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German Pages 272 [280] Year 2022
Michaela Thissen Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Edition Kulturwissenschaft | Band 279
Michaela Thissen (Dipl.-Soz.päd., Dipl.-Theol.), geb. 1969, arbeitet als Studiendirektorin i.K. am Erzbischöflichen Berufskolleg Köln.
Michaela Thissen
Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Zugl.: Bonn, Univ., Diss., 2021
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Inhalt
Danksagung .............................................................................. 7 Einleitung ................................................................................ 9 1. 1.1 1.2 1.3 1.4
Reisen und Bildung ................................................................. 17 Was ist eine Reise oder: Wer reist? ..................................................18 Bildung ............................................................................ 26 Bildung und Erfahrung .............................................................. 34 Fazit: Reisen kann bilden ............................................................ 41
2. 2.1 2.2 2.3
Reisen heute – Reisen als Massenphänomen ....................................... Reisepraxis der Deutschen seit 1945 ................................................ Exkurs: Reisen in der ehemaligen DDR............................................... Reisemotive ........................................................................
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Reiseführer und Bildung ........................................................... 75 Definition Reiseführer .............................................................. 76 3.1.1 Historie ..................................................................... 77 3.1.2 Aufgaben und Ziele ........................................................... 81 3.1.3 Merkmale.................................................................... 82 3.1.4 Standardisierung des touristischen Blicks .................................... 84 3.2 Bildungsanspruch in Reiseführern .................................................. 85 3.2.1 Auswahl der Reisedestinationen und Formate ................................ 89 3.2.2 Ergebnisse der Analyse ...................................................... 92 3.2.2.1 Adressatenorientierung ............................................. 93 3.2.2.2 Aufgaben und Ziele .................................................. 96 3.2.3 Inhalt: Verhaltensregeln...................................................... 99 3.2.4 Inhalt: Sehenswürdigkeiten ................................................. 100 3.2.4.1 Definition »Sehenswürdigkeit« ...................................... 101 3.2.4.2 Standardisierte Sehenswürdigkeiten ................................ 109 3.2.4.3 Bildungsanspruch und Sehenswürdigkeiten .......................... 111
3. 3.1
3.3 Exkurs: Fotografie und Wahrnehmung .............................................. 119 3.4 Kultur in Reiseführern – Kultur und (interkulturelle) Bildung ......................... 130 3.4.1 Was verstehen Reiseführer unter Kultur? .................................... 130 3.4.1.1 Reisekulturen ....................................................... 131 3.4.1.2 Urlaubskulturen .....................................................157 3.4.1.3 Authentische Kultur der Bevölkerungsgruppen des Gastlandes....... 165 3.4.1.4 Touristenkultur .....................................................172 3.4.2 Wie führen Reiseführer in die Kultur ein? .................................... 183 3.4.2.1 Sprachduktus ...................................................... 184 3.4.2.2 Darstellungen im Vergleich ......................................... 189 3.4.3 Reiseführer und (interkulturelle) Bildung ..................................... 191 3.4.3.1 Einseitige Motivation des Kontakts – Aufgabe: Erkennen des eigenen Ethnozentrismus....................................... 192 3.4.3.2 Kontakt als eine Möglichkeit – Aufgabe: gegen Kulturalisierung und Essentialisierung von Differenz ................ 195 3.4.3.3 Auseinandersetzung mit Fremdheit – Aufgabe: Umgehen mit der Befremdung ................................................ 196 3.4.3.4 Bekanntschaft auf Zeit – Aufgabe: gegen Diskriminierung das Fremde aushalten .............................................. 198 3.4.3.5 Sprachliche Verständigung – Aufgabe: Wahrnehmen................. 204 3.4.3.6 Dialog.............................................................. 208 3.5 Religion in Reiseführern – Religion und (interreligiöse) Bildung ...................... 209 3.5.1 Religionsdarstellungen in Reiseführern ...................................... 209 3.5.1.1 Was verstehen Reiseführer unter Religion?...........................210 3.5.1.2 Wie wird in die Religion(en) eingeführt? ..............................212 3.5.2 Reiseführer – eine Möglichkeit der interreligiösen Bildung? .................. 226 3.5.3 Interreligiöse Bildung und ihre Anschlussfähigkeit an Reiseführer – eine Aufforderung .......................................................... 230 4.
Reiseführer – illusorische Medien der Bildung .................................... 245
Literaturverzeichnis ................................................................... 255 Primärliteratur .......................................................................... 255 Sekundärliteratur ....................................................................... 255 Links ................................................................................... 269
Danksagung
An dieser Stelle möchte ich allen beteiligten Personen danken, die mich bei der Anfertigung meiner Dissertation unterstützt haben. Ohne ihre vielfältigen Hilfen, Anfragen und Bestätigungen wäre dies nicht möglich gewesen. Mein besonderer Dank gilt meinem Betreuer und Erstgutachter Professor Dr. Ladenthin für die stets engagierte, kritisch-konstruktive und ausgezeichnete Unterstützung bei der Umsetzung der gesamten Arbeit. Außerdem möchte ich mich bei meinem Zweitgutachter Professor Dr. Ode, dem Vorsitzenden der Prüfungskommission Professor Dr. Stomporowski und Professor Dr. Gelhard (Prüfer) bedanken. Ihr Interesse an diesem Thema hat mich bestärkt, und die Gespräche und Anfragen haben meinen Blick geschärft.
Einleitung
Kennen Sie Reiseführer in Buchform? Haben Sie sich schon einmal im Vorfeld einer Reise durch einen Reiseführer informiert und beraten lassen und/oder diesen während einer Reise als Orientierung und Ratgeber genutzt? Zu vermuten ist, dass im allgemeinen gesellschaftlichen Verständnis Reiseführer mit Wissen, Information, Lernen und Bildung assoziiert werden. Doch wie wird Bildung hier verstanden? Sind Reiseführer ein Medium der Bildung? Als Kennzeichen gilt, dass Reiseführer auf Reisen ausgelegt sind. Dabei kann sogar eine Interdependenz gelten. Dies zeigt bereits das Determinativkompositum »Reise-Führer«, eine Wortzusammensetzung, bei welcher der erste Teil »Reise« den zweiten Teil »Führer« in seiner Bedeutung näher bestimmt. Eine erste in dieser Untersuchung zu diskutierende These besagt, dass touristische Praktiken ihren Ausdruck in der Formulierung und Strukturierung von Reiseführern finden und zugleich von einer wechselseitigen Beeinflussung ausgegangen werden kann. Das Reisen als soziale Praxis ist in der deutschen Gesellschaft zu einer soziokulturellen Institution geworden, und der Tourismus wird auch als Spiegel der Gesellschaft bezeichnet. Die Vorstellungen von Erholung, Freizeit, Erlebnis, Achtsamkeit und Entschleunigung (als noch neue Phänomene) werden tourismusprägend. Gesellschaftliche Veränderungen und Tourismus bedingen einander und sie kennzeichnet derselbe prozessuale Charakter. Auch wenn sich das Reiseverhalten seit März 2020 durch die Pandemie gezwungenermaßen drastisch verändert hat und verändert werden musste, so bleibt die Sehnsucht zu reisen weiterhin bestehen. Spielräume wurden und werden gesucht, ausgelotet und genutzt. Dies gilt für Reisen in Deutschland und das Wiederentdecken von sogenannten Naherholungsgebieten, solange gewünschte Reisedestinationen im Ausland als Risikogebiete gelten, oder das Damoklesschwert dieser Deklaration über ihnen schwebt. Aufbau der Analyse: Die Ausgangsfrage dieser Arbeit ist, ob Reiseführer ein Medium der Bildung darstellen. Dabei ist zunächst zu klären und darzulegen, wie Bildung in dieser Arbeit verstanden wird, welche Definition von Bildung ihr zugrunde liegt. Diese Definition wird in den Kontext von Reisen gestellt, mit der Frage, ob Reisen
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bildet. So lautet die bestimmende These für diese Arbeit, die es zu verifizieren oder zu falsifizieren gilt: Reiseführer sind ein illusorisches Medium der Bildung. Nach der Klärung der Frage, was Reiseführer sind und darstellen gehe ich differenzierter auf die Besonderheiten der Explikation von »Verhaltensregeln« und »Sehenswürdigkeiten«, die in Reiseführern erläutert werden, ein. Bei der bildungstheoretischen Textanalyse wird in einem Dreischritt vorgegangen: Allgemeine Analysekriterien (Aufgaben und Ziele, Merkmale, Standardisierung des touristischen Blicks) von Reiseführern werden exemplarisch auf jeweils drei Formate für die Länder Marokko, Iran und Türkei angewandt. Von besonderem Interesse ist die vertiefte Diskussion der Darstellung von Kultur und Religion in den jeweiligen Formaten. Ausgehend von bildungstheoretischen Grundlegungen (Reisen und Bildung, Erfahrung als Grundbegriff), die im transzendentalkritischen Bildungsverständnis verortet sind, werden Fremddarstellungen und »Bilder der Fremde« analysiert. Hierzu nutze ich zur Erweiterung des Kriterienkatalogs Grundlagen der interkulturellen und interreligiösen Bildung und ergänze diese durch Aspekte der komparativen Theologie. Es gilt herrschende Diskurse aufzudecken: Zeigen sich kulturelle und religiöse Stereotypisierungen, gibt es semantische Verschiebungen und/oder werden vermeintliche Wahrheiten und Wirklichkeiten konstruiert und reproduziert? Wie bereits angeklungen ist, gehe ich davon aus, dass eine starke Kohärenz zwischen Reisen und Reiseführern besteht. Es ist daher notwendig, einen Blick auf die Historie des Reisens zu werfen. Hier beschränke ich mich auf die Zeitspanne nach 1945 bis heute. In den 1950er Jahren etablierten sich im Nachkriegsdeutschland die Reisemodelle Urlaubs-, Vergnügungs- und Erholungsreise. Mit dem beginnenden Massentourismus in den 1960er Jahren wurde die Unterbrechung des Alltags zunehmend zur sozialen Norm. Deutlich wurde hier bereits eine Verschiebung der Reisemotivation vom Reiseweg zum Reiseziel. Parallel zum sich stetig ausweitenden Reisevolumen wurden touristisch unbesetzte Räume immer seltener. Das Selbstverständnis der deutschen Bevölkerung war durch einen reisebedingten Dualismus geprägt: Durch eine Abwertung des Alltags formierte die Reisedestination zum Sehnsuchtsort. Parallel dazu fand eine zunehmende Standardisierung und Kommerzialisierung im Tourismussektor statt. Ende der 1960er Jahre kann bereits von einem touristischen Raum als Stereotyp gesprochen werden. Dies brachte in der folgenden Dekade eine Gegenbewegung hervor: die Suche nach unentdeckten und noch »neuen« Räumen. Es entstand ein neuer Exotismus. Kennzeichnend für diesen Exotismus war eine Pluralität von Wünschen auf der Nachfrageseite, der eine Differenzierung der Angebotsseite folgte. Wichtig schien es den Reisenden zu sein, möglichst viele Erfahrungsmodi zu inkludieren. Durch die Prozesse der Digi-
Einleitung
talisierung und Globalisierung setzte eine Diversifizierung ein. Dominant wurden aktiv-erlebnisorientierte Motive hinter passiv-regenerativen; die Erlebnisorientierung wurde zum bestimmenden Faktor. Dabei entwickelte sich ein touristischer Leitsinn, der durchaus in früheren Reiseperioden und -formen enthalten war, zum neuen Maßstab: Geselligkeit, Vergnügen und Erlebnis. Heute zeigen selbstbezogene Urlaubsmotive eine hohe Relevanz, danach erst folgen Motive, die sich auf die Urlaubsdestination beziehen. Dies kennzeichnet Reisen als ein Phänomen mit Selbst- und Weltbezug. Wie an unterschiedlichen Untersuchungen gezeigt werden kann, hat in den letzten Jahren eine »Motivationsinflation« stattgefunden, Urlauber zeigen vermehrt ein multioptionales Verhalten. Unterschiedliche Mentalitäten (oder auch Lebensstilkollektive), gesellschaftliche Voraussetzungen und Reisegewohnheiten fanden und finden ihren Widerhall in den bereits zu Beginn adressatenorientierten Reiseführern. Besonders das Bedienen von Reisemotivationen, -wünschen und -imaginationen ist dabei kennzeichnend. Ausgehend von der These, dass Reisen Bildungspotential bereithält, werde ich der Frage nachgehen, wie Bildung in Reiseführen verstanden wird. Es ist zu unterscheiden, ob Bildung instrumentalisiert wird, so dass das Gelingen einer Reise oberste Priorität hat, oder ob hier ein auffordernder Charakter verfolgt wird, damit Antizipationen des besseren Reisens als Ausschnitt des besseren Lebens gesehen werden. Das Reisen als Gestaltung eines leeren Raumes als Valenzraum impliziert einen Aufforderungscharakter, in dem sich Reisende als Subjekte selbst entwerfen müssen. Bildung geschieht dann – in der Erfahrung –, wo Subjekte einen Bruch ihrer Subjektivität erleben und einen Transformationsvorgang durchleben. Reiseführer sind indes nicht nur der »Erziehungsliteratur« (Lehr- und Schulbuch) zuzuordnen, zugleich zeigen sich in ihnen vielfältige Möglichkeiten auf eine kulturelle (und religiöse) Annäherung hinzuwirken – ausgehend von der Intention der AutorInnen1 (für die Destination zu werben) und der Haltung der Rezipienten (sich auf den Weg zu machen). Sind vielleicht der Anspruch und das Ziel einer Völkerverständigung zu überbordend, so kann zumindest ein Prozess der »aktualisierten Akzeptanz« angestrebt werden. 1
Anmerkungen für die gesamte Arbeit: Diese Arbeit erhebt den Anspruch einer gendergerechten Sprache. Gerade für die Analyse von vermuteten stereotypischen Rollenbildern bedarf es in der Untersuchung des gendersensiblen Selbstanspruchs. Dabei habe ich mich wegen einer angemessenen Lesart gegen eine ausformulierte Doppelnennung entschieden und favorisiere die Doppelnennung mit Schrägstrich. Durchgängig habe ich mich bemüht geschlechterneutrale Formulierungen zu verwenden. Mir ist allerdings bewusst, dass dies nicht in Gänze erfolgt ist, und so bleibt mir an dieser Stelle zu betonen: Wichtig ist mir der Lesefluss und die Verständlichkeit der Sätze, dazu bediene ich mich des Gender-Disclaimer – die gewählte männliche Form bezieht sich immer zugleich auf weibliche, männliche und anderweitige Geschlechteridentitäten.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Eine Möglichkeit wäre es dabei, Lernen »als Zurkenntnisnahme des Fremden mit anschließender Bewertung an einer faktisch dominanten oder kulturgültig angesehen Norm«2 zu verstehen. Dann würde das Lernen allerdings nur zwischen Anpassung und Ablehnung oszillieren. Um von Bildung sprechen zu können, muss zunächst die Beibehaltung der Differenz ausgehalten werden, bevor auf mögliche Gemeinsamkeiten geschaut wird. Durch die Erfahrung des Fremden wird bedeutsames Lernen möglich, indem das analogische Verhältnis eine Verhältnisbestimmung auslöst. »Die Wahrnehmung des Fremden differenziert also die Erforschung und Selbstvergewisserung des Eigenen.«3 Ladenthin formuliert dementsprechend für Bildung, dass diese in einer paradoxen Situation stattfindet, in der der sich Bildende andere Menschen als auf Geltung zielende Herausforderung für sich begreift, aber ihnen nicht gleich werden soll.«4 Zur Einführung in die Spezifika von Reiseführern erfolgt ein Blick in das inhaltliche Anfangskapitel aktueller Reiseführer der Länder Iran, Marokko und Türkei. Hierbei offenbart sich ein heterogenes Bild: »Iran – ein Kernland der Menschheitsgeschichte, Städtenamen wie Isfahan und Shiraz beschwören Bilder von Märchenstädten aus 1001 Nacht, und Namen wie Hafis, Saadi oder Avicenna ein beispielloses geistiges Erbe. Hinzu kommen grandiose Landschaften, Kunstschätze und archäologische Stätten sonder Zahl. Der Iran feiert nach langen Jahren der politischen Ächtung seine Wiederentdeckung als Herzland des Orients.« (DUMONT)5 »›Marokko, sagt man, ist ein Land der Gegensätze, ein Einfallstor nach Afrika und ein Fenster nach Europa […] ein Ort der Begegnung und des Dialogs zwischen den Kulturen und Religionen […]. Man sagt vieles, und alles ist wahr, aber doch viel zu allgemein, um dieses Land zu beschreiben.‹ So charakterisiert Tahar Ben Jeloun, Marokkos bedeutender Schriftsteller, seine Heimat. Und wie recht er hat! Marokko ist ein Land, das man nie ›auslernen‹ kann. Denn es steckt voller Über-
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Ladenthin, Volker, Wie und was lernt man bei religiöser Interaktion? Bildungstheoretische Überlegungen für multikonfessionelle Gesellschaften. In: Meyer-Blanck, Michael; Hasselhoff, Görge K. (Hg.), Krieg der Zeichen? Zur Interaktion von Religion, Politik und Kultur. (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft, Bd. 1, hg. von Gerhards, Albert; Hutter, Manfred; Kinzig, Wolfram; Mayer, Tilman; Schmoeckel, Mathias) Würzburg 2006; 239268; 244. Anmerkung zur Zitierweise: Primär- und Sekundärliteratur werden bei der ersten Nennung vollständig zitiert, alle weiteren Nennungen erfolgen als Kurztitel in der Fußnote. Anmerkung zu den Zitaten: Die Zitate übernehmen die Rechtschreibung des Originals. Ebd.; 267. Ebd; 263. Weiss, Walter M., Iran. DUMONT Reisehandbuch. Ostfildern 2018; 8. [DUMONT, Iran.]
Einleitung
raschungen und Gegensätze, die sich dem Reisenden auf die unterschiedlichste Weise präsentieren.« (STEFAN LOOSE)6 »ENTDECKEN SIE DIE TÜRKEI! Ein Land elfmal so groß wie Bayern, ein wechselhaftes Land, ein Land voller Schönheit und Widersprüche7 : Die Türkei zieht Besucher seit Jahrhunderten in ihren Bann. Ihre geografische Lage zwischen Europa, Asien und dem afrikanischen Kontinent prägt ihren reizvollen Charakter ebenso wie die Probleme, mit denen das Land immer wieder zu kämpfen hat. Eine junge, aufstrebende Bevölkerung, endlose Debatten über die Moderne und den Islam und ein ehrgeiziger Aufschwung charakterisieren das Land im 21. Jahrhundert.« (MARCOPOLO)8 Startet der Reiseführer DUMONT für das Land Iran mit vermuteten Bildern – genannt werden die Märchenstädte aus 1001 Nacht als Inbegriff von Exotik –, so wird weiterführend, basierend auf vorausgesetzten Kenntnissen das geistige Erbe betont (Hafis – einer der bekanntesten persischen Dichter und Mystiker, Saadi – ebenfalls ein herausragender persischer Dichter und Mystiker und Avicenna – ein Universalgelehrter: persischer Arzt, Naturwissenschaftler, Philosoph, Dichter, sunnitisch-hanafitisch ausgebildeter Jurist, Mathematiker, Astronom, Alchemist und Musiktheoretiker sowie Politiker). Hierbei wird eine Adressatenbezogenheit deutlich, die von einer gebildeten oder zumindest (am kulturellen Erbe) interessierten Leserschaft ausgeht. An dieser einleitenden Passage zeigt sich bereits ihr suggestiver und werbender Charakter, indem Besonderheiten des Fremden positiv genannt werden (grandiose Landschaften, Vielzahl von Kunstschätzen und archäologischen Stätten). Zudem wird für Iran das Bild des Orients als »Herzland« bemüht. An dieser Stelle sei bereits darauf verwiesen, dass es sich hierbei um ein Konstrukt handelt, welches ambivalent zur Anschauung kommt, indem es bereits als Fiktion eine Rückführung in die Kultur erfahren hat und sich zum konstitutiven Teil etablierte. Gleichzeitig werden Bilder des Fremden (Sehnsuchtsbild Orient, romantische Verklärungen), die beim Rezipienten vermutet werden, eingebunden und in Aussicht gestellt. Aus einer Autoperspektive führt der STEFAN LOOSE Marokko Reiseführer in die Reisedestination ein. Mit einem Zitat von Tahar Ben Jeloum thematisiert dieser vorzufindende Gegensätze und lädt zu Begegnungen und Dialog ein. Gleichzeitig wird auf die Vielfalt und Unerreichbarkeit hingewiesen, dadurch wird in
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Brunswig-Ibrahim, Muriel, Marokko. STEFAN LOOSE Travel Handbücher. Ostfildern 2017; 23. [STEFAN LOOSE, Marokko.] Im Original: ein Land voller Schönheit und Widersprüche, kursiv und farbig. Zaptcioglu, Dilek; Gottschlich, Jürgen, Türkei. MARCOPOLO. Ostfildern 16. Aufl. 2016; 13. [MARCOPOLO, Türkei.]
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
der Aufforderung Lust und Interesse (»voller Überraschungen«) geweckt, sich dieser zu stellen. Diese persuasive Herangehensweise klassifiziert das Reiseziel als lohnenswert. Implizit wird dabei Bezug genommen auf vermutete Interessen und Reisemotive der Rezipienten (Individualreisende des »Entdeckertyps«), die lernen wollen. Im dritten hier aufgeführten Einleitungstext aus dem MARCOPOLO Reiseführer Türkei zeigt sich direkt eine Aufforderung zum Tätigwerden/zum Reisen: Das Land bietet Dinge, die es zu entdecken gilt. Die Darstellung startet mit einer quantitativen Analogie zu Bayern, die die Vorstellung lenkt, anschließend folgt die Nennung von vorzufindenden Kontrasten (Schönheit – Widersprüche, reizvoller Charakter – Probleme, Moderne – Islam). Wird zum einen eine Vielfalt zwischen zwei Polen deutlich, so kann zum anderen beim Gegensatzpaar Moderne-Islam bereits eine normative Bewertung als Klischee (oder Stereotyp) vermutet werden. Die vorliegende Studie beruht auf der Prämisse, dass sich die Bildungsmöglichkeiten einer Reise und die Nutzung von Reiseführern und deren implizite Bildungsmöglichkeiten dynamisch bedingen. Bei Reiseführern sind eine Adressaten-, Zweck- und Zielorientierung konstitutiv. Würden Reiseführer allerdings darin verhaftet bleiben, so könnte der Rezipient zwar notwendiges Wissen zur Erreichung seiner touristischen (physischen und psychischen) Ziele erlangen, dieses an der Nützlichkeit und Sinnhaftigkeit messen und bewerten, jedoch bedarf es – um von Bildung sprechen zu können – der Handlungsfähigkeit in Sittlichkeit, d.h. es geht darum, gut zu handeln und sinnvoll zu leben9 ; in diesem Sinne ist ein angemessenes Reisen gefordert. »Zwar kann Bildung selbst nicht operationalisiert und gemessen werden, wohl aber viele Bereiche jenes Wissens und Könnens, das man beherrschen muß, um in einer gegebenen Umwelt angemessen, sittlich und sinnvoll handeln zu können.«10 Als Untersuchungsgegenstand wurden neun Reiseführerformate zu den Ländern Iran, Marokko und Türkei ausgewählt. Die Auswahl ist durch die Kriterien möglichst große Fremdheit (1), Aktualität (2) und Adressatenbezug (3) bestimmt. Bildungstheoretisch bedeutsam ist die Erfahrung von Differenz; so gehe ich davon aus, dass noch als unbekannt vermutete Reisedestinationen Irritationen im Sinne von Neuem, Fremden (= Unbekanntem) bereithalten, die einer Vermittlung bedürfen, damit eine Erkenntnis erlangt werden kann. Reiseführer als Gebrauchsliteratur, die zunächst als Bildungsgut verstanden werden – dies gilt es genauer zu analysieren und zu diskutieren – müssen sich daran messen lassen, ob in ihnen Lehren (als Unterrichtung, Unterweisung, Fürsorge) als verbindliche Auffor-
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Vgl. Ladenthin, Volker (Hg.), Philosophie der Bildung. Eine Zeitreise von den Vorsokratikern bis zur Postmoderne. Bonn 2. Aufl. 2012; 15. Ebd.; 24.
Einleitung
derung zu verbindlicher Selbsttätigkeit verstanden wird.11 Auch der Blick auf die Adressaten ist entscheidend für die Bildungsfrage: In welchem Kontext findet Reisen statt? Geht es um die Entdeckung neuer Gebiete als faktische Wirklichkeitserfahrung und einer Anleitung zur Umweltaneignung und -auseinandersetzung? Oder sollen Vorstellungen bestätigt und Vorurteile verfestigt werden? Ausgangsgedanke ist, dass Reisen einen Zustand erhöhter Aufmerksamkeit (Heiser) bedingt, dabei bleibt jedoch die Frage: Wird »das Fremde« zum Genussmittel, oder wird die Werthaftigkeit von Situationen erfasst, so dass eine Bedeutsamkeit der Werte erkannt werden kann? Diese Geltungsansprüche können in sachlicher und sittlicher Hinsicht gestellt werden, hierdurch versteht sich Bildung als Urteilsform bei der Auseinandersetzung mit der Welt als regulative Idee (Ladenthin). Davon abzugrenzen ist Reisen konsumptives Erleben, indem das Fremde zur Erreichung subjektiver touristischer Ziele instrumentalisiert wird und/oder vorherige Selbst- und Fremdbilder unreflektiert reproduziert werden. Für diesen Typus schreibt Steinfeld: »Eher also, als dass man reiste, um sich zu bilden, reist man, weil man der höheren Kultur aus dem Weg gehen will, möglicherweise unter dem Vorwand, seinen Horizont erweitern zu wollen. Der Tempel in Kambodscha ist mehr Event als Vergangenheit.«12 Zu diskutieren sind folgende Fragen: Ermöglichen oder verhindern Reiseführer Berührungen zwischen den Beteiligten im Tourismus?13 Zeigt sich hier ein Konservatismus, indem bestehende Werte und Wahrnehmungsmuster bekräftigt werden? Werden Erlebniswelten regressiv zur Anschauung gebracht? Wird durch Selektion Projektion betrieben? Oder wird die Aufmerksamkeit hin zu widerständigen Erfahrungen gefördert? Erfolgt das Lehren als Unterrichtung und Unterweisung als verbindliche Aufforderung zu verbindlicher Selbsttätigkeit? Wird ein heuristisches Verständnis für kulturelle Überschneidungssituationen angestrebt? Wird Kultur in dem Sinne dargestellt, dass sie nicht bewahrt wird, sondern sich bewähren muss? Es geht im Kern um die Analyse und Diskussion, mit welchem Impetus, mit welchem Anspruch und zu welchem Ziel die Reiseführer von den AutorInnen verfasst wurden und ob und wie sie bildungstheoretisch verortet werden können.
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Vgl. ebd.; 208. Steinfeld, Thomas, Das Einzigkeitsgefühl. Über die Lust an der Reise, über alle Ziele hinaus. In: Ders. (Hg.), Die Zukunft des Reisens. Frankfurt a.M. 2012; 42-57; 50. Vgl. Steinecke, Albrecht, Lernfeld Tourismus – Perspektiven der Pädagogik im Tourismus der 90er Jahre. In: Ders. (Hg.), Lernen. Auf Reisen? Bildungs- und Lernchancen im Tourismus der 90er Jahre. Bielefeld 1990; 7-20; 18.
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1. Reisen und Bildung
Vor einer bildungstheoretischen Analyse von aktuellen Reiseführern muss der Fokus generell auf die Bildungsmöglichkeiten einer Reise gelenkt werden. Leitend sind die Fragen, ob sachkundig in die Reisedestination eingeführt und ein angemessenes Reisen vorbereitet wird, dass sich in einem verantwortungsvollen und sinnhaften Handeln konkretisiert. Es geht im Kern um die Herausbildung der Fähigkeit zur Verantwortungsübernahme.1 Reiseführer sind literarisch dem Bereich der Gebrauchstexte zuzurechnen, da der Gegenstand ihrer Darstellung der Realität entnommen ist. Diese Realität wird systematisch reproduziert2 , so dass dadurch eine Reise vorbereitet, begleitet, strukturiert, fragmentiert und »geführt« werden kann. Zwar können auch Sachtexte (ohne Handlungsbezug) auf ihre Bildungsrelevanz hin untersucht werden, jedoch liegt bei der Gattung Reiseführer eine deutliche Zweck-Mittel Relation vor. In der Regel werden Reiseführer im Kontext einer realen Reise bzw. im Zuge ihrer Vorbereitung genutzt. Neben einer Aufteilung in Orientierungswissen und Handlungsanweisungen – wie noch eingehender zu erläutern sein wird – beinhalten Reiseführer apodemische Anleitungen.3 Sie sind »Führer« in einer Reisedestination, die gekennzeichnet ist durch Fremdes und Unbekanntes, indem sie ein Wahrnehmungsmanagement für die »wertvolle« Zeit des Reisens im Urlaub (als dienst- und arbeitsfreie Zeit) übernehmen. So heißt es zum Beispiel im BAEDEKER Türkei am Anfang: »Wir haben Ihnen zusammengestellt, was Sie auf keinen Fall versäumen sollten«4 und auf der letzten Seite: »Er wird Sie zuverlässig auf Ihrer Reise begleiten und Sie nicht im Stich lassen. Natürlich beschreibt er die wichtigen Sehenswürdigkeiten; aber er empfiehlt auch die schönsten Strände, dazu Hotels für den großen und kleinen Geldbeutel,
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Vgl. Ladenthin, Volker, Wozu religiöse Bildung heute? Sieben Versuche, an der Endlichkeit zu zweifeln. Würzburg 2014; 11. Dies wird an späterer Stelle noch diskutiert. Vgl. Grosemann, Sabine, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung. Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern. Münster, New York 1995 (Internationale Hochschulschriften, Bd. 151); 62f. Vgl. BAEDEKER Allianz Reiseführer, Türkei. Mair Dumont, Ostfildern 8. Aufl. 2006; 2 und 672. [BAEDEKER, Türkei]
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
gibt Tipps für Restaurants, Shopping und für vieles mehr, was eine Reise zum Erlebnis macht.« Ein zweites Beispiel aus einem Iran-Reiseführer nennt programmatisch auf dem Cover »Man sieht nur, was man weiß« und startet den Einleitungstext mit: »Wahrscheinlich gibt es kaum ein Land auf der Welt, bei dem die Außenwahrnehmung und Erwartungshaltung von Neuankömmlingen so krass mit den Eindrücken und Urteilen kontrastiert, die man am Ende einer Reise mit nach Hause nimmt.«5 Auch auf veränderte und sich im Wandel befindende Reiseformen wird eingegangen, so steht im Vorwort des Reiseführers »Iran. Islamische Republik und jahrtausendealte Kultur«: »Wegen sich verändernder Reisetrends wird in diesem Buch auch auf den sich entwickelnden Individualtourismus eingegangen«6 . Durch die starke Kohärenz zwischen Reiseführer und Reise ist es geboten, die Reisemodalitäten in den letzten Jahrzehnten darzustellen und zu erläutern, wie sie sich im historischen Kontext der Globalisierung verändert haben. Die Grundthese, welche es näher auszuführen und zu diskutieren gilt, lautet: Reiseführer können bildungstheoretisch in ihrer Bedeutsamkeit nur im Kontext von Reiseformen und Reiseimaginationen verstanden werden. Schrieb schon Theodor Fontane im 19. Jahrhundert »Alle Welt reist«, so ist die Historie der Reisebewegungen im 20. Jahrhundert in diesem Zusammenhang von besonderem Interesse. Nachfolgend erläutere ich zunächst den Reise-Begriff, beleuchte sodann die unterschiedlichen Formen des Reisens, um abschließend die Frage zu behandeln, ob Reisen bildet.
