1O2, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. www.queertheology.com/sodom-gomorrah-homosexuality-bible. Javaid Rehman/Eleini Polymenopoulou, »Is green part of the rainbow? Sharia, Homosexuality and LGBT Rights in the Muslim World«, in: Fordham International Law Journal, Bd. 37 (2013), S. 1-52, hier S. 50. Vgl. zum Beispiel www.mpvusa.org/who-we-are, abgerufen am 12. November 2019: »We seek to reinvigorate the Islamic tradition of ijtihad (critical engagement and interpretation of sacred texts) and intellectual discourse.«
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
gen, in denen innerreligiöse Reformbewegungen, feministische Theologien, Gender-sensible Neu-Erschließungen religiöser Quellen oder auch generelle Religionskritik vielleicht erstmals überhaupt zu Wort kommen. Wie bereits betont, darf der Staat in interreligiöse Orientierungs- und Reformprozesse nicht direkt eingreifen. Andernfalls würde er sich ein theologisches Mandat anmaßen, was nicht nur gegen die Religionsfreiheit verstieße, sondern auch mit dem Selbstverständnis eines säkularen Rechtsstaats unvereinbar wäre. Wohl allerdings soll der Staat Rahmenbedingungen dafür schaffen, dass innerreligiöse Auseinandersetzungen angstfrei möglich sind – was angesichts eines mancherorts massiven Milieudrucks kein triviales Postulat ist. Wiederum kommt der Religionsfreiheit dabei eine Schlüsselrolle zu. Sie schützt die Vielfalt der Überzeugungen nicht nur zwischen, sondern auch innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaften – natürlich auch im Kontext von »Gender«.
5.3.4
Überwindung abstrakter Polarisierungen
Wer das schwierige Verhältnis von Religionsfreiheit und Gender als einen Nullsummen-Konflikt beschreibt, wonach die eine Seite nur das gewinnt, was die andere Seite verliert, greift in der Sache daneben.50 Weder müssen Erfolge in Sachen Religionsfreiheit stets durch eine Verhärtung patriarchaler Diskriminierungsstrukturen erkauft werden, noch kann echte Emanzipation nur durch Preisgabe religiöser Identitäten gelingen. Abstrakt-dichotomische Sichtweisen werden komplexen Lebenswirklichkeiten nicht gerecht. Außerdem müssten sie die Hoffnungen all derjenigen Menschen zunichtemachen, deren Lebenssituation im Schnittbereich beider Menschenrechte liegt. Dazu zählen beispielsweise Frauen aus religiösen Minderheiten, von denen viele (nicht unbedingt alle) eben beides gleichzeitig wollen: sowohl Respekt ihrer religiösen Freiheit, die in einer Minderheitensituation besonders wichtig sein kann, als auch die Gleichberechtigung als Frau, die ihnen womöglich von ihrem eigenen Milieu-Umfeld erschwert wird. In unseren Breiten betrifft dies derzeit vor allem muslimische Frauen. Viele von ihnen sehen sich dem Druck einer gesellschaftlich konstruierten Dichotomie ausgesetzt: religiöse Loyalität oder gesellschaftliche Integration, Kopftuch oder Emanzipation, Herkunft oder Zukunft usw. Manche von ihnen mögen eine solche antagonistische Kategorisierung angemessen finden, weil sie bestehende Spannungen zur Sprache bringt. Die Vielfalt persönlicher Biographien und Lebenswege generell in ein solch schlichtes Entweder-Oder hineinzupressen, ist aber nicht nur empirisch 50
Vgl. Elisabeth Holzleithner, »Intersektionen von Gender und Religion im Menschenrechtsdiskurs: Der Fall sexueller Orientierung«, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Bd. 5 (2011), Nr. 1, S. 22-40.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
unsinnig, sondern auch respektlos, weil es das Selbstverständnis der Betroffenen, ihre Lebenswelt und ihr kreatives Potenzial von vornherein ignoriert.51 Die in den Menschenrechten anerkannte Freiheit der Menschen bezieht sich nicht nur auf das Ziel emanzipierter Lebensführung, sondern schließt – dies ist nicht weniger wichtiger – auch die Vielfalt möglicher Wege hin zu diesem Ziel ein. Die Emanzipation von Frauen (und natürlich auch von Männern) aus religiös begründeten patriarchalischen Strukturen kann auf unterschiedlichen Wegen stattfinden: Sie kann aus dem religiösen Kontext herausführen; kann aber auch innerhalb eines religiösen Referenzsystems stattfinden. Feministische Theologinnen kämpfen oft gegen erhebliche Widerstände darum, durch alternative Lektüre der religiösen Quellen neue Freiräume zu erschließen.52 Andere ziehen es vor, sich überhaupt nicht mit Fragen von Religion oder Weltanschauung auseinanderzusetzen, und halten sich aus entsprechenden Debatten heraus. Wiederum andere mögen sich dafür entscheiden, mit religiösen Traditionen offen zu brechen, was schwierige Konflikte in der Familie und Nachbarschaft nach sich ziehen kann. Den je angemessenen Weg zur Freiheit zu finden – aus der Religion heraus, innerhalb eines religiösen Referenzrahmens oder auch in Gleichgültigkeit zur Religion –ist zuletzt Sache der Menschen, deren freie Entscheidung in jedem Fall Respekt und Unterstützung verlangt. Die Religionsfreiheit mahnt solchen Respekt an. Deshalb ist sie auch für eine Agenda, die Emanzipationsbestrebungen von Frauen fördert, nicht nur kein Hindernis, sondern ein notwendiger Bestandteil. Vor allem aber trägt sie dazu bei, religiöse Traditionen für einen kritisch-diskursiven Umgang überhaupt erst zu öffnen. Diese Überlegungen lassen sich analog auch auf das Verhältnis zwischen Religionsfreiheit und Rechtsfragen zur sexuellen Orientierung bzw. Gender-Identität übertragen. Wer die schwierigen Konflikte, die sich auf diesem Gebiet hartnäckig halten, in abstrakt-dichotomische Kategorien presst, wird weder der Lebenswirklichkeit vieler Menschen noch den anstehenden politisch-rechtlichen Aufgaben gerecht. Vielmehr besteht die Gefahr, dass durch ein künstlich auferlegtes »Entweder51
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Eine solche schlichte Entgegensetzung, mit großem publizistischem Erfolg etwa von Necla Kelek formuliert, zerschneidet die Lebenswirklichkeit vieler Frauen. Schlimmer noch: Die perzeptive Verengung der Optionen auf ein radikales Entweder-Oder läuft darauf hinaus, all denjenigen Frauen, die sich um eine Verbindung von persönlicher Freiheit mit religiöser Lebensführung bemühen, jedwede öffentliche Anteilnahme zu verweigern. Vgl. zum Beispiel Necla Kelek, Die fremde Braut. Ein Bericht aus dem Inneren des türkischen Lebens in Deutschland, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2005; dies., Die verlorenen Söhne. Plädoyer für die Befreiung des türkisch-muslimischen Mannes, Köln: Kiepenheuer & Witsch, 2006. Vgl. zum Beispiel Ziba Mir-Hosseini, »Classical fiqh, contemporary ethics and gender justice«, in: Kari Vogt/Lena Larsen/Christian Moe (Hg.), New Directions in Islamic Thought. Exploring Reform and Muslim Tradition, London: Tauris, 2009, S. 77-88; Zainar Anwar (Hg.), WANTED. Equality and Justice in the Muslim Family, Kuala Lumpur: SIS Forum, 2009.
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
Oder« Lebenswelten buchstäblich zerschnitten werden – vor allem in einem Klima kulturkämpferischer Aufheizung. Zwar dürften viele Lesben, Schwule oder TransPersonen mit Religion primär unangenehme Erfahrungen – etwa die Stigmatisierung eines angeblich »sündigen« Lebenswandels – verbinden und sich deshalb gegenüber Religionen distanziert oder ablehnend verhalten. Es wäre aber falsch anzunehmen, dass dies das gängige Muster oder die einzige Option sei. Vielmehr gibt es auch in diesem Feld eine Vielfalt der Lebenswege und Lebenswünsche. So haben interne (nicht-repräsentative) Umfragen unter schwulen Männern in Bangladesch ergeben, dass die meisten von ihnen religiös interessiert und praktizierend sind; viele nehmen regelmäßig am islamischen Freitagsgebet teil.53 Warum sollte man sie vor die Alternative von religiöser oder sexueller Freiheit stellen? Eine solche Alternativstellung wäre künstlich und würde insbesondere denjenigen Menschen Unrecht tun, die eben beides wollen: in Einklang mit ihrer religiösen Identität leben und zu ihrer sexuellen Orientierung oder Gender-Identität stehen. Wenn die Menschenrechte den Menschen gerecht werden sollen, müssen die verschiedenen Dimensionen des Menschseins darin miteinander berücksichtigt werden. Dies muss sich in einer vernünftigen Koordination der unterschiedlichen Menschenrechtsnormen widerspiegeln. Auf einer Konferenz zu Religionsfreiheit und menschlicher Sexualität, die im Juni 2016 im Genfer Völkerbundpalast stattfand, plädierte die stellvertretende UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Kate Gilmore, in diesem Sinne für ein ganzheitliches Menschenrechtsverständnis, gerade auch in Bezug auf Religionsfreiheit und Gender-bezogene Menschenrechte.54 Die beiden womöglich existenziellsten Dimensionen menschlichen Lebens – Glaube und Liebe – abstrakt gegeneinander auszuspielen und Menschen entsprechenden Zerreißproben auszusetzen, so Gilmore, könne nur zu Unrecht führen; dass dies manchmal gar im Namen der Menschenrechte geschehe, sei unerträglich. Denn die Menschenrechte dienten dazu, künstlich auferlegte Trennungen aufzubrechen. Zwar sei ein ganzheitlicher Menschenrechtsansatz keine Erfolgsgarantie, er verbessere aber immerhin die Chancen dafür, dass Menschen die unterschiedlichen Aspekte ihrer Identität miteinander in Einklang bringen und dafür Respekt in ihrem Umfeld, auch innerhalb ihrer Religionsgemeinschaften, erfahren können. 53
54
Dies zeigte sich während einer UN-fact-finding-Mission in Bangladesch, im Gespräch mit einem Netzwerk schwuler Männer, die sich – aus Sicherheitsgründen – normalerweise nur über das Internet austauschen. Vgl. UN Doc. A/HRC/31/18/Add.2, Ziffern 92-95. Die stellvertretende Hochkommissarin für Menschenrechte, Kate Gilmore, moderierte das Abschlusspodium der Konferenz »Religious Freedom and Human Sexuality«, die der UNSonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit, Heiner Bielefeldt, in Kooperation mit der Organisation »Muslims For Progressive Values« im Juni 2016 im Genfer Völkerbundpalast durchführte (siehe www.ohchr.org/Documents/Issues/Religion/ FORBAndSexuality.pdf, abgerufen am 12. November 2019).
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
5.4
Die produktive Rolle der Religionsfreiheit
Zurück zu den Ausgangsfragen dieses Kapitels: Handelt es sich bei der Religionsfreiheit um einen sperrigen Rechtstitel, der ins Gesamtgefüge der Menschenrechte nicht ganz hineinpasst? Blockiert das Insistieren auf Religionsfreiheit womöglich Fortschritte in anderen menschenrechtlichen Bereichen? Wäre eine konsequente Antidiskriminierungsagenda leichter durchzuführen, wenn man nicht auch noch Rücksicht auf Belange der Religionsfreiheit nehmen müsste? Die Antwort auf diese und ähnliche Fragen lautet Nein – es handelt sich dabei aber um kein ganz einfaches Nein. Wie wir gesehen haben, beruhen antagonistische Lesarten des Verhältnisses von Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit meist auf Missverständnissen, insbesondere auf einer Vernachlässigung des freiheitsrechtlichen »Empowerment«, das die Religionsfreiheit mit anderen Freiheitsrechten teilt. Wenn man die Religionsfreiheit hingegen konsequent als Freiheitsrecht fasst, wie dies in ihren einschlägigen völkerrechtlichen Verbürgungen klar niedergelegt ist, wird deutlich, dass sie keineswegs zum Vorwand für restriktive Anti-Blasphemiegesetze oder religionspolitisch motivierte Zensurmaßnahmen taugt. Die Unterstellung, zwischen Religionsfreiheit und Meinungsfreiheit bestehe ein »wesenhafter« Antagonismus, bricht dann schnell in sich zusammen (womit nicht bestritten ist, dass es gelegentlich zu konkreten Friktionen kommen kann). Wenn es um Gender-Fragen geht, erweist sich die Gesamtkonstellation als komplizierter. Zwar wird auch im Kontext solcher Debatten die Religionsfreiheit immer wieder gründlich missverstanden. Wer zum Beispiel staatlich durchgesetzte religiöse Familienrechtsnormen als Manifestation der Religionsfreiheit verteidigt, übersieht, dass es sich um ein Freiheitsrecht der Menschen handelt und gerade nicht um einen staatlichen Rechtstitel zur Durchsetzung religiöser Gesetze. Gleichwohl bleiben viele schwierige Konflikte zwischen Religionsfreiheit und Gender bestehen, die sich nicht als Ergebnis bloßer Missverständnisse abtun lassen. Um komplizierten Fallkonstellationen gerecht zu werden, braucht es empirische Sorgfalt sowie Präzision in der Handhabung der relevanten Normen. Kulturkämpferische Polarisierungen helfen dabei ganz sicher nicht; sie haben stets etwas Gewaltsames an sich und stellen Menschen vor ein angeblich striktes Entweder-Oder, das in der Regel weder ihrer Lebenswirklichkeit noch ihren Bedürfnissen und Wünschen gerecht wird. Kein Zweifel: Die Religionsfreiheit kann ein Faktor zusätzlicher »Komplikation« werden. Sie erweist sich manchmal als ein schwieriger, sperriger Anspruch. Dies liegt jedoch letztlich daran, dass die Subjekte der Menschenrechte Wesen mit komplexen Identitäten sind, und es empfiehlt sich, dies in Rechnung zu stellen. Es wäre nicht viel gewonnen, wenn eine feministische Agenda, die sich der Überwindung von Geschlechterstereotypen verschreibt, an anderer Stelle alte oder neue
5 Die Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte – zwei Testfälle
Klischees reproduziert und etwa kopftuchtragende muslimische Frauen pauschal als Opfer oder Komplizinnen eines religiös unterbauten Patriarchats stigmatisiert. Dafür gibt es immer noch viele Beispiele.55 Mittlerweile haben auch rechtspopulistische Bewegungen gelernt, selektive und in aller Regel äußerst vordergründige Anleihen bei moderner Emanzipationsrhetorik zu machen, um daraus einen Stolperdraht für Migrantinnen und Migranten insbesondere aus muslimisch geprägten Ländern zu drehen. Viele Vertreterinnen des Feminismus weisen dies als Missbrauch klar zurück.56 Eine den Menschenrechten verpflichtete Antidiskriminierungsarbeit muss jedenfalls darauf achten, dass sie gegenüber entsprechenden Instrumentalisierungen klar Abstand hält. Ohne systematische Einbeziehung der Religionsfreiheit in die Antidiskriminierungsagenda dürfte dies kaum gelingen. Deshalb sollte die Religionsfreiheit ein Element der Qualitätssicherung feministischer und anderer Gender-bezogener Antidiskriminierungsprogramme sein.57 Wenn man den zu Beginn dieses Kapitels eingeführten Begriff der »Unteilbarkeit«58 aller Menschenrechte wörtlich nimmt, impliziert er, dass jedes einzelne Menschenrecht eine unverzichtbare Funktion für das Gesamtsystem der Menschenrechte wahrnimmt. Die Vernachlässigung eines bestimmten Menschenrechts würde demnach nicht nur eine konkrete Schutzlücke hinterlassen, sondern darüber hinaus das Ganze der Menschenrechte schwächen, vielleicht sogar zum Kollaps bringen. In vielen Fällen ist dies breit akzeptiert. Ohne die Justizrechte, die für Fairness im Gerichtsprozess sorgen sollen, kann man sich Menschenrechte überhaupt nicht vorstellen; dem wird jeder zustimmen. Dasselbe gilt, wie bereits erwähnt, für die Meinungsfreiheit. Nach Kant fungiert die »Freiheit der Feder« als 55
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Vgl. Bassam Tibi, »Syrien und Deutschland«, in: Alice Schwarzer, Der Schock. Die Silvesternacht von Köln, Köln: Kiepenheuer & Witsch 2016, S. 91-97, hier S. 93: »Unabhängig vom Krieg ist das Frauenbild in der arabisch-orientalischen Kultur patriarchalisch, ja umfassend menschenverachtend. Dieses Frauenbild darf in Europa nicht unter dem Mantel des Respekts für andere Kulturen geduldet werden. Und es geht dem arabischen Mann bei der ausgeübten sexuellen Gewalt nicht nur um die ›sexuelle Attraktion‹ der europäischen Frau, sondern auch um den europäischen Mann, dessen Ehre der Orientale beschmutzen will.« Es erstaunt schon, dass eine Herausgeberin, die sich feministischer Aufklärung verpflichtet sieht, in ihrem Buch einen Text abdruckt, in dem es vor essentialistischen Kollektivsingularen (»der arabische Mann«, »die europäische Frau« usw.) nur so wimmelt. Vgl. zum Beispiel Sherene H. Razack, »Imperilled Muslim women, dangerous Muslim men and civilised Europeans: Legal and social responses to forced marriages«, in: Feminist Legal Studies, Bd. 12 (2004), S. 129-174. Im Gegenzug gilt natürlich genauso, dass eine Agenda für die Religionsfreiheit nur durch die Offenheit auch für Gender-Themen ihren menschenrechtlichen Universalismus beglaubigen kann. Im Englischen unterscheiden sich die Begriffe ›indivisibility‹ to ›invisibility‹ nur durch zwei Buchstaben, vgl. Michael Wiener, »Freedom of Religion or Belief and Sexuality: Tracing the Evolution of the Special Rapporteur’s Mandate Practice Over Thirty Years«, Oxford Journal of Law and Religion, Bd. 6/2 (2017), S. 253-267, hier S. 264.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
»das einzige Palladium der Volksrechte«59 . Eine unverzichtbare EmpowermentFunktion kommt auch dem Recht auf Bildung zu, weil es die Voraussetzungen dafür stärkt, dass Menschen für ihre eigenen Rechte und für die Rechte anderer wirksam eintreten können. Man könnte die Reihe der Beispiele fortsetzen. Auch die Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit ist für den Menschenrechtsansatz als ganzen tragend. Denn in ihr kommt die Dimension existenzieller, identitätsstiftender Überzeugungen zum Ausdruck, die das Menschsein wesentlich ausmachen. Selbst die »Komplikationen«, die sich in der Praxis der Religionsfreiheit manchmal zeigen, spiegeln Aspekte des Menschseins wider, auf deren Beachtung ein umfassender Menschenrechtsansatz nicht verzichten kann, wenn man dem Subjekt der Rechte – den Menschen in ihrer vielfältigen Lebenswelt – gerecht werden will.
59
Kant, Zum Ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe Bd. VIII, Berlin 1912, S. 304.
6. Religionsfreiheit und säkularer Staat
Welche Konsequenzen ergeben sich aus der Religionsfreiheit für die Ausgestaltung des Verhältnisses zwischen Staat und Religionsgemeinschaften? Verlangt die Religionsfreiheit zwingend einen säkularen Staat? Wenn ja, was genau bedeutet das? Sollte der Staat sich aus Religionsfragen generell heraushalten, oder kann er auch »Religionspolitik« betreiben? Das sind die Leitfragen des vorliegenden Kapitels. Im Kern geht es dabei um unterschiedliche Konzepte staatlicher Säkularität.
6.1
Zum Einstieg: drei Länderbeispiele
Wer meint, die Staatenwelt lasse sich durch eine schlichte Zweiteilung von religiösen und säkularen Staaten beschreiben, sollte sich auf Überraschungen gefasst machen. Im Verhältnis von Staat und Religion zeigen sich nicht nur vielfältige, sondern oft auch verwirrende Konstellationen. Zum Einstieg schauen wir uns kurz drei weniger bekannte Beispiele an.
6.1.1
Kasachstan1
Wir sind zu Besuch in einer Vorzeigeschule in Almaty, der ehemaligen Hauptstadt der zentralasiatischen Republik Kasachstan. Religion kommt in den öffentlichen Schulen des Landes als Unterrichtsfach so gut wie gar nicht vor. Nach Informationen der Schulleitung erhalten die Schülerinnen und Schüler lediglich in der 9. Klassenstufe ein Jahr lang Informationen über religiöse Themen. Innerhalb dieses Unterrichts spielen Warnungen vor »schädlichen Sekten« und religiösem Extremismus eine zentrale Rolle. Wir fragen die beiden Lehrerinnen, die sich für ein Gespräch bereitgefunden haben, ob sie im Rahmen des schulischen Unterrichts mit den Jugendlichen schon einmal eine der in der Nachbarschaft gelegenen Moscheen oder Kirchen besucht haben. Die Frauen reagieren beinahe erschrocken. »Wir sind eine säkulare Schule«, beteuern sie umgehend. 1
Zum Folgenden vgl. den Bericht zur UN-fact-finding-Mission in Kasachstan: UN Doc. A/HRC/28/66/Add.3 (vom 27. Januar 2015).
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Im säkularen Raum der Schule und anderer öffentlicher Institutionen Kasachstans ist für Religion kein Platz. Kopftücher oder andere sichtbare religiöse Symbole sind tabu. Religiöse Praxis hat ausschließlich in den dafür vorgesehenen Räumen stattzufinden, also in Moscheen, Kirchen und ähnlichen Einrichtungen, die für genau solche Zwecke von den Behörden lizensiert worden sind. Wer sich außerhalb der dafür vorgesehenen Kanäle religiös betätigt, muss mit staatlichen Sanktionen rechnen: mit Geldstrafen und im Wiederholungsfall auch mit härteren Maßnahmen. Auf diese Weise bleibt Religion strikte Privatsache. In der Armee kennt man folglich auch keine Militärgeistlichen. »Wir sind ein säkularer Staat, und wir haben eine säkulare Armee«, erläutert man uns. Kasachstan bietet ein Beispiel für ein ausgesprochen restriktives, geradezu hermetisches Verständnis staatlicher Säkularität. Manches erinnert an den türkischen Kemalismus alter Schule, der darauf abzielte, die Staatsinstitutionen und das öffentliche Leben von etwaigen »subversiven« Tendenzen religiöser Kräfte freizuhalten. Hinzu kommt das nach wie vor sehr spürbare postsowjetische Erbe des staatlichen Autoritarismus mitsamt seinen notorischen Kontrollobsessionen. Die »Trennung« von Staat und Religionsgemeinschaften ist deshalb keine wechselseitige Freisetzung beider, sondern bleibt einseitig: Während sich der Staat jedwede religiöse Einrede verbietet, unterwirft er die Religionsgemeinschaften einem straffen Kontrollregime. Gleichzeitig wird die in der Verfassung versprochene Religionsfreiheit administrativ in ein schwer durchschaubares System staatlicher Lizensierung aufgespalten, was dazu führt, dass die Menschen auf den Status permanenter Antragsteller verwiesen werden. Wer beispielsweise in der Öffentlichkeit über religiöse Themen sprechen will, braucht dazu eine Sondergenehmigung, die Jahr für Jahr bei den zuständigen Behörden erneut beantragt werden muss. Buchläden, die religiöse Literatur vertreiben, benötigen ebenfalls eine spezielle Lizenz. Auf diese Weise wacht der säkulare Staat darüber, dass religiöse Praxis strikt innerhalb der ihr gezogenen engen Grenzen verbleibt.
6.1.2
Bangladesch2
»This is a secular government«, betonen staatliche Vertreter Bangladeschs in jedem Gespräch gebetsmühlenartig. Die regierende Awami League sieht sich als Hüterin eines säkularen nationalen Erbes, das es gegen den wachsenden Islamismus im Lande zu verteidigen gelte. Mit dieser Linie findet die Regierung u. a. bei den nicht-islamischen religiösen Minderheiten Unterstützung – bei Hindus, Buddhisten, Christen, Baha’i-Angehörigen und anderen –, die zusammen allerdings nur etwa 10 Prozent der Bevölkerung ausmachen; 90 Prozent sind Muslime. Religion 2
Zum Folgenden vgl. den Bericht über die UN-fact-finding-Mission in Bangladesch: UN Doc. A/HRC/31/18/Add.2 (vom 22. Januar 2016).
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
ist in Bangladesch nicht nur im privaten, sondern auch im öffentlichen Leben, einschließlich der staatlichen Institutionen, allgegenwärtig. In der Diskussion legen die Regierungsvertreter Wert auf die Feststellung, dass die Säkularität des Staates keineswegs in Gegensatz zur öffentlichen Bedeutung der Religion stehe. Ein Minister hat sein Empfangszimmer eigens mit kalligraphisch gestalteten Koransuren geschmückt, wodurch er als Vertreter einer säkularen Regierung gleichzeitig seine Wertschätzung des Islams dokumentieren möchte. Was Säkularität in der staatlichen Politik programmatisch und praktisch konkret bedeutet, bleibt indes recht verschwommen. Das religiös geprägte, nach Konfessionen aufgespaltene Familienrecht will die Regierung auf absehbare Zeit nicht antasten – sehr zum Bedauern liberaler Frauenrechtsorganisationen, die durchgreifende Reformen auf diesem Gebiet für überfällig halten. Auch der Blick in die Verfassung schafft keine Klarheit: Während Artikel 12 den Staat als säkular definiert, verleiht der durch eine Verfassungsänderung eingefügte Artikel 2 A dem Islam die herausgehobene Stellung einer offiziellen Religion; diese Verfassungsergänzung fand zu einer Zeit statt, als die derzeitige Opposition die Regierungsgewalt innehatte. Die seit Jahrzehnten in bitterer Feindschaft miteinander ringenden großen Parteien – Awami League (AL) und Bangladesh National Party (BNP) – haben in der Verfassung jeweils ihre Fußabdrücke hinterlassen und dabei eine widersprüchliche Lage geschaffen, aus der die Politik nicht mehr herauszufinden scheint. Dies gilt auch für das Verhältnis von Staat und Religion. Die Praxis staatlicher Säkularität in Bangladesch zu beschreiben, ist deshalb schwierig. Auch die derzeitige Regierung agiert in religionspolitischen Fragen doppelbödig, indem sie Signale an alle Seiten sendet. Sie möchte religiöse Minderheiten, von denen sie traditionell Unterstützung erfährt, nicht verprellen , sich gleichzeitig aber an den konservativen islamischen Mainstream annähern, um der politischen Konkurrenz dieses Feld nicht zu überlassen. Immerhin lässt sich ein theoretischer Anspruch von Säkularität herausfiltern, der sich von der kasachischen Variante fundamental unterscheidet, ja geradezu als Gegenmodell dazu erscheint. In der Theorie sieht es so aus, dass der Staat den Religionsgemeinschaften Entfaltungsraum gibt – auch in der Öffentlichkeit – und ihre friedliche Koexistenz sichert. Deshalb dürfe sich die Regierung nicht schlicht auf eine Seite (auch nicht einfach auf die Seite der überwiegenden islamischen Mehrheit) schlagen, sondern müsse für die Religionsfreiheit aller eintreten. In der Theorie wirkt das Verständnis von Säkularität in Bangladesch viel offener – man könnte auch sagen: »inklusiver« – als der hermetische Staatssäkularismus, dem sich Kasachstan verschrieben hat. Das Erbe einer solchen offenen Säkularität droht aber in der Dauerfehde der beiden großen Parteien verspielt zu werden. Um die politische Konkurrenz niederzuhalten, macht die Regierung in jüngerer Zeit allerlei Konzessionen an islamistische Bewegungen, die gleichermaßen bekämpft und befriedet werden sollen. Der Raum für religiöse Minderheiten, Dissidenten und
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
für religionskritische Blogger ist gefährlich eng geworden und schrumpft immer weiter.
6.1.3
Dänemark3
Die Evangelisch-Lutherische Kirche Dänemarks genießt in der Verfassung den herausragenden Rang der Volkskirche (»folkekirke«), der trotz stark zurückgehenden Kirchenbesuchs die überwiegende Mehrheit der Dänen formell angehört. Obwohl der Begriff Staatskirche als Bezeichnung abgelehnt wird, weist die Volkskirche einige entsprechende Merkmale auf: Sie erhält einen Teil ihres Budgets direkt aus der Staatskasse, und der Minister für Kirchenangelegenheiten hat Einfluss auf die Regelung kircheninterner Belange. Sowohl in der Politik als auch innerhalb der Volkskirche gibt es seit Längerem eher unaufgeregte Diskussionen darüber, ob man Staat und Kirche nach Schwedischem oder Norwegischem Vorbild stärker trennen sollte. Starkes Echo in der Bevölkerung finden entsprechende Forderungen bislang nicht. Unter denjenigen, die den Status quo verteidigen, kursiert das Argument, dass die Kirche durch die enge Verbindung mit dem Staat in Einklang mit der demokratischen Entwicklung des Landes verbleibe. So hatte dies bereits der liberale dänische Philosoph, Theologe und Politiker Nikolaus Frederik Severin Grundtvig (17831872) gelehrt, dessen historischer Einfluss bis heute nachwirkt.4 Volkskirche und Volksherrschaft stehen in dieser Perspektive nicht nur semantisch, sondern auch institutionell nahe beieinander. Gern wird in diesem Zusammen darauf verwiesen, dass gleichgeschlechtliche Paare in Dänemark auf Initiative des staatlichen Gesetzgebers seit einigen Jahren (2012) das Recht haben, in der Volkskirche zu heiraten, was weithin Beifall findet – auch innerhalb der Kirche selbst.5 Manchen gilt die von demokratisch legitimierter Politik sanft gesteuerte Volkskirche darüber hinaus als Garant einer spezifisch dänischen Form von Säkularität. Ein Begriff, der in diesem Zusammenhang gelegentlich fällt, lautet »Lutheran Secularism«. Nach Luther gründe echter Glaube im Inneren des Menschen. Diese Konzentration auf die Innerlichkeit des Glaubensaktes habe zugleich die äußeren Verhältnisse – darunter Politik, Recht und Staat – von falschen religiösen Überfrachtungen befreit und damit dem modernen Konzept des säkularen Staates den Weg geebnet. Im Begriff des »Lutheran Secularism« wird der moderne säkulare Staat mithin als Resultat einer bestimmten theologischen Entwicklung bewertet. 3 4
5
Zum Folgenden vgl. den Bericht über die UN-fact-finding-Mission in Dänemark: UN Doc. A/HRC/34/50/Add.1 (vom 28. Dezember 2016). Vgl. Bernd Henningsen, Dänemark, München: C.H. Beck, 2009, S. 189-195. Vgl. auch die Informationen des Danish Grundtvig Forum: www.grundtvig.dk, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. www.bbc.com/news/world-europe-18363157, abgerufen am 12. November 2019.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
Die Säkularität des Staates, so folgern einige, sei nicht nur mit Religion kompatibel, sondern finde sogar ihre positive Begründung in der Religion, genauer: in Luthers Lehre von den »beiden Regimentern« – dem geistlichen und dem weltlichen Regiment. Obwohl beide Regimente in der Theorie unterschiedliche Kategorien darstellen, sollen sie in der Praxis zusammenkommen. Insofern können die Kategorien »sakral« und »säkular« durchaus in eine »sakrulare« Grauzone verschwimmen. Die Herausgeberinnen eines Sammelbandes über Religionsfreiheit in Skandinavien vermuten von daher, dass es eine uneingestandene Sakralität (»hidden sacrality«6 ) innerhalb des Säkularen gebe: »From the perspective of Lutheran theology, this ›secularity‹ makes sense as another way of performing Christentum.«7 Die theologische Würdigung der Säkularität des Staates kann in theologische Vereinnahmung umschlagen, womit der säkulare Staat dann schließlich als eine spezifisch christliche, genauer, protestantische Errungenschaft erscheint. Politische Brisanz erhält eine solche christlich-protestantische Okkupierung des säkularen Staates im Blick auf den Islam, der mittlerweile zur zweitgrößten Religionsgemeinschaft in Dänemark angewachsenen ist. Dem Islam trauen viele seiner Kritiker eine vergleichbare Differenzierung zwischen geistlichen und weltlichen Belangen von vornherein gar nicht zu; sie sehen ihn als eine robuste Variante politischer Religion. Politisch konservative Kreise würden die staatliche unterstützte Evangelisch-Lutherische Volkskirche deshalb am liebsten zum Bollwerk gegen den politischen Islam aufbauen.8 Die vom Staat unterstützte und kontrollierte Volkskirche sollte, ihrer Ansicht nach, Schutz gegen die befürchtete Politisierung der Religion bieten, was reichlich paradox klingt. Allerdings gibt es innerhalb der Volkskirche – auch unter den Bischöfen – genügend weitsichtige Geister, die dieses politische Spiel nicht mitmachen wollen. Manche gehen noch einen Schritt weiter und plädieren für eine echte Autonomie der Kirche und die Abschaffung ihres verfassungsrechtlichen Sonderstatus. 6
7
8
Vgl. Rosemarie van den Breemer/José Casanova/Trygve Wyller, »Introduction«, in: dies. (Hg.), Secular and Sacred? The Scandinavian Case of Religion in Human Rights, Law and Public Space, Göttingen: Vandenhoek & Ruprecht, 2014, S. 9-20, hier S. 10. Ebd., S. 15. Vgl. auch Lisbet Christoffersen, »Sacred Spaces in Secular (Post-)Lutheran Contexts«, in: R. van den Breemer/J., Casanova/T. Wyller (Hg.), Secular and Sacred, a.a.O., S. 102122. Vgl. https://danskfolkeparti.dk/politik/in-another-languages-politics/1757-2/, abgerufen am 12. November 2019: »Christianity draws a sharp distinction between the temporal world and the world of faith – a distinction of crucial importance for any country’s evolution, for freedom, openness and democracy. The Danish People’s Party wants the Government to support the National Church. This does not prejudice ordinary religious freedom, of which we are supporters – and protectors.«
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
6.2
Die verwirrende Vielfalt der Säkularitätskonzepte
Die eingangs präsentierten drei kurzen Länderskizzen illustrieren exemplarisch, wie unterschiedlich die Säkularität des Staates9 gedacht und ausgestaltet sein kann. In Kasachstan meint Säkularität eine rigide staatliche Kontrolle religiöser Praxis, die aus dem öffentlichen Raum weitgehend ferngehalten wird. In Bangladesch geht es demgegenüber – zumindest in der Theorie – gerade um die Öffnung sozialer Räume für religiösen Pluralismus. In Dänemark bestehen Tendenzen, den säkularen Staat nicht nur theologisch zu würdigen, sondern als spezifisch protestantische Errungenschaft in Beschlag zu nehmen. Je genauer man sich ein bestimmtes Land anschaut, desto deutlicher treten landestypische Spezifika hervor.10 Der religionsfreundlich-säkulare Rechtsstaat in Deutschland oder Österreich unterscheidet sich nicht nur in Kleinigkeiten von den Niederlanden mit seinen ehedem »versäulten« religiösen und weltanschaulichen Milieus. Laizität wird in Frankreich restriktiver gehandhabt als in der kanadischen Provinz Quebec, obwohl man sich dort Frankreich kulturell eng verbunden fühlt. Zwischen der Religionspolitik in Schweden und in Zypern gibt es trotz gemeinsamer EU-Mitgliedschaft nicht viele Parallelen. Bei Irland, Italien und Malta handelt es sich jeweils um stark katholisch geprägte Länder, die gleichwohl das Verhältnis von Staat und Kirche sehr unterschiedlich gestalten.11 Auch zwischen den USA mit seinem offenen Religionsmarkt12 und dem traditionell antiklerikal orientierten Nachbarn Mexiko13 liegen trotz regionaler Nachbarschaft religionspolitisch betrachtet Welten. Die oben angesprochenen Beispiele Kasachstan und Bangladesch erinnern im Übrigen daran, dass die wie auch immer konzipierte Säkularität kein ausschließliches Merkmal westlicher Staaten ist. Wer politische Kontroversen über den säkularen Staat, wie sie in Tunesien, Senegal, Indien, Bangladesch und 9
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Wir beschränken uns hier auf einen Aspekt des vielschichtigen Themas, nämlich die Säkularität des Staates. Auf die Säkularisierung der Gesellschaft wollen wir hier nicht eingehen. Wichtig ist uns aber zumindest der Hinweis, dass Säkularisierung der Gesellschaft und Säkularität des Staates verschiedene Phänomene sind und nicht miteinander einhergehen müssen. Vgl. José Casanova, Public Religions in the Modern World, Chicago: University of Chicago Press, 1994. Vgl. die jeweiligen Länderdarstellungen in: Gerhard Robbers (Hg.), State and Church in the European Union, Baden-Baden: Nomos, 2. Aufl. 2005. Vgl. T. Jeremy Gunn/John Witte, Jr. (Hg.), No Establishment of Religion. America’s Original Contribution to Religious Liberty, Oxford: Oxford University Press, 2012. Vgl. Alberto Patiño Reyes, »Religion and the Secular State in Mexico. National Reports issued for the Occasion of the XVIIIth International Congress of Comparative Law, Washington D.C. 2010«, in: Javier Martínez-Torrón/W. Cole Durham, Jr. (Hg.), Religion and the Secular State – Interim National Reports, Provo: International Center for Law and Religious Studies at Brigham Young University, 2010, S. 505-516.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
anderswo in Asien oder Afrika stattfinden, als bloße Fortsetzung europäischer Kulturhegemonie deutet, verkennt nicht nur die Eigenständigkeit nationaler Debatten in diesen Ländern; er bedient zugleich, gewollt oder ungewollt, die Polemik fundamentalistischer Bewegungen, die in jeder Variante staatlicher Säkularität nur »westliche« Vorherrschaft und Gottlosigkeit am Werke sehen. Die verwirrende Mannigfaltigkeit könnte den Schluss nahelegen, der Säkularitätsbegriff sei als analytische oder normative Leitkategorie letztlich unbrauchbar. Diese Position vertritt Veit Bader. Er plädiert dafür, den Begriff fallen zu lassen, handele es sich dabei doch um »a ›fuzzy‹, chameleonic, highly misleading or ›cacophonous concept‹«14 . Wir machen uns dieses Plädoyer jedoch nicht zu eigen, sondern schlagen einen anderen Weg ein. Statt den Begriff der staatlichen Säkularität aufzugeben, versuchen wir ihn durch nähere Differenzierungen als sinnvolle Kategorie zu retten. Ausgangspunkt dafür ist das Menschenrecht der Religions- und Weltanschauungsfreiheit, von dem her sich bestimmte Ansprüche an die Gestaltung des Verhältnisses von Staat und Religion ergeben. Um diese Ansprüche genauer zu fassen, erweist sich der Säkularitätsbegriff – trotz aller unbestreitbaren Schwierigkeiten – unserer Meinung nach als hilfreich, ja schwer ersetzbar. Natürlich könnte man sich theoretisch auch um semantische Alternativen bemühen. Diese würden aber ähnliche Klarstellungen erforderlich machen, wie wir sie hier für den Umgang mit dem Begriff der Säkularität des Staates vorschlagen.15
6.3
Exklusive und inklusive Säkularität
Die Vielfalt der bestehenden Säkularitätsmodelle und Säkularitätskonzepte lässt sich nicht leicht strukturieren. Immerhin empfiehlt es sich, generell zwischen »exklusiven« und »inklusiven«, also restriktiven und offenen Varianten zu unterscheiden. Beiden gemeinsam ist das Element der Distanz, das der Staat gegenüber den Religionsgemeinschaften wahrt. Denn vom Wort her meint die »Säkularität« des 14
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Veit Bader, »Constitutionalizing Secularism, Alternative Secularisms or Liberal Democratic Constitutionalism? A Critical Reading of some Turkish, ECtHR and Indian Supreme Court Cases on ›Secularism‹«, in: Utrecht Law Review, Bd. 6 (2010), S. 8-35, hier S. 8. Im Englischen unterscheiden einige Autoren zwischen »secularism« and »secularity«. So definiert beispielsweise Cole Durham »secularism« als eine anti- oder postreligiöse Ideologie, während er den Begriff der »secularity« dazu verwendet, die verfassungsrechtliche Differenzierung zwischen Staat und Religionsgemeinschaften zu bezeichnen. Vgl. W. Cole Durham, Jr., »Patterns of Religion State Relations«, in: John Witte, Jr./M. Christian Green (Hg.), Religion and Human Rights. An Introduction, Oxford: Oxford University Press, 2012, S. 360-378. Diese Unterscheidung ist allerdings genauso wenig selbsterklärend wie die im Deutschen oft bemühte Differenz zwischen »Säkularität« und »Laizität«, die aus der deutsch-französischen Geschichte stammt, in der internationalen englischsprachigen Debatte indes kaum vorkommt.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Staates zunächst nichts anderes als dessen »Weltlichkeit«, womit explizit ein Moment der Differenz, ja der Distanz zwischen dem Staat und den Religionsgemeinschaften gesetzt ist: Der säkulare Staat definiert sich als nicht-religiöser, »weltlicher« Staat und hält bewusst Abstand zu den Religionsgemeinschaften. Soweit die Gemeinsamkeit.16 Die Motive für solche Distanznahme aber unterscheiden sich ganz erheblich. Beim Typus der »exklusiven Säkularität« dient die staatliche Distanz zu den Religionsgemeinschaften dem Interesse, den Einfluss der Religion im öffentlichen Leben in engen Schranken zu halten und ggf. auch mit Zwangsmaßnahmen zurückzudrängen. Beim Typus der »inklusiven Säkularität« soll der bewusst gesetzte Abstand zwischen Staat und Religionsgemeinschaften hingegen positiv einen Raum schaffen, in dem sich religiöse und weltanschauliche Vielfalt angst- und diskriminierungsfrei entfalten kann. Dies ist ein fundamentaler Unterschied, ja ein Gegensatz in der generellen Zielrichtung, der bei der Diskussion über staatliche Säkularität nicht aus dem Blick geraten darf. Dass es in der Praxis zahlreiche Überlappungen und Grauzonen zwischen beiden Varianten gibt, sei dabei von vornherein konzediert. Der begriffliche Gegensatz von »exklusiv« und »inklusiv« fungiert denn auch nicht als Kriterium dafür, eindeutige Zuordnungen vorzunehmen, sondern soll dafür sensibilisieren, dass säkulare Staaten hinsichtlich ihrer Zielsetzungen und ihrer religionspolitischen Maßnahmen fundamentale Differenzen aufweisen. Zu meinen, sie gehörten alle irgendwie in dasselbe religionspolitische »Lager«, wäre abwegig. Der Hinweis darauf, dass staatliche Säkularität auch Bestandteil einer ausgesprochen repressiven Agenda sein kann, ist uns nicht zuletzt deshalb wichtig, weil manche religionspolitischen Einschätzungen auf einer voreiligen Gleichsetzung von staatlicher Säkularität mit Liberalität beruhen. Wenn Kommentatoren sich zum Beispiel besorgt über den zunehmenden religiösen und politischen Autoritarismus in der Türkei äußern, betonen sie manchmal den Kontrast zum säkularen Erbe Kemal Atatürks, das dann oft wie ein liberales Gegenmodell erscheint. Der türkische Laizismus war indessen nicht liberal, sondern stand stets in engster Verbindung mit einem straff geführten starken Staat, der die Religion fördernd und vor allem kontrollierend unter seine Fittiche nahm. Während sich die ideologischen Vorzeichen der türkischen Religionspolitik in jüngster Zeit verschoben haben, bildet der mit rigiden Maßnahmen durchgesetzte weitreichende Kontrollanspruch des Staates in Religionsfragen durchaus ein Element der Kontinuität.17 16
17
Vgl. T. Jeremy Gunn, »Secularism, the Secular, and Secularization«, in: Jaime Contreras/Rosa María Martínez de Codes (Hg.), Trends of Secularism in a Pluralistic World, Madrid: Iberoamericana, 2013, S. 59-105, insb. S. 65-69. Vgl. Istar Gözaydin, »Management of Religion in Turkey: The Diyanet and Beyond«, in: Özgür Heval Cinar/Mine Yilderim (Hg.), Freedom of Religion or Belief in Turkey, Newcastle upon Tyne: Cambridge Scholars Publishing, 2014, S. 10-35.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
Man sollte sich generell von der Vorstellung lösen, dass staatliche Säkularität per se bereits ein Anzeichen staatlicher Liberalität darstelle. Allzu viele Gegenevidenzen lassen sich ins Feld führen. Dazu zählt das eingangs skizzierte Beispiel Kasachstan, das für einen Staatssäkularismus mit ausgesprochen autoritären Zügen steht. Im Namen der Säkularität weist der autokratisch geführte kasachische Staat den Religionsgemeinschaften eng definierte Räume religiöser Betätigung zu, die zudem streng überwacht werden. Eine ähnliche repressive Praxis besteht auch in anderen postsowjetischen Republiken Zentralasiens wie Tadschikistan, Turkmenistan oder Usbekistan. Keines dieser Länder gibt in Sachen Religionsfreiheit derzeit eine gute Figur ab.18 Ein Element bewusster Distanz zwischen weltlichem Staat und Religionsgemeinschaften kennzeichnet auch diejenigen Systeme, die sich eher mit dem Begriff der »inklusiven Säkularität« beschreiben lassen. Hier dient der verfassungsrechtlich gesicherte Abstand zwischen Staat und Religion dazu, einen Raum für die Entfaltung religiöser und weltanschaulicher Differenz zu eröffnen, und zwar nicht nur im Privaten, sondern auch in der gesellschaftlichen Öffentlichkeit. Gleichzeitig werden die Religionsgemeinschaften dadurch vor etwaigen Übergriffen des Staates geschützt. Die Säkularität des Staates, also seine »Weltlichkeit«, steht insofern für die bewusste Selbstbescheidung des Staates, der Fragen religiöser Wahrheit und Identität den Religionsgemeinschaften und ihren Angehörigen überlässt und dafür geeignete Rahmenbedingungen schafft. Das klassische Beispiel eines solchen Modells bieten die USA, deren Gründungsmythos die Sehnsucht religiöser Dissidenten nach freiem Glaubensbekenntnis umfasst. Schon 1639 soll Roger Williams in Rhode Island eine Siedlung mit weitreichender Religionsfreiheit aufgebaut haben. Unter dem Schutz des »First Amendment« zur US-Verfassung (1791) hat sich dann später eine ausgesprochen pluralistische Religionslandschaft entwickelt.19 Thomas Jeffersons viel zitierte Metapher der »wall of separation«20 signalisiert denn auch nicht etwa die Einmauerung der Religion, sondern steht für die prinzipielle Begrenzung staatlicher Autorität, die sich jedweden Übergriffs in die Sphäre des Religiösen um der Freiheit der Menschen willen versagen muss. So jedenfalls der Anspruch. Will man ein angemessenes Gesamtbild der Praxis der Religionsfreiheit in den USA zeichnen, dürfen 18
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Verwiesen sei auf die regelmäßigen Berichte erstellt durch das Netzwerk »Forum 18«, das sich auf Fragen der Religionsfreiheit in Zentralasien spezialisiert hat. Vgl. auch die Berichte zu einschlägigen UN-fact-finding-missions: UN Doc. A/HRC/7/10/Add.2, A/HRC/10/8/Add.4 und A/HRC/37/49/Add.2. Vgl. David Little, »Roger Williams and the Puritan Background of the Establishment Clause«, in: ders. (Hg.), Essays on Religion and Human Rights. Ground to Stand on, Cambridge: Cambridge University Press, 2015, S. 243-271. Vgl. Jeffersons Brief an die Baptisten von Danbury: www.billofrightsinstitute.org/foundingdocuments/primary-source-documents/danburybaptists, abgerufen am 12. November 2019.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
die Schattenseiten freilich nicht fehlen. Vom tonangebenden Selbstverständnis einer weißen, angelsächsischen und protestantischen Nation wurden Minderheiten immer wieder an den Rand oder ins Abseits gedrängt. Brutal hat dies indigene Gemeinschaften getroffen, deren spirituelles Erbe weitgehend zerstört wurde. Die Diskriminierung erstreckte sich historisch aber auch auf Katholiken, Mormonen und Zeugen Jehovas; Letztere gerieten in den 1940er Jahren ins Fadenkreuz staatlicher Verfolgung, weil sie sich weigerten, an Zeremonien zur Ehrung der Nationalflagge teilzunehmen. Im Vergleich zum offenen Religionsmarkt in den USA wirkt die Religionslandschaft in Deutschland aufgrund ihrer langen historischen Prägung durch die Dominanz zweier christlicher Volkskirchen trotz aller Pluralisierungsprozesse immer noch ziemlich übersichtlich. Auch in der institutionellen Ausgestaltung der staatlichen Säkularität unterscheidet sich die deutsche »religionskorporatistische« Variante erheblich von den USA. Begriffe wie »Staatskirchenrecht« klingen in amerikanischen Ohren befremdlich. Grundlegende Gemeinsamkeiten zeigen sich jedoch in der verfassungsrechtlichen Absage an jede Staatsreligion, die seit Inkrafttreten der Weimarer Reichsverfassung (1919) auch in Deutschland ausgeschlossen ist, sowie in der verfassungsrechtlichen Gewährleistung umfassender Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Grosso modo dürften die Strukturen in den meisten westeuropäischen Staaten eher einem inklusiven Verständnis staatlicher Säkularität nahestehen. Dies wäre aber jeweils im Einzelnen zu prüfen, und man würde dabei auf etliche Differenzen, Grauzonen und manche Ungereimtheiten stoßen.21 Wie Friedrich Wilhelm Graf feststellt, »unterscheiden sich die Mitgliedstaaten der EU wohl auf keinem Rechtsgebiet so stark wie im religionsbezogenen Verfassungsrecht«22 . Kritische Rückfragen richten sich nicht zuletzt an Frankreich; denn die Laizität französischer Prägung ist nach wie vor durch restriktive Facetten geprägt.23 Zur Durchsetzung des Verbots sichtbarer religiöser Symbole in öffentlichen Schulen hat der Staat wiederholt Schülerinnen vom Schulbesuch ausgeschlossen, weil diese sich geweigert hatten, auf das Kopftuch im Schulunterricht zu verzichten.24 Traditionen einer inklusiv-offen gedachten Staatssäkularität sind kein Spezifikum des Westens. Bangladesch wurde eingangs bereits als ein Beispiel dafür genannt, dass ein von Haus aus recht offenes säkulares Konzept in der Dauerfehde der politischen Parteien in der Praxis zunehmend verspielt wird. Ähnliches 21 22 23 24
Vgl. José Casanova, »The Religious Situation in Europe«, in: Hans Joas/Klaus Wiegand (Hg.), Secularization and the World Religions, Liverpool: Liverpool University Press, 2009, S. 206-228. Friedrich Wilhelm Graf, Götter Global. Wie die Welt zum Supermarkt der Religionen wird, München: C.H. Beck, 2014, S. 52. Vgl. Jean Baubérot, La laïcité, quel héritage? De 1789 à nos jours, Genf : Labor et Fides, 1990. Vgl. dazu Näheres in Kapitel 8.5.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
lässt sich derzeit auch in Indien beobachten.25 Während sich die Kongress-Partei – jedenfalls in der Theorie – nach wie vor als Sachwalterin eines säkularen Indien sieht, erhalten seit 2014 hindunationalistische Bewegungen immer mehr Auftrieb. Der Raum für solche religiösen Minderheiten, die (anders als die dem HinduKosmos zugeschlagenen Buddhisten, Jainas oder Sikhs) ihren Ursprung nicht auf indischem Territorium haben, ist in den letzten Jahren enger geworden, was vor allem Christen und Muslime trifft. Die Anhänger einer säkularen Demokratie in Indien erfüllt dies mit Sorge.
6.4
Säkularismus als verkapptes Glaubensbekenntnis?