1.1
Was ist eine Reise oder: Wer reist?
Betrachtet man die beiden Begriffe »Reisender« und »Tourist« und versucht diese zu definieren, so wird oft immanent eine Bewertung vorgenommen. Außerhalb der Tourismusforschung ist der Begriff des »Touristen« fast immer negativ konnotiert.7 Zeichnet sich der Reisende durch eine Offenheit der Wahrnehmung und eines Sich-einlassen-Wollens auf Neues und Unbekanntes aus, so wird der Tourist häufig mit Konsum und Oberflächlichkeit in Verbindung gebracht. Eine weitere,
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Vgl. Weiss, Walter M., Iran. DUMONT Reise-Handbuch. Ostfildern 2018; Rückumschlag/ Cover; 8. [DUMONT, Iran] Vgl. Kerber, Peter, Iran. Islamische Republik und jahrtausendealte Kultur. TRESCHER Verlag, Berlin 4. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2015; 13. [TRESCHER, Iran] Vgl. Steinecke, Albrecht, Irrtum 1: Touristen sind immer die Anderen. In: Ders., Populäre Irrtümer über Reisen und Tourismus. München 2010; 1-13.
1. Reisen und Bildung
nicht so deutlich wertende, Unterscheidung nimmt bereits Lutz in den 1990er Jahren vor, indem er das Reisen zu einer elementaren Verhaltensform des Menschen deklariert und es als einen Teil der Kultur beschreibt. Daneben steht der Tourismus als eine spezifische Form des Reisens: Während das »Reisen« aber generell zweckorientiert geschieht, unterscheidet sich der Tourismus hiervon durch seine grundsätzliche Zweckfreiheit.8 Doch nicht nur die Zweckbestimmung kann als Trennlinie fungieren, auch die Reiseformen lassen sich differenzieren: So gibt es die Pilgerreise, die Kavalierstour, die Entdeckungsreise, die Bildungsreise oder die Forschungsreise, um nur einige zu nennen. War es lange üblich, dem Touristen die Motive Erholung, Vergnügen, Freizeit und Urlaub zuzuweisen im Unterschied zur anthropologischen Zuschreibung vom homo viator, so wurde dieser normative Argumentationszusammenhang mittlerweile überwiegend aufgelöst.9 Eine weitere Möglichkeit der Unterscheidung wäre die Trias Fremde, Reisende und Freizeit. »Der Tourist wäre demnach ein fremder Reisender in seiner Freizeit.«10 Lutz nennt als Kennzeichen des Tourismus die »interethnische Situation«. Diese Situation kann aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet werden, so wären da z.B. die räumliche, zeitliche, kulturelle, biografische und soziale Perspektive zu nennen. Darauf wird an anderer Stelle ausführlicher eingegangen (vgl. »Touristenkultur«). Wie bereits angeklungen, gilt es die Begriffe »Arbeit« und »Freizeit« genauer in den Blick zu nehmen. Anknüpfend an die Form der Freizeit als möglichem Gegensatz zur Arbeit entfaltet sich so ein weiterer Erläuterungsraum. Eine in der Geschichte neue Auseinandersetzung mit der Zeit als Freizeit setzte soziologisch mit der gesellschaftlichen Kennzeichnung der »Erlebnisgesellschaft« (Schulze) ein. Lebensstil und Freizeitstil sind nicht mehr trennscharf, sondern bedingen einander und sind identitätsstiftend und -fördernd. Eine zunehmende Freizeitorientierung kann als Vehikel persönlicher Identität (Horst W. Opaschowski)11 bezeichnet werden. Gerhard Schulze geht sogar so weit, dass er »Urlaub als radikale Sinnsuche« begreift. Die sogenannte freie Zeit wird unter den Anspruch des Erlebnisses
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Vgl. Lutz, Ronald, Der subjektive Faktor. Ansätze einer Anthropologie des Reisens. In: Kramer, Dieter; Lutz, Ronald (Hg.), Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung. Frankfurt 1992; 229-273; 230. Vgl. Biernat, Ulla, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«. Zur deutschsprachigen Reiseliteratur nach 1945. Würzburg 2004; 12. Lutz, Der subjektive Faktor; 231. Vgl. Opaschowsky, Horst W., Lebensstile. In: Hahn, Heinz; Kagelmann, Jürgen H. (Hg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch der Tourismuswissenschaft. München 1993; 175-179. Aktualisiert und bestätigt in Opaschowsky, Horst W., Tourismus. Eine systematische Einführung. Opladen 3. aktualisierte und erweiterte Aufl. 2002; 279-287.
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gestellt, welches wiederum antagonistische Züge als Kennzeichen aufweist. »In anthropologischer Sicht ist Tourismus in das Feld der Entlastungsphänomene einzuordnen. Als entlastet können menschliche Verhaltensweisen gelten, wenn sie für ihren Vollzug seitens der Akteure keinen vollen Ernst und kein letztes Engagement einfordern.«12 Erlebnisse können dabei sowohl Kontrasterfahrungen beinhalten, als auch Tradition und Alltagserfahrungen bestätigen. Eine strikte Abgrenzung zwischen Alltag und Urlaub ist nicht mehr in den pluralisierten Formen der Freizeitgestaltung aufrecht zu erhalten. Urlaub als Gegenwelt zum Alltag ist nur eine mögliche Denkvariante. So müssen die Begriffe »Freizeit«, »Arbeit«, »Urlaub« und »Alltag« immer kontextuell – entweder abgrenzend, überlappend, sich ergänzend oder auch vereinnahmend – unterschieden werden. Doch wie steht es nun mit der zuvor avisierten Abgrenzung der Begriffe Tourist und Reisender? In Anlehnung an die aktuelle Tourismusforschung13 muss der Hiatus zwischen dem »richtigen Reisen« und dem Tourismus aufgehoben werden hin zur Anerkennung des Tourismus als einer kulturellen Reisepraxis der Gegenwart. In allen Auffassungen von Tourismus ist der Mensch die Konstante, »die einer gewandelten Welt gegenübersteht. Die Verschiedenheit der Auffassung von Tourismus ist so letztlich eine Verschiedenheit der Auffassungen über die unveränderlich-konkreten, die ›wahren‹ Bedürfnisse und Antriebe ›des‹ Menschen.«14 Gewarnt werden muss an dieser Stelle vor einem ahistorischen Reduktionismus, denn der Mensch ist als Wesen in einer Kultur beheimatet und zugleich kulturschaffend tätig. Nur so sind der reisende Mensch und Tourist als Kulturwesen im Sinne Gehlens immer historisch bedingt zu sehen. Tourismus ist somit eine Form der Umweltauseinandersetzung und der Umweltaneignung.15 Während Kramer eher den Blick auf das soziale Phänomen im Kontext der kulturellen Erschließung richtet, legt Gyr den Fokus auf das kulturelle Handeln der Touristen. Bei der Bezeichnung des Reisens als sozialem Phänomen spricht Kramer von »verkehrten Welten«, in die Wünsche und verdeckte Bedürfnisse imaginiert werden. Menschen reisen und werden zu Touristen, indem sie u.a. ihre Standards
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Sloterdijk, Peter, Tractatus philosophico – touristicus. In: Pechlaner, Harald; Volgger, Michael (Hg.), Die Gesellschaft auf Reisen – Eine Reise in die Gesellschaft. Wiesbaden 2017; 11-21; 12. Vgl. z.B. Rolshoven, Johanna, Mobilitäten. Für einen Paradigmenwechsel in der Tourismusforschung. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung 2014. Mobilitäten! Berlin 2014; 11-24. Zur aktuellen Auseinandersetzung mit »Tourismuswissenschaft« siehe: Pechlaner, Harald; Zehrer Anita (Hg.), Tourismus und Wissenschaft. Wirtschaftliche, politische und gesellschaftliche Perspektiven (Schriften zu Tourismus und Freizeit Bd. 21). Berlin 2017. Spode, Hasso, »Reif für die Insel«. Prolegomena zu einer historischen Anthropologie des Tourismus. In: Cantauw, Christiane (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag. Münster, New York 1995; 105-123; 110. Vgl. Lutz, Der subjektive Faktor; 232.
1. Reisen und Bildung
aufheben und Rollen und Konventionen wechseln. Projektionen und Träume erlangen sogar temporäre Authentizität.16 Tourismus ist zu einem integralen Teil der Sozialkultur geworden.17 Dies ist zudem kein einmaliges Ereignis, sondern findet »in der breiten Masse der Gesellschaft« periodisch statt. Wie an anderer Stelle gezeigt wird, ist der deutschen Bevölkerung der Jahresurlaub ein liebgewordenes Lebenselement, das sowohl statussichernd und -erhaltend, als auch persönlichkeitsformend und als Notwendigkeit zur Dichotomie der Arbeit und Arbeitsbelastung erscheint. Lutz geht sogar in den 1990er Jahren so weit, dass er folgenden Schluss zieht: »Neben einer mittlerweile rigorosen Individualisierung der Reisemotive scheint […] genau dies das Essentielle des modernen Tourismus zu sein; er gewinnt seine Funktion, seine Bedeutung und seinen Sinn erst in der Konstruktion lebensweltlicher Gewißheiten und innerhalb des Ablaufprogramms von vermehrt der Subjektivierung unterworfenen Biografien; nicht die Südsee oder die Türkei ist das Ziel, allenfalls die Projektionsfläche von unterdrückten Sehnsüchten, sondern ein wieder lebbarer Alltag.«18 Eine derartige Verkürzung bzw. Zuspitzung gilt es jedoch zu vermeiden und der Pluralität, sowohl der der Individuen als auch der zugrundeliegenden – teils sich in rasanter zeitlicher Abfolge verändernden – Reisemotive, Rechnung zu tragen. Deutlich wird hierin jedoch, dass die zuvor formulierte Dualität von Zweckfreiheit (Tourismus) und Zweckorientierung (Reise) für den Tourismus nicht mehr aufrechterhalten werden kann. Auch eine Erholungsund Vergnügungsreise kann Funktionen zur Struktur- und Organisationsstabilisierung von Gesellschaften erfüllen. In einem zweiten Schritt wendet sich der Blick von gesellschaftlichen Strukturen zu individuellen Bedingungen der touristisch reisenden Person mit der Frage nach ihrem touristischen Verhalten. Gyr formulierte – auch bereits in den 1990er Jahren – vier Thesen zur Beschreibung dieses touristischen Verhaltens, die mittlerweile als »Klassiker« in der Tourismusforschung gesehen, bestätigt, aber auch in Teilen revidiert werden: Die erste und komplexeste lautet, dass touristisches Verhalten »stark ritualisiert und durch ausgeprägten Rollen- und Rhythmuswechsel geprägt« ist.19 Als ein Kennzeichnen dieses Wechsels sieht er die Verwendung und Nutzung einer Kamera. Hierdurch werde eine Distanz zum Objekt und zur Unsicherheit in einem 16 17
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Vgl. ebd.; 233. Vgl. Kramer, Dieter, Tourismus in der Konsumgesellschaft. In: Pechlaner, Harald; Volgger, Michael (Hg.), Die Gesellschaft auf Reisen – Eine Reise in die Gesellschaft. Wiesbaden 2017; 239-267; 247. Lutz, Ronald, Der subjektive Faktor. Ansätze einer Anthropologie des Reisens. In: Kramer, Dieter; Lutz, Ronald (Hg.), Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung. Frankfurt 1992; 229-273; 245. Gyr, Ueli, Touristenkultur und Reisealltag. Volkskundlicher Nachholbedarf in der Tourismusforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 84 (2/1988) 224-239; 224.
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fremden Milieu geschaffen. Gyr spricht hier von einer »präventiven Verhaltenssicherung«. Auf die Nutzung von Kameras (und Handys) und die Funktionen des Fotografierens wird im Kontext der Sehenswürdigkeiten detaillierter eingegangen. Für das touristische Verhalten gilt analog zum allgemeinen gesellschaftlichen Verhalten, dass sich die Nutzungsmodalitäten und Veröffentlichungsformen in den letzten 25 Jahren extrem verändert haben. Über das Handy (bzw. digitale Medien) wird mittels unterschiedlicher Aktivitäten eine zweite virtuelle Wirklichkeit produziert, zum Beispiel durch Selfie-Aufnahmen oder ständiges Posten in sozialen Netzwerken und unterschiedlichen Foren (WhatsApp, Twitter, Instagram, Facebook etc.). Die zweite These von Gyr nimmt die touristische Wahrnehmung von Fremdkulturellem in den Blick und beschreibt diese als selektiv standardisiert.20 Durch eine bestimmte Erwartungshaltung werde der Wahrnehmungshorizont eingeengt, und dadurch wird eine überschaubare Ordnung hergestellt. Es sei an dieser Stelle bereits angemerkt, dass diese These oft hinterfragt und kritisiert wird. Dazu an anderer Stelle im Zusammenhang mit interkulturellen Themen und Fremdwahrnehmung mehr. Die touristische Aneignung erfolge – so Gyr in seiner dritten These – vorwiegend über einen »ritualisierten Symbolkonsum«. »Unter ritualisiertem Symbolkonsum ist auch das Absolvieren eines gewissen touristischen Pflichtprogramms zu verstehen. Das Sightseeing an die einschlägigen Kultorte wie das sprichwörtliche Europa in drei Tagen von Pisa über den Eiffelturm nach Neuschwanstein.«21 Die letzte und vierte These Gyrs lautet, dass der touristische Erfahrungs- und Erlebniskonsum die Alltagsidentität erweitere.22 In der Weitergabe des Erlebten erfolgt eine Reflexion, die die neuen Erfahrungen und Erlebnisse in den eigenen Gesamterlebnisraum integriert und diesen dadurch aktiv erweitert, was letztlich zu einer Veränderung der Identität führt. Zudem sind die Reproduktionsformen in Bild und Film in unserer Gesellschaft statusgebend in ihrem hohen Ausstellungswert. Fotografieren und Filmen sind Hauptbeschäftigungen im touristischen Alltag. Diese Tätigkeiten und der sich in den Alltag übertragende Wirkungsgrad bestimmen u.a. die Qualität des Reiseerlebnisses und die Bewertung der neuen Erfahrungen. Tourismus wird oftmals mit einem Ausbruch aus der Alltagswelt verbunden. »Bereits das Zusammentreffen von Sicherheit, Freiwilligkeit und Zweckfreiheit –
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Gyr, Touristenkultur und Reisealltag; 233f. Rolshoven, Johanna, Der ethnographische Blick als touristischer Blick. In: Cantauw, Christiane (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag. Münster, New York 1995; 41-54; 49. Gyr, Touristenkultur und Reisealltag; 238f.
1. Reisen und Bildung
d.h. Freiheit von explizit dem Erwerb von Reichtum, Seelenheil, Wissen, Gesundheit dienenden Zwecken – unterscheidet die touristische Reise von den meisten älteren Reiseformen.«23 Reisetätigkeiten sind immer historisch kontextuell zu sehen. »Tourismus entstand nicht ex nihilo, sondern unter Verwendung vorhandener Bilder, Wünsche und Praxen, die in einer gewandelten, das hieß vor allem: verplanten und versicherten Welt, in einem neuen Ensemble positioniert wurden.«24 Spode spricht in diesem Zusammenhang von der Ungleichzeitigkeit als ein Kernelement des Tourismus, die die touristische Welt von der Alltagswelt unterscheidet. Es geht um die Erfahrung einer anderen, neuen Welt, und diese wird als domestizierte Fremde wahrgenommen, die weder mit allzu großen Gefahren, noch mit unüberwindbarem Adaptionsdruck verbunden wird. Weber schrieb bereits von einer »Weltdomestikation« – die Kontraste werden eingeebnet, und eindringlich sagt Lévi-Strauss: »Nie wieder werden uns die Reisen, Zaubertruhen voll traumhafter Versprechen, ihre Schätze unberührt enthüllen. Eine wuchernde, überreizte Zivilisation stört für immer die Stille der Meere.«25 Und dennoch bleiben die Bilder und die Sehnsucht nach unberührter Landschaft und unberührter Geschichte als Ziel im Kontrast zu professioneller Kommerzialisierung und der Wandlung der Reise zum Konsumgut. Wenn nun schon seit vielen Jahren unter dem Topos des »sanften Tourismus« die Forderung erhoben wird, dass der Tourismus sozial- und umweltverträglich sein soll, so muss hier in zweierlei Richtung geschaut werden. Neben dem ökologisch orientierten Wunsch und Ziel der Nachhaltigkeit und dem Schutz der Natur sind aus soziokultureller Sicht die Akzeptanz bzw. Anpassung an die vorgefundene Kultur maßgebend. Die Verhaltensweisen von Touristen sind dabei bedeutsam: Gyr spricht hier von einer »Touristenkultur«. »Der Reisende wünscht, einzutauchen in die authentische Kultur der bereisten Regionen, aber dieser Wunsch muß scheitern angesichts der Tatsache, daß der Tourismus in Wirklichkeit eine neue Welt produziert.«26 Diese Welt ist so komplex und von verschiedenen Interessensgruppen besetzt, dass hier die Ebenen des Politischen und Normativen zu beachten sind. Eine reine Deskription des Status quo ist nicht ohne Bewertung, Analyse und auch Einbezug von Zukunftsszenarien möglich. Eine weitere Schwierigkeit der Tourismusforschung ist der eigentliche Untersuchungsgegenstand des Touristen, der sich in seiner ihm genuinen Tätigkeit vor
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Spode, »Reif für die Insel«; 112. Ebd.; 118. Lévi-Strauss, Claude, Traurige Tropen. Frankfurt a.M. 3. Aufl. 1991; 31. Kramer, Dieter, Kulturwissenschaftliche Tourismus-Forschung. In: Ders. ; Lutz, Ronald (Hg.), Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung. Frankfurt 1992; 11-18; 13.
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wissenschaftlicher Untersuchung sperrt. »Wer ferienhalber reist, will nicht beobachtet und schon gar nicht befragt werden.«27 Wird der Reisende/Tourist zwar von seinem Umfeld gerne beobachtet, zeigt Urlaubsfotos, postet nahezu live Bilder, möchte zur Reise im privaten Raum befragt werden und sieht Reisen als Statussymbol, so gilt dies nicht für wissenschaftliche Erhebungen. Hierzu müssten andere Methoden gewählt werden. Eine mögliche qualitative Studie ist z.B. die diskursanalytische Untersuchung – hier speziell der wechselseitigen Fremdheitserfahrungen von Touristen und Einheimischen im Land der Dogon (Mali) – von Schäfer.28 Keller hat die touristische Rolle als totale Freizeitrolle auf Zeit beschrieben, die gekennzeichnet ist durch ständige Positionswechsel und differenzierte Verhaltenserwartungen. Letztere entsprechen wiederum einem spezifischen Angebotsmuster der touristischen Freizeitkultur. Gyr spricht von »Gewohnheiten, Handlungsmuster(n), Rituale(n), Stereotype(n), Vorurteile(n) und standardisierte(n) Urlaubspraktiken als Stützen eines touristischen ›Soll-Verhaltens‹«29 . Die sich nun ergebende Frage ist die nach identitätsstiftenden und -prägenden Elementen dieser Umweltaneignung und -gestaltung. Durch Erlebnisse wird die Bewusstseins- und Persönlichkeitsstruktur geprägt. Dies ist unbestritten, es bleibt die Frage nach der Situationsbezogenheit oder auch Nachhaltigkeit solcher Denkund Handlungsmuster. Ausschlaggebend hierfür sind wiederum u.a. die Reiseformen. Eine Individualreise als Paar unterliegt anderen Beeinflussungen als eine Gruppenreise. Die gruppendynamischen Elemente in intertouristischen Aktionen stehen in starken Bezügen und zeigen Interdependenzen zu den Direktkontakten mit den Ausschnitten (Momentaufnahmen) einer fremden Kultur. Massentouristisches Verhalten unterliegt in großen Teilen standardisierbaren und von Ritualen geprägten Rollen- und Rhythmuswechseln. Die Begegnung mit einer neuen, fremden Umgebung geschieht in einer konsumptiven Aneignung. Über eine Auswahl von Sehenswürdigkeiten, Einmaligkeiten und Spezialitäten erfolgt eine Annäherung. Auf bereits Bekanntes kann dabei aufgebaut werden, z.B. vorvermittelte Reiseerfahrungen, massenmedial verbreitete Urlaubsbilder und Urlaubsstimmungen, Reiseführer etc. In diesem Kontext gilt es an anderer Stelle genauer die Reiseführer als touristische Gebrauchsliteratur zu analysieren. Sowohl das rezeptive Nutzungsverhalten als auch die lebensweltlich-
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Gyr, Ueli, Kultur für Touristen und Touristenkultur. Plädoyer für qualitative Analysen in der Reiseforschung. In: Kramer, Dieter; Lutz, Ronald (Hg.), Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung. Frankfurt 1992; 19-38; 19. Vgl. Schäfer, Alfred, Irritierende Fremdheit: Bildungsforschung als Diskursanalyse. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011. Gyr, Kultur für Touristen und Touristenkultur; 22.
1. Reisen und Bildung
autobiografischen Zusammenhänge müssen hierbei berücksichtigt werden. Gyr stellt die Frage, ob mit der Nutzung von Reiseführern eine »Sehanleitung« einhergeht, oder ob die Nutzung eher wahrnehmungslenkend und verhaltensweisend wirkt, oder ob sie »bei der Orientierung lediglich als einstimmende Wegleitung zwischen Klischees und Wirklichkeit vermittelt«.30 Abschließend wird auf eine Besonderheit des touristischen Verhaltens hingewiesen: die Konsumtätigkeit, die eine weitere Facette bei der Beschreibung des Touristen im Reiseland darstellt. Hierbei geht es nicht um ihre wirtschaftlichen Faktoren, sondern um neue Erfahrungs- und Erlebniswelten. Das Shopping erstreckt sich auf Souvenirs31 , Kunsthandwerk, Kleidung u.ä., die mit dem Reiseziel in Verbindung gebracht werden und über den Kauf hinaus einen Erinnerungswert in den Alltag transportieren sollen. Auch die kulinarische Seite des Urlaubs ist für die Bewertung einer Reise nicht zu unterschätzen: Die Aneignung von Fremdem erfolgt über das Ausprobieren fremder Speisen und Getränke, wobei der Faktor des Unbekannten immer schwieriger zu finden ist, aufgrund einer zunehmenden Globalisierung von nationalen Spezialitäten und Geschmackserfahrungen. In fast allen Reiseführern wird unter der Rubrik »Essen und Trinken«32 Bezug genommen auf Spezialitäten, aber auch auf die Esskultur. Im Iranreiseführer (DUMONT Reisehandbuch) heißt es z.B.: »Essen ist im Iran immer auch ein soziales Ereignis. […] Sitzen Gäste in der Runde, wird doppelt aufgetischt. […] Haben alle Platz genommen, werden sämtliche Gerichte, Vorspeisen, die Suppe, Hauptgänge und Beilagen, gleichzeitig aufgetragen«33 . Ein Test- und Probierverhalten kann als touristisches Muster bezeichnet werden, jedoch ist die Bereitschaft, sich während des Urlaubs an einen anderen Ernährungsstil zu gewöhnen, sehr gering. Dies wird besonders in massentouristischen Zentren deutlich, in denen vielerorts heimische Nahrung angeboten wird und auch einer starken Nachfrage unterliegt. Zu viel Fremdes überfordert schnell, was besonders für die Befriedigung der Grundbedürfnisse gilt. Demgegenüber steht, dass neu entdeckte Nahrungsmittel und Getränke sich als sogenannte Mitbringsel steigender Beliebtheit erfreuen. Die Zurückbegleitung in den Alltag ist als Teil des Tourismus zu verstehen, da hier eine Lebensweltprägung geschieht. Ausgehend von dem Konsens, dass jede Reise eine qualitative und quantitative – in der Spannbreite sehr variierende – Umweltauseinandersetzung und -aneignung
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Ebd.; 26. Ausführlich dazu: Gyr, Ueli, Souvenirs. Erfahrungsträger im Spiegel diverser Forschungszugänge. In: Schweizerisches Archiv für Volkskunde 111 (2/2015) 98-120. Z.B. DUMONT, Iran. »Essen und Trinken«; 81-83 und MARCOPOLO Marokko. Mair Dumont Ostfildern 18. aktualisierte Aufl. 2018. »Essen und Trinken«; 26-29. [MARCOPOLO, Marokko] Weiss, Walter M., Iran. Dumont Reisehandbuch. Ostfildern 2018. »Essen und Trinken«; 81-83; 83.
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impliziert, gilt es nun in diesem Kontext mein Verständnis von Bildung genauer darzulegen, bevor ich beides (Reisen und Bildung) in Relation zueinander setze.
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Bildung
Um zu klären, ob Reiseführer Bildungsprozesse initiieren können oder wollen, ist es systematisch notwendig, den Begriff der Bildung zu bestimmen. Schnell wird dabei deutlich, sollte der Tradition und der vielfältigen Systematik Rechnung getragen werden, dass dies eine eigene Arbeit (bzw. weitere Arbeiten) notwendig macht.34 Eingrenzend geht es hier um eine systematische Entfaltung und Lösung eines konkreten Problems, einer konkreten Frage. Dabei geht es nicht um die Antwort auf die Frage, was Bildung ist, sondern darum, wonach gefragt ist, wenn mit dem Begriff »Bildung« geantwortet wird. Im Anschluss daran werde ich die Antwort aus den Reiseführern rekonstruieren – so dass ich das selbstgewählte Verständnis von Bildung aus den Reiseführern herausarbeite. Wie also lautet die Frage, auf die mit »Bildung« geantwortet wird? In den Kontext wird Bildung gesetzt mit Erziehung, Lernen oder auch mit Unterricht und Lehre. Gemein ist vielen Beiträgen eine historisch-systematische Herleitung. Als auch heute noch strukturbestimmend wird Bildung im christlichen Kontext als Aktualisierung der Ebenbildlichkeit Gottes in der ganzen Person35 gesehen, die so zu neuer Gestalt und Formgebung gelangt. Eine solche Bestimmung, die nach dem Verhältnis Mensch – Gott fragt, mag historisch erhellend sein, impliziert aber Vorentscheidungen, die den Reiseführern nicht unterstellt werden können. Wird die theologische Dimension ausgeschlossen, so bleibt die Teilfrage, ob sich der Mensch in seiner Gültigkeit an dem bemessen kann, was er bereits ist, oder an dem, was er sein soll. Erhalten bleibt also, dass Bildung auf die Frage antwortet, was der Mensch sein soll (Ladenthin). Auch außerhalb der jüdisch-christlichen Weltauffassung wird dieser Aspekt der Bildung diskutiert. Ladenthin schreibt: In der Rhetorik entwickelte Quintilian in der römischen Kultur eine Bildungstheorie, die das Bild (»imago«) des vollkommenen (»perfectus«) Redners zum Maßstab pädagogischer Intervention wählt: »Dass wir nämlich nicht einen Redner unterweisen, wie es ihn gibt oder gegeben hat, sondern
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Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar, Die Rede von Bildung. Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Berlin 2020. Vgl. Kron, Friedrich W., Grundwissen Pädagogik. Art. Bildung. München, Basel 6. Aufl. 2001; 75-81.
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impliziert, gilt es nun in diesem Kontext mein Verständnis von Bildung genauer darzulegen, bevor ich beides (Reisen und Bildung) in Relation zueinander setze.
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Bildung
Um zu klären, ob Reiseführer Bildungsprozesse initiieren können oder wollen, ist es systematisch notwendig, den Begriff der Bildung zu bestimmen. Schnell wird dabei deutlich, sollte der Tradition und der vielfältigen Systematik Rechnung getragen werden, dass dies eine eigene Arbeit (bzw. weitere Arbeiten) notwendig macht.34 Eingrenzend geht es hier um eine systematische Entfaltung und Lösung eines konkreten Problems, einer konkreten Frage. Dabei geht es nicht um die Antwort auf die Frage, was Bildung ist, sondern darum, wonach gefragt ist, wenn mit dem Begriff »Bildung« geantwortet wird. Im Anschluss daran werde ich die Antwort aus den Reiseführern rekonstruieren – so dass ich das selbstgewählte Verständnis von Bildung aus den Reiseführern herausarbeite. Wie also lautet die Frage, auf die mit »Bildung« geantwortet wird? In den Kontext wird Bildung gesetzt mit Erziehung, Lernen oder auch mit Unterricht und Lehre. Gemein ist vielen Beiträgen eine historisch-systematische Herleitung. Als auch heute noch strukturbestimmend wird Bildung im christlichen Kontext als Aktualisierung der Ebenbildlichkeit Gottes in der ganzen Person35 gesehen, die so zu neuer Gestalt und Formgebung gelangt. Eine solche Bestimmung, die nach dem Verhältnis Mensch – Gott fragt, mag historisch erhellend sein, impliziert aber Vorentscheidungen, die den Reiseführern nicht unterstellt werden können. Wird die theologische Dimension ausgeschlossen, so bleibt die Teilfrage, ob sich der Mensch in seiner Gültigkeit an dem bemessen kann, was er bereits ist, oder an dem, was er sein soll. Erhalten bleibt also, dass Bildung auf die Frage antwortet, was der Mensch sein soll (Ladenthin). Auch außerhalb der jüdisch-christlichen Weltauffassung wird dieser Aspekt der Bildung diskutiert. Ladenthin schreibt: In der Rhetorik entwickelte Quintilian in der römischen Kultur eine Bildungstheorie, die das Bild (»imago«) des vollkommenen (»perfectus«) Redners zum Maßstab pädagogischer Intervention wählt: »Dass wir nämlich nicht einen Redner unterweisen, wie es ihn gibt oder gegeben hat, sondern
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Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar, Die Rede von Bildung. Tradition, Praxis, Geltung – Beobachtungen aus der Distanz. Berlin 2020. Vgl. Kron, Friedrich W., Grundwissen Pädagogik. Art. Bildung. München, Basel 6. Aufl. 2001; 75-81.
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wir im Geist eine Art Bild empfangen haben, das ihn vollkommen und auf keinem Gebiet weniger meisterhaft zeigt« (I 10, 4).36 Bildung, verstanden als dem Bild gemäß zu unterweisen, zeigt die Vorstellung eines Ideals. Dieses Ideal ist materialgefüllt, sie haben ein Bild von dem, wie ein Redner sein soll. Dabei ist hier eine besondere Profession angesprochen, und der Gedanke ist in einer Kultur mit normativen Vorgaben formuliert worden. Bedeutsam ist, wie diese Frage weder berufsspezifisch noch geschlechtsspezifisch außerhalb von geschlossenen Kulturen zu stellen ist. Dabei kann ein großer historischer Zeitraum übersprungen werden bis hin zu der Frage: Wie soll der Mensch sein, wenn er nicht durch den Stand, das Geschlecht und die Profession bestimmt wird? – Bildung wäre dann die Antwort auf diese Frage. Diese Frage wird genau so am Ausgang der Renaissance und zu Beginn der Aufklärung gestellt.37 Bildung wird als etwas gefordert, das für alle gelten soll. »Der didaktische Grundsatz des Comenius, allen, alles auf alle Weise zu lehren, meint […] weder polyglotte Allerweltsweisheit noch ein tumultuarisches Vielwissen, sondern ein Wissen des Ganzen und um das Ganze.«38 Bei Comenius wird der Gedanke der gleichen Bildung für alle betont und aus einer allen Menschen zukommenden Gotteskindschaft begründet. »Bildung ist der pädagogische Versuch, allen Menschen gleichermaßen dabei zu helfen, nützlich zu handeln und sinnvoll zu leben und dadurch ihre einzige Bestimmung zu erfüllen, nämlich Gottes Ebenbild zu werden.«39 Die Begriffsbestimmung erfolgt hier religiös, wobei das Religiöse zur Negation innerweltlicher Vorentscheidungen dient. Ausgehend von der göttlichen Zweckfreiheit wird Bildung verstanden »als die Idee des interesselosen Interesses am Göttlichen des Menschen, seinem Bestreben nach Wahrheit, Sittlichkeit und Sinn.«40 Comenius beschreibt den Hauptzweck des Menschen »Mensch zu sein, d.h. als vernünftiges Geschöpf, Herr der (anderen) Geschöpfe und genaues Abbild seines Schöpfers«41 . Was aber ist nun Bildung? »Darum sind alle so zu fördern und in Wissenschaft, Sittlichkeit und Religion recht einzuführen, daß sie das gegenwärtige Leben nützlich zubringen und sich auf das künftige angemessen vorbereiten können.« Die Frage lautet entsprechend: Was ist die Leitidee, die dem Menschen
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Ladenthin, Volker, unveröffentlicht 2021. Zitat: Institutiones oratoriae libri XII. Vgl. Böhm, Winfried, Geschichte der Pädagogik. Von Platon bis zur Gegenwart. München 4. durchgesehene Aufl. 2013; 44ff. Ebd.; 54. Ladenthin, Bildung; 19. Ebd. Comenius, Jan Amos, Große Didaktik. Die vollständige Kunst, alle alles zu lehren. In: Ladenthin, Volker (Hg.), Philosophie der Bildung. Eine Zeitreise von den Vorsokratikern bis zur Postmoderne. Bonn 2. Auf. 2012; 105-128; 125.
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hilft, »das gegenwärtige Leben nützlich zubringen und sich auf das künftige angemessen vorbereiten zu können«? Zwei Aspekte sind zu identifizieren: Bildung ist alles das, was die unmittelbare Daseinsbewältigung ermöglich; Bildung ist aber auch das, was auf die unvorhersehbaren Wechselfälle des Lebens vorbereitet. Wurde bei Comenius die zweckfreie Zweckhaftigkeit der Bildung (es geht nicht um die Ausbildung für einen Zweck, sondern sich sinnvoll Zwecke setzen zu können – Ladenthin) schöpfungstheologisch begründet, so muss weiterführend die Frage stehen, ob sich der Gedanke verändert, wenn die Sinnhaftigkeit von Welt immanent/säkular begründet wird. Die Antwort darauf wird nirgends so deutlich wie im Werk Rousseaus formuliert. Die Dimension des Menschseins wird zum bestimmenden Ziel, verstanden als Selbstbildung. In seiner Abhandlung über Erziehung formuliert er: Das Ziel der Erziehung »ist das Ziel der Natur selber«42 . Dabei unterscheidet er die Formen des Naturmenschen und des moralischen Menschen, wobei der Prozess ein Sich-Selbst-Regieren darstellt: »Die rechte Weise der menschlichen Selbsterhaltung unter den Bedingungen der Geschichte ist nicht mehr Spontaneität des Verhaltens, sondern eine aus der Reflexion entspringende Lebensführung kraft Vernunft, Freiheit und Sprache.«43 Obwohl Rousseau sich nicht über Bildung (sondern Erziehung) geäußert hat, reformuliert er in seinem Traktat Emile die Bedingungen für Bildung zum ersten Mal postmetaphysisch. Ladenthin formuliert44 : • • • • •
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Das Bildungsideal der Gottesebenbildlichkeit wird durch die Idee der Perfektibilität und der naturgegebenen Möglichkeit des Menschen zum Guten ersetzt; das Ideal der göttlichen Gebote durch die Idee der Sittlichkeit; das Ideal der Einzigartigkeit durch die Idee der amour de soi/Selbstliebe; das Ideal des Memorierens von Kulturgütern durch die Idee der Problemlösefähigkeit im Hinblick auf universelle Aufgaben des Menschen; das Ideal des gehorsamen Kindes als Untertan des Erziehers durch die Idee des Eigenrechts des Kindes. Für Erwachsene ist zu ergänzen: das Ideal des gehorsamen Untertanen durch die Idee der Selbständigkeit jedes Menschen; das Ideal der Abgeschiedenheit und der lokalen Bindung an die klösterliche Enklave durch die Idee des pädagogisch zu gestaltenden Raumes, den die gesamte Welt ausmacht;
Rousseau, Jean-Jaques, Emil oder Über die Erziehung. Paderborn u.a. 13. unveränderte Aufl. 1998; 11. Böhm, Geschichte der Pädagogik; 73. Vgl. Ladenthin, Volker; Schützenmeister, Jörn (Hg.), Rousseau als Klassiker für die pädagogische Bildung. Ein Lehrbuch für den Pädagogikunterricht und für das pädagogische Studium. (Didacta Nova, Bd. 24) Baltmannsweiler 2015.
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das Ideal des durch Vorschriften Vereinheitlichten durch die Idee der pädagogischen Urteilskraft, die es dem einzelnen Lehrer erlaubt, orientiert an gültigen Prinzipien situationsgemäß zu handeln.
Benner und Brüggen fassen zusammen: »Humane Selbstbestimmung entsteht erst, und dadurch wird aus ›perfectibilité‹ Bildsamkeit, wenn das Lernen zu einem reflektierenden Umgang mit dem im Lernen selbst erworbenen Wissen befähigt.«45 Historisch weiterführend gelangt über die Aufklärung und den Neuhumanismus des 18. Jahrhunderts also die Autonomie des Menschen in den Fokus. Mit der Autonomie verbunden ist die immanente Aufforderung, die eigenen Kräfte (der Vernunft und des Verstandes) zu nutzen, um die Individualität des Menschen zu gestalten. Der Mensch ist weder von der Natur noch von der Gesellschaft völlig festgelegt. Hierin zeigt sich die Bildsamkeit des Menschen, d.h. der Mensch kann sich zu beidem verhalten.46 Ladenthin formuliert, dass dieses Verhalten unter den Geltungsansprüchen von Wahrheit und Sittlichkeit als regulativer Idee steht, um zum Handeln zu werden.47 Die Frage lautet nun also: Was muss der Mensch lernen, wenn er sich an nichts als seinem eigenen Verstand orientieren kann, aber dies erst lernen muss, weil es ihm nicht angeboren ist. Einigkeit herrscht darüber, dass die Überlegungen Wilhelm von Humboldts einen Meilenstein in der bildungstheoretischen Auseinandersetzung darstellen: Von Humboldt gestand dem Menschen eine Kraft zu, welcher dieser erst in der Auseinandersetzung mit der sozialen und kulturellen Welt ausbildet. Der Mensch muss wahrgenommen werden in der Geschichte, nur so kann der prozesshafte Charakter der Menschwerdung in Wechselwirkung verstanden werden. Von Humboldt versteht den Menschen als ein Geschöpf, das auf Vollkommenheit hinstrebt. Für von Humboldt war die Bildungsidee ein Regulativ. Er bezeichnet sie als eine Sinnesart, »die sich aus der Erkenntnis und dem Gefühle des gesamten geistigen und sittlichen Strebens harmonisch auf die Empfindungen und den Charakter erschließt.«48 So schreibt er in der »Theorie der Bildung des Menschen«: »Die letzte Aufgabe unsres Daseyns: dem Begriff der Menschheit in unsrer Person, sowohl 45 46 47 48
Benner, Dietrich; Brüggen, Friedhelm, Bildsamkeit/Bildung. In: Benner, Dietrich; Oelkers, Jürgen, Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim, Basel 2004; 174-215; 188. Vgl. Ladenthin, Bildung; 17. Vgl. ebd. Humboldt, Wilhelm von, Über die Verschiedenheit des menschlichen Sprachbaus und ihren Einfluß auf die geistige Entwicklung des Menschengeschlechts. In: Wilhelm von Humboldt, Werke in fünf Bänden. Bd. III. Schriften zur Sprachphilosophie. Hg. von A. Flitner, K. Giel. Darmstadt 1963; 368-756; 401.
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während der Zeit unsres Lebens, als auch noch über dasselbe hinaus, durch die Spuren des lebendigen Wirkens, die wir zurücklassen, einen so großen Inhalt, als möglich zu verschaffen, diese Aufgabe löst sich allen durch die Verknüpfung unsres Ichs mit der Welt zu der allgemeinsten, regesten und freiesten Wechselwirkung. Dies allein ist nun auch der eigentliche Maßstab zur Beurtheilung der Bearbeitung jedes Zweiges menschlicher Erkenntnis.«49 Deutlich wird hier bereits der Zusammenhang von Bildung und Sittlichkeit – die Idee des Guten nimmt hier Gestalt an. Der Mensch soll durch Lernen sein Gedächtnis üben, sein Verstand soll geschärft werden, dies wird u.a. deutlich in seiner Urteilsfähigkeit, die dem sittlichen Gefühl verantwortet bleibt.50 Im Handeln wird dies deutlich, waren in früheren Zeiten noch Telosorientierungen und -verpflichtungen handlungsmotivierend und -leitend, auch verstanden als Mittelund Zweckcharakter des Handelns, so muss der Mensch seinem Handeln nun selber Sinn geben, d.h. er muss über die Moralität seines Handelns selber urteilen.51 »Der einzelne Mensch wird gewissermaßen zum Monarchen und zum Sklaven zugleich: Er muß sich nun einerseits selbst die Zwecke seines Handelns setzen, er muß sich andererseits selbst zum Mittel für eigene und fremde Zwecke machen. Die Moralität seines Handelns wird ihm nicht mehr durch die Einführung in tradierte Lebenswelten vermittelt, sondern zur eigenen Aufgabe, die er selber lösen muß.«52 Herbart spricht von der Moralität (oder auch Sittlichkeit) als höchstem Zweck, die sich in Freiheit und Mündigkeit herausbilden muss.53 Voraussetzungen dafür sind der einsichtige Wille und ein Gehorsam gegenüber dieser Einsicht/diesem Willen, der sich in Handlungen zeigt. Nur so wird moralisches Handeln gewährleistet.54 Herbart erklärt die Moralität zum Ziel der ganzen Erziehung (und Bildung). »Man kann die eine und ganze Aufgabe der Erziehung in den Begriff der Moralität fassen.«55 49
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Humboldt, Wilhelm von, Theorie und Bildung des Menschen. In: Wilhelm von Humboldt, Gesammelte Schriften. Hg. von der Königlich preußischen Akademie der Wissenschaften. Werke und Tagebücher hg. von Albert Leitzmann, Bd. I. Berlin 1903; 282f. Vgl. Tenorth, Heinz-Elmar, Geschichte der Erziehung. Einführung in die Grundzüge der neuzeitlichen Entwicklung. Weinheim, München 1998; 45. Vgl. Rekus, Jürgen, Bildung und Moral. Zur Einheit von Rationalität und Moralität in Schule und Unterricht. Weinheim, München 1993; 41. Ebd.; 41f. Vgl. Herbart, Johann Friedrich, Etwas über die allgemeinsten Ursachen, welche in Staaten das Wachstum und den Verfall der Moralität bewirken (1793). In: Pädagogische Schriften. Erster Band: Kleinere pädagogische Schriften. Hg. von Walter Amus. Düsseldorf, München 1964; 11-19. Vgl. Rekus, Bildung und Moral; 44. Herbart, Johann Friedrich, Über die ästhetische Darstellung der Welt als Hauptgeschäft der Erziehung. (1804). In: Benner, Dietrich (Hg.), Johann Friedrich Herbart Systematische Pädagogik. Band 1: ausgewählte Texte. Weinheim 1997; 47.
1. Reisen und Bildung
Bildung ist also die Frage danach, was der Mensch selbsttätig lernen muss, um jetzt und zukünftig sachlich angemessen und sittlich gut und schließlich für sich sinnvoll handeln zu können. Immer also dann, wenn auf diese Frage geantwortet wird, liegt eine Bildungstheorie vor. Mit dieser Fragestellung (und nicht mit der Vielfalt historischer Antworten) möchte ich nun die Reiseführer untersuchen. Ausgehend von dem Untersuchungsgegenstand der Reiseführer (und hier grundgelegt in der Überlegung, ob Reisen bildet) ist die Interdependenz von Bildung, Reisen und Reiseführern zu überprüfen und genauer zu bestimmen. Reisen als sachkompetente und verantwortliche Handlung bedarf des Lernens. Dabei haben die zu erlernenden Kompetenzen56 eine zweckdienliche Funktion und sind nützlich.57 Jedoch unterscheiden sich Kompetenzen von Bildung dahingehend, dass Bildung »ein nicht weiter zu zerlegendes oder operationalisierbares Vermögen (bezeichnet), mit Wissen und Kompetenzen umzugehen.«58 In diesem Sinne ist Lernen eine besondere Form der Erkenntnis.59 Nicht die Kompetenz bzw. die Kompetenzen sind die Basis für ein gelingendes Leben, sondern »das Wissen um den möglichen Wert dieser Kompetenz«60 . Zu fragen ist: »Was muss ein Mensch wie über die Welt lernen, um sittlich in ihr handeln zu können, damit das Leben sinnvoll gelingt?«61 Reiseführer sind (bzw. ihnen kann das Potential dazu zugesprochen werden) diese Lernhilfen in sachlicher (Informationen) und sittlicher Hinsicht (angemessenes Verhalten im Reiseland). Bildung gilt als die oberste Kompetenz für richtiges und gutes Handeln. Reiseführer sind dementsprechend ein Medium, um gebildet reisen zu können. Die Leitfrage lautet: Wie lösen Reiseführer diesen Anspruch ein? Reiseführer sind gekennzeichnet durch eine Einführung in die Geschichte, Gesellschaft, Geografie, Kunst, Wirtschaft, Politik und Architektur der jeweiligen Reisedestination; damit handelt es sich um eine Kanonisierung des »notwendigen« Wissens für eine Reise, und diese Kanonisierung unterliegt normativen Entscheidungen. In der Diskussion um die Inhalte und Form von Wissen wird »ein Bedarf an universellen Qualifikationen unterstellt, den eine jede Gesellschaft (und Kultur) habe, unabhängig von ihrer historischen Gestalt und ihrem Entwicklungsniveau.«62 Die Frage nach der Abgrenzung und der Prozesshaftigkeit von basalen Qualifikationen muss in diesem Zusammenhang gestellt werden. Des Weiteren ist das Sub56 57 58 59 60 61 62
Einschränkend ist zu erwähnen, dass der Begriff der Kompetenz nicht einheitlich verwendet wird. Ich orientiere mich an der Bedeutung Fähigkeit, Bereitschaft und Zuständigkeit. Vgl. Ladenthin, Philosophie der Bildung; 23. Ebd.; 22f. Vgl. Ladenthin, Bildung; 25. Ladenthin, Wert Erziehung; 88. Ladenthin, Bildung; 18 (im Original kursiv). Tenorth, »Alle alles zu lehren«; 70.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
jekt in seinem jeweiligen Kontext Objekt der Zuschreibung. Ist es unumstritten, dass für bestimmte (gesellschaftliche) Herausforderungen, wie z.B. Schulbildung, Berufsbildung, Studium, Bewältigung von Fertigkeiten im Alltag Qualifikationen und Kompetenzen notwendig sind, bzw. ihr Erwerb als Ziel formuliert wird, so muss danach gefragt werden, in welchem Bezug diese Einzelleistungen zur Bildung stehen. »Wissenschaft muss bildend angeeignet werden, also daraufhin befragt werden, welche Bedeutsamkeit ihr jeweiliges fachliches Proprium […] für das Gelingen des Lebens hat«63 . Geht es zunächst um die Unterscheidung zwischen Laien und Experten, so öffnet sich an dieser Stelle eine weitere Diskussion in Anlehnung an Adorno zwischen den Polen Halbbildung und Bildung. In der Debatte wird der Vorwurf erhoben, dass eine Instrumentalisierung von Bildung stattgefunden hat, dieser steigert sich zu einer Beschreibung des Verhältnisses von gesellschaftlichen Bedingungen und Bildung in einer »Negativen Dialektik«. Durch die Frankfurter Schule namentlich Heydorn, Adorno und Horkheimer wurde die Zweckorientierung und Parzellierung der Bildung kritisiert. Die so entstandene »Halbbildung« (Adorno) zeichnet sich durch ihren Verwertungs- und Vermarktungsaspekt sowie ihr Kennzeichen des Verlustes der unmittelbaren Erfahrung aus. Halbbildung denkt nicht über sich selbst nach. Der grundlegende Gedanke von Aufklärung wird hier konterkariert, indem gesellschaftliche Bedingungen allein reproduziert und nicht in sich in Frage gestellt werden. Ausgehend von heutigen Erfahrungsmöglichkeiten sind weitere Kennzeichen der Modernisierung konstitutiv, so schreibt Klafki über den Verlust der »mitteilbaren Erfahrung«. Akkumulierte Erfahrungsgüter werden entwertet, eine Dezentrierung von Erfahrung findet statt. Dem gegenüber stehen neue Herausforderungen, sich in einer fremden Umgebung zu orientieren. Dies darf jedoch nicht in die Engführung einer Bildungsvorstellung münden, die sich u.a. auf das Verständnis des Collège de France bezieht, dass immer neues Wissen anzueignen ist, um mit immer neuen Situationen zurechtzukommen.64 Hier würde sich der Kreis zum Vorwurf der »Halbbildung« wieder schließen. »Das Halbverstandene und das Halberfahrene ist nicht Vorstufe der Bildung, sondern ihr Todfeind: Bildungselemente, die ins Bewusstsein geraten, ohne in dessen Kontinuität eingeschmolzen zu werden, verwandeln sich in böse Giftstoffe65 «. Ladenthin formuliert, dass keine einzelne Fachwissenschaft und auch nicht alle zusammen Auskunft über den letzten Zweck unseres Handelns geben.66
63 64 65 66
Ladenthin, Bildung; 47 Vgl. Hörster, Art. Bildung; 49. Adorno, Theodor. W., Theorie der Halbbildung. In: Ders., Gesammelte Schriften. Bd. 8 Soziologische Schriften 1. Frankfurt a.M. 1972; 111. Vgl. Ladenthin, Didaktik und Methodik; 101.
1. Reisen und Bildung
Adorno fordert für das Individuum eine »Überholung« seines Selbst. Es dürfe nicht in den vorgefundenen Umständen und vermeintlichen Objektivitäten verhaftet bleiben. »Nicht Einsamkeit und Freiheit«, »materiale« und »formale« oder »kategoriale« Bildung seien in diesem Prozess der »Selbstüberholung« Zweck und Ziel, sondern die Herausforderung des eigenen Selbst in die Antizipation eines besseren Lebens und damit in den ersten Schritt zum Fortschritt der Geschichte und der Gesellschaft sind als Ideal zu nennen. »Diesen letzten Zweck (›Sinn‹) muss der Einzelne, im Gang durch die hierzu nötigen Wissenschaften, selbst hervorbringen«67 , dies bedeutet Bildung. Voraussetzung für diese Möglichkeit der Selbstüberholung ist die Bildsamkeit des Menschen. Basierend auf den anthropologischen Prämissen, dass der Mensch sowohl ein Mängelwesen (Gehlen), als auch ein geistbegabtes Wesen ist, wird deutlich, dass die Beschreibung der Imperfektion auch die Möglichkeit eines Scheiterns impliziert. In Anlehnung an Benner ergibt sich hieraus die Aufgabe des Selber-Tuns für den Menschen.68 Ladenthin formuliert: »Bildung ist immer die Aufforderung zur Selbsttätigkeit.«69 Dies bedeutet für den Erziehungsprozess, dass hier der auffordernde Charakter hervortritt, in der Beziehung und Interaktion zwischen Erzieher und zu Erziehendem sind Anregungen zu geben.70 Veränderte Lernprozesse sind die Voraussetzung für eine allgemeine Bildung. »Lernen ist eine Form des Erkennens.«71 Lernen und Bildung finden statt in einem Verlust nicht hinterfragter kultureller Selbstverständlichkeiten und in der Tatsache einer Pluralität von Lebensformen, Normen und Wertorientierungen.72 »Es genügt also nicht mehr, Orientierungs- und Handlungswissen in zwar vorgegebenen, aber zunehmend brüchigen Referenzsystemen zu erwerben. Vielmehr müssen tragfähige Referenzrahmen eines entsprechenden Wissens selbst lernend konstruiert werden.«73 Schließlich geht es um die Bewältigung von Kontingenz (Tenorth). Bildung wird so verstanden als ein sachliches und sittliches Verhältnis
67 68 69 70 71 72 73
Ebd. Vgl. Benner, Dietrich, Grundstrukturen pädagogischen Denkens und Handelns. In: Lenzen, Dieter (Hg.), Enzyklopädie Erziehungswissenschaft, Bd. 1. Stuttgart 1983; 290. Ladenthin, Volker, Zukunft und Bildung. Entwürfe und Kritiken. (Grundfragen der Pädagogik, hg. von Jürgen Rekus, Bd.5) Frankfurt a.M. u.a. 2004; 15 Das pädagogische Konzept von Maria Montessori beschreibt dies in der Forderung »Hilf mir es selbst zu tun«. Ladenthin, Bildung; 48. Vgl. Tenorth, »Alle alles zu lehren«; 96. Kokemohr, Rainer, Bildung als Begegnung? Logische und kommunikationstheoretische Aspekte der Bildungstheorie E. Wenigers und ihre Bedeutung für biographische Bildungsprozesse in der Gegenwart. In: Hansmann, Otto; Marotzki, Winfried (Hg.), Bd. I, Diskurs Bildungstheorie. Weinheim 1988; 327-373; 328.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
zu sich, zur Welt und zu anderen (Ladenthin)74 . Sie ist »immer Aufforderung zur Selbsttätigkeit unter dem Aspekt des gelingenden Lebens.«75 Angesichts von Herausforderungen geht es um die Fähigkeit des Menschen bestmöglich zu handeln.76 Dabei umfasst Bildung Wissen und Haltung, Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft.77 Wiederholend zu betonen ist, dass die Selbsttätigkeit als Selbst-ausführen-Können »nicht die identische Übernahme eines Vorgegebenen (ist), sondern die eigenständige, immer wieder neu zu leistende Erschaffung dessen, zu dem man angestoßen wurde«78 , bezeichnet.
1.3
Bildung und Erfahrung
Wie bisher bereits deutlich wurde, besteht eine hohe Entsprechung zwischen Erfahrung und Bildung. Erfahrung ist eine zentrale pädagogische Kategorie, jedoch variieren die Verwendungsweisen des Begriffes. Lernen aus Erfahrung scheint eine anthropologische Auszeichnung zu sein.79 Für diesen Kontext ist es auf Grund der zahlreichen philosophiegeschichtlichen Verwendungs- und Deutungsweisen unmöglich, die Debatte um den Erfahrungsbegriff sowohl phänomenologisch als auch ideengeschichtlich nur annähernd zu umreißen. So wird an dieser Stelle bewusst darauf verzichtet, die Urväter wie z.B. Aristoteles (Metaphysik), Kant (u.a. Kritik der reinen Vernunft), Hegel (Phänomenologie des Geistes), Rousseau (Émile) genauer in den Blick zu nehmen und in ihrer je spezifischen Kontroverse80 zu erläutern. Deutlich wird jedoch deren Erbe in den hier zur Aussage kommenden Positionen. Thompson diagnostiziert, dass der Begriff der »Erfahrung« je nach Kontext verschieden verwendet und semantisch vage gebraucht wird. »Der Versuch, ausgerechnet vom dialektischen Spannungsfeld moderner Erfahrung ausgehend eine analytische Perspektive auf den Bildungsgedanken zu entfalten, mag vermessen
74 75 76 77 78
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80
Vgl. Ladenthin, Wozu religiöse Bildung heute? 67. Ladenthin, Bildung; 48. Ladenthin, Didaktik und Methodik des Pädagogikunterrichts; 27. Vgl. Ladenthin, Wozu religiöse Bildung heute?; 67. Baßler, Wolfgang; Ladenthin, Volker, Recht und Grenzen empirischer Methoden in Psychologie und Pädagogik. (Pädagogik in Europa in Geschichte und Zukunft. Bd. 20) Bonn 2020; 53. Vgl. Koch, Lutz, Lernen und Erfahrung. In: Mertens, Gerhard; Frost, Ursula; Böhm, Winfried; Koch, Lutz; Ladenthin, Volker (Hg.), Allgemeine Erziehungswissenschaft I. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011; 371-377. Vgl. dazu: Zum modernen Problemgehalt von »Erfahrung«: Eine Lektüre – zwischen Kant und Hegel. In: Thompson, Christiane, Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn, München, Wien, Zürich 2009; 22-33.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
zu sich, zur Welt und zu anderen (Ladenthin)74 . Sie ist »immer Aufforderung zur Selbsttätigkeit unter dem Aspekt des gelingenden Lebens.«75 Angesichts von Herausforderungen geht es um die Fähigkeit des Menschen bestmöglich zu handeln.76 Dabei umfasst Bildung Wissen und Haltung, Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft.77 Wiederholend zu betonen ist, dass die Selbsttätigkeit als Selbst-ausführen-Können »nicht die identische Übernahme eines Vorgegebenen (ist), sondern die eigenständige, immer wieder neu zu leistende Erschaffung dessen, zu dem man angestoßen wurde«78 , bezeichnet.
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Bildung und Erfahrung
Wie bisher bereits deutlich wurde, besteht eine hohe Entsprechung zwischen Erfahrung und Bildung. Erfahrung ist eine zentrale pädagogische Kategorie, jedoch variieren die Verwendungsweisen des Begriffes. Lernen aus Erfahrung scheint eine anthropologische Auszeichnung zu sein.79 Für diesen Kontext ist es auf Grund der zahlreichen philosophiegeschichtlichen Verwendungs- und Deutungsweisen unmöglich, die Debatte um den Erfahrungsbegriff sowohl phänomenologisch als auch ideengeschichtlich nur annähernd zu umreißen. So wird an dieser Stelle bewusst darauf verzichtet, die Urväter wie z.B. Aristoteles (Metaphysik), Kant (u.a. Kritik der reinen Vernunft), Hegel (Phänomenologie des Geistes), Rousseau (Émile) genauer in den Blick zu nehmen und in ihrer je spezifischen Kontroverse80 zu erläutern. Deutlich wird jedoch deren Erbe in den hier zur Aussage kommenden Positionen. Thompson diagnostiziert, dass der Begriff der »Erfahrung« je nach Kontext verschieden verwendet und semantisch vage gebraucht wird. »Der Versuch, ausgerechnet vom dialektischen Spannungsfeld moderner Erfahrung ausgehend eine analytische Perspektive auf den Bildungsgedanken zu entfalten, mag vermessen
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Vgl. Ladenthin, Wozu religiöse Bildung heute? 67. Ladenthin, Bildung; 48. Ladenthin, Didaktik und Methodik des Pädagogikunterrichts; 27. Vgl. Ladenthin, Wozu religiöse Bildung heute?; 67. Baßler, Wolfgang; Ladenthin, Volker, Recht und Grenzen empirischer Methoden in Psychologie und Pädagogik. (Pädagogik in Europa in Geschichte und Zukunft. Bd. 20) Bonn 2020; 53. Vgl. Koch, Lutz, Lernen und Erfahrung. In: Mertens, Gerhard; Frost, Ursula; Böhm, Winfried; Koch, Lutz; Ladenthin, Volker (Hg.), Allgemeine Erziehungswissenschaft I. Paderborn, München, Wien, Zürich 2011; 371-377. Vgl. dazu: Zum modernen Problemgehalt von »Erfahrung«: Eine Lektüre – zwischen Kant und Hegel. In: Thompson, Christiane, Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn, München, Wien, Zürich 2009; 22-33.