Wenn man Säkularität als Prinzip der bewussten Abstandnahme des Staates gegenüber den Religionsgemeinschaften versteht, ergibt sich daraus die Absage an alle Formen eines doktrinären Staatssäkularismus, der selbst gleichsam Züge von Glauben oder Weltanschauung annimmt. Dies ist freilich leichter gesagt als getan. Im weiten semantischen Feld der Säkularität finden sich bis heute Sedimente weltanschaulich-kulturkämpferischer Auseinandersetzungen, die ihren Ursprung typischerweise im 19. Jahrhundert hatten.26 Manche der postreligiösen Weltanschauungsvereine, die damals im Zuge zunehmender Popularität der Naturwissenschaften entstanden sind, benutzten den Begriff der Säkularität sogar in ihrer Selbstbeschreibung. Ein klassisches Beispiel bietet die Englische »Secular Society«, die George Holyoake Mitte des 19. Jahrhunderts gründete. In seinem wissenschaftsorientierten Fortschrittspathos bediente Holyoake sich gern einer quasi-religiösen Sprache. »Science is the available providence of man«, heißt es in seiner Programmschrift, die unter dem bezeichnenden Titel »English Secularism: A Confession of Belief« erschien.27 Ähnliche Bewegungen breiteten sich auch in Deutschland aus, darunter die von Friedrich Jodl und Ferdinand Tönnies gegründete »Deutsche Gesellschaft für Ethische Kultur«28 oder der »Monistenbund« um den Darwinisten Ernst Haeckel.29 In 25
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27 28 29
Vgl. Trikoli Nath Madan, »Indian Secularism: A Religio-Secular Ideal«, in: Linell E. Cady/Elizabeth Shakman Hurd (Hg.), Comparative Secularisms in a Global Age, New York: Palgrave Macmillan, 2010, S. 187-192. Vgl. Hermann Lübbe, Säkularisierung. Geschichte eines ideenpolitischen Begriffs, Freiburg i.Br.: Alber, 1965. Ähnlich mehrdeutig bleibt auch das Begriffsfeld von Laizität. Vgl. dazu Jocelyn Maclure/Charles Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011. Maclure und Taylor plädieren in diesem Buch für eine »offene Laizität«, die sie von kulturkämpferischen und weltanschaulichen Varianten absetzen. Vgl. George J. Holyoake, English Secularism. A Confession of Belief , Chicago: The Open Publishing Company, 1896, S. 35. Vgl. H. Lübbe, Säkularisierung, a.a.O., S. 42. Vgl. ebd., S. 51.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
seinem Bestseller »Die Welträtsel« bedauerte Haeckel den voreiligen Abbruch des von Bismarck betriebenen antikatholischen Kulturkampfes30 und träumte von einem »Palast der Vernunft, in welchem wir mittels unserer neu gewonnenen monistischen Weltanschauung die wahre ›Dreieinigkeit‹ andächtig verehren, die Trinität des Wahren, Guten und Schönen«31 . Die Naturwissenschaft solle die Rolle einnehmen, die vormals die Religion innehatte und folglich eine umfassende Weltsicht bieten. Haeckel und der Monistenbund verfolgten zu diesem Zweck durchaus politische, vor allem bildungspolitische Ziele. So postulierte Haeckel: »Unsere Staatsordnung kann nur dann besser werden, wenn sie sich von den Fesseln der Kirche befreit, und wenn sie durch allgemeine naturwissenschaftliche Bildung die Welt- und Menschenkenntnis der Staatsbürger auf eine höhere Stufe hebt.«32 Noch deutlicher auf Eroberung der Staatsmacht ausgerichtet war die um die Mitte des 19. Jahrhunderts von Auguste Comte entworfene wissenschaftsbasierte Humanitätsreligion (»religion de l’humanité«). Deren umfassender »soziokratischer« Herrschaftsanspruch war analog zu den theokratischen Vorstellungen Joseph de Maistres und anderer Denker der katholischen Gegenrevolution konzipiert, deren Position Comte zwar inhaltlich scharf bekämpfte, für die er aber zugleich offene Bewunderung hegte.33 An die Stelle des traditionellen christlichen Klerus traten in seiner Fortschrittsvision wissenschaftlich ausgebildete Soziologen, die als »Priester der Humanität« im Bund mit den aufsteigenden Kräften von Wirtschaft und Industrie das öffentliche Leben formieren sollten.34 Der Sache nach handelt es sich hier um die Vision eines säkularistischen Bekenntnisstaates, der alle verfügbaren Mittel einsetzen soll, um dem neuen Wissenschaftsund Fortschrittsglauben zum politischen Durchbruch zu verhelfen. Sehr freiheitsfreundlich nehmen sich Comtes Vorstellungen – mit ihren staatlich organisierten Festaufmärschen unter dem Bann von »Liebe, Ordnung, Fortschritt« – übrigens nicht aus. Heute spielt unter den organisierten und nicht-organisierten Anhängern einer auf die Naturwissenschaften gestützten säkularistischen Weltanschauung der Oxforder Evolutionsbiologe Richard Dawkins eine führende Rolle. Mit seinem Buch »Der Gotteswahn« hat er einen internationalen Bestseller gelandet.35 Im deutschen Raum stehen der Humanistische Verband sowie die Giordano-Bruno-Stiftung für 30 31 32 33 34 35
Vgl. Ernst Haeckel, Die Welträtsel. Gemeinverständliche Studien über monistische Philosophie, Neuausgabe, Stuttgart: Kröner 1984, S. 425-427. Ebd., S. 427f. (Hervorhebungen im Original). Ebd., S. 20 (Hervorhebung im Original). Vgl. Auguste Comte, Système de politique positive ou Traité de sociologie, instituant la religion de l’humanité, Bd. 3, Paris : Les presses universitaires de France, 1853 , S. 605. Vgl. ebd., Bd. 1, S. 321ff. Vgl. Richard Dawkins, Der Gotteswahn, deutsche Ausgabe, Berlin: Ullstein, 2008.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
das Ziel einer Überwindung traditioneller religiöser Sichtweisen durch ein naturwissenschaftlich geprägtes Weltbild, das starke Anleihen bei der Evolutionsbiologie macht. Während die Zahl der Menschen, die sich ausdrücklich zu einer umfassenden post-religiösen säkularistischen Weltanschauung bekennen und sich dafür in Vereinen organisieren, recht begrenzt ist, dürften manche Komponenten einer entsprechenden Weltsicht unterschwellig indes viel weiter verbreitet sein. Sie sind, wie Charles Taylor in seinem Werk »A Secular Age« aufgezeigt hat,36 womöglich in die Grundbefindlichkeit moderner westlicher Gesellschaften eingegangen und gelten schlicht als der »normale« oder »neutrale« Ausgangspunkt des sozialen Lebensgefühls. Dies birgt das Risiko, dass sich die Säkularität des Staates mit Komponenten eines solchen weltanschaulichen Säkularismus auflädt, vor allem mit den weniger scharfkantigen Varianten, die deshalb nicht leicht auffallen. Der Staat könnte damit unter der Hand Züge eines Krypto-Konfessionsstaates unter neuen Vorzeichen annehmen.37 Womöglich geschieht dies in gleitenden Übergängen, ohne dass es den Beteiligten bewusst ist. Beispielsweise können hinter manchen populären Weigerungen, sich auf besondere Bedürfnisse religiöser Minderheiten überhaupt politisch einzulassen, Elemente eines impliziten weltanschaulich-säkularistischen Überlegenheitsanspruchs stecken, der religiöse Überzeugungen und Praktiken schlicht als »überholt« ansieht und am liebsten aus der Gesellschaft entfernen würde.38 Eine kritische Aufdeckung und Überwindung etwaiger doktrinär-säkularistischer Tendenzen in Politik und Staat bleibt deshalb wichtig. Darauf hat vor einigen Jahren Jürgen Habermas hingewiesen, als er insistierte, die notwendigen Übersetzungsleistungen zwischen religiösen Selbstverständnissen und der modernen säkularen Politik sollten nicht einseitig den religiös Gläubigen zugemutet werden. Es gehe auch »um die selbstreflexive Überwindung eines säkularistisch verhärte36
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Vgl. Charles Taylor, A Secular Age, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2007, S. 13: »But the presumption of unbelief has become dominant in more and more of these milieus; and has achieved hegemony in certain crucial ones, in the academic and intellectual life, for instance; whence it can more easily extend itself to others.« Nur am Rande vermerkt sei, dass sich auch die verbliebenen kommunistischen Staaten gern als »säkular« bezeichnen. Nach wie vor begründen Staaten wie China oder Vietnam ihr Parteimonopol mit der historischen und epistemologischen Überlegenheit der marxistischen Ideologie. Insofern handelt es sich in der Tat um weltanschauliche Bekenntnisstaaten, die sich selbst gleichwohl das Prädikat des Säkularen zuerkennen, woraus manche Verwirrung entsteht. In der aggressiven Diskussion um das Thema ritueller Knabenbeschneidung, die in Deutschland 2012 im Anschluss an ein Gerichtsurteil aufbrandete, waren solche Tendenzen unübersehbar. Vgl. Johannes Heil/Stephan J. Kramer (Hg.), Beschneidung: Das Zeichen des Bundes in der Kritik. Zur Debatte um das Kölner Urteil, Berlin: Metropol Verlag, 2012.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
ten und exklusiven Selbstverständnisses der Moderne«39 . Um nicht missverstanden zu werden: Natürlich steht es säkularen Weltanschauungsvereinen und ihren Angehörigen frei, öffentlich für ihre Anliegen einzutreten und sich um Einflussnahme im öffentlichen Leben bemühen; sie können sich dabei auf die Meinungsfreiheit, die Versammlungsfreiheit und nicht zuletzt die Religions- und Weltanschauungsfreiheit stützen, die, wie dargestellt, auch für die Artikulation atheistischer und agnostischer Grundüberzeugungen Schutz bereithält. Dies wird nicht immer klar genug kommuniziert und verdient deshalb, ausdrücklich betont zu werden. Wenn weltanschaulich-säkularistische Positionen jedoch unmittelbar auf staatliches Handeln durchschlagen, kann sich daraus unter der Hand eine Konfessionsstaatlichkeit neuer Art entwickeln – mitsamt den damit verbundenen Risiken neuer Unfreiheit.40 Das Gebot der Abstandnahme zwischen Staat und Religionen ist deshalb auch in Richtung der Weltanschauungen zu erweitern. Wie Jocelyn Maclure und Charles Taylor betonen, gilt es zu gewährleisten, »dass sich der Staat nicht nur gegenüber den Religionen neutral verhält, sondern auch gegenüber den verschiedenen philosophischen Konzeptionen, die sich als säkulare Entsprechungen der Religionen präsentieren«41 . Dies setzt indes voraus, etwaige weltanschauliche »biases« überhaupt als solche zu erkennen, was nicht einfach ist. Doktrinäre Aufladungen der Säkularität des Staates können freilich auch im Kontext traditioneller christlicher Theologien entstehen. Bereits eingangs erwähnt wurde die Variante eines »Lutheran Secularism« in Dänemark, wonach der moderne dänische Staat in der Kontinuität der Lutherischen Lehre von den »zwei Regimentern«, dem geistlichen und dem weltlichen Regiment, stehe. Paradoxerweise führen manche die vom Staat subventionierte und kontrollierte EvangelischLutherische Volkskirche – faktisch eine moderate Form von Staatskirche – als Garant einer säkularen Ausdifferenzierung zwischen geistlicher und weltlicher Sphäre ins Feld. Dies geschieht nicht selten in polemischer Abgrenzung zum Islam, von dem es heißt, dass ihm eine solche Unterscheidung »wesensfremd« sei. Ausgerechnet eine christliche Staatskirche soll nach Wunsch konservativer Politiker als vorbeugendes Instrument gegen den angeblich wesenhaften Integralismus des Islams in Stellung gebracht werden, was schon reichlich paradox wirkt. 39
40
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Jürgen Habermas, »Religion in der Öffentlichkeit. Kognitive Voraussetzungen für den ›öffentlichen Vernunftgebrauch‹ religiöser und säkularer Bürger«, in: Jürgen Habermas, Zwischen Naturalismus und Religion. Philosophische Aufsätze, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2005, S. 119-154, hier S. 145. Vgl. Tomás Halík, »Warum ich nicht Charlie bin«, in: Thomas Brose/Philipp W. Hildmann (Hg.), Umstrittene Religionsfreiheit. Zur Diskussion um ein Menschenrecht, Frankfurt a.M.: Peter Lang, 2016, S. 205-209, hier S. 207: »Ist nicht das Prinzip der Laizität allmählich zu einer intoleranten Religion des Atheismus geworden?« J. Maclure/C. Taylor, Laizität und Gewissensfreiheit, a.a.O., S. 22.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
Solche Überlegungen sind kein dänisches Unikum. Unter der Überschrift der »christlichen Leitkultur« sind in Deutschland immer wieder vergleichbare Gedanken vorgetragen worden – und zwar ebenfalls vor allem im polemischen Kontrast zum Islam.42 Manche Protagonisten eines christlich integrierten Säkularitätsdenkens greifen dabei auf das Jesus-Wort: »gebt dem Kaiser, was des Kaisers ist, und Gott, was Gottes ist«, zurück, in dem die den säkularen Rechtsstaat definierende Grunddifferenz der Sache nach bereits enthalten sein solle. Hier drängt sich indes die Frage auf, warum es beinahe zweitausend Jahre brauchte, bis die vermeintlich schon im Evangelium angelegte Differenz zwischen weltlicher und geistlicher Autorität erste verfassungsrechtliche Früchte hervorbrachte. Bekanntlich tobten in Europa noch bis weit ins 20. Jahrhundert hinein heftige kulturkämpferischen Auseinandersetzungen um die Säkularisierung staatlicher Institutionen; sie spalteten die Nationen und führten zu einer langwierigen Entfremdung zwischen modernem Staat und den christlichen Kirchen, insbesondere dem Katholizismus. All dies wird in christlich-leitkulturellen Vereinnahmungen der Säkularität abgeblendet oder zu bloßen »Missverständnissen« herabgestuft. Historisch dürfte dies kaum haltbar sein. Problematischer noch sind die systematischen Konsequenzen einer solchen christlichen Okkupierung des Säkularitätsbegriffs. Denn die für die Säkularität des Staates konstitutive Distanz zu den Religionsgemeinschaften müsste letztlich verschwinden, wenn ausgerechnet der Begriff der Säkularität zu einer quasi-theologischen Kategorie geriete, die sich dann polemisch gegen den Islam ausspielen ließe. Das Ergebnis wäre eine gleichsam »getaufte« Säkularität, womit der Begriff des Säkularen dann allerdings in der Tat ad absurdum geführt wäre. Insofern beinhaltet die Beiruter Erklärung »Faith for Rights« die Verpflichtung, zu verhindern, dass durch die Anwendung eines »doktrinären Säkularismus« in allen seinen Varianten der Freiraum für Pluralismus der Religionen oder Weltanschauungen eingeengt wird.43
6.5
Die Religionsfreiheit als kritischer Maßstab rechtsstaatlicher Säkularität
Wie kann die Religionsfreiheit Orientierung in der verwirrenden Semantik des Säkularen geben? Zwei Punkte wollen wir herausheben: Zum einen gilt, dass die Religionsfreiheit nicht ein bestimmtes Modell der Gestaltung des Verhältnisses von 42 43
Vgl. dazu Heiner Bielefeldt, Menschenrechte in der Einwanderungsgesellschaft. Plädoyer für einen aufgeklärten Multikulturalismus, Bielefeld: transcript, 2007, S. 90-95. Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights«, UN Doc. A/HRC/40/58, annex II, commitment IV; vgl. auch UN Doc. A/HRC/37/49, Ziffer 89.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Staat und Religionen vorgibt, dem alle Staaten der Welt zu folgen hätten. Daraus folgt jedoch keineswegs – das wäre der andere Gesichtspunkt –, dass sie den unterschiedlichen Varianten und Konzepten indifferent gegenübersteht. Vielmehr entfaltet sie ihre Funktion als kritischer Maßstab, ohne einen einzigen Weg verbindlich vorzugeben. Es ist ein Gebot kluger Zurückhaltung, aus den Menschenrechten nicht gleich eine Blaupause für die umfassende politische Regelung bestimmter Sachbereiche herzuleiten. Das Menschenrecht auf Bildung lässt sich nicht nur in einem einzigen Schulsystem verwirklichen, das dann für die gesamte Welt als Modell fungieren könnte; aus der Meinungsfreiheit ergeben sich nicht die Details einer bestimmten Medienordnung mit bindenden Wirkungen für alle Staaten der Welt; und die Rechte politischer Partizipation können in unterschiedlichen demokratischen Verfassungen zum Zuge kommen. Analog dazu gilt, dass auch die Religionsfreiheit von Haus aus offen für unterschiedliche Ausgestaltungen der Beziehung von Staat und Religionsgemeinschaften ist. Aus der Religionsfreiheit folgt nicht, dass alle Staaten dem US-amerikanischen Modell eines offenen Religionsmarktes folgen müssen; genauso wenig ist sie ein Präjudiz für die deutsche Variante des Religionskorporatismus oder für den französischen Laizismus. Die Gesellschaften können hier im Einzelnen durchaus unterschiedliche Wege beschreiten, ihre jeweiligen Traditionen weiterentwickeln und sukzessive öffnen oder auch Neues ausprobieren. Auch Staatsreligionen oder offizielle Religionen sind unter menschenrechtlichen Gesichtspunkten nicht von vornherein ausgeschlossen. Der UNMenschenrechtsausschuss hat dies 1993 in seinem General Comment Nr. 22 zur Religionsfreiheit klargestellt.44 Gleichzeitig formuliert der Ausschuss in diesem Zusammenhang allerdings ein weitreichendes Caveat; darin besteht die eigentliche Pointe seiner Ausführungen. Er verlangt nämlich, dass eine Staatsreligion für die Angehörigen anderer Religionen oder Weltanschauungen – und dazu zählen auch Atheisten oder Agnostiker – keinerlei Beeinträchtigung ihrer Freiheit und Gleichberechtigung nach sich ziehen dürfe. Dieses Postulat schließt auch den gleichberechtigten Zugang zu Dienstleistungen und öffentlichen Ämtern und Positionen ein. Die entscheidenden Sätze seien hier im Original zitiert: »The fact that a religion is recognized as a state religion or that it is established as official or traditional or that its followers comprise the majority of the population, shall not result in any impairment of the enjoyment of any of the rights under the Covenant, including articles 18 and 27, nor in any discrimination against adherents to other religions or non-believers. In particular, certain measures discriminating against the latter, such as measures restricting eligibility for government service to members of the predominant religion or giving economic privileges to them 44
Zur Funktionsweise des UN-Menschenrechtsschusses vgl. die Ausführungen in Kapitel 8.3.
6 Religionsfreiheit und säkularer Staat
or imposing special restrictions on the practice of other faiths, are not in accordance with the prohibition of discrimination based on religion or belief and the guarantee of equal protection under article 26.«45 Wenn man dieses weitreichende Caveat des Ausschusses ernst nimmt, bleibt in der Praxis nicht viel Raum für Staatsreligionen übrig. Ausgeschlossen sind nicht nur die »harten« Varianten, in denen der Staat Konvertiten, Dissidenten und Andersgläubige mit Strafdrohungen oder anderen Sanktionen verfolgt, sondern eigentlich jede staatliche Privilegierung der Angehörigen einer bestimmten Religion; denn die Religionsfreiheit ist nicht nur ein Freiheits-, sondern auch ein Gleichheitsrecht. Aus der kritischen Haltung der UN-Menschenrechtsorgane gegenüber den verschiedenen Varianten von Staatsreligion lässt sich eine implizite Präferenz für säkulare Staatsmodelle herleiten. Die Religionsfreiheit wird damit allerdings gerade nicht zum Fanal für einen Staatssäkularismus ohne Wenn und Aber. Vielmehr entfaltet sie ihr kritisches Potenzial genauso im weiten Feld der säkularen Staaten, in dem exklusive und inklusive, restriktive und liberale, ideologisch-doktrinäre und offene Modelle nebeneinander existieren. Auch formell säkulare Staaten können unterschiedliche Varianten von Krypto-Staatsreligion ausbilden. Dies kann unter dem Vorwand der Förderung eines »nationalen Erbes« oder im Medium mehr oder weniger strammer Leitkulturkonzepte geschehen; die Beispiele dafür sind zahlreich und finden sich unter verschiedenen religionskulturellen Vorzeichen in praktisch allen Regionen der Welt. Darüber hinaus kann sich die Säkularität des Staates mit Formen säkularistischer Weltanschauungspolitik amalgamieren und gleichsam von innen her doktrinäre Züge annehmen; fließende Übergänge sind dabei möglich, was die kritische Bearbeitung zusätzlich erschwert. Während die exklusiv-restriktive Variante staatlicher Säkularität von vornherein wenig Raum für die Entfaltung der Religionsfreiheit lässt, bietet das Konzept einer »inklusiven Säkularität« prinzipiell günstige Voraussetzungen. Die viel beschworene »Trennung« zwischen Staat und Religionsgemeinschaften fungiert hier, genau genommen, als die gleichsam negative Vorbedingung für eine letztlich positive Investitionsleistung des Staates, nämlich die Eröffnung eines Entfaltungsraums, in dem sich religiöser und weltanschaulicher Pluralismus angstfrei und diskriminierungsfrei manifestieren kann. Wenn der Begriff der »Trennung« isoliert verwendet wird, wie dies häufig geschieht, entstehen leicht Missverständnisse, wie Martha Nussbaum schreibt: »The prominence of the bare idea of separation in current debate is a source of confusion, since separation, when not further interpreted 45
General Comment Nr. 22, UN Doc. CCPR/C/21/Rev.1/Add.4, Ziffer 9. Unter Ziffer 10 werden diese Überlegungen analog auch auf Staatsideologien nicht-religiöser Provenienz übertragen.
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through other concepts, may suggest the idea of marginalizing religion or pushing it to the periphery of people’s lives.«46 Im Englischen verwendet man gern den Begriff der »compartmentalization«, um Tendenzen zur Zerstückelung der Lebenswelt in allerlei Sonderzonen zu bezeichnen. Die Trennung von Staat und Religion wird oft genauso aufgefasst, und zwar sowohl von den Protagonisten eines säkularen Staates als auch – vermutlich mehr noch – von seinen Gegnern, die damit die Legitimität eines solchen Modells insgesamt in Frage stellen. Um derart verengten Lesarten staatlicher Säkularität entgegenzuwirken, bietet es sich an, die negative Komponente der Trennung – besser: der Abstandnahme – als Bestandteil eines insgesamt positiven Bemühens auszuweisen, nämlich um die Schaffung eines Entfaltungsraums für religiösen und weltanschaulichen Pluralismus. Ohne die klar gesetzte Differenz zwischen Staat und Religionsgemeinschaften kann ein solcher Raum weder entstehen noch aufrechterhalten werden. Die Säkularität des Staates ließe sich in diesem Sinne positiv als »space-providing principle« im Interesse der Religionsfreiheit dechiffrieren. Der säkulare Raum bildet dabei nicht jenen religionsfreien, vom Staat purifizierten, gleichsam »leeren« Raum, als den seine Gegner ihn oft denunziert haben, sondern einen offenen Raum, den konkret zu füllen den Religionsgemeinschaften und ihren Angehörigen überlassen bleibt, sind sie doch die Träger des Rechts auf Gedanken-, Gewissens-, Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Ein offener Raum für religiösen und weltanschaulichen Pluralismus ist niemals schlichte Gegebenheit, sondern muss politisch immer wieder neu gestaltet werden. Säkularität des Staates klingt für manche Menschen nach Passivität, als solle sich der säkulare Staat aus Belangen von Religion und Glauben schlicht »heraushalten«. Wiederum finden sich solche Vorstellungen sowohl unter den Anhängern als auch – vermutlich mehr noch – bei den Gegnern des säkularen Staates. Manche mögen sich an das altliberale Ideal des »Nachtwächterstaats« erinnert fühlen, der sich auf minimale Schutzfunktionen zurückzieht und alles andere dem freien Spiel der gesellschaftlichen Kräfte überlässt. Eine solche Praxis des Heraushaltens reicht aber nicht hin. Ein offener Raum, in dem religiöse und weltanschauliche Vielfalt angstfrei und diskriminierungsfrei gelebt werden kann, ist niemals einfach »da«, sondern muss gestaltet und gegen etwaige Schließungstendenzen, die von innen wie von außen her drohen können, verteidigt werden. Dies verlangt dem Staat religionspolitische »Investitionen« ab – zum Beispiel dergestalt, dass er Religion als Thema schulischer Bildung curricular verankert, die Voraussetzungen für den Erwerb geeigneter kollektiver Rechtspersönlichkeit seitens Religionsgemeinschaften schafft, Infrastrukturmaßnahmen zur Förderung religiöser Minderheiten 46
Martha C. Nussbaum, Liberty of Conscience. In Defense of America’s Tradition of Religious Equality, New York: Basic Books, 2008, S. 20f.
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ergreift, wirksame Antidiskriminierungsgesetze umsetzt, interreligiöse Kommunikation fördert und zivilgesellschaftliche Initiativen zur Überwindung religionsbezogener Stereotypen unterstützt. Im Horizont einer inklusiven Säkularitätskonzeption lassen sich ferner manche Konfusionen um den Begriff der »weltanschaulich-religiösen Neutralität« des Staates ausräumen, der in der Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichts eine große Rolle spielt.47 Das Prinzip der Neutralität ist gleich mehreren Missverständnissen ausgesetzt. Zunächst mag Neutralität nach jener Passivität klingen, die wir gerade angesprochen und zurückgewiesen haben. Unter der Überschrift »Zeitalter der Neutralisierungen« attackiert beispielsweise Carl Schmitt einen sukzessiven Substanzverlust des Politischen, der seines Erachtens nach den modernen Liberalismus kennzeichnet.48 Der liberale Staat kenne keine echten Überzeugungen oder Positionen, für die er zu kämpfen bereit sei, sondern fungiere nur noch als Sachwalter ökonomischer Interessen – so Schmitt. Gegen solche Polemik steht ein Verständnis von Neutralität als Fairness, das dem Staat gerade anspruchsvolle Aktivitäten abverlangt. Neutralität als Fairness ist keine Haltung des laisser-faire oder des sich Heraushaltens, sondern verlangt sensibles Hinhören nach allen Seiten hin, damit staatliches Handeln den Menschen unterschiedlicher religiöser oder weltanschaulicher Orientierung gerecht werden kann. Das Prinzip der weltanschaulich-religiösen Neutralität sollte daher auch nicht mit moralischer Neutralität – landläufig formuliert: mit »Wertneutralität« – verwechselt werden; dies wäre ein ebenfalls häufig anzutreffendes Missverständnis. Die Neutralität steht ihrerseits gerade für eine »Werthaltung«, nämlich das Bemühen um die faire Berücksichtigung unterschiedlicher religiöser und weltanschaulicher Positionen in der pluralistischen Gesellschaft. Dieses Bemühen bleibt darüber hinaus unvermeidlich »work in progress«. Kein Staat wird jemals mit Fug und Recht behaupten können, in Sachen von Religion und Weltanschauung tatsächlich im umfassenden Sinne »neutral« zu sein, also das Gebot gleichen fairen Abstands zu allen voll verwirklicht zu haben.49 Die lebensweltlichen Einflüsse historisch maßgebender religiöser oder weltanschaulicher Traditionen auf unser Handeln und die Strukturen, in denen wir uns bewegen, sind niemandem vollends transparent – auch den staatlichen Akteuren nicht. Unkritische Neutralitätsunterstellungen können daher leicht zum 47
48 49
Vgl. zum Beispiel Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts, Bd. 19, S. 216: »Das Grundgesetz legt […] dem Staat als Heimstatt aller Staatsbürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auf.« Carl Schmitt, Der Begriff des Politischen, Berlin: Duncker & Humblot, 1963 (als Nachdruck der 2. Aufl. von 1932), S. 79. Vgl. Rex Tauati Ahdar, »Why Secularism Is Not Neutral«, in: Jaime Contreras/Rosa María Martínez de Codes (Hg.), Trends of Secularism in a Pluralistic World, Madrid: Iberoamericana, 2013, S. 107-144, hier S. 115.
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Vorwand für Diskriminierungen werden.50 Wer Neutralität schlicht mit dem politischen oder rechtlichen Status quo identifiziert, sitzt jedenfalls mit Sicherheit einer Selbsttäuschung auf. Neutralität, als Fairness-Prinzip verstanden, verlangt aktive Maßnahmen, um hegemoniale Zustände aufzudecken und zu reformieren.51 Die im Anspruch staatlicher Säkularität angelegte »Trennung« – besser gesagt: immer wieder neu zu leistende Abstandnahme – meint keineswegs Beziehungslosigkeit zwischen Staaten und Religionen und Weltanschauungen; eine völlige Beziehungslosigkeit wäre streng genommen gar nicht möglich. Vielmehr geht es um eine klare Funktionsdifferenz, die ihrerseits dazu dient, den Staat als »Heimstatt aller Staatsbürger«52 , quer zu ihren religiösen oder weltanschaulichen Orientierungen, offen zu halten und wechselseitige Übergriffe von Staat und Religionsgemeinschaften zu verhindern. Eine solche Funktionsdifferenz schließt Kooperation nicht aus, sondern schafft die Voraussetzungen dafür, dass sie ohne wechselseitige Grenzüberschreitungen gelingen kann. Eine förmlich geregelte Kooperation ist deshalb nicht per se Ausdruck einer inkonsistenten, irgendwie noch »hinkenden« Säkularität, wie es gelegentlich heißt. Wohl aber müssen Kooperationsbeziehungen zwischen Staat und Religionsgemeinschaften dem Prinzip der Diskriminierungsfreiheit genügen. Dies verlangt, die Kriterien der Kooperation zwischen Staat und Religionsgemeinschaften so zu gestalten, dass die Angehörigen unterschiedlicher Gruppierungen, wenn sie dies denn wollen, nach Maßgabe ihrer Bedarfslagen gleichermaßen von staatlichen Unterstützungs- und Kooperationsoptionen profitieren können. Wie in den Überlegungen zur »komplexen Gleichheit« ausgeführt wurde, ist dies sicher leichter gesagt als getan.53 Die Aufgabe einer diskriminierungsfreien Gestaltung des Zusammenlebens lässt sich deshalb nur in beständiger Kommunikations- und Reformbereitschaft in Angriff nehmen. Die Gewährleistung von »reasonable accommodation« für religiöse und weltanschauliche Minderheiten, so sie dies möchten, gehört dazu. Religion ist eine gesellschaftliche Realität, die der Staat nicht ignorieren kann. Andernfalls riskiert er die Verhärtung diskriminierender Strukturen, die Herausbildung geschlossener separater Milieus und gesellschaftliche Spaltungen. Deshalb sollte ein säkularer Staat des inklusiven Typus durchaus aktive »Religionspolitik« betreiben. Für einen auf die Menschenrechte verpflichteten Staat kann es dabei freilich weder um die Befestigung nationalreligiöser Identitäten noch um 50 51
52 53
Vgl. dazu oben die Ausführungen in den Abschnitten 4.4 bis 4.6. Zur Frage der unternehmerischen Freiheit eines Arbeitgebers, seinen Kunden ein Bild der »Neutralität« zu vermitteln, vgl. die beiden Urteile des Gerichtshofs der Europäischen Union vom 14. März 2017, Samira Achbita und Centrum voor gelijkheid van kansen en voor racismebestrijding v. G4S Secure Solutions NV, Rechtssache C-157/15; Asma Bougnaoui und Association de défense des droits de l’homme (ADDH) v. Micropole SA, Rechtssache C-188/15. So eine häufig gebrachte Formulierung des Bundesverfassungsgerichts. Vgl. die Ausführungen in den Abschnitten 4.5 und 4.6.
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die Durchsetzung religiöser oder weltanschaulicher Wahrheitsansprüche gehen. Legitimes Ziel staatlicher Religionspolitik kann vielmehr nur die Durchsetzung effektiver Freiheit und Gleichberechtigung der Menschen in Fragen von Religion und Weltanschauung sein. Die Religionsfreiheit ist insofern zugleich Zielrichtung und Grundlage einer offenen und inklusiven Staatssäkularität, deren konkrete Konturen immer wieder neu erarbeitet werden müssen.
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7. Verletzungen der Religionsfreiheit
7.1
Zum Einstieg: einige Impressionen
In einem kleinen Bergdorf im Norden Vietnams, nahe der chinesischen Grenze, stehen wir1 vor den Trümmern einer schlichten hölzernen Beerdigungshütte. Niedergebrannt wurde sie einige Wochen zuvor von der vietnamesischen Polizei, die bei diesem Einsatz mehrere Dorfbewohner schwer verprügelte. Einige zeigen uns die Spuren ihrer Verletzungen; eine junge Frau liegt immer noch im Koma. Das »Vergehen« der Menschen: Sie haben die Hütte ohne staatliche Baugenehmigung errichtet. Dass in einer fast menschenleeren Gegend eine Genehmigung für das Einrammen von ein paar Holzpfählen erforderlich sein soll, mutet seltsam an. Tatsächlich geht es wohl um mehr: Ein protestantischer Wanderprediger hatte die Bevölkerung in dieser entlegenen Bergregion dazu gebracht, ihre traditionell sehr aufwendigen, für ärmere Familien oft ruinösen Beerdigungsriten zu vereinfachen. Statt die Dorfgemeinschaft über eine ganze Woche hinweg zu verköstigen, so die Empfehlung des Predigers, sollte die Familie künftig nur noch eine einzige Mahlzeit zu Ehren des Verstorbenen ausrichten. Außerdem sollte die Beerdigung möglichst zügig erfolgen, nicht erst – wie bis dahin üblich – nach vielen Tagen Aufbahrung in der Wohnung. Dieser neuen Praxis dienen auch die neu errichteten hölzernen Beerdigungshütten. Wenn aber Dorfgemeinschaften erst einmal anfangen, ihre Angelegenheiten eigenmächtig in die Hand zu nehmen und Reformen durchzuführen, liegt darin womöglich schon der Keim zur Infragestellung des Politikmonopols der kommunistischen Partei. So jedenfalls die Befürchtung der vietnamesischen Staatsfunktionäre, die auf jede »Aufsässigkeit« schnell und mit Härte 1
Der Begriff »wir« bedeutet nicht notwendigerweise, dass beide Autoren dieses Buches gemeinsam an den hier angesprochenen fact-finding-missions teilgenommen haben. Die folgenden Beispiele sind den Berichten von Missionen des UN-Sonderberichterstatters über Religions- und Weltanschauungsfreiheit zwischen 2010 und 2016 entnommen, die jeweils mit einem kleinen Team durchgeführt wurden. Die ausführlichen Länderberichte finden sich allesamt auf der Website des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte (Office of the High Commissioner for Human Rights) unter www.ohchr.org/EN/Issues/FreedomReligion/Pages/ FreedomReligionIndex.aspx, abgerufen am 12. November 2019.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
reagieren. Das Strafrecht ist flexibel genug und bietet für alles einen passenden Vorwand. Per Formular sollen sich die Dorfbewohner verpflichten, zu den Riten ihrer Vorfahren zurückzukehren. Im Chaco-Gebiet in Paraguay, weitab der Hauptstadt, führt eine Abordnung indigener Völker Klage über den fast vollständigen Verlust ihres spirituellen Erbes. Seit deutschstämmige Mennoniten mit ihrem sprichwörtlichen Fleiß in der Region ein blühendes Agro-Business aufgebaut haben, sehen sich die Indigenen auf den Status abhängiger Landarbeiter reduziert. Ihre traditionellen Lebensgrundlagen sind weithin zerstört; viele sind arbeitslos und leben unter prekären Bedingungen. In den örtlichen Bibelschulen lernen ihre Kinder, dass sie die »heidnischen« Praktiken ihrer Vorfahren hinter sich lassen sollen. Alternativen zu den von den Mennoniten betriebenen Bibelschulen sind kaum verfügbar. Der Zusammenhalt zwischen den Generationen zerbröselt, den Menschen fehlt jede Zukunftsperspektive. Die Situation hat tragische Züge. Denn die in der Region ökonomisch, politisch und kulturell tonangebenden Mennoniten haben in den fünf Jahrhunderten ihrer Geschichte selbst immer wieder religiöse Repression erlitten. Aus Holland und Deutschland wanderten viele dereinst nach Russland aus, wo sie später unter Stalin blutig dezimiert wurden. Einigen gelang Ende der 1920er Jahre die Auswanderung nach Lateinamerika, auch in den Chaco. Im Aufbau eines prosperierenden neuen Gemeindelebens sehen sie ein Zeichen göttlichen Segens. Für die indigene Bevölkerung in der Region gilt dies aber nicht. Für ihre Menschenrechte und nicht zuletzt ihre Religionsfreiheit ist die Entwicklung existenzbedrohend. Syrische Flüchtlingskinder kriechen durch den Schlamm. Es hat geregnet, und die Temperaturen in der Bekaa-Ebene nahe der syrischen Grenze liegen nur knapp über null Grad. Aber in den Wellblechhütten ist es eng und stickig, und Schulen oder Freizeiteinrichtungen gibt es nicht. Hier von einem »Lager« zu sprechen, wäre eine Beschönigung der Verhältnisse. Die Umgebung erinnert eher an eine aufgegebene Müllkippe. Die Flüchtlingskinder gehören zu den Opfern eines Regionalkrieges, in dem neben verschiedenen machtpolitischen Faktoren auch Religionsdifferenzen eine Rolle spielen. Nicht nur islamistische Terrorgruppen verüben Gräueltaten im Namen Gottes; auch Assads Militär beruft sich auf Religion. Weit über eine Million Syrer sind über die offene Grenze in den Libanon geflüchtet. Die Regierung des kleinen Landes befürchtet, dass die überwiegend sunnitischen Flüchtlinge die prekäre konfessionelle Balance ins Rutschen bringen könnten, zumal die Libanesen das Trauma ihres eigenen, ebenfalls religiös eingefärbten Bürgerkriegs noch lange nicht überwunden haben. Die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der UNFlüchtlingsorganisation leisten Nothilfe, können die Geflüchteten aber kaum ausreichend versorgen, geschweige denn einen regelmäßigen Schulbesuch der Kinder gewährleisten. Im nationalen Hindu-Tempel in Dhaka, der Hauptstadt Bangladeschs, proben einige ältere Frauen den Aufstand. Eine nach der anderen greift zum Mikrophon,
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
um das unerträgliche Los der Witwen zu beklagen, die nach einem veralteten Verständnis des Hindu-Familienrechts behandelt werden. Da sie oft kein eigenständiges Erbrecht haben, sind viele von ihnen auf Gnade und Verderb von ihren Angehörigen abhängig. Für die anwesenden Hindu-Frauen ist es vermutlich das erste Mal, dass sie sich öffentlich über erfahrene Demütigungen äußern. Sie ringen nach Worten; immer wieder versagt ihnen die Stimme. Aber die Leidenschaft, mit der sie sprechen, lässt sich nicht überhören. Die mehr oder weniger säkulare Regierung des überwiegend muslimischen Bangladesch traut sich an eine Reform des Familienrechts aus Angst vor der Opposition auf absehbare Zeit nicht heran. Damit aber bleiben diskriminierende Strukturen bestehen, unter denen vor allem Frauen aus religiösen Minderheiten leiden. Wir fahren durch Transnistrien, eine separatistische Region, die 1990 einseitig die Unabhängigkeit von der Republik Moldau erklärte und seit 1992 außerhalb der Kontrolle der moldawischen Regierung liegt. Auf den Dorfplätzen steht Lenin noch auf dem Sockel und in den Amtsstuben der international nicht anerkannten de facto Behörden hängt nach wie vor die alte Fahne mit Hammer und Sichel. Alles wirkt wie aus der Zeit gefallen. Ein alter Jude, den wir in der de facto »Hauptstadt« Tiraspol treffen, hat immer noch Angst davor, die rumänischen Faschisten könnten wiederkommen und ihn verschleppen – wie einst in seiner Kindheit. Die älteren Menschen haben Faschismus, Naziherrschaft, Weltkrieg, stalinistischen Terror, Zerfall der UdSSR, Bürgerkrieg, Raubkapitalismus und Oligarchenherrschaft erlebt, aber nie die Gelegenheit gefunden, über traumatisierende Erfahrungen in größerer Öffentlichkeit zu sprechen. Eine öffentliche Erinnerungskultur besteht nicht einmal in Ansätzen. Ob es den Holocaust an den Juden gegeben habe oder nicht, wird als persönliche »Ansichtssache« betrachtet, über die sich niemand groß aufregt. Die Konturen von realer Geschichte und »fake history« rutschen derart ineinander, dass Begriffe wie »Faschist«, »Nazi« oder »Bolschewik« über einen diffusen Negativklang hinaus kaum noch konkrete Gehalte transportieren. Sie werden damit zu willkürlich verfügbaren Etiketten in den Propagandakampagnen einer gespenstischen, postfaktischen Politik. Die Geister der Vergangenheit konnten in diesem politischen Klima nie zur Ruhe kommen. Deshalb suchen die Menschen Schutz bei den existierenden Autoritäten und nehmen deren Praktiken schulterzuckend hin. Sierra Leone gehört zu den Ländern, aus denen man keine positiven Nachrichten erwartet. Umso beeindruckender sind die Bemühungen, die Zerstörungen des Bürgerkrieges (1991-2002) zu überwinden, dessen Spuren noch überall sichtbar sind. Eine treibende Kraft der Aufarbeitung ist der »Interreligiöse Rat«, der nicht nur in der Hauptstadt besteht, sondern auch in den Provinzen Zweigstellen eingerichtet hat. Muslime und Christen leben in Sierra Leone eng zusammen, interreligiöse Ehen sind weit verbreitet, und Glaubenswechsel in alle Richtungen, auch vom Islam zum Christentum, finden öfter statt. Die Spaltung der Gesellschaft
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durch den Bürgerkrieg hatte – anders als jüngst in der Zentralafrikanischen Republik – die Religionsgemeinschaften in Sierra Leone kaum erfasst. Das macht es möglich, dass sie im schwierigen Prozess der gesellschaftlichen Versöhnung eine produktive Rolle spielen. Gemeinsam sorgen sie auch dafür, dass religiöser Extremismus in Sierra Leone bislang ein Randphänomen geblieben ist. »Dies ist ein gesegnetes Land«, betont ein Imam auf einer Sitzung des Interreligiösen Rats und alle Anwesenden – Sunniten, Schiiten, Ahmadis, Anglikaner, Methodisten, Evangelikale – sagen »Amen«. Wir brechen die im Stakkato präsentierten kurzen Skizzen hier ab. Natürlich sind sie in keiner Hinsicht »repräsentativ«. Sie sollten lediglich zum Einstieg illustrieren, wie unterschiedlich sich Problemlagen der Religionsfreiheit vor Ort anfühlen können. Jedes Land weist seine Eigenheiten auf, jede Situation hält ihre Überraschungen bereit, und jeder betroffene Mensch hat seine ganz persönliche Geschichte zu erzählen. Man trifft Menschen, die durch erlittenes Unrecht zerbrochen sind und jede Hoffnung aufgegeben haben. Man erlebt aber auch Initiativen, die Mut machen. Wir sind Menschen begegnet, die jahrzehntelang im Gefängnis gesessen hatten, ohne zu verbittern. Wer sich der verwirrenden Vielfalt von Verletzungen der Religionsfreiheit in verschiedenen Ländern und Regionen aussetzt, entwickelt Skepsis gegenüber allen Versuchen, die Situation der Religionsfreiheit weltweit übersichtlich zu kartographieren, in Zahlen zu übersetzen oder gar in Hitlisten des Schreckens nach Punkten zu bewerten.2 Genau dies wird allerdings immer wieder – nicht zuletzt von den Medien – gewünscht, die sich mit komplexen Themen gerne über scheinbar eindeutige Zahlen beschäftigen.3 Solche Zahlen können und wollen wir in diesem Kapitel nicht präsentieren. Eine umfassende inhaltliche Berichterstattung zu allen Ländern der Welt (mit Ausnahme der USA), wie sie seit mittlerweile zwei Jahrzehnten vom US-Außenministerium Jahr für Jahr vorgelegt wird,4 würde hingegen 2
3
4
Vgl. Janika Spannagel, »Ereignisdaten: Irrlichter in der Erfassung menschenrechtlicher Trends«, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Bd. 1 (2019)(Schwerpunktthema: »Menschenrechte in Zahlen«), S. 7-26. Auf starke mediale Aufmerksamkeit stoßen beispielsweise die jährlichen Berichte von »Open Doors«, die mit ihrem negativen Ranking der 50 schlimmsten Staaten in Sachen Christenverfolgung für Schlagzeilen sorgen, vgl. https://www.opendoors.de/sites/default/files/Open_ Doors_WVI_Bericht_2019_signiert.pdf, abgerufen am 12. November 2019. Mittlerweile gibt es in Gestalt des »freedom of thought report« ein, wenn auch noch weniger ausgereiftes, Pendant, das sich der Verfolgung von Konfessionslosen und Religionskritikern widmet und diesbezüglich ein Ranking sämtlicher Staaten der Welt durchführt. Vgl. https://humanists. international/what-we-do/freedom-of-thought-report, abgerufen am 12. November 2019. Die Botschaften der USA in aller Welt liefern das Material für den jährlich erscheinenden International Religious Freedom Report, der die Lage der Religionsfreiheit weltweit nach einer vorgegebenen Matrix beschreibt, vgl. https://www.state.gov/international-religiousfreedom-reports/, abgerufen am 12. November 2019. Die Berichte des US State Department
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viele Tausend Seiten umfassen. Seit 2013 gibt es auch Jahresberichte der European Parliament Intergroup on Freedom of Religion or Belief and Religious Tolerance.5 In diesen Berichten werden ausgewählte Staaten außerhalb der EU nach Situation und Veränderungspotenzial bewertet. Nachdem die Bundesregierung im Frühjahr 2018 das Amt eines Beauftragten für weltweite Religionsfreiheit geschaffen hat, wird es in Zukunft regelmäßig entsprechende Länderberichte geben, die der Beauftragte, in Absprache mit dem Auswärtigen Amt, dem Deutschen Bundestag vorlegen wird.6 Um auf dem knappen Raum eines Buchkapitels prägnante Aussagen zu treffen, haben wir uns für eine typologische Darstellungsweise entschieden. Der Vorteil besteht darin, dass dadurch unterschiedliche Muster von Verletzungen der Religionsfreiheit im Kontrast zueinander beleuchtet werden können. Damit die Darstellung nicht abstrakt bleibt, fügen wir jeweils Länderbeispiele ein, legen aber Wert auf die Klarstellung, dass konkrete Ländersituationen und typologische Konstruktionen nie eins zu eins zusammenpassen.7 Wichtig ist uns auch der Hinweis, dass die folgenden Ausführungen trotz der typologischen Konzentration keineswegs alle relevanten Muster von Menschenrechtsverletzungen im Bereich der Religionsfreiheit ansprechen können. Die Darstellung bleibt unvermeidlich in vieler Hinsicht skizzenhaft.8
5 6
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sind nicht zu verwechseln mit den ebenfalls jährlich erscheinenden Berichten der von den beiden traditionellen Parteien im Kongress bestellten US Commission on International Religious Freedom (www.uscirf.gov/, abgerufen am 12. November 2019), die sich von vornherein auf Staaten mit schweren Defiziten bei der Gewährleistung der Religionsfreiheit konzentriert. Verfügbar unter: www.religiousfreedom.eu/reports/, abgerufen am 12. November 2019. Der Beauftragte, Markus Grübel, MdB, hat seinen Amtssitz im Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung, vgl. https://www.service. bund.de/Content/DE/DEBehoerden/B/Beauftragte(r)/Beauftragter-der-Bundesregierungfuer-weltweite-Religionsfreiheit/Beauftragter-der-Bundesregierung-fuer-weltweite-Religi onsfreiheit.html?nn=4641496, abgerufen am 12. November 2019. Die im Folgenden präsentierten länderspezifischen Informationen stammen teilweise aus UN-Länderberichten, an denen wir im Kontext des Mandats der Sonderberichterstattung über Religions- und Weltanschauungsfreiheit selbst beteiligt waren. Bei der Fülle der knappen Hinweise auf exemplarische Ländersituationen werden wir nicht jedes Mal die jeweiligen Referenzen angeben. Für eine frühere, weniger ausführliche Version der folgenden Darstellung vgl. Heiner Bielefeldt, »Verletzungen der Religionsfreiheit weltweit: Ursachen und Erscheinungsformen im Überblick«, in: Julia Hänni/Sebastian Heselhaus/Adrian Loretan (Hg.), Religionsfreiheit im säkularen Staat. Aktuelle Auslegungsfragen in der Schweiz, in Deutschland und weltweit, Zürich/Sankt Gallen: DIKE, 2019, S. 193-210.
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7.2
Exemplarische Problemfelder
Verletzungen der Religionsfreiheit finden in ganz verschiedenen Lebensbereichen statt: in Gerichtssälen und Gefängnissen, in staatlichen Behörden, in Krankenhäusern und psychiatrischen Anstalten, am Arbeitsplatz und in der Schule, in durch autoritäre Milieustrukturen geprägten Stadtvierteln, in der Straßenbahn und manchmal sogar im Kreis der eigenen Familie. Sie zeigen sich in staatlichen Strafdrohungen, administrativen Schikanen vielfältiger Art, familienrechtlichen Diskriminierungen, Einbürgerungshindernissen oder zwangsweisen Ausbürgerungen, verschärften Schwierigkeiten beim Zugang zum Arbeitsmarkt, der Ausgestaltung der Schulcurricula, stigmatisierenden Medienberichten, gesellschaftlichen Vorurteilen, Akten des Vandalismus und in anderen Formen. Öffentlich berichtete Menschenrechtsverletzungen stellen dabei nur die Spitze eines »Eisbergs« dar, dessen Umfang und Konturen wir allenfalls erahnen. Dies liegt vor allem daran, dass manche Übergriffe schwer zu recherchieren sind. Wenn Oppositionelle oder Dissidenten aufgrund offensichtlich manipulierter Indizien zu Haftstrafen verurteilt und in Handschellen abgeführt werden, mag die Situation recht eindeutig sein. Wie aber soll man damit umgehen, wenn bestimmte Individuen und Gruppen permanent Schwierigkeiten mit dem Finanzamt haben? Ob das bloßer Zufall ist oder böse Absicht dahintersteckt, lässt sich nicht immer leicht feststellen.9 Wenn Religionsgemeinschaften erleben, dass der Antrag auf Renovierung einer Kirche, Synagoge oder Moschee über Jahre hinweg verschleppt wird, kann dies Schlamperei oder gezielte Schikane sein. Was ist davon zu halten, wenn die Kinder mancher Minderheiten bei schulischen Prüfungen notorisch schlecht abschneiden? Liegt es an einer Bildungsferne der betroffenen Kinder oder müssen wir davon ausgehen, dass strukturelle Diskriminierungen vorliegen? Oft bewegen wir uns in Grauzonen, in denen Einschätzungen schwerfallen. Selbst die Betroffenen wissen manchmal nicht, wie sie das, was ihnen widerfährt, deuten sollen. Hinzu kommt die Erfahrung, dass gerade in hoch autoritären Staaten die Kontrolldichte so groß ist, dass es dem Staat durchaus gelingen kann, konkrete menschenrechtliche »Vorfälle«, über die in den Medien berichtet werden könnte, in Grenzen zu halten, was zu gravierenden Fehleinschätzungen, nämlich Unterschätzungen der tatsächlichen Menschenrechtslage führen kann.10 9
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Vgl. auch Ani Sarkissian, The Varieties of Religious Repression. Why Governments Restrict Religion, Oxford: Oxford University Press, 2015. Die Autorin beschäftigt sich in ihrer Studie vor allem auch mit solchen Formen der Verletzung der Religionsfreiheit, die meist unter dem Radar öffentlicher Aufmerksamkeit bleiben. Vgl. S. 182: »Because these types of restrictions tend to operate under the cover of the rule of law, they are often overlooked in studies on religion and politics in favor of higher intensity forms of religious persecution.« Vgl. J. Spannagel, »Ereignisdaten: Irrlichter in der Erfassung menschenrechtlicher Trends«, a.a.O., S. 10.
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
Wenn es um Verletzungen der Religionsfreiheit geht, richtet sich die Aufmerksamkeit zunächst meist auf solche restriktiven Maßnahmen, denen die religiös diskriminierende Absicht gleichsam auf die Stirn geschrieben ist. Dazu zählt die Ahndung von »Religionsdelikten« wie Apostasie, Blasphemie und Proselytismus.11 Strafrechtliche Maßnahmen gegen Apostasie gibt es derzeit ausschließlich in einigen islamisch geprägten Staaten, von denen manche sogar die Todesstrafe für »Abfall vom Islam« bereithalten. Sanktionen gegen »Proselytismus«, also unerwünschte Missionstätigkeit, werden demgegenüber auch in Staaten mit buddhistischem, hinduistischem oder christlichem Erbe angedroht, etwa in Armenien, Griechenland, Indien, Myanmar und Nepal, um nur einige zufällig ausgewählte Beispiele zu nennen. Obwohl sie diejenigen mit Strafe überziehen, die andere mit angeblich falschen Versprechungen zum Glaubenswechsel »verleiten«, treffen sie stets auch die Konvertitinnen und Konvertiten selbst, die auf diese Weise als naive oder unzuverlässige Opfer suspekter Machenschaften gebrandmarkt werden. Anti-Blasphemiegesetze finden sich ebenfalls unter den Vorzeichen ganz unterschiedlicher Religionen, etwa in Bangladesch, Pakistan, Russland und bis 2019 in Griechenland; wiederum ließe sich die Liste der Beispiele leicht verlängern. Was im Einzelnen als »blasphemisch« gelten soll, bleibt dabei oft nebulös, so dass der Strafverfolgung hier weites Ermessen zur Verfügung steht, das oft zu Lasten wenig geschätzter Minderheiten oder von Dissidentinnen, Religionskritikern, Atheisten und Agnostikern geht. In Pakistan steht auf Blasphemie unter Umständen sogar die Todesstrafe.12 Der gerade genannte Typus von Strafgesetzen repräsentiert die offen sichtbare Spitze des Eisbergs; denn solche Strafnormen sind in ihrer restriktiven religionsbezogenen Stoßrichtung leicht erkennbar. Wer sich bei der Analyse der Lage der Religionsfreiheit lediglich auf derartige Gesetze kapriziert, wird jedoch zu Fehleinschätzungen gelangen. In vielen Fällen kommen nämlich Strafgesetze zum Einsatz, die vordergründig »neutral« gehalten sind und mit Religion wenig oder gar nichts zu tun zu haben scheinen. Dies gilt etwa für Antiterrorismus- und AntiExtremismusgesetze, deren generelle Notwendigkeit kaum jemand bestreiten dürfte. Manchmal sind die Formulierungen der Normen auffallend vage gehalten, so dass jede missliebige Religionsausübung im Zweifel unter »Extremismus« fallen kann. Aktuell trifft dies beispielsweise Zeugen Jehovas in Russland, die nach einem 11 12
Gelegentlich werden diese Delikte als »A-B-C-laws« zusammengefasst. Das englische Akronym steht für »apostasy, blasphemy, conversion«. Berühmt wurde der Fall der Christin Asia Bibi, die im November 2010 unter obskuren Bedingungen wegen Beleidigung des Propheten zum Tode verurteilt wurde; nach Jahren des Ausharrens in der Todeszelle im Oktober 2018 dann vom Obersten Gerichtshof Pakistans freigesprochen wurde. Neben religiösen Minderheiten, zu denen auch innerislamische Minderheiten wie die Ahmadiyya zählen, bedroht der Vorwurf der Blasphemie auch kritische Muslime.
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Urteil des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation vom April 2017 als Religionsgruppe aufgelöst worden sind.13 Warum sie als »Extremisten« gelten, ist in der Sache nicht nachvollziehbar. Unter dem Vorwand der Verbreitung von Hass wurde vor einigen Jahren ein schismatischer Bischof in Nordmazedonien zu einer Gefängnisstrafe verurteilt; sein »Vergehen« bestand darin, dass er eine eigenständige Diözese eingerichtet hatte und – laut dem erstinstanzlichen Gerichtsurteil – dadurch die religiösen Sensibilitäten verletzt sowie Hass gegen sich und seine Anhänger angefacht habe.14 In der Türkei ist der Vorwurf des Terrorismus in den letzten Jahren zur gängigen politischen Münze geworden und richtet sich gegen Personen und Organisationen, deren Loyalität seitens der Regierung bezweifelt wird. Das vietnamesische Strafgesetz hält mit dem »Verbot des Missbrauchs demokratischer Freiheiten« ein Instrument bereit, das sich aufgrund seiner völlig offen gehaltenen Formulierung gegen jedes Verhalten einsetzen lässt, das der Regierung verdächtig vorkommt oder ihren Interessen im Wege steht. Ein vermutlich noch umfangreicherer Teil des schwer zu umreißenden Eisbergs liegt im Bereich administrativer Schikanen. In manchen Staaten wird die Ausübung der Religionsfreiheit – vor allem in ihren kommunitären Dimensionen – von komplizierten administrativen Genehmigungen abhängig gemacht, die ggf. sogar periodisch zu erneuern sind. Für Religionsgemeinschaften kann dies auf einen nie endenden Kampf mit der Bürokratie hinauslaufen, die ihnen immer wieder neue Unterschriften, Beglaubigungen, Finanzauskünfte, Mitgliederkarteien und Unterschriften abverlangt. Im Falle unkorrekter oder unvollständiger Angaben, die man im Wust der Formulare immer finden kann, drohen Geldstrafen, Schließungen oder Konfiskationen. In Ländern wie Kasachstan, Tadschikistan, Turkmenistan oder Vietnam sind für Gottesdienste, Jugendausflüge, Import und Verbreitung religiöser Schriften, Missionstätigkeit, religiöse Schulungen usw. spezielle Lizenzen erforderlich, die oft nicht nur zeitlich befristet, sondern ggf. auch örtlich begrenzt sind. Deshalb bewegt sich religiöse Praxis dort stets in Grauzonen der Rechtsunsicherheit. Um sich Ärger zu ersparen, kooperieren die Gemeinden dann lieber mit den Behörden, verhalten sich vorsichtig und melden sämtliche Aktivitäten rechtzeitig an; damit erfüllen sie genau den Zweck der Auflagen. Wie bereits dargestellt, können behördliche Schikanen auch in Gestalt von NichtAktivitäten vorkommen: Anträge auf Einrichtung eines religiösen Kindergartens 13
14
Vgl. »Oberster Gerichtshof verbietet Zeugen Jehovas«, in: Die ZEIT vom 20. April 2017, verfügbar unter: https://www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2017-04/russland-zeugenjehovas-verbot-beschlagnahmung-besitz-extremismus, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. Bitola Court of First Instance, zitiert durch den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Entscheidung vom 26. Mai 2009: Vraniskoski v. the former Yugoslav Republic of Macedonia (appl. 37973/05). Vgl. auch die Zitate in der EGMR-Entscheidung vom 16. November 2017, Orthodox Ohrid Archdiocese (Greek-Orthodox Ohrid Archdiocese of the Peć Patriarchy) v. the former Yugoslav Republic of Macedonia (appl. 3532/07), Ziffern 8 und 37-41.