1. Reisen und Bildung
erscheinen; denn für die Kategorie der Erfahrung, die Gadamer zu den ›unaufgeklärtesten‹ Begriffen rechnete […], lässt sich Ähnliches festhalten wie für ›Bildung‹: Sie birgt zugleich Vertrautheit und Unverfügbarkeit.«81 Konsens ist, dass Erfahrung das sinnlich Wahrnehmbare der Umwelt übersteigt, das Element des Kritisch-Reflexiven gilt es immer zu beachten. Erst »die Einbettung des Gelernten in unser Zeitbewusstsein verwandelt das Vertrautsein in das, was wir Erfahrung nennen. Erst die Aufnahme unserer Erfahrung ins Gedächtnis erlaubt es ihnen, uns zu begleiten und zu führen.«82 Bucks hermeneutische und lerntheoretische Ausführungen zu Lernen und Erfahrung fußen auf der Epagogik bei Aristoteles. Aristoteles diente der Begriff des Epagogen als die »Bezeichnung einer Denkbewegung, die ihren Ausgangspunkt bei konkreten, einzelnen Dingen und Sachverhalten nimmt und von dort zu allgemeinen Zusammenhängen und Gesetzmäßigkeiten aufsteigt. Bei der Epagogé handelt es sich somit um ein induktives Schlussverfahren«83 . Lernen und Wissenserwerb geschehen in einem Wechselspiel, und die Grundlage dazu bildet die Erfahrung. Mit den Phänomenen des Verstehens und der Verständigung umfasst der Prozess eine Hinführung, Induktion/Epagogé und den immanenten Lernprozess. Buck definiert: »Das Wort ›Erfahrung‹ (und demensprechend das Wort ›Lernen‹) hat eine doppelte Bedeutung. Es meint einmal die einzelnen Erfahrungen von etwas. Die einzelnen Erfahrungen sind das Erste, mit dem unser Wissen anfängt; mit ihnen hebt, wie Kant sagt, unsere Erkenntnis an. Sie sind die ›erste Belehrung‹, die wir empfangen. Erfahrung meint zugleich einen Prozeß, in dem uns immer Neues zuwächst auf Grund schon gemachter Erfahrungen. In der Erfahrung breitet sich unser Wissen aus. Es geht in die ›Breite‹ der Erfahrung. […] Das Wort ›Erfahrung‹ weist zweitens auf eine Struktur hin, die wir die innere Rückbezüglichkeit der Erfahrung nennen wollen. […] An jeder Erfahrung machen wir nämlich eine Erfahrung über diese Erfahrung.«84 Das Vorwissen ist immer konstitutiv für die neu gemachten Erfahrungen, die dann in der Konfrontation zu einem neuen Verstehen führen. Die Basis ist »das Erfahren-Können« als Grundaxiom des Menschen. In der Erfahrung führen unterschiedliche Gehalte des Neuen zu differenzierten Prozessen des Lernens. Was »man aus oder durch Erfahrung gelernt hat, das weiß man explizit, und zwar so, dass hinter dieses Wissen die Erfahrung selbst, aus der es kommt, zurücktritt.«85
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Thompson, Christiane, Bildung und die Grenzen der Erfahrung. Randgänge der Bildungsphilosophie. Paderborn, München, Wien, Zürich 2009; 14. Koch, Lernen und Erfahrung; 372. Blume, Thomas, »Epagoge«. In: http://www.philosophie-woerterbuch.de (UTB Handwörterbuch Philosophie) – [09.08.2017]. Buck, Günther, Lernen und Erfahrung. Stuttgart u.a. 1967; 8f. Koch, Lernen und Erfahrung; 373.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Aus der Perspektive der Didaktik umfasst die Erfahrung immer sowohl eine Ausgangs- als auch eine Zielgröße. Abzugrenzen ist der Begriff des Erlebnisses zum Erfahrenen. Der Mensch wird eigentätig, reflektiert seine Erlebnisse und macht sie so zu Erfahrungen. Dies gilt es nun differenzierter theoretisch aufzuschlüsseln: In der Ausbildung und Entfaltung des Menschen zu einem autonomen Subjekt steht die Erfahrung als allgemeine pädagogische Kategorie im Zentrum der Betrachtung. Adorno hat im Kontext der Erläuterung und Gegenüberstellung von Bildung und Halbbildung den Erfahrungsbegriff umrissen und ihn in ein Verhältnis zur Bildung gesetzt.86 Ist es in der Didaktik ein gesetztes Prinzip, dass Erfahrungsräume geschaffen werden müssen, da nur so ein ganzheitliches Lernen ermöglicht wird, so gilt es an dieser Stelle die Begriffe genauer zu analysieren, zu beschreiben und in einen Kontext zu setzen. Bildung – so Adorno – ist mit einer differenzierten Erfahrungsfähigkeit verbunden. Rühle formuliert: »Erfahrungsfähigkeit besteht dementsprechend in dem subjektiven Vermögen, den zeitlichen Verlauf übergreifende Zusammenhänge herstellen und diese zu einem kontinuierlichen Bewusstseinsprozess integrieren zu können, dessen einzelne Momente nicht fragmentarisch und willkürlich aneinandergereiht, sondern sinnvoll zueinander in Beziehung gesetzt werden.«87 Adorno geht bei seinem Erfahrungsverständnis von einer denkenden Durchdringung der Erfahrung aus, die das Bewusstsein bestimmt. Damit ist nicht ein rein formallogisches Schlussfolgern alleine gemeint, sondern eines, das Denkformen und Strukturen umfasst. Inbegriffen sind in solchen Erfahrungen sowohl Bereiche der Sinnlichkeit und der Wahrnehmungsfähigkeit, als auch Affekte und Emotionen.88 Das Besondere an diesem Erfahrungsbegriff ist, dass die einzelnen Teilerfahrungen sich zu einem Ganzen zusammenfügen, welches so keine Qualitätseinbußen verzeichnet, sondern dialektisch in ein differenziertes Eines übergeht. Dieser Prozess umfasst keine Technik oder Methodik, sondern er zielt auf eine Haltung ab. Im Bezug zur Umwelt (Welt) wird in einem stimmigen Verhältnis von Nähe und Distanz eine Differenziertheit gebildet.89 Zusammengefasst geht es bei der Erfahrung auch immer um die Erkenntnis. In einer geistigen Erfahrung geschieht Bildung. »Das ›Bildende‹ an ihr liegt in einer Umstrukturierung, Erweiterung und Differenzierung des bisherigen subjektiven
86 87
88 89
Vgl. Adorno, Theodor W., Theorie der Halbbildung. Frankfurt a.M. 2006. Rühle, Manuel, Kulturindustrie, Bildung und Erfahrung. Eine Problembestimmung aus der Perspektive Kritischer Erziehungs- und Bildungswissenschaft. (Bernhard, Arnim; Borst, Eva; Rießland, Matthias (Hg.), Horizonte – Studien Kritische Pädagogik, Band 4) Hohengehren 2015; 208. Vgl. Adorno, Theodor W., Soziologische Schriften I. Gesammelte Schriften, Band 7. Herausgegeben von Rolf Tiedemann. Frankfurt a.M. 2003; 108. Vgl. Rühle, Kulturindustrie, Bildung und Erfahrung; 209.
1. Reisen und Bildung
Weltverhältnisses, wodurch das erfahrende Subjekt zugleich ein gewandeltes Verhältnis zu sich selbst erlangt. Entscheidend ist, dass das neugewonnene Verhältnis im Vergleich zum vorhergehenden einen Erkenntniszuwachs und damit einen Gewinn an subjektiver Autonomie darstellt«90 . Meyer-Drawe spricht in diesem Zusammenhang von der Erfahrung als einer Öffnung zu einer Welt hin, »die sich mitunter aufdrängt und fungierenden Erwartungen in die Quere kommen kann. In dieser Durchkreuzung zeigen sich zuallererst die Antizipationen, die zuvor unbemerkt in Geltung waren.«91 Erfahrung entsteht immer auf dem Boden bereits gemachter Erfahrungen. Gefordert ist eine selbsttätige Auseinandersetzung, wobei wiederum deutlich wird, dass das Individuum aktiv wird. Es macht Erlebnisse, die in der Reflexion zu Erfahrungen werden und die letztlich zu Konsequenzen für das Subjekt führen. In diesem Sinne ist Bildung »selbstgesteuertes Lernen durch Erfahrung unter dem Anspruch von Geltung.«92 Erfahrung umfasst immer eine Wechselwirkung von Ich und Welt – Buck spricht hier von einer Empfänglichkeit, die auf einer Selbsttätigkeit basiert, so zu einer Erfahrung führen kann und wird und die daher einen prozessualen Charakter hat.93 Der Mensch macht Erfahrungen, die sein Verhältnis zur Welt, zu anderen und zu sich selbst in Frage stellen. »Bildung im Sinne eines solchen Transformationsgeschehens besteht demnach also in der Entstehung neuer Figuren des Welt- und Selbstbezugs, die andere als die eingespielten Formen der Erfahrungsverarbeitung ermöglichen.«94 Drei Schritte der Erfahrung unterscheidet Buck in Anlehnung an Husserl. Den Ausgangspunkt bildet eine konkrete Erfahrung, der ein bestimmter Erwartungshorizont zugrunde liegt, welcher erfüllt oder enttäuscht werden kann. Beide möglichen Erfahrungen bewirken einen Wandel des zugrundeliegenden Horizontes – hier wird nun vom eigentlichen Lern- und Bildungsprozess gesprochen, die Art und Weise der Informationsverarbeitung ändert sich grundlegend durch die neue Erfahrung und führt so zu einem Erfahrungszuwachs. Dieser Zuwachs wird in den bereits bekannten Rahmen – Vorwissen oder Vorverständnis – eingeordnet. Buck spricht hier von einem vorgängigen Horizont oder einem bereits etablierten Welt-
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Ebd.; 236. Meyer-Drawe, Käte, Diskurse des Lernens. München 2. Aufl. 2012; 189. Ladenthin, Volker, Ethik und Bildung in der modernen Gesellschaft. Die Institutionalisierung der Erziehung in systematischer Perspektive. (Systematische Pädagogik, Bd.2, hg. von Breinbauer, Ines M.; Koch, Lutz; Ladenthin, Volker; Rekus, Jürgen) Würzburg 2002; 54. Vgl. Brüggen, Friedhelm, Bildung und Hermeneutik. Notizen zur Bildungstheorie Günter Bucks. In: Schenk, Sabrina; Pauls, Torben (Hg.), Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014; 25-36; 36. Koller, Hans-Christoph, Zur Entstehung des Neuen in Bildungsprozessen. Bemerkungen zur hermeneutischen Bildungstheorie Günther Bucks. In: Schenk, Sabrina; Pauls, Torben (Hg.) Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014; 75-90; 76.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
und Selbstverhältnis. »Die Horizontalität der Erfahrung erscheint so als eine unabschließbare Verweisstruktur, bei der nicht nur jede Erfahrung innerhalb eines Horizontes zu verorten ist, sondern bei der auch jeder Horizont auf weitere Horizonte verweist.«95 Im zweiten Schritt geschieht der eigentliche Lernprozess, der sich nicht nur in einer Erweiterung und Fortführung vollzieht, sondern ebenso in seiner Negativität. »Der freie Akt besteht darin, daß man die Negativität, die einem widerfährt, festhält und sich nicht nur bei jeweiliger Gelegenheit herauszuhelfen versucht, sondern daraus eine Einsicht für sich selbst schöpft, also eine eminent positive Erfahrung hinsichtlich der negativen Erfahrung macht.«96 Dies bezeichnet in beiden Formen den eigentlichen Transformationsvorgang. Gerade in der Negativität ist der Mensch herausgefordert und zum Nachdenken gezwungen, um vermeintliche Wissensbestände zu hinterfragen. Schlussfolgernd daraus verändert sich der für weitere Erfahrungen bereitstehende Erfahrungshorizont. Antizipationen werden verworfen und führen zu neuen Öffnungen, die wiederum neue Antizipationen erst möglich machen. Für Buck ist es an dieser Stelle wichtig zu betonen, dass nicht etwas grundsätzlich Neues entsteht, sondern Vorhandenes bewusst gemacht wird und in die Gegenwart eintritt. »Ohne den die Erfahrung leitenden Horizont ist die Erfahrung selbst undenkbar, da dieser den Bezug zwischen dem Erfahrenden und dem zu Erfahrenden herstellt.«97 Er spricht in diesem Zusammenhang auch von einem Lernen als Umlernen: Ein unspezifisches Lernen wird zu einem Dazu-Lernen; erst hier beginnt für Buck der eigentliche Lernprozess.98 Zu fragen ist an dieser Stelle, ob nicht auch eine Diskontinuität der Erfahrung denkbar ist. Dies wäre dann der Fall, wenn eine Erfahrung des Fremden sich der Ordnung des Eigenen entzieht. Bernhard Waldenfels konstatiert, dass das Neue nicht immer schon als Möglichkeit in dem vorhandenen Horizont enthalten sein muss, er spricht von einem kreativen Prozess zwischen Eigenem und Fremden.99 So können neuartige Gedanken entstehen, die weder dem Selbst noch dem Anderen/Gegenüber im Ursprung zuzuschreiben sind. Wie bereits an mehreren Stellen deutlich wurde, korrelieren die Begriffe »Lernen« und »Erfahrung« und bedürfen einer weitergehenden Verhältnisbestimmung. Hier eröffnet sich nun eine weitere Schwierigkeit der Beschreibung und
95 96 97 98 99
Ebd.; 79. Buck, Lernen und Erfahrung; 52. Thompson, Bildung und die Grenzen der Erfahrung; 58. Vgl. Heiser, Jan Christoph, Interkulturelles Lernen. Eine pädagogische Grundlegung. Würzburg 2013; 150f. Vgl. Waldenfels, Bernhard, Bruchlinien der Erfahrung. Phänomenologie, Psychoanalyse, Phänomenotechnik. Frankfurt a.M. 2002.
1. Reisen und Bildung
Bestimmung: Was alles umfasst Lernen, und wie geschieht es? In Kenntnis der unterschiedlichen Lerntheorien, wie z.B. der behavioristischen, der kognitivistischen und der biokybernetisch-neuronalen Lerntheorien – um nur einige der gängigsten zu nennen – muss doch festgestellt werden, dass das Lernen weiterhin ein ungeklärtes Phänomen bleibt. Unterschieden werden können Kriterien und Fragestellungen, wie z.B. die Fragen, – ist alles Lernen auf ein Ziel hin ausgerichtet (Teleologie), – wie verhält es sich mit bewussten und unbewussten Lernprozessen, – in welchem Verhältnis stehen Lehre und Lernen? Konsensual sind folgende Aspekte: – Lernen geschieht immer in einem Prozess und – Lernen hat einen starken Bezug zu Erfahrung.100 Durch Erfahrungen können Kenntnisse erworben werden, dieses umgangssprachlich gebrauchte »Wir lernen die Welt kennen« impliziert einen aktiven Part des Menschen. In der Erfahrung treffen Ich und Welt aufeinander. Neues muss reflexiv mit Bekanntem verglichen, erörtert, erweitert, verworfen, als umfassender Prozess vermittelt werden. Herbart spricht von der Erfahrung als einer Urquelle des geistigen Lebens101 . Wichtig ist das Selbst-dabei-Sein, so Buck. »Erfahrung lässt sich nicht an- und abschalten. Bei einer Erfahrung ist man selbst dabei, wie man es beim Aufwachen ist. Man vollzieht einen Akt, ohne ihn selbst ausgelöst zu haben.«102 In der Erfahrung vollzieht sich ein Zur-Welt-Sein, das eine Veränderung initiiert. »Erfahrung ist die anfängliche und für alle weitere (begriffliche) Vermittlung grundlegende Vermitteltheit der Dinge und meiner selbst, in der mich die Dinge überhaupt erst etwas angehen. Erfahrung meint: erstes und grundlegendes Verständnis der Dinge und zugleich erste und grundlegende innere Verhältnismäßigkeit des Erfahrenden, die sich nicht etwa als Reflexion auf das Subjekt äußert […], sondern als die Verständigkeit, mit der ich bei den Dingen bin.«103 Der Prozess des Lernens umfasst infolgedessen nicht nur ein Hinzulernen, indem neue Erkenntnisse gewonnen werden, sondern der Prozess beinhaltet ein Umlernen. Es erfolgt eine Haltungs- und/oder Verhaltensänderung. Drei Kennzeichen des Lernens können dabei benannt werden: Erstens ist der Prozess und nicht das Ergebnis des Lernens entscheidend, zweitens ist nicht die kognitive Repräsentation, sondern der primäre, praktische und leibliche Handlungsvollzug bestimmend und letztens gilt es festzuhalten, dass es sich um ein
100 Vgl. »Was ist Lernen?« In: Ladenthin, Volker, Forschendes Lernen in der Bildungswissenschaft. (Pädagogik in Europa in Geschichte und Zukunft, Bd. 10) Bonn 2014; 31-38. 101 Herbart, Johann Friedrich, Allgemeine Pädagogik II, 4 (Herbarts Pädagogische Schriften, hg. von O. Willmann und Th. Fritsch, Bd. I). Osterwieck, Leipzig 1913; 219. 102 Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens; 16. 103 Buck, Lernen und Erfahrung; 17.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
dialektisches Modell des Lernens handelt.104 Zur Telosfrage ist laut Buck von einem »Telosschwund« auszugehen. »An die Stelle entelechialer Entfaltung und Entwicklung tritt das offene Problem der Selbstbestimmung als geschichtlicher Herausforderung.«105 Zugrunde gelegt wird ein identitätstheoretisches Bildungsdenken – Identität (im Sinne von Selbstbestimmung) wird zum Bildungsziel. Im Prozess des Lernens sind beide – das Lernen und die Erfahrung – reziprok aufeinander bezogen. »Die Erfahrung ist nicht lediglich […] Grund einer möglichen Folge (des Lernens), sondern – im strengsten Sinn – Grund einer notwendigen Folge. Das Lernen gehört notwendig zur Erfahrung und ist in ihr enthalten wie die Folge im Grund. Es ist eine immanente Konsequenz der Erfahrung.«106 Lernen ist nicht nur eine Folge von Erfahrung, sondern zugleich deren Voraussetzung für zukünftige Erfahrungen, anders formuliert fußt Lernen nicht auf Erfahrung, sondern ist Erfahrung. Des Weiteren sind zwei Zeiten zu beachten: Erfahrung bezieht sich immer auf bereits in der Vergangenheit gemachte Lernerfahrungen (Vorwissen), zugleich wird zukünftig das nun neu zu Ermöglichende inbegriffen und zur neuen Grundlage. Der Lernprozess beinhaltet nicht nur ein Kennenlernen, sondern eine qualitative Dimension des Dazulernens, welches sich nicht nur in der quantitativen Dimension zeigt, sondern zu einem Umlernen führt. Kant spricht von einem »Fortgang der Erfahrung«; Erfahrungen verändern den Menschen in seiner Haltung und in seinem Verhalten. Zugleich kann von einer paradoxen Struktur des Lernens gesprochen werden, denn der Mensch muss bereits gelernt haben, lernen zu können, was Buck ein »stillschweigendes Vorverständnis« nennt. Abschließend zur Thematisierung des Lernbegriffs ist festzuhalten, dass Lernen hauptsächlich an Ergebnissen zu erkennen ist, der Vollzug des Lernens sich aber einer weiteren Analyse und Beschreibung vollends entzieht.107 Es ist fraglich, ob es immer einer unmittelbaren Erfahrung bedarf, oder ob auch vermittelte Erfahrungsgehalte, z.B. eine Information (Buck spricht hier von Kunde), oder ein Beispiel ebensolche Erfahrungsprozesse auslösen und bedingen.
104 Vgl. Brinkmann, Malte, Verstehen, Auslegen und Beschreiben zwischen Hermeneutik und Phänomenologie. Zum Verhältnis und zur Differenz hermeneutischer Rekonstruktion und phänomenologischer Deskription am Beispiel von Günther Bucks Hermeneutik der Erfahrung. In: Schenk, Sabrina; Pauls, Torben (Hg.), Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014; 199-222; 199. 105 Thompson, Christiane, Zur Gedanklichkeit und Geschichtlichkeit der Bildung. Einsätze systematischer Pädagogik bei Günther Buck und Theodor Ballauff. In: Schenk, Sabrina; Pauls, Torben (Hg.), Aus Erfahrung lernen. Anschlüsse an Günther Buck. Paderborn 2014; 223-236; 228. 106 Buck, Lernen und Erfahrung; 17. 107 Dies gilt auch in Anbetracht der Bemühungen der Hirnforschung und der bildgebenden Verfahren, die dem eine andere Sicht und Transparenz versuchen entgegenzusetzen.
1. Reisen und Bildung
Ein Kriterium, welches die Voraussetzung dafür zu sein scheint, ist die Bedeutungszumessung. Wenn dem neuen Inhalt eine Bedeutung zugesprochen wird, so sind Lernprozesse initiiert. Die Beantwortung bzw. Positionierung zu dieser Frage ist entscheidend bei der später noch folgenden Analyse von Reiseführern und deren »Erfahrungs- und Lernpotential«.
1.4
Fazit: Reisen kann bilden
Wurde bereits dargelegt, dass eine Ermöglichung von Bildung die Erfahrung ist, so bleibt zu überlegen, ob mit der Tätigkeit des Reisens immer ein neuer Erfahrungsraum verbunden ist. Unbestritten dürfte sein, dass beim Reisen Erfahrungen gemacht werden, die zum Urteilen herausfordern. Kommt es jedoch durch Erfahrungen zu einer Umstrukturierung, Erweiterung und Differenzierung des bisherigen subjektiven Weltverhältnisses? Reisen ist verbunden mit Kenntnis, so dass mit der Tätigkeit des Reisens ein Wissenszuwachs einhergeht. Es findet eine Auseinandersetzung mit der Umwelt statt, hierzu bedarf der Reisende Kompetenzen; Reisewege müssen eruiert werden, Unterbringungsmöglichkeiten gilt es zu erkunden und Spezifika der Reisedestination ermöglichen neue Wahrnehmungen. Wie bereits dargelegt wurde, muss hier jedoch die Unterscheidung von Erlebnis und Erfahrung greifen. Schäfer betont: »Es ist in dieser Perspektive die Praxis des Reisens selbst, das Reisen als Reisen, dem die Qualität der Bildung zugesprochen wird. Das Reisen führt in andere ›Welten‹, es konfrontiert mit anderen Kontexten und Situationen; es provoziert Erfahrungen durch den notwendigen Umgang mit Ungewohntem.«108 Ist diese Behauptung noch schlüssig für sogenannte Expeditionsreisen und individuell organisierte Fernreisen – die Unplanbares, Differentes und Verstörendes beinhalten, so bleibt zu klären, ob damit auch der Massentourismus gemeint sein kann, wie er eingangs beschrieben wurde. Schäfer führt dazu aus, dass »Reisen – gleichgültig in welcher Form – […] allein dadurch, dass es den Alltag mit seinen Routinen und Verpflichtungen transzendiert, zu Erfahrungen zu führen (scheint), die eine Selbstveränderung versprechen.«109 Die Qualität und Intensität der Erfahrungsmodi differieren, ihre Wirkmacht bleibt aber unbestritten. »Der ›Tauschwert‹ und der ›Gebrauchswert‹ der Ware ›Reise‹, das kommerzielle Verwertungsinteresse und das Versprechen einer bedeutsamen Erfahrung, scheinen so auf eine Weise verbunden zu sein, die es schwer macht, einen einfachen Gegensatz zu konstatieren.«110 Gewarnt werden muss aber vor der Vorstellung ei108 Schäfer, Irritierende Fremdheit; 22. 109 Ebd.; 22. 110 Ebd.; 24.
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1. Reisen und Bildung
Ein Kriterium, welches die Voraussetzung dafür zu sein scheint, ist die Bedeutungszumessung. Wenn dem neuen Inhalt eine Bedeutung zugesprochen wird, so sind Lernprozesse initiiert. Die Beantwortung bzw. Positionierung zu dieser Frage ist entscheidend bei der später noch folgenden Analyse von Reiseführern und deren »Erfahrungs- und Lernpotential«.
1.4
Fazit: Reisen kann bilden
Wurde bereits dargelegt, dass eine Ermöglichung von Bildung die Erfahrung ist, so bleibt zu überlegen, ob mit der Tätigkeit des Reisens immer ein neuer Erfahrungsraum verbunden ist. Unbestritten dürfte sein, dass beim Reisen Erfahrungen gemacht werden, die zum Urteilen herausfordern. Kommt es jedoch durch Erfahrungen zu einer Umstrukturierung, Erweiterung und Differenzierung des bisherigen subjektiven Weltverhältnisses? Reisen ist verbunden mit Kenntnis, so dass mit der Tätigkeit des Reisens ein Wissenszuwachs einhergeht. Es findet eine Auseinandersetzung mit der Umwelt statt, hierzu bedarf der Reisende Kompetenzen; Reisewege müssen eruiert werden, Unterbringungsmöglichkeiten gilt es zu erkunden und Spezifika der Reisedestination ermöglichen neue Wahrnehmungen. Wie bereits dargelegt wurde, muss hier jedoch die Unterscheidung von Erlebnis und Erfahrung greifen. Schäfer betont: »Es ist in dieser Perspektive die Praxis des Reisens selbst, das Reisen als Reisen, dem die Qualität der Bildung zugesprochen wird. Das Reisen führt in andere ›Welten‹, es konfrontiert mit anderen Kontexten und Situationen; es provoziert Erfahrungen durch den notwendigen Umgang mit Ungewohntem.«108 Ist diese Behauptung noch schlüssig für sogenannte Expeditionsreisen und individuell organisierte Fernreisen – die Unplanbares, Differentes und Verstörendes beinhalten, so bleibt zu klären, ob damit auch der Massentourismus gemeint sein kann, wie er eingangs beschrieben wurde. Schäfer führt dazu aus, dass »Reisen – gleichgültig in welcher Form – […] allein dadurch, dass es den Alltag mit seinen Routinen und Verpflichtungen transzendiert, zu Erfahrungen zu führen (scheint), die eine Selbstveränderung versprechen.«109 Die Qualität und Intensität der Erfahrungsmodi differieren, ihre Wirkmacht bleibt aber unbestritten. »Der ›Tauschwert‹ und der ›Gebrauchswert‹ der Ware ›Reise‹, das kommerzielle Verwertungsinteresse und das Versprechen einer bedeutsamen Erfahrung, scheinen so auf eine Weise verbunden zu sein, die es schwer macht, einen einfachen Gegensatz zu konstatieren.«110 Gewarnt werden muss aber vor der Vorstellung ei108 Schäfer, Irritierende Fremdheit; 22. 109 Ebd.; 22. 110 Ebd.; 24.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
ner Normierung der Bildung durch Eröffnung von Erfahrungsräumen, die einen bildenden Charakter haben sollen, diese Erfahrungsräume intendieren lediglich Erlebnisse, die zu möglichen bildenden Erfahrungen werden können. Verschiedene Bedingungen müssen erfüllt sein, damit von Bildung gesprochen werden kann: • •
• • •
Lernen ist ein integraler Bestandteil jeder Reise, bedeutsam ist allerdings, ob diese Form des Lernens eine Form der Erkenntnis beinhaltet. Das Wissen wird bei einer Reise erweitert, gilt dies als allgemeingültig, so ist damit noch nicht ein gebildetes Reisen inkludiert. Dazu bedarf es der Ausbildung einer Haltung, die sich in Handlungsfähigkeit und -bereitschaft zeigt. Ein bereits etabliertes Welt- und Selbstverhältnis erfährt einen Erfahrungszuwachs. Es findet ein Transformationsvorgang statt. Dieses Lernen ist ein Dazu-Lernen im Sinne eines Umlernens. Reisen ist ein Handlungsmodus, damit ist die Voraussetzung des Selber-Tuns als Selbsttätigkeit vorausgesetzt. Somit kann der Mensch im Vollzug des Reisens ein sachliches und sittliches Verhältnis zu sich, zur Welt und zu anderen ausbilden.
Wenn davon ausgegangen werden kann, dass eine (irritierende) Fremdheit Bildungsprozesse initiiert, oder zumindest eine Möglichkeit beinhaltet diese in Gang zu setzen, so ist zu fragen, ob mit jeder Reise Irritationen impliziert sind. Die Frage, die sich stellt, ist, ob jede Reise ein Bildungspotential in sich birgt, und wenn ja, in welcher Form? Sloterdijk bemerkt in diesem Zusammenhang kritisch: »Es hieße vom Massentourismus zu viel zu verlangen, wollte man ihn und seine Rückwirkungen auf die Persönlichkeit der Reisenden noch immer an den Bildungsvorstellungen des Bürgertums im 19. und frühen 20. Jahrhundert messen.«111 Und dennoch kann Reisen ein Bildungssinn zugesprochen werden. In Marketingstrategien der Reiseindustrie wird die Bildungsfunktion selbstverständlich erhoben, aber ist bei jeder Reise tatsächlich ein pädagogischer Möglichkeitsraum vorhanden?112 Anknüpfend an Erfahrungsmöglichkeiten formuliert Gerndt: »Tourismus bereichert die Erfahrung der einzelnen Individuen einer Gesellschaft durch Faktoren, die jenseits des eigenen Alltags liegen. Man reist, um bisher unbekannte Naturlandschaften und Kulturleistungen kennenzulernen und um fremden Menschen zu begegnen.«113
111 112 113
Sloterdijk, Tractatus philosophico – touristicus; 15. Vgl. Schäfer, Irritierende Fremdheit; 19. Gerndt, Helge, Innovative Wahrnehmung im Tourismus. In: Köck, Christoph (Hg.), Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung. Münster 2001; 11-20; 13.
1. Reisen und Bildung
Ein Beispiel zur Verdeutlichung des Unterschieds zwischen »Bereitstellung« von Bildungsmöglichkeiten und Bildung zeigen die in vielen Reiseführern enthaltenen Routenvorschläge. So heißt es im »BAEDEKER Marokko« in Tour 2: Reise durch die Präsahara: »Auf der langen West-Ost-Achse lernt man die südmarokkanische Kontrastlandschaft der Vorsahara kennen: Grüne Täler, üppige Oasen und steinige Hochplateaus wechseln sich ab. Von der Atlantikküste geht es auf Pässe von über 1800m Höhe. Highlight der Route ist die Straße der Kasbahs, die sich bis ins Tafilalet zieht. Von hier aus bietet sich dann ein Ausflug zum Erg Chebbi, Marokkos höchster Sanddüne an.«114 Die Route verläuft von Agadir, Taroudannt usw. nach Erg Chebbi – Stationen, die mit überwiegend ein bis zwei Sternen als Sehenswürdigkeit ausgezeichnet sind. Diese Route normiert den touristischen Blick – an ihr liegen einige Sehenswürdigkeiten-; sie muss im doppelten Sinne selbst erfahren werden: einmal im Sinne der Fortbewegung (ca. 690 km sind zu überwinden), zum anderen in der Begegnung mit »dem Neuen«, wobei die Wahrnehmung als bloße Kenntnisnahme das geringste Niveau der Auseinandersetzung darstellt. Sicherlich beinhaltet die Route eine Fülle an Bildungsmöglichkeiten, so dass zumindest eine Erweiterung des Wissens wahrscheinlich ist. Dewey hat in spitzer Formulierung jedoch auch auf die Grenzen hingewiesen: »Wer zu faul und untätig, oder wer zu sehr in Konventionen erstarrt ist, um diese Arbeit zu bewerkstelligen, der wird weder sehen noch hören.«115 Enzensberger verbindet die Reise mit einer »Flucht aus der Entfremdung«. Dieser gegenüber steht die Suche nach Authentizität. Kann bei einer Reise davon ausgegangen werden, dass sich der Reisende in einer Parallelwelt befindet, einer sogenannten »tourist bubble« bzw. »tourist gaze«, d.h., dass er touristisch vorgegebene Pfade und Infrastrukturen nutzt, so bleibt doch das Moment der Differenz zum Alltag als konstitutives Merkmal bestehen. An dieser Stelle möchte ich erläuternd zur »tourist bubble« zwei Phänomene näher beleuchten: die Aufhebung von Raum und Zeit in der Tätigkeit des Reisens. Reisen beinhaltet konstitutiv die Veränderung des Raumes und stellt somit ein territoriales Handeln dar. Ausgehend von Reisemotiven werden (neue) Räume temporär genutzt. Die Verfügbarkeit und Nutzung dieser Räume sind dabei verknüpft mit dem Erleben der Individualität im Modus der Selbstbestimmung, die wiederum das Gefühl der Freiheit beinhaltet.116 Neue Räume werden relativ losgelöst von
114 115 116
Aber auch kritische Stimmen sind zu vernehmen: Wirner, Stefan, Reisen bildet nicht immer. Die Lage der Menschenrechte in den Urlaubsländern spielt in den Online-Angeboten von Reiseverlagen meist keine große Rolle. In: Amnesty-Journal 7/2007; 18f. BAEDEKER, Marokko; 148. Dewey, John, Kunst als Erfahrung. Frankfurt a.M. 1988; 70. Vgl. Bauman, Zygmunt, From Pilgrim to Tourist – or a Short History of Identity. In Hall, Stuart; du Gay, Paul (Hg.), Questions of Cultural Identity. London, Thousand Oaks, New Delhi 1996; 18-36.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
bisherigen Mustern und Rollen frei und autonom genutzt117 . So formuliert Wöhler: »Touristen haben keine Raumbindung und fühlen sich daher frei.«118 Touristische Räume können in diesem Sinne als soziale Valenzräume beschrieben werden, »d.h. Räume, in denen vor allem Erwartungen hinsichtlich Selbstbestimmung und Freiheit verankert sind.«119 In dieser Ungebundenheit zeigt sich dann Freiheit, die es zu gestalten und zu erleben gilt. In diesem Sinne werden touristische Räume strukturiert, symbolisch überbaut und umgedeutet, in ihnen werden gewünschte Freizeitmuster installiert. Enggeführt kann u.a. festgestellt werden: »Das touristische Leben in tourifizierten Räumen läßt sich […] als ein Durchlaufen von typischen Raumpfaden in konkreten Landschaften nachzeichnen.«120 Ein veranschaulichendes Beispiel sei an dieser Stelle angefügt: Vergleicht man unterschiedliche Anbieter von Iran-(Studien)Reisen (SKR, Studiosus, Dr. Tigges,…), so lässt sich schnell feststellen, dass alle in fast identischer Reihenfolge die Hauptsehenswürdigkeiten des Landes ansteuern. Und selbst bei diesen Reiseetappen erfolgen die Besichtigung und das Erlebnis vor Ort nach standardisierten Vorgaben und Planungen. Keul und Kühberger nennen dieses Verhalten provokativ die »Straße der Ameisen«. Und dennoch können die anvisierten Räume als Valenzräume gelten, da individuelle Erwartungen nicht (zumindest nicht zur Gänze) kollektiviert werden können, Erwartungen sind immer von Kenntnissen und Identitäten abhängig, die subjektiv sind und somit differieren. Betrachtet man zudem die Geschichte des Reisens, so lässt sich schnell nachweisen, dass ein und derselbe Raum unterschiedlich gefüllt wird. Wöhler bezeichnet dies »Tourismusraumidentitäten«. Als zweite Kategorie der Erfassung des touristischen Verhaltens gilt der Faktor Zeit. Neben die Kolonialisierung des Raumes – so Wöhler – tritt die Kolonialisierung der Zeit. »Beliebige Objekte signalisieren, daß sich mit, an und in ihnen etwas erleben läßt – daß sich also ein Ereignis einstellt. Die Zeit wird als ›Entfaltungszeit‹ in diesem Ereignis erlebt.«121 Die Gestaltung der freien Zeit – die für eine Reise konstitutiv ist – zeigt die Autonomie des Individuums und führt zu einer Selbstentfaltung. Beides – die Aufhebung von Raum und von Zeit – stellt Differenzen zur Herkunft und zum Alltag der Reisenden her. In diesen Differenzen ist zugleich die Deutungs- und Definitionsmacht grundgelegt. Der Tourist in der Fremde produziert neue Räume und Zeiten, er zeigt seine Handlungsautonomie in der in117
Im Zusammenhang der interkulturellen Thematik gehe ich näher auf die Touristenkultur und »Tourismus und Kultur« in Überschneidung und Abgrenzung ein. 118 Wöhler, Karlheinz, Aufhebung von Raum und Zeit. Realitätsverslust, Wirklichkeitskonstruktion und Inkorporation von Reisebildern. In: Köck, Christoph (Hg.), Reisebilder. Produktion und Reproduktion touristischer Wahrnehmung. Münster 2001; 79-88; 79. 119 Ebd.; 80. 120 Ebd.; 80f. 121 Wöhler, Aufhebung von Raum und Zeit; 81.