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
bleiben unbearbeitet liegen und Genehmigungen für die Durchführung notwendiger Reparaturen an Gotteshäusern werden auf unabsehbare Zeit verschleppt. In manchen Situationen nehmen die Menschen absurd anmutende Umwege in Kauf, indem sie beispielsweise zunächst eine Hühnerfarm bauen, um sie anschließend in eine Kirche umzuwandeln, was mancherorts anscheinend einfacher ist als von vornherein den Bau eines Gotteshauses zu beantragen. Strukturelle Probleme für die Religionsfreiheit existieren auch im Bereich des Familienrechts. Dies sei kurz am Beispiel des vergleichsweise liberalen Libanon illustriert.15 Dort existieren 16 parallele Zweige religiöser Familiengerichtsbarkeit, die allesamt konfessionell strukturiert sind. Eine säkulare Option besteht im Lande offiziell nicht. Manche interreligiöse Konstellationen sind in dieser komplizierten konfessionellen Struktur nicht vorgesehen. Den Betroffenen bleibt dann oft nur der Ausweg, eine Ehe im Ausland – typischerweise im nahe gelegenen Zypern – einzugehen und dann bei der Wiedereinreise registrieren zu lassen. Für Atheisten ist innerhalb des libanesischen Familienrechts ebenfalls kein Platz vorgesehen; auch sie sind daher auf Auswege, Umwege und Tricks verwiesen, die manche als demütigend empfinden. Große Rechtsunsicherheiten drohen bei der Scheidung interreligiöser Ehen und den dann anstehenden Entscheidungen über das Sorgerecht für die Kinder oder über Erbangelegenheiten. Der Mangel an säkularen familienrechtlichen Optionen setzt übrigens manchmal merkwürdige Anreize. Weil das kanonische Recht der Katholischen Kirche, zu der im Libanon auch die große Gruppe der Maroniten zählt, keine Ehescheidung kennt, konvertieren manche Katholiken zum Zweck der Ehescheidung vordergründig zum Islam; denn dies ist der leichteste Ausweg. Das schafft schizophrene Situationen, unter denen die Betroffenen sehr leiden können, vor allem wenn sie sich ihrer Herkunftsgemeinschaft innerlich weiterhin verbunden fühlen, nunmehr aber nicht oder nur unter Inkaufnahme großer Schwierigkeiten dorthin zurückfinden können. Die hier am Beispiel des Libanon beschriebene Problematik findet sich ähnlich ebenfalls in anderen islamisch geprägten Ländern, aber auch in Israel. Außerdem gibt es seit 2015 in Myanmar restriktive Familiengesetze, die auf den Schutz der buddhistischen Hegemonie abzielen. Auch die Schule ist ein Ort, an dem Verletzungen der Religionsfreiheit geschehen können. Aus einem orthodox geprägten Land erhielten wir Berichte darüber, dass Geistliche in der Schule während der Unterrichtszeit Kindern die Beichte abgenommen hätten. Falls dies stimmt, wäre es eine nicht hinnehmbare Grenzverletzung; denn beim Schulunterricht handelt es sich um eine staatliche Pflichtveranstaltung, die nicht dazu ausgenutzt werden darf, Kinder oder ihre Eltern in religiösen Fragen unter Druck zu setzen. Vertreter der muslimischen Uiguren berichten, 15
Vgl. den Bericht zur UN-fact-finding-Mission in Libanon: UN Doc. A/HRC/31/18/Add.1, Ziffern 68-74.
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dass Schulkinder in der chinesischen Provinz Xinjiang während des Ramadans mit der klaren Erwartung konfrontiert würden, an Schulspeisungen teilzunehmen. Ziel dieser Maßnahmen sei es, den Kindern die Erfahrung kollektiver religiöser Identität zu verbauen. Der UN-Kinderrechtsausschuss musste sich mit Vorwürfen befassen, wonach in einigen Schulen Myanmars Kinder ohne Wissen und Zustimmung der Eltern zum Buddhismus bekehrt worden seien.16 Für den schulischen Religionsunterricht hat der UN-Menschenrechtsausschuss bestimmte Bedingungen verlangt.17 Sofern es sich um einen auf religiöse Unterweisung zielenden, also bekenntnisorientierten Unterricht handelt, sollte dieser freiwilligen Charakter haben. Zumindest muss es möglich sein, sich ohne etwaige Nachteile von einem solchen Unterricht abzumelden, wenn die Kinder bzw. Eltern dies wünschen. Eine andere Funktion hat ein sachlich informierender Unterricht, der mit Fragen von Religion und Weltanschauung eher im Modus akademischer Distanz umgeht – analog zu anderen informierenden Fächern wie Geschichte, Kunst oder Geographie. Eine solche informierende Religionskunde kann, sofern sie von Elementen religiöser Mission und Unterweisung klar Abstand hält und sich um Objektivität in der Darstellung bemüht, durchaus auch Pflichtfach sein. Oft sind die Grenzen zwischen beiden Varianten indessen unklar oder fließend. Weil ein primär auf das christliche Erbe fokussierter Religionskundeunterricht diesbezüglich Fragen aufwarf, kassierte Norwegen vor einigen Jahren Rügen sowohl vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte18 als auch vom Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte der Vereinten Nationen.19 Die Türkei wurde vom Straßburger Gericht verurteilt, weil sie zwar für Christen, nicht aber für Aleviten die Option einer Abmeldung von einem Ethikunterricht eröffnet hatte, der starke Züge eines sunnitischen Religionsunterrichts aufweist.20 Zumindest kurz angesprochen sei hier auch das Thema medialer Hassbotschaften. In autoritär geführten Staaten stehen vielfach die Staatsmedien bereit, um antisemitische Verschwörungstheorien zu verbreiten; auch Konvertiten, ausländische Missionare oder sonstige »Verräter« sehen sich dort einem beständigen Trommelfeuer ausgesetzt. Anderswo schießt sich die staatliche Propaganda vor allem auf Muslime ein. Aber auch in den mehr oder weniger liberalen Gesellschaften Europas greifen hasserfüllte Botschaften gegen Minderheiten, oft verbreitet über die sogenannten sozialen Medien, immer mehr um sich. In jenen Filterblasen, in denen sich nur Gleichgesinnte begegnen, fallen Anreize zur Abwägung unterschiedlicher Argumente und zur sorgfältigen Recherche weitgehend weg. Aufmerksamkeit im 16 17 18 19 20
Vgl. UN Doc. CRC/C/MMR/CO/3-4, Ziffer 45. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr. 22, Ziffer 6. Vgl. EGMR, Folgerø and Others v. Norway (appl. no. 15472/02), vom 29. Juni 2007. Vgl. Human Rights Committee, Leirvåg and Others v. Norway, 3. November 2004, UN Doc. CCPR/C/82/D/1155/2003. Zu diesem Fall vgl. auch die Ausführungen in Kapitel 8.6. Vgl. EGMR, Zengin v. Turkey (appl. no. 1448/04), vom 9. Oktober 2007.
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
Pool der »likeminded people« gewinnt man außerdem am ehesten durch massives Auftrumpfen gegen Andere. Wenn die rhetorische Eskalationsspirale aber auf keine Widerstände stößt, fallen schließlich oft auch die letzten Hemmungen, so dass Hass und Häme freien Lauf erhalten. Auch Verschwörungsphantasien gedeihen vor allem dort, wo wilde Projektionen weder durch wirkliche Begegnungen noch durch widerständige Tatsachen gebrochen werden. Solche Propaganda kann den Boden für gewaltsame Hassaktionen bereiten. Der bereits angesprochene »Rabat Plan of Action«21 enthält einen Katalog von Maßnahmen, die – vor allem unter positiver Nutzung der Meinungsfreiheit – Aufstachelungen zu Hassaktionen entgegenwirken sollen. In gravierenden und zugleich eindeutigen Fällen ist hier auch das Strafrecht gefordert; einschlägig in Deutschland wäre vor allem der Paragraph 130 des Strafgesetzbuchs, der Volksverhetzung unter Strafe stellt. In den letzten Jahren haben wir erlebt, dass viele der gravierendsten Verletzungen der Religionsfreiheit von nicht-staatlichen Akteuren ausgehen. In Nigeria entführte die islamistische Terrorsekte Boko Haram mehrere Hundert christliche Mädchen. Viele dürften mit Zwang zum Islam »konvertiert« und zwangs-»verheiratet« worden sein. Der sogenannte »Islamische Staat« (IS) inszenierte in seinem Herrschaftsgebiet in Syrien und Irak Grausamkeiten, darunter Enthauptungen, Kreuzigungen und Verbrennung am lebendigen Leib, um damit den Voyeurismus der internationalen Mediengesellschaft zu bedienen und zugleich Anhänger zu rekrutieren. Islamistischer Terror hat inzwischen längst aber auch die Flughäfen, Bahnhöfe, Einkaufszentren und Badestrände Europas erreicht. Außerdem verübte die in den 1980er Jahren in Uganda entstandene »Lord’s Resistance Army« in mehreren afrikanischen Staaten Terrorakte unter den Vorzeichen eines militant gewendeten evangelikalen Christentums; dabei kamen häufig zwangsrekrutierte Kindersoldaten zum Einsatz. In Indien schüchtern die Vigilanten des Rashtriya Swayamsevak Sangh und andere hindu-nationalistische Gruppen insbesondere Muslime und Christen ein. Mit dem Begriff der »non-state actors« ist ein breiter Kreis möglicher Akteure bezeichnet, deren Gemeinsamkeit zunächst nur darin besteht, dass sie nicht dem staatlichen Sektor zugeschlagen werden können. So können Diskriminierungen und andere Verletzungen der Religionsfreiheit auch im Wirtschafts- und Arbeitsleben geschehen, etwa in Gestalt von restriktiven Kleidungsvorschriften am Arbeitsplatz, für die es nicht immer nachvollziehbare Gründe gibt. Manchmal werden gewaltsame Übergriffe, beispielsweise gegen Konvertitinnen und Konvertiten, vom unmittelbaren sozialen Umfeld der Betroffenen, gelegentlich sogar von den nächsten Familienangehörigen verübt. Vor einigen Jahren gab es Berichte darüber, dass an französischen Stränden muslimische Frauen, die einen »Burkini«-Badeanzug 21
Vgl. Kapitel 4.2.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
tragen, mit rabiaten Mitteln weggeekelt werden. Vigilantentum kann sich anscheinend auch unter den Vorzeichen von Laizität breit machen. Oft gibt es Anlass für Vermutungen, dass nicht-staatliche Akteure, wenn sie Zwang oder Gewalt gegen Minderheiten, Dissidenten, Konvertiten oder andere ausüben, auf klammheimliche Sympathie oder sogar offene Unterstützung durch Teile des Staatsapparats bauen können. Aus verschiedenen Ländern gibt es Berichte darüber, dass bei Brandanschlägen auf Synagogen, Kirchen, Moscheen oder Tempel die Polizei und Feuerwehr notorisch zu spät kommen, um lediglich den Schaden zu Protokoll zu nehmen. Nicht selten finden Übergriffe in einem Klima faktischer Straflosigkeit statt. Das kann ein Hinweis auf Verstrickungen von Teilen des Staates sein. Aber auch wenn dies nicht der Fall sein sollte: Der Staat trägt in jedem Fall die Verantwortung für Menschenrechtsverletzungen, die in seinem Jurisdiktionsbereich stattfinden, auch wenn sie durch nicht-staatliche Akteure begangen werden.
7.3
Typische Motive für Verletzungen der Religionsfreiheit
Aus der Fülle der Ursachen und Faktoren, die hinter Verletzungen der Religionsfreiheit stecken, lassen sich drei Grundmotive herausfiltern: (1) die Durchsetzung religiöser Wahrheits- bzw. Reinheitsansprüche; (2) die Aufrechterhaltung einer durch ein religiös-kulturelles Erbe definierten nationalen Identität; sowie (3) die Kontrollobsessionen autoritärer Regierungen. Natürlich gibt es zwischen diesen Motiven vielfältige Verbindungen und Überlappungen. Außerdem sollte nicht vergessen werden, dass in jedem konkreten Fall auch weitere Faktoren und Variablen mit im Spiel sind; dies soll abschließend (4) noch einmal eigens angesprochen werden.
7.3.1
Durchsetzung religiöser Wahrheits- bzw. Reinheitsansprüche
Kriege oder Terrorakte im Namen religiöser Wahrheit, Todesurteile wegen des Abfalls vom Glauben, staatliche Verfolgung von »Häretikern«, Bevormundung und Überwachung der Bevölkerung durch eine Art Religionspolizei, die sich in Fragen der Kleiderordnung und des Alkoholgenusses in das Leben der Menschen einmischt – all dies ist auch im 21. Jahrhundert immer noch Realität und stellt für zahllose Menschen eine alltägliche Bedrohung dar. Zwangsmaßnahmen richten sich vor allem gegen »Ungläubige«, »Abtrünnige«, »Häretiker«, aber auch andere Menschen, deren Einstellung und Lebenswandel den Sachwaltern religiöser Rechtgläubigkeit ein Dorn im Auge ist. Mehrere Regierungen in islamisch geprägten Staaten stützen ihren Herrschaftsanspruch wesentlich darauf, dass sie sich als Vollstrecker göttlicher Gesetze
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
zum Schutze der Wahrheit und Reinheit des Islams inszenieren. Für nicht-islamische Minderheiten – Christen, Hindus oder Buddhisten – ist öffentliches Eintreten für ihre Glaubensüberzeugungen schwierig bis unmöglich. Erst recht gilt dies für Atheisten oder Agnostiker. Auf dem Territorium Saudi-Arabiens bleibt Nicht-Muslimen sogar jedwede öffentlich sichtbare Religionspraxis verwehrt. Auf den Malediven ist die Staatsangehörigkeit förmlich an den Islam gebunden. Im multiethnischen und multireligiösen Malaysia wird die Mehrheit der politisch tonangebenden Malaien von Staats wegen mit dem Islam identifiziert. Wechsel vom Islam zu einer anderen Religion oder zum Atheismus ist in all den genannten und einigen weiteren Ländern de jure oder de facto ausgeschlossen. Einige Staaten sehen sogar die Todesstrafe für Abfall vom Islam vor. Im Iran erleben die Angehörigen der post-islamischen Baha’i-Religion, die gleichsam kollektiv als Abtrünnige gelten, systematische staatliche Verfolgung, die buchstäblich von der Wiege bis zur Bahre reicht. Repressive Maßnahmen richten sich nicht nur gegen »Ungläubige«, sondern auch gegen inner-islamische Minderheiten. In einigen sunnitisch geprägten Staaten trifft dies u.a. die Schiiten, die in Saudi-Arabien, Bahrain, Malaysia und selbst im traditionell toleranten Indonesien unter Druck stehen. Wenn Mitglieder der mancherorts verketzerten Ahmadiyya-Gemeinde, die sich selbst als Muslime verstehen, in der Öffentlichkeit den islamischen Gruß – »Salam alaikum« – verwenden, gilt dies in Pakistan bereits als strafwürdiges Delikt (»posing as Muslim«).22 Zu den inner-islamischen Minderheiten, die oft dem Verdacht der Häresie ausgesetzt sind, zählen auch Sufis, d.h. mystisch orientierte Muslime und ihre Orden, etwa in Anrainerstaaten des Persischen Golfes. Bei der Durchsetzung religiöser Geltungsansprüche geht es neben dem wahren Glauben auch um die religiös vorgeschriebene Lebenspraxis, also um Fragen von Kleidung, Ernährung oder den Umgang der Geschlechter miteinander. Oft leiden vor allem Frauen und Mädchen unter den demütigenden Kontrollen einer Religionspolizei oder selbsternannter Vigilanten, die meinen, Tugend und gottgefälligen Lebenswandel in Zentimetern Rocklänge bemessen oder an der Haartracht erkennen zu können. Öffentliches Händchenhalten von nicht verheirateten Frauen und Männern kann scharfe Sanktionen nach sich ziehen. Für Schwule und Lesben gilt dies erst recht; ihr Outing kann lebensgefährlich sein. In manchen Staaten sind Essen und Trinken in der Öffentlichkeit während des Ramadans mit Strafen bedroht, die sich vor allem an Muslime, manchmal aber auch an Nicht-Muslime richten. Aber auch in Israel ärgern sich religionsdistanziert oder liberal eingestellte Israelis schon lange über religionspolitisch motivierte staatliche Verhaltensauflagen, die 22
Vgl. Artikel 298-C des Strafgesetzbuches von Pakistan, der sich spezifisch auf die »Qadianis« bezieht. Dieser Begriff wird von Staats wegen dazu benutzt, Mitglieder der Ahmadiyya zu bezeichnen.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
nicht nur am Sabbat und an den Feiertagen ihre Freiheit unverhältnismäßig einschränken. Verletzungen der Religionsfreiheit mit dem Ziel der Durchsetzung eines wahren Glaubens oder eines bestimmten religiös normierten Lebenswandels geschehen mancherorts durch nicht-staatliche Organisationen. Terrorgruppen wie Boko Haram in Nigeria, Al Shabaab in Ostafrika oder der sogenannte »Islamische Staat« in Syrien und im Irak ziehen eine breite Blutspur hinter sich. Zu den Opfern des IS zählen nicht-islamische Minderheiten wie Jesiden, Mandäer und Christen, die als »Ungläubige« getötet, verschleppt, erpresst und um ihr Eigentum gebracht worden sind. Für die Jesiden, deren religiöses Zentrum im Norden Iraks liegt, steht die Zukunft ihrer Religionsgemeinschaft als ganze auf dem Spiel. Die Christen sehen durch die Gewaltakte das Erbe von zweitausend Jahren Kirchengeschichte im Nahen Osten gefährdet. Auch Menschen, die des Atheismus verdächtigt werden oder religionskritische Äußerungen tun, geraten schnell ins Fadenkreuz der Terroristen. Die Attacken sunnitischer Terrorgruppen richten sich darüber hinaus auf inner-islamische Minderheiten wie Schiiten oder Sufis, die als »Ketzer« verfolgt werden; viele ihrer Wallfahrtstätten sind beschädigt oder zerstört worden. Die Gewalt bedroht darüber hinaus aber auch sunnitische Muslime, die sich dem Druck eines erzwungenen Konformismus nicht beugen wollen oder die zu den vielen Zufallsopfern der oft ziellos wirkenden Anschläge gehören. Religiös unterlegter Terror ist, entgegen manchen Vermutungen, auch in der Gegenwart kein exklusiv islamisches Phänomen. So bietet die bereits erwähnte »Lord’s Resistance Army« ein Beispiel für christlich verbrämte Gewalt, der Schätzungen zufolge Zehntausende Menschen zum Opfer gefallen sind.
7.3.2
Wahrung nationaler Identität
Regierungen in allen Regionen der Welt beschwören ein national-religiöses Erbe, als dessen autoritative Hüter sie sich stilisieren. Angehörige nicht-traditioneller Minderheiten finden sich dann schnell in der Situation von Bürgerinnen und Bürgern zweiter Klasse wieder, und diejenigen, die sich von der dominanten Religion abwenden oder sie kritisieren, stehen in der Gefahr, als politische »Verräter« gebrandmarkt zu werden. Während in dem zuvor beschriebenen Muster die Spaltungslinie entlang der Differenz zwischen Glauben und Unglauben bzw. wahrem Glauben und Häresie verläuft, geht es in einer religiös aufgeladenen nationalen Identitätspolitik primär darum, wer zur nationalen Gemeinschaft dazu gehört und wer »fremd« bleibt und deshalb gefälligst draußen oder zumindest am Rande bleiben soll. Kurz: die Linie läuft primär zwischen Zugehörigkeit und Nicht-Zugehörigkeit bzw. »dem Eigenen« und »dem Fremden«. Repressive Maßnahmen – darunter gezielt verhängte Missionsverbote, restriktive Visa-Vergabe, Verweigerung von Einbürgerung oder Aberkennung der Staatsangehörigkeit, ag-
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
gressive Kampagnen gegen die »Invasion fremder Sekten«, aber mancherorts auch Haft, Folter, Vertreibungen und Tötungen – dienen dazu, die Ausbreitung »landesfremder« Religionen in engen Grenzen zu halten und die traditionellen religiöskulturellen Vorrangverhältnisse zu befestigen. Ein vom Staat identitätspolitisch beschworenes nationales Erbe kann eine oder mehrere Religionen umfassen. In Myanmar wird die nationale Identität wesentlich durch den Buddhismus definiert. Vor allem die muslimischen Rohingyas haben darunter zu leiden; sie gelten als »Bengalen«, die radikale buddhistische Mönche am liebsten alle ins Nachbarland Bangladesch abdrängen würden, wo sie allerdings ebenfalls nicht gern gesehen sind. Auch in Sri Lanka sind nationale Identität und Buddhismus eng miteinander verwoben; buddhistische Mönche gehören dort zu den treibenden Kräften aggressiver singhalesischer Identitätspolitik und machen Stimmung gegen ungeliebte Minderheiten wie Muslime und Christen. In Indien ist der Kosmos der Religionen, die zum nationalen Erbe gezählt werden, ungemein weit gespannt. Bekanntlich ist der Begriff »Hinduismus« ein Abstraktum, das eine Fülle von Glaubensbekenntnissen, heiligen Büchern, mythischen Erzählungen, Heilspraktiken und Zeremonien umfasst. Auch Buddhismus, Sikhismus, Jainismus und die indigenen Religionen der »Adivasis« gelten als autochthone indische Religionen. Nicht allen Angehörigen dieser Gruppen passt es, dass sie pauschal dem Hindu-Kosmos zugeschlagen werden. Ungeachtet der jahrhundertelangen Präsenz des Islams in Indien, werden Muslime hingegen von Hindu-Nationalisten als »Fremde« und womöglich gar als fünfte Kolonne Pakistans angesehen. Die Ausgrenzung trifft auch Christen, vor allem Protestanten, die als Exponenten des Westens stigmatisiert werden. Im Hintergrund stehen alte Traumata von Kolonialismus, Imperialismus und nationaler Demütigung, die auf christliche Minderheiten projiziert werden. Auf der Ebene einiger Bundesstaaten bestehen Gesetze, die die Menschen gegen »Proselytismus« schützen sollen und zu diesem Zweck aktive Missionstätigkeit an der Hindubevölkerung mit Sanktionen bedrohen. Wenn Dalits, d.h. Menschen aus unteren Kasten oder Kastenlose, vom Hinduismus zum Christentum oder Islam konvertieren, verlieren sie ihre »affirmative action benefits«, was erhebliche Nachteile im Bildungswesen und auf dem Arbeitsmarkt nach sich zieht.23 Die Instrumentalisierung (und Selbst-Instrumentalisierung) der Religion als Bestandteil nationalistischer Identitätspolitik geschieht ebenso unter christlichen Vorzeichen. In Russland wurde die Russisch Orthodoxe Kirche zu einem Pfeiler des Nationalbewusstseins aufgebaut.24 Die Kirche macht bei diesem Spiel weitge23 24
Vgl. UN Doc. A/HRC/10/8/Add.3, Ziffern 27-28. Russischer Staat und russische Kirche agieren gemeinsam auch in der Förderung bestimmter, meist nicht näher definierter »traditioneller Werte«, die – mit antiliberalen Untertönen – auch Eingang in UN-Resolutionen gefunden haben. Vgl. UN Doc. A/HRC/RES/21/3: »Promot-
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hend mit, obwohl die nationalistische Rhetorik nicht nur Anleihen bei der Zarenzeit sucht, sondern ebenso an die ehemalige Größe des kirchenfeindlichen Sowjetimperiums anknüpft. Gemeinsamer Nenner der verschiedenen ideologischen und ikonographischen Bruchstücke ist ein dezidierter Antiliberalismus, der für Religionsfreiheit nicht viel Raum lässt. Hart trifft es protestantische Freikirchen, die als Exponenten des ungeliebten Westens verdächtigt werden. Unter dem Vorwand des Kampfes gegen religiösen Extremismus wurden die Zeugen Jehovas landesweit mit Prozessen und Razzien überzogen. Seit 2017 ist ihnen jede Religionstätigkeit in Russland untersagt. Auf der 2014 annektierten Halbinsel Krim erfahren muslimische Krimtartaren Repressalien, weil ihre nationale »Zuverlässigkeit« bezweifelt wird. Innerhalb der christlichen Orthodoxie sind Vorstellungen einer »Symphonie« von nationalem Staat und Kirche traditionell stark ausgeprägt, was die Anfälligkeit für identitätspolitische (Selbst-) Instrumentalisierungen erhöhen kann.25 Weigerungen serbischer Nationalisten, mit dem Kriegsverbrechertribunal in Den Haag zusammenzuarbeiten, fanden jedenfalls wiederholt Applaus in einflussreichen Kreisen der Serbisch-Orthodoxen Kirche. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte musste die Regierung der Republik Moldau daran erinnern, dass die Moskau-orientierte Moldawisch Orthodoxe Kirche kein Monopol im Lande beanspruchen kann und dass auch Raum für eine an Bukarest orientierte Richtung, die Bessarabisch Orthodoxe Kirche, bestehen muss.26 Auch in Georgien versteht sich die Georgisch Orthodoxe Kirche als Bollwerk nationaler Identität, und zwar in Abgrenzung gegen die traditionelle politische, kulturelle und religiöse Hegemonie Russlands im Kaukasus. Religiös unterfütterte nationalistische Reflexe gibt es auch in der EU, wie der Umgang mit Flüchtlingen aus Syrien, Irak und anderen nahöstlichen Staaten zeigt. Die Regierungen einiger EU-Mitgliedstaaten äußerten sich öffentlich dahingehend, dass sie, wenn überhaupt, allenfalls christliche Flüchtlinge aufnehmen würden; denn schließlich sei man eine »christlich geprägte Nation«, wie Politiker in Ungarn oder der Slowakei betonten. Mit der Genfer Flüchtlingskonvention ist diese Linie nicht vereinbar. Die ungarische Politik scheint das in der Verfassung betonte christliche Erbe des Landes außerdem weniger inhaltlich als vielmehr territorial zu definieren, nämlich über Grenzzäune und Stacheldraht. Man fühlt
25 26
ing human rights and fundamental freedoms through a better understanding of traditional values of humankind« (verabschiedet am 27. September 2012). Vgl. dazu Heiner Bielefeldt, »Menschenrechte und »traditionelle Werte«: eine hoffnungslos vergiftete Debatte?«, in: Festschrift für Ingeborg Gabriel (im Erscheinen). Vgl. Thomas Bremer/Hacik Rafi Gazer/Christian Lange (Hg.), Die orthodoxen Kirchen der byzantinischen Tradition, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2013. Vgl. EGMR, Metropolitan Church of Bessarabia and others v. Moldova (appl. no. 45701/99) vom 13. Dezember 2001.
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
sich an das Motto »cujus regio, ejus religio« erinnert, mit dem in der Frühen Neuzeit die Einheit von Territorium und Religion auf die Formel gebracht wurde.
7.3.3
Kontrollobsessionen autoritärer Regierungen
Systematische Verletzungen der Religionsfreiheit finden auch in solchen autoritären Staaten statt, die sich weder als Hüter religiöser Wahrheit noch primär als Verteidiger eines national-religiösen Erbes verstehen, sondern von Haus aus womöglich überhaupt keine Affinität zu irgendeiner Religion oder Konfession zeigen. Was sie an der Religionsfreiheit stört, ist vor allem die zweite Komponente des Begriffs: die Freiheit. Die Religionsfreiheit verweist von innen her auf andere Freiheitsrechte wie Meinungsfreiheit, Versammlungsfreiheit oder Vereinigungsfreiheit, mit denen sie in der Praxis eng zusammenhängt. Je autoritärer eine Regierung strukturiert ist, desto größer die Angst, dass die Freiheitsrechte – darunter die Religionsfreiheit – zur Einflugschneise für »subversive« Aktivitäten werden könnte. Die typische Antwort besteht in strikter Kontrolle, Überwachung und Infiltration religiösen Gemeindelebens. Dies führt oft zur Spaltung der Gemeinden in solche, die – nolens volens oder aus Überzeugung – loyal mit den Behörden kooperieren, und solche, die sich dem kontrollierenden und infiltrierenden Zugriff zu entziehen suchen und dabei womöglich in den Untergrund abwandern. Kommunistische Staaten wie Laos oder Vietnam haben in den letzten Jahrzehnten aus wirtschafts- und außenpolitischen Gründen manche Flurbereinigung vorgenommen. Die Zeiten, in denen die Regierungen jede Religion als »Opium des Volkes« ideologisch bekämpfte, scheinen weitgehend vorüber zu sein. Im touristisch zunehmend erschlossenen Vietnam sehen die Besucher alte und neue Tempel, Pagoden und Kirchen, in denen Gläubige ihre Rituale verrichten. Daraus zu schließen, dass es in Sachen Religionsfreiheit keine allzu großen Probleme mehr gäbe, wäre allerdings ein Fehlschluss. Tatsächlich haben sich die Muster der staatlichen Repression lediglich verschoben. Im Vordergrund steht heute nicht mehr die traditionelle ideologische Gegnerschaft einer kommunistisch-atheistischen Ideologie zu religiösen Weltdeutungen; es geht, anders als vor vierzig Jahren, nicht mehr primär um einen inhaltlichen Streit der Weltanschauungen.27 Treibendes Motiv hinter staatlichen Repressionsmaßnahmen ist heute vielmehr das Interesse an umfassender Kontrolle des gesellschaftlichen Lebens – darunter auch des religiösen Lebens. Denn das politische Gestaltungsmonopol, das die kommunistische Partei 27
Bis vor einigen Jahren hätten wir eine ähnliche Einschätzung auch für China vorgebracht. Seit 2012 erlebt das Land jedoch nicht nur eine neue Welle scharfer Repression, sondern auch eine durchgreifende Re-Ideologisierung. Vgl. Mark Siemons, Die chinesische Verunsicherung. Stichworte zu einem nervösen System, Hamburg: Hanser, 2017, S. 55-76.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
nach wie vor beansprucht, lässt sich nur in der stets genährten Illusion aufrechterhalten, dass zwischen Volk und Partei völliges Einvernehmen bestehe. Zwischen Partei und Volk darf kein Blatt Papier passen. Öffentliche Kritik, die diese Illusion stört, ist daher per Definition subversiv und freie Kommunikation bedeutet stets eine Gefahr. Vermutlich sind wenige Funktionäre autoritärer Staaten so verblendet, nicht wenigstens gelegentlich zu ahnen, dass die von Staats wegen inszenierten Beifallsbekundungen womöglich nicht ganz echt sein könnten. Auf eine bloß forcierte Loyalität kann nie wirklich Verlass sein, und wenn Opposition sich nicht offen artikulieren kann, steht umso mehr zu befürchten, dass sie im Untergrund überall präsent sein könnte. Dies erklärt die nervösen Kontrollobsessionen autoritärer Regime, die deshalb auch mit der Religionsfreiheit ihre notorischen Schwierigkeiten haben. Beispiele finden sich in vielen Teilen der Welt: in China und Vietnam, in zentralasiatischen Republiken, in despotisch beherrschten Staaten Afrikas und erst recht in Nordkorea mit seinem pharaonenhaften Personenkult. Wie ausgeprägt die Angst vor der Subversion freier Religionspraxis beispielsweise in der Volksrepublik China offenbar ist, zeigt sich darin, dass die Regierung selbst die Reinkarnation tibetanisch-buddhistischer Würdenträger administrativ unter Kontrolle zu nehmen versucht.28 Sie bricht damit im 21. Jahrhundert einen Konflikt um die Besetzung religiöser Positionen vom Zaun, der bis in manche Einzelheiten hinein an den mittelalterlichen Investiturstreit erinnert. Auch die römisch-katholische Kirche erlebte in China bis vor kurzem eine neue Variante des Investiturstreits, bei dem es – wie tausend Jahre zuvor – um die Einsetzung von Bischöfen ging. Im September 2018 einigten sich der Vatikan und die chinesische Regierung auf einen Kompromiss, der der Regierung nach wie vor weiten Einfluss auf die Kirche sichert, formell aber die Autorität des Vatikans stärkt.29 Ob dieser Kompromiss auf Dauer hält, bleibt abzuwarten. Innerhalb der Untergrundgemeinden, die über Jahrzehnte hinweg, teils unter enormen Schwierigkeiten, für Unabhängigkeit gegenüber Regierung und Partei gekämpft hatten, löste das Abkommen verständlicherweise Enttäuschung und Verbitterung aus. Die inner-religiösen Spaltungslinien, die aus staatlichen Kontrollobsessionen resultieren, verlaufen noch einmal anders als in den beiden zuvor skizzierten Mustern. Während vielen autoritären Regimen Fragen der Rechtgläubigkeit eher gleichgültig sein dürften und auch das Interesse an religiös definierter nationaler Identität nicht im Vordergrund steht, unterscheidet der Staat vor allem zwischen solchen religiösen Gemeinden, die mit den Behörden kooperieren, und solchen, 28 29
Vgl. UN Docs. A/HRC/7/10/Add.1, Ziffer 61; A/HRC/18/51, S. 92 (Fall CHN 9/2011); A/HRC/22/67, S. 68 (Fall CHN 8/2012). Vgl. www.zeit.de/gesellschaft/zeitgeschehen/2018-09/ernennung-bischoefe-vatikan-chinaabkommen-einigung, abgerufen am 12. November 2019.
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
deren Kooperationsbereitschaft und Loyalität fraglich erscheint. Loyalität versus »Subversion« lautet dementsprechend die entscheidende Linie. Diejenigen, die sich der Kontrolle entziehen, riskieren Repression in Gestalt von Haftstrafen, Folter, Entlassung aus dem Staatsdienst, Ausbürgerung, Konfiskation des Eigentums und anderen Sanktionen. Typischerweise verläuft die Differenz mitten durch die verschiedenen Religionen hindurch. In Vietnam spaltet sie Buddhisten, Hoa Hao und Cao Dai,30 von denen es jeweils staatsloyale und staatsdistanzierte Gruppen gibt; unter den Protestanten kooperieren einige mehr oder weniger notgedrungen mit den Behörden, während andere versuchen, als unabhängige Hauskirchen zu überleben. Auch in China gibt es neben den offiziell anerkannten christlichen Kirchen eine wachsende Zahl von Haus- und Untergrundgemeinden. Die tibetanischen Buddhisten sind ebenfalls gespalten. Drastisch zugenommen haben in jüngerer Zeit auch die Repressionsmaßnahmen gegenüber den muslimischen Uiguren. Berichte, wonach Hunderttausende Angehörige dieses Turkvolks in Langer interniert seien, wurden von der chinesischen Regierung zunächst immer wieder dementiert; seit Herbst 2018 gibt die Regierung die Existenz dieser Lager zu, etikettiert sie aber als Bildungs- und Trainingslager.31
7.3.4
Überlappungen und weitere Faktoren
Die drei soeben typologisch rekonstruierten Motive für Verletzungen der Religionsfreiheit – (1) wahrer Glaube versus Unglaube/Häresie, (2) nationales Religionserbe versus fremde Religionen und Sekten, (3) Staatsloyalität versus »subversive« Gruppen – kommen in der Realität in »reinen« Formen, wenn überhaupt, nur selten vor. Die zur Illustration genannten Länderbeispiele sollten deshalb nicht als eindeutige Zuordnungen verstanden werden. Vielen autoritären Regierungen mag es gleichzeitig um religiöse Wahrheit, nationale Identität und kontrollierenden Zugriff auf das gesellschaftliche Leben gehen; oft vermischen sich solche Tendenzen und es mag im Einzelfall schwierig sein, überhaupt ein klares Muster zu erkennen. Dass im totalitär regierten Nordkorea nicht der geringste Raum für Religionsfreiheit besteht, liegt nicht allein an knallharten Kontrollobsessionen, sondern zugleich an dem totalitären Personenkult, der in diesem Land nach wie vor herrscht. In Russland verbinden sich kontrollpolitische Interessen mit der Mobilisierung nationaler 30
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Bei beiden Gruppen handelt es sich um vietnamesische Religionsgemeinschaften, die es außerhalb Vietnams nicht gibt. Die Hoa Hao stellen einen Reformzweig des Buddhismus dar, der ohne Klöster und Mönchtum im Alltag gelebt werden soll. Die Cao Dai-Religion verbindet Elemente von Buddhismus, Taoismus und Konfuzianismus mit im 20. Jahrhundert ganz neu entstandenen Ideen. Vgl. www.spiegel.de/politik/ausland/uiguren-china-nennt-internierungslager-als-freie-beru fsausbildung-a-1233509.html, abgerufen am 12. November 2019.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Identität, zu der neben anderen historischen Splittern und Facetten auch das orthodoxe Erbe gehört. Es ließe sich sicher darüber streiten, welches der Motive für die repressive Religionspolitik in Ägypten ausschlaggebend ist. Dies ist aber nicht der entscheidende Punkt. Die typologische Differenzierung der drei Muster dient nicht dazu, klare Sortierungen vorzunehmen. Ihr Zweck besteht vielmehr darin, dafür zu sensibilisieren, dass es relevante Unterschiede in den Motivlagen überhaupt gibt. Ohne Bewusstsein für die Vielfalt der Motive kann es zu krassen Fehleinschätzungen kommen. Wer etwa davon ausgeht, dass Verletzungen der Religionsfreiheit stets zu religionspolitischen Monopolstrukturen führen, wird geneigt sein, Indien schon aufgrund der unübersehbaren religiösen Vielfalt von vornherein ein gutes Zeugnis auszustellen; vernachlässigt würde dabei jedoch die Spaltung des Landes in autochthone und »fremde« Religionen, woraus Stigmatisierungen, Diskriminierungen und gewaltsame Übergriffe folgen. Wenn sich touristische Besucher Vietnams überrascht davon zeigen, dass religiöses Leben in einem kommunistischen Staat überhaupt gedeihen kann, orientieren sie sich implizit an einer dort mittlerweile überholten ideologischen Konfrontation; sie verkennen aber, dass der Kampf um Religionsfreiheit im Ringen um autonome Gemeindestrukturen mit großer Erbitterung weitergeht. Während Religionswechsel vom Islam zum Christentum im Iran oder in Saudi-Arabien staatliche Sanktionen auslösen kann, wäre dies in China womöglich kein Thema; daraus abzuleiten, dass die Religionsfreiheit in China respektiert wird, wäre jedoch ein grober Fehlschluss. Die relevanten »Testfragen« unterscheiden sich eben von Land zu Land, und es ist wichtig, dies in Rechnung zu stellen. Die typologische Differenzierung zwischen den drei skizzierten Grundmustern ist nur der erste Schritt zu einem Verständnis der Komplexität möglicher Motive für die Verletzungen der Religionsfreiheit. Hinzu kommen zahlreiche weitere Faktoren, die wiederum von Land zu Land variieren. Hier nur einige skizzenhaft angedeutete Beispiele. Ein in seiner Bedeutung gar nicht zu überschätzender Faktor im Kontext von Menschenrechtsverletzungen ist endemische Korruption. Wo Korruption alltägliche Erfahrung ist sowie Mentalitäten und Erwartungen prägt, zerstört sie jedes Vertrauen in das faire Funktionieren öffentlicher Institutionen bzw. verhindert, dass ein solches Vertrauen überhaupt entstehen kann. Um ihr Leben zu organisieren, bleibt den Menschen oft nichts Anderes übrig, als auf ihre eigenen Netzwerke zu setzen. Das bereitet den Boden für die Verbreitung kollektiver »narrowmindedness«, d.h. einer Verengung der Perspektive auf die je eigene Gruppe. Wo solche Netzwerke durch ethnische, religiöse oder konfessionelle Zugehörigkeiten definiert sind, besteht darüber hinaus die Gefahr, dass Gruppen beziehungslos nebeneinander leben oder sich in einem Klima allgemein verbreiteten Misstrauens gar gegeneinander bewaffnen. Dass dies gravierende Auswirkungen auf die Si-
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
tuation der Religionsfreiheit hat, ist offensichtlich. Wir werden im Kapitel über religiöse Gewalt darauf näher eingehen.32 Das Klima der Religionsfreiheit kann außerdem entscheidend davon abhängen, wie ein Land mit den Traumata der jüngeren Geschichte umgeht. Nehmen wir als Beispiel die blutige Geschichte der Teilung des indischen Subkontinents, die Hundertausende Tote und Millionen Vertriebene zur Folge hatte. Diese Geschichte liegt gerade einmal ein Menschenalter zurück und wirkt sich bis heute unmittelbar auf dem Umgang der Religionsgruppen miteinander aus. Während in Pakistan und Bangladesch Hindus schnell mit Indien in Verbindung gebracht werden, assoziieren Hindu-Nationalisten in Indien muslimische, junge Männer oft mit pakistanisch gesteuerten Extremisten. Dass christliche Minderheiten – vor allem Protestanten – vielerorts in der Gefahr stehen, als Exponenten des Westens stigmatisiert zu werden, hängt mit nicht aufgearbeiteten Verwerfungen der Kolonialgeschichte zusammen. Solche Probleme gibt es in vielen Staaten der Welt: in den aus der Erbmasse der UdSSR hervorgegangen zentralasiatischen Republiken genauso wie im subsaharischen Afrika oder im Nahen Osten. Wenn die »Geister der Vergangenheit« aber nicht zur Ruhe kommen, besteht die Gefahr, dass sie die Wahrnehmung auch aktueller politischer Situationen prägen, was zu Fehleinschätzungen und Überreaktionen besonders in Krisensituationen führen kann.33 In diesem Zusammenhang kommen auch alte oder neue Verschwörungstheorien auf, die insbesondere in westlichen oder arabischen Staaten häufig anti-semitische Stereotype bedienen. Ferner können Landkonflikte eine Ursache für Verletzungen der Religionsfreiheit sein. Im Jahr 2012 gingen zum Beispiel in den zu Bangladesch gehörenden Chittagong-Hill-Tracts auf einen Schlag mehr als zwanzig buddhistische Tempel in Flammen auf. Die Buddhisten in dieser Region, nahe an der Grenze zu Myanmar, gehören indigenen Völkern an, die oft keine Besitztitel für ihre seit unvordenklichen Zeiten genutzten Ländereien vorweisen können und deshalb mafiösen Machenschaften oft schutzlos ausgesetzt sind. Der Kampf um die wertvolle Ressource Land macht auch nicht Halt bei solchen Ländereien, auf denen Klöster, Kirchen, Pagoden, Friedhöfe oder andere religiöse Infrastruktur aufruhen. Genau darum ging es mutmaßlich auch beim Brandanschlag von 2012. Generell ist festzustellen, dass die Verletzung der Rechte indigener Völker – darunter die Zerstörung ihrer 32 33
Vgl. Kapitel 9.7. Man kann auch die Gegenprobe machen und den positiven Beitrag herausarbeiten, den Wahrheits- und Versöhnungskommissionen für die Verbesserung des gesellschaftlichen Klimas leisten können. Sierra Leone ist dafür ein besonders eindrucksvolles Beispiel: Die Religionsgemeinschaften waren die treibenden Kräfte innerhalb der Truth and Reconciliation Commission, die unter dem Vorsitz eines methodistischen Bischofs wenige Jahre nach Ende des Bürgerkriegs einen umfassenden und detaillierten Bericht über die von allen Seiten begangenen Kriegsverbrechen vorlegte.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
religiösen Infrastruktur und ihres spirituellen Erbes – häufig eng mit Landkonflikten zusammenhängen. Nicht zu vergessen sind frauenverachtende patriarchale Strukturen und Gender-bezogene Vorurteile, die sich mit der Diskriminierung religiöser Minderheiten verbinden können. Frauen und Mädchen leiden oft unter der Missachtung gleich mehrerer ihrer Rechte. Es gibt immer wieder Berichte darüber, dass Mädchen oder junge Frauen gleichzeitig Opfer von Entführungen und von Zwangskonversionen werden; möglicherweise werden sie außerdem noch gegen ihren Willen mit ihrem Peiniger »verheiratet«, was ihre Lage vollends hoffnungslos erscheinen lässt. Es fällt auf, dass religionsbezogene Hassmanifestationen häufig eine ausgesprochene Gender-Komponente aufweisen. In einem südasiatischen Land hörten wir Gerüchte über eine von Muslimen geführte Unterwäsche-Fabrik, von der es hieß, dass sie chemische Substanzen einsetze, um die Fruchtbarkeit der Frauen gezielt zu manipulieren und auf diese Weise eine langfristige demographische Überlegenheit für den Islam zu erreichen. Dieses bizarre Gerücht ist nicht ganz untypisch; es zeigt, dass Verschwörungsphantasien stets auch unter Gender-Gesichtspunkten analysiert werden müssen.
7.4
Die betroffenen Menschen
Wechseln wir nun die Perspektive von den Tätern und ihren Motiven zu den betroffenen Menschen. Quantifizierende Aussagen dazu, die immer wieder gewünscht werden, sind schwierig. Zwar lässt sich in etwa abschätzen, wie viele Menschen in einem bestimmten Land aus religiösen Gründen in Haft oder gewaltsamen Anschlägen zum Opfer gefallen sind. Wie will man aber die Auswirkungen bürokratischer Schikanen quantitativ bemessen, die in vielen Staaten die Entfaltung religiösen Lebens erschweren? Ähnliche Fragen stellen sich bei diskriminierenden Familienrechtsstrukturen. Wie viele interreligiöse Ehen dadurch effektiv verhindert worden sind, weiß niemand. Wer ist konkret betroffen, wenn Friedhöfe in Akten des Vandalismus verwüstet werden: die unmittelbaren Angehörigen, die Mitglieder der örtlichen Gemeinde oder die Religionsgemeinschaft im Ganzen, vielleicht sogar über die Grenzen des Landes hinaus? Bei wie vielen Menschen hat sich Religionszugehörigkeit als ein diskriminierendes Hindernis für die akademische oder berufliche Karriere ausgewirkt? Solche Fragen lassen sich in der Regel nicht mit Zahlen beantworten. Die Verbreitung negativer Stereotypen in Schulbüchern mag etliche Menschen empören; aber auch hier scheinen quantifizierende Angaben über den Kreis der direkt Betroffenen wenig Sinn zu machen. Gerade in Staaten, in denen Repression erfolgreich funktioniert, kommt es vielleicht gar nicht zu sichtbaren »Ereignissen« wie Verhaftungen oder Verurteilungen, weil ein durch-
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
gängig geschürtes Klima der Einschüchterung dafür sorgt, dass die Menschen von vornherein »vorsichtig« bleiben. Das in Washington ansässige »Pew Forum on Religion in Public Life« ist deshalb dazu übergegangen, nicht die tatsächlich, sondern die potenziell von Verletzungen der Religionsfreiheit betroffenen Menschen zu quantifizieren. Rund 83 Prozent der Weltbevölkerung, so der Befund des Pew Forum in einem Bericht im Juni 2018, leben in Staaten, in denen die Religionsfreiheit hohen oder sehr hohen Restriktionen unterliegt.34 Diese Meldung wird vermutlich aufgrund der spektakulär hohen Quote häufig zitiert – »bad news is good news«.35 Es fragt sich jedoch, welcher Realitätsgehalt hinter solchen Aussagen steht. Falls China seine restriktive Familienpolitik weiter lockern sollte, würde bei gleichbleibender Lage der Religionsfreiheit im Land die negative Quote allein vielleicht schon aufgrund des demographischen Wandels steigen. Wir hätten dann in absoluten Zahlen sowie in Prozenten bald noch mehr Menschen weltweit, die in Staaten mit hohen Restriktionen der Religionsfreiheit leben. Mit dieser Art von Berichterstattung ist nichts gewonnen.36 Betroffen von Verletzungen der Religionsfreiheit sind jedenfalls Menschen aus ganz unterschiedlichen religiösen oder auch nicht-religiösen Richtungen. Darunter finden sich (diesmal in alphabetischer Reihenfolge) Agnostiker, Atheisten, Baha’i, Buddhisten, Cao Dai, Christen, Falun-Gong-Anhänger, Hindus, Jains, Jesiden, Juden, Konfuzianer, Muslime, Sikhs, Taoisten und viele andere. Je nach dem dominanten Muster der Repression gelten sie als »Ungläubige«, als »fremde Invasoren« bzw. Exponenten ausländischer Mächte, oder sie geraten als »subversive« Staatsgegner ins Fadenkreuz der Repression. Sie können auch gezielte oder zufällige Opfer religionsbezogener terroristischer Gewalt werden. Obwohl 34
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Vgl. zumBeispiel Pew Research Center, »Global Uptick in Government Restrictions on Religion in 2016«, 21. Juni 2018, www.pewforum.org/wp-content/uploads/sites/7/2018/06/Restrictions-IX-FULL-REPORT-WITH-APPENDIXES.pdf, abgerufen am 12. November 2019, mit folgender Erklärung auf S. 15-16: »It is important to note, however, that these restrictions and hostilities do not necessarily affect the religious groups and citizens of these countries equally, as certain groups or individuals—especially religious minorities—may be targeted more frequently by these policies and actions than others. Thus, the actual proportion of the world’s population that is affected by high levels of religious restrictions may be considerably lower than 85 %.« Diese wichtige Erklärung verlor sich jedoch häufig im medialen Echo, s. zum Beispiel https://www.christianitytoday. com/news/2018/june/global-religious-freedom-christian-persecution-pew-research.html, abgerufen am 12. November 2019. Auch der 2013 erschienene, vom Rat der EKD und der Deutschen Bischofskonferenz gemeinsam getragene Bericht über die Verletzung der Religionsfreiheit von Christen weltweit lehnt sich erstaunlich stark an die Berichte des Pew Forum an, vgl. www.ekd.de/download/ religionsfreiheit_christen_weltweit_2013_07_01.pdf, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. kritisch dazu auch Michael Krennerich, »Von Indizes, Weltkarten und Länderrankings zu Menschenrechten«, in: Zeitschrift für Menschenrechte, Bd. 1 (2019), S. 179-192, insb. S. 188.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
letztlich Angehörige aller Religionen und Weltanschauungen betroffen sind, muss man allerdings feststellen, dass bestimmte Gruppierungen – zum Beispiel Baha’i in Iran oder Jemen, Ahmadis in Pakistan, Falun Gong in China – besonders stark gefährdet sind. Lange Zeit vernachlässigt wurde die Verfolgung von Atheisten bzw. Agnostikern, die in manchen Staaten harte Strafen zu gewärtigen haben. Viel zu wenig wissen wir auch über die Problemlagen indigener Völker, deren spirituelle Praktiken sich nicht leicht in die etablierte Rechtspraxis zur Religionsfreiheit einfügen. In diesem Feld stehen grundlegende empirische Forschungen, aber auch normative Adaptionen noch aus. Wenig Aufmerksamkeit hat bislang ferner die Religionsfreiheit von Arbeitsmigrantinnen und -migranten einschließlich ihrer Familien erfahren. Viele leben buchstäblich als »unsichtbare Minderheiten« in ihren Aufnahmeländern. Die Zahl der als »Gastarbeiterinnen« und »Gastarbeiter« im muslimisch beherrschten Katar lebenden Hindus und Christen übersteigt womöglich die Zahl der Muslime. Auf der kleinen Insel Zypern leben möglicherweise Zehntausende von Buddhisten, zumeist als »domestic workers« oder Geflüchtete; ihre Anzahl ist höher als die drei traditionell anerkannten religiösen Minderheiten – Maroniten, Armenier und Latiner – zusammengenommen.37 Bei der Analyse der Betroffenengruppen müssen auch interne theologische Differenzierungen berücksichtigt werden; sie spielen oft eine entscheidende Rolle. Seit im Jahre 1974 in Pakistan die Angehörigen der Ahmadiyya-Gemeinde, die sich selbst als Muslime verstehen, per Parlamentsentscheidung als Nicht-Muslime bezeichnet wurden, stehen Ahmadis systematisch unter Verfolgungsdruck. Von terroristischen Gewaltakten ist in Pakistan derzeit aber auch die schiitische Minderheit überproportional betroffen; hunderte Schiiten sind dort in den letzten Jahren ermordet worden. Auch anderswo ist das Klima für Schiiten rauer geworden. Selbst im traditionell toleranten Indonesien nimmt ihre Ausgrenzung schärfere Züge an. Im sunnitisch beherrschten Bahrain, in dem die Mehrheit der Bevölkerung der Schia angehört, sind von Staats wegen etliche schiitische Moscheen zerstört und schiitische Geistliche drangsaliert worden. Anderswo – zum Beispiel im schiitischen Iran – trifft die Diskriminierung umgekehrt die Sunniten, die hier Stigmatisierung und Ausgrenzung erfahren. Ähnliche Binnendifferenzierungen sind innerhalb des Christentums von Belang. Der manchmal recht pauschal verwendete Begriff der »Christenverfolgung« verdeckt, dass Repressionen und Diskriminierungen nicht überall jede christliche Gruppierung gleichermaßen trifft. Vielerorts werden vor allem protestantische bzw. evangelikale Gemeinden mit Misstrauen beäugt; denn sie gelten als Exponenten Amerikas bzw. des Westens und stehen außerdem (zu Recht oder zu Unrecht) 37
Vgl. UN Doc. A/HRC/22/51/Add.1, Ziffer 29.
7 Verletzungen der Religionsfreiheit
im Ruf, aktiv Missionstätigkeit zu betreiben.38 Die bekannt gewordenen ApostasieUrteile, die im Iran in den letzten Jahren zu christlichen Konvertiten ergangen waren, betrafen in der Regel Evangelikale. In Russland geschieht die Stigmatisierung von Protestanten als »landesfremd« mit zumindest stillschweigender Zustimmung der Orthodoxen Kirche, was zeigt, dass Spaltungslinien auch innerhalb des Christentums verlaufen. Die Zeugen Jehovas, die sich selbst als Christen verstehen, stoßen nicht nur wegen ihrer – strikt gewaltfreien – Missionstätigkeit auf Ressentiments, sondern sind autoritären Regierungen außerdem aufgrund ihrer Ablehnung des Militärdienstes suspekt. In der Republik Korea (also im Süden der geteilten Halbinsel) befanden sich bis vor wenigen Jahren Hunderte Zeugen Jehovas aufgrund ihrer Wehrdienstverweigerung in Haft; mittlerweile hat die Regierung ihre ehedem harte Linie allerdings deutlich gelockert hat. Nach wie vor dramatisch ist ihre Lage in Eritrea, wo einzelne Zeugen Jehovas wegen Wehrdienstverweigerung über 20 Jahre im Gefängnis verbracht haben.39 Gravierende Verfolgungserfahrungen machen christliche Gemeinden seit einigen Jahren im Nahen Osten. Hunderttausende haben Syrien und Irak verlassen. Dies liegt nicht nur an der kriegerischen Gewalt, unter der letztlich die Angehörigen sämtlicher Religionsgruppen leiden, sondern auch an gezielten Übergriffen terroristischer Fanatiker, die die Häuser von Christen in manchen Fällen zuvor eigens mit dem Buchstaben »N« (für Nazarener) markiert hatten, bevor diese geplündert bzw. demoliert wurden. Der militärisch inzwischen zurückgedrängte »Islamische Staat« hatte sich offenbar zum Ziel gesetzt, den Christen in der Region nicht nur jede Zukunft zu verbauen, sondern auch die Spuren der Vergangenheit, die bis in die Zeit der christlichen Urgemeinde zurückreichen, restlos zu tilgen. Hier sind deshalb gerade die altansässigen autochthonen Kirchen – Syrisch-Orthodoxe, Chaldäer und andere – betroffen. Ein historisches Erbe von zwei Jahrtausenden drohte verloren zu gehen. Die Verbitterung vieler nahöstlicher Christen darüber richtet sich auch auf die Europäer, von denen man mehr Einsatz erwartet hätte. Wenn von den Gräueltaten des so genannten Islamischen Staates die Rede ist, müssen auch die Jesiden genannt werden, die Opfer geradezu genozidaler Gewalt geworden sind. Tausende ihrer Frauen und Mädchen gerieten in die Hand der Terroristen; viele sind als Sex-Sklavinnen verkauft und missbraucht worden. Nicht vergessen werden sollte, dass Verletzungen der Religionsfreiheit auch Angehörige der jeweils dominanten religiösen Mehrheit treffen können, insbesondere wenn sie sich kritisch zu Fragen der herrschenden Religionspolitik äußern. In allen Religionsgemeinschaften gibt es Menschen, denen polarisierende Verhärtungen ihres Glaubens zuwider sind, die sich öffentlich gegen die (Selbst-)Instrumen38 39
Damit keine Missverständnisse aufkommen, sei daran erinnert, dass gewaltfreie Missionstätigkeit von der Religionsfreiheit gedeckt ist. Vgl. UN Doc. A/HRC/7/10/Add.1, Ziffer 94.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
talisierung der Religion zum Zwecke nationalistischer Identitätspolitik aussprechen und sich gegen kontrollpolitisch motivierte Infiltrationen des Staates aktiv zur Wehr setzen. Unter den Kritikerinnen und Kritikern befinden sich Religionsgelehrte und Kleriker genauso wie engagierte Laien, Männer wie Frauen. Manche von ihnen berufen sich ausdrücklich auf die Religionsfreiheit. Dies schützt sie nicht immer davor, als Verräter oder »Nestbeschmutzer« an den Pranger gestellt zu werden; einige landen im Gefängnis oder werden ermordet. Dass gerade »human rights defenders« mancherorts in Gefahr stehen, Opfer gezielter Menschenrechtsverletzungen zu werden, ist bitter. Betroffen sind auch die Verteidigerinnen und Verteidiger der Religionsfreiheit.
8. Religionsfreiheit vor Gericht: Vergleich globaler und regionaler Rechtsprechung
8.1
Auf dem Weg zu einem »Ökosystem« der Menschenrechte?
Im Gespräch mit einem Konsortium zivilgesellschaftlicher Organisationen in einem osteuropäischen Land kam die Frage auf, wie man die Rolle der Gerichte bei der Gewährleistung des Schutzes der Menschenrechte, einschließlich der Religionsfreiheit, einschätze. Erfüllen die nationalen Gerichte ihre Funktion? Wie reagieren sie auf Beschwerden über Menschenrechtsverletzungen? Kooperieren sie mit der Zivilgesellschaft? Die meisten Antworten fielen recht skeptisch aus und einige Positionierungen klangen geradezu sarkastisch. Wiederholt verwies man auf die grassierende Korruption, die auch vor der Gerichtsbarkeit nicht Halt mache. »Das einzige Gericht, dem wir wirklich vertrauen, hat seinen Sitz in Straßburg«, bemerkte eine Teilnehmerin. Vielleicht war diese Aussage übertrieben. Angesichts der Frustrationen, die im Gespräch zu Wort kamen, schien es ratsam zu sein, eine zugespitzte Bemerkung nicht gleich für bare Münze zu nehmen. Sie mag dennoch als Beispiel dafür dienen, dass Menschenrechtsorganisationen oft große Hoffnungen auf internationale Gerichte oder gerichtsähnliche internationale Menschenrechtsgremien setzen, in diesem Fall auf den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte, der im Rahmen des Europarats operiert.1 Sind solche Erwartungen berechtigt? Warum sollten internationale Gerichte besser funktionieren als nationale Gerichte? Zeichnen sich hier vielleicht problematische Trends eines menschenrechtlichen Zentralismus ab? Bei der Einschätzung der Bedeutung internationaler Gerichte bzw. gerichtsähnlicher Monitoring-Mechanismen zur Umsetzung der Menschenrechte ist es wichtig, sie nicht isoliert zu betrachten; sonst entsteht leicht ein schiefes Bild. Gerichte und quasi-gerichtliche Gremien sind nur eine (wenn auch wichtige) Komponente innerhalb einer sehr viel breiteren Palette von Institutionen, die 1
Häufig wird der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte fälschlich der Europäischen Union (EU) zugeschlagen. Institutionell gehört er jedoch dem Europarat an, der aus derzeit 47 Mitgliedstaaten besteht und damit räumlich viel weiter ausgreift als die EU.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
gemeinsam eine sich entwickelnde Menschenrechtsinfrastruktur auf nationaler, regionaler und internationaler Ebene ausmachen. Schon auf der nationalen Ebene ist die Umsetzung der Grund- und Menschenrechte nicht ausschließlich den Gerichten überlassen. Eine wichtige Rolle spielen dort zum Beispiel auch Ombuds-Institutionen und ähnliche Mechanismen informeller Konfliktbeilegung. Hinzu kommen Nationale Menschenrechtsinstitutionen (National Human Rights Institutions, abgekürzt NHRIs), die in einigen Ländern auch unter der Bezeichnung »Nationale Menschenrechtskommission«, »Volksanwaltschaft« oder »Defensor del Pueblo« bekannt sind; die Namen variieren. In Deutschland hat das im Jahre 2001 auf Beschluss des Bundestags gegründete Deutsche Institut für Menschenrechte diese Funktion inne. Erwähnt seien außerdem parlamentarische Menschenrechtsausschüsse, die menschenrechtliche Themen im parlamentarischen Alltagsgeschäft präsent halten. Konkrete Aufsichtsfunktionen, oft fernab öffentlicher Aufmerksamkeit, nehmen Expertengremien wahr, die den Auftrag haben, unangekündigte Besuche in Gefängnissen, psychiatrischen Kliniken oder anderen menschenrechtssensiblen Orten durchzuführen. All den genannten Institutionen ist gemeinsam, dass sie einen öffentlichen Status haben. Einige von ihnen genießen sogar Verfassungsrang oder haben eine gesetzliche Grundlage. Nicht weniger bedeutsam als öffentliche Institutionen des Menschenrechtsschutzes ist indessen der Beitrag staatsunabhängiger Organisationen, meist »Nichtregierungsorganisationen« (non-governmental organizations, abgekürzt NGOs) genannt. Sie unterscheiden sich in ihren Zielsetzungen, Aktionsformen und Organisationsmodi erheblich voneinander. Im Kreis der NGOs findet man sowohl hoch spezialisierte Organisationen, die sich auf die Förderung eines bestimmten Rechts oder auf die Vertretung einer bestimmten Personengruppe konzentrieren, als auch Organisationen, die sich mit einem breiten Spektrum von Menschenrechtsthemen befassen. Während viele von ihnen mit internationalen Organisationen verbunden sind, haben andere ihren Fokus enger auf nationale Themen gerichtet. Neben säkularen NGOs gibt es religiöse Organisationen, die ähnliche Funktionen für die Menschenrechte erfüllen. Auch auf internationaler Ebene ist die Menschenrechtsinfrastruktur durch das Gegenüber von förmlich etablierten öffentlichen Institutionen und sich selbst mandatierenden unabhängigen Organisationen geprägt.2 Zu den öffentlichen Institutionen auf internationaler Ebene gehören die UN-Vertragsorgane, die mit der Überwachung der Umsetzung der verschiedenen Menschenrechtskonventionen und -pakte betraut sind. Zu ihnen zählen etwa der Antifolterausschuss, der Kinderrechtsausschuss, der Ausschuss für die Rechte von Menschen mit Behinderungen, um nur einige Beispiele zu nennen. Für den Zusammenhang 2
Vgl. Kathryn Sikkink, Evidence for Hope. Making Human Rights Work in the 21st Century, Princeton: Princeton University Press, 2017, S. 232-235.
8 Religionsfreiheit vor Gericht
unseres Themas ist der Ausschuss für bürgerliche und politische Rechte besonders relevant, der den sehr weit gefassten Titel »UN-Menschenrechtsausschuss« (»UN Human Rights Committee«) trägt. Seine Schlussfolgerungen (»views«) zu konkreten Einzelfällen weisen durchaus »einige wichtige Merkmale einer gerichtlichen Entscheidung« auf und stellen »eine autoritative Bestimmung des nach dem Zivilpakt selbst mit der Auslegung dieses Instruments betrauten Organs«3 dar; formal gesehen, erreichen sie jedoch nicht den Rang von Gerichtsurteilen. Internationale Menschenrechtsgerichte im engeren Wortsinn gibt es bislang auf UN-Ebene nicht, wohl aber auf regionaler Ebene, nämlich in Straßburg (für den Europarat), in San José (für die Organisation Amerikanischer Staaten) und in Arusha (für die Afrikanische Union).4 Ohne den Beitrag internationaler NGOs, die ihre Legitimität auf ihre Mitgliedschaft und/oder auf ihr Fachwissen stützen, wären die internationalen und regionalen Institutionen des Menschenrechtsschutzes kaum funktionsfähig. Hunderte von NGOs sind bisher bei den Vereinten Nationen bzw. innerhalb regionaler Menschenrechtsschutzsysteme akkreditiert. Zu ihren Mitwirkungsmöglichkeiten gehören öffentliche Äußerungen (mündlich und schriftlich), Beiträge als amicus curiae, Medienarbeit, Bewusstseinsbildung, Lobbyarbeit und anderes mehr. Die internationale Landschaft der Menschenrechtsinstitutionen umfasst darüber hinaus das weltweite Netzwerk der Nationalen Menscherechtsinstitutionen (Global Alliance of National Human Rights Institutions, abgekürzt GANHRI) sowie Netzwerke von Parlamentariern aus aller Welt, beispielsweise das International Panel of Parliamentarians for Freedom of Religion or Belief (IPPFoRB). Die Liste der hier genannten Organisationen ist bei weitem nicht vollständig. Die praktische Wirksamkeit der bisher entwickelten Menschenrechtsinfrastruktur hängt entscheidend davon ab, ob und wie die verschiedenen Ebenen – lokale, nationale, regionale und globale Ebene – systematisch miteinander 3
4
UN-Menschenrechtsausschuss, General Comment Nr. 33, The Obligations of States Parties under the Optional Protocol to the International Covenant on Civil and Political Rights, UN Doc. CCPR/C/GC/33, Ziffern 11 und 13; vgl. dazu: Heiner Bielefeldt/Nazila Ghanea/Michael Wiener, Freedom of Religion or Belief: An International Law Commentary, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 160f. Der Internationale Strafgerichtshof (IStGH) mit Sitz in Den Haag, an den man in diesem Zusammenhang denken mag, hat zwar Bedeutung für den Schutz der Menschenrechte, indem er Personen verfolgt, die wegen schwerer internationaler Verbrechen wie Völkermord, Kriegsverbrechen oder Verbrechen gegen die Menschlichkeit angeklagt oder verdächtigt werden, aber er ist kein Menschenrechtsgerichtshof. Zwar kann der Gerichtshof der Europäischen Union (EuGH) mit Sitz in Luxemburg EU-Rechtsakte für nichtig erklären, wenn sie gegen EU-Verträge oder Grundrechte verstoßen; es handelt sich jedoch nicht um ein Menschenrechtsgericht als solches (siehe Schlussanträge der Generalanwältin Sharpston vom 30. September 2010, Rechtssache C-34/09, Gerardo Ruiz Zambrano v. Office national de l’emploi (ONEM), Ziffer 155).
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
kooperieren. Daher spielen die Nationalen Menschenrechtsinstitutionen eine immer größere Rolle; denn ihr Mandat beinhaltet die Aufgabe, als systematisches »Bindeglied« zwischen der internationalen und der nationalen Infrastruktur zu fungieren: Sie tragen internationale menschenrechtliche Vorgaben in die nationale Politik hinein und geben umgekehrt zugleich Impulse aus den Erfahrungen vor Ort in die internationale Menschenrechtspolitik zurück. Eine solche systematische Rückkopplung hat sich bewährt. Die Konvention über die Rechte von Menschen mit Behinderungen (angenommen 2006) fordert von den Vertragsstaaten deshalb ausdrücklich eine Verlinkung der internationalen mit der nationalen Ebene. Sie verpflichtet die Staaten dazu, eine funktionierende nationale Infrastruktur für die kontrollierte Umsetzung der Rechte von Menschen mit Behinderungen zu schaffen; diese nationale Infrastruktur unterliegt ihrerseits wiederum einem internationalen Monitoring. Eine solche Art systematischer Verkopplung der beiden Ebenen kann durchaus als Erfolgsmodell in der Menschenrechtspraxis gelten, an dem sich zeigen lässt, dass Menschenrechtsinstitutionen Wirkung entfalten können, sofern sie sinnvoll und systematisch ineinandergreifen. Zurück zur Frage nach der Rolle internationaler Menschenrechtsgerichte bzw. quasi-gerichtlicher Monitoring-Organe. Ihre Rolle kann natürlich nicht darin bestehen, möglichst alle relevanten Menschenrechtsbeschwerden an sich zu ziehen und selbst zu bearbeiten. Das wäre nicht nur aus praktischen Gründen unmöglich, sondern von vornherein nicht einmal wünschenswert. Stephen Hopgood liegt deshalb falsch, wenn er in seiner Kritik des internationalen Menschenrechtsschutzsystems den »Turm zu Babel«5 , das alte biblische Symbol für menschliche Hybris, beschwört. Ziel des internationalen Menschenrechtsschutzes ist es gerade nicht, sich als »The Authority«6 (doppelt großgeschrieben!) auf Weltebene aufzuspielen, wie Hopgood uns glauben machen will. Vielmehr gilt, dass Menschenrechtsarbeit vor allem vor Ort, möglichst nahe an den jeweils betroffenen Menschen, stattfinden soll. Internationale Menschenrechtsgerichte wie der Straßburger Gerichtshof und die menschenrechtlichen UN-Gremien sollen daran nichts ändern; sie sollen keineswegs die nationale Gerichtsbarkeit oder andere vor Ort tätige Akteure »verdrängen« und durch gerichtlichen Zentralismus überflüssig machen; nichts wäre absurder. Was sie stattdessen anbieten, ist eine zusätzliche Möglichkeit für Menschen, Beschwerden einzureichen, die ggf. dann greift, wenn die verfügbaren nationalen Rechtswege ausgeschöpft worden sind. Damit stehen internationale Gerichte bzw. quasi-gerichtliche Institutionen freilich sowohl praktisch wie symbolisch für die grenzüberschreitende Dynamik, die die Menschenrechte zweifellos entfalten. 5 6
Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, Ithaca, N.Y.: Cornell University Press, 2013, S. 2. Ebd., S. 6 (Hervorhebung im Original).
8 Religionsfreiheit vor Gericht
Der nationale Instanzenzug bildet nicht länger ein hermetisch geschlossenes System. Wie bei jeder anderen gerichtlichen Institution bleibt jedoch auch die Autorität internationaler Gerichte bzw. gerichtsähnlicher Gremien, anders als Hopgood suggeriert, in gewisser Weise »auf Bewährung«, insofern sie letztlich von der Überzeugungskraft der Argumente abhängt, auf die sich die jeweiligen Urteile und Stellungnahmen stützen. Genau deshalb können sie eben nur dann auf Dauer fachliche Autorität beanspruchen, wenn sie ihre Argumentation der öffentlichen Kritik aussetzen und sich im Lichte öffentlicher Debatten bewähren. In diesem Sinne hat streng genommen keine gerichtliche oder gerichtsähnliche Instanz schlechterdings »das letzte Wort«. Auch richterliche Entscheidungen sind fehlbar, sie können wichtige Aspekte übersehen, und sie spiegeln oft zeitgenössische Plausibilitäten wider, die sich ändern können. Menschenrechtliche Kritik und menschenrechtspolitische Debatten gehen auch nach einem Urteil eines internationalen Gerichts weiter. Die Instrumente des Menschenrechtsschutzes auf verschiedenen Ebenen – nationaler, regionaler und globaler Ebene – können und sollen sich wechselseitig ergänzen. Es geht nicht um »top-down«-Strukturen, sondern um beständige Bemühungen um Koordination und Kooperation. Andernfalls könnten sich Fragmentierungstendenzen durchsetzen und einen kohärenten Menschenrechtsschutz sukzessive unterminieren. Die Gefahr einer Fragmentierung der Menschenrechte besteht nicht nur in Bezug auf verschiedene Inhalte bzw. kollidierende materielle Rechte, die wir in Kapitel 5 exemplarisch diskutiert haben; sie zeigt sich ähnlich auch in Bezug auf die institutionellen und infrastrukturellen Aspekte des Menschenrechtsschutzes. Auch auf der institutionellen Ebenen ist der Einsatz zugunsten einer ganzheitlichen Perspektive deshalb unerlässlich. César Rodríguez-Garavito hat dafür den Begriff eines »Ökosystems der Menschenrechte«7 vorgeschlagen, das sich auf diese Weise entwickeln soll. Die folgenden Beobachtungen stehen letztlich in diesem weiten Zusammenhang. Konkret konzentrieren sie sich indes auf die notwendige Koordination zwischen dem UN-Menschenrechtsausschuss (zuständig für das Monitoring des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte) und dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.
7
César Rodríguez-Garavito, »Towards a Human Rights Ecosystem«, in: Doutje Lettinga/Lars van Troost (Hg.), Debating the Endtimes of Human Rights: Activism and Institutions in a NeoWestphalian World, Amsterdam: Amnesty International Netherlands, 2014, S. 39-45.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
8.2
Vermeidung von »Forum-Shopping«
In den vorherigen Kapiteln haben wir bereits wiederholt auf Gerichtsentscheidungen, die Positionierungen förmlicher Menschenrechtsgremien und leitende »General Comments« Bezug genommen. Die überwiegende Mehrheit der internationalen Fälle, bei denen es um Religionsfreiheit geht, stammt vom UN-Menschenrechtsausschuss in Genf und vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Straßburg. Eine zentrale Herausforderung für diese beiden Institutionen besteht deshalb darin, eine divergierende oder gar widersprüchliche Rechtsprechung zu gleichen oder ähnlich gelagerten Themen möglichst zu vermeiden. Andernfalls könnte es dazu kommen, dass die Kohärenz des Menschenrechtssystems insgesamt Schaden leidet. Im schlimmsten Fall könnte eine widersprüchliche Rechtsprechung sowohl die globale als auch die regionale Struktur des Menschenrechtsschutzes unterminieren und zu einer zunehmenden normativen Fragmentierung führen. Diese Gefahr ist nicht von der Hand zu weisen. Der ehemalige Vizekanzler des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte, Michael O’Boyle, warnt jedenfalls: »A major risk is that the case law of the different international tribunals can erode the unity of international law, lead to the development of conflicting or mutually exclusive legal doctrines and threaten the principle of universality.«8 In diesem Zusammenhang müssen wir das Problem des »Forum-Shopping« ansprechen. Es entsteht dann, wenn sich die Prozessbeteiligten in ihrer Entscheidung, entweder nach Genf oder nach Straßburg zu gehen, lediglich von dem Kalkül leiten lassen, welche der beiden Institutionen ihren spezifischen Interessen eher zur Durchsetzung verhelfen dürfte. Der Sache der Menschenrechte kann es auch nicht dienlich sein, wenn Staaten die Möglichkeit haben, die Rechtsinterpretation eines UN-Monitoring-Gremiums bzw. eines regionalen Gerichts schlicht danach auszuwählen, was ihnen gerade am besten passt, um auf diese Weise womöglich ihren Menschenrechtsverpflichtungen »ausweichen« zu können. Aus all diesen Gründen sollte eine doppelte Prüfung ein und derselben Angelegenheit möglichst bereits durch Verfahrensgarantien vermieden werden, wie dies auch von den Verfassern der Europäischen Menschenrechtskonvention des Europarats (angenommen im Jahre 1950) bzw. des ersten Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (angenommen im Jahre 1966) vorgesehen wurde. Die Formulierungen, die man in beiden Fällen gefunden 8
Michael O’Boyle, »Ne bis in idem for the Benefit of States?«, in: Lucius Caflisch/Johan Callewaert/Roderick Liddell/Paul Mahoney/Mark Villige (Hg.), Liber Amicorum Luzius Wildhaber: Human Rights—Strasbourg Views, Droits de l’homme—Regards de Strasbourg, Kehl/Straßburg: N. P. Engel, 2007, S. 329-346, hier S. 329.
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hat, weichen freilich in einigen Details voneinander ab. Für den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte gilt, dass er sich mit einer im Wesentlichen gleich gelagerten Angelegenheit dann nicht befassen soll, wenn diese »has already been submitted to another procedure of international investigation or settlement and contains no relevant new information«9 . Im Vergleich dazu ist die analoge Vorgabe für den UN-Menschenrechtsausschuss enger formuliert. Der Ausschuss hat lediglich sicherzustellen, dass dieselbe Sache »is not being examined under another procedure of international investigation or settlement«10 . Dieser subtile Formulierungsunterschied, der die Möglichkeit einer doppelten Prüfung letztlich doch ein Stück weit offen lässt, wenn der Straßburger Gerichtshof einen Fall bereits entschieden hat, dann aber aktuell eine weitere Beschwerde an Genf ergeht, wurde mit voller Absicht eingeführt. Viele UN-Delegierte legten Wert darauf, dass sich keine Hierarchie herausbildet, mit der der UN-Menschenrechtsausschuss letztendlich einem regionalen Menschenrechtsorgan unterstellt wäre. Umso wichtiger ist freilich die sorgfältige Abstimmung zwischen regionalen und globalen Gremien des Menschenrechtsschutzes: Es geht um Koordination, nicht um Hierarchie oder Unterordnung. Bevor wir einige ausgewählte Entscheidungen in Sachen Religions- und Weltanschauungsfreiheit daraufhin betrachten, wie sie im UN-Menschenrechtsausschuss bzw. vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte behandelt worden sind, seien die Aufgaben und Kompetenzen dieser beiden Institutionen kurz erläutert (Abschnitt 8.3 und 8.4). Anschließend schauen wir uns ihre Rechtsprechung zu drei emblematischen Themengebieten vergleichend an, nämlich zu religiösen Symbolen im öffentlichen Leben (Abschnitt 8.5), zum Religionsunterricht (Abschnitt 8.6) und zur Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen (Abschnitt 8.7). Das Kapitel mündet in ein paar knappe Schlussüberlegungen (Abschnitt 8.8).
8.3
Der UN-Menschenrechtsausschuss: Aufgaben und Kompetenzen
Der UN-Menschenrechtsausschuss ist eines der mittlerweile zehn UN-Vertragsorgane, die die Umsetzung der internationalen Menschenrechtsabkommen einem systematischen Monitoring unterziehen. Obwohl der sehr allgemein gehaltene Titel (»Human Rights Committee«) zunächst den Eindruck erweckt, dass dieses Gremium sämtliche Menschenrechte abdeckt, beschränkt sich die Zuständigkeit des Ausschusses, wie bereits erwähnt, auf das Monitoring des Internationalen Pakts 9 10
Artikel 35(2)(b) der Europäischen Menschenrechtskonvention (Hervorhebung durch die Verfasser). Artikel 5(2)(a) des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (Hervorhebung durch die Verfasser).
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über bürgerliche und politische Rechte. Mehrere Bestimmungen dieses Pakts sind für Fragen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit relevant. Neben dem unmittelbar einschlägigen Artikel 18 zählen dazu das Verbot der Diskriminierung aufgrund von Religion (Artikel 2, 24 und 26), Maßnahmen für den Fall eines öffentlichen Notstands (Artikel 4), das Verbot der Aufstachelung zum religiösen Hass (Artikel 20) und die Rechte von Angehörigen religiöser Minderheiten (Artikel 27). Alle Vertragsstaaten des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte sind dem Menschenrechtsausschuss regelmäßig berichtspflichtig. Dabei sollen sie detailliert aufschlüsseln, welche Maßnahmen sie zur Umsetzung ihrer einschlägigen menschenrechtlichen Verpflichtungen ergriffen haben und welche Fortschritte dabei erreicht werden konnten. Die Vertragsstaaten müssen zunächst innerhalb eines Jahres nach ihrem Beitritt zum Internationalen Pakt und danach auf Antrag des Ausschusses, in der Regel alle vier Jahre, Bericht erstatten. Während seiner drei jährlichen Sitzungen in Genf führt der Ausschuss mit den jeweils zur Überprüfung anstehenden Staaten einen »konstruktiven Dialog«. Dabei stützt er sich – abgesehen vom jeweiligen Staatenbericht – auch auf einschlägige Materialien von UN-Einrichtungen sowie auf Informationen aus dem Kreis der Nationalen Menschenrechtsinstitutionen und aus der Zivilgesellschaft. In der Nutzung solcher Informationen ist der Ausschuss frei. Die Mitwirkungsmöglichkeiten für NGOs in diesem regelmäßig durchgeführten Berichterstattungsverfahren sind enorm. Sie können durch im Vorfeld eingereichte Beiträge Einfluss auf die Liste der Fragen des Ausschusses nehmen; sie können parallel zur Berichterstattung des jeweils betreffenden Staates alternative, zumeist deutlich kritischere Berichte über die Menschenrechtssituation (so genannte »Schattenberichte«) verfassen; und sie können sich in das follow-upVerfahren nach Abschluss des Berichtszyklus mit einklinken. Damit stehen ihnen etliche Möglichkeiten zur Verfügung, die sie vielfach strategisch zu nutzen wissen. Im Lichte der verfügbaren Informationen und Auskünfte prüft der Ausschuss die Situation des jeweiligen Landes, stellt in seinen »abschließenden Bemerkungen« sowohl positive Aspekte als auch Schwachpunkte fest und gibt dem Staat eine Liste von Empfehlungen an die Hand. Nach der Annahme dieser abschließenden Bemerkungen durch den Staat beschäftigt sich ein follow-up-Verfahren mit den Informationen, die der Vertragsstaat über die ergriffenen Maßnahmen zur Umsetzung der Empfehlungen des Ausschusses zurückmeldet. Während sich die Empfehlungen der unterschiedlichen UN-Ausschüsse an denselben Staat inhaltlich überschneiden und manchmal sogar widersprechen können, was zu Problemen führen kann, besteht die Stärke der UN-Vertragsorgane gerade in dem offenen und transparenten Verfahren. Die Möglichkeiten für NGOs, sich mit ihren kritischen Befunden einzubringen und die Agenda aktiv mitzugestalten, schafft zugleich Anreize für koordinierte Aktivitäten innerhalb der Zivilgesellschaft, die die Expertise unterschiedlicher Einzelorganisationen beispielsweise in gemeinsam verfassten »Schat-
8 Religionsfreiheit vor Gericht
tenberichten« bündeln kann. Diesen Nebeneffekt des UN-Berichtsverfahrens, zugunsten einer stärkeren und strategischeren Vernetzung, sollte man nicht unterschätzen. Das UN-Berichtsverfahren hat die Qualität der NGO-Arbeit auf internationaler Ebene schon jetzt durchgreifend verändert, was wiederum Rückkopplungen auch mit der zivilgesellschaftlichen Arbeit auf nationaler Ebenen mit sich bringt. Zusätzlich zu diesem regelmäßig durchgeführten Staatenberichtsverfahren kann der UN-Menschenrechtsausschuss auch zwischenstaatliche Beschwerden – also Beschwerden von einem Staat gegen einen anderen Staat – prüfen; dieses Verfahren nach Artikel 41 wurde jedoch bisher noch nie von Staaten angewandt; es spielt in der Praxis keine Rolle. Im Gegensatz zu manchen anderen UNVertragsorganen verfügt der Menschenrechtsausschuss nicht über die Kompetenz, Untersuchungen von sich aus einzuleiten, wenn er glaubwürdige Informationen mit begründeten Hinweisen auf schwere oder systematische Verletzungen im Bereich der bürgerlichen und politischen Rechte erhalten hat. Das erste Fakultativprotokoll zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte gibt dem Menschenrechtsausschuss jedoch die Möglichkeit, Individualbeschwerden über mutmaßliche Verletzungen des Paktes durch Vertragsstaaten zu prüfen (116 Staaten haben diese Möglichkeit im November 2019 eröffnet).11 Beschwerden können auch von einem Dritten im Namen von Einzelpersonen eingereicht werden, wenn diese ihre schriftliche Zustimmung gegeben haben oder wenn sie keinen Zugang zur Außenwelt haben, weil sie sich zum Beispiel im Gefängnis befinden oder »verschwunden« sind. Voraussetzung für das Vorbringen einer Individualbeschwerde ist, dass der Beschwerdeführer alle verfügbaren innerstaatlichen Rechtsbehelfe zunächst ausgeschöpft hat, zu denen in der Regel die Bearbeitung seiner Klage durch die Instanzen des nationalen Gerichtssystems gehört. Der Ausschuss kann auf diese formale Anforderung ausnahmsweise auch verzichten, wenn das einheimische Verfahren unangemessen in die Länge gezogen worden ist oder die Rechtsbehelfe nicht verfügbar sind bzw. offensichtlich unwirksam wären. Wenn der Menschenrechtsausschuss eine Individualbeschwerde für zulässig befunden hat, untersucht er, ob sie inhaltlich begründet ist und erläutert sodann in »views« die Gründe für seine Schlussfolgerung, dass ein Verstoß gegen die Bestimmungen des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte vorliegt oder nicht. Der Menschenrechtsausschuss hat bisher mehr als Tausend Fälle in der Sache entschieden, darunter rund fünfzig Beschwerden, die sich auf Fragen der Religions- und Weltanschauungsfreiheit bezogen.12 Diese Zahl mag 11
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Die Liste der Ratifikationen findet sich unter: https://treaties.un.org/Pages/ViewDetails. aspx?src=TREATY&mtdsg_no=IV-5&chapter=4&clang=_en, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. juris.opchr.org/search/documents, abgerufen am 12. November 2019.
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auf den ersten Blick nicht allzu eindrucksvoll erscheinen. Man sollte die Bedeutung der Bearbeitung von Individualbeschwerden für die Entwicklung der internationalen Menschenrechte jedoch nicht geringschätzen. Denn durch die Behandlung von Einzelfällen bleibt der Menschenrechtsausschuss mit exemplarischen Problemstellungen aus aller Welt in Kontakt, was wiederum die Voraussetzung dafür ist, Menschenrechtsabkommen als »living instruments« auf dem Interpretationswege beständig weiterzuentwickeln. Schließlich veröffentlicht der Ausschuss »General Comments«. Auf diese Weise macht er seine Interpretation spezifischer Rechtsbestimmungen der interessierten Öffentlichkeit bzw. Fachwelt zugänglich. Die General Comments basieren auf den Erfahrungen, die der Ausschuss bei der regelmäßigen Überprüfung der Vertragsstaaten und bei der Behandlung von Individualbeschwerden über Jahrzehnte hinweg gesammelt hat; das gibt ihnen ihr Gewicht. Von besonderer Bedeutung für die uns interessierende Thematik sind die General C omments zur Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit (Nr. 22, angenommen 1993), zu den Rechten von Minderheiten (Nr. 23, angenommen 1994), zur Verhängung eines Ausnahmezustands (Nr. 29, angenommen 2001) und zur Meinungsäußerungsfreiheit (Nr. 34, angenommen 2011). Insbesondere die General Comments Nr. 22 und 34 hatten großen Einfluss auf die internationale und nationale Auslegung der Religions- und Weltanschauungsfreiheit; so wurden sie beispielsweise vom Obersten Gerichtshof des Vereinigten Königreichs in einem Urteil über Asylbewerber aus Simbabwe herangezogen.13
8.4
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte
Artikel 9 Absatz 1 der Europäischen Menschenrechtskonvention (EMRK) ähnelt dem Wortlaut des Artikel 18 Absatz 1 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte. Er besagt: »Jede Person hat das Recht auf Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit; dieses Recht umfasst die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung zu wechseln, und die Freiheit, seine Religion oder Weltanschauung einzeln oder gemeinsam mit anderen öffentlich oder privat durch Gottesdienst, Unterricht oder Praktizieren von Bräuchen und Riten zu manifestieren.« 13
Vgl. Urteil des Obersten Gerichtshofs des Vereinigten Königreichs vom 25. Juli 2012, RT (Simbabwe) und andere v. Secretary of State for the Home Department, [2012] UKSC 38, Ziffer 33; Kasey L. McCall-Smith, »Interpreting International Human Rights Standards: Treaty Body General Comments as a Chisel or a Hammer«, in: Stéphanie Lagoutte/Thomas GammeltoftHansen/John Cerone (Hg.), Tracing the Roles of Soft Law in Human Rights, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 27-46, hier S. 36f.
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Abgesehen von einigen kleinen Abweichungen besteht der Hauptunterschied der Formulierungen darin, dass Artikel 9 der EMRK bei der Frage des Religionswechsels das Reizwort »change«, wie es auch in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte von 1948 steht, beibehalten hat, während Artikel 18 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte etwas umständlicher von der »Freiheit, eine Religion oder eine Weltanschauung eigener Wahl zu haben oder anzunehmen«, spricht. Einen Unterschied in der Sache bedeutet dies aber nicht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat seine Tätigkeit im Jahre 1959 aufgenommen und ist damit das mit Abstand älteste regionale Menschenrechtsgericht der Welt. Bis November 2019 hat der Gerichtshof mehr als 69.000 Urteile in der Sache erlassen, von denen sich rund 950 Fälle mit Fragen der Religionsfreiheit befassten. In fast 50 Prozent dieser Fälle stellte der Gerichtshof einen Verstoß gegen Artikel 9 der EMRK fest. Die Streitgegenstände sind vielfältig; sie betreffen beispielsweise die Autonomie von Religionsgemeinschaften, den Umgang mit Blasphemievorwürfen, Fragen religiöser Bekehrung, innerstaatliche Anerkennungsverfahren hinsichtlich der Religionsgemeinschaften, Bildungsfragen, Gewissensfreiheit, Gesichtspunkte von Gender-Gerechtigkeit, Feiertagsregelungen, Aufstachelung zum Hass, Missionstätigkeit bzw. Proselytismus, religiöses Eigentum, den Umgang mit religiösen Symbolen und andere Themen. In einigen seiner Urteile hat der Straßburger Gerichtshof den General Comment Nr. 22 des UN-Menschenrechtsausschusses herangezogen oder auf Dokumente des Sonderberichterstatters über Religions- und Weltanschauungsfreiheit Bezug genommen.14 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte darf eine Angelegenheit erst nach Ausschöpfung aller innerstaatlichen Rechtsbehelfe behandeln. Außerdem gilt, dass er einen Fall nur innerhalb von sechs Monaten ab dem Tag, an dem die endgültige innerstaatliche Entscheidung getroffen wurde, annehmen kann. Bei der Prüfung der ihm vorgelegten Rechtssachen kann der Gerichtshof in einer Einzelrichterbesetzung, in Ausschüssen (mit drei Richtern), in Kammern (mit sieben Richtern) oder in einer Großen Kammer (mit siebzehn Richtern) zusammenkommen. Ein Einzelrichter bzw. eine Einzelrichterin kann eine Klage für unzulässig erklären oder aus der Liste der Rechtssachen streichen, wenn eine solche Entscheidung ohne weitere Prüfung getroffen werden kann; andernfalls wird die Klage an einen Ausschuss oder an eine Kammer weitergeleitet. Neben einer Entscheidung über die Zulässigkeit kann ein Ausschuss auch in der Sache selbst entscheiden, sofern die zugrunde liegende Frage bereits Gegenstand der 14
Vgl. zum Beispiel Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte im Fall İzzettin Doğan und Others v. Turkey (appl. 62649/10) vom 26. April 2016, Ziffern 58-59. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat kein Mandat, thematisch orientierte »General Comments« abzugeben, wie es der UN-Menschenrechtsausschuss kann.
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etablierten Rechtsprechung des Gerichtshofs ist. Sobald eine Kammer ein Urteil gefällt hat, kann jede Partei innerhalb von drei Monaten die Befassung der Großen Kammer beantragen. Ein Urteil der Großen Kammer ist sofort rechtskräftig, während das Urteil einer einfachen Kammer erst dann rechtskräftig wird, wenn innerhalb der Frist kein Verweisungsersuchen vorliegt oder wenn ein entsprechender Antrag abgelehnt wird. Die endgültigen Urteile des Gerichtshofs sind für die betroffenen Staaten rechtsverbindlich und haben in vielen Fällen zu Änderungen in ihrer Gesetzgebung oder Verwaltungspraxis geführt. Die Staaten sind gesetzlich verpflichtet, die festgestellten Menschenrechtsverstöße zu beheben, genießen aber einen gewissen Ermessensspielraum hinsichtlich der zu diesem Zweck einzusetzenden Mittel. In einigen Fällen hat sich der Staat allerdings geweigert, einem endgültig rechtskräftigen Urteil des Gerichtshofs Folge zu leisten. Eine solche Weigerung kann Vollstreckungsmaßnahmen des Ministerkomitees auslösen, das sich aus Vertreterinnen und Vertretern der Regierungen der 47 Mitgliedstaaten des Europarats zusammensetzt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte kann auch Beschwerden von Staaten gegen andere Staaten bearbeiten. Er hat mittlerweile etwa zwanzig solcher zwischenstaatlichen Beschwerden erhalten. So kam der Gerichtshof beispielsweise im vierten zwischenstaatlichen Fall von Zypern versus Türkei im Jahr 2001 zu dem Schluss, dass ein Verstoß gegen Artikel 9 der EMRK vorlag. Er betraf die in Nordzypern lebenden griechischen Zyprioten. Gegenstand der Beschwerde waren Einschränkungen ihrer Bewegungsfreiheit, wodurch die Möglichkeiten zur Religionsausübung, insbesondere der Zugang zu Gotteshäusern außerhalb ihrer Dörfer und die Teilnahme an anderen Aspekten des religiösen Lebens, erheblich beeinträchtigt wurden.15 Im Jahr 2014 entschied der Gerichtshof, dass die Türkei verpflichtet sei, Zypern mehr als neunzig Millionen Euro für Schäden zu zahlen, die den griechischzyprischen Einwohnern der Halbinsel Karpas und den Angehörigen der vermissten Personen entstanden seien, was von der Türkei bisher allerdings nicht umgesetzt wurde.16 Zumindest am Rande sei darauf hingewiesen, dass andere regionale Menschenrechtsgerichte, wie sie im Rahmen der Organisation Amerikanischer Staaten 15
16
Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Zypern v. Türkei (appl. 25781/94) vom 10. Mai 2001, Ziffern 245-246. Nachdem von den Autoritäten Maßnahmen ergriffen worden waren, entschied der Ministerrat im Jahr 2007, die Untersuchung der Lebensbedingungen hinsichtlich Religionsfreiheit der in Nordzypern lebenden griechischen Zyprioten abzuschließen (siehe Interim Resolution CM/ResDH(2007)25, vom 4. April 2007). Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Zypern v. Türkei (appl. 25781/94), Urteil (just satisfaction) vom 12. Mai 2014. Am selben Tag stellte das türkische Außenministerium jedoch fest, dass das Urteil einer Rechtsgrundlage entbehre und »nicht unter den Bedingungen umgesetzt werden könne, unter denen die Zypernfrage weiterhin ungelöst ist« (vgl. UN Doc. A/HRC/28/20, Ziffer 17).
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(OAS) und der Afrikanischen Union (AU) bestehen, bisher nur eine recht überschaubare Rechtsprechung zur Religionsfreiheit vorgelegt haben, weshalb sie in diesem Kapitel nicht näher behandelt werden. Die regionalen Menschenrechtsübereinkommen, auf deren Grundlage die entsprechenden Gerichte tätig sind, enthalten jedoch ebenfalls Garantien der Religionsfreiheit, so in Artikel 12 der Amerikanischen Menschenrechtskonvention und in Artikel 8 der Afrikanischen Charta der Menschenrechte und der Rechte der Völker. Die regionalen Menschenrechtsgerichte haben Bezug genommen auf die UN-Erklärung über die Beseitigung aller Formen von Intoleranz und Diskriminierung aufgrund der Religion oder der Weltanschauung sowie auf General Comment Nr. 22 des UN-Menschenrechtsausschusses.17 Somit spiegelt sich die internationale Anerkennung des Menschenrechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit auch in den regionalen Systemen des Menschenrechtsschutzes wider.
8.5
Religiöse Symbole im öffentlichen Leben
Das Anbringen religiöser Symbole an öffentlichen Orten wie Klassenzimmern, Gerichtsgebäuden, Wahllokalen oder öffentlichen Plätzen ist wiederholt Gegenstand regionaler und nationaler Rechtsprechung geworden.18 Der UNMenschenrechtsausschuss hat sich demgegenüber bislang nur mit dem Tragen religiöser Kleidung und religiöser Symbole durch Personen in der Öffentlichkeit beschäftigt. Bereits 1993 erklärte der Ausschuss in seinem General Comment Nr. 22, dass sich der (im Deutschen nicht angemessen übersetzbare) Begriff »worship« auch auf »die Darstellung von Symbolen« erstrecke und zur religiösen Praxis bzw. zur Beachtung religiöser Vorschriften auch »das Tragen von unverwechselbarer Kleidung oder Kopfbedeckungen« gehören könne. Zu religiösen Symbolen zählen beispielsweise Kleidung oder Ornamente wie Kopftücher, Kippot, Kruzifixe, Halsbänder, Nonnenhabite, Bindi, Safranroben oder Turbane. Die Rechtsprechung in Genf und in Straßburg zu diesem Thema unterscheidet sich erheblich voneinander. Exemplarisch deutlich wird dies in Bezug auf die Ausweisung von Schülerinnen und Schüler aus öffentlichen Schulen in Frankreich, weil diese sich geweigert hatten, auffällige Symbole der Religionszugehörigkeit im Unterricht abzulegen. Nachdem das französische Parlament im Jahr 2004 ein entspre17
18
Vgl. Interamerikanischer Gerichtshof für Menschenrechte, Nadege Dorzema et al. v. Dominikanische Republik, Urteil vom 24. Oktober 2012, Fußnote 283; Afrikanischer Gerichtshof für Menschenrechte und Völkerrechte, Afrikanische Kommission für Menschenrechte und Völkerrechte v. Republik Kenia (appl. 006/12), Urteil vom 26. Mai 2017, Fußnoten 42 und 43. Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Lautsi und andere v. Italien (appl. 30814/06), Urteil der Großen Kammer vom 18. März 2011; UN Doc. E/CN.4/2006/5, Ziffer 36 (mit Verweisen auf nationale Rechtsurteile in Endnote 1).
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
chendes Gesetz verabschiedet hatte, gingen einige muslimische Mädchen dennoch mit Kopftuch zur Schule und einige Jungen trugen den Sikh keski (Mini-Turban), um ihre Haare zu bedecken. Als sich die Schülerinnen bzw. Schüler weigerten, die religiösen Symbole zu entfernen, wurde ihnen der Zugang zum Klassenzimmer verweigert, und schließlich verwiesen die Behörden sie dauerhaft von der öffentlichen Schule. Im Falle von Bikramjit Singh versus Frankreich sprach sich der UN-Menschenrechtsausschuss zugunsten des Sikh-Beschwerdeführers aus, weil Frankreich keine zwingenden Beweise dafür vorgelegt habe, dass das Tragen des Mini-Turbans eine Gefährdung der Rechte und Freiheiten anderer Schülerinnen und Schüler bzw. der Schulordnung darstelle. Der Menschenrechtsausschuss hielt die endgültige Ausweisung des betroffenen Schülers aus der öffentlichen Schule, allein wegen seiner Zugehörigkeit zu einer religiös definierten breiten Personengruppe, für unverhältnismäßig und unnötig.19 Zu einem ganz anderen Ergebnis kam allerdings der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte, und zwar in seinen Entscheidungen über die ähnlich gelagerten Klagen von Ranjit Singh versus Frankreich und Jasvir Singh versus Frankreich, die beide als unzulässig und offensichtlich unbegründet angesehen wurden. Das Straßburger Gericht vertrat die Auffassung, dass die Schulverweise gerechtfertigt seien. Sie seien dem Ziel, die Rechte und Freiheiten anderer und die öffentliche Ordnung sowie den Verfassungsgrundsatz der Laizität zu schützen, angemessen. Dabei berücksichtigte der Gerichtshof den Ermessensspielraum (»margin of appreciation«), der den nationalen Behörden für die Entscheidungsfindung verbleibe.20 Unterschiede zwischen der Genfer und der Straßburger Rechtsprechung zu religiösen Symbolen zeigten sich noch deutlicher mit Blick auf Identitätsfotos für Sikhs, denen in Frankreich bestimmte offizielle Dokumente verweigert worden waren, weil das dafür eingereichte Foto sie mit einem Turban zeigte. Hinsichtlich des Ausweisfotos auf seinem Führerschein, wurde Shingara Mann Singhs entsprechende Klage vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte im November 2008 für unzulässig erklärt. Einen Monat später reichte er jedoch eine separate Beschwerde beim UN-Menschenrechtsausschuss ein. Dabei ging es um die Ablehnung des Antrags auf Verlängerung seines französischen Passes, nachdem er ein Foto mit einem Turban vorgelegt hatte. Der Beschwerdeführer argumentierte, dass das UN-Vertragsorgan nicht verpflichtet sei, die regionale Rechtsprechung einzuhalten, und dass die beiden Fälle unterschiedlich seien. Technisch gesehen ist es 19 20
UN-Menschenrechtsausschuss, Bikramjit Singh v. Frankreich, Ansichten vom 1. November 2012, UN Doc. CCPR/C/106/D/1852/2008, Ziffer 8.7. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Jasvir Singh v. Frankreich (appl. 25463/08) Entscheidung vom 30. Juni 2009; und Ranjit Singh v. Frankreich (appl. 27561/08) Entscheidung vom 30. Juni 2009.
8 Religionsfreiheit vor Gericht
richtig, dass sich die Zurückweisung der Fotos für die Anträge von Shingara Mann Singh, auf einen Führerschein einerseits und auf einen Reisepass andererseits, nicht auf »dieselbe Angelegenheit« bezog;21 diese beiden Fälle sind jedoch offensichtlich eng miteinander verbunden und wurden von ein und derselben Person mit unterschiedlichen Ergebnissen in Straßburg und in Genf vorgebracht. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte argumentierte, dass die Behörden Führerscheinfotos benötigten, auf denen die Person barhäuptig sei, und zwar insbesondere für Kontrollen im Rahmen der Straßenverkehrsvorschriften. Außerdem sei die Verpflichtung, den Turban bei solchen Kontrollen zu entfernen oder bei erstmaliger Ausstellung eines Führerscheins abzulegen, lediglich sporadischer Natur.22 Der UN-Menschenrechtsausschuss kam jedoch zum entgegengesetzten Schluss: Die Verpflichtung, den Turban für das Identitätsfoto zu entfernen, beeinträchtige die Religionsfreiheit möglicherweise auf Dauer, da der Inhaber des Passes »immer ohne seine religiöse Kopfbedeckung auf dem Identitätsfoto erscheinen würde und somit gezwungen sein könnte, seinen Turban bei Identitätskontrollen zu entfernen«23 . Der UN-Menschenrechtsausschuss betonte, dass Frankreich Shingara Mann Singh einen wirksamen Rechtsbehelf zur Verfügung stellen müsse, einschließlich einer Überprüfung seines Antrags auf Verlängerung seines Passes; zu überprüfen seien auch die einschlägigen Vorschriften und ihre Anwendung in der Praxis; außerdem müsse Frankreich Maßnahmen ergreifen, um ähnliche Verstöße in Zukunft zu verhindern. Es ist bemerkenswert, dass sich Shingara Mann Singh in Genf mit seinem Anspruch auf Religionsfreiheit somit durchsetzen konnte, obwohl sein Antrag in Straßburg unter Berücksichtigung des dem Staat einzuräumenden Ermessensspielraums als »manifestly ill founded« abgelehnt worden war. Die Doktrin des »margin of appreciation«, die primär in Straßburg, aber nur selten in Genf zur Anwendung kommt, führt, wie dieses Beispiel zeigt, zu unterschiedlichen Schutzniveaus auf regionaler und globaler Ebene, und zwar selbst dann, wenn die zugrunde liegenden Menschenrechtsnormen nahezu identisch formuliert sind. Im Anschluss 21
22 23
Daher hatte der Vorbehalt Frankreichs zu Artikel 5 Absatz 2 Buchstabe (a) des Fakultativprotokolls zum Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte (nach dem »der Menschenrechtsausschuss nicht befugt ist, die Mitteilung einer Einzelperson zu prüfen, wenn dieselbe Sache im Rahmen eines anderen internationalen Untersuchungs- oder Streitregelungsverfahrens geprüft wird oder bereits geprüft wurde«) keinen Einfluss auf die Zulässigkeitsprüfung des Falles in Genf. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Mann Singh v. Frankreich (appl. 24479/07), Entscheidung vom 13. November 2008. UN-Menschenrechtsausschuss, Shingara Mann Singh v. Frankreich, Ansichten vom 19. Juli 2013, UN Doc. CCPR/C/108/D/1928/2010, Ziffer 9.5. Siehe auch das gleiche Argument des Menschenrechtsausschusses im vorherigen Fall von Ranjit Singh v. France, Ansichten vom 22. Juli 2011, UN Doc. CCPR/C/102/D/1876/2009, Ziffer 8.4.
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an die Stellungnahmen des Menschenrechtsausschusses erklärte Frankreich, dass es seine einschlägigen Vorschriften nicht ändern werde, da weder die nationalen Gerichte noch der regionale Gerichtshof sie als Verstoß gegen die Religionsfreiheit bzw. den Grundsatz der Nichtdiskriminierung eingestuft hätten.24 Diese Haltung der französischen Regierung, die hier also lediglich auf die nationale und regionale Rechtsprechung verweist, ist jedoch wenig überzeugend. Zum einen sind internationale Konventionen wie der Pakt über bürgerliche und politische Rechte für einen Vertragsstaat rechtlich bindend; der Staat muss sie somit in gutem Glauben erfüllen und kann sich für einen Fall von Nichterfüllung internationaler Verpflichtungen keineswegs als Rechtfertigung auf anderweitige Bestimmungen seines innerstaatlichen Rechts berufen.25 Artikel 55 der französischen Verfassung besagt darüber hinaus ausdrücklich, dass ordnungsgemäß ratifizierte Verträge Vorrang vor Akten des Parlaments haben. Als Frankreich dem Internationalen Pakt über bürgerliche und politische Rechte beitrat, erklärte es zwar, dass die Bestimmungen des Pakts zu Meinungs-, Versammlungs- und Vereinigungsfreiheit gemäß den entsprechenden Artikeln der EMRK umgesetzt werden würden; Frankreich gab jedoch keine ähnliche Erklärung zur Religions- und Weltanschauungsfreiheit ab. Zum anderen beansprucht die EMRK keinen Vorrang vor internationalen Verträgen, wie explizit aus ihrem Artikel 53 hervorgeht, in dem es heißt, dass nichts in der EMRK als Einschränkung oder Abweichung von den Menschenrechten oder Grundfreiheiten ausgelegt werden darf, die durch ein anderes Abkommen gewährleistet sind. In der Sache selbst gibt es im Übrigen keinen unlösbaren Widerspruch zwischen den Ergebnissen aus Straßburg und Genf, da sich der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in seiner Zulässigkeitsentscheidung auf den staatlichen Ermessensspielraum Frankreichs bezog, während der UN-Menschenrechtsausschuss eindeutig eine Verletzung der Religionsfreiheit festgestellt hat. Insofern könnte Frankreich problemlos beiden Gremien inhaltlich folgen, nämlich einfach dadurch, dass es seinen derzeitigen restriktiven Ansatz in Bezug auf religiöse Symbole im öffentlichen Leben aufgäbe.26 Eine ähnliche Diskrepanz zwischen globaler und regionaler Rechtsprechung zeigt sich im Blick auf das seit 2011 bestehende französische Verbot, im öffentlichen Raum gesichtsbedeckende Kleidung zu tragen. Dieses Verbot betrifft primär muslimische Frauen, die den vollen Gesichtsschleier tragen wollen. Umgangssprachlich wurde es daher als Niqab-Verbot oder Burka-Verbot bekannt. Die Große Kammer des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte räumte Frankreich in ihrem Urteil vom 1. Juli 2014 einen breiten Ermessensspielraum hinsichtlich dieser »gesellschaftlichen Entscheidung« ein. Außerdem stellten die Richter fest, das streiti24 25 26
UN Doc. CCPR/C/112/3, S. 15. Artikel 26 und 27 des Wiener Übereinkommens von 1969 über das Recht der Verträge. Vgl. H. Bielefeldt/N. Ghanea/M. Wiener, Freedom of Religion or Belief , a.a.O., S. 161.