1. Reisen und Bildung
dividuellen Dominanz über den Raum und die Zeit, zugleich integriert er sich in neue Räume. Schlussfolgernd werden indigene Räume durch gesellschaftliche Werte und Erwartungen der Reisenden kulturgeprägt – hier wird nun von sekundären tourismusaffinen Räumen (und auch Zeiten) gesprochen. Nun schließt sich wieder die Frage an nach authentischen Erfahrungen sowie die generelle Frage nach vorzufindender Authentizität. Doch zunächst ist zu erläutern, in welchem Kontext Erwartungen und Vorstellungen des zu bereisenden Gebietes bereits vor der Reise bestimmt werden können. Mit der Planung und Buchung einer Reise liegt diese nicht als tangible Substanz vor. Eine Reise muss somit angetreten und erlebt werden, erst im Vollzug zeigen sich die Erwartungen, Realitäten vor Ort und Möglichkeiten, Räume und Zeiten zu füllen. Werden Bilder und Vorstellungen zu allen fremden Destinationen der Reise bereits von den Reisenden bewusst (nach einer tieferen Beschäftigung mit dem zu bereisenden Urlaubsziel) oder auch unbewusst (auf Grund des fortgeschrittenen Globalisierungseffektes und der unüberschaubaren Flut und Vernetzung von Informationen und Bildern in den westlichen Industrienationen) transportiert, vollzieht sich eine Reise in unterschiedlich stark standardisierten Formen, so bleibt für das Potential der Bildsamkeit einer Reise nicht die Frage nach authentischen Erfahrungen mit dem Anderen/mit dem Fremden, sondern das Erlebnis der Differenz des eigenen Lebens- und Erfahrungsraumes des Alltags zu der »freien Zeit«/ Unterbrechung einer Reise. Schäfer nutzt zur Begründung der Aussage, dass jede Reise bildet, zum einen das Argument der Suche nach authentischen Erfahrungen, zum anderen die »ästhetische Haltung«. »Es ist die Einnahme einer reflexiven Perspektive auf die Logik kulturellen Unterscheidens, die diesen möglichen Bildungseffekt zu kennzeichnen scheint. Dabei meint ›Reflexivität‹ nicht die Einnahme eines souveränen Standpunkts diesseits der Unterscheidungen, der über deren Logik nach eigenen Kriterien verfügt. Die Reflexivität einer ›ästhetischen Haltung‹ scheint sich eher darin auszudrücken, dass man mit der Befangenheit in die ›eigene‹ Logik dieser Unterscheidungen produktiv umgeht«.122 Diese Differenz zum Eigenen umfasst unterschiedliche Ebenen, dies kann zum einen die bloße Ortsveränderung sein, die Erkundung eines fremden Raumes bis hin zur Begegnung mit anderen/fremden Menschen, Kulturen oder Religionen. Wöhler spricht hier von einem »leeren« Raum, den der Reisende zu füllen hat. Jede Reise beinhaltet somit einen Aufforderungscharakter, diesen zu gestalten – dies wird auch benannt mit der Schaffung einer eigenen Erlebniswelt des Touristen. Einschränkend bleibt jedoch immer der vorfindbare Zustand der touristischen Blase, an der sich der Kreis wieder schließt, mit der Frage, ob authentische Erfahrungen überhaupt möglich sind. »Das persönliche Erlebnis der Reise rückt demnach in den Mittelpunkt und
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Schäfer, Irritierende Fremdheit; 34f.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
scheint das, was eine Erlebnisqualität ausmacht, von vorgegebenen Unterscheidungen abhängig zu sein.«123 Was umfasst dieses Persönliche des persönlichen Erlebnisses? Schäfer bemüht hier wieder die Authentizität und die Suche nach einem authentischen Selbst, das jedoch darum weiß, dass es unmöglich ist. Gleichzeitig inszeniert sich das Selbst aber immer in dem Wissen, dass eine Diskrepanz zwischen der Inszenierung und der Wirklichkeit besteht. Die Frage bleibt, wie sich Reisende (im Hinblick auf ihre Reisepraxis) subjektivieren124 , sich so als Subjekte ihres Reisens entwerfen. Dies nun als Bildung zu bezeichnen, würde allerdings meinem Verständnis von Bildung widersprechen. Das Ausfüllen des »leeren Raumes« kann nur durch Erlebnisse vonstatten gehen, die Subjekte machen und gestalten. Hier können sie durchaus in einer summarischen Anhäufung neuer Erlebnisse, Fertigkeiten und Kenntnisse begrenzt bleiben. Dies würde bedeuten, dass zwar Lernerfahrungen gemacht werden können, die die Identität einer Person verändern. Eine Erfahrung (im Sinne von Bildung) kann es aber nur dort geben, wo Subjekte einen Bruch ihrer Subjektivität erleben und einen Transformationsvorgang durchleben. Voraussetzung für diesen Prozess der Selbsttätigkeit ist die Empfänglichkeit (Buck) des Individuums. Dies widerspricht aber nicht der These, dass Reisen bildet: das produktive Ausfüllen der subjektiven Erlebnisräume beinhaltet als Konstitutivum die Erfahrung der Differenz. Diese Erfahrung steht in Wechselwirkung zur Bildung, ohne deren Elemente weder formal noch normativ benennen zu können, dies würde ihr gleichzeitig widersprechen. »Bildung hat kein Ziel, sondern ist eine Urteilsform bei der Auseinandersetzung mit der Welt, die schon im Bildungsprozess angewandt wird, also eine regulative Idee.«125 Im Ausfüllen eines touristischen (leeren) Raumes sieht sich der Reisende erhobenen Geltungsansprüchen gegenübergestellt, die zum Lernen auffordern. Dabei kann es sich sowohl um sachliche als auch um sittliche Geltungsansprüche handeln. Um selbstverantwortet in diesem touristischen Raum/im Tätigsein des Reisens zu handeln, kann Wissen erworben werden. Im Erfahren, Begreifen und Werten der Aufhebung des Raumes und der Zeit kann ein sachliches und sittliches Verhältnis zur Welt, zu den anderen und zu sich selbst gebildet werden (Ladenthin). Obwohl der Mensch a priori bildsam ist, wird hier bewusst die Konjunktivform als Möglichkeit der Bildung gewählt, da dieses Handeln in Selbstverantwortung im eigenen Tätigsein erlernt werden muss. »Die bildende Erfahrung hat […] nicht mit einer identifizierbaren Wandlung des Ich zu tun. Sie eröffnet die Grenzen
123 Ebd.; 36. 124 Hier synonym verstanden als Identität bildend. 125 Ladenthin, Volker, Was ist Bildung? Systematische Überlegungen zu einem aktuellen Begriff. In: Evangelische Theologie 63 (4/2003) 237-260; 241.
1. Reisen und Bildung
der eigenen Weltansicht und die Perspektive auf einen Raum jenseits solcher Grenzen.«126 Bildung in diesem Sinne bezeichnet verantwortete Handlungsfähigkeit. Damit sind Handlungen gemeint, die eine Bedeutsamkeit beinhalten, das heißt, dass sie nicht nur einem Ziel oder Zweck verpflichtet, sondern auf einen Sinn hin orientiert sind. Dieses Lernen im Sinne einer reflektierenden Urteilskraft (die geübt werden muss) unterliegt zum einen Bedingtheiten (sozialen, personalen, historischen) und kann scheitern, zum anderen zeigt sich hier erneut das pädagogische Paradoxon. Abschließend sei noch einmal betont, dass sich der bildende Charakter einer Reise besonders deutlich zeigt, sofern neue, andere, fremde Kulturen und/oder neue, andere, fremde Religionen in den Fokus des Erlebnisraumes treten und einen Geltungsanspruch erheben. Bei beidem ist dann von einer Differenzerfahrung auszugehen, sofern der Reisende einen Kontakt zulässt. Dies kann der Besuch einer Sehenswürdigkeit sein, die einen kulturellen und/oder religiösen Deutungsraum beinhaltet, oder kann bis zu einer Begegnung zwischen fremden Personen oder Gruppen gehen. Nicht bekannte Verhaltenscodices können genauso verstörend sein wie Weltdeutungserklärungen des Gesprächspartners. An dieser Stelle kommt nun wieder der Reiseführer als mögliche Hilfe oder Sehanleitung ins Spiel. Zur eingangs gestellten Frage, ob Reisen bildet, gehe ich schlussfolgernd davon aus, dass eine Reise bilden kann, dies aber nicht für jede Reise und für jeden Reisenden eine Gültigkeit besitzt. Jeder Mensch bildet sich selbst, er bedarf aber der Anregungen aus und Interaktionen mit seiner Umwelt. Für beides – für die Bildung und für das Reisen – gilt, dass sie nur in der Tätigkeit, im Dabeisein, im SelberTun geschieht. Gerade was den Kontakt (zwischen Sehen, Erleben, Begegnen und Erfahren) mit anderen Kulturen und Religionen angeht, ist das Bildungspotential einer Reisesituation enorm groß: Selbst wenn man beispielsweise intrinsisch nicht motiviert sein sollte, sich mit einer Moschee oder dem Islam auseinanderzusetzen, so ist doch z.B. der Alltag in Istanbul so stark durch Muezzinrufe und durch die Präsenz von Moscheen geprägt, dass niemand umhin kommt, diese Phänomene zumindest wahrzunehmen.
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Thompson, Bildung und die Grenzen der Erfahrung; 47.
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2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
Bereits bei der Unterscheidung und anschließenden Nivellierung der Begriffe »Reisender« und »Tourist« ist deutlich geworden, dass sich die Reiseformen in einem ständigen Prozess befinden. Wie später noch eingehender zu zeigen sein wird, sind Reiseführer adressatenorientierte Gebrauchsliteratur, d.h. sie sind u.a. ein Spiegel der gesellschaftlichen Entwicklung und insbesondere der Reisetätigkeit der Deutschen. Ebenso sind neben der deskriptiven Erläuterung des zunehmenden Massentourismus der deutschen Bevölkerung die zugrundeliegenden Motive für einen Reiseantritt konstitutiv für die Auswahl der Reiseführer»begleitung« und deren inhaltlicher Ausgestaltung.
2.1
Reisepraxis der Deutschen seit 1945
Zur Kontextualisierung heutiger Reiseströme und Urlaubstendenzen der deutschen Bevölkerung ist ein Blick in die Vergangenheit notwendig. »Tourismus bleibt ohne Kenntnis seiner Geschichte und der Geschichte der Kultur, in die er eingebettet ist, ein Rätsel.«1 Die ersten Jahre nach dem zweiten Weltkrieg waren durch große Bewegung geprägt. So zeigte sich eine große Mobilität bei Vertriebenen, Flüchtlingen und anderen displaced persons. Kennzeichnend waren in der Regel die Unfreiwilligkeit dieser Reisebewegungen und die stark eingeschränkten Reisemöglichkeiten in Deutschland durch die Besatzungszonen. Erschwert wurde die Situation durch ein nicht vorhandenes Infrastrukturnetz, sowie fehlende Beherbergung und Transportmöglichkeiten. Waren diese Jahre durch Zerstörung und Wiederaufbau gekennzeichnet, so etablierten sich jedoch recht schnell wieder touristische Urlaubs- und Erholungsreisen. Spätestens seit dem Beginn des sogenannten Wirtschaftswunders und der Erhöhung der Urlaubstage setzte ein stetiger Tourismus ein. Ist das Wirtschaftswunder der Auslöser für den Anstieg der Reisetätigkeit, so setzt er dieses
1
Spode, »Reif für die Insel«; 108.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
auch voraus. »Das Modell Urlaubsreise soll vor allem wieder bei denjenigen Reisenden etabliert werden, die sich schon in der Weimarer Republik das Reisen als Selbstzweck, zur Erholung und zum Vergnügen leisten konnten.«2 Dieses neue bzw. wiedererstarkte Reisebedürfnis wurde aus sozioökonomischen Gründen des Wiederaufbaus von den Besatzungsmächten unterstützt. Bis in die 1950er Jahre lagen die Urlaubsziele zunächst aber im Inland, dann erfolgte eine Hinwendung zu Österreich, der Schweiz; auch Italien wurde als bevorzugtes Urlaubsland entdeckt. »Zwar fahren mehr Leute in die deutschen Urlaubsgebiete und nach Österreich, doch wird Italien für lange Zeit zum Synonym für richtigen Urlaub.«3 Zwei Entwicklungstrends lassen sich für das Reiseland Italien beschreiben. Zum einen entwickelte sich die Bildungsreise zu einem Erholungsurlaub am Strand, und zum anderen wandelte sich die Reise von einem selbstorganisierten Abenteuer zum Rundum-Sorglos-Paket der Pauschalanbieter.4 Auch in der Sowjetischen Besatzungszone fand parallel zum Westen ein ähnlicher Prozess statt – mit einer Öffnung hin zu Rumänien, zur bulgarischen Schwarzmeerküste, zu Prag und Budapest. Dem »Reisen in der ehemaligen DDR« ist im Anschluss ein eigener Exkurs gewidmet. Die Reisemodelle »Urlaubs-«, »Vergnügungs-« und »Erholungsreise« etablierten sich in der deutschen Bevölkerung. »Eine der wichtigsten Fragen, nämlich die nach den sozialen und individuellen Gründen für die – trotz der schwierigen Lebensbedingungen – rasant einsetzenden Reiseaktivitäten, konnte bisher noch nicht beantwortet werden. Auch sagen die vorliegenden, eher der interpretatorischen Statistik verpflichteten Beiträge zur Tourismusgeschichte dieser Jahre nichts über die lebensweltliche Bedeutung des Reisens für unterschiedliche soziale Gruppen und Generationen aus; und ebenso wenig wurde bisher die Wirkung dieses Verhaltens auf Fremdbilder, Stereotype von Nationalcharakteren, auf die Unterscheidung von Fremd- und Eigenidentität sowie auf die Wahrnehmungsmuster, die hierfür konstitutiv sind, untersucht.«5 1960er Jahre: In der folgenden Dekade der 1960er Jahre entwickelte der Tourismus sich stetig weiter bis hin zu einem Massentourismus. Das Zeitalter des Massentourismus ist seitdem geprägt »von einem globalen Bewusstsein touristischer Praxis
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Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 35. Bausinger, Hermann, Wie die Deutschen zu Reiseweltmeistern werden. In: Endlich Urlaub. Die Deutschen reisen. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996; 25-32; 27. Vgl. Schumann, Kerstin, Grenzübertritte – das »deutsche« Mittelmeer. In: Endlich Urlaub. Die Deutschen reisen. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996; 33-42; 39. Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 38.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
und dem sicheren Wissen, dass Touristen überall anzutreffen oder überall hinzulocken sind und mit relativ kurzer Vorlaufzeit sich entsprechend der gängigen Szenarien auch lokalitätsprägend ballen können.«6 Indikatoren für diese Entwicklung waren die gestiegenen Übernachtungszahlen; immer mehr Bürger besaßen ein eigenes Auto und waren nicht mehr auf öffentliche Verkehrsmittel angewiesen, und Flugreisen wurden immer beliebter. Dies wurde ermöglicht durch steigende Einkommen und gesetzlich festgeschriebene Urlaubstage. Reisen in der BRD: Bis zum Ende der 1960 Jahre wurde die Urlaubsreise zum Normalphänomen. Das Arbeitsleben und der Berufs- und Familienalltag wurden alljährlich durch die Gestaltung der freien Zeit unterbrochen. »Hinzu kam, daß die Abwechslung verheißende Ortsveränderung angesichts der zunehmenden Tertiärisierung der Erwerbsstrukturen und der Suburbanisierung der Siedlungsstrukturen – sowie damit zusammenhängend der gestiegenen Häuslichkeit – für immer mehr Menschen zum dringenden Bedürfnis geworden war, und daß die Urlaubsreise als zum Jahresrhythmus gehörige Unterbrechung des Alltags darüber hinaus in vielfältiger Form massenmedial als soziale Norm vermittelt wurde.«7 Erstmals wird für größere Bevölkerungsschichten eine Reise erschwinglich, diese unterlag jedoch bestimmten massenphänomengeprägten Codices. Dem Slogan »Sommer, Sonne, Strand« wurde Genüge getan, bevorzugte Urlaubsziele waren zu Beginn der 1960 Jahre noch die Küsten Italiens. Dann folgten jedoch die Länder Skandinaviens, Großbritannien und die östlichen Mittelmeerländer. Besonderer Beliebtheit erfreuten sich später die Balearen, allen voran Mallorca. »Die Hauptattraktion Strand drängt den Wunsch, regionale und kulturelle Besonderheiten des Gastlandes kennenzulernen, schnell in den Hintergrund. Es reicht, den schiefen Turm von Pisa zu fotografieren und in Venedig Tauben zu füttern. Da Kultur auch durch den Magen geht, fehlen in keinem Reiseführer Hinweise zum Verzehr von Spaghetti.«8 In seinem Werk »Freizeit« beschreibt Adorno den Prototyp der »neuen Reisenden« als jene »die in der Sonne sich braun braten lassen, nur
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Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria, Drohung und Verheißung. Vorwort zum Wechselspiel von Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. In: Schnepel, Burkhard; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 7-20; 8. Schildt, Axel, »Die kostbarsten Wochen des Jahres«. Urlaubstourismus der Westdeutschen (1945-1970). In: Spode, Hasso (Hg.), Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989. Berlin 1996; 69-85; 79. Schumann, Grenzübertritte – das »deutsche« Mittelmeer; 35.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
um der braunen Hautfarbe willen«9 . Mit dieser Haltung verbunden ist laut Biernat eine Verabschiedung des authentischen Erlebens.10 Die Reisemotivation verschiebt sich vom Reiseweg und von der Reisebewegung zum Reiseziel. Das Image des Reiseziels hat Auswirkungen auf den sozialen Status der Urlauber. Gerade am Beispiel der Ferieninsel Mallorca lässt sich ein drastischer Imagewandel verdeutlichen. Durch den Charterflugverkehr entwickelte sich diese Balearen-Insel schnell zum beliebtesten Ferienziel der Deutschen. War in den 1950er Jahren die Reise dorthin noch vergleichsweise teuer, so flogen in den 1970er Jahren bereits sieben Millionen Menschen dorthin und 1995 waren es bereits 13 Millionen Urlauber11 im sogenannten »Mallorca-Boom«. Riesige Hotelburgen entstanden, Betonburgen an der Playa de Palma förderten die Kennzeichnung als »Touristenghettos« und »Putzfraueninsel«12 . »In den Ferienzentren, die an deutsche Hochhaussiedlungen erinnern, bleiben Deutsche unter sich.«13 Erst in den Folgejahren wurden neue und für den Tourismus zu nutzende Gebiete der Insel »entdeckt« – die Bergregionen, das Inland, und als Kulturstadt Palma de Mallorca für Städtereisen. Eine Faszination für Fernes und Unbekanntes geht einher mit dem Bedürfnis nach Sicherheit und Altbekanntem. Doch neu Erfahrenes und Erprobtes hielt auch Einzug in den heimischen Alltag. So wurden z.B. landestypische Gerichte importiert, und die Reisesehnsucht fand ihren Niederschlag in der deutschen Schlagermusik der 1950/60er Jahre. »Unter dem Motto ›Essen wie in Italien‹ […] (boten) west-deutsche Hersteller Fertiggerichte wie Ravioli und Miracoli an. In der Schallplattensammlung […] (durften) ›Capri-Fischer‹, ›O sole mio‹, ›Zwei kleine Italiener‹, ›Marina‹ und ›Bella Donna‹ nicht fehlen.«14 Touristisch unbesetzte Räume wurden immer seltener. »Die Faszination der Ferne geht einher mit der Deklassierung der Nähe«.15 Hierdurch zeichnete sich ein Dualismus ab zwischen dem Sehnsuchtsort der Reisedestination und der Abwertung des Alltags. Reisen zu außereuropäischen Zielen blieben noch die Ausnahme, obwohl das »Weg- und woanders-Sein« wichtiger war als das Unterwegssein. Die Suche nach Neuem im Bruch mit dem Bekannten war zwar ein Motiv, wurde aber immer schwieriger zu realisieren. Damit hing auch ein stetiger Imagewandel der Urlaubsziele zusammen. Trends wurden sichtbar und auch kalkulierbar. Beschrieben wird dies oft mit einem Leben neben der Ferne und nicht in der Ferne. Wird ein Urlaubsland so infrastrukturell
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Adorno, Theodor W., Freizeit. In: Ders., Gesammelte Schriften 10.2. Frankfurt a.M. 1977; 645. Vgl. Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 70f. Vgl. Schumann, Grenzübertritte – das »deutsche« Mittelmeer; 40. Vgl. ebd.; 40. Ebd.; 40. Ebd.; 37. Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 70.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
von einer Besuchergruppe dominiert, bilden sich Parallelstrukturen, konkret zu erleben in zunehmender Standardisierung und Kommerzialisierung, die den heimischen Strukturen in verschiedenster Weise ähneln oder gleichen. Darauffolgend wurden neue Länder als Lieblingsreiseziele ausgemacht und mit überindividuellen, vorselektierten und emotionsgeladen Vorstellungsbildern verknüpft. »Der touristische Raum beginnt, sich von konkreten räumlichen Gegebenheiten zu emanzipieren, er wird zum Stereotyp.«16 Eine neue Art der Fremdwahrnehmung entsteht. Authentizität und Echtheit wurden in neuen Erlebniswelten gesucht; dabei ist entscheidend, dass das Gefühl einer Ursprünglichkeit dominiert. Wichtig bleibt jedoch, dass bei der touristischen Fremdheitserfahrung Wiedererkennungsmerkmale vorhanden sind. »Unbekannt ist die Fremde aufgrund der umfangreichen Vermittlungs- und Konstruktionsleistungen der Medien nicht mehr.«17 1970er Jahre: Die 1970er Jahre waren in Abkehr zu diesem touristischen Massenphänomen von einem neuen Exotismus als kulturhistorischem Phänomen geprägt. War der Exotismus in der Vergangenheit von Berichten aus der Kolonialzeit bestimmt, so fand nun eine neue Suche nach unentdeckten und ganz anderen Räumen statt. Einen (von ihr ungewollten) Beitrag dazu lieferte die Reise-Hippie-Bewegung. »Obwohl von der öffentlichen Meinung ihrer Zeit abgelehnt, werden sie – unbeabsichtigt – die Wegbereiter des heutigen kommerziellen Erlebnistourismus.«18 Die »Welle« der experimentierfreudigen Globetrotter und Alternativtouristen startete; diese Gruppe bestand zunächst überwiegend aus Studenten und Akademikern. Aber auch diese Welle stieß an Grenzen, da die individuellen Reisebestrebungen in einer kollektiven Phantasie und Stereotypen mündeten, die nur individuell ausgefüllt erscheinen. Durch die zunehmende Internationalisierung bis hin zur Globalisierung der Welt gab es kaum mehr Orte, die einer Expedition im Sinne einer Neuerkundung bedurften. Den Geheimtipps der neu entstehenden Alternativ-Reiseliteratur wurde alsbald »die Aura des ›unberührten Fleckens Erde‹, der ›letzten Wildnis‹ oder der ›ursprünglichen Atmosphäre‹ genommen.«19 So wird das vermeintlich Fremde längst als Gegenbild und Ideal zum Bekannten. »Was die andere Welt jeweils ausmacht, ist durch den Blickwinkel dessen bestimmt, der dem Eigenen das Andere entgegensetzt.
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Ebd.; 71. Ebd.; 72. Köck, Christoph, Mit dem Finger auf der Landkarte. Abenteuerurlaub für alle. In: Endlich Urlaub. Die Deutschen reisen. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996; 59-64; 60. Ebd.; 61.
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Das Andere soll anders bleiben, um als Projektionsfläche der Wünsche nach vollkommener, unsublimierter Existenz Bestand zu haben.«20 Außerdem entwickelten sich in den 1970er Jahren, als Reaktion auf die verheerenden ökologischen und sozialen Auswirkungen des Massentourismus in den bereisten Ländern und Kulturen, neue Reiseformen. Zwei neu auftretende Realisierungsformen lassen sich unterscheiden: der alternative oder sanfte Tourismus und der Selbstverwirklichungstourismus. Eine Pluralität von Wünschen auf der Nachfrageseite sowie eine Differenzierung der Angebotsseite kennzeichnen den Reisemarkt. So werden z.B. der Familienurlaub, Aktivurlaub, Singleurlaub, Trekkingund Wanderurlaub, Urlaub auf dem Bauernhof, Jugendtourismus usw. unterschieden. Nach Jahren, in denen das eigene Auto das bevorzugte Reisemittel war, stieg in den 1970er Jahren die Nachfrage nach Charterflügen. In den 1970er Jahren erfolgte zum ersten Mal eine merkliche Sensibilisierung für bereiste Länder, für die Aufrechterhaltung von Natur- und Kulturräumen. Natürliche Ressourcen gilt es zu schützen und kulturelle Eigenheiten zu akzeptieren. »Die moderne Tourismusforschung und zunehmend auch die Reiseführer entwerfen ›Bilder der Bereisten‹, die von einer Anklage nicht frei sind.«21 Zivilisationskritik ist deutlich zu spüren, die sich u.a. darin äußert, dass die angestrebte kulturelle Vielfalt in den bereisten Ländern eher zu einer kulturellen Verflachung führt. Ehemalige Authentizität und Ursprünglichkeit verkommt in unechter Folklore. Drei Motivationsstränge für Reisen lassen sich in den 1970er Jahren unterscheiden: Zum einen kann man vom jeweiligen Individuum ausgehen, das als homo viator eine Reiselust als anthropologisches Apriori in sich trägt. Die zweite Motivationslinie ist in der Attraktivität des zu bereisenden Landes/Ziels zu sehen. Als dritten Motivationsstrang lässt sich das Bedürfnis erkennen, dass der jährliche Urlaub als Gegenwelt zum Alltag fungieren soll und dadurch Sehnsuchtsvorstellungen Realisierung erfahren; Wünsche, Träume und Projektionen bekommen eine Legitimation. Im Selbsterfahrungsdiskurs dieses Jahrzehnts wird Reisen so zu einer weit verbreiteten Möglichkeit. Gewollt und gesucht ist eine geistige und psychische Mobilität, die sich in einem Unterwegssein durch den geografischen Raum darstellt. An dieser Stelle stehen sich nun der Massentourismus und der Individualtourismus als scheinbare Gegensätze gegenüber – und gehen doch ineinander auf. Wird dem »Massentouristen« eine gewisse Ignoranz und der Wunsch eines ausschließlichen Minimalkulturkontakts vorgeworfen, erfährt der sogenannte Individualtourismus ebenfalls eine Standardisierung und Konformisierung. »Egal, ob
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Ebd.; 63. Köstlin, Konrad, Wir sind alle Touristen- Gegenwelten als Alltag. In: Cantauw, Christiane (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen. Der feine Unterschied im Alltag. Münster, New York 1995; 112; 12.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
Pauschal- oder Individualreise, der (Urlaubs)-Reisende im Zeitalter des Massentourismus ist nicht frei in der Wahl seiner Urlaubsbedingungen, denn er sucht nicht nur Erholung, sondern Selbst-Bestätigung. Das ›Selbst‹, das es zu bestätigen gilt, ist allerdings nichts Individuelles, es ist im Gegenteil definiert durch die primäre Bezugsgruppe des Einzelnen. Dementsprechend wird ihm diese Bestätigung verweigert, wenn er seinen Urlaub an einem von der Gruppe nicht akzeptierten Ort oder auf eine nicht akzeptierte Weise verbringt.«22 Und dennoch bleiben folgende Herausforderungen bestehen: die dialektische Bezugnahme von Selbst- und Fremdwahrnehmung, die Bildung einer individuellen Identität – die gleichwohl an kollektiven Mustern angelehnt bleibt – und ein Alteritätserleben im interkulturellen Raum. Im Egozentrismus der 1970er Jahre wird die Welt plural erlebt. Ist zunächst der Resonanzrahmen noch eurozentrisch ausgerichtet, so wird mit dem Übergang in die 1980er Jahre die Globalisierung zunehmend als Faktum wahrgenommen. 1980er Jahre: Diese Tendenz der Reiseentwicklung setzte sich in den 1980er Jahren fort. »Simulierte Authentizität und die paradoxe Verschränkung von Verstehen und Nicht-Verstehen des Fremden sind die wesentlichen Kennzeichen des ReiseDiskurses in den achtziger Jahren.«23 Hohe Einkommen und längere gesetzliche Urlaubszeiten führen zu einem stabilen Reise- und Freizeitmarkt. In dieser Dekade pendelt sich dies auf hohem Niveau ein. Differenzierte Reiseformen werden geschaffen, z.B. Kurztrips und Städtetouren, es entstehen Ferienparks und der Interrail-Tourismus. Ein weiteres neues Phänomen sind Zweit- und Dritturlaube. Die neu aufkommende »Erlebnisgesellschaft« sucht gerade in ihrer Reisetätigkeit neue Herausforderungen und Erfüllungen. Extremes und Exotisches stehen ebenso hoch im Kurs wie Gesundheit und Wellness. Zuvor bestehende Bilder von Reisenden als typische Abenteurer, als Aussteigertypen und Angehörige der Hippiegeneration, die in anderen Ländern ihre Selbstverwirklichung anstrebten, wurden nivelliert, und eine Pluralität der nachfragenden Personen wird zunehmend deutlicher. »Aus den exklusiven Alternativen zum Massentourismus – angeblich unverbrauchte Reiseziele, sei es in Form von sogenannter unberührter Natur und menschenleerer Wildnis, sei es in Form von exotischen Orten und abenteuerlichen Touren – wird eine bewußte Inszenierung eben dieser Elemente, um die Alteritätserfahrung zu simulieren, die innerhalb des Massentourismus nicht mehr möglich erscheint.«24 Der Anspruch, in der »kostbaren Zeit des Urlaubs« möglichst viele Er-
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Jost, Herbert, Selbst-Verwirklichung und Seelensuche. Zur Bedeutung des Reiseberichts im Zeitalter des Massentourismus. In: Brenner, Peter J. (Hg.), Der Reisebericht. Die Entwicklung einer Gattung in der deutschen Literatur. Frankfurt a.M. 1989; 490-507; 502. Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 135. Ebd.; 138.