8 Religionsfreiheit vor Gericht
ge Verbot könne im Blick auf das damit verfolgte Ziel als angemessen angesehen werden. Das Gericht bezog sich dabei auf das von der französischen Regierung vorgebrachte Ziel, die Bedingungen des »Zusammenlebens« (»vivre ensemble«) als Bestandteil des »Schutzes der Rechte und Freiheiten anderer« zu gewährleisten.27 Ganz anders die Position des UN-Menschenrechtsausschusses: In zwei Entscheidungen vom 17. Juli 2018 kam er zu dem Schluss, dass das strafrechtliche Verbot muslimische Frauen, die sich dafür entscheiden, den vollen Gesichtsschleier zu tragen, unverhältnismäßig stark treffe; außerdem gebe es eine unangemessene Differenz im Vergleich zu bestimmten anderen Personen, die ihr Gesicht legal in der Öffentlichkeit bedecken dürften.28 Der UN-Menschenrechtsausschuss räumte zwar ein, dass manche Frauen tatsächlich familiärem oder sozialem Druck ausgesetzt sein könnten, wenn sie ihr Gesicht bedecken; er betonte zugleich aber, dass »das Tragen des vollen Schleiers auch eine persönliche Entscheidung bzw. ein Mittel sein kann, einen religiös basierten Anspruch vorzubringen«29 . Die Tatsache, dass ein Einzelrichter des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte die beiden Klagen in Straßburg zuvor für unzulässig erklärt hatte, hinderte den UN-Menschenrechtsausschuss nicht daran, ihre Klagen in Genf dennoch zu berücksichtigen; denn der Ausschuss konnte nicht mit Sicherheit feststellen, dass ihre Fälle »bereits Gegenstand einer, wenn auch begrenzten, Prüfung der Begründetheit«30 in Straßburg waren.
8.6
Religionsunterricht in der öffentlichen Schule
Das Thema Religionsunterricht in öffentlichen Schulen ist ein weiteres Beispiel für Forum-Shopping zwischen Straßburg und Genf. Es zeigt auch einmal mehr die Möglichkeit, gleichzeitig Beschwerden an regionale und globale Menschenrechts27 28
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Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, S.A.S. v. Frankreich (appl. 43835/11), Urteil der Großen Kammer vom 1. Juli 2014, Ziffern 153-157. UN-Menschenrechtsausschuss, Yaker v. Frankreich, Ansichten vom 17. Juli 2018, UN Doc. CCPR/C/123/D/2747/2016, Ziffer 8.17; Hebbadj v. Frankreich, Ansichten vom 17. Juli 2018, UN Doc. CCPR/C/123/D/2807/2016, Ziffer 7.17. Vgl. UN Doc. CCPR/C/123/D/2747/2016, Ziffer 8.15 und CCPR/C/123/D/2807/2016, Ziffer 7.15, in dem der Menschenrechtsausschuss ausdrücklich die Gender-bezogene Argumentation des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte zitiert (»a State Party cannot invoke gender equality in order to ban a practice that is defended by women - such as the applicant - in the context of the exercise of the rights enshrined in those provisions, unless it were to be understood that individuals could be protected on that basis from the exercise of their own fundamental rights and freedoms«, vgl. S.A.S. v. France, Ziffer 119). Vgl. UN Doc. CCPR/C/123/D/2807/2016, Ziffer 6.4 und die ähnliche Formulierung in CCPR/C/123/D/2747/2016, Ziffer 6.2.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
mechanismen zu richten, insbesondere wenn mehrere Personen ähnlich betroffen sind. Genau das geschah nach der Einführung eines religiösen Pflichtfachs im norwegischen Schulsystem im Jahr 1997, das unter dem Titel stand: »Christliches Wissen sowie religiöser und ethischer Unterricht«. Der Norwegische Humanistische Verband sowie die Eltern von acht Schülerinnen und Schülern forderten eine vollständige Befreiung von diesem Unterricht, der darauf abzielte, eine gründliche Kenntnis der Bibel und des Christentums als Kulturerbe sowie des evangelischlutherischen Glaubens zu vermitteln. Nachdem ihre Freistellungsanträge von den jeweils betroffenen Schulen abgelehnt worden waren, versuchten die Betroffenen, diese Entscheidungen vor den nationalen Gerichten anzufechten. Der Oberste Gerichtshof Norwegens wies ihre Anträge jedoch zurück. Anschließend richteten vier Eltern und ihre Kinder eine Beschwerde an Genf, während sich drei der anderen Eltern sowie der Norwegische Humanistische Verband getrennt voneinander an Straßburg wandten. Es stellte sich nun die Frage, ob die gegenüber beiden Institutionen vorgebrachten Beschwerden als »dieselbe Angelegenheit« betrachtet werden sollten. Norwegen argumentierte, dass die Mitteilungen an den UNMenschenrechtsausschuss und den Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte weitgehend identisch seien und dass die Eltern eine doppelte Überprüfung des im Wesentlichen gleichen Falls durch die regionalen und globalen Gremien anstrebten.31 Die Eltern betonten demgegenüber, dass vor inländischen Gerichten jeder Fall separat behandelt worden sei und je eigenständige Verwaltungsentscheidungen betreffe. Außerdem habe jedes Elternteil das Recht, für sich selbst zu entscheiden, ob es sich an das regionale oder an das globale Organ wenden wolle.32 Der UN-Menschenrechtsausschuss folgte der Auffassung der Eltern. Er berief sich dabei auf seine zuvor etablierte enge Auslegung des Begriffs »dieselbe Angelegenheit«. Damit eine Beschwerde tatsächlich in diesem Sinne als »dieselbe Angelegenheit« gelten könne, müsse es sich tatsächlich um ein und dieselbe Forderung handeln, die ein und dieselbe Person (oder ein in ihrem Namen handelnder Beauftragter) auch gegenüber der jeweils anderen internationalen Gerichtsinstitution eingereicht habe. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte entschied ebenfalls, dass es trotz der inhaltlichen Gemeinsamkeiten zwischen den Fällen in Straßburg und in Genf keine persönliche Identität zwischen den beiden Familiengruppen gebe. Allerdings zog der Norwegische Humanistische Verband seinen mit Blick auf die EMRK formulierten Antrag zurück und der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte erklärte die Anträge der Kinder für unzulässig, 31 32
Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Leirvåg u.a. v. Norwegen, Ansichten vom 3. November 2004, UN Doc. CCPR/C/82/D/1155/2003, Ziffer 8.2. Ebd., Ziffer 10.3.
8 Religionsfreiheit vor Gericht
weil sie nicht formell vor den nationalen Gerichten Partei gewesen seien und somit die innerstaatlichen Rechtsmittel nicht ausgeschöpft hätten.33 Übrig blieben als Kläger vor dem Straßburger Gerichtshof somit nur noch die Eltern. Insofern unterschieden sich die Verfahren in Straßburg und in Genf am Ende teilweise dann doch, nämlich nach den verbliebenen Klägern und nach dem Umgang ihrer Beschwerden. Bei der inhaltlichen Prüfung der Beschwerden verwies der UN-Menschenrechtsausschuss auf die Probleme der Kinder, von denen einige im Rahmen einer Weihnachtsfeier religiöse Texte hätten rezitieren müssen, obwohl sie zuvor Freistellung vom entsprechenden Unterricht ersucht hätten. Der Ausschuss kam deshalb zum Ergebnis, das eingeführte Pflichtschulfach gewährleiste keine angemessene Trennung zwischen einem bloß informierenden, also auf Wissen und Sachkenntnis über religiöse Themen abzielenden Unterricht einerseits und einer praktischen Religionsausübung andererseits.34 Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte untersuchte demgegenüber lediglich das Recht der Eltern auf Achtung ihrer religiösen Überzeugung. Eine knappe Mehrheit (von neun gegen acht Richtern) innerhalb der Großen Kammer stellte fest, das System der partiellen Freistellung berge die Gefahr, die Eltern in Bezug auf ihr Privatleben übermäßig zu exponieren; das darin angelegte Konfliktpotenzial könne sie davon abhalten, Anträge auf Freistellungen für ihre Kinder zu stellen.35 Auch wenn die Kläger sowohl in Genf als auch in Straßburg jeweils »gesiegt« haben, gibt es mithin subtile Unterschiede in den Ergebnissen. Wiederum ist das Risiko des Forum-Shopping offensichtlich. In einer separaten Stellungnahme kritisierten zwei der Straßburger Richter offen, dass der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte den Antrag im Hinblick auf den damit verbundenen Fall in Genf nicht für unzulässig erklärt hatte, wie das ihrer Ansicht nach hätte geschehen müssen: »[T]he risk of contradictory decisions, in which international litispendence has its origin, does exist. This is an example of what the [European Convention of Human Rights] and the Optional Protocol [to the International Covenant on Civil and Political Rights] tried to avoid. Unfortunately, their subsequent interpretation by the competent international organs has deprived them of their original sense. The Court’s judgment, adopted by nine votes to eight, may lead us to think that the 33 34 35
Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Folgerø und andere v. Norwegen (appl. 15472/02), Entscheidung der Dritten Abteilung vom 26. Oktober 2004. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Leirvåg u.a. v. Norwegen, Ansichten vom 3. November 2004, UN Doc. CCPR/C/82/D/1155/2003, Ziffern 14.6 und 14.7. Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Folgerø und andere v. Norwegen (appl. 15472/02), Urteil der Großen Kammer vom 29. Juni 2007, Ziffer 100.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
exception of litispendence has been buried, even if – as contradictory as it may seem – in the present case it shows signs of being in good health. This is a pity.«36 Diese scharfe Warnung vor divergierenden Rechtsprechungen von regionalen und globalen Institutionen bei gleichzeitiger Rechtshängigkeit (»litispendence«) in Straßburg und Genf ist bemerkenswert.
8.7
Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen
Ein weiteres Beispiel für unterschiedliche Ansätze auf globaler und regionaler Ebene ist die Rechtsprechung in Genf und Straßburg bzgl. Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Bis 1993 hatte der UN-Menschenrechtsausschuss in mehreren Fällen festgestellt, dass der Internationale Pakt über bürgerliche und politische Rechte keinerlei Rechtsanspruch auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen vorsehe.37 In seinem General Comment Nr. 22 (von 1993) nahm der Ausschuss jedoch eine Änderung seiner Position vor. Ein Recht auf Kriegsdienstverweigerung, so seine Argumentation, »can be derived from article 18, inasmuch as the obligation to use lethal force may seriously conflict with the freedom of conscience and the right to manifest one’s religion or belief«. Das Verb »to manifest« signalisiert, dass der Ausschuss hier eindeutig auf die externe Dimension der Religionsfreiheit – das so genannte »forum externum« – abstellt. Dieser Ansatz belässt den Staaten prinzipiell die Möglichkeit, Kriegsdienstverweigerung nach den Kriterien der Schrankenklausel von Artikel 18 Absatz 3 ggf. einzuschränken, sofern sie dafür ausreichende Rechtfertigungsgründe vorbringen können. In mehreren Fällen wurde diese Linie bis zum Jahre 2010 bekräftigt.38 Seit 2011 hat die Mehrheit der Ausschussmitglieder jedoch in zahlreichen Entscheidungen argumentiert, das Recht auf gewissensbedingte Verweigerung sei der Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit als solcher bereits inhärent.39 Damit verbindet der Ausschuss ei36 37
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39
Ebd., Separate Stellungnahme der Richter Zupančič und Borrego Borrego. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Muhonen v. Finnland, Beschluss vom 6. April 1984, UN Doc. CCPR/C/24/D/89/1981; L. T. K. v. Finnland, Beschluss vom 9. Juli 1985, UN Doc. CCPR/C/25/D/185/1984; Järvinen v. Finnland, Ansichten vom 25. Juli 1990, UN Doc. CCPR/C/39/D/295/1988. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Yoon und Choi v. Republik Korea, Ansichten vom 3. November 2006, UN Doc. CCPR/C/88/D/1321-1322/2004; Jung et al. v. Republik Korea, Ansichten vom 23. März 2010, UN Doc. CCPR/C/98/D/D/1593-1603/2007. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Jeong et al. v. Republik Korea, Ansichten vom 24. März 2011, UN Doc. CCPR/C/101/D/1642-1741/2007; Jong-Nam Kim et al. v. Republik Korea, Ansichten vom 25. Oktober 2012, UN Doc. CCPR/C/106/D/1786/2008; Atasoy und Sarkut v. Türkei, Ansichten vom 29. März 2012, UN Doc. CCPR/C/104/D/1853-1854/2008; Young-Kwan Kim et al. v. Republik Korea, Ansichten vom 15. Oktober 2014, UN Doc. CCPR/C/112/D/2179/2012; Ab-
8 Religionsfreiheit vor Gericht
ne Wende in Richtung auf das forum internum, das – wie bereits dargelegt40 – gegen jedwede staatliche Einschränkung geschützt ist. Dieser absolute Schutz des forum internum gilt, wie Artikel 4 Absatz 2 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte klarstellt, sogar im Falle eines öffentlichen Notstands, der das Leben der Nation bedroht. Der forum internum-Ansatz in der Begründung des Rechts auf gewissensbedingte Verweigerung, wie ihn die Mehrheit des Ausschusses in jüngerer Zeit vertritt, würde es für die Staaten somit von vornherein unmöglich machen, das Recht auf Kriegsdienstverweigerung in Krisenzeiten auszusetzen oder unter einschränkende Bedingungen zu stellen. Die Rechtsprechung in Straßburg hat eine ähnliche Entwicklung genommen, wenn auch mit einiger Verzögerung und ohne die letzterfolgte Änderung der Auslegung in Genf. Von 1966 bis 2010 hatten die Straßburger Organe eine restriktive Linie verfolgt, wonach die Gedanken-, Gewissens- und Religionsfreiheit kein Recht garantiere, den Kriegsdienst aus Gewissensgründen abzulehnen.41 Im Jahr 2011 änderte die Große Kammer des Gerichtshofs dann jedoch ausdrücklich die bisherige Rechtsprechung und betonte, dass die EMRK ein »living instrument« sei, welches im Lichte der heutigen Bedingungen und der mittlerweile in demokratischen Staaten vorherrschenden Ideen zu interpretieren sei. Die Große Kammer verwies auf wichtige Trends in Richtung der Anerkennung des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen in verschiedenen internationalen Foren; insbesondere erwähnte sie in diesem Zusammenhang die Entwicklung im UN-Menschenrechtsausschuss bis zum Jahr 2010.42 Straßburg hat allerdings bislang den Genfer Wechsel zum forum internum-Ansatz nicht nachvollzogen, den der UN-Menschenrechtsausschuss zufälligerweise nur zwei Wochen vor dem Urteil der
40 41
42
dullayev v. Turkmenistan, Ansichten vom 25. März 2015, UN Doc. CCPR/C/113/D/2218/2012; Mahmud Hudaybergenov v. Turkmenistan, Ansichten vom 29. Oktober 2015, UN Doc. CCPR/C/115/D/2221/2012; Ahmet Hudaybergenov v. Turkmenistan, Ansichten vom 29. Oktober 2015, UN Doc. CCPR/C/115/D/2222/2012; Japparow v. Turkmenistan, Ansichten vom 29. Oktober 2015, UN Doc. CCPR/C/115/D/2223/2012; Aminov v. Turkmenistan, Ansichten vom 14. Juli 2016, UN Doc. CCPR/C/117/D/2220/2012; Matyakubov v. Turkmenistan, Ansichten vom 14. Juli 2016, UN Doc. CCPR/C/117/D/2224/2012; Yegendurdyyew v. Turkmenistan, Ansichten vom 14. Juli 2016, UN Doc. CCPR/C/117/D/2227/2012; Nasyrlayev v. Turkmenistan, Ansichten vom 15. Juli 2016, UN Doc. CCPR/C/117/D/2219/2012; Nurjanov v. Turkmenistan, Ansichten vom 15. Juli 2016, UN Doc. CCPR/C/117/D/2225/2012; Uchetov v. Turkmenistan, Ansichten vom 15. Juli 2016, UN Doc. CCPR/C/117/D/2226/2012. Vgl. die Ausführungen in Kapitel 3.4. Vgl. Europäische Menschenrechtskommission, Grandrath v. Deutschland (App. 2299/64), Bericht vom 12. Dezember 1966; G. Z. v. Österreich (App. 5591/72), Entscheidung vom 2. April 1973; X v. Deutschland (App. 7705/76), Entscheidung vom 5. Juli 1977; A. v. Schweiz (App. 10640/83), Entscheidung vom 9. Mai 1984; Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Bayatyan v. Armenien (App. 23459/03), Kammerentscheidung vom 27. Oktober 2009. Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Bayatyan v. Armenien (appl. 23459/03), Urteil der Großen Kammer vom 7. Juli 2011, Ziffern 59-64 und 105.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Großen Kammer vom 7. Juli 2011 veröffentlicht hatte. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte betrachtet Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen nach wie vor als äußere Manifestation einer religiösen Überzeugung, systematisch verortet also im forum externum.43 Worin bestehen die Hauptunterschiede zwischen dem forum internum- und dem forum externum-Ansatz und wie wirken sich die unterschiedlichen Ausgangspunkte für die Betroffenen aus? In der Praxis dürften beide Ansätze höchstwahrscheinlich zum gleichen Ergebnis führen, nämlich dahingehend, dass Staaten das Recht auf Kriegsdienstverweigerung letztendlich nicht einschränken können. Während der in Genf neuerdings präferierte forum internum-Ansatz die Möglichkeit von Einschränkungen von vornherein kategorisch ausschließt, ist dies beim forum externum-Ansatz zunächst anders. Allerdings obliegt es dem Staat, etwaige Einschränkungen des Rechts auf gewissensbedingte Kriegsdienstverweigerung gemäß den dafür vorgesehenen Kriterien zu rechtfertigen. Die Beweislast liegt dabei ganz auf Seiten des Staates. Es ist schwer vorstellbar, dass eine solche Rechtfertigung plausibel gelingen kann. Die Freiheit eines Kriegsdienstverweigerers einzuschränken, ohne damit zugleich den Kern der Religionsfreiheit unverhältnismäßig zu beeinträchtigen, dürfte sich in der Praxis als kaum möglich erweisen. Denn Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte ist streng auszulegen und erlaubt insbesondere keine Beschränkungen aus Gründen der »nationalen Sicherheit«. Auch die Befürworter des forum internum-Ansatzes im Menschenrechtsausschuss haben daher eingeräumt, dass der Rekurs auf die Schrankenklausel des Artikels 18 Absatz 3 die Inanspruchnahme des Rechts auf Kriegsdienstverweigerung in der Praxis nicht verhindern würde.44 Trotzdem sind die Auffassungsunterschiede durchaus brisant. Das Hauptproblem der jüngeren Interpretation in Genf besteht darin, dass sie einige Gewissensentscheidungen privilegiert, indem sie diese unter den absoluten Schutz des forum internum der Religionsfreiheit stellt, während andere ebenfalls gewissensbedingte Entscheidungen völlig außen vor bleiben.45 Die Mehrheit des UN-Menschenrechtsausschusses hat diesen absoluten Schutz bisher nämlich ausschließlich für solche Verweigerungen aus Gewissensgründen vorgesehen, die auf der Religion oder Weltanschauung des betreffenden Kriegsdienstverweigerers basieren. Nun könnten natürlich auch andere, etwa nicht-religiöse oder 43
44
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Vgl. Europäischer Gerichtshof für Menschenrechte, Bayatyan v. Armenien (appl. 23459/03), Urteil der Großen Kammer vom 7. Juli 2011, Ziffer 112; Erçep v. Türkei (appl. 43965/04), Urteil vom 22. November 2011, Ziffer 49. Vgl. UN-Menschenrechtsausschuss, Atasoy und Sarkut v. Türkei, Ansichten vom 29. März 2012, CCPR/C/104/D/1853-1854/2008, Einzelmeinung des Ausschussmitglieds Sir Nigel Rodley, gemeinsam mit den Mitgliedern Krister Thelin und Cornelis Flinterman (übereinstimmend). Vgl. H. Bielefeldt/N. Ghanea/M. Wiener, Freedom of Religion or Belief , a.a.O., S. 289.
8 Religionsfreiheit vor Gericht
nicht-weltanschauliche Gewissenspositionen als absolut schützenswert angesehen werden. In der Konsequenz würde dies dann jedoch das Netz des forum internum-Schutzes zu weit spannen und die Schrankenklausel nach Artikel 18 Absatz 3 faktisch leerlaufen lassen. Dieser Gefahr könnte man nun theoretisch dadurch entgegenwirken, dass man lediglich die den Kriegsdienst betreffende gewissensgegründete Verweigerung mit absolutem Schutz ausstattet, nicht aber gewissensbedingte Verweigerungen in anderen wichtigen gesellschaftlichen Fragen. Damit aber würde man sich neue Schwierigkeiten einhandeln. Im Ergebnis liefe dies nämlich darauf hinaus, eine Hierarchie von Verweigerungsgründen zu schaffen, die – je nach inhaltlichen Themen – als mehr oder weniger schützenswert gelten würden. Mit einem inhaltlich offenen Verständnis des Rechts auf Gewissensfreiheit wäre ein solcher Ansatz nicht vereinbar. Angesichts dieser Schwierigkeiten erscheint der Straßburger Ansatz, systematisch auf das forum externum abzustellen, aus Gründen dogmatischer Klarheit vorzugswürdig. Zwar sind staatliche Beschränkungen für Akte der Gewissensverweigerung damit nicht von vornherein kategorisch ausgeschlossen; jedoch setzt die Schrankenklausel der Religionsfreiheit nach Artikel 9 Absatz 2 der Europäischen Menschenrechtskonvention46 die Hürde für etwaige Beschränkungen sehr hoch an; vermutlich ist diese Hürde in der Praxis unüberwindbar. Zugleich hält der Gerichtshof die Tür offen für ganz unterschiedliche Themen, auch für Themenbereiche außerhalb der Kriegsdienstverweigerung, die ja ebenfalls in den Fokus von Gewissensentscheidungen geraten können – man denke beispielsweise an medizinethische Fragestellungen, die zunehmend unter Aspekten der Gewissensfreiheit debattiert werden. In dieser Hinsicht bleibt die Straßburger Rechtsprechung inhaltlich offener als der Genfer Ansatz, der mit dem rigiden Rekurs auf das forum internum – gewollt oder ungewollt – inhaltliche Engführungen verbindet. Die endgültig rechtskräftigen Urteile des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte haben zwar den Vorteil förmlicher Rechtsverbindlichkeit, und ihre Umsetzung wird vom Ministerkomitee des Europarats überprüft, was eine weitere Kontrollstufe bei der Vollstreckung von Urteilen darstellt. Aus strategischer Sicht könnte es für manche Beschwerdeführer dennoch attraktiver erscheinen, sich an den UN-Menschenrechtsausschuss in Genf zu wenden, wo ihre Ansprüche, sofern es um das spezifische Thema der Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen geht, vom absoluten Schutz des forum internum profitieren könnten, wenn auch mit einem weniger starken Folgeverfahren in Genf im Vergleich zu den hochentwickelten Aufsichtsmechanismen in Straßburg.
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Die Schrankenklausel in Artikel 9 Absatz 2 der EMRK entspricht der Schrankenklausel des Artikel 18 Absatz 3 des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
8.8
Koordination und Inspiration
Im Rückblick auf mittlerweile mehrere Jahrzehnte Rechtsprechung zur Religionsund Weltanschauungsfreiheit sowohl in Straßburg als auch in Genf bleibt festzuhalten, dass diesbezüglich mehr konzeptionelle Klarheit geschaffen wurde als einige Beobachter dies zu Beginn der Entwicklung erwartet hatten.47 Es gibt eindrucksvolle Beispiele für Fortschritte in der Rechtsprechung sowie für inhaltliche Durchbrüche, besonders ausgeprägt etwa beim Recht auf Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen. Nach wie vor bestehen allerdings auch offensichtliche Schwachpunkte: In Genf zeigt sich dies in der relativ geringen Zahl der vom UNMenschenrechtsausschuss entschiedenen Fälle zur Religionsfreiheit. Was Straßburg angeht, stößt der vom Gerichtshof den Staaten konzedierte weite Ermessensspielraum (»margin of appreciation«) immer wieder auf Kritik; aus der Sicht bestimmter religiöser Minderheiten ist die bisherige Straßburger Rechtsprechung deshalb eher enttäuschend ausgefallen. Im vorliegenden Kapitel haben wir exemplarische Themenbereiche diskutiert, in denen die Rechtsprechung auf globaler und auf regionaler Ebene unterschiedlich oder sogar gegensätzlich ausfällt – mit womöglich weitreichenden rechtlichen und praktischen Auswirkungen. Was die Kriegsdienstverweigerung aus Gewissensgründen betrifft, so scheint der Straßburger Ansatz (der auch von den UN-Sonderprozeduren geteilt wird)48 überzeugender zu sein als der forum internum-Ansatz, wie ihn die Mehrheit des UN-Menschenrechtsausschusses seit einigen Jahren vertritt. Im Umgang mit dem Themenfeld religiöser Symbole erscheint die Genfer Rechtsprechung hingegen kohärenter als die entsprechende Jurisprudenz in Straßburg, da sie sich auch inhaltlich auf entsprechende Forderungen einlässt. Saïla Ouald Chaib kommentierte jedenfalls, sie sei froh, dass sich der UN-Menschenrechtsausschuss in seiner Entscheidung vom 22. Juli 2011 im Fall Ranjit Singh versus Frankreich dafür entschieden habe, der Begründung des Europäischen Gerichtshofs für Menschenrechte nicht zu folgen. Sie äußerte die Hoffnung, »that the Committee’s decision may be a source of inspiration for future Strasbourg case-law«49 . 47
48
49
Eine insgesamt positive Einschätzung der Kohärenz findet sich – mit ausführlichen Belegen aus unterschiedlichen Sachthemen – auch bei Bianca Petzhold, Die »Auffassungen« des UNMenschenrechtsausschusses zum Schutze der Religionsfreiheit, Tübingen: Mohr Siebeck, 2015. Gemeint sind damit die vom UN-Menschenrechtsrat mandatierten Sonderberichterstatter bzw. Arbeitsgruppen. Vgl. H. Bielefeldt/N. Ghanea/M. Wiener, Freedom of Religion or Belief , a.a.O., S. 269-275. Saïla Ouald Chaib, »Ranjit Singh v. France: The UN Committee asks the questions the Strasbourg Court didn’t ask in turban case« (6. März 2012), online verfügbar unter: https:// strasbourgobservers.com/2012/03/06/ranjit-singh-v-france-the-un-committee-asks-thequestions-the-strasbourg-court-didnt-ask-in-turban-case/, abgerufen am 12. November
8 Religionsfreiheit vor Gericht
Eine doppelte Befassung mit ein und demselben Thema in Genf und in Straßburg birgt, wie dargelegt, zwar große Risiken normativer Fragmentierung, die man ernstnehmen und möglichst vermeiden sollte. Eine parallele Befassung kann aber nicht um jeden Preis ausgeschlossen werden. Etwaige Versuche, sich auf den kleinsten gemeinsamen Nenner zu einigen oder eine juristische Hierarchie zwischen globaler und regionaler Ebene zu etablieren, wären dem Menschenrechtsschutz ganz bestimmt nicht förderlich. Stattdessen wäre es sinnvoll, auf einen intensiveren und systematischeren Informationsaustausch sowie auf Diskussion und Koordination zwischen den verschiedenen globalen und regionalen Menschenrechtsmechanismen zu setzen, um langfristig ein kohärentes »Ökosystem« des Menschenrechtsschutzes auf hohem Niveau zu entwickeln. Die ehemalige Präsidentin des Internationalen Gerichtshofs, Rosalyn Higgins, hat in diesem Sinne eine dreifache Forderung an sämtliche Richterinnen und Richter vorgebracht: »We must read each other’s judgments. We must have respect for each other’s judicial work. We must try to preserve unity among us unless context really prevents it.«50
50
2019. Dieser Artikel bezieht sich auf die Ansichten des UN-Menschenrechtsausschusses vom 22. Juli 2011 im Falle von Ranjit Singh v. Frankreich (UN Doc. CCPR/C/102/D/1876/2009) und nicht auf den am 30. Juni 2009 vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte in Ranjit Singh v. Frankreich entschiedenen anderen Fall (appl. 27561/08). Rosalyn Higgins, »A Babel of Judicial Voices? Ruminations from the Bench«, in: International and Comparative Law Quarterly, Bd. 55, No. 4 (2006), S. 791-804, hier S. 804.
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9. Gewalt im Namen der Religion
9.1
Die Frage nach dem Beitrag der Religionsfreiheit
Gewaltakte im Namen der Religion stellen eine weltweite Bedrohung dar.1 Nachdem man sich hierzulande über die Jahre hinweg an entsprechende Fernsehbilder aus Afghanistan, Irak, Israel, Myanmar, Pakistan und Syrien gewöhnt hatte, ist religiös motivierter Terror mittlerweile auch den Europäern unmittelbar auf den Leib gerückt. Das Thema beschäftigt die Innen- und Justizpolitik nicht weniger als die Außen- und Verteidigungspolitik. Gewalt im Namen der Religion existiert in verschiedenen Varianten: als Terrorismus, aggressives Vigilantentum oder »communal violence«, und sie kann sich zu Bürgerkriegen und internationalen militärischen Auseinandersetzungen auswachsen. Zu denjenigen, die solche Gewalt verüben, gehören nicht-staatliche und staatliche Akteure; nicht selten operieren nicht-staatliche Gruppen mit Billigung des Staates oder von Teilen des Staatsapparates. Auf den ersten Blick mögen viele der einschlägigen Gewaltakte »archaisch« wirken. Tatsächlich werden sie häufig regelrecht inszeniert, um modernen Medienvoyeurismus zu bedienen, was für die Opfer und ihre Familien zusätzliche Demütigungen bedeutet. Eine umfassende Analyse dieses Themenfelds würde den Rahmen eines Buchkapitels sprengen. Das Ziel der folgenden Überlegungen ist enger angelegt. Primär interessiert uns hier die Frage, welchen Beitrag die Religionsfreiheit für die Prävention bzw. Überwindung religiös motivierter oder religiös verbrämter Gewalt leisten kann. Wir gehen nicht davon aus, dass die Religionsfreiheit den »Schlüssel« zur Lösung dieses Problems bereithält. Wohl aber gibt sie – stets im Konzert mit anderen Menschenrechten – den normativen Rahmen vor, innerhalb dessen sich Lösungsstrategien bewegen müssen. Der Menschenrechtsansatz ist nicht nur bei der Erarbeitung konkreter Antworten auf die Herausforderung religiös unterlegter Gewalt von Bedeutung; auch bei der Suche nach angemessenen Kategorien zur Beschreibung der Phänomene und 1
Diesem Kapitel liegt der Bericht zugrunde, den Heiner Bielefeldt in seiner damaligen Funktion als UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit dem UNMenschenrechtsrat 2014 vorgelegt hat, vgl. UN Doc. A/HRC/28/66.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Ursachen erweist er sich als hilfreich. Fest steht, dass kein Weg daran vorbeiführt, die Probleme ungeschminkt zu Wort zu bringen; mit falscher Rücksichtnahme ist niemandem geholfen. Gleichzeitig gilt es zu bedenken, dass die dabei verwendeten Kategorien und Begriffe Auswirkungen auf zahlreiche Menschen haben können – sowohl auf die Angehörigen der je betroffenen Religionen, die sich womöglich unter Generalverdacht gestellt sehen, als auch auf die Opfer von Gewalt, die manchmal unter dem Gefühl leiden, dass ihnen wenig Verständnis und Solidarität seitens der Gesellschaft entgegengebracht werde. Die Menschenrechte setzen voraus, dass Menschen verantwortliche Wesen sind, auch im Kontext von Religion und Gewalt. Diese Feststellung ist weniger trivial, als sie auf den ersten Blick erscheinen mag. In Debatten zu Religion und Gewalt stößt man nämlich immer wieder auf zwei typische Reaktion, die – obwohl einander entgegengesetzt – beide darauf hinauslaufen, die »human agency« in diesem Bereich zu marginalisieren. Die eine Reaktion besteht darin, jede substanzielle Beteiligung der Religionen an den in ihrem Namen durchgeführten Gewaltakten zu bestreiten oder herunterzuspielen. Auf diese Weise leugnet oder trivialisiert man die Verantwortung der Religionsgemeinschaften. Die Religion, so heißt es, werde für bestimmte aggressive Zwecke lediglich »missbraucht« (vgl. Abschnitt 9.2). Die andere, mindestens ebenso verbreitete Reaktionsweise meint Gewaltphänomene unmittelbar aus dem »Wesen« der Religion herleiten zu können. Betroffen ist hiervon vor allem der Islam (vgl. Abschnitt 9.3). Gegen beide komplementären Verkürzungen auf »human agency« zu setzen, sie zu stärken und zu fordern, entspricht dem Menschenrechtsansatz (vgl. Abschnitt 9.4). Während den intellektuellen Wortführern und Vertretern der Religionsgemeinschaften eine besondere Verantwortung für die Entwicklung gewaltpräventiver Strategien zukommt (vgl. Abschnitte 9.5 und 9.6), ist ihre Verantwortung gleichwohl nicht exklusiv. Neben theologischen, religionsrechtlichen und religionskulturellen Faktoren sind auch »politische« Akteure und Faktoren von Bedeutung. Ein Beispiel, auf das wir näher eingehen, ist der Verlust des Vertrauens in öffentliche Institutionen, oft in Folge endemischer Korruption (vgl. Abschnitt 9.7). Am Ende des Kapitels kommen wir dann auf die eingangs aufgeworfene Frage zurück, nämlich nach der spezifischen Rolle der Religionsfreiheit bei der Erarbeitung angemessener präventiver und intervenierender Anti-Gewaltstrategien im Kontext von Religion (vgl. Abschnitt 9.8).2
2
Eine kürzere Version von Teilen der folgenden Ausführungen ist erschienen in: Heiner Bielefeldt, »Kein unabänderliches Schicksal: Gewalt im Namen der Religion«, in: Birgit JeggleMerz/Michael Durst (Hg.), Gewalt – Herrschaft – Religion. Beiträge zur Hermeneutik von Gewalttexten, Einsiedeln, Schweiz: Paulus Verlag, 2018, S. 49-71.
9 Gewalt im Namen der Religion
9.2
Apologetische Reflexe
»We have to overcome the state of denial.«3 In diesem Appell kulminierte eine Ansprache, die der schiitische Scheich Maytham al-Salman aus Bahrain an die Teilnehmer eines regionalen Workshops in Nicosia richtete. Mit »state of denial« meinte Scheich Maytham jenen reflexhaften Abwehrgestus, der oft in den Hinweis mündet, religiös unterlegte Gewaltanschläge hätten mit Religion »eigentlich gar nichts zu tun«. Islamistische Attentäter könnten schon deshalb keine echten Muslime sein, weil der Begriff Islam die gleiche Wortwurzel wie der arabische Begriff für Frieden (»salam«) aufweise. Wo immer Terror im Namen des Islams stattfinde, handele es sich folglich um einen bloßen »Missbrauch« der Religion – sei es durch verirrte Individuen, sei es durch machiavellistische Geheimdienstler oder gar die Feinde des Islams. Scheich Maytham attackierte solche Apologetik als Flucht aus der Realität und als Verweigerung von Verantwortung. Insbesondere religiöse Führer (sie waren in der oben zitierten Aufforderung mit dem »we« angesprochen) müssten sich ohne Wenn und Aber den verstörenden Tatsachen stellen. Dazu gehört der Befund, dass terroristische Propaganda in Teilen der Religionsgemeinschaften positive Resonanz findet, und dass sich selbst in den ideologischen Verdrehungen des zeitgenössischen Jihadismus immer noch einige klassische Muster islamischer Polemik gegen »Ungläubige« und »Ketzer« ausmachen lassen. Während manche Attentäter vielleicht nur ihre nihilistischen Hass- und Gewaltphantasien ausleben, könnten andere tatsächlich von der bizarren Überzeugung getrieben sein, durch die Tötung, Verstümmelung, Entführung und Versklavung ihrer Mitmenschen ein gottgefälliges Werk zu verrichten. Das Thema Gewalt im Namen der Religion, so Scheich Maytham, lasse sich jedenfalls nicht auf Missverständnisse, krankhafte Wahnvorstellungen, machiavellistische Instrumentalisierungen und politische Komplotts abschieben.4 3
4
Vgl. UN Doc. A/HRC/31/18, Ziffer 3. In diesem im Oktober 2015 durchgeführten Werkstattgespräch ging es nicht nur um interreligiöse Dialogprojekte, sondern auch um weiter gefasste Konzepte zur Überwindung von Grenzen wechselseitigen Verstehens innerhalb der nahöstlichen Gesellschaften. Zypern war deshalb ausgesucht worden, weil es in den letzten Jahren bemerkenswerte Durchbrüche in der Kommunikation zwischen den Religionsgemeinschaften gegeben hatte. Die Veranstaltung war eine Kooperation zwischen dem »Religious Track of the Cyprus Peace Process«, einer von der Schwedischen Botschaft auf Zypern über Jahre hinweg unterstützten Initiative (www.religioustrack.com, abgerufen am 12. November 2019), und dem UN-Sonderberichterstatter über Religions- und Weltanschauungsfreiheit. Für einige der Teilnehmerinnen und Teilnehmer war die Mitwirkung an diesem Gespräch persönlich oder politisch riskant, weshalb sie auf Anonymität Wert legten; ein öffentlich zugängliches Protokoll existiert daher nicht. Der zitierte Scheich Maytham al-Salman hat ausdrücklich zugestimmt, mit seinen Positionierungen hier genannt zu werden. Vgl. auch Scott Appleby, The Ambivalence of the Sacred. Religion, Violence, and Reconciliation, New York: Rowman & Littlefield Publishers, 2000, S. 30: »To interpret acts of violence and terror-
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Maytham al-Salman ist ein bekannter Oppositioneller im sunnitisch beherrschten Bahrain, in dem die Bevölkerungsmehrheit der Schia angehört. Wiederholt wurde er von der Regierung verhört, verhaftet, mit Reiseverboten belegt oder anders drangsaliert. Während er als schiitischer Kleriker häufig für die Rechte diskriminierter Schiiten eintritt, sprach er beim Thema religiös motivierter Gewalt ausführlich auch die Menschenrechtsverletzungen schiitischer Milizen in Syrien und im Irak an. Sein Plädoyer, »we have to overcome the state of denial«, war nicht nur an andere Religionsgemeinschaften gerichtet. Auch wenn die kritisierten apologetischen Reflexe der Sache nach falsch sind, wird man einräumen, dass sie sich manchmal zumindest nachvollziehen lassen. Viele Muslime vermögen in Terroranschlägen der Taliban, von Boko Haram oder Al Shabaab, ganz zu schweigen von den grausam inszenierten Exekutionen des sogenannten »Islamischen Staats« nicht einmal eine blutige Karikatur ihrer Religion zu erkennen. Sie reagieren dann ähnlich befremdet wie Christen, wenn man sie auf den norwegischen Massenmörder Anders Behring Breivik anspricht, der sich als einsamer Kreuzritter im Abwehrkampf gegen die Islamisierung Europas wähnte, oder wenn sie von den Kriegsverbrechen der »Lord’s Resistance Army« in Uganda hören. Der Satz »das hat mit Religion nichts zu tun« markiert dann jene abgrundtiefe Distanz, die Menschen gegenüber Gräueltaten verspüren, die sie weder verstehen noch in Worte fassen können. Es sperrt sich offenbar etwas in uns dagegen, Akte schierer Menschenverachtung subtil zu »interpretieren« und mit tieferer Bedeutung aufzuladen. Bei solcher spontanen Distanzierung geht es keineswegs immer um die jeweils eigene Religion. Im Nahen Osten trifft man auch Christen, die in Einklang mit ihren muslimischen Nachbarn betonen, die Grausamkeiten islamistischer Terrororganisation hätten mit dem Islam, den sie kennen, nichts zu tun. Noch einmal anders stellt sich die Lage für Muslime dar, die als Minderheit in Europa leben. In einem Klima zunehmender Terrorangst nach den Anschlägen in Paris, Nizza, Berlin und anderswo sehen sich viele unter Generalverdacht gestellt.5 Hier kann die Formel »das hat mit dem Islam nicht zu tun« aus dem Bedürfnis einer Minderheit resultieren, ein Signal der Beruhigung an die Gesellschaft zu senden: »wir sind vom Terror nicht weniger betroffen und nicht weniger befremdet als ihr«. Nicht immer
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ism committed in the name of religion as necessarily motivated by other concerns and lacking in religious qualities is therefore an error.« Umfragen bestätigen, dass ein Misstrauen gegenüber dem Islam und Muslimen seit längerem besteht. Vgl. zum Beispiel www.theguardian.com/uk-news/2017/jun/07/anti-muslimhate-crimes-increase-fivefold-since-london-bridge-attacks, abgerufen am 12. November 2019. Gemischt sind die – mehrere europäische Länder einbeziehenden – Ergebnisse im »Religionsmonitor« der Bertelsmannstiftung: Dirk Halm/Martina Sauer, Muslime in Europa. Integriert aber nicht akzeptiert?, Gütersloh: Bertelsmann, 2017.
9 Gewalt im Namen der Religion
kommt diese Botschaft an. Das Misstrauen mag sogar wachsen, wenn der Eindruck entsteht, schwierige Themen würden durch allzu schnelle Erklärung lediglich weggedrängt. Oft verläuft nur eine dünne Linie zwischen spontaner und sehr verständlicher Distanzierung einerseits und einer mit sophistischen Wortklaubereien operierenden Realitätsverweigerung andererseits. Alleine mit dem Hinweis, dass der Begriff »islamistischer Terrorismus« ein Oxymoron darstellt, das von den Feinden des Islams erfunden worden sei, kann man sicher kein Vertrauen schaffen. Was Scheich Maytham ansprach, ist gewiss kein exklusiv islamisches Problem. Militante Hindu-Nationalisten gehören zu den treibenden Kräften jener »communal violence« in Indien, die keineswegs nur spontan aufflammt, sondern systematisch orchestriert wird und immer wieder Todesopfer fordert.6 In Myanmar steht ein buddhistischer Mönch im Zentrum der aggressiv anti-islamischen »Bewegung 969«, die über Hetzreden, Boykottaufrufe und auch physische Übergriffe erheblich dazu beigetragen hat, Hunderttausende muslimische Rohingyas aus Myanmar zu vertreiben.7 Das Äquivalent in Sri Lanka heißt »BBS«; das singhalesische Akronym wird auf Englisch mit »Buddhist Power Force« wiedergegeben; auch innerhalb des BBS beteiligen sich buddhistische Mönche an nationalistischen Hasskampagnen. Israelis zeigen sich bestürzt über Gewaltakte radikaler Siedler im besetzten Westjordanland, die Kirchen und Moscheen attackiert und entweiht haben sollen.8 Homophobe Hetze christlicher Prediger in Uganda oder Sambia kann tödliche Konsequenzen zeitigen, wirkt sie auf einige doch offensichtlich als Aufforderung zur Lynchjustiz.9 In den USA bereiten sich christliche Milizen auf den Endkampf mit dem Antichrist vor, den manche Fundamentalisten mit dem Islam identifizieren.10 Die Vorstellung, dass religiöse Botschaften von Haus menschenfreundlich ausgerichtet seien und nur leider gelegentlich für inhumane Zwecke politisch instrumentalisiert würden, verharmlost die destruktiven Energien, die aus der Mitte der 6 7
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Vgl. Barbara Metcalf/Deana Heath/Chandana Mathur (Hg.), Communalism and Globalization in South Asia and its Diaspora, London: Routledge, 2013. Vgl. Azeem Ibrahim, The Rohingyas. Inside Myanmar’s Hidden Genocide, London: C. Hurst & Co., 2016, S. 79-98. Die Mitglieder einer unabhängigen Untersuchungskommission zu Myanmar äußersten sich in ihren Berichten von 2018 und 2019 schockiert über anhaltende Hasskampagnen, die sowohl online als auch offline stattfinden und keine angemessene Antwort seitens der Regierung erfahren, vgl. UN Docs. A/HRC/39/64, Ziffer 73; A/HRC/42/50, Ziffern 72-75. Vgl. Ruth Margalit, »Israel’s Jewish-Terrorist Problem«, in: The New Yorker, 4. August 2015, verfügbar unter: www.newyorker.com/news/news-desk/israels-jewish-terrorist-problem, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. Gay Clark Jennings, Homophobia in Christian Africa. How the Church Affects LGBT Repression, 27. Januar 2014, verfügbar unter: https://www.huffpost.com/entry/homophobia-christianafrica_n_4675618, abgerufen am 12. November 2019. Ein Beispiel für anti-islamische Verschwörungsphantasien ist das Buch von Joel Richardson, The Islamic Antichrist. The Shocking Truth about the Real Nature of the Beast, Los Angeles: WND Books, 2009.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Religionen selbst hervorgehen können. Gewiss: Religionen stiften Sinn, geben Heimat und Orientierung; sie schaffen Solidarität und können Menschen anspornen, über sich selbst hinauszuwachsen. Viele Menschen setzen sich aus religiöser Motivation für Frieden, Gerechtigkeit und Menschenrechte ein. Markus Weingardt hat Projekte in aller Welt – von Mosambik und Ruanda über Indien bis zu Kambodscha und den Philippinen – untersucht, in denen sich religiöse Organisationen erfolgreich für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Menschenrechte engagieren. Er beschreibt dabei ein »Friedenspotenzial der Religionen«, das nicht außer Acht bleiben darf.11 Religionen halten aber auch für die Rechtfertigung von Ungleichheit und Dominanz her und liefern apokalyptische Bilder, mit denen sich Abweichler und Rivalen dämonisieren lassen. Religionen können Herzen öffnen, aber auch verhärten. Sie können die geistigen Horizonte ihrer Anhänger erweitern oder verengen. Beide Aspekte liegen manchmal nahe beieinander: Indem Religionen Menschen zusammenbringen und Gemeinschaften stiften, verschärfen sie womöglich bestehende Trennlinien oder schaffen neue Spaltungen. Der Loyalität nach innen, entspricht oft – wenn auch keineswegs zwangsläufig – eine Abgrenzung nach außen. Und der Trost, den religiöse Botschaften spenden, führt gelegentlich zu aggressivem Unverständnis all denen gegenüber, die sich der Einsicht in die heilsame Wirkung des rechten Glaubens verschließen.12 Scott Appleby diagnostiziert deshalb eine »Ambivalenz des Heiligen«, wie es im Titel seiner einschlägigen Studie über Religion und Gewalt heißt.13
9.3
Essentialistische Gewaltzuschreibungen
Die soeben beschriebenen apologetischen Reflexe gehen von einem idealistisch konstruierten »Wesen« der Religion aus, das von religiös motivierten Gewaltexzessen letztlich nicht tangiert werden könne. »Eigentlich«, so heißt es etwa, sei der Islam friedlich – was immer auch in seinem Namen geschehen mag. Ähnlich lässt sich dieses apologetische Muster auch auf andere Religionen beziehen, um irritierende Erfahrungen von vornherein wegzuschieben. Gegenevidenzen kommen gegen eine solche Semantik der »Eigentlichkeit« kaum an. Sichtweisen, die von einem unterstellten Wesenskern der Religion her konkrete Phänomene sortieren, gibt es allerdings auch – vermutlich häufiger – unter umgekehrten, nämlich negativen Vorzeichen. In der negativen Variante wird die 11 12
13
Vgl. Markus A. Weingardt, Religion Macht Frieden. Das Friedenspotential von Religionen in politischen Gewaltkonflikten, Stuttgart: Kohlhammer, 2007. Zur Ambivalenz der Religionen vgl. auch Reinhold Mokrosch/Thomas Held/Roland Czada (Hg.), Religionen und Weltfrieden: Friedens- und Konfliktlösungspotenzial von Religionsgemeinschaften, Stuttgart: Kohlhammer, 2013. Vgl. S. Appleby, The Ambivalence of the Sacred, a.a.O.
9 Gewalt im Namen der Religion
Gewaltneigung unmittelbar aus der imaginierten Essenz der Religion hergeleitet; sie erscheint manchmal sogar als ein geradezu »logisch« notwendiger Ausfluss bestimmter religiöser Vorschriften, Prägungen und Bindungen. In unseren Breiten richtet sich dies vor allem gegen den Islam bzw. gegen Muslime.14 Immer wieder erlebt man, dass nach öffentlichen Veranstaltungen zum Thema Islam jemand ans Podium tritt und dem Referenten im Gestus stummen Vorwurfs einen Zettel mit einschlägigen Koranversen überreicht. Die implizite Botschaft lautet: Es lohnt sich nicht, mit Muslimen zu reden; denn Intoleranz, Fanatismus und Gewaltneigung sind durch die autoritative Quelle des Islams beglaubigt oder sogar gleichsam vorprogrammiert. Manchmal mündet dies in den berüchtigten Kollektivsingular: »der Muslim« ist halt so. Die gläubigen oder weniger gläubigen Anhänger des Islams werden somit allesamt unter einem unhistorisch gedachten Wesenskern der Religion subsumiert; sie verschwinden als Individuen gleichsam hinter einer ihnen zugeschriebenen kollektiven religiösen Mentalität. Innerislamische Vielfalt und Auseinandersetzungen, theologische Reformbemühungen und religionshistorische Veränderungsprozesse bleiben demgegenüber buchstäblich »unwesentlich«, und Mahnungen zur differenzierten Betrachtung werden schnell als relativistische Ausweichmanöver abgetan. Die Vorstellung, wonach bestimmte Religionen von Haus aus gewaltsam und autoritär, andere hingegen friedlich und tolerant seien, ist zwar viel zu simpel, als dass sie der verwirrenden Vielfalt der Phänomene auch nur halbwegs gerecht werden könnte. Denn weder ist der Islam aufgrund seiner Frühgeschichte expansiver Eroberungen durchgängig auf Aggressivität gestimmt, noch erweist sich das Christentum stets als duldsam und friedfertig, und auch buddhistische Gruppierungen können in kollektive Gewaltexzesse verstrickt sein. Essentialistische Sichtweisen lassen sich jedoch durch Gegenevidenzen nicht leicht irritieren. So behauptet Hans-Peter Raddatz, dass das Christentum, wenn es für Gewaltrechtfertigungen herhalte, lediglich »missbraucht« werde, während es sich beim Islam genau umgekehrt verhalte: »Vereinfacht lässt sich sagen, ein Christ missbraucht seine Religion, wenn er Gewalt anwendet, und ein Muslim missbraucht seine Religion, wenn er Gewalt nicht anwendet.«15 Während islamistischer Terror und andere Gewaltmanifestationen so als Belege verbucht werden, die das »wahre Wesen« dieser Religion beleuchten, werden Hass- und Gewaltakte christlicher Fundamentalisten entweder abgeblendet oder kategorial von vornherein völlig anders eingeordnet. 14 15
Vgl. Thorsten Gerald Schneiders (Hg.), Islamfeindlichkeit. Wenn die Grenzen der Kritik verschwimmen, Wiesbaden: Springer Fachmedien, 2. aktualisierte und erweiterte Auflage 2010. So Hans-Peter Raddatz in einem Interview: https://derwille.wordpress.com/beitrage/dasinterview-mit-hans-peter-raddatz, abgerufen am 12. November 2019 (Hervorhebung hinzugefügt).
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Auf diese Weise lassen sich ideologische Vorannahmen systematisch gegen empirische Befunde immunisieren. Wie viele Menschen einer solch polarisierten essentialistischen Zuordnung zustimmen würden, lässt sich schwer abschätzen. Untergründig dürfte dieses Muster jedenfalls sehr präsent sein. Es verleiht islamistischen Gewaltmanifestationen von vornherein eine Art negativen »Authentizitätsbonus«; sie passen ins Bild und bestätigen weithin bestehende Vorannahmen. Für all diejenigen zahlreichen Muslime, die mit Gewalt nichts im Sinne haben oder sich aktiv für Gewaltfreiheit einsetzen, folgt daraus, dass sie gleichsam im Halbschatten der Wahrnehmung verbleiben. Nicht selten erleben sie dies sogar als merkwürdiges Kompliment, etwa wenn ihnen jemand hierzulande schulterklopfend attestiert, dass sie ja gut in die westliche Gesellschaft integriert und deshalb gar keine »echten« Muslime mehr seien. Ein offener, liberaler Islam, der mit Gewalt nichts zu tun haben will, kann in solch einer negativ-essentialistischen Sichtweise wohl nur unecht sein. Die Ableitung von Gewaltneigung aus einem angenommenen Wesenskern der Religion ist das Gegenstück zu der eingangs beschriebenen apologetischen Semantik, mit der sie das essentialistische Grundmuster teilt. Im einen Fall wird der Wesenscharakter der Religion durch Prädikate wie Friedlichkeit und Toleranz normativ vorgegeben, so dass Gewaltphänomene als bloße Missverständnisse oder externe Instrumentalisierungen beiseitegeschoben werden können. Im anderen Fall sind es umgekehrt die militanten und aggressiven Manifestationen, die wiederum direkt aus der Religion hergeleitet werden – nun mit der Konsequenz, dass innerreligiöse Pluralität als belanglos und insbesondere innerislamische liberale Reformbemühungen von vornherein als vergeblich erscheinen müssen. Manchmal trifft das negative Muster auch die monotheistischen Religionen insgesamt, etwa in Gestalt der Unterstellung, dass ihnen aufgrund der »mosaischen Unterscheidung« (Jan Assmann)16 zwischen dem einen wahren Gott und den falschen Götzen eine Neigung zu Intoleranz und Gewalt gleichsam einprogrammiert sei. Bereits David Hume hatte in diesem Sinne Monotheismus und Polytheismus nach dem Schema Intoleranz versus Toleranz miteinander kontrastiert.17 Während Assmann seine Kritik eines gewaltfördernden Monotheismus angesichts vieler Einwände inzwischen zumindest relativiert hat,18 konnte Peter Sloterdijk der Versuchung rhetorischer Zuspitzung nicht widerstehen, als er den monotheistischen Offenbarungsreligionen – Judentum, Christentum und Islam – pauschal 16 17 18
Vgl. Jan Assmann, Die Mosaische Unterscheidung oder der Preis des Monotheismus, München/Wien: Carl Hanser, 2003. Vgl. David Hume, The Natural History of Religion, Stanford: Stanford University Press, 1956, S. 50. Vgl. Jan Assmann, »Monotheismus und Gewalt. Eine Auseinandersetzung mit Rolf Schieders Kritik an ›Moses der Ägypter‹«, in: Rolf Schieder (Hg.), Die Gewalt des einen Gottes, Darmstadt: Wissenschaftliche Buchgesellschaft, 2014, S. 36-55.
9 Gewalt im Namen der Religion
einen »Modus der totalen Mitgliedschaft« sowie eine »Pflicht zur Grausamkeit«19 attestierte; mit Gegenargumenten, Gegenevidenzen oder anderen Details hält er sich nicht auf.20 Ab und zu wird der Kreis der Religionskritik sogar noch weiter gezogen, so dass er am Ende sämtliche Religionen einschließt. Nicht wenige Menschen assoziieren mit dem Thema Religion vor allem unangenehme Erscheinungsformen wie eifernde Prediger, bigotte Tugendapostel, moralisierende Bevormundung, Dogmatismus, Fanatismus und nicht zuletzt eben auch Gewalt. Damit korrespondieren Wunschvorstellungen von einer Gesellschaft, in der die Religion in der Öffentlichkeit keine Rolle mehr spielt und am Ende völlig verschwindet. »And no religion, too«, heißt es im Refrain von John Lennons »Imagine all the people«. Seine Vision einer friedlich vereinten Menschheit ohne staatlich Grenzen und ohne religiöse Differenzen dürfte in weiten Teilen der westeuropäischen Gesellschaften Anklang finden. Der Einsatz für den Weltfrieden gerät in dieser Vision konsequenterweise zum Kulturkampf für eine religionsfreie Welt.
9.4
Ernstnehmen menschlicher Verantwortung
Die beiden beschriebenen Varianten des Essentialismus stehen inhaltlich in direktem Gegensatz zueinander. Während die apologetische Variante eskapistisch ist und das Thema Gewalt schon im Vorfeld erledigt, ist die zweite Tendenz fatalistisch, insofern sie Gewaltneigungen in bestimmten religiösen Kontexten als geradezu unvermeidlich ansieht. In diesem Gegensatz von Eskapismus und Fatalismus können die beiden Essentialismen einander aber wechselseitig befeuern, wie sich in TV-Talkshows immer wieder beobachten lässt. Auf der einen Seite steht dann typischerweise der Vorwurf der Verharmlosung oder »Tabuisierung«, auf der anderen Seite der Vorwurf pauschaler Verdächtigung. Wenn beide aufeinanderprallen, setzen sie ein Perpetuum Mobile wechselseitiger rhetorischer Attacken in Gang, die zur Klärung der Sachfragen meist schon deshalb nichts beitragen, weil sich die Argumente ständig im Kreise drehen. Gemeinsam ist den beiden Essentialismen die implizite Absage an jedwede differenzierte Analyse, die auf die jeweilige Gesamteinschätzung sowieso keine Auswirkungen haben dürfte. Komplexe Ursachenbeschreibung, ein Ernstnehmen re19
20
Peter Sloterdijk, »Im Schatten des Sinai. Fußnote über Ursprünge und Wandlungen totaler Mitgliedschaft«, in: R. Schieder (Hg.), Die Gewalt des einen Gottes, a.a.O., S. 124-149, hier S. 137 bzw. S. 131. Vgl. die Kritik von Rolf Schieder, »Die Monotheismusthese, oder: Ist Mose für religiöse Gewalt verantwortlich?«, in: ders. (Hg.), Die Gewalt des einen Gottes, a.a.O., S. 15-35, hier S. 25: »Ob es Peter Sloterdijk die Schamesröte auf die Wangen getrieben hat, als er das Junktim von ›Gegenreligion des Monotheismus‹ und ›Gegenreligion des Faschismus‹ erfand?«
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
ligionsinterner Vielfalt, Kenntnisnahme neuer Entwicklungen, die Einschätzung etwaiger Reformprojekte und der dabei zu überwindenden religiösen, kulturellen und politischen Hindernisse – all dies erscheint letztlich überflüssig. Damit kommt zugleich die Verantwortung der handelnden Menschen systematisch zu kurz. In der apologetischen Spielart des Essentialismus gibt es von vornherein keinen Anlass, sich der Verantwortung für Gewaltakte und ihre ideologischen Hintergründe innerhalb der Religionsgemeinschaften ernsthaft zu stellen. Nach dem fatalistischen Muster der Gewaltzuschreibung sieht es demgegenüber so aus, dass individuelle Gewaltakteure und ihre ideologischen Unterstützer scheinbar lediglich einer in der jeweiligen »religiösen DNA« schon angelegten aggressiven Grundtendenz zum Durchbruch verhelfen. Als Menschenrecht orientiert sich die Religionsfreiheit am Menschen als einem Verantwortungssubjekt, dessen Freiheit stets sowohl vorausgesetzt als auch gezielt gestärkt werden soll. Dies gilt auch für den Kontext von Religion und Gewalt. In der einschlägigen Berichterstattung findet man indes häufig Metaphern, die an Naturkatastrophen erinnern. Man kann nicht oft genug darauf hinweisen, dass religiös unterlegte Gewalt keineswegs »ausbricht« wie ein Vulkan. Es ist falsch zu unterstellen, die »heiße Lava« kollektiven Religionshasses habe seit jeher im Untergrund existiert und daher gleichsam mit Naturgewalt herausschießen müssen, sobald der Deckel autoritärer Regime weggezogen worden sei. Gewalt ist kein Naturereignis. Um es mit Nelson Mandelas viel zitierten Worten zu sagen: »No one is born hating another person because of the color of his skin, or his background, or his religion.«21 Gewaltakte im Namen der Religion haben vielfältige politische, historische, gesellschaftliche und nicht zuletzt auch religiöse und theologische Ursachen, die sorgfältig analysiert zu werden verdienen. Orientierend bleibt dabei die Verantwortung der Menschen sowohl innerhalb als auch außerhalb der Religionsgemeinschaften.
9.5
Schwierigkeiten und Möglichkeiten religionsinterner Kritik
Die Alternative zu beiden Essentialismen ist ein Verständnis von Religion als einer von Menschen getragenen, historisch offenen sozialen Praxis. Was aus einer religiösen Tradition wird, wie sie sich entwickelt, stagniert, zerfällt, öffnet oder 21
Nelson Mandela, Long Walk to Freedom: The Autobiography of Nelson Mandela, Boston/New York/Toronto/London: Little, Brown & Company, 1994, S. 542. Vgl. auch Laurel Wamsley, »Quoting Mandela, Obama’s Tweet After Charlottesville Is The Most-Liked Ever«, verfügbar unter https://www.npr.org/sections/thetwo-way/2017/08/16/543882516/obama-s-tweetafter-charlottesville-is-the-most-liked-tweet-ever, abgerufen am 12. November 2019.
9 Gewalt im Namen der Religion
abschließt, hängt entscheidend von den Menschen ab, die sich in Religionsgemeinschaften als Gläubige oder weniger Gläubige, Expertinnen oder Laien, religiös Interessierte oder eher Distanzierte, Frauen und Männer bewegen. In solcher Praxis geschieht immer auch Interpretation. Jede gelebte Religion ist interpretierte Religion, ob bewusst oder unbewusst. Interpretation findet selbst in solchen Religionsgemeinschaften – wenn auch nur uneingestanden und mit manchen Verklemmungen – statt, die den Raum für menschliche Interpretationsleistungen hinsichtlich religiöser Quellen theoretisch negieren, wie dies in maßgeblichen Strömungen des Islams, aber auch in fundamentalistischen Ausprägungen des Christentums der Fall ist. Obwohl die Ablehnung menschlicher Interpretationsräume die Entwicklung kritischer Hermeneutik im Umgang mit religiösen Texten zweifellos behindert, ändert sie nichts daran, dass Interpretationen faktisch dennoch immer stattfinden. Damit aber kommen auch Plausibilitäten der Gegenwart in der Deutung religiöser Quellen zum Zuge. Norani Othman, Gründungsmitglied der reformislamischen Bewegung »Sisters in Islam«, betont in diesem Sinne: »[…] we in the present have to read those texts in order to understand them at all; but in seeking to understand them we – like all Muslims throughout history – bring to our own reading of those past texts the frameworks of understanding of our own time and place. So we are always, like all the great ulama of the past – even though they were not aware of it – both reading the present back into the past from which we seek contemporary guidance, and also left with the problem […] of deciding how we are now to implement or proceed upon that understanding.«22 Wer die Möglichkeit menschlicher Interpretation religiöser Quellen leugnet, monopolisiert damit – bewusst oder unbewusst – nur seine eigene Interpretation. Was oft im Gestus religiöser Demut daher kommt, erweist sich bei genauerer Betrachtung als eine autoritäre Verabsolutierung des eigenen Standpunkts. Interpretation ist nicht das exklusive Reservat für Exegeten, Theologinnen oder Experten in Fragen des religiösen Rechts, die diesbezüglich besonderen Einfluss und damit eine herausgehobene Verantwortung haben mögen; sie vollzieht sich auch in der alltäglichen religiösen Praxis. Zum Pauluswort »die Frau schweige in der Gemeinde«23 haben vermutlich nur wenige Christinnen und Christen eine exegetisch geschulte Position. Viele dürften diesen Vers schlicht ignorieren, was im weitesten Sinne des Wortes ebenfalls eine Form lebensweltlicher »Interpretation« darstellt. Eine solche Interpretation durch Ignorierung lässt sich allerdings nur 22
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Norani Othman, »The Sociopolitical Dimensions of Islamisation in Malaysia: A Cultural Accommodation of Social Change?«, in: dies. (Hg.), Shari’a Law and the Modern Nation-State. A Malaysian Symposion, Kuala Lumpur: Sisters in Islam Forum, 1994, S. 123-143, hier S. 128 (Hervorhebung im Original). 1. Kor. 14, 34.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
dort durchhalten, wo es keine massiven Rückfragen aus dem Inneren der entsprechenden Religionsgemeinschaft gibt. Eine Vielfalt expliziter oder lebensweltlich-impliziter Positionen besteht auch im Verhältnis zur Gewalt. Sie reichen von dezidierter Ablehnung über konditionale Befürwortung bis zu kultischer Gewaltverherrlichung.24 Die meisten Menschen reagieren wohl einfach nur entsetzt auf Akte des Terrors, die im Namen ihrer Religion geschehen, was sich nicht zuletzt auch in den eingangs beschriebenen hilflosen Distanzierungsreflexen ausdrückt. Es gibt aber auch Menschen, die Gewalthandlungen als Manifestationen entschiedenen Glaubens heroisieren oder gar meinen, mit Mitteln des Terrors eine gottgewollte Reinigung der Welt von Ungläubigen, Falschgläubigen und Unentschiedenen zu vollziehen. In jedem Fall aber wird die Beziehung zwischen Religion und Gewalt von Menschen zustande gebracht, und Menschen können diese Beziehung auch wieder unterbrechen. Gewalt fließt nicht unmittelbar aus dem zeitlosen »Wesen« einer Religion als solcher, sondern geschieht durch die Menschen, die solche Akte ausüben, stillschweigend zulassen, für gut befinden oder auch explizit theologisch rechtfertigen. Unterbrochen wird die Gewalt wiederum durch Menschen, die ihre Ablehnung der Gewalt über abstrakt-pflichtschuldige Distanzierungen hinaus deutlich artikulieren, ideologischen Rechtfertigungsmustern offen widersprechen, Hasspredigern jede Gefolgschaft verweigern und sich um Personen, insbesondere Jugendliche, bemühen, die in Gefahr stehen, sich gegenüber der Gesellschaft abzuschotten. Mit dem Verständnis von Religion als sozialer Praxis wird der Raum menschlicher Verantwortung systematisch offengehalten, der in den beiden zuvor beschriebenen Varianten des Essentialismus jeweils verdeckt ist. Die Verantwortung umfasst auch den Umgang mit religiösen Selbstverständnissen, Traditionen und Praktiken. Dies ist oft schon deshalb schwierig, weil religionskulturelle Prägungen derart eng mit lebensweltlichen Selbstverständlichkeiten verwoben sein können, dass es manchmal kaum möglich erscheint, dazu überhaupt reflexive Distanz zu gewinnen. Hinzu kommt die Erfahrung, dass diejenigen, die sich offen an heikle Themen heranwagen, häufig als »Nestbeschmutzer« attackiert werden und sich gerade auch die Feindschaft ihres nächsten sozialen Umfelds zuziehen. Gleichwohl zeigen Beispiele aus allen Religionsgemeinschaften, dass es möglich ist, den dornigen Weg innerreligiöser Kritik und »Aufklärung« zu beschreiten. Die dabei zu bearbeitenden Themen sind vielfältig. Sie differieren nicht nur von Religion zu Religion und von Konfession zu Konfession, sondern auch nach nationalen und regionalen Kontexten. Für manche Religionsgemeinschaft steht die Kritik an dogmatischen Wahrheitsverständnissen an, die sich zu einem dualis24
Vgl. S. Appleby, The Ambivalence of the Sacred, a.a.O., S. 30.
9 Gewalt im Namen der Religion
tischen Schwarz-Weiß-Denken verhärten können.25 Von daher können sich dann ggf. scharfe Abgrenzungen und Ausgrenzungen nahelegen. Genau damit beschäftigt sich der eingangs genannte Scheich Maytham al-Salman, der sich in seinen Blogs immer wieder gegen »takfirism« ausspricht, d.h. gegen die Neigung fundamentalistischer Muslime, Menschen mit abweichenden Positionen zu verketzern. Für andere Religionsgemeinschaften stellt sich vornehmlich die Aufgabe, traditionelle Amalgamationen mit nationalistischer Identitätspolitik aufzuarbeiten. Wenn in Indien oder Myanmar junge Männer aus der muslimischen Minderheit schnell in den Verdacht geraten, sich in einem »love jihad« strategisch an die Mädchen und Frauen der hinduistischen bzw. buddhistischen Mehrheitsbevölkerung heranzumachen, um mittelfristig die demographische Zusammensetzung des Landes zum Kippen zu bringen, verbinden sich nationalistische Feindbildproduktionen mit atavistischen Gender-Klischees; beide werden außerdem noch religiös eingefärbt. Dies verlangt systematische Kritik. Wenn evangelikale Prediger aus Uganda oder Zimbabwe Homosexualität als »unafrikanisches« Importprodukt aus dem imperialistischen Westen attackieren,26 unterlegen sie ihre Hasspredigten gern auch mit biblischen Versen, insbesondere mit der Geschichte der Städte Sodom und Gomorra, die aufgrund ihrer moralischen Dekadenz von Gott mit totaler Vernichtung bestraft worden seien. An diesem letzten Beispiel zeigt sich auch die Dringlichkeit eines historisch-kritischen Umgangs mit den Quellentexten der Religionen. Kurz: Die Themen, die es aufzuarbeiten gilt, sind mannigfaltig. Es geht um Wahrheit und Irrtum, Autorität und Zweifel, Normvorgaben und Gewissensentscheidungen, Dämonologien und Martyrologien, Ehrvorstellungen im Geschlechterverhältnis, Möglichkeiten und Grenzen historisch-kritischer Schriftauslegung, Machtlegitimierung und Loyalitätserwartungen. Hinzu kommen vergangene oder gegenwärtige Verstrickungen der Religionsgemeinschaften mit politischer und ökonomischer Macht, mit Kolonialismus und gewaltsamer Entkolonialisierung, die Verschmelzung religiöser und nationaler Identitätskonzepte sowie die Geschichte der Gewaltrechtfertigungen von den Kreuzzügen bis zum Djihadismus der Gegenwart.27 25
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Dies macht den Kern der oben kurz genannten Assmann-These von der »mosaischen Unterscheidung« aus. Die von Assmann aufgeworfenen Fragen bleiben notwendig, auch wenn man essentialistische Überziehung ablehnt. Gegen einseitige, kulturessentialistische Zuschreibungen sei erwähnt, dass manche der »Sodomie-Gesetze«, die in Staaten des subsaharischen Afrikas nach wie vor zur Anwendung kommen, ursprünglich von den ehemaligen Kolonialmächten geschaffen worden waren. Vgl. Hartmut Zinser, Religion und Krieg, Paderborn: Wilhelm Fink, 2015, S. 7: »Keine Religion, auch nicht diejenigen, die Frieden explizit lehren und alles Töten und Rauben verurteilen, ist dem entgangen, in Kriege verstrickt zu werden, Kriege zu legitimieren oder sogar selber Kriege zu führen – zumindest in gewissen Perioden ihrer langen Geschichte.«
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Solche schwierigen Themen anzupacken schafft die Voraussetzung dafür, auch die positiven Möglichkeiten der Religionsgemeinschaften für die Gewaltprävention und Friedensstiftung zu entdecken bzw. wiederzuentdecken. Religionen können geistige Horizonte eröffnen; sie können Menschen dazu motivieren, Egoismus und Engherzigkeit zu durchbrechen, Empathie zu entwickeln und Solidarität zu praktizieren, und zwar auch über die Grenzen der eigenen Gemeinschaft hinaus. Religiöse Traditionen enthalten Gleichnisse, Geschichten und Bilder von Menschenwürde, sozialer Gerechtigkeit und Versöhnung, die die Menschen unmittelbar ansprechen können. Während im Namen der Religion verübte Gewaltakte derzeit verständlicherweise breite Medienöffentlichkeit erfahren, findet das Friedenspotenzial der Religionen vergleichsweise geringe Aufmerksamkeit. Markus Weingardt beklagt, dass ein entsprechendes Bewusstsein selbst innerhalb der Religionsgemeinschaften eher unterentwickelt ist. Von daher seien vor allem auch die Religionsgemeinschaften selbst gefordert, »sich ihrer friedenspolitischen Kompetenzen viel mehr bewusst zu werden, sie auszubauen und bekannt zu machen«28 .
9.6
Positive Beiträge der Religionsgemeinschaften: vom Rabat Plan of Action zur Beiruter Erklärung
Dass die Religionsgemeinschaften wichtige Aufgaben in der Konfliktprävention übernehmen können, ist seit einigen Jahren verstärkt auch Thema in den Vereinten Nationen geworden. Bereits angesprochen haben wir den im Oktober 2012 angenommenen Aktionsplan von Rabat, der sich mit der Überwindung von Hassmanifestationen beschäftigt.29 Der Titel dieses in einem breit angelegten Konsultationsprozess unter Leitung des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte entwickelten Aktionsplans lautet: »Rabat Plan of Action on the prohibition of advocacy of national, racial or religious hatred that constitutes incitement to discrimination, hostility or violence«. In diesem Dokument kommt auch die Verantwortung religiöser Repräsentantinnen und Repräsentanten zur Sprache. Sie werden aufgefordert, nicht nur von jeder Hassrede Abstand zu halten, sondern vor allem auch unverzüglich und entschlossen dagegen vorzugehen und klar zu stellen, dass Gewalt in den eigenen Reihen nicht geduldet wird.30 In Fortführung dieses Ansatzes fand, wiederum vom Hochkommissariat für Menschenrechte organisiert, im März 2017 eine Konferenz in Beirat statt. Die Teil28
29 30
Markus A. Weingardt, »Religion als politischer Faktor zur Gewaltüberwindung«, in: Fernando Enns/Wolfram Weiße (Hg.), Gewaltfreiheit und Gewalt in den Religionen. Politische und theologische Herausforderungen, Münster: Waxmann, 2016, S. 95-104, hier S. 101. Vgl. oben, Kapitel 5.2. Vgl. Rabat Plan of Action, UN Doc. A/HRC/22/17/Add.4, Appendix, Ziffer 36.
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nehmerinnen und Teilnehmer,31 die aus säkular-zivilgesellschaftlichen und religiösen Organisationen stammten, beschlossen die Beiruter Erklärung mitsamt ihren 18 Selbstverpflichtungen unter dem Titel »Faith for Rights«.32 Diese Initiative zielt darauf ab, dass Menschen mit unterschiedlichen – theistischen, nichttheistischen, atheistischen und sonstigen – Überzeugungen wirksamer als bisher für Menschenrechte eintreten können, so dass sich die beiden Sphären »Faith« und »Rights« gegenseitig fördern können. Die Anzahl der 18 Selbstverpflichtungen (Commitments) ist auch nicht zufällig gewählt, da sie auf Artikel 18 der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte sowie des Internationalen Pakts über bürgerliche und politische Rechte anspielt. Die 18 Commitments finden Unterstützung in Gestalt von Zitaten aus unterschiedlichen religiösen bzw. philosophischen Grundlagentexten sowie aus Menschenrechtsdokumenten. Unter den Selbstverpflichtungen finden sich folgende Punkte: die Absage an eine Rechtfertigung von Diskriminierungen im Namen von Staatsreligion; die Bereitschaft zur Überwindung religiöser Rechtfertigungen von Geschlechterungleichheit und Gender-bezogener Gewalt; der Einsatz zugunsten von Minderheiten; die öffentliche Absage an jedwede Aufstachelung zu Hassmanifestationen; die Zurückweisung von Repressionsmaßnahmen gegenüber kritischen Stimmen; die Rücknahme von Gesetzen gegen Blasphemie und Apostasie; Reformen in Sachen Schulcurricula und Lehrmaterialien; Arbeit mit Jugendlichen, die Opfer von Gewalt bzw. Hassaufstachelung im Namen der Religion werden können. Obwohl weder der Aktionsplan von Rabat noch die Beiruter Erklärung von Staaten beschlossen wurden und sie daher keine im engeren Sinne rechtlich bindenden Normen (»hard law«) darstellen, können sie durchaus als »soft law«-Standards bzw. »softish law in the making« gelten.33 In beiden Fällen handelt es sich um Texte, die von einschlägig engagierten religiösen und zivilgesellschaftlichen Akteuren mit Menschenrechtsexpertise nach intensiven Beratungen einstimmig angenommen wurden. Der Rabat Plan of Action hat außerdem bereits häufig in UN31 32 33
Bei der Vorbereitung der Konferenz war es gelungen, eine vollständige Geschlechterparität für die Veranstaltung zu erreichen. Vgl. www.ohchr.org/Documents/Press/Faith4Rights.pdf, abgerufen am 12. November 2019. Der damalige UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Zeid Ra’ad Al Hussein bezog sich auf die »soft law standards emerging from Rabat and Beirut« (vgl. www.ohchr.org/EN/ NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22504&LangID=E, abgerufen am 12. November 2019). Sonderberichterstatter Ahmed Shaheed zitierte die Beiruter Erklärung in seinem Bericht von 2018 an den Menschenrechtsrat (A/HRC/37/49, Ziffer 29) unter der Überschrift »C. International legal standards; 1. Hard and soft law«. Vgl. auch John Cerone, »A Taxonomy of Soft Law: Stipulating a Definition«, in: Stéphanie Lagoutte/Thomas GammelthoftHansen/John Cerone (Hg.), Tracing the Roles of Soft Law in Human Rights, Oxford: Oxford University Press, 2016, S. 15-26.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Berichten und Resolutionen34 sowie vom Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte35 Erwähnung gefunden, was seine Autorität zusätzlich stärkt. Eine ähnliche Tendenz lässt sich jetzt schon auch für die Beiruter Erklärung verzeichnen; sie wurde mehrfach vom UN-Generalsekretär, vom Hochkommissar für Menschenrechte und vom Sonderberichterstatter explizit aufgegriffen.36 Außerdem empfahl der UN-Ausschuss für die Beseitigung der Diskriminierung von Frauen in seinen abschließenden Bemerkungen zu Nigeria: »to expedite the repeal or amendment of all discriminatory laws identified by the Nigerian Law Reform Commission following its comprehensive audit of discriminatory laws in the State party and include religious leaders in the process of addressing issues of faith and human rights, so as to build on several ›faith for rights‹ initiatives and identify common ground among all religions in the State party, as acknowledged by the delegation«37 . Der damalige Hochkommissar Zeid Ra’ad al Hussein forderte religiöse Führungspersönlichkeiten auf, ihren Einfluss über die Herzen von Millionen von Menschen für die Verwirklichung der Menschenrechte weltweit zu nutzen.38 34
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Von Oktober 2012 bis September 2019 haben mehr als 230 Dokumente, darunter offizielle UN-Berichte, staatliche und zivilgesellschaftliche Berichte, Bezug auf den Aktionsplan von Rabat genommen. Beispielsweise hat sich der UN-Menschenrechtsrat in seinen an die Regierung von Myanmar gerichteten Empfehlungen wiederholt auf den Rabat-Aktionsplan gestützt, siehe Human Rights Council Resolution 34/22, Situation of human rights in Myanmar, vom 24. März 2017; und Resolution 37/32 vom 23. März 2018. Vgl. auch den Hinweis in der thematischen Resolution über Human rights and preventing and countering violent extremism, Human Rights Council Resolution 30/15, vom 2. Oktober 2015. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte hat den Rabat Plan of Action ebenfalls als Referenz verwendet, nämlich in seinem Urteil zum »Pussy Riot«-Fall, vgl. EGMR, Mariya Alekhina and Others v. Russia (app. no. 38004/12), Urteil vom 17. Juli 2018, Ziffern 110, 187, 190-191 und 223 sowie die »partly dissenting opinion« von Richter Elósegui, Ziffer 14. Vgl. die Berichte des UN-Generalsekretärs UN Docs. S/2018/25, Ziffer 27; A/72/219, Ziffer 26; A/72/381, Ziffer 94; A/73/1, Ziffer 93; A/73/153, Ziffern 16 und 51; A/73/371, Ziffer 64. Vgl. die Berichte des Hochkommissars für Menschenrechte UN Docs. A/HRC/34/35, Ziffer 91; A/HRC/37/3, Ziffer 69; A/HRC/37/22, Ziffer 38; A/HRC/37/26, Ziffern 27-29; A/HRC/37/44, Ziffern 28 und 80; A/HRC/38/CRP.2, Ziffer 49; A/HRC/39/24, Ziffer 31; A/HRC/39/33, Ziffer 77; A/HRC/WG.6/31/NGA/2, Ziffer 13. Vgl. die Berichte des Sonderberichterstatters über Religions- und Weltanschauungsfreiheit UN Docs. A/72/365, Ziffern 28, 60, 78 und 83; A/73/362, Ziffern 63, 67-68 und 79-80; A/HRC/37/49, Ziffern 29 und 89; A/HRC/40/58, Ziffern 22 und 66 sowie Annex I und II. Vgl. UN Docs. CEDAW/C/NGA/CO/7-8, Ziffer 12 und ausdrückliche Hinweise auf »Faith for Rights« in CEDAW/C/SR.1518, Ziffer 16 bzgl. Nigeria. Vgl. auch UN Docs. CEDAW/C/SR.1516, Ziffer 28 bzgl. Niger; CEDAW/C/SR.1508, Ziffer 20 und CEDAW/C/CRI/CO/7, Ziffer 15 bzgl. Costa Rica; CEDAW/C/SR.1578, Ziffer 62 bzgl. Fiji; CEDAW/C/SR.1678, Ziffer 24 bzgl. Botswana. Vgl. www.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=22125&LangID=E, abgerufen am 12. November 2019.
9 Gewalt im Namen der Religion
9.7
Zur Relevanz politischer Faktoren
Die Auseinandersetzung mit dem Problemkomplex Religion und Gewalt muss zuletzt auch auf eine Kritik der politischen Verhältnisse zielen. Denn die Ursachen religiös unterlegter Gewalt sind vielfältig und schließen fast immer politische Faktoren ein.39 Nicht einmal beim Dreißigjährigen Krieg (1618-1648), der in Schulbüchern und Feuilletons nach wie vor als das Paradigma schlechthin eines Religionskrieges firmiert, lassen sich die Frontverläufe auch nur halbwegs konsistent nach konfessionellen Differenzen beschreiben. Wer meint, die aktuellen Auseinandersetzungen im Nahen Osten auf religiöse Konflikte – etwa zwischen Sunniten und Schiiten – reduzieren zu können, kann den verwirrenden Koalitionen und Verwerfungen nicht gerecht werden. Mit dieser Klarstellung soll die soeben herausgestellte Verantwortung religiöser Akteure keineswegs auf halbem Wege wieder zurückgenommen werden. Sie bleibt vollumfänglich bestehen. Es gibt keine politische »Instrumentalisierung« von Religion, die nicht mit einer Selbst-Instrumentalisierung der entsprechenden Religionsgemeinschaft einherginge; jeder politische Missbrauch der Religion weist auch Elemente eines Missbrauchs »von innen her« auf; und die Mobilisierung religiöser Gefühle für Zwecke machiavellistischer Machtpolitik könnte von vornherein gar nicht funktionieren, wenn die ausgesendeten Hassbotschaften nicht Resonanz im Inneren der Religionsgemeinschaften selbst finden würden. Auf Gewalt im Namen Gottes haben viele Faktoren Einfluss: historische Traumata, rapide demographische Veränderungsprozesse, die Dominanz einer frauenfeindlichen und homophoben »Macho«-Kultur, regionalpolitische Rivalitäten, Gerechtigkeitsdefizite im Bildungssystem, Legitimationskrisen politischer Herrschaft, die wachsende Medienpräsenz fundamentalistischer Prediger, die Schwäche der einheimischen Zivilgesellschaft, Erfahrungen rassistischer Ausgrenzung, das Fehlen eines wirksamen städtischen Quartiersmanagements, soziale Abstiegsängste in einer schrumpfenden Mittelschicht, ökonomische Verelendung oder die Perspektivlosigkeit der Jugendlichen angesichts massiver Arbeitslosigkeit. Es würde wenig Sinn machen, diese vielfältigen politischen Faktoren im Einzelnen durchzugehen, zumal ihre konkrete Relevanz sich erst im jeweiligen Kontext erweist. Stattdessen möchten wir einen zentralen politischen Faktor in typologischer Weise näher beleuchten, der terroristische Gewalt im Namen der Religion begünstigt: nämlich den Verlust an Vertrauen in öffentliche Institutionen, wie er sich dramatisch in schwachen, korrupten oder zerfallenden Staaten zeigt. 39
Vgl. Andreas Hasenclever, »Zwischen Himmel und Hölle. Überlegungen zur Politisierung von Religion in bewaffneten Konflikten«, in: F. Enns/W. Weiße (Hg.), Gewaltfreiheit und Gewalt in den Religionen, a.a.O., S 53-74.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Die Tatsache, dass religiös motivierte Terrorgruppen gezielt das Internet nutzen, um ihre Schreckensbotschaften zu verbreiten, sollte den Blick nicht dafür verstellen, dass sie zugleich eine territoriale Operationsbasis benötigen. Terrorismus ist kein ausschließlich virtuelles Phänomen. Seine territoriale Basis findet er vornehmlich in »failing states« oder »failed states«: Afghanistan, Somalia, Jemen, Libyen oder Irak. Die als »War on Terror« deklarierte Irak-Invasion der US-Amerikaner unter Präsident George W. Bush mitsamt seiner »Koalition der Willigen« hat insofern erheblich dazu beigetragen, das Phänomen des IS zu ermöglichen, das nun paradoxerweise wiederum unter maßgeblicher Beteiligung der USA militärisch bekämpft wird.40 Wie Gerd Koenen zum Irakkrieg schreibt: »Dieser vollkommen einseitige, mit enormen Menschenopfern und der kompletten Zerschlagung aller staatlichen und sozialen Strukturen erkaufte Pyrrhussieg hat der in Wahrheit längst geschlagenen sunnitisch-dschihadistischen Internationale noch einmal völlig neue Terrains eröffnet, Rekruten verschafft und ein Prestige zugespielt, das sie vorher nicht besaß.«41 Am Anfang des Zerfalls staatlicher Strukturen steht oftmals endemische Korruption. Wo Korruption nicht nur hier und da vorkommt, sondern die gesellschaftlichen Beziehungen einschließlich des Umgangs mit den staatlichen Behörden im Ganzen prägt, zersetzt sie das Vertrauen in öffentliche Institutionen bzw. verhindert, dass ein solches Vertrauen überhaupt entstehen kann. In extremen Situationen gibt es dann gar keine »öffentlichen« Institutionen, jedenfalls keine »res publica«, die diesen Namen verdient. Staatliche Institutionen bieten lediglich die Fassade für die Durchsetzung von Clan-Interessen und obskuren Geschäften, und selbst die Gerichtsbarkeit ist womöglich nicht viel mehr als die Fortsetzung der Mafia mit anderen Mitteln. In einem Umfeld, in dem vor allem der persönliche Draht zu einflussreichen Kreisen zählt, werden fast zwangsläufig auch die Religionsgemeinschaften von der ubiquitären Korruptionshaltung geprägt. Das Nebeneinander der Religionen nähert sich dann im Grenzfall der Art und Weise an, wie Mafia-Gruppen ihre Konkurrenz gestalten – nämlich durch Dominanzgebaren und wechselseitiges Abstecken von Einflusszonen. Religiöse Konkurrenz erscheint als Nullsummenkonflikt, indem man den Interessen des jeweils anderen am besten niemals nachgibt. Jeder Geländegewinn für konkurrierende religiöse Gruppierungen wird misstrauisch beäugt und nach Kräften blockiert, weil er die eigene Einflusssphäre 40 41
Vgl. Wilfried Buchta, Terror vor Europas Toren. Der Islamische Staat, Iraks Zerfall und Amerikas Ohnmacht, Frankfurt a.M.: Campus, 2015. Gerd Koenen, »Mythen des 19., 20. und 21. Jahrhunderts«, in: Christian Heilbronn/Doron Rabinovici/Natan Sznaider (Hg.), Neuer Antisemitismus? Fortsetzung einer globalen Debatte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2. erweiterte und überarbeitete Auflage 2019, S. 92-127, hier S. 121.
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schrumpfen lässt, was Verlustängste und Abwehrreflexe auslöst. So wird die Religion zum Faktor dessen, was Martha Nussbaum die »Politik der Angst« genannt hat.42 Für einen echten religiösen oder weltanschaulichen Pluralismus fehlen dort die Voraussetzungen, wo es, infolge mangelnden Vertrauens in die faire Funktionsfähigkeit öffentlicher Institutionen, einen »öffentlichen Raum«, in dem angstfreie Begegnungen zwischen unterschiedlichen Gruppen stattfinden könnten, nur rudimentär oder überhaupt nicht gibt. Ohne öffentlichen Raum kann sich auch kein öffentlicher Diskurs entwickeln. Unter solchen Bedingungen bestehen folglich geringe Chancen, dass Menschen religiöse Pluralität als etwas Normales, geschweige denn als Chance zum produktiven Austausch erleben können. Stattdessen richtet sich der Blick nach innen: auf die eigenen Netzwerke, von denen man sich Sicherheit und Unterstützung innerhalb eines Umfelds erwartet, in dem sonst auf nichts und niemanden wirklich Verlass ist. Sofern die eigenen Netzwerke durch konfessionelle Faktoren definiert oder geprägt sind, wird Zugehörigkeit ggf. zur Frage ökonomischen oder physischen Überlebens. Genau hier liegen wichtige strukturelle Gründe für die Ausbreitung kollektiver Engherzigkeit (»narrowmindedness«), die dann vielfach auch das Innere der Religionsgemeinschaften durchdringt, durchformt und verformt. Der Raum des Vertrauens schrumpft zum Binnenraum innerhalb eines Umfelds, das schon deshalb bedrohlich wirkt, weil man die Verhältnisse nicht begreift und weil Kommunikation über die Grenzen der eigenen Gruppe hinweg kaum noch stattfindet. In dem Maße, in dem Religionen oder Konfessionen in einer sich fragmentierenden Gesellschaft die Zugehörigkeitskriterien für die einander wechselseitig misstrauisch belauernden Gruppen liefern, drohen sie zu zeitgenössischen Varianten von »Stammesreligion« zu regredieren. Wichtiger als alle Glaubensinhalte ist dann der Nachweis rückhaltloser Gruppenloyalität. Beispiele solcher »Tribalisierung« der Religion finden sich nicht nur in den Landstrichen der sogenannten Dritten Welt, wie jüngst etwa in der Zentralafrikanischen Republik, wo christliche und muslimische Milizen einander an den Hals gingen. Wir haben sie auch in der jüngeren europäischen Geschichte erlebt – man denke nur an die Balkankriege, in denen ethnische und religiöse Kategorien ineinander verschwammen. Auch im Nordirlandkonflikt ging es nicht um theologische Fragen wie die protestantische Rechtfertigungslehre oder die katholische Ämterlehre, sondern um Einfluss,
42
Vgl. Martha C. Nussbaum, The New Religious Intolerance. Overcoming the Politics of Fear in an Anxious Age, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2012.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Sicherheit und die Begleichung offener Rechnungen zwischen einander misstrauisch gegenüberstehenden konfessionellen »Stämmen«.43 Es wäre falsch zu unterstellen, dass die Religion lediglich passiv den beschriebenen Fragmentierungs- und Polarisierungstendenzen ausgesetzt wäre. Sie kann zum Faktor zusätzlicher Konflikteskalation werden, indem sie Gewaltaktionen eine religiöse Weihe verleiht, Loyalität gegenüber lokalen Warlords zur heiligen Pflicht erklärt oder die gesellschaftliche Stimmung mit apokalyptischen Szenarien aufheizt. In Situationen politischer Nervosität, in denen Menschen sich permanent von feindlichen Mächten belagert fühlen, können dämonisierende Bilder aus dem Arsenal religiöser Mythologien zum Interpretament alltäglicher Befindlichkeiten werden. Politische Paranoia verbindet sich so mit religiöser Apokalypse. In seiner Studie »Terror in the Mind of God«, verweist Mark Juergensmeyer auf die symbolischen Dimensionen religiös unterlegter Gewaltakte: Sie beziehen sich, so schreibt er, auf »something beyond their immediate target: a grander conquest, for instance, or a struggle more awesome than meets the eye«44 . Das aktuelle Geschehen wird in den Kontext jahrhundertelanger Auseinandersetzungen gerückt oder aus einem vermeintlichen Wesensgegensatz unterschiedlicher Religionen hergeleitet. Im späten 20. Jahrhundert wähnten sich serbische Freischärler wieder im Kampf um das Amselfeld gegen türkische Invasoren, und Kämpfer der Irish Republican Army knüpften scheinbar an Auseinandersetzungen aus der Cromwell-Zeit an. Die aktuellen Regionalkonflikte im Nahen Osten gehen vermeintlich auf theologische Streitigkeiten aus der Zeit der islamischen Urgemeinde zurück, als wenige Jahrzehnte nach dem Tod des Propheten die Kämpfe um die Führung der Umma eskalierten. Solch mythisierende Rückbezüge werden nicht nur von innen her verwendet, sondern oft auch von externen Beobachtern und Kommentatorinnen geteilt. Sobald Religion mit ins Spiel kommt, nimmt die Sprache der Konfliktbeschreibung oft einen harten, essentialistischen Tonfall an. Dies verleiht dem Konfliktgeschehen seine gleichsam fatalistischen Züge, die dann leicht zur »self-fulfilling prophecy« werden. Denn wenn man davon ausgeht, dass die Auseinandersetzungen in Verhältnissen gründen, die Jahrhunderte oder gar Jahrtausende zurückreichen, längst zu historischen Erbfeindschaften verfestigt sind oder sich schlüssig aus dem Gegensatz bestimmter Religionen oder Konfessionen ergeben, dann bleibt, so scheint es, für politische Gegenmaßnahmen und diplomatische Initiativen von vornherein wenig Hoffnung. 43
44
Vgl. Rüdiger Noll, »The Role of Religion and Religious Freedom in Contemporary Conflict Situations«, in: Tore Lindholm/W. Cole Durham, Jr./Bahia G. Tahzib-Lie (Hg.), Facilitating Freedom of Religion or Belief: A Deskbook, Leiden: Martinus Nijhoff Publishers, 2004, S. 747-760. Mark Juergensmeyer, Terror in the Mind of God. The Global Rise of Religious Violence, Berkeley: University of California Press, aktualisierte Neuauflage 2000, S. 123.
9 Gewalt im Namen der Religion
9.8
Die Rolle der Religionsfreiheit
Die Religionsfreiheit bietet nicht den »magischen Schlüssel« zur Überwindung religiös unterlegter Gewalt; einen solchen Schlüssel gibt es nicht. Im Verbund mit anderen Menschenrechten bildet sie jedoch den normativen Rahmen für eine Agenda, die letztlich alle Politikfelder umfassen muss: Bildungspolitik, Medienpolitik, Migrations- und Integrationspolitik, Arbeitsmarkt- und Wohnpolitik, Innen- und Rechtspolitik, Geschlechtergleichstellung, Außen-, Verteidigungs- und Entwicklungspolitik. Es geht um die Stiftung von Vertrauen in einigermaßen verlässlich funktionierende öffentliche Institutionen, die Schaffung eines für alle angstfrei zugänglichen öffentlichen Raums, die Pflege öffentlicher Diskurskultur, die Ermöglichung von Kommunikation und Begegnung über Gruppengrenzen hinweg, die Überwindung negativer Stereotype, Bemühungen um soziale Sicherheit und soziale Gerechtigkeit, die Auseinandersetzung mit belasteter Geschichte, die Öffnung der gesellschaftlichen Subsysteme, nicht zuletzt auch eine wirksame Strafverfolgung und Gewaltprävention durch Polizei, Justiz und Nachrichtendienste. Da es im Rahmen des vorliegenden Kapitels nicht möglich ist, die verschiedenen Praxisfelder im Einzelnen durchzugehen, beschränken wir uns auf einige grundsätzliche Erläuterungen.
9.8.1
Bestandteil von Rechtsstaatlichkeit
Die Menschenrechte können orientierende Wirkung in allen Bereichen der Gesellschaft entfalten; eine besondere Verbindlichkeit kommt ihnen allerdings nach wie vor im Verhältnis zum Staat zu. Im Rahmen der Menschenrechte sind die Staaten nicht nur eine unter vielen relevanten Akteursgruppen, sondern die primären Adressaten. Die Staaten verpflichten sich in nationalen Verfassungen förmlich zur Einhaltung der Grund- und Menschenrechte, und auch in regionalen und internationalen Menschenrechtsverträgen fungieren sie als die zuständigen Garanten, die deshalb gegenüber internationalen Gremien Rechenschaft für die Verwirklichung der Menschenrechte geben sollen. Dies schließt die Religionsfreiheit ein: Die Staaten sind rechtlich dazu verpflichtet, sie zu achten, zu schützen und zu fördern, und zwar nach Maßgabe der Gleichberechtigung aller Menschen, was eine anspruchsvolle Aufgabe darstellt. Dort wo die Religionsfreiheit im Konzert der Menschenrechte verlässlich gesichert ist, bestehen generell gute Voraussetzungen für gewaltfreie Koexistenz der Religionsgruppen. Zwar lässt sich niemals ausschließen, dass Menschen der Faszination der Gewalt erliegen und dass sie ihre Gewaltneigungen außerdem noch religiös überhöhen, indem sie sich selbst als Gotteskämpfer oder Märtyrer stilisieren; die Gefahr, dass größere Gruppen ihnen dabei folgen, dürfte unter Bedingungen eines rechtlich gesicherten fairen religiösen Pluralismus aber
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geringer sein als in einem politischen Klima, das von Unsicherheit und grassierendem Misstrauen geprägt ist. Wie dargestellt, gedeiht religiös motivierte oder gerechtfertigte Gewalt vor allem dort, wo öffentliche Institutionen nicht das Vertrauen der Menschen finden, weil der – oft genug begründete – Verdacht besteht, dass sie nur Partikularinteressen bedienen und damit das Prädikat »öffentlich« letztlich gar nicht verdienen. Ohne verlässliche öffentliche Institutionen gibt es aber keinen öffentlichen Raum, innerhalb dessen sich Pluralismus angstfrei entfalten könnte und es besteht unter solchen Bedingungen kaum die Chance, dass sich eine öffentliche Diskurskultur entwickeln kann. Damit aber wird die Welt fast zwangsläufig eng. »Narrowmindedness« ist dann nicht nur ein individuelles mentales Problem, sondern durchdringt, prägt und vergiftet ganze Gruppen, weil nur die Binnenstrukturen der eigenen ethnischen oder religiösen Community ein Mindestmaß an Verlässlichkeit zu gewährleisten scheinen. Polarisierende religiöse Botschaften und religiöse Engherzigkeit finden eben vor allem dort einen fruchtbaren Boden, wo die Fixierung auf die eigene ethnische, religiöse oder konfessionelle Gruppe auf Kosten anderer mit der Grundbefindlichkeit eines Lebens in einer ungesicherten oder gar feindlichen Umwelt mehr oder weniger zusammenstimmt. Grassierende religiöse Gewalt hat insofern viel zu tun mit tiefgreifenden gesellschaftlichen Vertrauenskrisen, dem Zusammenbruch einer öffentlichen Diskurskultur und einem Mangel an gruppenübergreifender Kommunikation. Hinter all dem steht häufig das Versagen staatlicher Institutionen, extrem in Situationen von »failing states« oder »failed states«. Das systematische Gegenprogramm lautet Rechtsstaatlichkeit. Es besteht im Aufbau und in der Pflege staatlicher Institutionen, die sich in den Dienst der Allgemeinheit stellen, nach transparenten Rechtsprinzipien fair und kontrollierbar funktionieren und insofern zu Recht das Prädikat »öffentlich« tragen. Die Bekämpfung von Korruption in der Justiz erweist sich dabei immer wieder als eine schwer lösbare, aber unverzichtbare Daueraufgabe. Innerhalb des Rechtsstaats wiederum spielen die Menschenrechte eine entscheidende Rolle. Denn neben prozeduralen Prinzipien – Gesetzesbindung der Exekutive, gerichtliche Kontrolle staatlichen Handelns usw. – definiert sich der Rechtsstaat vor allem durch den Respekt vor den Menschen als Rechtssubjekten; hier liegt die eigentliche Quelle aller Rechtsstaatlichkeit. Die Menschenrechte, die diesen gebotenen Respekt institutionell abstützen, machen deshalb den inhaltlichen Kern des Rechtsstaats aus. Der Rechtsstaat schafft einen verbindlichen Rahmen für die Ausübung des staatlichen Gewaltmonopols. Gerade auch im Kampf gegen Terrorismus sind die staatlichen Sicherheitsorgane auf die Einhaltung rechtsstaatlicher Prinzipien und der Menschenrechte verpflichtet.45 In Krisenzeiten ist dies erfahrungsgemäß 45
Vgl. den Bericht des Hochkommissars für Menschenrechte über »Negative effects of terrorism on the enjoyment of all human rights and fundamental freedoms«, UN Doc.
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nicht leicht und es ergeben sich immer wieder konkrete Zielkonflikte zwischen den Sicherheitsbehörden einerseits, die sich oftmals mehr Ermessensfreiheit wünschen, und den mit der Wahrung der Rechtsstaatlichkeit beauftragten Organen andererseits, die ihrer Kontrollaufgabe gegenüber der Exekutive wirksam nachkommen müssen. Gleichwohl sind die rechtsstaatlichen Bindungen kein bloßer Luxus für ruhige Zeiten, im Gegenteil: Ihre Pflege erweist sich gerade in schwierigen Situationen als notwendig und zugleich als sicherheitspolitisch vernünftig.46 Denn funktionierende rechtsstaatliche Bindungen sorgen dafür, dass staatliche Präventivstrategien und Repressionsmaßnahmen gegen religiös unterlegte Gewalt möglichst fokussiert ansetzen, auf das jeweils erforderliche Minimum beschränkt bleiben und Spaltungen der Gesellschaft so vermieden werden können. Rechtsstaatliche Prinzipien und Kontrollmechanismen sind insofern ein Beitrag zur Stiftung von Vertrauen. Zur Gegenprobe schaue man sich autoritär regierte Gesellschaften an, in denen die Sicherheitsorgane martialisch auftreten, die Geheimdienste nach freiem Ermessen schalten und walten sowie staatliche Repressionsmaßnahmen immer weiter ins Vorfeld möglicher »Sympathisanten« hinein ausgreifen. Auf diese Weise schüren sie Misstrauen, spalten die Gesellschaft und entfremden ganze Bevölkerungsgruppen dem Staat. In manchen Staaten ist die Terrorismus- oder Extremismusbekämpfung längst zum Freibrief für die Verfolgung ungeliebter Minderheiten und Oppositioneller verkommen. Vertrauensbildung lässt sich so nicht befördern. Im Kampf mit religiös unterlegter terroristischer Gewalt kommt auch der Religionsfreiheit eine unverzichtbare Rolle zu. Im Zusammenhang der rechtsstaatlichen Normen und Prinzipien trägt sie mit dazu bei zu verhindern, dass sicherheitspolitische Maßnahmen über ihr Ziel hinausschießen und sich möglicherweise sogar mit kulturkämpferischer Stimmungsmache gegenüber bestimmten Religionsgemeinschaften verbinden. Für letzteres Problem gibt es immer wieder Beispiele – auch aus Europa. Zwar war es mehr als verständlich, dass die Menschen nach dem Massaker in Nizza am 14. Juli 2016, als ein islamistischer Attentäter mit einem LKW wahllos Dutzende Menschen überfuhr, entschlossene staatliche Maßnahmen verlangten. Das daraufhin ausgesprochene Verbot von Ganzkörperbade-
46
A/HRC/34/30, Ziffer 56: »Effective counter-terrorism measures and the protection of human rights are complementary and mutually reinforcing objectives, which must be pursued together as part of Statesʼ duty to protect individuals within their jurisdiction.« Aus dieser Einschätzung darf nicht geschlossen werden, dass Menschenrechte ihre Rechtfertigung aus ihrer etwaigen Funktionalität zugunsten einer aufgeklärten Sicherheitspolitik erhalten. Die Menschenrechte sind nicht Mittel der Sicherheitspolitik, sondern finden ihren Grund im gebotenen Respekt der Würde des Menschen. Rein utilitaristische Begründungen der Menschenrechte, einschließlich der Erwartung ihrer sicherheitspolitischen Rationalität, geben den Menschenrechten nicht die erforderliche Krisenfestigkeit, etwa in Situationen terroristischer Bedrohung.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
anzügen (»Burkinis«) an einigen französischen Stränden stand aber in keinem rational nachvollziehbaren Sachzusammenhang mit der bestehenden islamistischen Terrorgefahr. Dieses Verbot führte zu demütigenden Szenen, in denen Frauen mit Kopftuch und Mantel von den Stränden vertrieben wurden. In der öffentlichen Debatte verstärkten sich so außerdem diffuse Assoziationen von Islam und Terrorismus, und ganze Bevölkerungsgruppen fühlten sich öffentlich vorgeführt, stigmatisiert und gedemütigt. Nach einigen Wochen stoppte der Conseil d’État die auf kommunaler Ebene verhängten Burkini-Verbote. Mehrere zivilgesellschaftliche Gruppen hatten den Conseil d’État wegen der Verletzung der Religionsfreiheit angerufen. Damit leisteten sie zugleich einen Beitrag zur Befriedung der Gesellschaft.47
9.8.2
Ermutigung innerreligiöser Reformen
Ist es nicht erstaunlich, wenn ausgerechnet der Buddhismus, in dem das »Ich« als eine zu überwindende Illusion gilt, zum ideologischen Schmiermittel für nationalistischen Kollektiv-Egoismus degeneriert? Wie kann sich der Hinduismus mit seiner Vielfalt der Philosophien, Mythen, Rituale und Heilswege als Instrument nationaler Einheit einspannen lassen? Warum muss der Islam immer wieder für Akte unbeschreiblicher Grausamkeit herhalten, wo doch fast alle Koransuren mit: »Im Namen des barmherzigen und gnädigen Gottes«, beginnen? Und wie kann es sein, dass christliche Prediger – trotz des Gebots der Nächstenlieben – Hass gegen Schwule, Lesben und Transpersonen propagieren? In allen Religionsgemeinschaften gibt es Menschen, die solche Fragen aufwerfen und kritische Positionen artikulieren. Häufig werden sie als die religiös »Moderaten« etikettiert und religiös »Radikalen« entgegengesetzt. Nicht jedem gefällt dieser Sprachgebrauch, der in der Tat fragwürdig ist. Denn dadurch können sich die Propagandisten der Gewalt in ihrem Anspruch bestätigt fühlen, eine heroische Form des Glaubens zu verkörpern, während ihre Gegnerinnen und Gegner scheinbar nur eine »lauwarme« Variante von Religiosität vertreten. Scott Appleby gibt deshalb zu bedenken, dass religiöse Gewaltakteure, entgegen ihrem Anspruch auf besonderen religiösen Eifer, oft ein allenfalls oberflächliches und selektives Verständnis ihrer jeweiligen religiösen Tradition haben: »Ironically, extremists – who often claim to be upholding the 47
Vgl. https://www.conseil-etat.fr/en/press-releases/the-council-of-state-orders-a-decisionbanning-clothes-demonstrating-an-obvious-religious-affiliation-to-be-suspended, abgerufen am 12. November 2019. Auch in Deutschland verlangten einige Innenpolitiker nach islamistischen Terroranschlägen Restriktionen auf symbolischen Feldern, darunter einmal mehr das Verbot des Gesichtsschleiers, landläufig »Burka« genannt. Maßnahmen der Terrorismusbekämpfung würden auf diese Weise jedoch lediglich an Fokussierung und Legitimität einbüßen. Solche Verbotsforderungen zurückzuweisen, ist nicht nur im Interesse der Religionsfreiheit, sondern letztlich auch im Interesse einer rechtsstaatlichen Terrorismusbekämpfung.
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›fundamentals‹ of the religion – tend to be highly selective in choosing which subtraditions to embrace and honor.«48 Ähnlich vermerkt Andreas Hasenclever: »So legen die verfügbaren Befunde nahe, dass Religion und Gewalt nur zusammengehen, wenn die Komplexität religiöser Überlieferungen systematisch ignoriert und die öffentliche Auseinandersetzung über ihre angemessene Auslegung verweigert werden.«49 Wenn dies stimmt, ist es umso wichtiger, dass Gewaltprediger öffentlichen Widerspruch erfahren, vor allem auch aus der Mitte der jeweiligen Religionsgemeinschaften selbst. Der Beitrag der Religionsfreiheit bei der Entwicklung gewaltpräventiver innerreligiöser Positionierungen kann nur ein indirekter sein; er ist gleichwohl wichtig. Zunächst muss klar sein, dass die Religionsfreiheit keine Kriterien bereithält, um die Angemessenheit und Überzeugungskraft unterschiedlicher theologischer Positionen zu bewerten. Es handelt sich bei ihr um ein säkulares Menschenrecht, von dem her Fragen theologischer Wahrheit oder Richtigkeit nicht beantwortet werden können; diese Grenze darf nicht verwischt werden. Gleichwohl kommt ihr als Referenznorm eine wichtige Rolle auch für religionsinterne Kontroversen zu, und zwar in zweifacher Hinsicht: Zum einen verbürgt die Religionsfreiheit das Recht aller Menschen, kritische Fragen auch innerhalb der Religionsgemeinschaften aufzuwerfen. Die Religionsfreiheit ist zwar nicht nur für Dissidenten, Kritiker und Reformerinnen da, sondern gilt genauso für Menschen mit eher konservativen Haltungen oder traditionellen religiösen Orientierungen.50 Allerdings erweist sie sich für Dissidentinnen und Dissidenten, die womöglich gegen internen Druck anzukämpfen haben, faktisch oft als besonders wichtig. Es kann zu Situationen kommen, wo direktes staatliches Eingreifen – nach Maßgabe der dafür vorgesehenen menschenrechtlichen und rechtsstaatlichen Kriterien – erforderlich ist, um Menschen gegen Bedrohungen aus dem eigenen religiösen Umfeld zu schützen. Die Garantenfunktion des Staates für die Durchsetzung der Menschenrechte im Allgemeinen und der Religionsfreiheit im Besonderen macht eben keineswegs an den Grenzen der Religionsgemeinschaften Halt. Vor allem die Aufgabe des Staates, strikte Gewaltfreiheit zu gewährleisten, vermag Intervention – natürlich stets im Rahmen der dafür vorgesehenen rechtsstaatlichen und menschenrechtlichen Kriterien – ggf. durchaus zu rechtfertigen. Zum anderen kann die Religionsfreiheit jenen theologischen Positionen – jedenfalls indirekt – Rückendeckung geben, die auf eine klare und dezidierte Gewaltfreiheit in Fragen religiöser Überzeugung und religiöser Praxis abzielen. Aus der 48 49 50
S. Appleby, The Ambivalence of the Sacred, a.a.O., S. 17. A. Hasenclever, Zwischen Himmel und Hölle, a.a.O., S. 70. Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 10.6.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Perspektive der Menschenrechte können nur zwangsfreie religiöse Manifestationen anerkannt werden. Ob sich die jeweiligen Begründungen für Gewaltfreiheit in Religionsfragen auf nachvollziehbare theologische, exegetische oder religiös-normative Interpretationen stützen, kann und darf aus der Perspektive der Religionsfreiheit nicht bewertet werden; dies bleibt ausschließlich den internen Auseinandersetzungen überlassen. Keineswegs neutral ist die Religionsfreiheit allerdings hinsichtlich der Ergebnisse: Die Absage an Zwang und Gewalt kann nicht zur Disposition stehen. Hier fungiert die Religionsfreiheit auch als kritischer Stachel oder Movens für innerreligiöse Debatten. Theologische Reformprojekte, die auf Klarstellungen in Richtung dezidierter Gewaltfreiheit abstellen, können insofern durchaus Bestätigung und Ermutigung erfahren. Für viele Reformerinnen und Reformer, vor allem wenn sie sich internen Verdächtigungen und Stigmatisierungen ausgesetzt sehen, ist es hilfreich zu wissen, dass sie sich mit ihren kritischen Positionen auf Menschenrechte berufen können.51 Die Religionsfreiheit mutiert dadurch keineswegs unter der Hand zum theologischen Bewertungsmaßstab. Sie bleibt ein säkularer Rechtstitel.