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fahrungsmodi zu erleben, wird zum bestimmenden Anspruch. »Hochkultur und Genuß, Kulinarisches und Kunsthistorisches, Unterhaltung und Bildung werden nicht mehr streng getrennt, Kultur und Kommerz durchdringen sich wechselseitig.«25 1990er Jahre: Der Tourismus der 1990er Jahre wird von drei Bedingungen maßgeblich geleitet: zum einen durch die rasante Entwicklung der digitalen Medien und des Internets. Neue Zugangswege werden zum allgemeinen Gebrauchsmittel der Reisevorbereitung und auch der Beeinflussung von Motivationen und Wünschen. Ein weiterer signifikanter Aspekt ist die immer weiter fortschreitende Globalisierung: Das Gefühl der »Welt als Dorf« in seiner Unübersichtlichkeit und Chancenvielfalt galt es auszuhalten. »Digitalisierung und Globalisierung machen sich in der Tourismusbranche besonders im Bereich der vernetzten Bürokommunikation, der interaktiven Reservierung und multimedialen Beratung bemerkbar sowie durch eine zunehmende Konzentration und Kooperation der Anbieter in großen, transnationalen Konzernen.«26 Als dritten Motor, der die Reisetätigkeit und das Verlangen maßgeblich beeinflusst, ist die jeweilige politische Lage auszumachen. Diese ist in doppelter Dimension entscheidend für die Tourismusbranche: Wirtschaftliche Krisen in Deutschland lassen den Reisemarkt nicht unberührt. Es kann nicht mehr von einem Wachstum ausgegangen werden, bestimmte Jahre verzeichnen einen Rückgang bzw. eine Stagnation. Insgesamt bleibt aber die Reise für die Deutschen ein hohes und erstrebenswertes Gut. Aber auch die zweite Dimension, die politische Lage in den Reisedestinationen, ist ein wichtiger Faktor bei der Zielauswahl. Bei den Reisemotiven zeichnete sich verstärkt in den 1990er Jahren eine Verschiebung ab: Passiv-regenerative fallen hinter aktiv-erlebnisorientierte Motive zurück. Die Erlebnisorientierung wird zum bestimmenden Faktor der Bewertung. Erlebniswelten konstruieren neue Räume, indem diese zu Imageträgern werden. Die Reise in einen topografisch neuen Raum beinhaltet zugleich, dass die neuen Eindrücke auf der Folie der bereits aus der Erfahrung heraus konstruierten Deutungsmuster analysiert und interpretiert werden. Das Fremde wird so zu einem Merkmal, das zunächst unspezifisch ist und in der Interpretation konkretisiert wird. »Touristische Räume sind entleerte Räume, die durch einen Systemraum der reproduzierbaren Symbole wieder gefüllt werden.«27 Eine Erlebnisinszenierung,
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Hennig, Christoph, Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt a.M., Leipzig 1997; 178. Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 176. Wöhler, Karlheinz, Imagekonstruktion fremder Räume. Entstehung und Funktion von Bildern über Reiseziele. In: Gohlis, Tobias u.a. (Hg.), Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung. Bd. 2: Das Bild der Fremde. Reisen und Imagination. Köln 1998; 97-114; 107.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
die »Mountainbike Eldorado«, »Surfparadies« und »Badevergnügen« lauten könnte, scheint notwendig. So wird die Attraktivität mit entsprechenden Imageträgern der Reiseziele benannt. Eine Konstruktion des Raumes betrifft sowohl die räumliche Dimension, als auch die zeitliche. Indem Geschichte über Symbole, Gebäude und Raumerfahrungen in die Gegenwart geholt wird, wird daran Erinnerung geknüpft und Erleben real. »Hinter der Etablierung der Erlebniswelten als touristische Reiseziele in den neunziger Jahren steht also nicht nur ein gewandeltes Verhältnis zur Authentizität des Fremden, sondern auch eine gewandelte Auffassung von geographischem und sozialem Raum sowie seiner zeitlichen Einbindung. Erlebniswelten sind Ersatzwelten. Sie ersetzen nicht nur die Emotionen des Alltags durch das Erlebnis. Sie heben auch die Raum- und Zeiterfahrung der alltäglichen kognitiven Karten auf.«28 An dieser Stelle ist es wichtig zu betonen, dass der Konsument oder Reisende sich dieser Suggestion oft bewusst ist. Waren noch in den 1980er Jahren Kritiken bezüglich einer unreflektierten Reiselaune laut geworden, die auch in der Fremde nicht auf Bekanntes und Gewohntes verzichten wollten, so differenziert sich das Bild zunehmend. Auch die Selbstreflexion der Individuen darf in diesem Punkt nicht unterschätzt werden. So nimmt der Reisende »die ihm gebotene touristische Realität nach seinen subjektiven Bedürfnissen wahr, durchschaut die Simulation als solche und kann auf spielerische Weise damit umgehen. Dabei schließt diese touristische Kompetenz andere Wahrnehmungsmöglichkeiten aber nicht aus.«29 Aus Sicht der Tourismusbranche wird der Urlauber oder Reisende immer unberechenbarer. Konnten in den 1980er Jahren noch die Gruppen nach sozialen und demographischen Gesichtspunkten unterteilt werden, so muss nun ein wesentlich differenzierteres Unterscheidungsraster Anwendung finden.30 Es ist des Weiteren wichtig, die Gruppen der ehemaligen DDR und BRD nach der Wiedervereinigung zu differenzieren. Waren die Ost-Deutschen zunächst reisefreudiger und bevorzugten inländische Reisegebiete, so setzte etwas zeitverzögert ein gewisser Nachholbedarf bzgl. entfernterer Reiseziele ein, ausgelöst durch Prestige- und Imagehoffnung, aber auch Neugier und umfassender Reiselust. »Gegenwärtig und zukünftig wird in den meisten Tourismusbereichen von ›Diversifizierung‹ gesprochen, d.h. neue Produkte und neue Märkte stehen im Mittelpunkt der zukünftigen Herausforderung.«31 Die Entwicklung und der Trend des Tourismus lassen sich
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Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 180f. Ebd.; 183. Vgl. Steinecke, Albrecht, Wohin geht die Reise? Aktuelle Tendenzen im Tourismus. In: Endlich Urlaub. Die Deutschen reisen. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996; 112-117; 112f. Freyer, Walter, Tourismus. Einführung in die Fremdenverkehrsökonomie. München 9. Aufl. 2009; 19.
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durch folgende Bereiche und Faktoren beeinflussen: Einkommen und Wohlstand, Urlaub, Freizeit, Wertewandel, Mobilität und Verkehr, Entwicklung des Kommunikationswesens, Ressourcenentwicklung im Quell- und Zielgebiet (Natur, Bevölkerung und Verstädterung) und das Entstehen und der Ausbau einer globalen Tourismusindustrie.32 Es gilt festzuhalten, dass es sich bei der Reisepraxis der Deutschen um einen stark differenzierten sowie schnellem Wandel unterworfenen Prozess handelt. Sie ist Teil der zivilisatorischen Entwicklung, die Sloterdijk »Demokratisierung des Luxus« nennt.33 Reisepraxis heute: Zwei Begriffe kennzeichnen in der Beschreibung des heutigen Reiseverhaltens vielfach die Diskussion: Mobilitäten und mobility turn. Mobilität als Begriff der Postmoderne oder auch der globalisierten Welt verbindet sich »weltweit zum Ausdruck von Freiheit, Unabhängigkeit, Individualität und Selbstbestimmun g«34 . Im Kontext der Reiseforschung wird von horizontaler (auch räumlicher) Mobilität gesprochen, die jegliche physische Ortsveränderung des Menschen umfasst. Hierbei wird ein Minimum an Zeit und Weg vorausgesetzt. Versucht man weiter den Begriff der Mobilitäten im Kontext des Reisens zu definieren, so kann schnell festgestellt werden, dass es sich um eine Hybridform handelt. Unterschieden werden eine unidirektionale und eine biderektionale Variante. Spode formuliert für die bidirektionale Reise der heutigen Zeit folgende Kennzeichen: 1. das Fehlen äußerer, formeller Zwänge, 2. das Fehlen äußerer, eindeutig zweckrationaler Motive, 3. die Beschränkung auf den Konsum (intangiler Güter) und 4. ein psychologisches Moment im Sinne von Exzeptionellem und Nicht-Alltäglichem.35 Für das 21. Jahrhundert wurde ein neues Mobilitätsparadigma entworfen, der mobility turn (Urry). Ausgehend von teils auch umstrittenen und diskutierten Metaphorisierungen von Mobilität36 spricht Spode von einer Touristifizierung des Alltags und einer Veralltäglichung des Tourismus. Deutlich wird dies unter anderem darin, dass die deutsche Bevölkerung immer kürzer, aber auch häufiger vereist. Und dennoch lassen sich weiterhin Kriterien für eine biderektionale Reise benen-
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Vgl. ebd.; 20-35. Vgl. Sloterdijk, Tractatus philosophico – touristicus; 14. Morrison, Mark, Besser, nicht schneller. Zukunft der Mobilität. www.zeit.de – 14.11.2017 [17.09.2018] Vgl. Spode, Hasso, Mobilität, Reisen, Tourismus. Transformationen der Terminologie zwischen Fremdenverkehrslehre und Mobility Turn. In: Pechlaner, Harald; Volgger, Michael (Hg.), Die Gesellschaft auf Reisen – Eine Reise in die Gesellschaft. Wiesbaden 2017; 23-46; 35. Vgl. Lenz, Ramona, Von der Metaphorisierung der Mobilität zum »Mobility Turn«. 2010. www.mobileculturestudies.com [17.09.2018]
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
nen, auch wenn das »Liminoide« (V. Thurner) an den Rändern oft ausgefranst und Reisen oft »sinnmäßig überdeterminiert« (G. Meggle) sind.37 Zum Ende des historischen Abrisses wird das empirische Reiseverhalten in den Jahren 201438 , 201639 und 201840 genauer beschrieben. »Das Urlaubsreisejahr 2014 (Urlaubsreisen ab fünf Tagen Dauer) war geprägt von einer stabil hohen Partizipationsrate: 77,4 % (Vorjahr 77,9 %) der deutschsprachigen Bevölkerung ab 14 Jahren machten zumindest eine Urlaubsreise mit zumindest fünf Tagen Dauer.«41 Für 2018 zeigte sich eine leicht gestiegene Urlaubsintensität zu 2017, die jedoch mit 77,2 % hinter der von 2014 liegt. Die Zahl der Kurzurlaubsreisen nahm weiter zu.42 Die Fragen sind: Wer reist und wohin? Angelehnt an die Sinus-Milieus43 zeigt sich (erwartungsgemäß) eine höhere Urlaubsreiseintensität in den oberen sozialen Schichten und den eher auf Neuorientierung setzenden Milieus. »Die höchste Urlaubsreiseintensität erreichen die ›Performer‹ (2014: 93 %/2017: 91 %) […], ›LiberalIntellektuelle‹ (2014: 90 %/2017: 89 %) […], ›Expeditive‹ (2014: 89 %/2017: 92 %) […] und ›Konservativ-Etablierte‹ (2014: 88 %/2017: 90 %) […].«44 Demgegenüber steht die Gruppe der »Prekären« mit 2014: 57 % (2017: 52 %). Betrachtet man die Altersstruktur, so zeigten sich 2016 die 30- bis 54- Jährigen als besonders reisefreudig.45 Beliebt waren 2016 deutsche Reiseziele. Eine Begründung liegt u.a. im hohen Sicherheitsbedürfnis der Reisenden und der gestiegenen Terrorbedrohung in vielen Gebieten der Welt. Bei den Auslandsreisezielen lag Spanien mit 14,1 % weit vorne, gefolgt von Italien (7,9 %), Österreich (4,4 %) und der Türkei (4,4 %).46 Für das Jahr 2017 stellt die FUR (Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen) fest, dass eine Vielzahl unterschiedlicher Ereignisse das Reiseverhalten beeinflussen: An erster Stelle wird der »(islamistische) Terrorismus« genannt, gefolgt von »Politik« (hier wird Bezug genommen auf die Amtseinführung Donald Trumps, die politischen Beziehungen zwischen Deutschland und der Türkei, die Ankündigung des Brexit
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Vgl. Spode, Mobilität, Reisen, Tourismus; 42. Vgl. Reiseanalyse 2015. Hg. von der FUR Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V. Kiel 2015. Vgl. Reinhardt, Ulrich, Tourismusanalyse 2017. (Stiftung für Zukunftsfragen) Hamburg 2017. Vgl. Reiseanalyse 2018. Hg. von der FUR Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V. Kiel 2018. Reiseanalyse 2015; 5. Vgl. ebd.; V. In der Sinus-Studie werden die Menschen in Gruppen zusammengefasst, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln. Grundlegende Wertorientierungen und die Alltagseinstellungen zur Arbeit, zur Familie, zur Freizeit, zu Geld und Konsum werden hier abgebildet. Reiseanalyse 2015; 10 und Reiseanalyse 2018; 14. Vgl. Reinhardt, Tourismusanalyse 2017; 8. Vgl. ebd.; 20.
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und die Kontroversen um ein Unabhängigkeitsreferendum in der spanischen Region Kataloniens), »Flüchtlingskrise in Europa«, »Gesundheit«, »Verkehr« (Deutschlands zweitgrößte Airline, AirBerlin, musste im Sommer einen Insolvenzantrag stellen), »Währungen« (hier wird besonders auf die türkische Lira hingewiesen; im Fünf-Jahres-Vergleich halbierte sich ihr Wert) und »Wetter- und Naturkatastrophen«.47 »Während die türkischen Feriengebiete (2016) massiv unter den Terroranschlägen und politischen Unruhen zu leiden hatten und mehr als 40 Prozent weniger deutsche Touristen begrüßen konnten, steigerte die Alpenrepublik ihren Anteil an deutschen Besuchern um mehr als 15 Prozent.«48 Der Marktanteil ausländischer Urlaubsziele für 2017 zeigt für die Türkei 6 % und liegt nach Spanien (13 %) und Italien (8 %) an dritter Stelle.49 »Selbst positive Umweltfaktoren wie zum Beispiel das mit dem Währungsverfall einhergehende attraktive Preisniveau in der Destination (Türkei) konnte die zurückhaltende Nachfrage […] nicht erneut beleben.«50 Wie wird gereist? Für das Jahr 2014 lassen sich Ziele mit besonders hohen Marktanteilen der Pauschalreise finden, von der Karibik über die Kanaren, Spanien, Nordafrika, bis nach Griechenland und die Türkei – jedoch gingen die Marktanteile in diesem »Pauschalreisegürtel« in den letzten Jahren zurück.51 Lag 2014 die Quote der Pauschalreisen für Nordafrika (Marokko, Algerien, Tunesien, Libyen, Ägypten) bei 90 % – so zeigte sich 2017 ein Anteil von 82 %, für die Türkei 2014: 72 % und 2017: 68 %. (RA 2015 und RA 2018). Unter den Urlaubsreisearten dominierte 2014 der Strand-/Bade-/Sonnenurlaub (44 %), gefolgt vom AusruhUrlaub (35 %), Familien-Ferien (29 %) und Natururlaub (27 %). An 12. Stelle wird die Kultur-Reise (7 %) und an letzter Stelle (14.) die Studienreise (1 %) genannt. Für 2017 zeigen sich ähnliche Werte, die »volumenmäßig bedeutsamsten Urlaubsreisearten sind Erholungsreisen/Entspannungsurlaube (52 %), knapp vor Badeurlaub/Strandurlaub (45 %).52 Dabei muss betont werden, dass sich viele Reisen nicht auf eine einzige Urlaubsreiseart beschränken lassen.53 »Im Durchschnitt werden (2017) 2,7 Reisearten zur Beschreibung einer Reise angegeben.«54 Eine Neuerung bei den Reiseformen zeichnet sich in den letzten Jahren ab: Der deutsche Markt für Hochsee-Kreuzfahrten wächst dynamisch. So reisten im Jahr 2017 insgesamt 2,19 Millionen Gäste aus dem deutschen Quellmarkt auf einem Kreuzfahrtschiff,
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Vgl. Reiseanalyse 2018; 5ff. Reinhardt, Tourismusanalyse 2017; 20. Vgl. Reiseanalyse 2018; 31. Ebd.; 33. Vgl. Reiseanalyse 2015; 37. Vgl. Reiseanalyse 2018; 56. Vgl. Reiseanalyse 2015; 46ff. Reiseanalyse 2018; 57.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
was einem Passagierwachstum von 8,4 Prozent entspricht (2016: 2,02 Millionen Passagiere).55 Ein weiteres neues Phänomen darf am Ende der empirischen Darstellung der Reisetätigkeit nicht fehlen: »Overtourism«. Ein weltweit wachsender Tourismus steht einem begrenzten Raum gegenüber, dies führt vielerorts bereits zu Konflikten zwischen den Reisenden und Einheimischen. Ist dies bereits ein Kennzeichen der Destinationen Venedig, Palma de Mallorca, Berlin und Dubrovnik, um die »Spitzenreiter« zu nennen, so gilt dieses Phänomen (noch) nicht für die Reiseländer Türkei, Marokko und Iran. Hier kann zwar auch von Hotspots gesprochen werden, eine kritische Bewertung mag auch bereits angesagt sein, aber im Ranking sind sie noch nicht erwähnenswert. Im Rahmen dieser Arbeit werden exemplarisch Reiseführer für die Länder Türkei, Iran und Marokko betrachtet. Daher soll auch an dieser Stelle ein genauerer Blick auf das Profil der Türkei-Urlauber geworfen werden. »Zwischen 2006 und 2016 konnte das Land seinen Anteil an deutschen Touristen um 22 Prozent steigern (von 3,6 % auf 4,4 %).«56 Besonders beliebt sind die türkische Riviera, die Schwarzmeerregion, die Ägäis und die Metropole Istanbul. In der Reiseanalyse (RA) 2015 wurden die Top-10-Reiseziele bei ausgewählten Reisearten unterschieden. Im Segment des (in erster Linie) Strand-, Bade-, Sonnenurlaubs (insg. 44,2 Mio.) lag die Türkei auf Platz 2 mit 14 %, bei den Rund-, Kultur-, Studienreisenden (insg. 20,7 Mio.) auf Platz 8 mit 3 %. Im Jahr 2017 zeigte sich diesbezüglich eine leichte Verschiebung: Blieb der Anteil im Segment Badeurlaub/Strandurlaub mit 13 % noch vergleichbar, so fand sich die Türkei im Ranking der Top 10 Reiseziele für Städtereisen und Sightseeing-Urlaub nicht mehr.57 In der Tourismusanalyse 2017 wird als ein Hauptgrund für die Beliebtheit gerade im Segment des Strand- und Badeurlaubs das niedrige Preisniveau genannt. »Mit nur 76 Euro am Tag für Reisekosten liegt die Türkei 2 Euro unter den durchschnittlichen Reisekosten in Deutschland.«58 In der Konsequenz ist so auch nicht verwunderlich, dass der Anteil der Geringverdiener hier besonders hoch ist.59 Wie »anfällig« Urlaubsdestinationen für Änderungen der äußeren Bedingungen waren und sind, ist gerade für die Türkei im Jahr 2016 sehr deutlich zu spüren gewesen. Ausgelöst und begründet durch die Terrorwarnungen meldete das Tourismusministerium im Juni 2016 ein Minus von 40 Prozent bei den Besucherzahlen aus dem
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Vgl. http://www.cliadeutschland.de [17.09.2018] Reinhardt, Tourismusanalyse 2017; 28. Reiseanalyse 2018; 59. Reinhardt, Tourismusanalyse 2017; 28. Geringverdiener 15 %, mittlere Einkommen 48 %, Besserverdiener 17 %, keine Angaben 21 % (Tourismusanalyse 2017; 29).
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Ausland. Für die Jahre 2018 und 2019 kann wieder von einer steigenden Tendenz gesprochen werden. Für die Reiseländer Iran und Marokko sind in dieser Form keine Analysen vorhanden. Festgehalten werden kann jedoch, dass Fernreisen 2016 eine Stagnation auf hohem Niveau verzeichneten; 11,4 % der Deutschen wählten eine Fernreise für ihre Haupturlaubsreise. Erstmals seit Jahren verloren die nordafrikanischen Feriengebiete Ägypten, Marokko und Tunesien Marktanteile.60 Insgesamt hat sich die Zahl der Fernreisen innerhalb der letzten 25 Jahre mehr als verdoppelt, jedoch bleibt sie – obwohl von vielen Bundesbürgern als Traumurlaub beschrieben – nur für einen kleinen Teil der Reisenden realisierbar. In die Destinationen Nordafrikas reisten 2016 2,2 % der Befragten als Haupturlaub, in den Nahen und Mittleren Osten 0,9 %. Abschließend zur Reiseanalyse kann festgehalten werden, dass von einem weiteren Anstieg der Reisenden in den Prognosen ausgegangen wird. Sowohl die Beliebtheit von Reisedestinationen als auch die von Reiseformen wandeln sich stetig.61 Eine bereits in den 1990er Jahren aufgestellte These, dass das Reisen von einer Aufhebung von Raum und Zeit bestimmt ist, findet in diesem Prozess weitere Bestätigung. In einer extremen Sichtweise geht sie sogar so weit, dass die Wahl der Reisedestinationen letztlich einer Beliebigkeit unterliegt und Urlaubsmotive nicht bzw. kaum raumorientiert sind. Folgt man Wöhler, so wird dem Signifikant »Urlaubsort« ein Signifikat im Sinne eines Erlebnisversprechens beigefügt, so z.B. »Traumurlaub« oder »Paradies«.62 Er geht sogar so weit, dass er dem Reisenden raumzeitunabhängige Sehnsüchte und Erlösungsvorstellungen impliziert, die eine positive Alterität bedingen. Isenberg nimmt ebenfalls auf die Paradiesvorstellung Bezug: »Alles, was dem Menschen an Idealem und Wünschenswertem versagt blieb, erreicht ihn in einer glücklicheren Welt ohne Arbeit und Enttäuschung, im Paradies. Hier ist der Ort des Glücks, des ungestörten Friedens unter Menschen und Tieren in der Erwartung des ewigen Lebens. In den Urlaubserwartungen und -sehnsüchten der Menschen lebt das alte religiöse Bild vom Paradies wieder auf. Der Urlaub wirkt wie eine Einladung ins Paradies.«63 Im Zusammenhang mit dem Erlebnisversprechen spricht Pagenstecher von einem touristischen Blick als touristischem Leitsinn, der historisch, gesellschaftlich und kulturell geprägt ist. An der Basis des tourist gaze, der sowohl einem romantischen, als auch einem geselligen Leitbild (und analog Leitsinn) entspricht, orientie60 61 62 63
Vgl. Reinhardt, Tourismusanalyse 2017. Zum Beispiel verzeichnet der Campingtourismus ein Comeback, ein neuer Trend ist das »Glamping« – eine luxuriöse Variante der Wohnwagen/Wohnmobil- und Zeltnutzung. Vgl. Wöhler, Karlheinz, Touristifizierung von Räumen. Kulturwissenschaftliche und soziologische Studien zur Konstruktion von Räumen. Wiesbaden 2011; 97ff. Isenberg, Wolfgang, Neue Wege ins Paradies. Reisen als Feld länderkundlicher Erfahrung. In: Steinecke, Albrecht (Hg.), Lernen. Auf Reisen? Bildungs- und Lernchancen im Tourismus der 90er Jahre. IFKA Schriftenreihe, Band 9. Bielefeld 1990; 137-148; 137.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
ren sich Wahrnehmungsmuster und Verhaltensrituale. Kann hier der Vorwurf der Engführung erhoben werden, so ist dies in Teilen zutreffend. Den Reisenden kann es nicht geben, entsprechend muss auf eine Vielfalt an Leitbildern verwiesen werden. Eine Konzentration findet jedoch auf die Reisevorstellungen von Geselligkeit, Vergnügen und Erlebnis statt.64 Ausgehend von der »Erlebnisthese« Schulzes wird so das touristische Raumerleben vom Ortsbezug auf einen Erlebnisbezug umgestellt. »Räume oder Orte werden mit bestimmten Vorstellungen, Werten und Gefühlen aufgeladen, in einem dazu passenden Kontext präsentiert, und sie schreiben sich dann mit entsprechenden Assoziationen in das touristische Gedächtnis ein.«65 Nicht der geographische Ort ist entscheidend (und es erfolgt kein Topos-Wissen mehr), sondern der Ort wird durch Ereignisse ersetzt, so dass das Erleben atopisch wird. Erlebnisse können dabei auch sozialer und physischer Natur sein, sie sind dabei aber nicht mehr raumgebunden. Hierbei findet eine Temporalisierung des Raumes statt. Dieses von Wöhler als »touristischer Tempetopos« bezeichnete Schema sieht den Touristen/Reisenden in seiner Raum- und Zeitgestaltung wirkmächtig handelnd. Das Fremderleben wird so zu einem Selbsterleben, indem Räume besetzt werden mit ortlosen Beschreibungen wie »Kletterspaß, Fit & Fun, Wellness, Genießen, Paradies, Relaxen, Badevergnügen, Geselligkeit, Landleben, Authentizität, Nightlife, Abenteuer, Unterhaltung, Umweltfreundlichkeit, Verwöhnen, Ruhe etc.«66 Als Beispiele seien zwei Darstellungen von Badevergnügen in Marokko und in der Türkei genannt: Im »BAEDEKER Marokko«67 heißt es: »Die marokkanische Küste erstreckt sich über 3500 km und bietet viele schöne Sandstrände, die sich gut zum Sonnenbaden, Schwimmen und Surfen eignen«. Im weiteren Text werden diese u.a. beschrieben mit »feinstem Sand«, »Einsam, fantastische Wellen«, »glitzernder Sand, großartiger Blick«, »Surfer-Paradies«, »Familienstrand«, »mondän«, »Strandperle« und »Ökolabel Blaue Flagge«. Ähnliche Formulierungen lassen sich im »BAEDEKER Türkische Mittelmeerküste«68 finden: »Die Türkei hat an ihrer langen Küste so viele Strände wie den sprichwörtlichen Sand am Meer.« – beschrieben als »landschaftlich sehr eindrucksvolle […] Umgebung«, »windgeschützter Sandstrand«, »reizvolle Badeplätze«, »traumhafte Lagune«, »Paradies für Surfer« und »Blaue Flagge«. Mit Räumen werden Angebotsbezeichnungen verbunden, so z.B. Wohlfühlen oder Abschalten vom Alltag. Länder und Reisedestinationen erhalten auf diese Art
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Vgl. Pagenstecher, Cord, Der bundesdeutsche Tourismus. Ansätze zu einer Visual History: Urlaubsprospekte, Reiseführer, Fotoalben 1950 – 1990. 2. korrigierte und aktualisierte Aufl. 2012; 27ff. Wöhler, Touristifizierung von Räumen; 147. Ebd.; 150. BAEDEKER, Marokko; 136ff. BAEDEKER, Türkische Mittelmeerküste. Ostfildern 12. Aufl. 2014.
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Images, die für eine Reiseentscheidung relevant sind. Touristen haben Vorstellungen von Räumen und Orten, und beim Reisen werden diese Orte durch den »touristischen Blick« und entsprechende Imaginationen strukturiert und gefüllt. So entstehen durch das Reisen sowohl ein Weltbezug als auch ein Selbstbezug. Schober unterscheidet für den Tourismus vier Erlebnisbereiche: das explorative Erleben, das soziale (u.a. Geselligkeit), biotische (Körper) und das optimierende (Status und Prestige).69 Lockdown – die Veränderung der Reisewelt seit März 2020: Wegen der Corona-Pandemie hat die Bundesregierung Mitte März 2020 erstmals eine weltweite Reisewarnung ausgesprochen. »Auf einmal war ›Anders Reisen‹ kein Slogan für die Diversifizierung einer ohnehin boomenden Branche mehr, sondern ein freundlicher Euphemismus für das Zuhausebleiben«70 . Zur Zeit lautet die Devise des Auswärtigen Amtes: »Vor nicht notwendigen, touristischen Reisen in eine Vielzahl an Ländern wird derzeit gewarnt. Seit dem 1. Oktober 2020 gelten dabei wieder länderspezifische Reise- und Sicherheitshinweise. Überschreitet ein Land oder eine Region die Neuinfiziertenzahl im Verhältnis zur Bevölkerung von 50 Fällen pro 100.000 Einwohner kumulativ in den letzten sieben Tagen, können Reisewarnungen jederzeit wieder ausgesprochen werden.«71 Dies führte und führt zu einem massiven Reiseeinbruch. Jedoch wurde weiterhin gereist, dies hauptsächlich im Inland. Kirstges schätzt, dass 2020 zwischen 40 und 50 Prozent der Reisenden in Deutschland bleiben.72 »Kurzarbeit oder Arbeitsplatzverlust führten vor allem bei den ärmeren Bevölkerungsschichten zu einem Verzicht auf Urlaubsreisen. Bei der Mittelschicht und den Wohlhabenderen spiele Unsicherheit in Bezug auf das, was einen am Urlaubsort erwartet sowie die Angst vor Ansteckung im Flugzeug und in Hotels eine Rolle«73 . Bevor nun anschließend die Reisemotive genauer dargestellt und erläutert werden, müssen zumindest in kurzer Form, die Reisemodalitäten der ehemaligen DDR umrissen werden, um die gesamtdeutsche Entwicklung verstehen zu können.