9.8.3
Interreligiöse Gesprächskultur
Neben der vertrauensbildenden Wirkung funktionierender öffentlicher Institutionen, von der vorhin die Rede war, kommt gruppenübergreifenden Begegnungen eine wichtige Funktion im Prozess gesellschaftlicher Vertrauensbildung zu. Verschwörungstheorien gedeihen typischerweise dort, wo reale Begegnungen nicht stattfinden und die »Andersheit« des Anderen völlig abstrakt bleibt, so dass sich darauf alle möglichen Ängste projizieren lassen. Dazu ein vergleichsweise harmloses Beispiel von unserem Vor-Ort-Besuch in einem osteuropäischen Land. Die Regierung hatte die einheimischen Religionsgemeinschaften zu einem Gespräch am runden Tisch eingeladen, jedoch schienen die Vertreter der verschiedenen Religionsgruppen kaum je zuvor miteinander kommuniziert zu haben. Jeder sprach für sich bzw. die eigene Gruppe, kaum jemand sprach auch einmal für andere. Gelegentlich kamen offen feindselige Klischees gegenüber Religionsgemeinschaften 51
Vgl. diesbezüglich auch die Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights«, A/HRC/40/58, annex II: »II. We see the present declaration on ›Faith for Rights‹ as a common minimum standard for believers (whether theistic, non-theistic, atheistic or other), based on our conviction that interpretations of religion or belief should add to the level of protection of human dignity that human-made laws provide for. III. As religions are necessarily subject to human interpretations, we commit to promote constructive engagement on the understanding of religious texts. Consequently, critical thinking and debate on religious matters should not only be tolerated but rather encouraged as a requirement for enlightened religious interpretations in a globalized world composed of increasingly multi-cultural and multi-religious societies that are constantly facing evolving challenges.«
9 Gewalt im Namen der Religion
zu Wort, deren Repräsentanten nur wenige Meter entfernt im selben Raum saßen. Erfahrungsgemäß ist es schwierig, Menschen üble Absichten zuzuschreiben und ihnen dabei gleichzeitig in die Augen zu blicken. Tatsächlich hatte man den Eindruck, dass Blickkontakte systematisch vermieden wurden; die Augen waren meist starr nach vorn gerichtet. Man kann sich leicht vorstellen, dass Gerüchte oder Streitigkeiten schnell eskalieren würden, weil sich eine interreligiöse Gesprächskultur, die geeignet wäre, etwaige Missverständnisse aufzufangen und Konflikte zu deeskalieren, wenig entwickelt hatte.52 Interreligiöse Gesprächsformate können unterschiedlich ausgelegt sein. Während traditionelle Gesprächsformate in der Regel von vornherein festlegen, wer für welche Gruppe spricht, erweisen sich oft solche Begegnungen als besonders fruchtbar, in denen religiöse Etikettierungen eine geringere Rolle spielen. Darin finden auch Menschen Raum, die es nicht gewöhnt sind, mit theologischen oder religiösen Argumenten umzugehen. Sie können über etwaige Grenzen hinweg miteinander reden, ohne dass die Grenzverläufe im Vorfeld schon abgesteckt worden sind. Auch die Themen können variieren. Viele der eher traditionellen Projekte verfolgen vor allem symbolische Ziele, nämlich die wechselseitige Versicherung von Respekt; andere Projekte sind stärker praktisch orientiert. Beispiele für beide Varianten konnten wir im Libanon beobachten.53 Seit einigen Jahren gilt dort der Tag der Erinnerung an die Verkündigung Mariens (25. März) als nationaler Feiertag, der von den Christen und Muslimen gemeinsam begangen wird; denn vom gefeierten Ereignis ist nicht nur in der Bibel, sondern auch im Koran die Rede. Bei einer solchen christlich-islamischen Feier in einer maronitischen Kirche las ein sunnitischer Imam aus dem Koran vor, während gleichzeitig die Kirchenglocken läuteten. Jugendliche aus unterschiedlichen Religionsgemeinschaften inszenierten ihre Absage an Gewalt in einem pantomimischen Spiel vor dem Altar. Eine derartige symbolische Vergewisserung der Kultur friedlicher Koexistenz kann die Resilienz der Gesellschaft gegen Spaltungstendenzen erhöhen, vor allem wenn sie regelmäßig stattfindet, aktives Commitment fördert und breite Ownership ermöglicht. Stärker praktisch orientiert sind demgegenüber Projekte interreligiöser Gefangenenseelsorge, bei der christliche und muslimische Organisationen zusammenarbeiten und Erfahrungen austauschen. Manche Projekte verbinden starke symbolische Ausstrahlung mit handfesten Zielen. Wenn beispielsweise ein angesehener islamischer Scheich und ein katholischer Erzbischof im vom Terror heimgesuchten Nigeria gemeinsam Maßnahmen zur Malariabekämpfung auf den Weg bringen, so hat dies für die Bevölkerung einen unmittelbaren Nutzen; zugleich steckt darin eine wichtige symbolische Botschaft interreligiösen Zusammenhalts. 52 53
Vgl. UN Doc. A/HRC/19/60/Add.2, Ziffer 44. Vgl. UN Doc. A/HRC/31/18/Add.1, Ziffern 28-32.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Greifbare Ergebnisse konnten interreligiöse Dialogprojekte auf Zypern erbringen. Treibende Kraft ist eine Initiative mit dem Namen »Religious Track of the Cyprus Peace Process«. Sie bemüht sich darum, die Beziehungen zwischen den Religionsgemeinschaften auf der seit 1974 geteilten Insel durch Begegnungen und gemeinsame Aktivitäten zu verbessern. Die Gespräche finden häufig in der von UN-Blauhelmen kontrollierten Pufferzone zwischen Nord und Süd statt. Im Herbst 2013 fand ein jahrelang vorbereiteter Durchbruch statt.54 Mit Unterstützung des griechisch-zypriotischen Erzbischofs konnte der im Norden Nikosias residierende Mufti, der in der Türkei geboren war und deshalb nach offizieller Lesart der zypriotischen Regierung als »illegaler Siedler« gilt, erstmals die »grüne Linie« überschreiten und – zusammen mit anderen Muslimen – als Pilger eine berühmte Moschee in Larnaka besuchen. Im Gegenzug setzte sich der Mufti für die christlichen Gemeinden im türkisch besetzten Norden ein: Einige Kirchen, die zwischenzeitlich völlig verkommen und teils als Schafställe benutzt worden waren, konnten gereinigt, restauriert und für liturgische Zwecke wieder zugänglich gemacht werden. Die interreligiösen Dialogprojekte auf Zypern beschränken sich keineswegs auf »Gipfeltreffen« zwischen den Führern der Religionsgruppen, sondern schließen beispielsweise auch Begegnungen zwischen Jugendlichen ein. Vor allem auf den weniger formellen Treffen zeigt sich der mittlerweile entstandene Pluralismus, der über die traditionell ansässigen Religionsgemeinschaften weit hinausgeht und etwa auch Buddhisten umfasst. In interreligiösen Gesprächen können Religionsgemeinschaften einander wechselseitig darin bestärken, gewaltfreie religiöse Praxis zu fördern und etwaigen Tendenzen zum gewaltsamen Extremismus frühzeitig entgegenzuwirken. Eindrucksvoll ist die Arbeit des »Interreligious Council« in Sierra Leone, einem Land mit mehrheitlich (60 bis 70 Prozent) islamischer Bevölkerung, in dem zugleich aber auch größere christliche Minderheiten heimisch sind und außerdem traditionelle afrikanische Spiritualität verbreitet ist.55 Der Interreligious Council besteht aus Muslimen, Christen und einigen anderen Religionsgruppen. Zugleich weist er ein hohes Maß intra-religiöser Vielfalt auf: Unter den christlichen Mitgliedern befinden sich Anglikaner, Baptisten, Methodisten, Pfingstler und andere; bei den Muslimen kooperieren Sunniten mit Schiiten und den Angehörigen der mancherorts verketzerten Ahmadiyya Muslim Community, die in Westafrika generell recht stark ist und dort im Allgemeinen problemlos akzeptiert wird. In einer Zeit, in der die Spannungen zwischen Sunniten und Schiiten vielerorts gewaltsam eskalieren und sich fatalistische Interpretationen festsetzen, wonach hier angeblich ein uralter Gegensatz erneut »zum Ausbruch« gekommen sei, 54 55
Vgl. https://newsarchive.ohchr.org/EN/NewsEvents/Pages/DisplayNews.aspx?NewsID=13880 &LangID=E, abgerufen am 12. November 2019. Vgl. UN Doc. A/HRC/25/58/Add.1, Ziffern 12-19 und 30-32.
9 Gewalt im Namen der Religion
kann das entspannte Miteinander der innerislamischen Gruppierungen in Sierra Leone eine wichtige Botschaft vermitteln: Es ist in der Tat kein Naturgesetz, dass Sunniten und Schiiten einander hassen. Außerdem gibt es in Sierra Leone viele gemischte Ehen von Muslimen und Christen, deren Familien in religiösem Pluralismus leben.56 Der Interreligious Council war eine treibende Kraft innerhalb der Wahrheits- und Versöhnungskommission, die nach Ende des Bürgerkriegs (2002) in Sierra Leone eingerichtet und von dem methodistischen Bischof Joseph Christian Humper geleitet wurde. Nach wie vor sieht sich der Rat der Aufgabe verpflichtet, das Land zusammenzuhalten und gegen alle Tendenzen erneuter Fragmentierung – auch im Namen von Religion – frühzeitig einzuschreiten.57 Interreligiöse Kommunikation mit dem Ziel der Vertrauensbildung geschieht längst auch auf globaler Ebene. Die bekannteste einschlägige Organisation ist »Religions for Peace«, deren erste Weltkonferenz vor 50 Jahren, im Oktober 1970, stattfand. Als eine bei den Vereinten Nationen akkreditierte NGO bringt »Religions for Peace« Glaubensgemeinschaften aus aller Welt zusammen.58 Die ehemalige UNHochkommissarin für Menschenrechte, Mary Robinson, würdigte derartige Bemühungen und verwies in diesem Zusammenhang auch auf die Religionsfreiheit, die nicht nur für die Religionsgemeinschaften selbst relevant sei, sondern eine produktive Rolle auch für die Entwicklung der Gesellschaften übernehmen könne: »The major religions, while concerned with ultimate questions, frequently present themselves as protectors and promotors of human dignity. They see themselves in particular as defenders of the deprived, the poor, the discriminated 56
57
58
Siehe die Wandinstallation des Straßenkünstlers Vhils, der Sierra Leones inter- und intra-religiöse Toleranz mit folgenden Worten beschreibt (https://www.instagram.com/p/BqLF5tvAT6/, abgerufen am 12. November 2019): »This special project culminated in the depiction of two local children, Paul and Alfreda, who belong to the same family – the boy being a Christian and the girl a Muslim. A country where it is common to have members of the same family belonging to different religions can teach us a lot about tolerance.« Beim Besuch der Zentrale des Interreligious Council in der Hauptstadt Freetown hörten wir eine seltsame Geschichte (vgl. UN Doc. A/HRC/25/58/Add.1, Ziffer 26): Eine ältere christliche Frau hatte angeblich davon geträumt, dass der ehemalige libysche Machthaber Gaddafi in der Hölle schmort. Diese in den Medien farbenprächtig ausgeschmückte Geschichte hatte im Land die Runde gemacht und für einige Beunruhigung gesorgt. Es bestand die Befürchtung, dass manche Menschen daraus die Konsequenz ziehen könnten, Akte des Vandalismus an von Gaddafi finanzierten Moscheen zu verüben. Die muslimischen Vertreter im Interreligious Council baten die christlichen Mitglieder daraufhin um Unterstützung. Durch Klarstellungen und entschiedene Gegenrede der Kirchenvertreter konnte in der Tat verhindert werden, dass die Gerüchte irgendwelche Konsequenzen hatten; nach kurzer Zeit erlosch das Interesse daran. Vgl. www.religionsforpeace.org, abgerufen am 12. November 2019.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
against. So their religious freedom is a freedom in society not merely to believe and to worship, but also to uphold the cause of the deprived.«59 Die im Frühjahr 2017 verabschiedete Beiruter Erklärung zu »Faith for Rights« weist in dieselbe Richtung.60 Sie basiert, wie bereits dargestellt, auf einem breiten, inklusiven Ansatz, der sich keineswegs nur an die Angehörigen traditioneller Religionsgemeinschaften wendet, sondern auch Agnostiker und Atheisten einschließt – ganz im Sinne der Religionsfreiheit, die ja auch die Freiheit nicht-religiöser Weltanschauungen beinhaltet.
9.8.4
Faire Religionskritik im öffentlichen Diskurs
In der Berichterstattung zu Religion und Gewalt stößt man häufig auf eine Wortwahl, die Analogien zu Naturkatastrophen nahelegt – wenn es etwa heißt, dass zwischen Religionsgruppen in Indien oder in der Zentralafrikanischen Republik wieder einmal Gewalt »ausgebrochen« sei oder dass der »Virus« des religiösen Extremismus dort um sich greife und die Massen »anstecke«. Solche Metaphern passen zu essentialistischen Sichtweisen, wonach Gewaltneigungen in der »DNA« bestimmter Religionen (oder sogar sämtlicher Religionen) angelegt seien. Wie dargestellt, verdecken derartige essentialistische Gewaltzuschreibungen die Verantwortung der handelnden religiösen Subjekte, die als Individuen, hinter den zugeschriebenen kollektiven religiösen Mentalitäten gleichsam zu verschwinden drohen. Problematisch ist außerdem, dass essentialistische Gewaltzuschreibungen fatalistische Prognosen nahelegen. Sie suggerieren Resignation oder nicht-diskursive Antworten in Gestalt von Abschottung. Wie man sich gegen eine anbahnende Naturkatastrophe am ehesten durch Dämme und Schutzwälle schützen kann, so scheint analog dazu das einzige erfolgversprechende Vorgehen gegen religiös motivierte Gewalt darin zu bestehen, die Angehörigen bedrohlich wirkender Religionen territorial auf Abstand zu halten. Auch in Europa zeigt sich dies in Mauern und Zäunen, die der Abwehr von Flüchtlingen vor allem aus islamisch geprägten Regionen dienen sollen. Begründet werden sie nicht nur durch Gesichtspunkte nationaler Identitätswahrung und »Leitkultur«, sondern auch mit Hinweisen auf die gebotene Terrorismusabwehr. Ergänzt wird die restriktive Flüchtlingspolitik durch symbolische Restriktionen wie die bereits angesprochenen Kopftuch-, Burka- und 59 60
Mary Robinson, »Foreword«, in: T. S. Lindholm et al. (Hg.), Facilitating Freedom of Religion or Belief , a.a.O., 2004, S. XIXf. Vgl. A/HRC/40/58, Annex I, Ziffer 1: »Faith and rights should be mutually reinforcing spheres. Individual and communal expression of religions or beliefs thrive and flourish in environments where human rights, based on the equal worth of all individuals, are protected. Similarly, human rights can benefit from deeply rooted ethical and spiritual foundations provided by religions or beliefs.«
9 Gewalt im Namen der Religion
Burkini-Verbote, deren sicherheitspolitische Relevanz sich kaum erschließt, die aber ebenfalls als Dämme gegen islamistische Gefahren verkauft werden. Extreme Formen von Abschottungspolitik können sich mit Hasspropaganda gegen religiöse Minderheiten verbinden, auf die es angemessene Antworten zu finden gilt. Das Strafrecht kann dabei nur eine begrenzte Rolle spielen. Angesichts der Bedeutung der Meinungsfreiheit für eine demokratische Diskurskultur müssen strafrechtliche Sanktionen für sehr eindeutige Fälle etwa von Volksverhetzung beschränkt bleiben. Der bereits mehrfach angesprochene Rabat Plan of Action61 setzt deshalb vor allem auf positive Gegenmaßnahmen: interreligiöse Gesprächskultur, Begegnungen, schulische und außerschulische Bildungsprojekte, öffentliche Demonstrationen von Solidarität mit attackierten Gruppen – kurz: auf »positive speech«62 als die beste Antwort auf negative Gerüchte, Zuschreibungen und öffentliche Angriffe. Die geforderte »positive Rede« darf allerdings nicht mit Schönfärberei verwechselt werden. Mit reinen Image-Kampagnen wäre niemandem gedient. Im Gegenteil: Sie würden bestehendes Misstrauen lediglich weiter befeuern. Vertrauen lässt sich längerfristig vielmehr allein mit solider, Faktenorientierter Berichterstattung schaffen. Nur so besteht die Chance, haltlosen Gerüchten, willkürlichen Zuschreibungen und verschwörungstheoretischem Geraune glaubwürdig entgegenzuwirken. Wie wichtig die Vertrauen-stiftende Funktion solider Tatsachenrecherche ist, hat vor über 50 Jahren Hannah Arendt herausgestellt. Bereits in den 1960er Jahren legte sie den vielleicht besten Kommentar zu jenen verstörenden Phänomenen vor, die wir heute mit »fake news« oder »alternative facts« ansprechen. Die Lüge, so schreibt sie in dem ihr eigenen Sarkasmus, gehört seit jeher zur Politik und wird wohl nie verschwinden. Gefährlich, so Arendt, ist indes nicht die konkrete Lüge, sondern die langfristige Erosion des »common sense«, die dann droht, wenn wir es aufgeben, zwischen Lüge und Wahrheit überhaupt noch unterscheiden zu wollen. Diese Gefahr kulminiert darin, dass elementare kategoriale Unterscheidungen ihre Evidenz einbüßen können und am Ende ineinander verschwimmen. Das betrifft etwa die grundlegenden Unterscheidungen zwischen Fakten und Mythen, zwischen Biographien und Fiktionen, zwischen Empirie und Phantasie, zwischen Deskription und Manipulation oder zwischen wissenschaftlichen Prognosen und um sich greifenden Gerüchten. Falls die Kategorien, die unseren »common sense« ausmachen, insgesamt ins Schwimmen geraten, erleben wir eine Krise dessen, was Arendt »Weltvertrauen« nennt. Wir verlieren gleichsam den Boden unter den 61 62
Vgl. insbesondere Kapitel 5.2. Vgl. Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights«, UN Doc. A/HRC/40/58, Annex I, Ziffer 20: »Positive speech is also the healing tool of reconciliation and peace-building in the hearts and minds. Speech is one of the most strategic areas of the responsibilities we commit to assume and support each other for their implementation through this [Faith for Rights] declaration on the basis of the thresholds articulated by the Rabat Plan of Action.«
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Füßen. »Konsequentes Lügen«, so schreibt sie, »ist im wahrsten Sinne des Wortes bodenlos und stürzt Menschen ins Bodenlose, ohne je imstande zu sein, einen anderen Boden, auf dem Menschen stehen könnten, zu errichten.«63 So genannte »alternative facts« sind eben keine »Fakten«, und »fake news« haben keinen Nachrichtenwert. Ohne den Sinn für diese elementaren kategorialen Unterscheidungen ist Orientierung in der Welt von vornherein nicht möglich. Ohne den Boden einigermaßen gesicherter Tatsachen können wir uns außerdem nicht kommunikativ aufeinander zu bewegen. Kommunikation – Miteinander-Reden – kann nur gelingen als Reden über etwas, das wir vielleicht von höchst unterschiedlichen Perspektiven angehen, das aber solcher Multiperspektivität immer zugleich vorausliegt. Wenn dieses »etwas« im Nebel verschwindet oder seine Existenz gar geleugnet wird, verliert Kommunikation ihren Zielpunkt. An die Stelle des Miteinander-Redens treten dann womöglich die unilateralen »Tweets«, die sich nie treffen, ja die sich letztlich nicht einmal mehr aneinander reiben. Nicht weniger wichtig als die Orientierung an überprüfbaren Fakten ist das Ernstnehmen der Menschen als Verantwortungssubjekte. Wie andere Menschenrechte auch setzt die Religionsfreiheit genau hier systematisch an. Sie ist ein Recht der Menschen, nicht (oder jedenfalls nicht unmittelbar) ein Recht der Religionen als solcher. Genau genommen beschäftigt sie sich mit Religion stets indirekt, nämlich insofern sich Menschen glaubend oder zweifelnd, eifrig oder skeptisch, affirmativ oder kritisch auf Religion einlassen – oder auch nicht einlassen.64 Auch beim Thema Religion und Gewalt geht es darum zu gewährleisten, dass die Menschen ihr Recht wahrnehmen können, ihr persönliches Selbstverständnis und ihre jeweiligen Positionen zu dieser Frage mit Chancen auf Gehör öffentlich zu artikulieren. Nur so kann es gelingen, die Vielfalt bestehender Einstellungen, Positionierungen und Aktivitäten zwischen und innerhalb der jeweiligen Religionsgemeinschaften überhaupt in der Gesellschaft zur Kenntnis zu nehmen. Dies bildet die Voraussetzung für einen differenzierten und präzisen öffentlichen Diskurs. Öffentliche Debatten zum Verhältnis von Religion und Gewalt sind unumgänglich. Die Religionsgemeinschaften müssen sich dabei oft auch schwierigen, ja unangenehmen Fragen stellen. Wichtig ist dabei das Bemühen um Präzision bei der Beschreibung der Problemlagen im öffentlichen Diskurs. Die Bereitschaft zur präzisen Analyse und zum sorgfältigen Hinhören erweist sich dabei nicht nur als ei63 64
Hannah Arendt, Die Lüge in der Politik. Zwei Essays, München/Zürich: Piper, 2. Aufl. 1987, S. 84. Vgl. Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights«, UN Doc. A/HRC/40/58, Annex II, commitment XI: »We equally commit not to oppress critical voices and views on matters of religion or belief, however wrong or offensive they may be perceived, in the name of the ›sanctity‹ of the subject matter and we urge States that still have anti-blasphemy or anti-apostasy laws to repeal them, since such laws have a stifling impact on the enjoyment of freedom of thought, conscience, religion or belief as well as on healthy dialogue and debate about religious issues.«
9 Gewalt im Namen der Religion
ne akademische Tugend, sondern vor allem auch als Gebot der Fairness gegenüber den vielfältig betroffenen Menschen. Solche Fairness zeigt sich sowohl im Bemühen um sorgfältige Recherche relevanter Tatsachen als auch in der Wahl angemessener, d.h. nicht-essentialistischer Kategorien bei der Problembeschreibung. Daran mangelt es jedoch nach wie vor häufig. Nicht nur Religionskritik gehört deshalb selbstverständlich zur demokratischen Debattenkultur; manchmal braucht es auch eine Gegenkritik, insbesondere als Reaktion auf essentialistische Varianten von Religionskritik, die bestimmte Menschen schlicht aufgrund ihrer tatsächlichen oder vermuteten Religionszugehörigkeit unter Generalverdacht stellen.
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10. Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte: zur kritischen Wächterfunktion der Religionsfreiheit
10.1
Die Gegenperspektive: Menschenrechte in den Religionen
Am Ende dieses Buches kehren wir die Perspektive um. Statt wie in den bisherigen Kapiteln danach zu fragen, wie das Thema Religion in den Menschenrechten bearbeitet wird, wollen wir im Folgenden darüber nachdenken, wie sich die moderne Menschenrechtsidee auf die Religionen, auf ihr Selbstverständnis und auf ihre innere Verfasstheit auswirkt. Unter welchen Bedingungen können die Religionen zu einer Kultur der Menschenrechte beitragen? Müssen sie ihre internen Strukturen ändern und sich an menschenrechtlichen Prinzipien orientieren? Soll der Staat entsprechende innerreligiöse Reformprozesse fördern oder würde er auf diese Weise ihm gesetzte Grenzen überschreiten? In anderer Richtung gefragt: Enthalten die Menschenrechte vielleicht auch ihrerseits Elemente religiöser Botschaft? Sind sie inzwischen nicht längst zu einer Art globaler Zivilreligion geworden? Und schließlich: Welchen Beitrag leistet die Religionsfreiheit für die Beantwortung solcher Fragen? Bei der Klärung des Verhältnisses zwischen Menschenrechten und Religionen steht für beide Seiten Einiges auf dem Spiel. Sofern die Religionsgemeinschaften in Politik und Gesellschaft Einfluss nehmen wollen, hängen ihre Chancen auf öffentliches Gehör heute entscheidend davon ab, wie sie sich zu den Menschenrechten positionieren. Denn diese repräsentieren seit der Gründung der Vereinten Nationen einen internationalen normativen Anspruch, der nicht nur die Staaten – als die förmlichen Garanten der Menschenrechte – in Pflicht nimmt, sondern sich darüber hinaus an jeden einzelnen Menschen und an »alle Organe der Gesellschaft« wendet, wie es in der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte heißt. Damit sind offensichtlich auch die Religionsgemeinschaften gefordert. Der unterstellte menschenrechtliche Normkonsens bleibt allerdings in vieler Hinsicht brüchig. Nicht nur klaffen Anspruch und Wirklichkeit nach wie vor oft krass auseinander. Auch der Anspruch selbst steht seit einigen Jahren wieder verstärkt unter Druck. Neu ist die ungeschminkt-zynische Aufkündigung jeden Interesses an
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Menschenrechten seitens einiger Regierungen, die auf menschenrechtliche Kritik nicht einmal mehr mit apologetischer Rhetorik reagieren. Auch der alte Vorwurf, die Menschenrechte seien ein Konstrukt aufgeklärter westlicher Eliten, das mit der Lebenswirklichkeit der Menschen nicht viel zu tun habe, gewinnt wieder politische Konjunktur. Während kulturrelativistische Kritik am weltweiten Geltungsanspruch der Menschenrechte eine Zeitlang eher als »linkes« Projekt galt, meldet sie sich mittlerweile auch im Gewand religiös konnotierter »traditional values« zurück, die gegen menschenrechtliche Emanzipation ausgespielt werden.1 Es ist daher auch aus der Perspektive der Menschenrechte unumgänglich, ihr Verhältnis zu den Religionen und zu religiösen Normkonzepten zu klären. Zwischen Menschenrechten und den Religionen gibt es nicht nur gemeinsame ethische Anliegen, etwa die Wahrung der Menschenwürde und den Einsatz für Gerechtigkeit, sondern auch manche Differenzen. Die daraus resultierenden Konflikte und historischen Erblasten im Detail aufzuarbeiten, könnte nur in jeweils kontextspezifischen Konstellationen gelingen.2 Die Geschichte der Begegnung mit den Menschenrechten verläuft im Kontext des Hinduismus anders als im Islam oder Christentum. Die Themen, die aus der Perspektive der Baha’i-Religion aufzugreifen wären, unterscheiden sich von den Fragen, die sich von der Spiritualität indigener Völker her ergeben. Selbst innerhalb des Christentums bestehen erhebliche Differenzen. Amerikanische Freikirchen haben andere historische Narrative als der zentraleuropäische Katholizismus oder die Orthodoxen Kirchen Osteuropas. Daraus ergeben sich unterschiedliche Rückfragen an das Menschenrechtsdenken. Für manche Völker des globalen Südens verbindet sich die Idee der Menschenrechte mit Erinnerungen an kolonialistische Demütigung und gewaltsame Prozesse der Entkolonialisierung. Dies schlägt sich gelegentlich in widersprüchlichen Einstellungen der dort beheimateten Religionsgemeinschaften nieder, die in den Menschenrechten mal eine neue Variante westlicher Bevormundung, mal eine Chance zu Reform, Befreiung und Selbstfindung sehen. Die Konfliktlinien verlaufen dabei nicht einfach entlang der Grenzen der unterschiedlichen Religionen, sondern ziehen sich in vielfältiger Weise durch sie hindurch.
1
2
Vgl. die Resolutionen des UN-Menschenrechtsrats, die folgenden programmatischen Titel trägt: »Promoting human rights and fundamental freedoms through a better understanding of traditional values of humankind«: UN Docs. A/HRC/RES/12/21, A/HRC/RES/16/3 und A/HRC/RES/21/3. Der vor allem von Russland gesponserte Resolutionstext vermengt menschenrechliche Standards mit einer diffusen Werte-Semantik, was nach Einschätzung von Kritikerinnen und Kritikern das Risiko einer Schwächung der Menschenrechte birgt. Vgl. zum Beispiel die umfangreiche Studie von Katharina Ceming, Religionen und Menschenrechte. Menschenrechte im Spannungsfeld religiöser Überzeugungen und Praktiken, München: Kösel, 2012.
10 Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte
Die folgenden Überlegungen zum Spannungsverhältnis zwischen Menschenrechten und Religionen beschränken sich wiederum auf eine Grundsatzreflexion.3 Wir werden zunächst einige Affinitäten zwischen Menschenrechten und Religionen beleuchten (Abschnitt 10.2), um dann im Gegenzug Differenzen und Konflikte anzusprechen (Abschnitt 10.3). Sodann geht es uns darum, den Anspruch der Menschenrechte im Verhältnis zu den Religionen von einer ihrer zentralen Funktionen her definieren, nämlich das Zusammenleben in der religiös-weltanschaulich pluralistischen Gesellschaft durch rechtliches »Empowerment« von Menschen normativ zu gestalten (Abschnitt 10.4). Von dieser spezifischen Funktion her ergeben sich einerseits immanente Grenzen des menschenrechtlichen Anspruchs, der andererseits im Kollisionsfall gegenüber etwaig konkurrierenden religiös-normativen Vorstellungen einen praktischen Geltungsvorrang markiert (Abschnitt 10.5). Ferner beschäftigen wir uns mit der Rolle des Staates. Zur internen Liberalisierung der Religionsgemeinschaften kann der säkulare Rechtsstaat aufgrund der gebotenen Selbstbeschränkung in religiösen Fragen nur indirekt beitragen (Abschnitt 10.6). Am Ende kommen wir auf eine oft übersehene Rolle der Religionsfreiheit im Gesamt der Menschenrechte zu sprechen, nämlich ihre Wächterfunktion gegenüber etwaigen Tendenzen einer gleichsam sakralisierenden Überziehung des Menschenrechtsdenkens (Abschnitt 10.7).
10.2
Substanzielle Affinitäten
Die Semantik der Menschenrechte weist immer wieder eine auffallende Nähe zu religiöser Sprache auf. In der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung von 1776 bürgt der Schöpfergott für die Gleichheit der Menschen und die Unveräußerlichkeit der ihnen verliehenen Rechte: »Folgende Wahrheiten erachten wir als selbstverständlich: dass alle Menschen gleich geschaffen sind; dass sie von ihrem Schöpfer mit gewissen unveräußerlichen Rechten ausgestattet sind; dass dazu Leben, Freiheit und das Streben nach Glück gehören […].«4 In der Menschen- und Bürgerrechtserklärung der Französischen Revolution von 1789 kommt Gott zwar nicht direkt vor; dafür enthält die Erklärung gleich zweimal den Begriff des »Heiligen«. Laut Präambel dient sie dazu, »die natürlichen, unveräußerlichen und heiligen Rechte der Menschen« wiederherzustellen. In Artikel 17 wird das 3
4
Die Beispiele, die wir zur Illustration anfügen, stammen zumeist aus christlichen und islamischen Kontexten, in denen wir uns am ehesten auskennen; sie können selbstredend nicht als repräsentativ für andere Religionen gelten. Zitiert nach Michael-Lysander Fremuth, Menschenrechte. Grundlage und Dokumente. Im Auftrag der Deutschen Gesellschaft für die Vereinten Nationen (DGVN), Berlin: Berliner Wissenschafts-Verlag, 2015, S. 240.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Eigentumsrecht als »ein unverletzliches und heiliges Recht«5 ausgezeichnet. Kant, dem jede Schwärmerei bekanntlich suspekt ist, preist das Menschenrecht als »das Heiligste, was Gott auf Erden hat«, und er bezeichnet es als den »Augapfel Gottes«6 . Ein Jahrhundert später stellte Émile Durkheim die Menschenrechte in den breiteren Zusammenhang einer Sakralisierung des Individuums, worin er eine der größten kulturellen Errungenschaften der Moderne sieht.7 Hans Joas hat mit seiner Monographie »Die Sakralität der Person« dieses Motiv aufgegriffen und aktualisiert.8 Jüngere Menschenrechtsdokumente sind beim Gebrauch religiöser Termini im Allgemeinen zwar zurückhaltender als die Gründungstexte des 18. Jahrhunderts. Die Semantik emphatischen Bekennens hat sich aber erhalten. So »bekennt sich« das deutsche Volk im Grundgesetz »zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt«9 . Auf Kirchentagen führen Amnesty-Gruppen »politische Nachtgebete« in der Tradition von Dorothee Sölle durch. Die Reden, die auf solchen Veranstaltungen gehalten werden, haben nicht selten den Charakter zeitgenössischer Bußpredigten. Die Nähe zu religiöser Sprache ist weder Zufall noch Missverständnis. Begriffe wie »Unantastbarkeit«, »Unveräußerlichkeit« oder »Unverletzlichkeit« verweisen auf ein Element von Unbedingtheit, das die Menschenrechte trägt und ihnen besondere Autorität verleiht. Es geht in ihnen um Grundfragen des Menschseins, die seit jeher eine Domäne auch der Religionen waren: um das Selbstverständnis des Menschen als Verantwortungssubjekt, die unverzichtbaren Prämissen sinnvollen Miteinanders sowie die Grundlagen von Moral und Recht. Menschenrechtsnormen sind Rechtsnormen besonderer Art. Ihnen kommt ein herausragender Rang zu, der sich rechtsinstitutionell in spezifischen Garantien manifestiert. Manche Menschenrechtsnormen, etwa das Folterverbot oder das Verbot von Gehirnwäsche, entziehen sich sämtlichen pragmatischen Abwägungen und dürfen selbst im Notstand nicht relativiert werden.10 Sie markieren somit die roten Linien, die die Rechtsgemeinschaft sogar in Krisensituationen nicht überschreiten kann, ohne ihren humanen Anspruch preiszugeben. Von diesen Bestimmungen wird gern gesagt, dass ihre Geltung »absolut« sei. Wiederum stoßen wir auf ein Prädikat, das der Sphäre des Religiösen zu entstammen scheint. 5 6 7 8 9
10
Ebd., S. 241 bzw. S. 243. Immanuel Kant, Zum Ewigen Frieden, Akademie-Ausgabe Bd. VIII, Berlin 1912, S. 53, Fußnote. Vgl. Émile Durkheim, Les formes élémentaires de la vie religieuse, Paris : Félix Alcan, 1912. Vgl. Hans Joas, Die Sakralität der Person. Eine neue Genealogie der Menschenrechte, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2011. Artikel 1 Absatz 2 des Grundgesetzes. Die Formulierung macht unverkennbare Anleihen bei der Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte, die ein halbes Jahr vor Inkrafttreten des Grundgesetzes verabschiedet worden war. Vgl. Artikel 2 der UN-Antifolterkonvention von 1984.
10 Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte
Die Nähe zwischen Menschenrechten und Religionen lässt sich auch von der anderen Seite her beschreiben. Viele der Zentralbegriffe der Menschenrechte – Menschenwürde, Freiheit, Gerechtigkeit – gewinnen ihre Klangfülle gerade durch den weiten Resonanzboden, den sie in religiösen Traditionen finden. Nicht nur gläubige Juden und Christen assoziieren beim Begriff der Menschenwürde die Auszeichnung des Menschen als »Bild und Gleichnis Gottes«11 , wie es im Schöpfungsbericht des Buches Genesis heißt. Weil der Mensch Ebenbild Gottes ist, darf menschliches Blut nicht vergossen werden, so die Anweisung im neunten Kapitel der Genesis.12 Die Tötung des Mitmenschen ist tabu. Ein besonderes Stimmungsbild beschreibt der achte Psalm: Überwältigt von der Erhabenheit des nächtlichen Sternenhimmels wird der Mensch sich gleichzeitig seiner Verlorenheit und seiner besonderen Auszeichnung innerhalb der Schöpfung bewusst.13 Dieses Motiv des Psalmisten klingt noch bei Kant nach, wenn er »den bestirnten Himmel über mir« und »das moralische Gesetz in mir« miteinander verschränkt.14 Als gleichsam letztes Wort Kants ist dies in seinen Grabstein gemeißelt. Die Geschichte vom Auszug aus Ägypten bietet ein mächtiges Narrativ, das schon die frühen Abolitionisten des 18. Jahrhunderts in ihrem Kampf gegen Sklavenhandel und Sklavenhaltung inspirierte.15 »Let my people go« – dieser Refrain eines bekannten Gospelsongs ist zum Motto verschiedener Freiheitsbewegungen bis in die Gegenwart hinein geworden. Vergleichbare Motive finden sich auch außerhalb der biblischen Religionen. Exemplarisch genannt sei der Islam.16 Analog zur biblischen Idee der Gottesebenbildlichkeit, wenn auch zurückhaltender formuliert, erkennt der Koran dem Menschen den herausragenden Rang eines Statthalters (»khalifa«) Gottes auf Erden zu.17 An einer anderen Stelle heißt es, Gott habe dem Menschen ein Vertrauensgut (»amana«) verliehen, vor dem zuvor die Berge und der Himmel – also die mächtigsten Manifestationen der Schöpfung – zurückgeschreckt seien.18 Dieser Vers erinnert an die ambivalente Grundstimmung im achten Psalm. Wer einen Menschen tötet, der handelt so, als habe er die ganze Menschheit ausgelöscht, schärft der Koran 11 12 13 14 15 16 17 18
Genesis 1,27. Vgl. Genesis 9,6. Vgl. Psalm 8,5. Immanuel Kant, Kritik der praktischen Vernunft, Akademie-Ausgabe Bd. V, Berlin 1908, S. 161. Vgl. Hans Joas, Sind die Menschenrechte westlich?, München: Kösel, 2015. Vgl. Mahmoud Bassiouni, Menschenrechte zwischen Universalität und islamischer Legitimität, Frankfurt a.M.: Suhrkamp, 2014. Vgl. Sure 2,30. Vgl. Sure 33,72. Vgl. dazu die Interpretation durch Mohamed Talbi, »Religionsfreiheit – Recht des Menschen oder Berufung des Menschen?«, in: Johannes Schwartländer (Hg.), Freiheit der Religion. Christentum und Islam unter dem Anspruch der Menschenrechte, Mainz: Grünewald, 1993, S. 242-260.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
ein.19 Er erkennt jedem Individuum damit einen Wert zu, der sich utilitaristischem Kalkül zugunsten des »größeren Ganzen« entzieht. Die Möglichkeiten, tragfähige Sinnbezüge zwischen religiösen Traditionen und Menschenrechten zu stiften, sind vielfältig und schließen keine Religion per se aus. Von dorther ist es scheinbar nur ein kleiner Schritt dazu, eine weitgehende normative Übereinstimmung zwischen Menschenrechten und Religionen zu postulieren. Diese Ansicht findet sich in unterschiedlichen Varianten. Manche beleuchten menschenrechtliche Affinitäten mit einer bestimmten religiösen Tradition, etwa dem Christentum. Andere spannen den Bogen weiter und sehen die Menschenrechte in der Kontinuität zu den zentralen ethischen Traditionen vieler oder gar sämtlicher Religionen. Nicht nur religiös interessierte Menschen legen oft Wert auf eine wesentliche Übereinstimmung ihrer Religion – oder der Religionen überhaupt – mit dem Ethos der Menschenrechte. Auch menschenrechtlich Aktive postulieren gern einen solchen Gleichklang, um ihren Anliegen einen möglichst breiten religiösethischen Hintergrund einzuziehen. So betonen die Verfasserinnen und Verfasser der Beiruter Erklärung über »Faith for Rights« ihre Überzeugung, dass »our respective religions and beliefs share a common commitment to upholding the dignity and the equal worth of all human beings. Shared human values and equal dignity are therefore common roots of our cultures.«20
10.3
Konfliktträchtige Differenzen
Wer zwischen Menschenrechten und Religionen eine prinzipielle Übereinstimmung postuliert, wird sich bei manchen Themen freilich schwertun. Besonders offensichtlich sind die Konflikte im Bereich des Geschlechterverhältnisses. Dies gilt erst recht, wenn man über die menschenrechtlich normierte Gleichberechtigung von Männern und Frauen hinaus auch den Umgang mit LGBTI Personen anspricht. Dass Menschen gegen Diskriminierung aufgrund ihrer sexuellen Orientierung bzw. Gender-Identität geschützt sein sollen, ist in den letzten Jahren zunehmend als menschenrechtlicher Standard etabliert worden,21 auch wenn es nach wie vor heftige, oft religiös konnotierte Widerstände dagegen gibt – beispielsweise unter Berufung auf die Geschichte der Vernichtung der moralisch verkommenen Sodomiter, von der nicht nur die Bibel, sondern auch der Koran 19 20 21
Vgl. Sure 5,32. Beirut Declaration and its 18 commitments on »Faith for Rights«, UN Doc. A/HRC/40/58, Annex I, Ziffer 1 und Annex II. Vgl. die Studien des UN-Hochkommissars für Menschenrechte: Discriminatory laws and practices and acts of violence against individuals based on their sexual orientation and gender identity, UN Docs. A/HRC/19/41 und A/HRC/29/23.
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berichtet.22 Einige der damit gegebenen Konflikte haben wir bereits oben in Kapitel 5 diskutiert. Ein weiterer Stein des Anstoßes ist die Religionsfreiheit. Das mag überraschen, geht es bei diesem Menschenrecht doch um ureigene Anliegen der Religionsgemeinschaften: die Möglichkeit freien Bekennens und authentischen Gemeindelebens. Viele religiös engagierte Menschen würden dem emphatisch zustimmen, aber selbstverständlich ist dies nicht. Als breit und inklusiv angelegtes Menschenrecht schützt die Religionsfreiheit nicht nur den Glauben und die Praxis der jeweils eigenen Gruppe, sondern schafft Entfaltungsmöglichkeiten auch für externe Rivalen und interne Dissidentinnen und Dissidenten, und zwar nach Maßgabe voller Gleichberechtigung. Das zu akzeptieren, fällt nicht immer leicht. Ein Testfall für das Verständnis der Religionsfreiheit ist das Recht, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen, sich religiös neu zu orientieren oder auch jedweder Religiosität den Rücken zu kehren. Hier scheiden sich nach wie vor die Geister. Für viele Traditionalisten aus unterschiedlichen Religionen stellt das Recht auf Glaubenswechsel eine Provokation dar. Werden die fundamentalen Sinnfragen des Lebens hier nicht schlichtweg dem Belieben des Einzelnen untergeordnet? Heißt das aber nicht die Ordnung der Dinge zu verkehren? Läuft der Menschenrechtsansatz am Ende darauf hinaus, die Religion zu einer Ware auf dem spirituellen »Wellness«-Markt zu verdinglichen? Zeigt sich hier womöglich der »prometheische« Zug des modernen Menschenrechtsdenkens, in dem der Mensch gegen seinen Schöpfer rebelliert? Wir stoßen hier auf grundlegende Anfragen, die für die Einschätzung des Konfliktpotenzials zwischen Menschenrechten und Religionen gar nicht überschätzt werden können. Denn über die konkreten Sachkonflikte hinaus hat der Menschenrechtsansatz als solcher mit seinem emanzipatorischen Gestus immer wieder fundamentale religiös-konservative Bedenken auf den Plan gerufen. Im Fall der römisch-katholischen Kirche begann die offizielle Konfliktgeschichte bereits 1791.23 In seinem Breve Quod aliquantum verurteilte Papst Pius VI. die Französische Revolution mitsamt ihrer Menschenrechtserklärung als skandalös und vernunftwidrig. Damit eröffnete er eine Serie öffentlicher Distanzierungen und Verurteilungen, die bis ins 20. Jahrhundert reichte. Den Höhepunkt der Auseinandersetzung bildete der Syllabus Errorum Papst Piusʼ IX. aus dem Jahre 1864, der die Menschenrechte unter den ideologischen Verirrungen der Moderne aufführte. Die Religionsfreiheit, so heißt es darin, ebne den Weg »zur Pest des Indifferentismus«24 . Deutlicher kann eine Verurteilung nicht ausfallen. Erst auf 22 23 24
Vgl. Genesis, Kap. 18 und 19; Sure 7,79-85 und öfter. Vgl. Konrad Hilpert, Menschenrechte und Theologie. Forschungsbeiträge zur ethischen Dimension der Menschenrechte, Freiburg: Herder, 2001, S. 390-397. Vgl. Syllabus Errorum, Abschnitt 79: »Denn es ist ja falsch, dass die staatliche Freiheit der Kulte und die allen gewährte Vollmacht, was immer für Meinungen und Ansichten offen und öffentlich kund zu geben, zur leichteren Verderbnis der Sitten und zur Verbreitung der
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dem Zweiten Vatikanischen Konzil gelang es der römisch-katholischen Kirche, die Abwehrhaltung gegenüber den Menschenrechten und der Religionsfreiheit durch eine positive Würdigung zu ersetzen. Auch das protestantische Christentum hatte etliche Vorbehalte auf dem Weg zur Akzeptanz der Menschenrechte zu überwinden. Retrospektive Harmonisierungen, wonach die christlichen Kirchen und das moderne Freiheitsdenken »eigentlich« zusammengehören, lassen sich historisch kaum halten. Schon vor hundert Jahren wies Ernst Troeltsch in seinen kirchengeschichtlichen Studien darauf hin, dass die Religionsfreiheit, anders als oft angenommen, gerade nicht unmittelbar auf reformatorische Impulse zurückgeführt werden könne; am ehesten ließen sich vielleicht manche Kontinuitätslinien zurück zu den »Stiefkindern der Reformation« rekonstruieren, nämlich zu jenen Sekten und Sondergruppen, die aufgrund eigener Verfolgungserfahrungen für die Anliegen von Glaubens-, Gewissens- und Gottesdienstfreiheit besonders sensibel gewesen seien.25 Innerhalb der Orthodoxen Kirchen bestehen fundamentale Vorbehalte gegen das Freiheitsethos der Menschenrechte bis heute. In einem Grundsatzdokument aus dem Jahre 2008 zeigt sich die Russisch-Orthodoxe Kirche jedenfalls skeptisch; zu mehr als einem »Ja-Aber« – mit Akzent auf dem »Aber« – zu den Menschenrechten kann sie sich darin nicht durchringen.26 Während der für die Menschenrechte tragende Begriff der Würde des Menschen auf die biblische und die patristische Tradition zurückgeführt und damit theologisch anerkannt, zugleich aber ein Stück weit vereinnahmt wird, zeigt sich die Russische Orthodoxie ansonsten ausgesprochen defensiv gegenüber dem Freiheitsanspruch der Menschenrechte, der mit Libertinage und moralischer Dekadenz assoziiert wird.27 Viel Unsicherheit besteht weiterhin auch im islamischen Kontext. Die oft verwirrenden Debatten um Menschenrechte im Islam bewegen sich, systematisch gesehen, zwischen den Polen von Abwehr und Vereinnahmung. Im ersteren Fall gilt der Menschenrechtsanspruch als ein traditionsfremdes Oktroi, das deshalb auf mehr oder weniger offenen Widerstand stößt; dafür gibt es zahlreiche
25 26
27
Pest des Indifferentismus führen.« Zitiert nach: http://www.kathpedia.com/index.php?title= Syllabus_errorum_(Wortlaut), abgerufen am 12. November 2019. Vgl. Ernst Troeltsch, Die Soziallehren der christlichen Kirchen und Gruppen, Tübingen: J. C. B. Mohr, 1912, S. 760-768. Vgl. Moskauer Patriarchat, The Russian Orthodox Church’s Basic Teachings on Human Dignity, Freedom and Rights (2008), abrufbar unter www.mospat.ru/en/documents/dignity-freedomrights, abgerufen am 12. November 2019. Kritisch dazu: Joachim Willems, »Die RussischOrthodoxe Kirche und die Menschenrechte«, in: Jahrbuch Menschenrechte 2009. Schwerpunkt: Religionsfreiheit, Wien: Böhlau, 2008, S. 152-165. Wichtig ist uns die Klarstellung, dass das zitierte Papier der Russisch-Orthodoxen Kirchen keineswegs als repräsentativ für die Positionen innerhalb der Orthodoxie gelten kann, die sehr unterschiedlich ausfallen. Vgl. dazu die Aufsätze orthodoxer Theologen (insbesondere Konstantinos Delikostantis und Grigorios Larentzakis) in: Ingeborg Gabriel (Hg.), Politik und Theologie in Europa. Perspektiven ökumenischer Sozialethik, Mainz: Grünewald, 2008.
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Beispiele, insbesondere in den fundamentalistischen und konservativen Ausprägungen des Islams. Im letzteren Fall läuft die vermeintliche Versöhnung zwischen Islam und Menschenrechten oft darauf hinaus, etwaige Differenzen zwischen Scharia-Tradition und modernen Freiheitsrechten auszublenden, zu relativieren oder schlicht zu leugnen. Manchmal rutschen Abwehr und Vereinnahmung sogar in eins. Ein Beispiel dafür bietet die Kairoer Erklärung der Organisation der Islamischen Konferenz über Menschenrechte im Islam von 1990.28 Die darin stattfindende Amalgamierung von Menschenrechten und Scharia hat zur Folge, dass der eigenständige normative Anspruch der Menschenrechte erdrückt wird.29 In den Augen skeptischer Traditionalisten stehen die Menschenrechte bis heute für eine anthropozentrische Ideologie, in der der Mensch sich »zum Maß aller Dinge« mache. Der Vorwurf des Anthropozentrismus verbindet sich nicht selten mit der Befürchtung, dass die Menschenrechte einem einseitigen Individualismus huldigten, der für das Zusammenleben und die kommunitären Werte der Gesellschaft schädlich sei. Die ethischen Dimensionen von Pflicht, Verantwortung, Treue und Loyalität drohten dem Primat individueller Rechtsansprüche zum Opfer zu fallen. Solche konservativen Vorbehalte werden gern im Medium »religiöser Werte« vorgebracht, die man durch modernes Menschenrechtsdenken prinzipiell gefährdet sieht.30 Das Gefühl irritierender Fremdheit zwischen Menschenrechtsanspruch und religiösen Überzeugungen und Praktiken findet sich – komplementär zu den Distanzierungen aus dem religiös traditionalistischen Lager – auch in skeptischen Einlassungen religionsdistanzierter Humanisten, die im Fortwirken religiöser Traditionen das Haupthindernis auf dem Wege zu gesellschaftlicher Emanzipation und Gleichberechtigung sehen. Der Begriff des Humanismus klingt im Englischen oft etwas anders als im Deutschen. Wenn im deutschen Sprachgebrauch von Humanismus die Rede ist, schwingen vielfach Erinnerungen an religiöse Humanisten wie Erasmus von Rotterdam, Thomas Morus oder Wilhelm von Humboldt mit. Im 28
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Vgl. UN Doc. A/CONF.157/PC/62/Add.18. Die »Organization of the Islamic Conference« (OIC) hat sich im Jahre 2011 – unter Beibehaltung des Akronyms – in »Organization of Islamic Cooperation« umbenannt. Wiederum sei betont, dass diese – rechtlich nicht verbindliche – Kairoer Erklärung keineswegs repräsentativ für alle Strömungen des Islams ist. Es ist bezeichnend, dass die Kairoer Erklärung weder die gleichen Rechte von Frauen und Männern noch die Religions- und Weltanschauungsfreiheit ausdrücklich anerkennt. Vgl. zur Kairoer Erklärung auch Ioana Cismas, Religious Actors and International Law, Oxford: Oxford University Press, 2014, S. 254-285. Vgl. dazu Heiner Bielefeldt, »Menschenrechte und ›traditionelle Werte‹: eine hoffnungslos vergiftete Debatte?«, in: Irene Klissenbauer (Hg.), Gerechtigkeit als bleibende Herausforderung. Festschrift für Ingeborg Gabriel, Wien: Vienna University Press, (im Erscheinen). Dieser Aufsatz setzt sich insbesondere mit den oben bereits erwähnten UNMenschenrechtsratsresolutionen zu »traditional values of humankind« auseinander.
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Englischen drängen sich hingegen eher Assoziationen mit einer umfassenden naturalistischen bzw. postreligiösen Weltsicht auf, innerhalb derer die Evolutionsbiologie heute eine zentrale Rolle spielt.31 Eine Quelle mancher Missverständnisse besteht nun darin, dass die englischen Begriffe »humanism« und »human rights« semantisch nahe beieinander liegen. Die Gefahr, dass sie ineinander rutschen, ist kaum von der Hand zu weisen. So gibt es in den Kreisen humanistischer Freidenker häufig die Vorstellung, man selbst sei gerade aufgrund der Distanz gegenüber den Religionen besonders geeignet, sich glaubhaft für die Menschenrechte einzusetzen. Während faith-based organizations (FBOs) typischerweise zwischen menschenrechtlichen und religiösen Normvorstellungen hin- und herpendeln müssten und in einem beständigen Zwiespalt verfangen blieben, sei für religionsdistanzierte Humanisten allein die Orientierung an den Menschenrechten maßgebend. Auch hier geht man also wiederum davon aus, dass zwischen Menschenrechten und Religionen ein letztlich unüberwindlicher Antagonismus bestehe, weshalb es im Interesse der Menschenrechte sei, den Religionen endlich eine klare Absage zu erteilen.