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Vgl. Schober, Reinhard, Urlaubserleben/Urlaubserlebnisse. In: Hahn, Heinz; Kagelmann, Hans Jürgen (Hg.), Tourismuspsychologie und Tourismussoziologie. Ein Handbuch zur Tourismuswissenschaft. München 1993; 137-141. Groebner, Valentin, FERIENMÜDE. Als das Reisen nicht mehr geholfen hat. Konstanz 2020; 144. http://www.auswaertiges-amt.de [24.10.2020] Vgl. Bauer, Markus; Hamann Susanne, Deutschland-Urlaub boomt – wegen Corona. In: http://www.stuttgarter-nachrichten.de [21.09.2020] Gasser, Hans, Auf nach Deutschland. http://www.sueddeutsche.de– veröffentlicht 11.06.2020 [21.09.2020]
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
2.2
Exkurs: Reisen in der ehemaligen DDR
»Der ›Teutonengrill‹ an der italienischen Adriaküste und ›der Goldstrand‹ an der bulgarischen Schwarzmeerküste: Schlagworte der 60er Jahre – letzteres noch werbend, ersteres bereits verächtlich. Sie standen für das Phänomen des Massentourismus, für den Drang nach Sonne und Süden, der West- und Ostdeutsche gleichermaßen erfasst hat.«74 Der oftmals aufgestellten These, dass die Reisetätigkeit der Deutschen ein hauptsächlich westdeutsches Phänomen sei, muss hier entgegengehalten werden, dass bereits in den 1950er Jahren auch die Ostdeutschen große Reisefreudigkeit zeigten. Den politischen Rahmenbedingungen geschuldet, handelte es sich dabei aber selbstredend nicht um einen marktwirtschaftlich basierten und kommerziell ausgerichteten Reisemarkt wie im Westen. Stattdessen waren Urlaubsreisen in der DDR vor allem vom Staat, dem Freien Deutschen Gewerkschaftsbund (FDGB) und von einzelnen Betrieben organisiert. Schon wenige Jahre nach Kriegsende bis hin zur Wiedervereinigung war die »Reisefreiheit« bzw. der Mangel daran ein politisches Hauptmotiv in der Beurteilung der politischen Verhältnisse in der Planwirtschaft aus westlicher Sicht. »Ein Anspruch auf bezahlten Urlaub für alle Arbeiter und Angestellte wurde 1946 von der Sowjetischen Militäradministration verfügt und dann sogar in der DDR-Verfassung verankert, bzw. 1951 in ein Rahmengesetz überführt.«75 Für FDGB-Mitglieder gab es in der Regel einen dreizehntägigen Urlaub; der Unterschied zur BRD bestand darin, dass sowohl der Urlaubsort als auch die Unterbringung und der Zeitpunkt der Reise vorgegeben wurden.76 Angeknüpft wurde an bereits bekannte und in der Vorkriegszeit etablierte Reisemodelle. Die gewerkschaftliche Touristiksektion in der Sowjetunion war ebenso formgebend wie das Ferienwesen der deutschen Arbeiterbewegung und der KdF (Kraft durch Freude)-Reisen der nationalsozialistischen Vergangenheit. Eine Besonderheit für die DDR stellte die sogenannte »Friedensflotte« dar – Schiffsreisen für Werktätige wurden eingeführt mit dem Ziel der Welt »von den revolutionären Errungenschaften, den Aufbauleistungen und den Friedensleistungen des ›neuen Deutschland‹ zu künden.«77 . Ideologisch überbaut sollte jede Urlaubs- und Ferienreise der Systemstabilisierung dienen. Enggeführt ist hier 74 75
76
77
Spode, Hasso (Hg.), Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989. Berlin 1996; 7. Spode, Hasso, Tourismus in der Gesellschaft der DDR. Eine vergleichende Einführung. In: Ders. (Hg.), Goldstrand und Teutonengrill. Kultur- und Sozialgeschichte des Tourismus in Deutschland 1945 bis 1989. Berlin 1996. 11-34; 16. Vgl. Selbach, Claus-Ulrich, Reise nach Plan. Der Feriendienst des Freien Deutschen Gewerkschaftsbundes. In: Endlich Urlaub. Die Deutschen reisen. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996; 65-76; 65. Spode, Tourismus in der Gesellschaft der DDR; 17.
65
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
von einer Funktionalisierung des Reisens zur a. Erholung und dem Erhalt der Arbeitskraft und b. Verbreitung und Sicherung des sozialistischen Menschenbildes auszugehen. Historisch betrachtet hatte zunächst der FDGB den Löwenanteil bei den Reisetätigkeiten, es folgten die Betriebe. Auch diese wurden stark subventioniert und konnten ihr Angebot mehr und mehr differenzieren. Darüber hinaus entstanden weitere Organisationen für spezielle Zielgruppen wie Wanderer und Zelter. »Quantitativ bedeutend waren vor allem die staatlichen Campingplätze«.78 In den 1970er Jahren erwuchs zudem ein neuer Trend: der FKK-Urlaub. Analog zur BRD erfolgte in den ersten Jahren die Anreise in die Urlaubsorte und -regionen mit der Bahn, dann folgte in den 1970er Jahren der vermehrte Automobileinsatz. »Trabbi« und Wartburg wurden die bevorzugten Verkehrsmittel vor allem für den Campingurlaub. Gereist wurde – auch hier analog zur BRD – zunächst im Inland. Bei Auslandsreisen zeichnete sich ein unterschiedliches Bild ab. Auslandsreisen waren praktisch auf die RGW-Länder79 beschränkt. »Statt der Alpen die Hohe Tatra, statt mediterraner Gestade der ›Goldstrand‹ von Varna […]. Das kleinste Buch der Welt, hieß es, sei der Reiseatlas der DDR.«80 Und dennoch kann von Beginn der DDR an die Reisefreudigkeit der Bevölkerung nicht hoch genug eingeschätzt werden, auch der Drang ins »befreundete Ausland« war konstitutiv. Parallel zur Schaffung von Reisemöglichkeiten wuchs jedoch auch die Unzufriedenheit; es fehlte an Hotel- und Ferienplätzen ebenso wie an der Qualität der Versorgung vor Ort. »Auf dem VIII. Parteitag im Juni 1971 stellt der neugewählte Erste Sekretär der SED, Erich Honecker, das ›Wohl der Menschen‹ in den Vordergrund der Politik. Dazu gehört auch der Ausbau des gewerkschaftlichen Erholungswesens.«81 Die sozialistische Ideologie sah vor, ein breites Angebot an kulturellen und sportlichen Veranstaltungen in den Urlaubsalltag zu integrieren. Besonders die Förderung der Jugend erfolgte in subventionierten Fahrten der Freien Deutschen Jugend (FDJ), der Pionierorganisation Ernst Thälmann, des FDGB, der Betriebe und Schulen. Die fehlende Reisefreiheit der DDR-Bürger sollte durch den Aufbau eines Sozialtourismus kompensiert werden. Neben dem Binnentourismus waren die bevorzugten Ziele die Krim, Mittelasien, die bulgarische Schwarzmeerküste, der Balaton und die tschechoslowakische Tatra.82 Über Pauschalreisen war der größtmögliche Radius zu erreichen. Be78 79 80 81 82
Ebd.; 19. Der Rat für gegenseitige Wirtschaftsleistung (RGW) war eine internationale Organisation der sozialistischen Staaten unter Führung der Sowjetunion. Spode, Tourismus in der Gesellschaft der DDR; 22. Selbach, Reise nach Plan; 69. Vgl. Großmann, Margita, »Boten der Völkerfreundschaft«? DDR-Urlauber im sozialistischen Ausland. In: Endlich Urlaub. Die Deutschen reisen. Hg. von der Stiftung Haus der Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. Bonn 1996; 77-82; 77.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
stimmend für alle Auslandsfahrten war die Erkenntnis konstanter Devisenknappheit und ihrer Folgen. Die Reiseerfahrung mancher DDR-Bürger, dass selbst bei einer in der DDR finanziell gut gestellten Ausgangssituation die Konsummöglichkeiten im Ausland als sehr bescheiden wahrgenommen werden mussten, hat das Bild vom Reisenden, die Sicht auf DDR-Bürger und das Selbstverständnis nicht unerheblich geprägt. Nach der Wiedervereinigung galt es für die Ost-Deutschen, neue Zielgebiete zu erkunden; unter diesen besonders gefragt waren der Bodensee, der Schwarzwald, die Mosel und die Eifel. Typische Auslandsreisen gingen nach Österreich sowie in die Länder Ost-Europas. Leitmotive der Reise waren vielfach Gesundheit, Gemütlichkeit und Kultur.83 Heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, hat sich längst ein gesamtdeutscher Reisemarkt etabliert. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass gerade die als sehr reisefreudig eingeschätzte Rentnergeneration noch in der Zeit der stark eingeschränkten Reisezielauswahl sozialisiert wurde. Dies korreliert weiter mit zugrundeliegenden Erwartungen und Motivationen, die mit dem Reisen bis in die heutige Zeit verbunden werden. Wichtig ist generell die Beachtung der gesellschaftlichen Phänomene, die das Reisen beeinflussen, um zu einer Analyse der Reisemotive vorzudringen.
2.3
Reisemotive
Zur weiteren Diskussion der Grundthese, dass Reiseführer bildungstheoretisch in ihrer Bedeutsamkeit nur im Kontext von Reiseformen und Reiseimaginationen verstanden werden können, wird der Blick auf die Reisemotive intensiviert. War bereits eine Interdependenz bei der historischen Darlegung der Reisepraxis und Reisemotivation sichtbar, so hängt die Reisemotivation umfassend mit den Reiseimaginationen zusammen. Auch wenn es bei der Auseinandersetzung mit der Bildungsfrage um Begründungen geht und weniger um Motivationen, die der Psychologie zugeordnet werden, so zeigt sich doch gerade im Reiseverhalten eine manifeste Durchdringung. Zunächst sei die Vorbemerkung gemacht, dass gesellschaftliche Veränderungen das individuelle Empfinden und Handeln immer tangieren, und je nach Qualität und Intensität beeinflussen oder sogar dominieren; dies gilt insbesondere für das Freizeit- und Reiseverhalten. In der Tourismusforschung werden die Einflussbereiche: »Grundbedürfnisse, Neugier, Forscherdrang«, »Werte und Normen, Gesellschaftsordnung«, »Klima, Landschaft, Wohnumfeld«, »gesamtwirtschaftliche
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Vgl. Steinecke, Wohin geht die Reise?; 113.
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2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
stimmend für alle Auslandsfahrten war die Erkenntnis konstanter Devisenknappheit und ihrer Folgen. Die Reiseerfahrung mancher DDR-Bürger, dass selbst bei einer in der DDR finanziell gut gestellten Ausgangssituation die Konsummöglichkeiten im Ausland als sehr bescheiden wahrgenommen werden mussten, hat das Bild vom Reisenden, die Sicht auf DDR-Bürger und das Selbstverständnis nicht unerheblich geprägt. Nach der Wiedervereinigung galt es für die Ost-Deutschen, neue Zielgebiete zu erkunden; unter diesen besonders gefragt waren der Bodensee, der Schwarzwald, die Mosel und die Eifel. Typische Auslandsreisen gingen nach Österreich sowie in die Länder Ost-Europas. Leitmotive der Reise waren vielfach Gesundheit, Gemütlichkeit und Kultur.83 Heute, 30 Jahre nach der Wiedervereinigung, hat sich längst ein gesamtdeutscher Reisemarkt etabliert. Allerdings darf nicht unerwähnt bleiben, dass gerade die als sehr reisefreudig eingeschätzte Rentnergeneration noch in der Zeit der stark eingeschränkten Reisezielauswahl sozialisiert wurde. Dies korreliert weiter mit zugrundeliegenden Erwartungen und Motivationen, die mit dem Reisen bis in die heutige Zeit verbunden werden. Wichtig ist generell die Beachtung der gesellschaftlichen Phänomene, die das Reisen beeinflussen, um zu einer Analyse der Reisemotive vorzudringen.
2.3
Reisemotive
Zur weiteren Diskussion der Grundthese, dass Reiseführer bildungstheoretisch in ihrer Bedeutsamkeit nur im Kontext von Reiseformen und Reiseimaginationen verstanden werden können, wird der Blick auf die Reisemotive intensiviert. War bereits eine Interdependenz bei der historischen Darlegung der Reisepraxis und Reisemotivation sichtbar, so hängt die Reisemotivation umfassend mit den Reiseimaginationen zusammen. Auch wenn es bei der Auseinandersetzung mit der Bildungsfrage um Begründungen geht und weniger um Motivationen, die der Psychologie zugeordnet werden, so zeigt sich doch gerade im Reiseverhalten eine manifeste Durchdringung. Zunächst sei die Vorbemerkung gemacht, dass gesellschaftliche Veränderungen das individuelle Empfinden und Handeln immer tangieren, und je nach Qualität und Intensität beeinflussen oder sogar dominieren; dies gilt insbesondere für das Freizeit- und Reiseverhalten. In der Tourismusforschung werden die Einflussbereiche: »Grundbedürfnisse, Neugier, Forscherdrang«, »Werte und Normen, Gesellschaftsordnung«, »Klima, Landschaft, Wohnumfeld«, »gesamtwirtschaftliche
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Vgl. Steinecke, Wohin geht die Reise?; 113.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Entwicklung, Einkommenssituation, Preise und Wechselkurse«, »Leistung, Produkte«, »Gesetzgebung«, »Devisen, Pass-, Zollvorschriften« unterschieden, welche die Nachfrage nach Tourismusangeboten bestimmen. Von besonderem Interesse sind aus soziologischer Sicht die Klassifizierung und Strukturierungsmöglichkeiten von Gruppen innerhalb der Gesellschaft. Des Weiteren sind die neuen Beschreibungsmöglichkeiten der gesellschaftlichen Realitäten seit Jahrzehnten im Fokus: Spricht Beck von einer Risikogesellschaft, so liegt der Fokus bei Schulze auf der Erlebnisgesellschaft, Huntington bemüht den »Clash of Civilizations«, um nur einige zu nennen. All diese gesellschaftlichen Bewegungen, Neuorientierungen und Kennzeichen/Merkmale bestimmen das Verhalten und somit die Reisetätigkeit von Personen. Eine weitere mögliche Beschreibungsform ist die Darstellung in Sinus-Milieus84 . Es muss detaillierter nach den Reisemotiven im Wandel der Zeit und im Kontext der aktuellen deutschen Gesellschaftsstruktur gefragt werden. Legt man die Bedürfnispyramide von Maslow an, so ist die Einordnung recht einfach. »Es handelt sich um eine Hierarchie von Werten, die man im Wesen selbst der menschlichen Natur findet. Sie werden nicht nur von allen Menschen gewünscht und begehrt, sondern auch in dem Sinn gebraucht, in dem sie für die Vermeidung von Krankheit und Psychopathologie notwendig sind.«85 Eine besondere Relevanz für die Beschreibung und Analyse von Reisemotiven und Reiseerlebnissen stellt Maslows Forschung zu »Gipfelerlebnissen« (verstanden als »Grenzerfahrungen« oder »Höhepunkterlebnisse«) dar. Er bezeichnet sie als mögliche anthropologische Grunderfahrung jedes Menschen. Obwohl man sie weder suchen noch planen kann, kann sie jedem zuteil werden. »In Gipfelerlebnissen findet das ›Sein‹ und das ›Sollen‹ zueinander, anstatt sich zu scheiden oder zu widersprechen. Die Wahrnehmung sagt, dass das, was ist, auch so sein sollte.«86 Ohne die Theorie der menschlichen Motivation/Bedürfnisse87 näher darzustellen und auch kritisch zu hinterfragen, ist ihr Grundduktus in der Geschichte der Reisetätigkeit und der Motive des Reisens vorzufinden: »In früheren Zeiten war Reisen oftmals Grundbedürfnis: Es war notwendig, um den täglichen Bedarf an Essen, Trinken, Wohnen zu sichern. Auch die späteren Forscherreisen sind weitgehend hierzu zu rechnen. Erst auf einer höheren Ebene kommt es zu Reisen aus Kontakt- und Kommunikationsmotiven, vor allem Besuche von Bekannten und Verwandten. Auf den höchsten
84 85 86 87
Die Sinus-Milieus gruppieren Menschen, die sich in ihrer Lebensauffassung und Lebensweise ähneln, entlang der Dimensionen »soziale Lage« und »normative Grundorientierung«. Maslow, Abraham H., Motivation und Persönlichkeit. Freiburg i.Br. 1977; 12. Maslow, Abraham H., Jeder Mensch ist ein Mystiker. Köln, Kassel 2014; 27. Vgl. »Eine Theorie der menschlichen Motivation«. In: Maslow, Abraham H., Motivation und Persönlichkeit. Freiburg i.Br. 1977; 74-105.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
Ebenen bedeutet Reisen vor allem Prestige, Anerkennung und danach Selbstverwirklichung und Glück.«88 Heute wird vielerorts von einem Grundbedürfnis des Reisens gesprochen mit der impliziten Annahme, dass eine Urlaubsreise Bestandteil des Alltags geworden ist. Dies gilt zumindest für die Industrieländer, in denen eine gewisse Konsumsättigung verzeichnet werden kann. So heißt es auch in der RA 2018, dass Urlaubsreisen heute zum festen Komsumrepertoire gehören.89 Krippendorf unterscheidet verschiedene Reisemotive, z.B. Erholung und Regeneration, Kompensation und gesellschaftliche Integration, Flucht, Suche nach Kommunikation, Horizonterweiterung, Selbstverwirklichung, Selbsterfahrung und Selbstfindung.90 Opaschowsky erweitert diesen Katalog noch um die Bergriffe der Suche nach Sonne, Ruhe, Natur, Spaß, Komfort, Aktivität, Kontrasten und Freiheit.91 Die empirisch ausgerichtete Tourismusforschung unterscheidet fünf Motivationsgruppen des Reisens, die bereits in ihrer Genese in der historischen Darstellung des Reisens in Deutschland nach 1945 deutlich wurden: • • • • •
Motive der physischen und psychischen Entspannung und Erholung, Motive der Abwechslung und des körperlichen Ausgleichs, Bedürfnisse nach Kommunikation, Kontakten und Geselligkeit, Bedürfnisse des Entdeckens und der Bildung und Bedürfnisse nach Naturerleben, Wetter.92
Die Beweggründe des Reisens lassen sich ferner in zwei Kategorien unterscheiden. So nennen Hahn und Schader das »Weg-von-Reisen« (= Konträrhaltung) und das »Hin-zu-Reisen« (= Komplementärhaltung). Auch diese Dichotomie ist bereits im historischen Abriss angeklungen. Eine weitere Unterscheidung der Nachfrageseite aus der Sicht der Fremdenverkehrsökonomie bezeichnet eine Klassifizierung von Urlauber-Typen. »Die Entwicklung der Typologisierung wird zunehmend von einer mehrdimensionalen Typenbildung geprägt, wobei zusätzlich psychologische und verhaltensorientierte Kriterien Eingang finden.«93 Eine Basistypologisierung hat Hahn in den 1970er Jahren vorgenommen, so nannte er Beispielsweise den A-Typ den Abenteuerurlauber, der
88 89 90 91 92 93
Freyer, Tourismus; 72f. Vgl. Reiseanalyse 2018; 12. Vgl. Krippendorf, Jost, Die Ferienmenschen. Zürich, Schwäbisch Hall 1984; 59f. Vgl. Opaschowsky, Horst W., Tourismusforschung. Opladen 1989; 87f. Vgl. Freyer, Tourismus; 73. Bemerkenswert ist an dieser Stelle, in welch eingeschränkter Weise hier Bildung als ein mögliches Motiv verstanden wird. Ebd.; 90.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
das einmalige Erlebnis suche mit einem kalkulierbaren Risiko, B-Typen seien sogenannte Bildungs- und Besichtigungsurlauber. Diese sammelten Sehenswürdigkeiten und die Orte, die der BAEDEKER vermerkt, Gefühle und Stimmungen und seien an Natur und allem Neuen interessiert. Ein letztes Beispiel sei der S-Typ, der als Sonne, Sand und See-orientierter Urlauber beschrieben werden kann.94 Ausgehend von den Urlaubstypen zeigen sich Lebensstil-Typen, oder auch Lifestyle-Typen genannt. Kennzeichen dieser Typologien ist eine hohe Vielfalt und Buntheit. Freyer bewertet diese Form der Differenzierung als wenig aussagekräftig, »der praktisch-wissenschaftliche Nutzen (ist) aufgrund des schnellen Wandels und der hohen Zahl an Lifestyle-Typenbildungen sehr eingeschränkt.«95 Gegen Ende des 20. Jahrhunderts wurde der Begriff des »neuen Touristen« angeführt, der aber zugleich auch kritisch in Frage gestellt wurde. Beschreibungsmerkmale ließen sich unterscheiden in Kompetenzen (mehr Reiseerfahrung, qualitätsbewusst, lernfähig usw.), Wertvorstellungen und Lebensstile (z.B. vom Besitz zum Genießen, erlebnisorientiert, umweltsensibel), soziodemografische Voraussetzungen (flexible Arbeitszeiten, höhere Einkommen, Überalterung), Konsumverhalten (hybrider, paradoxer, multioptionaler Konsument, offen für neue Technologien und Vertriebskanäle) und Individualität (risikoorientiert, Wunsch nach Individualisierung).96 Deutlich wird an dieser Auswahl an Beschreibungsoptionen bereits die Engführung der in der Realität existenten Pluralität. Zugleich wird aber auch deutlich, dass eine Kategorisierung und Strukturierung bei der Beschreibung von Realität gewünscht und notwendig sind. Im weiteren Verlauf findet eine Orientierung an der aktuellen Reiseanalyse der FUR (Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V.) statt. Angelehnt an die Gliederung der deutschen Gesellschaft in Sinus-Milieus lässt sich die Motivationslage noch weiter konkretisieren. Allgemein
94 95 96
Vgl. ebd.; 91. Ebd.; 92. Vgl. ebd.; 94.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
unterscheidet die Studie 29 Items97 , die in sieben Gruppen98 angeordnet werden.99 Es wird deutlich, dass die Motivationsgruppen »Entspannen, erholen, frei sein« und »Sonne, Spaß, Menschen, Genuss« die wichtigsten sind. Die Einzelmotive: 1. Sonne, Wärme, schönes Wetter haben, 2. Abstand zum Alltag gewinnen, 3. Entspannung, keinen Stress haben, sich nicht unter Druck setzen, 4. frische Kraft sammeln, auftanken, 5. Spaß, Freude, Vergnügen haben zeigen seit Längerem eine relative Konstanz in der hohen Zustimmung. Es ist auffällig, dass vor allem selbstbezogene Urlaubsmotive eine hohe Relevanz haben, erst danach scheinen die Motive, die sich auf die Urlaubsdestination beziehen, von Bedeutung zu sein. So schreibt Lutz bereits: »Der Urlaub dient in den postmaterialistischen Zeiten der Bestätigung und der Entwicklung des Lebensstils, jener neuen Dimension sozialer Differenzierung und Konkretion der Distinktionen.«100 Dies lässt den Schluss zu, dass es von den Motiven aus betrachtet, eine Austauschbarkeit bei den Urlaubszielen gibt.101 Als relativ neues Phänomen zeigt sich eine »Motivationsinflation«. Im Jahr 2017 wurden bereits durchschnittlich elf Motive aus den 29 Möglichkeiten gewählt.102 Ausgehend von der Perspektive der Nutzungsmöglichkeiten und der Attraktivität von Reiseführern zur Vorbereitung, Begleitung und Nachbereitung von Urlaubsreisen sind folgende Items besonders erwähnenswert: 12. neue Eindrücke gewinnen, etwas ganz anderes kennen lernen, (42 %/39 %) 13. viel erleben, viel Abwechslung haben, viel unternehmen (40 %/37 %),
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1. In der Reihenfolge der Häufigkeit der Nennungen: 1. Sonne, Wärme, schönes Wetter haben, 2. Abstand zum Alltag gewinnen, 3. Entspannung, keinen Stress haben, sich nicht unter Druck setzten, 4. frische Kraft sammeln, auftanken, 5. Spaß, Freude, Vergnügen haben, 6. Natur erleben (schöne Landschaften, reine Luft, sauberes Wasser), 7. Zeit füreinander haben (Partner, Familie, Kinder, Freunde), 8. frei sein, Zeit haben, 9. Ausruhen, Faulenzen, 10. sich verwöhnen lassen, sich was gönnen, genießen, 11. gesundes Klima, 12. neue Eindrücke gewinnen, etwas ganz anderes kennen lernen, 13. viel erleben, viel Abwechslung haben, viel unternehmen, 14. unterwegs sein, herumkommen, 15. gemeinsam etwas erleben, mit netten Leuten etwas unternehmen, 16. andere Länder erleben, viel von der Welt sehen, 17. etwas für die Schönheit tun, braun werden, schöne gesunde Farbe, 18. neue Leute kennen lernen, 19. Kontakt zu Einheimischen, 20. Wiedersehen (Erinnerungen an eine Gegend auffrischen), 21. etwas für die Gesundheit tun, 22. leichte sportliche/spielerische Betätigung/Fitness, 23. etwas für Kultur und Bildung tun, 24. sich unterhalten lassen, 25. aus der verschmutzen Umwelt herauskommen, 26. mit Kindern spielen/zusammen sein, 27. Flirt/Erotik, 28. auf Entdeckung gehen, ein Risiko auf sich nehmen, 29. aktiv Sport treiben. (Reiseanalyse 2015) 98 1. Entspannung, erholen, frei sein, 2. Sonne, Spaß, Menschen, Genuss, 3. Neues erleben, 4. Natur und Gesundheit, 5. Familie, 6. Begegnen, 7. Risiko-aktiv. (Reiseanalyse 2015) 99 Vgl. Reiseanalyse 2015; 80f. 100 Lutz, Der subjektive Faktor; 246. 101 Vgl. Reiseanalyse 2015; 81. 102 Vgl. Reiseanalyse 2018; 89.
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16. andere Länder erleben, viel von der Welt sehen (2014: 35 %/2017: 32 %), 19. Kontakt zu Einheimischen (2014: 31 %/2017: 28 %), 23. etwas für Kultur und Bildung tun (2014: 26 %/2017: 23 %). An dieser Stelle sei bereits darauf hingewiesen, in welch enggeführtem Verständnis auch hier der Bereich Kultur und Bildung als Befragungsitem eingesetzt wurde. Spekulativ könnte damit der reine Besuch von Sehenswürdigkeiten gemeint sein, oder die vermeintliche Annäherung an kulturelle Besonderheiten (z.B. Ess- und Speisegewohnheiten, Feste und Feiern) des Urlaubsortes. Als Haupturlaubsarten sind seit ungefähr zehn Jahren der Strand-, Bade- und Sonnenurlaub, gefolgt von der Städtereise von stabilem bis leicht steigendem Interesse. Zu den am häufigsten ausgeführten Reiseaktivitäten in den Urlaubsdestinationen gehören »Ausflüge in die Umgebung« (2014: 70 %/2017: 73 %), gefolgt von »landestypische Spezialitäten genossen« (2014: 68 %/2017: 69 %), »Geschäfte angesehen, Einkaufsbummel« (2014: 67 %/2017: 69 %) und »Baden im See oder Meer« (2014: 62 %/2017: 62 %). Diese Liste blieb von 2017 an im Vergleich zu 2014 relativ konstant, zumindest im Ranking der Aktivitäten. »Kulturelle und historische Sehenswürdigkeiten, Museen und Nationalattraktionen haben (2017) gut vier von zehn Befragten besucht.«103 Wie an späterer Stelle noch ausführlicher diskutiert wird, sei bereits hier auf die unterschiedlichen Formen und Intensitäten des touristischen Kulturkonsums hingewiesen. Neben einer Besichtigung (von Sehenswürdigkeiten) unterscheidet Wöhler weitere vier Arten mit deutlich sich steigernder Intensität104 : Beim Kulturkonsum als Erlebnis erfolgt ein Gegenstandsbezug, der autotelisch gefüllt ist. Im Tätigsein erfolgt eine Konkretisierung und Zurschaustellung vor zuschauenden Touristen, so z.B. in der Weinlese oder bei Historieninszenierungen. Die zweite Möglichkeit umfasst den Kulturkonsum als Integration. In einer Re-Inszenierung, z.B. im »Leben wie die Einheimischen« können Differenzen und Ähnlichkeiten erfahren werden. Der Gegenstandsbezug ist instrumentell, und es erfolgt eine kulturelle Integration, wobei durchaus Grenzerfahrungen möglich sind, die zu Distanz und Ablehnung führen können. Beim Kulturkonsum als Spiel geht es um einen Prozess des gemeinsamen Tuns, der offen ist. »Das Dargestellte ist nicht vorgängig im Inneren der Mitspieler vorhanden, sondern wird im Prozess des ÖffentlichMachens hergestellt.«105 Die Handlungsstruktur ist interpersonell, d.h. im praktischen, gemeinsamen und wechselseitigen Handeln wird in einer autotelischen Handlungsausrichtung Kultur aktualisiert. Ein »klassisches« Beispiel hierfür ist der Besuch eines Kochkurses in der Reisedestination (z.B. in Marokko: Kochen mit der Tajine). Als vierten Typus nennt Wöhler den Kulturkonsum als Klassifikation. 103 Ebd.; 90. 104 Vgl. Wöhler, Touristifizierung von Räumen; 142ff. 105 Ebd.; 144.
2. Reisen heute – Reisen als Massenphänomen
»Im Spiel sind Touristen und Einheimische wechselseitig verstrickt, wobei Grenzen zwischen Eigenem und Anderem oder Fremden aufgehoben sind. Man nähert sich, ohne sich abzuwenden.«106 Solche Begegnungen können klassifizierend sein, d.h. in den Relationen des Anderen zum Eigenen, kann das Andere (zumindest partiell) inkludiert oder exkludiert werden. Als Gefahr kann hier auf eine mögliche Hierarchisierung hingewiesen werden, indem über eine Wertung Distanz und Abgrenzung deutlich gemacht werden. Es bleibt festzuhalten, dass es eine Vielfalt an Reisemotiven und Reiseaktivitäten gibt, und die Auseinandersetzung mit der Kultur des jeweiligen Ortes nur eine davon ist. Auffällig ist, dass es bei den Befragten jeweils ein Set von beliebten Aktivitäten gibt. So kann von einem multioptionalen Urlauberverhalten als neuem Phänomen ausgegangen werden, im Durchschnitt werden mehr als sieben Urlaubsaktivitäten sehr häufig oder häufig unternommen.107 Analog zu den sich ausdifferenzierenden Lebensstilen wird auch die Phänomenologie der Urlaubsreise vielschichtiger, uneinheitlicher, widersprüchlicher und ungleichzeitiger.108 Dies bereits in den 1990er Jahren festgestellte Phänomen hat auch heute noch Bestand.109 Bezugnehmend auf den Zeitfaktor des Reisens möchte ich neuere gesellschaftliche Bedingungen indizieren. Wurde bereits auf den Wunsch hingewiesen, der Reise ein paradiesisches Image zu geben, so betonen Volgger und Pechlaner die Sehnsucht nach Zeit und der Wunsch nach Aufmerksamkeit als aktuelle Reisemotive.110 Die soziologisch und auch psychologisch vielerorts beschriebene Verknappung von Zeit, die Unüberschaubarkeit der Möglichkeiten und der permanente Entscheidungsdruck führen zu neuen (oder vielleicht auch alten) Sehnsüchten. Sehnsucht beinhaltet als Kern die Empfindung eines Verlustes und/oder einer Unerreichbarkeit, die zu einer Suche nach Einheit, Vollkommenheit – hier könnte auch von Sinn und Sinnhaftigkeit gesprochen werden – führt. Durch die Komplexitätszunahme gesellschaftlicher Prozesse und Phänomene wird oft eine Sehnsucht nach Komplexitätsreduktion frei. Diese ist gekoppelt an die Wahrnehmung der Zeit und zeigt eine große Entsprechung in der Wahrnehmung von Aufmerksamkeit. Konzentration und Fokussierung sind neuere Phänomene, die so auch Einzug in die Reisemotive gehalten haben. Reisen als Gegenbewegung zum Alltag gilt als eine Variante, Aufmerksamkeitsräume zu schaffen, die erinnerungswürdige Erlebnisse ermöglichen.111 Unter dem Slogan »Die Zeit des Buffets ist vorbei« legen Volgger 106 107 108 109 110
111
Ebd.; 144. Vgl. Reiseanalyse 2015; 84f. Vgl. Lutz, Der subjektive Faktor; 247. Vgl. z.B. Kramer, Tourismus in der Konsumgesellschaft; 239-267. Vgl. Volgger, Michael; Pechlaner, Harald. Sehnsucht nach Zeit: Aufmerksamkeit als Reisemotiv? In: Dies. (Hg.), Die Gesellschaft auf Reisen – Eine Reise in die Gesellschaft. Wiesbaden 2017; 69-91. Vgl. ebd.; 85.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
und Pechlaner den Fokus auf das »Wiederentdecken« der Gastfreundschaft, in dem (ein geordneter) Freiraum gewährt wird und Aufmerksamkeit geschenkt wird. So heißt es z.B. im BAEDEKER Smart »Türkische Küsten«112 unter der Rubrik »Das Türkei-Gefühl«: »Ganz gleich, welchen Wunsch Sie haben oder in welche Notlage Sie geraten sollten – die Menschen stehen Ihnen mit Rat und Tat zur Seite. Und teilen wie selbstverständlich auch noch das letzte Stück Brot.«113 Auf den Inhalt und den Kontext solcher Aussagen werde ich in einem späteren Kapitel genauer eingehen. Zur »Entschleunigung« der Zeit auf Reisen empfehlen Reiseführer Tipps unter der Rubrik: »Entspannt zurücklehnen. Durchatmen, genießen und verwöhnen lassen«114 und es heißt in der Auflistung von Marokkos Highlights im STEFAN LOOSE Travel Handbuch Marokko: »Figuig: In der Oase Figuig ist man ganz weit weg von allem. Hier lebt man im Rhythmus der Jahreszeiten vom Dattelbau und den heißen Quellen«115 . Mit diesen wenigen Textstellen möchte ich auf den Zusammenhang zwischen Reisemotiven und der Darstellung in Reiseführern hinweisen, der an anderer Stelle noch eingehender dargelegt und diskutiert wird.