10.4
Pluralistische Koexistenz in Respekt der Menschenwürde
Die beiden soeben gezeichneten Perspektiven in der Verhältnisbestimmung zwischen Menschenrechten und Religionen – Affinitäten einerseits und Differenzen andererseits – haben jeweils einen wahren Kern, aus dem dann allerdings kurzschlüssige Konsequenzen gezogen werden. Zunächst zur Behauptung von substanziellen Affinitäten: Es ist durchaus richtig, dass sich gemeinsame normative Anliegen zwischen Menschenrechten und Religionen aufzeigen lassen. Dies bezeugen vor allem jene zahllosen Menschen, die sich als religiös verstehen und sich gleichzeitig für Menschenwürde und Menschenrechte einsetzen, ohne sich dabei in irgendeiner Weise schizophren zu fühlen.32 Angesichts dieser Realität erweisen sich abstrakt-antagonistische Entgegensetzungen von Menschenrechten und Religion als falsch oder zumindest als überzogen. Die Affinitäten zwischen Menschenrechten und Religionen liegen allerdings nicht gleichsam schon auf der Hand; sie ergeben sich nicht schlicht aufgrund einer parallelen Lektüre religiöser Texte einerseits 31
32
Julian Huxley, erster Präsident der »British Humanist Association« sowie Gründungsvorsitzender der »International Ethical and Humanist Union«, entwickelte aus seiner wissenschaftlichen Prägung als Evolutionsbiologe eine umfassende atheistische Weltsicht. Richard Dawkins, seines Zeichens ebenfalls Evolutionsbiologe und intellektueller Wortführer des neuen Atheismus, spielt in der humanistischen Bewegung nicht nur Großbritanniens eine zentrale Rolle. Ein Beispiel dafür sind religionsbasierende internationale NGOs. Vgl. Karsten Lehmann, Religious NGOs in International Relations, London/New York: Routledge, 2016.
10 Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte
und menschenrechtlicher Normen andererseits, sondern müssen hermeneutisch erschlossen, d.h. regelrecht herausgearbeitet werden. Dies setzt nicht nur kategoriale Klarstellungen auf beiden Seiten voraus, sondern verlangt auch Bereitschaft zu Selbstkritik und Reformen, was nicht ohne Konflikte vonstattengeht. Genau diese kritische Einsicht in die Konflikthaftigkeit des Verhältnisses kommt in der zweiten Perspektive zu Wort, die auf grundlegende Differenzen zwischen Menschenrechten und Religionen abstellt. Die Auseinandersetzungen, die sich nicht nur auf einzelne Themenfelder – etwa im Gender-Bereich – konzentrieren, sondern darüber hinaus auf unterschiedliche Denkhaltungen verweisen können, haben jedoch nicht, wie gelegentlich unterstellt, den Charakter eines Nullsummenkonflikts. Wer die Spannungen, die zwischen modernen Menschenrechten und religiösen Traditionen unübersehbar bestehen, in Richtung eines abstrakten Entweder-Oder überzieht, verbaut damit von vornherein die Möglichkeit, potenzielle Affinitäten und gemeinsame Anliegen zwischen beiden überhaupt aufzudecken und ggf. zur Geltung zu bringen. Damit aber droht menschenrechtliches Engagement zum exklusiven Reservat religionsdistanzierter und religionskritischer humanistischer Kreise zu werden, was für die Rezeptionschancen der Menschenrechtsidee verheerend wäre. Um sowohl harmonisierende Amalgamierungen als auch abstrakte Dichotomien zu überwinden, ist es sinnvoll, bei der spezifischen Funktion der Menschenrechte zur Gestaltung menschenwürdigen Zusammenlebens im irreversiblen Pluralismus anzusetzen. Historisch stellen die Menschenrechte eine politisch-rechtliche Antwort auf konflikthafte, potenziell gewalthaltige Pluralisierungsprozesse dar, für die in Europa exemplarisch die christliche Glaubensspaltung im Gefolge der Reformation mitsamt ihren politischen Verwerfungen steht. Statt eine konfessionell-territoriale Homogenität gewaltsam zu restaurieren und abweichende Bewegungen allenfalls am Rande zu tolerieren, zielen die Menschenrechte darauf ab, die entstandene Pluralität dadurch zu gestalten, dass sie sie als Manifestation menschlicher Freiheit konditional anerkennen. Die Vielfalt der religiösen Überzeugungen, kulturellen Prägungen, ethischen Orientierungen usw. gilt fortan nicht mehr als Signum des Niedergangs, der Schwäche oder »Dekadenz«, sondern als Bestandteil gesellschaftlicher Normalität, ja mehr noch: als Chance wechselseitigen produktiven Ansporns. Diese Anerkennung von Vielfalt geschieht nun aber nicht im Modus einer strukturlosen Toleranz, eines vorbehaltlosen Multikulturalismus oder eines schlichten (Gewohnheits-) Rechtspluralismus. Denn durch die jeweiligen Manifestationen von Vielfalt hindurch gilt die Anerkennung systematisch den Menschen: als Individuen und in Gemeinschaft mit anderen. Subjekte der Menschenrechte sind zuletzt immer die Menschen; es geht um ihre Würde, Freiheit und Gleichheit. Daher schützt das Menschenrecht der Religionsfreiheit, wie in Kapitel 2 ausführlich dargestellt, nicht etwa die Religionen als solche (zum Beispiel deren Integrität, Reputation oder Ehre), sondern die Menschen, die sich in Frei-
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
heit zu ihnen bekennen – oder auch nicht bekennen. Ähnliches lässt sich über die Meinungsfreiheit sagen. Sie verlangt nicht die vorbehaltlose Wertschätzung jedweder Meinungsäußerung, sondern zielt wiederum auf Respekt für den Menschen als Subjekt eigenständiger Positionierung in politischen und sonstigen Streitfragen. Auch dann für Meinungsfreiheit einzutreten, wenn man eine vorgebrachte Position dezidiert nicht teilt, ist seit Voltaire geradezu zum Beleg menschenrechtlichen Bewusstseins geworden. Ein anderes Beispiel bieten kulturelle Minderheitenrechte. Sie dienen nicht dazu, eine bestehende kulturelle Vielfalt gleichsam museal zu konservieren, sondern wollen wiederum den betroffenen Menschen institutionellen Rückhalt dafür geben, ihre jeweiligen Traditionen in Freiheit weiterzuentwickeln – sofern sie sich dafür entscheiden. Man könnte die Liste der Beispiele leicht erweitern, an denen sich die Grundstruktur der Menschenrechte illustrieren lässt: Sie erkennen die mittlerweile entstandene und sich womöglich weiter entwickelnde Vielfalt stets indirekt an, nämlich dadurch, dass sie die Menschen als verantwortliche Subjekte rechtlich stärken. Diese charakteristische Indirektheit impliziert zugleich ein Moment der Konditionalität: Die Anerkennung der Vielfalt geschieht nicht ohne Wenn und Aber, sondern unter der Bedingung, dass diese plausiblerweise als Manifestation menschlicher Freiheit verstanden und auf der Grundlage allgemeiner Gleichberechtigung sozial kompatibel ausgestaltet werden kann.33 Die Menschenrechte sind indes weit mehr als nur ein prozedurales Medium zur politisch-rechtlichen Koordinierung unterschiedlicher Überzeugungen, Positionen, Lebensstile und Interessen. Sie stehen für eine substanzielle normative Einsicht, die, obwohl keineswegs exklusiv modern, in der Moderne systematischer als zuvor zum Angelpunkt normativer Interaktion geworden ist: die gebotene Achtung der Würde des Menschen als eines Verantwortungssubjekts. Alle normativen Verbindlichkeiten – Versprechungen, Verträge, öffentlich-rechtliche Normen und Institutionen von der lokalen bis zur globalen Ebene – haben ihren letzten Grund in der Achtung der Menschen, und zwar aller Menschen gleichermaßen, als Subjekte von Verantwortung. In den Menschenrechten kommt diese sonst meist nur implizite Voraussetzung jeder normativen Interaktion explizit zum Ausdruck, und sie
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Dies impliziert kritische Vorbehalte in allen genannten Feldern. Konkret: Religiöser Zwang – etwa in Gestalt von Einschüchterungsmaßnahmen gegenüber potenziellen »Abtrünnigen« – kann keinesfalls akzeptiert werden; entsprechende Praktiken fallen demnach auch nicht unter den Schutz der Religionsfreiheit. Wenn Meinungsäußerungen darauf hinauslaufen, durch hasserfüllte Sprechakte bestimmte Menschen bewusst aus der Kommunikationsgemeinschaft zu exkommunizieren, muss der Staat – im Rahmen der dafür vorgesehenen Kriterien – ggf. Grenzen setzen. Kulturelle Minderheitenrechte vergattern Menschen keineswegs auf ihre vorgegebene kulturelle Identität; wer sich aus freien Stücken dem gesellschaftlichen Mainstream anschließen und deshalb kulturell »assimilieren« möchte, hat dazu alle Freiheit.
10 Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte
findet in ihnen zugleich praktisch-institutionelle Rückendeckung.34 Nicht zufällig setzt die Präambel der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte mit der »Anerkennung der inhärenten Würde und der gleichen und unveräußerlichen Rechte aller Mitglieder der menschlichen Familie« ein. Die Würde des Menschen steht buchstäblich am Anfang dieses Mutterdokuments der internationalen Menschenrechte. Aus guten Gründen verzichten Menschenrechtsdokumente zwar darauf, den Begriff der Würde philosophisch oder theologisch im Detail zu definieren. Die Idee der Menschenwürde soll anschlussfähig bleiben für eine Pluralität möglicher Letztdeutungen. Bei aller Offenheit ist der Begriff der Würde dennoch keine Leerformel. Dass es einen engen Zusammenhang mit dem Status des Menschen als Verantwortungssubjekt gibt, kommt in der Allgemeinen Erklärung der Menschenrechte in der wenig beachteten Formulierung »endowed with reason and conscience« zum Ausdruck. In Artikel 1 heißt es: »Alle Menschen sind frei und gleich an Würde und Rechten geboren. Sie sind mit Vernunft und Gewissen begabt und sollen einander im Geist der Brüderlichkeit begegnen.« Während sich der erste Satz dieses Artikels großer Beliebtheit erfreut und häufig zitiert wird, gilt dies für den zweiten Satz nicht. Im Gegenteil: Viele Menschen reagieren eher unsicher, wenn man sie auf diesen Wortlaut anspricht. Kann die hier postulierte Ausstattung der Menschen »mit Vernunft und Gewissen« nicht zum Ausschluss von Demenzkranken oder Menschen mit geistigen Behinderungen führen? Schafft die Erklärung hier eine Schwelle, die nicht jeder und jede überwinden kann? Stünde dies dann aber nicht im Widerspruch zum Universalitätsanspruch der Menschenrechte? Wie lässt sich die Formel von der Ausstattung mit »Vernunft und Gewissen« verstehen? Als empirische Deskription wirkt der Satz wenig plausibel. Zumal als deskriptive All-Aussage (»alle Menschen«) wäre er reichlich kühn und man wäre doch sehr versucht, das eine oder andere Gegenbeispiel anzuführen. Um einen präskriptiven Satz, also eine normative Vorgabe, kann es sich aber auch nicht handeln. Normative Appelle setzen Vernunft und Gewissen bei den Adressaten in gewisser Weise schon voraus. Man kann niemanden ernsthaft moralisch dazu auffordern, sich als Moralsubjekt überhaupt erst zu konstituieren. Sinn ergibt die Formel von der Begabung eines jeden mit Vernunft und Gewissen unserer Ansicht nach nur als notwendige Zuschreibung seitens der Rechtsgemeinschaft. Es handelt sich weder um eine deskriptive Feststellung noch um eine präskriptive Aufforderung, sondern um eine askriptive Stellungnahme der Rechtsgemeinschaft. Diese bekennt sich damit dazu, jedem Menschen den Status eines zumindest potenziellen Verantwortungssubjekts zuzuschreiben und ihn entsprechend zu behandeln. Dies folgt unmittelbar aus der Anerkennung der Würde jedes Menschen, ja ist letztlich gleichbedeutend mit ihr. 34
Vgl. Heiner Bielefeldt, Auslaufmodell Menschenwürde? Warum sie in Gefahr steht und warum wir sie verteidigen müssen, Freiburg i.Br.: Herder, 2011, S. 105-144.
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Der fundamentale Stellenwert dieser notwendigen Zuschreibung zeigt sich darin, dass sie strikt allen Menschen gilt.35 Nichts wäre deshalb abwegiger, als die Begriffe »Vernunft und Gewissen« in der Allgemeinen Erklärung als Ausschlusskriterien zu verstehen und beispielsweise Menschen mit Demenz ihre Menschenwürde abzusprechen.36 Es kann nicht darum gehen, dass die Individuen gleichsam erst einen Test zu durchlaufen hätten, ob sie denn ausreichend Vernunft und Gewissen vorweisen können, um als Subjekte von Würde und Rechten zu gelten. Vielmehr besteht die Aufgabe umgekehrt genau darin, jeden Menschen so zu behandeln, dass sein Status als Verantwortungssubjekt – auch unter widrigen oder gar extremen Umständen – Respekt findet.37 Die Forderung, die in der Formel von der Ausstattung mit Vernunft und Gewissen steckt, richtet sich nicht an den einzelnen Menschen, der hier vorab etwas nachzuweisen hätte, sondern sie richtet sich an die Rechtsgemeinschaft im Ganzen. Diese formuliert damit ihr Commitment, in jedem Menschen gleichsam das Verantwortungssubjekt zu »sehen«, das in manchen Grenzfällen faktisch vielleicht nicht – noch nicht, nicht mehr oder auch nie ganz – unmittelbar »sichtbar« präsent ist, und aus dieser gebotenen Sichtweise praktische Konsequenzen zu ziehen. Dies geschieht durch den Einsatz für die universalen Menschenrechte, die genau deshalb den hohen Status »unveräußerlicher Rechte« innehaben. Der Zusammenhang, den die Präambel der Allgemeinen Erklärung zwischen der »inhärenten Würde« aller Menschen und ihren »gleichen und unveräußerlichen Rechten« formuliert, findet sich ähnlich im Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland, das ein halbes Jahr nach Verabschiedung der UN-Erklärung in Kraft trat: Aus der »Unantastbarkeit« der Würde des Menschen folgt im Grundgesetz die »Unverletzlichkeit und Unveräußerlichkeit« der internationalen Menschenrechte.38 35
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Vgl. Jeremy Waldron, Dignity, Rank, and Rights, with comments by Wai Chee Dimock, Don Herzog and Michael Rosen, edited by Meir Dan-Cohen, Oxford: Oxford University Press, 2015, S. 33: »So that is my hypothesis: the modern notion of human dignity involves an upwards equalization of rank, so that we now try to accord to every human being something of the dignity, rank, and expectation of respect that was formerly accorded to nobility.« (Hervorhebung im Original) Vgl. Jeremy Waldron, One Another’s Equals. The Basis of Human Equality, Cambridge/Mass.: Harvard University Press, 2017, S. 215-256. Deshalb gilt das Gebot der Achtung der Menschenwürde uneingeschränkt beispielsweise auch Menschen mit Demenz. Vgl. Suzanne Cahill, Dementia and human rights, University of Bristol: Policy Press, 2018. Diese Kernbegriffe kommen dabei als Adjektive vor. Vgl. Artikel 1, Absätze 1 und 2 des Grundgesetzes: »Die Würde des Menschen ist unantastbar. Sie zu achten und zu schützen ist Verpflichtung aller staatlichen Gewalt. Das Deutsche Volk bekennt sich darum zu unverletzlichen und unveräußerlichen Menschenrechten als Grundlage jeder menschlichen Gemeinschaft, des Friedens und der Gerechtigkeit in der Welt.«
10 Gegen jede »Sakralisierung« der Menschenrechte
10.5
Autorität in Selbstbescheidung: der nicht-doktrinäre Geltungsvorrang der Menschenrechte
Aus dem Anspruch, religiös-weltanschauliche Vielfalt im Blick auf die Menschenwürde freiheitsrechtlich zu gestalten, resultiert ein spezifischer Geltungsvorrang der Menschenrechte – auch gegenüber etwaig kollidierenden religiösen Normvorstellungen. Darin liegt der Grund für manche Auseinandersetzungen, einschließlich kulturkämpferischer Eskalationen, die sich rückblickend nicht allesamt als bloße »Missverständnisse« abtun lassen. Der moderne, den Menschenrechten verpflichtete Rechtsstaat kann sich nicht darauf beschränken, den religiösen Status quo in der Gesellschaft lediglich zur Kenntnis zu nehmen. Vor allem wenn religiöse Praxis Zwangskomponenten beinhaltet, ist er zum Eingreifen verpflichtet. Mit der Verhinderung einzelner Gewaltakte und -drohungen gegenüber Abtrünnigen und Abweichlern ist es nicht getan. Darüber hinaus geht es darum, Ausprägungen strukturellen Zwangs, die aus der Amalgamierung religiöser Normen mit staatlicher Durchsetzungsmacht resultieren, aufzubrechen. Die Aufgaben, die sich dabei historisch und gegenwärtig stellen, sind vielfältig. Es gilt beispielsweise, das Strafrecht konsequent von offenen und verkappten Religionsdelikten wie Apostasie und Gotteslästerung zu bereinigen, das Ehe- und Familienrecht so zu gestalten, dass auch traditionell unerwünschte Ehekonstellationen (»Mischehen«) von Staats wegen diskriminierungsfrei möglich werden, und religiöse Monopolstrukturen im Bildungsoder Gesundheitswesen und anderen wichtigen gesellschaftlichen Bereichen, die für die jeweils Andersgläubigen diskriminierende und exkludierende Konsequenzen haben, aufzubrechen. Dies ging bzw. geht erfahrungsgemäß nicht ohne politische Auseinandersetzungen vonstatten. In Europa fanden solche Kämpfe vor allem im 19. und 20. Jahrhundert statt; sie sind aber noch keineswegs durchgängig erledigt.39 Der Geltungsvorrang, den die Menschenrechte auch gegenüber etwaig kollidierenden religiösen Normvorstellungen beanspruchen, ist freilich von innen her begrenzt, und es ist wichtig, diese innere Grenze stets vor Augen zu halten. Denn die Menschenrechte zielen inhaltlich gerade auf die Freisetzung religiöser, weltanschaulicher und anderer Vielfalt, die um der Würde des Menschen willen Anerkennung finden soll. Deshalb kann der Staat seiner Aufgabe zur Durchsetzung der Menschenrechte nur gerecht werden, wenn er den betroffenen Menschen zugleich einen offenen Raum zur Entfaltung religiöser Praxis sowie zur öffentlichen Artikulation ihrer religionspolitischen Anliegen bietet. Daraus wiederum resultiert das Gebot staatlicher Selbstbeschränkung in Sachen Religion, d.h. der konsequente 39
Ein Beispiel dafür bietet der antikatholische Kulturkampf Bismarcks zwischen 1871 und 1878. Vgl. dazu Manuel Borutta, Antikatholizismus. Deutschland und Italien im Zeitalter der europäischen Kulturkämpfe, Göttingen: Vandenhoeck & Ruprecht, 2. Aufl. 2011.
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Religionsfreiheit auf dem Prüfstand
Verzicht auf theologische Positionierungen und Bewertungen seitens des Staates. Beide Aspekte, die besondere Autorität des Staates und seine bewusste Selbstbescheidung, sind eng miteinander verschränkt und setzen einander wechselseitig voraus. Zusammen definieren sie die Säkularität des freiheitlichen Rechtsstaats, der aus dem Mandat für die Realisierung der Freiheitsrechte einerseits seine Autorität – auch gegenüber den Religionsgemeinschaften – bezieht, aus genau demselben Grund andererseits in theologischen Fragen zugleich strikte Zurückhaltung üben muss. Staatliche Auseinandersetzungen mit den Religionsgemeinschaften und ihren Angehörigen können nur dann produktiv verlaufen, wenn sie im Modus kommunikativer Offenheit geschehen. In Vergangenheit und Gegenwart hat es daran oft gekrankt. Es wäre deshalb historisch abwegig, beispielsweise den von Bismarck gegen die Katholische Kirche vom Zaun gebrochenen und mit brachialen Mitteln geführten Kulturkampf im Rückblick menschenrechtlich zu adeln, obwohl viele der damals durchgesetzten Strukturen, angefangen von der Zivilehe bis hin zu einer stärkeren staatlichen Verantwortung für das Bildungswesen, später von den Kirchen und Religionsgemeinschaften als in der Sache sinnvoll akzeptiert worden sind. Zurück zur Grundfrage nach dem Verhältnis von Menschenrechten und Religionen. Es lässt sich nach dem Gesagten nicht als schlichtes, einliniges Rangordnungsverhältnis begreifen. Wer beispielsweise meint, die Menschenrechte vom kleinsten gemeinsamen Nenner dessen her definieren zu können, was in traditionellen religiösen Wertvorstellungen sowieso schon mehr oder weniger konsentiert ist, greift von vornherein viel zu kurz. Mit einer solchen faktischen Unterordnung »unter« die Religionen wäre jeder eigenständige, kritische Anspruch der Menschenrechte beiseitegelegt. Weder die Gleichberechtigung der Geschlechter noch die volle Religionsfreiheit unter Einschluss des Religionswechsels, ließen sich auf diese Weise plausibel durchsetzen. Die Menschenrechte stattdessen pauschal »über« die Religionen zu stellen, würde indes zu nicht minder gravierenden Schwierigkeiten führen. Eine prinzipielle Überordnung liefe ja darauf hinaus, dass die Religionen nur noch gleichsam als Subkonfessionen des alles überwölbenden Menschenrechtsbekenntnisses Raum finden könnten. Die Gläubigen der verschiedenen Religionen müssten die von Staats wegen durchgesetzten menschenrechtlichen Normen und Prinzipien folglich nicht nur als praktisch verbindlich, sondern als historisch grundsätzlich überlegen begreifen. Stattdessen geht es bei den Menschenrechten um einen praktischen Geltungsvorrang, der primär im Medium von Politik und Recht zu Buche schlägt, damit aber auch von vornherein limitiert ist.40 David Stamos greift daneben, wenn er die 40
Als hilfreich, wenn auch in der Durchführung viel zu starr, erweist sich in diesem Zusammenhang die von John Rawls vorgenommene Unterscheidung zwischen der für alle Mitglieder ei-
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Menschenrechte als »the new anthropocentric faith«41 bezeichnet; diese zielen gerade nicht auf die Etablierung einer umfassenden anthropozentrischen Weltanschauung. Zwar bilden die Menschenrechte offensichtlich eine anthropozentrische Rechtskategorie, sie machen daraus jedoch kein Glaubensbekenntnis. Inhaltlich eröffnen die Menschenrechte als dezidierte Freiheitsrechte den Raum für eine unübersehbare Vielfalt grundlegender Orientierungen, einschließlich solcher, die in ihrer inhaltlichen Ausrichtung gerade nicht anthropozentrisch, sondern zum Beispiel theozentrisch, kosmozentrisch oder ökozentrisch sind. Es geht in den Menschenrechten denn auch keineswegs darum, einen quasi-religiösen Kult der menschlichen Vernunft zu befördern, der an die Stelle der Verehrung Gottes treten solle, wie in traditionalistischen Kreisen seit der Französischen Revolution immer wieder befürchtet wurde. Genauso wenig setzen die Menschenrechte den von Feuerbach propagierten Aufstand des Menschen gegen jede Religion voraus, deren Autoritätsanmaßungen als Projektionen unerfüllter Wünsche – oder mit Marx als »Opium des Volkes« – zu dekonstruieren wären. Die Menschenrechte machen sich schließlich auch nicht anheischig, die Religionen mitsamt ihren sinnstiftenden Gehalten historisch beerben zu wollen. Kurz: Die Zielsetzung der Menschenrechte ist nicht doktrinär. Gegen Missverständnisse und Überziehungen, die von allen Seiten her – auch in der Rhetorik mancher Menschenrechtsorganisationen – aufkommen können, gilt es dies immer wieder klarzustellen. Ohne eine solche Klarstellung wären kulturkämpferische Auseinandersetzungen nicht nur unvermeidlich (was tatsächlich manchmal der Fall sein kann); sie wären darüber hinaus sogar prinzipiell unlösbar, es sei denn durch die totale Unterwerfung religiöser und religionsnor-
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ner Gesellschaft verbindlichen politischen Gerechtigkeitsvorstellung (»political justice«) und den unterschiedlichen, inhaltlich weiterreichenden religiösen oder philosophischen Lehren (»comprehensive doctrines«), die in der Gesellschaft existieren. Vgl. John Rawls, Political Liberalism, New York: Columbia University Press, 1993, S. 133-172. Mit Hinweis auf die von vornherein begrenzte inhaltliche Reichweite der politischen Gerechtigkeit will Rawls drohende Konfrontationen mit den »comprehensive doctrines«, so weit wie möglich, pragmatisch aus dem Wege räumen. Sein Ziel besteht darin, einen politisch-rechtlichen, aber gerade nicht doktrinären Geltungsvorrang der leitenden Gerechtigkeitsvorstellung zu etablieren. Diese soll dann ihrerseits als Anknüpfungspunkt für einen »overlapping consensus« dienen, also für eine substanzielle Übereinstimmung in Kernfragen des normativen Miteinanders bei bleibender Differenz in den diesbezüglichen Letztdeutungen. Auf diese Weise möchte Rawls eine verbindliche Gerechtigkeitsvorstellung etablieren, die zugleich Raum gibt für eine Pluralität religiöser und weltanschaulicher Sichtweisen. Kritisch anzumerken bleibt allerdings, dass der Rawlssche Begriff der »comprehensive doctrines« dem Selbstverständnis vieler Religionsgemeinschaften gerade nicht entspricht. Keineswegs alle Religionen kennen ausformulierte Sinnantworten, Doktrinen oder Katechismen. Auch der Verzicht auf dogmatische Antworten kann Ausdruck einer dezidierten religiösen Haltung sein. David N. Stamos, The Myth of Universal Human Rights. Its Origin, History, and Explanation, Along with a more Humane Way, Abington and New York: Routledge, 2016, S. 255.
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mativer Ansprüche, die im Angesicht der Menschenrechte gleichsam verstummen müssten. Es gehört zu den Aufgaben der Religionsfreiheit, solche Missverständnisse des Menschenrechtsanspruchs zurückzuweisen. Beispiele für Fehlkommunikation im Verhältnis von Menschenrechten und Religionen finden sich in Geschichte und Gegenwart häufig. Im Kontext der aktuellen Integrationsdebatte sehen sich beispielsweise Muslime immer wieder mit der Forderung konfrontiert, sie mögen sich klar dazu bekennen, dass die Menschenrechte »über« der Religion stünden.42 In Deutschland wird dies gern als genereller Vorrang des Deutschen Grundgesetzes mitsamt den darin verbürgten Grund- und Menschenrechten gegenüber dem Islam formuliert; dieser generelle Vorrang müsse ohne Wenn und Aber akzeptiert werden. Zwar muss in der Tat klar sein, dass die Normen des Grundgesetzes und insbesondere die darin gewährleisteten Grundund Menschenrechte in der Praxis für alle verbindlich gelten. Religiöse Überzeugungen und Normen können nicht als Generalvorbehalt gegen die Verfassungsordnung und die in ihr verbürgten Rechte ausgespielt werden. Deren praktischer Geltungsvorrang ist aber nicht zu verwechseln mit einem »Dignitätsvorrang« oder mit einer generellen historischen Überlegenheit modernen Menschenrechtsdenkens gegenüber religiösen Traditionen. Wenn religiöse Menschen, gleich welcher Observanz, zum Ausdruck bringen, dass die Religion für sie persönlich letztlich doch eine höhere existenzielle Bedeutung als das Grundgesetz oder die Menschenrechte hat, wäre deshalb zunächst einmal nachzufragen, was genau daraus handlungspraktisch folgt. Allein auf eine solche Hochschätzung der Religion hin einen Verdacht der Verfassungsfeindlichkeit zu gründen, wäre kategorial genauso daneben, als hätte man dem deutschen Bundespräsidenten Gustav Heinemann seinerzeit für seine bekannte Aussage, er liebe seine Frau, nicht den Staat, eine staatsfeindliche Orientierung angedichtet.
10.6
Durchsetzung der Menschenrechte im Innern der Religionsgemeinschaften?
Die Klärung des Geltungsanspruchs der Menschenrechte, ihrer besonderen Autorität und ihrer immanenten Grenzen erhöht die Chancen dafür, dass die Religionsgemeinschaften ein affirmatives Verhältnis zu menschenrechtlicher Freiheit entwickeln können. Ansatzpunkte dafür gibt es in großer Zahl. Vor allem der Begriff der Menschenwürde findet in vielen religiösen und philosophischen Traditionen einen weiten Resonanzboden und eignet sich deshalb dafür, inhaltliche Verbindungen zwischen Menschenrechten und religiösen Traditionen zu stiften, zu 42
Man kann dies beispielsweise in zahllosen TV-Talkshows erleben.
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klären und zu prononcieren.43 Damit eröffnet sich die Möglichkeit, dass die Religionsgemeinschaften die Erwartungen, die im Namen der Menschenrechte an sie herangetragen werden, nicht nur als externes Oktroi, sondern auch als Herausforderung und Chance von innen her aufgreifen können. Paradigmatisch dafür steht die Erklärung Dignitatis humanae von 1965, mit der das Zweite Vatikanische Konzil den zuvor wiederholt militant formulierten Widerstand gegen die Religionsfreiheit überwand und eine grundlegende Neuorientierung vornahm, nämlich in Richtung einer auch theologisch fundierten Unterstützung der Menschenrechte. Wie schon im Titel der Konzilserklärung deutlich wird, bildet die Würde des Menschen die Brücke zu menschenrechtlicher Freiheit. Der erste Satz der Erklärung lautet: »Die Würde der menschlichen Person kommt den Menschen unserer Zeit immer mehr zum Bewusstsein, und es wächst die Zahl derer, die den Anspruch erheben, dass die Menschen bei ihrem Tun ihr eigenes Urteil und eine verantwortliche Freiheit besitzen und davon Gebrauch machen sollen, nicht unter Zwang, sondern vom Bewusstsein der Freiheit geleitet.«44 Annäherungen an die Menschenrechte gibt es seit längerem auch unter islamischen, buddhistischen oder hinduistischen Vorzeichen. Für manche Religionsgemeinschaften, etwa die Baha’i, hat die Anerkennung der Menschenrechte und insbesondere der Religionsfreiheit geradezu status confessionis gewonnen. Auch in universitären Theologieseminaren finden Auseinandersetzungen über Menschenrechte regelmäßig statt. Menschenrechte sind darüber hinaus ein Thema des schulischen Religionsunterrichts. Im Kreis zivilgesellschaftlicher Organisationen, die sich für die Menschenrechte einsetzen, befinden sich zahlreiche »faith-based organizations« (FBOs). Nach wie vor gibt es aber auch gegenläufige Tendenzen, die sich zwischen diffusem religiösem Unbehagen und offenem Widerstand gegen die Idee der Menschenrechte bewegen. Wie ist damit umzugehen? Soll der Staat in seiner Garantenfunktion für die Durchsetzung der Menschenrechte versuchen, religiöse Selbstverständnisse direkt zu beeinflussen und liberale gegenüber antiliberalen theologischen Positionen politisch-rechtlich bevorzugen? Peter Kirchschläger plädiert in seiner Monographie über Menschenrechte und Religionen für eine weitreichende aktive Rolle des Staates bei der Durchsetzung menschenrechtlicher Standards auch im Inneren der Religionsgemeinschaften. Er fordert, »dass der Staat und die internationale Gemeinschaft gezielt anstreben sollten, Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften mit den Menschenrechten zu 43 44
Vgl. Peter G. Kirchschläger, Menschenrechte und Religionen. Nichtstaatliche Akteure und ihr Verhältnis zu den Menschenrechten, Paderborn: Schöningh, 2016, S. 188f. Dignitatis humanae, Abschnitt 1. Vgl. dazu Marianne Heimbach-Steins, Religionsfreiheit. Ein Menschenrecht unter Druck, Paderborn: Schöningh, 2012, S. 53-101.
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versöhnen«45 . Hier stellen sich allerdings kritische Rückfragen, vor allem an den Begriff der Versöhnung. Ist dieses Ziel nicht zu weit gesteckt? Wie genau soll dies erreicht werden? Gerät der säkulare Rechtsstaat mit einer solchen umfassenden Versöhnungsaufgabe womöglich in die Gefahr, Grenzen zu überschreiten? Einerseits ist es richtig, dass die Aufgabe, die dem Staat bei der Durchsetzung der Menschenrechte zukommt, nicht an den Grenzen der Religionsgemeinschaften Halt machen kann. Es gehört zu den Kernfunktionen des Rechtsstaats als Inhaber des Monopols rechtlich gebundener Zwangsgewalt, dafür zu sorgen, dass in der gesamten Gesellschaft – und ergo auch im Inneren der Religionsgemeinschaften – strikte Zwangsfreiheit herrscht. Außerdem gelten die allgemeinen staatlichen Gesetze selbstredend auch für die Religionsgemeinschaften.46 Die staatliche Gewährleistung von Zwangsfreiheit im Inneren der Religionsgemeinschaften darf andererseits aber nicht mit einem Mandat des Staates verwechselt werden, innerreligiöse Reformen in Richtung von mehr Liberalität zu forcieren.47 Wenn sich der Staat die von Kirchschläger intendierte umfassende »Versöhnung« zwischen Menschenrechten und Religionen zur Aufgabe setzt, könnten die Konturen staatlicher Säkularität womöglich ins Rutschen geraten. Es gehört zur Natur von Freiheitsrechten – wenn man so will: »liberalen Rechten« –, dass sie eben nicht nur für Liberale gelten. Die Meinungsfreiheit dürfte ein urliberales Recht sein, ohne das eine freiheitliche, diskursive Demokratie nicht denkbar ist. Sie kann aber gleichwohl auch von Menschen in Anspruch genommen werden, die gerade nicht von liberalen Werten überzeugt sind und dies womöglich robust zum Ausdruck bringen. Auch das liberale Recht der Versammlungsfreiheit wird nicht nur von liberalen Menschenrechtsfreunden wahrgenommen, sondern beispielsweise auch von PEGIDA-Demonstranten. Man kann deren Positionen mit guten Gründen furchtbar finden und darauf mit Gegendemonstrationen reagieren; nach staatlichen Verbotsmaßnahmen zu rufen, wäre aber – abgesehen zum Beispiel von Fällen der Aufstachelung zu Hass oder Gewalt – menschenrechtlich nicht legitim. Ähnliches gilt auch für die Vereinigungsfreiheit und andere Freiheitsrechte, deren Gebrauch jeweils in sehr unterschiedliche Richtungen gehen kann, keineswegs nur in Richtung von Liberalität; auch Populisten, die programmatisch mit Menschenrechten nicht viel zu tun haben wollen, nutzen diese Möglichkeiten und haben ein verbrieftes Recht, dies zu tun. Zwar sind allen diesen genannten 45 46
47
P. Kirchschläger, Menschenrechte und Religionen, a.a.O., S. 138. Dies schließt nicht aus, dass sich unter dem Anspruch der Religionsfreiheit konkrete Modifikationen an allgemeinen Gesetzen erforderlich erweisen oder auch gezielte Ausnahmeregelungen nahelegen können. Vgl. dazu die Ausführungen zu »reasonable accommodation« in Kapitel 4.6. Vgl. aber P. Kirchschläger, Menschenrechte und Religionen, a.a.O., S. 133f.: »An den Staaten liegt es demzufolge, sich auch aktiv dafür einzusetzen, dass Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften […] ihre Verantwortung für die Menschenrechte wahrnehmen.«
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Freiheitsrechten Beschränkungsmöglichkeiten eingeschrieben. Der Staat kann im Rahmen der dafür vorgesehenen Kriterien konkrete Beschränkungen zugunsten der Freiheit anderer sowie sonstiger hoher Rechtsgüter erlassen, sofern sich Kollisionen anders nicht verhindern lassen. Die Meinungsfreiheit findet ihre Schranken beispielsweise in Fällen von Volksverhetzung und Aufstachelung zu Hassaktionen; die Versammlungsfreiheit bleibt an Voraussetzungen der Gewaltfreiheit gebunden; und die Vereinigungsfreiheit stellt selbstredend keinen Freibrief für terroristische Organisationen aus. Die Möglichkeit konkreter Schrankenziehung – stets in kontrollierter Rückbindung an die dafür vorgesehenen rechtsstaatlichen Prinzipien und menschenrechtlichen Kriterien – ist aber nicht gleichzusetzen mit der staatlichen Durchsetzung einer durchgängig »liberalen« Ausrichtung des Freiheitsrechtgebrauchs. Das ist eine wichtige Unterscheidung. Wer diese kategoriale Differenz übersieht, begibt sich in die Gefahr, die Freiheitsrechte ausgerechnet im Namen liberaler Werte unangemessen zu restringieren. Die gerade angesprochene Struktur betrifft genauso die Religionsfreiheit: Auch sie ist ein, wenn man so will, »liberales« Recht, das aber nicht nur von Liberalen in Anspruch genommen werden kann – auch wenn sich religiöse Reformerinnen und Reformen durch dieses Recht in ihren Bemühungen um Öffnung, Dialog und Liberalisierung gezielt ermutigt fühlen dürfen.48 Religionsfreiheit gilt gleichwohl auch für diejenigen, die mit moderner Bibelexegese oder Koranhermeneutik nichts zu tun haben wollen. Wer die Religionsfreiheit auf einen staatlich durchsetzbaren Rechtstitel liberaler Theologien im weitesten Sinne des Wortes beschränken möchte, riskiert damit, manche Menschen vom Schutz dieses Menschenrechts auszunehmen, darunter auch solche, die diesen Schutz besonders nötig haben. Massive Verletzungen der Religionsfreiheit finden aktuell im Rahmen eines manchmal aus dem Ruder laufenden Kampfes gegen »religiösen Extremismus« statt. Zu den akut Betroffenen gehören die Zeugen Jehovas, deren gesamte Infrastruktur in Russland nach einem Beschluss des Obersten Gerichtshofs der Russischen Föderation vom April 2017 derzeit von Staats wegen liquidiert wird. Dies geschieht im Namen der Bekämpfung eines »Extremismus«, dessen Konturen definitorisch völlig vage bleiben.49 Im Rahmen der aktuellen Debatte zur Integration von Flüchtlingen aus islamisch geprägten Ländern könnten staatliche Institutionen daran interessiert sein, Annäherungen an die liberalen Werte der Gesellschaft dadurch zu fördern, dass der Staat liberalen oder feministischen Koraninterpretationen gezielt zum Durchbruch verhilft. So nachvollziehbar diese generelle Zielsetzung sein mag, auch hier besteht die Gefahr von Grenzüberschreitungen, weshalb Wachsamkeit geboten ist. 48 49
Vgl. dazu die Ausführungen in Kapitel 9.8.2. Vgl. www.forum18.org/archive.php?article_id=2297, abgerufen am 12. November 2019.
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Natürlich ist es politisch wünschenswert, wenn sich liberale, weltoffene und dialogorientierte Religionsverständnisse innerhalb islamischer Gemeinden stärker verbreiten, als dies bisher der Fall ist. Der Staat verfügt über manche Möglichkeiten, hier fördernd tätig zu sein – etwa über die Einrichtung islamisch-theologischer Lehrstühle, die längerfristig zur Ausweitung und Liberalisierung des innerislamischen Diskurses beitragen können. Dabei muss der säkulare Rechtsstaat aber stets auf die ihm gesetzten Grenzen achten. Autorität in theologischen Fragen kommt ihm nicht zu.50 Der Staat hat außerdem nicht das Mandat, das Priestertum der Frau in der römisch-katholischen Kirche mit politischen oder rechtlichen Maßnahmen durchzusetzen, obwohl der Ausschluss von Frauen aus klerikalen Positionen unter Gesichtspunkten der Gleichberechtigung zweifellos ein Stein des Anstoßes bleibt. Diesen aus der Welt zu schaffen, kann freilich wiederum nicht Aufgabe staatlicher Politik sein. Ein »jus reformandi« in diesen Fragen steht dem liberalen Rechtsstaat nicht zu. Hier sind primär die Kirchenmitglieder selbst gefordert.51 Genauso wenig kann der Staat die Einführung von Rabbinerinnen, die es in liberalen jüdischen Gemeinden schon länger gibt, innerhalb des orthodoxen Judentums forcieren. Er kann sich ferner nicht vornehmen, den Zeugen Jehovas eine moderne Bibelexegese aufzuerlegen oder den Mormonen kritische Hermeneutik im Umgang mit dem Buch Mormon abzuverlangen. Dass der Gesetzgeber in Dänemark im Jahre 2012 die Möglichkeit gleichgeschlechtlicher Eheschließung innerhalb der EvangelischLutherischen Volkskirche geschaffen hat, mag man im Ergebnis als einen Durchbruch zu mehr Gleichberechtigung durchaus begrüßen. Tatsächlich findet diese Reform in Dänemark breite Zustimmung – auch bei Kirchenmitgliedern und im Klerus. Dass der Anspruch gleichgeschlechtlicher Eheschließung in der Kirche im »top-down«-Modus durch einen staatlichen Gesetzgebungsakt und im Kontext eines verfassungsrechtlich gestützten Staatskirchentums geschehen ist, bleibt aber ein Paradoxon; als allgemeines Modell taugt der dänische Weg sicherlich nicht.52 Die Absage an den Einsatz staatlicher Durchsetzungsmacht zur Forcierung religionsinterner Liberalisierung heißt keineswegs, dass man sich aus menschenrechtlicher Sicht mit dem Status quo in den Religionen schlicht abfinden müsse. Allerdings bleibt es dabei, dass liberalisierende Veränderungen religionsinterner Strukturen und Selbstverständnisse primär den Angehörigen der jeweiligen Religionsgemeinschaften aufgegeben sind. Der Staat kann dazu vor allem indirekt 50
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Deshalb muss sich der Staat einen konfessionellen schulischen Religionsunterricht von den entsprechenden Glaubensgemeinschaften gleichsam authentisieren lassen, was im Blick auf den Islam bis heute ungelöste Fragen aufwirft. Vgl. die Streitschrift von Daniel Bogner, Ihr macht uns die Kirche kaputt … doch wir lassen das nicht zu!, Freiburg i.Br.: Herder, 2019. Vgl. den Bericht über die UN-fact-finding-Mission zu Dänemark, UN Doc. A/HRC/34/50/Add.1 (vom 28. Dezember 2016).
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beitragen. Zu seinen wichtigsten Aufgaben gehört es, die Voraussetzungen freier Debattenkultur zu garantieren. Wenn interne Dissidentinnen oder Dissidenten bedroht werden oder Mobbing erfahren, muss der Staat daher eingreifen. Auch zum Schutz von Konvertitinnen und Konvertiten gegen Gewalt oder Zwangsdrohungen ist er durch die Religionsfreiheit verpflichtet. Die effektive Möglichkeit, eine Religionsgemeinschaft zu verlassen, sich einer anderen Überzeugung und Gruppierung zuzuwenden oder sich generell von solchen Fragen abzuwenden, bleibt bis heute eine Nagelprobe der Religionsfreiheit. Der Staat ist nicht nur gehalten, diese Freiheit in seinem eigenen Handeln zu respektieren, sondern muss bereit sein, sie auch gegen etwaige Gefährdungen seitens Dritter wirksam zu verteidigen. Die Konzentration auf die Sicherung von »Exit-Optionen« bei sonstiger staatlicher Zurückhaltung gegenüber direkten Interventionen in religiöse Selbstverständnisse ist gelegentlich als blinder Fleck liberalen Denkens kritisiert worden. Dahinter stehe die Vorstellung, Religionsgemeinschaften seien bloße »Clubs«, in die man nach Lust und Laune ein- und auch wieder austreten könne. Ein solches Verständnis aber, so der Einwand, ignoriere die existenzielle Bedeutung, die die Mitgliedschaft in einer Religionsgemeinschaft für zahllose Menschen habe. Für viele Menschen stelle der Austritt keine reale Option dar – selbst dann, wenn er rechtlich problemlos möglich sei. Aus der Perspektive eines religiös interessierten Feminismus weist Alison Stuart die Selbstbeschränkung des liberalen Rechtsstaats auf die Ermöglichung von Exit-Optionen in diesem Sinne als zu kurz gegriffen zurück: »Women often do not wish to leave their religious community to gain equality; they wish to be recognized as fully functioning and equal members of their religious communities.«53 Um den Wünschen und Rechten der Frauen Geltung zu verschaffen, fordert sie staatliche Eingriffe auch im Inneren der Religionsgemeinschaften: »If religious institutions or beliefs are internally discriminating against or causing discrimination against women, then States are obliged to take action to prevent any such discrimination.«54 Alison Stuart hat zweifellos Recht, wenn sie die Analogie von Religionsgemeinschaften mit »Clubs«, die man locker wechseln kann, als unangemessen zurückweist. Die Zugehörigkeit zu einer Religionsgemeinschaft ist für viele Menschen eng verwoben mit persönlicher Identität, familiärer Herkunft, und Loyalitätsgefühlen gegenüber der Gruppe. Ein Religionswechsel kann einen tiefen Einschnitt in die persönliche Biographie bedeuten. Auch unter denjenigen, die die nach wie vor bestehende religionsinterne Geschlechterdiskriminierung unerträglich finden, schließen viele einen Religionswechsel deshalb für sich selbst aus. Dennoch sollte man die Auswirkungen der rechtlichen Möglichkeit des Wechsels nicht gering53 54
Alison Stuart, »Freedom of Religion and Gender Equality: Inclusive or Exclusive?«, in: Human Rights Law Review, Bd. 10 (2010), S. 429-459, hier S. 444. Ebd., S. 447.
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schätzen. Denn mit der staatlich garantierten Freiheit des Austritts verändern sich ipso facto die Binnenbeziehungen einer Religionsgemeinschaft. Allein die rechtliche Möglichkeit der Abwendung hat zur Folge, dass auch das Verbleiben in einer Religionsgemeinschaft damit – anders als zuvor – zur Manifestation persönlicher Freiheit wird. Die Autorität klerikaler Amtsträger oder Führungspersönlichkeiten hängt außerdem fortan mehr als zuvor von der Glaubwürdigkeit ihres Auftretens ab; sie kann sich jedenfalls nicht mehr wie ehedem auf Mechanismen von Zwangsdurchsetzung stützen. Mit der Freiheit des Austritts aus einer Religionsgemeinschaft verbindet sich ferner das Recht, alternative Gemeinden oder Reformgemeinden außerhalb der zuvor etablierten Strukturen zu gründen oder ihnen beizutreten. Wiederum mag man einwenden, dass sich vielleicht nur wenige Menschen tatsächlich dazu entscheiden, sich einer alternativen religiösen Bewegung anzuschließen. Trotzdem hat sich auf diese Weise längst eine religiöse Konkurrenz zu den etablierten Gemeinschaften entwickelt, die Tag für Tag vor Augen führt, dass deren Status quo jedenfalls nicht alternativlos bleibt. Auch dies sollte man nicht geringschätzen. Dem freiheitlichen säkularen Rechtsstaat stehen mithin etliche Möglichkeiten zur Verfügung, religionsinterne Reformen in Richtung von mehr Offenheit und Liberalität zu fördern. Auch der säkulare Rechtstaat kann und soll, recht verstanden, Religionspolitik betreiben. Über die erforderliche Durchsetzung von Zwangsfreiheit im Inneren der Religionsgemeinschaften hinaus kann der Staat dazu beitragen, einen offenen Diskurs in der Gesellschaft zu pflegen, der auch Religionskritik umfasst. Eine wichtige Rolle kommt dem schulischen Religionsunterricht zu, der entweder als konfessioneller Unterricht kooperativ mit den jeweiligen Religionsgemeinschaften oder aber als allgemein verbindliches informierendes Fach ausgestaltet werden kann; die Prinzipien der menschenrechtlichen Demokratie sind innerhalb eines solchen Unterrichts selbstverständlich leitend. Für die Qualifizierung entsprechenden Lehrpersonals haben die staatlichen Universitäten mit zu sorgen. Der Staat kann zu interreligiösen bzw. interkulturellen Dialogen einladen und die Agenda entsprechender Veranstaltungen aktiv mitbestimmen. Das Thema Religion gehört außerdem in den weiteren Kontext der Integrationspolitik. Bei alledem muss indes klar bleiben, dass dem säkularen Rechtsstaat keine theologische Kompetenz zukommt. Die daraus resultierenden Grenzen staatlicher Interventionen einzuhalten, ist ein Gebot der Religionsfreiheit.
10.7
Zur Wächterfunktion der Religionsfreiheit innerhalb der Menschenrechte
Das Verhältnis von Menschenrechten und Religionen bleibt geprägt von Spannungen und möglichen Missverständnissen, die bis in die Gegenwart hinein zu kul-
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turkämpferischen Polarisierungen führen können. Konflikte rühren nicht zuletzt von einer oftmals irritierenden Nähe zwischen beiden her; denn sowohl die Menschenrechte als auch die Religionen mit ihrem Ethos beanspruchen normative Autorität zur Gestaltung des gesellschaftlichen Zusammenlebens. Harmonisierende Postulate, die davon ausgehen, dass beide Seiten in ihren Zielsetzungen »eigentlich« übereinstimmen, unterschätzen historische und konzeptionelle Differenzen – besonders deutlich etwa im Bereich der Gender-Gerechtigkeit. Nicht weniger problematisch wäre es jedoch, die bestehenden Differenzen in Richtung eines abstrakt-dichotomischen Nullsummenkonflikts zu überziehen, bei der eine Seite der anderen Seite am Ende des Tages schlicht weichen müsste. Unser Vorschlag geht dahin, einen praktischen Geltungsvorrang der Menschenrechte aus ihrer spezifischen Funktion zur normativen Gestaltung des irreversiblen gesellschaftlichen Pluralismus zu postulieren, der – mit Blick genau auf diese Funktion – von vornherein zugleich begrenzt ist. Autorität und Bescheidenheit gehören im Verständnis der Menschenrechte innerlich zusammen. Die Verbindung beider Komponenten hat nicht den Charakter eines bloßen »Kompromisses« – dergestalt, dass sich normativer Anspruch und Zurückhaltung auf halbem Wege treffen müssten. Vielmehr gründet die Autorität, die die Menschenrechte für sich in Anspruch nehmen, gerade darin, dass sie an Würde und Freiheit des Menschen Maß nehmen. Der gebotene Respekt vor Würde und Freiheit der Menschen impliziert zugleich aber genau jene weltanschauliche Selbstbescheidung, ohne die die Menschenrechte ihre freiheitssichernde Funktion verfehlen würden. Konflikte zwischen Menschenrechten und den Religionen sind von diesem Verständnis her keineswegs ausgeschlossen; sie lassen sich tatsächlich manchmal nicht vermeiden. Nur im Bewusstsein ihrer prinzipiellen Begrenztheit können die Menschenrechte ihre spezifische Autorität jedoch angemessen zur Geltung bringen und – auch gegenüber den Religionsgemeinschaften – glaubwürdig durchhalten. Zugleich dürften damit die Chancen dafür steigen, dass sich die Religionsgemeinschaften dem Freiheitsethos der Menschenrechte auch innerlich öffnen. Die Religionsfreiheit hat, über ihre unerlässliche praktische Schutzfunktion hinaus, somit eine kritische Wächterrolle im Gesamt der Menschenrechte inne. Etwaige Überziehungen des Menschenrechtsanspruchs lassen sich in ihrem Namen zurückweisen. Sowohl gegen falsche externe Zuschreibungen als auch gegen interne Missverständnisse gilt es klarzustellen, dass die Menschenrechte keine globale Humanitätsreligion oder weltweite Zivilreligion sind.55 Sie machen keinen allumfassenden, gleichsam weltanschaulichen Sinnanspruch geltend, und sie wollen 55
Deshalb geht auch der von Hopgood – in ironisierend polemischer Absicht – gewählte Begriff der »secular church« an der Sache der Menschenrechte völlig vorbei, vgl. Stephen Hopgood, The Endtimes of Human Rights, London/Ithaca: Cornell University Press, 2014, S. 63.
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auch nicht sämtliche Fragen des guten Lebens normieren. Vielmehr eröffnen sie einen Raum menschlicher Freiheit, den sie zwar normativ strukturieren, aber gerade nicht weltanschaulich okkupieren. Bei allem Enthusiasmus, den die Menschenrechtsidee aus guten Gründen auslösen kann, sollte sie deshalb nicht zum Gegenstand von Idolatrie werden, wie Michael Ignatieff einschärft: »It is not a creed; it is not a metaphysics. To make it so is to turn it into a species of idolatry: humanism worshipping itself.«56 Die Beschäftigung mit der Religionsfreiheit kann dazu beitragen, besser zu verstehen, warum die Menschenrechte ihre Autorität im Modus säkularen Freiheitsrechts entfalten.
56
Michael Ignatieff, Human Rights as Politics and Idolatry. Edited (tog. with a number of comments by different authors) and introduced by Amy Gutman, Princeton: Princeton University Press, 2001, S. 53.
11. Danksagung
Das vorliegende Buch ist nicht nur das Ergebnis unserer eigenen langjährigen Studien, Recherchen und Erfahrungen. Gelernt haben wir vor allem auch durch zahlreiche Begegnungen mit menschenrechtlich engagierten Frauen und Männern aus aller Welt, mit Opfern von Menschenrechtsverletzungen, mit Angehörigen unterschiedlicher Religions- und Weltanschauungsgemeinschaften, mit Politikerinnen und Politikern, mit Journalistinnen und Journalisten und mit sonstigen Menschen, die sich für das Thema der Religions- und Weltanschauungsfreiheit interessieren. Der Versuch, all jenen zu danken, die unsere Einschätzungen geprägt und uns beim Schreiben inspiriert haben, wäre schon deshalb schwierig durchzuführen, weil die Liste viel zu lang geraten würde. Gleichwohl möchten wir hier unseren besonderen Dank an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter des UN-Hochkommissariats für Menschenrechte aussprechen, die von 2010 bis 2016 das Mandat des Sonderberichterstatters über Religions- und Weltanschauungsfreiheit professionell unterstützt haben: Dolores Infante Cañibano, Nathalie Rondeux, Brenda Vukovic, Sharof Azizov, Eimear Farrell, Jon Izagirre Garcia, und vor allem Chian Yew Lim. Das vorliegende Buch gibt die Ansichten der beiden Autoren wieder und entspricht nicht notwendigerweise denen der Vereinten Nationen. Danken möchten wir auch den beiden Verlagen, die hinter diesem Buchprojekt stehen. Die englische Version ist under dem Titel »Religious Freedom Under Scrutiny« in der Reihe Pennsylvania Studies in Human Rights von University of Pennsylvania Press veröffentlicht worden. Wir freuen uns, dass die deutsche Fassung (die mit dem englischen Buch inhaltlich fast identisch ist) hiermit beim transcript Verlag erscheinen konnte. Zum Schluss möchten wir unseren Familien ganz herzlich danken für ihre unentwegte Unterstützung sowie ihr Verständnis während unseres Schreibens an diesem Buch.
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»Hope dies – Action begins«: Stimmen einer neuen Bewegung 2019, 96 S., kart. 7,99 € (DE), 978-3-8376-5070-9 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation E-Book: ISBN 978-3-8394-5070-3 EPUB: ISBN 978-3-7328-5070-9
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