112 113 114 115
BAEDEKER Smart, Türkische Küsten. Perfekte Tage in antiken Stätten und an Traumstränden. Ostfildern 2015. Ebd.; 7. MARCOPOLO, Türkei; 11. STEFAN LOOSE, Marokko; 10.
3. Reiseführer und Bildung
Der Duden definiert einen Reiseführer als »ein Buch, das Reisenden alles Notwendige über Unterkünfte, Verkehrsmittel, kulturelle Einrichtungen o.Ä. vermittelt«1 . Bevor ich der sich unmittelbar aus dieser Definition ergebenden Frage nachgehe, was denn überhaupt notwendig für eine Reise ist, soll zunächst zwischen Reiseführern und anderer Reiseliteratur unterschieden werden. Abgrenzung: Reiseführer und Reiseliteratur: Zu unterscheiden sind die Genres »Reiseführer« und »Reiseliteratur«. Reiseliteratur liegt in unterschiedlichen Formen vor, so z.B. als Brief, Tagebuch, Essay, Reportage, Erzählung und als Reiseführer. Eine Analyse dieser Literatur kann in den Diskursen der Geschichtswissenschaft, der Ethnologie, Anthropologie, Soziologie, der Geographie und Literaturwissenschaft erfolgen. Auch muss dazu die Tourismusforschung gesehen werden, die oft interdisziplinär arbeitet. Zum Beispiel ist eine volkskundlich-kulturwissenschaftliche Tourismusforschung immer auch Alltagsforschung. Die Disziplinen der Ethnologie, der Geschichtswissenschaft und der Volkskunde etablierten verschiedene Zugänge, so z.B. (1) die Tourismuskritik, (2) eine historische Beschreibung und Analyse und schließlich (3) das Marketing. Rolshoven merkte in den 1990er Jahren an, dass eine Erforschung des sogenannten »massentouristischen Menschen« noch ausstehe. Reisekultur und Alltagsverhalten sollten genauer in den Blick genommen und einer Analyse unterzogen werden.2 Dies ist für den »massentouristischen Menschen« in den letzten Jahren/ Jahrzehnten in Teilen geleistet worden, z.B. von Ueli Gyr3 , Johanna Rolshoven4 ,
1 2 3 4
http://www.duden.de [24.02.2020] Vgl. Rolshoven, Der ethnographische Blick als touristischer Blick; 43. Z.B. Gyr, Ueli, Geschichte des Tourismus: Strukturen auf dem Weg zur Moderne. In: European History Online (EGO), veröffentlicht Institute of European History (IEG), Mainz 2010. Z.B. Rolshoven, Johanna; Spode, Hasso; Sporrer, Dunja; Stadlbauer, Johanna (Hg.), Mobilitäten! Voyage. Jahrbuch für Reise- und Tourismusforschung 2014. Berlin 2014.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Hasso Spode5 und Zygmunt Baumann6 ; jedoch ist die Auseinandersetzung mit Reiseführern eher marginal betrieben worden. Dieses Defizit soll aus der Sicht der Bildungswissenschaft in dieser Arbeit ausgeglichen werden. In der Reiseliteraturforschung hat sich ein Konsens dahingehend durchgesetzt, die Reiseliteratur als »soziokulturelle Institution« zu verstehen, da die Texte sowohl als literarische, als auch soziale Phänomene zu verstehen sind.7 Des Weiteren kann festgestellt werden, dass mit ihr immanent ein Bildungsanspruch verbunden wird, zumindest im Sinne eines Wissenszuwachses, dass etwas gelernt werden kann, was einem etwas bedeutet; dies wird als Ziel sowohl von Seiten der Autoren und Herausgeber, als auch auf der Rezipientenseite deutlich.
3.1
Definition Reiseführer
Was ist ein Reiseführer? Zur Definition wurde bereits der Duden bemüht, welcher die Frage für die gedruckte Form des Reiseführers klärt, also a) das Buch, das Informationen, die wichtig und relevant sind, zu einem Reiseziel enthält, so können daneben noch weitere Formen unterschieden werden: b) ein Guide (geschulte oder ungeschulte Person), der sich am besagten Zielort gut auskennt und Informationen liefert, c) ein Audioguide/Multivisionsguide, der als (Hör)träger wichtige Informationen digital oder analog in gesprochener Form zusammenfasst.
In diesem Kontext geht es um die genauere Analyse des Reiseführers als Buch/in einer Printversion. Bestimmend sind dabei: • • •
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Wie kaum eine andere Literaturgattung ist diese zweck- und zielorientiert verfasst. Reiseführer gelten als Sach- und Gebrauchsliteratur, d.h. sie haben einen informierenden, analysierenden und reflektierenden Charakter. Aus der Perspektive der Bildungstheorie ist ihnen die Funktion des Unterrichts, der Unterrichtung und der Fürsorge zuzuschreiben.
Z.B. Spode, Hasso, Der Aufstieg des Massentourismus im 20. Jahrhundert. In: Haupt, HeinzGerhard; Torp, Claudius (Hg.), Die Konsumgesellschaft in Deutschland. Frankfurt a.M., New York 2009; 114-130. Und ders., Der Tourist. In: Frevert, Ute; Haupt, Heinz-Gerhard (Hg.), Der Mensch des 20. Jahrhunderts. Essen 2004; 113-137. Bauman, Zygmunt, Flaneure, Spieler und Touristen. Hamburg 1997. Vgl. Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 19.
3. Reiseführer und Bildung
• • •
•
Ihr Anspruch umfasst eine sachangemessene Wiedergabe der Realität, das heißt, sie sind der Wahrheit verpflichtet. Reiseführer unterrichten über Wertvolles, das man lernen und wissen soll, weil es beim Handeln zum Gelingen des Lebens beiträgt. Das Wissen, welches im Reiseführer zur Vermittlung gelangt, ist dabei auf den Gebrauch, also auf Handlungen (beim Vollzug des Reisens) bezogen. »Mit der Lektüre eines Reiseführers trägt der Reisende sein Schärflein zum Gelingen des Urlaubs bei«8 – und damit zum Gelingen des Lebens. Der Reiseführer erhält so die Funktion einer Selbstvergewisserung mit der impliziten Möglichkeit des Scheiterns (d.h., dass das angestrebte Urlaubsziel nicht erreicht wird).
3.1.1
Historie
Reiseführer gibt es schon sehr lange und sie dienten unterschiedlichen Zwecken und Reiseanlässen. Im Mittelalter und in der Frühen Neuzeit hießen Bücher für Reisende Itinerarium (Wegweiser). Bereits im Jahr 1536 veröffentlichte der Augsburger Bürger Jörg Gail ein »Raißbüchlin«. Dieses sollte dazu dienen, ein Routensystem durch Europa zu erschließen, obwohl es noch gar kein Straßensystem, wie es uns heute selbstverständlich erscheint, gab.9 Zu Beginn werden unterschiedliche Termini verwendet, so finden sich »Reisebücher« (Meyer), Handbuch für Reisende (BAEDEKER) und »Reiseführer«. Im 19. Jahrhundert wurde zudem der Name des Autors »Baedeker« zum Gattungsbegriff für Reisebücher verwendet. Ziel dieser Bücher war es Empfehlungen auszusprechen. Hinweise und Hilfen wurden gegeben, zu Straßen, zum Beherbergungswesen, zur Stadtentwicklung und zur Kategorie »Merkwürdiges«. »Der Reiseführer sollte informieren und eine literarische Leistung anstelle einer persönlichen Leitung übernehmen.«10 Ein noch zeitlich davor datierter Meilenstein darf jedoch nicht unerwähnt bleiben. Im Jahr 1836 erschien das erste »Red Book« des Engländers John Murray. Hierin waren Sehenswürdigkeiten in Holland, Belgien und dem Rheinland beschrieben. »Murray, einer der Propheten des Tourismus, ist auch der Erfinder des Sternesystems, das den Zielen, die es fortan zu besichtigen galt, gleichermaßen ihr Preisschild aufsteckte. Drei Jahre später folgte Karl BAEDEKERs erster Reiseführer
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Cantauw, Christiane (Hg.), Arbeit, Freizeit, Reisen. Die feinen Unterschiede im Alltag. Münster, New York 1995; X. Vgl. Hinrichsen, Alex W., Zur Entstehung des modernen Reiseführers. In: Spode, Hasso (Hg.) Zur Sonne, zur Freiheit! Beiträge zur Tourismusgeschichte. Berlin 1991; 21-32; 21. Ebd.; 21.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
durch Die Rheinlande.«11 Die dritte Auflage der Rheinreise (1839) ist der eigentlich erste BAEDEKER, der gekennzeichnet war durch inhaltliche und konzeptionelle Veränderungen, die sich nicht mehr an einem Murray als Vorgänger orientierten.12 Hinrichsen unterscheidet grob fünf Entwicklungsphasen heutiger moderner Reiseführer: 1. Durch die Stadtkartographie werden erste Übersichten möglich (ca. 1830 – 1860) – zu bezeichnen als Frühphase. 2. Es folgt eine wissenschaftliche Phase (ca. 1860 – 1914) mit einem Streben nach Perfektion, was die Beschreibung und Recherchetiefe angeht. 3. Der Zeitraum von ca. 1918 bis 1933 ist gekennzeichnet durch einen beginnenden ersten Massentourismus. Einen neuen Schwerpunkt bilden regionale Reiseführer. In der Zeit des Nationalsozialismus wurden Reiseführer auch zum Propagandamittel. 4. Für die Zeit nach 1945 etabliert sich die auch heute noch bekannte Form des Reiseführers, der schlagwortartig informiert und durch Bilder illustriert wird. Auf dem Reiseführermarkt differenzierten sich im Laufe von Jahrzenten unterschiedliche Verlage und Formate. »Stilprägend wurden Eckart Peterichs ItalienFührer, die der Prestel-Verlag ab 1958 herausbrachte. Erfolgreich waren auch die seit 1948 im Verlag Hoffmann und Campe erscheinenden ›Merian‹-Hefte, die mit ihrem Namen an den Schöpfer der zu jener Zeit so beliebten historischen Stadtansichten erinnerten.«13 Die Reisen in den ersten beiden Dekaden nach dem Zweiten Weltkrieg waren noch durch eine detaillierte Vor- und Nachbereitung gekennzeichnet, was deutlich wurde z.B. in der Nutzung von Bildbänden oder Bild-/Textheften. Dies änderte sich mit dem sich intensivierenden Massentourismus. Einen weiteren Meilenstein der Reiseführerliteratur bildet die Einführung des POLYGLOTT-Reiseführers im Jahr 1959. Mit einem für die damalige Zeit kostengünstigen Format versuchte man neue Kundenschichten zu gewinnen. Angemerkt sei hier, dass der Titel »Polyglott« (vielsprachig) auf das humanistische Bildungsideal verweisen sollte. In verkürzter und schnell zu lesender/konsumierender Weise stellen Autoren einen empfohlenen Rundgang
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Enzensberger, Hans Magnus, Eine Theorie des Tourismus. In: Ders., Einzelheiten I. Frankfurt a.M. 1962; 147-168; 155. Vgl. Müller, Susanne, Die Welt des Baedeker. Eine Medienkulturgeschichte des Reiseführers 1830-1945. Frankfurt, New York 2012; 35f. Pagenstecher, Cord, Der Niedergang des BAEDEKERs. Reiseführer in »Wirtschaftswunder« und »Erlebnisgesellschaft«. In: Kolbe, Wiebke; Noack, Christian, Spode, Hasso (Hg.), Tourismusgeschichte(n). Voyage. Jahrbuch für Reise & Tourismusforschung, Bd. 8 (Sonderband). München, Wien 2009; 110-117; 113.
3. Reiseführer und Bildung
dar; Hintergrundwissen und weiterreichende Deutungen waren in diesem Format nicht mehr vorhanden. 5. In der folgenden Zeit differenzieren sich die Formen weiter, so z.B. der kleine Städteführer, der Autoreiseführer, Reiseführer für Individualreisende, der Kunstreiseführer usw. Bereits im Jahr 1988 ermittelte Steinecke rund 1.500 deutschsprachige Reiseführer (ohne Regionalführer).14 Deutlich wurden in dieser Literatur die jeweiligen Spezifika einer Epoche, besonders die Gründe, Möglichkeiten und Praktiken des Reisens. Sie liefern aber auch eine Fülle an Informationen zur jeweiligen Kulturgeschichte. So stellten sich je eigene nationale Herangehensweisen an die Beschreibung von Reisegegenden heraus. Als ein Beispiel der Unterschiedlichkeit sei an dieser Stelle der BAEDEKER genannt, der zwischen Ausgaben für die deutschsprachigen, französischenund englischsprachigen Gebiete klar unterschied. Unterschiedliche Mentalitäten, Voraussetzungen und Reisegewohnheiten fanden ihren Widerhall in den bereits zu Beginn adressatenorientierten Reiseführern. Gorsemann geht in Anlehnung an Schlösser sogar so weit zu behaupten, dass der Rezipient der Hauptbezugspunkt sei und nicht die beschriebene »Sache« (verstanden als Sehenswürdigkeiten, Landschaften, Städte, Kulturdenkmäler und generell Orte der Kunst und Ästhetik).15 In der Darstellungsform lassen sich für die fünfte Entwicklungsphase drei weitere zeitliche Entwicklungsfenster unterscheiden: •
Waren die ersten Reiseführer, vornehmlich der BAEDEKER, noch gekennzeichnet durch Anekdoten und subjektive Eindrücke, so verschob sich ihr Inhalt zu »Zahlenlawinen über Bau, Größe oder Gewicht der Sehenswürdigkeiten«16 . Eine detailgenaue Korrektheit wurde zum Bewertungsmaßstab der Qualität. Es fand eine sogenannte Objektivierung statt, die zugleich eine Normierung des touristischen Blicks bewirkte. Zum einen sollte dadurch der wissenschaftliche Anspruch deutlich werden, zum anderen wurde eine Vergleichbarkeit hergestellt. Autoren traten hinter die standardisierte Serie oder Reihe zurück, sie wurden zwar noch auf dem Titel genannt, aber im Textkorpus wurde in entpersonalisierter Form Auskunft über Sehenswürdigkeiten und Reiseinformationen gegeben.
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Vgl. Hinrichsen, Zur Entstehung des modernen Reiseführers; 24f. Vgl. Gorsemann, Sabine, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung. Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern. (Internationale Hochschulschriften 151) Münster, New York 1995; 104. Pagenstecher, Der Niedergang des BAEDEKERs; 111.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
•
•
In einer zweiten Phase – die zeitlich in die 1970/80er Jahre fällt – fand eine Rückbesinnung auf subjektive Elemente statt. In dieser Zeit erfolgte eine doppelte Neuausrichtung: Zum einem pluralisierte sich der Markt, neue Formate wie »Richtig Reisen« (DuMont)17 , »Anders Reisen« (Rowohlt) oder »Besser Reisen« (Merian) suggerierten ihre Innovation und Abgrenzung zu bekannten Traditionen, auch alternative und eng geführte adressatenorientierte Ausgaben wie z.B. Reiseführer für Sportarten oder Szene-Treffs kamen auf den Markt. Zum anderen war wieder eine subjektivere Darstellung gefragt. Der rein deskriptive Anspruch wurde ergänzt durch den Wunsch, dass ein Reiseführer Lust auf Erleben und Erfahrung machen soll. Vorstellungen und Erlebnisqualitäten waren neue Bewertungskriterien. Parallel dazu etablierten sich »Insider Tipps« und »Top Ten Listen«, die sowohl das Verhaltensrepertoire als auch die Wahrnehmungsformen beeinflussen sollten. Ausgehend von dieser Differenzierung der Reiseführerangebote gibt es noch die neue Sparte der Traveller-Handbücher (Martin Velbinger, Stefan Loose und Lonely Planet). Ihr Alleinstellungsmerkmal besteht darin, dass sie verstärkt detaillierte praktische Tipps zu Reiseplanung, Fortbewegung und Verständigung geben, zudem sind sie besonders für low budget-Reisen geeignet.
Für die heutige Form der Reiseführer stellt Steinecke fest, dass sie ein »Literaturund Informations-Cocktail« sind und verschiedenste Elemente umfassen (können): Sie können wissenschaftliche Länderkunde sein, Sachbuch, Atlas, Bildband, Kunstführer, Adressbuch, Kursbuch, Reiseerzählung, Restaurantführer, Hoteloder Campingführer und Kochbuch.18 Bedeutende Verlage für die Zeit nach 1945 waren z.B. Karl BAEDEKER, Bibliographisches Institut (Meyer), Leipzig, Theobald Grieben, Berlin und Leo Woerl (Würzburg, Leipzig, Wien) – es erfolgte bis in die heutige Zeit (wie oben bereits angeklungen) eine rasante Vervielfachung an Verlagen für Reiseliteratur.19
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Unter dem Motto: »Man sieht nur, was man weiß!« startete der Verlag DUMONT im Jahr 1968 seine erste Reiseführerreihe. (Müller, Die Welt des Baedeker; 103). Vgl. Steinecke, Albrecht, Kulturtourismus. Marktstrukturen, Fallstudien, Perspektiven. München 2007; 307. Ohne den Anspruch auf Vollständigkeit zu erheben, seien hier die gängigsten genannt: BAEDEKER Allianz Reiseführer (Verlag MAIRDUMONT), Lonely Planet Reiseführer (Verlag MAIRDUMONT), MARCO POLO (Verlag MAIRDUMONT), Merian live!, Merian Reisemagazin – Reisejournal (Jahreszeitenverlag Hamburg), MICHAEL MÜLLER Verlag, Polyglott APA Guide, Polyglott-Reiseführer (Travelhouse Media Verlag Hamburg), Reise Know-How Verlagsgruppe, Reisebuch Verlag (Reisebuch.de) – print on demand, Trescher Verlag, ADACReiseführer (Verlag MAIRDUMONT), Bruckmann Verlag, Vis a Vis Reiseführer, Top10 (Dorling Kindersley Verlag), GEO Spezial (Verlag Gruner+Jahr), Iwanowski's (MAIRDUMONT Verlag), Michelin »Grüner Reiseführer« – »Guide Vert« (Verlag Travel House Media), Nelles Verlag,
3. Reiseführer und Bildung
Über die Auflagenhöhe und die Verkaufszahlen einzelner Ausgaben gibt es nur sehr wenige Angaben. Zwar kann man über Bestellkataloge und die Deutsche Nationalbibliothek Ausgaben und Titel rekonstruieren, doch sagt dies noch nichts über den Verbreitungsgrad und die Nutzungsmodalitäten aus. Pagenstecher nennt folgende Zahlen zur Veranschaulichung. »1966 nutzten […] 24 Prozent der Akademiker, aber nur vier Prozent der Reisenden mit Volksschulbildung Reiseführer. In den 1980er Jahren stieg die Reiseführernutzung bei allen Reisenden von sechs auf 25 Prozent an.«20 Für die heutige Zeit kann bezüglich des Verkaufs von Reiseführern festgehalten werden, dass sie sich weiterhin einer Beliebtheit erfreuen, die jedoch leicht gesunken ist. Die Warengruppe »Reise«, die von den Reiseführern dominiert wird, hat die Umsätze im Jahr 2016 im Vergleich zu den Vorjahren gehalten21 , jedoch ist der Marktanteil der Guides gesunken (von 64,7 %22 im Jahr 2015 auf 62,7 % in 2016). Insgesamt umfasste die Warengruppe »Reise« im Jahr 2016 5,7 % am gesamten Buchmarkt.23 Bei der Editionsform dominiert im Jahr 2016 stark mit 90,6 % das Hardcover/Softcover, gefolgt vom Taschenbuch (9,14 %) und dem Hörbuch/Audiobook mit 0,3 %.24
3.1.2
Aufgaben und Ziele
Mit welchen Aufgaben und Zielen sind Reiseführer verbunden? Hinrichsen charakterisiert einen Reiseführer als Möglichkeit • • • • •
der Selbstinformation, der Unabhängigkeit, der Entscheidungsfindung, der Leitfunktion und der Unterrichtung.25
Gorsemann spricht von einem »Bildungsgut und touristischer Gebrauchsanweisung«26 ; ein Reiseführer diene der Unterrichtung und der bildenden Unterhaltung,
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Stefan Loose (Verlag MAIRDUMONT), VISTA POINT – unterschiedliche Formate (Ullmann Medien), und es ließen sich noch weitere anschließen. Pagenstecher, Der Niedergang des BAEDEKERs; 11. Vgl., Börsenverein des Deutschen Buchhandels e.V. (Hg.), Buch und Buchhandel in Zahlen 2017. Frankfurt a.M. 2017; 21. Umsatzanteile innerhalb der Warengruppe Reise in Prozent. Vgl., Börsenverein, Buch und Buchhandel in Zahlen 2017; 15. Vgl., ebd.; 13. Vgl. Hinrichsen, Zur Entstehung des modernen Reiseführers; 24. Vgl. Gorsemann, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
wobei wissenschaftliche und populäre Einzelabhandlungen inbegriffen sind. Steinecke unterscheidet die Orientierungsebene und die Vermittlungsebene und nennt die Aufgaben: Wegweiser, Organisator, Interpret und Animateur.27 Kann man die Aufgaben Wegweiser, Organisator und Interpret noch inhaltlich den Funktionen Leitfunktion, Selbstinformation und Unterrichtung zuordnen, so erweitert Steinicke den Katalog um •
die Funktion des Animateurs.
Entsprechend dieser Funktionen lassen sich die Texte (Reiseführer sind Großtexte, die sich in verschiedene Subtexte gliedern) unterscheiden in: Orientierungstexte, Ratgebertexte, Besichtigungstexte und Hintergrundtexte.28 Für jeden Subtext lassen sich dabei dominante Textfunktionen nachweisen. Hintergrundtexte haben dabei Ähnlichkeit mit Lehrbuchtexten und enzyklopädischen Texten, stellen vertiefendes Wissen zu bestimmten Themen in einer konstatierend-assertierenden Funktion bereit.29 Orientierungstexte arbeiten mit wertenden sprachlichen Handlungen, wesentliche Merkmale und Attraktionen werden herausgehoben zur Orientierung bei der Planung der Reise und des Reisens.30 Besichtigungstexte haben zum Ziel die Wahrnehmung zu steuern und beinhalten auch Instruktionen, vorrangig ist eine Verbindung von Wissensvermittlung und Handlungsangebot.31 Ratgebertexte lehnen sich an das (vermutete) Leserwissen an, es werden »Handlungsempfehlungen gegeben, die sich auf verschiedene praktische Kontexte beziehen«32 .
3.1.3
Merkmale
Kennzeichnend werden eine klare Gliederung, Konkretisierung von Sachinformationen, Karten, ein wissenschaftlicher Anspruch, Präzision und Verknüpfung der Wort-, Bild- und kartographischen Information.33 Als inhaltliche Qualitätskriterien gelten dementsprechend Zuverlässigkeit, Aktualität, Unterhaltung, Informationsvermittlung und die Kategorie persönlicher Reisebericht als bildende Unterhal-
27 28 29 30 31 32 33
Vgl. Steinecke, Albrecht, Der Bundesdeutsche Reiseführer-Markt. Leseranalyse – Angebotsstruktur – Wachstumsperspektiven. Starnberg 1988. Vgl. Fandrych, Christian; Thurmair, Maria, Textsorten im Deutschen. Linguistische Analysen aus sprachdidaktischer Sicht. Tübingen 2011; 52-72. Vgl. ebd.; 62. Vgl. ebd.; 55. Vgl. ebd.; 54. Ebd.; 54. Vgl. Hinrichsen, Zur Entstehung des modernen Reiseführers; 24.
3. Reiseführer und Bildung
tung.34 Steinecke erweitert diesen Katalog und verzeichnet unter Merkmalen eines guten Reiseführers noch: Übersichtlichkeit, Verständnis für andere Länder und Kulturen wecken, Tipps und Informationen, Ehrlichkeit, Zusammenhänge aufzeigen und Beobachtungen einordnen helfen, kompetente Autoren mit umfassender Länderkenntnis, einheitlicher Schreibstil und gute Ausstattung (Format, Karten, Bilder, Register etc.).35 Anknüpfend an diese Kennzeichen lassen sich – ausgehend von den Textsorten (mit dominanten Textfunktionen) – sprachliche Spezifika benennen: Sind die Subtexte – Ratgebertexte und Hintergrundtexte – sprachlich angelehnt an Instruktionen und wissensbereitstellend und narrativ ausgerichtet, so betonen Fandrych und Thurmair besonders für die Besichtigungs- und Orientierungstexte deren persuasiven Charakter, der das Reiseziel als lohnenswert deklariert. Sie analysieren textsortenspezifische sprachliche Merkmale: Attribute und Appositionen (Bewertung und Eigenschaftszuschreibung, Verdichtung von Fakten), Prädikativkonstruktionen (Beschreibungen) und Lokal- und Direktionaladverbiale (der Leser nimmt eine Perspektive im Raum ein – dies gilt besonders für Besichtigungstexte).36 Deutlich wird in den Texten eine intentionale Repräsentation – es wird ein Lehr-LernProzess initiiert. Einschränkend ist für die Empfänger/Rezipientenseite zu betonen, dass diese Nachricht nicht im Leseakt dekodiert wird, sondern dazu bedarf es die Bedeutung eines Textes zu erzeugen. »Dies ist der Vorgang des Lernens. Lernen aber ist kein Vorgang der Informationsaneignung, sondern ein an der regulativen Idee der Wahrheit ausgerichtetes Erkennen.«37 Für die heutige Zeit lässt sich auf Grund von Käuferanalysen feststellen, dass Aktualität, Kartenmaterial und Layout wichtige Kriterien für den Käufer darstellen; dies entspricht im Grunde den oben genannten inhaltlichen Qualitätskriterien, wobei der Ersteindruck oft kaufentscheidend ist, ohne dass eine genauere inhaltliche Überprüfung erfolgt. Die Verlage oder Autoren spielen nur eine untergeordnete Rolle. Auch wird die Neugier nach subjektiven Erfahrungsberichten nicht mehr in Buch-Reiseführern gestillt, sondern mithilfe elektronischer Medien, die hierzu die bevorzugten Informationsquellen sind. Viele Online-Foren (Web Blogs und Internetforen) geben detailliert Auskunft in stark subjektiver bis hin zu rein biografischer Form und werden so zu primären Informationslieferanten.38 »Reiseführer 34 35 36 37
38
Vgl. Gorsemann, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung; 121. Vgl. Steinecke, Kulturtourismus; 314f. Vgl. Fandrych; Thurmair, Textsorten im Deutschen; 67-72. Ladenthin, Volker, Textdidaktik. Über einen angemessenen Umgang mit Texten. In: Ders.; Rockers, Joachim (Hg.), Sprachferne und Textnähe. Über das Unbehagen an der gegenwärtigen Lektürepraxis in Schule und Hochschule. Würzburg 2004; 25-56; 34. Ein Beispiel der Interpräsenz sei hier exemplarisch für das sich immer weiter ausdifferenzierende Online-Angebot genannt: »Sebastian Heinzel (Jahrgang 1977) kombiniert die Informationen aus mehr als 700 Reiseführern mit den Tipps der ›Tripwolf-Community‹ und Texten
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
prägen und lenken tendenziell das Erleben, sind ihrerseits aber als kommerzielle Produkte geprägt von den Erwartungen der Touristen.«39 In den vergangenen Jahrzehnten sind unterschiedliche Versuche unternommen worden, die große Auswahl an Reiseführerformaten in Typologien zu untergliedern. Erscheint dies für die Kriterien Umfang und Zielsetzung logisch (Einsteiger-Reiseführer, Alternativ-Reiseführer, Spezial-Reiseführer und »Reiseführer für alle«, »Reiseführer für soziodemographische Gruppen«, »Reiseführer für Aktivitätsgruppen, »Reiseführer für Verkehrsteilnehmer« und »Reiseführer für Individual- bzw. Veranstalterreisende), so ist dies nicht ohne starke Einschränkungen und »Pressungen« möglich. Es kann zwar oft ein dominantes Kriterium analysiert werden, aber die Vielfalt ist enorm und nur in der Dichte und im Niveau zu unterscheiden.
3.1.4
Standardisierung des touristischen Blicks
Touristische Praktiken finden ihren Ausdruck in der Formulierung und Strukturierung von Reiseführern. Umgekehrt leiten Reiseführer touristisches Verhalten. Dabei kann zugleich von einer wechselseitigen Beeinflussung ausgegangen werden bis hin zu »dramatischen Mythologisierungen«40 . Kennzeichen unserer heutigen Zeit ist das Vorhandensein eines massenmedial vermittelten Diskurses über andere, für den Einzelnen noch unbekannte Phänomene einer anderen Gegend, eines anderen Landes. »Unter den verschiedenen, vom sozialen Milieu bis zur Werbung reichenden Determinanten des touristischen Blicks sind die Empfehlungen und Wertungen in Reiseführern die konkretesten, während der Reise wirkenden Vorgaben.«41 Durch die Nutzung des Reiseführers konstituiert sich eine Touristenrolle und gleichzeitig erfolgt durch die Nachfrageanalyse (Kaufverhalten), die eine Informationsquelle zu den dem Wandel unterliegenden Bedürfnissen der Reisenden ist, eine Veränderung der Informationsdarlegung und der Schwerpunktsetzung in den Reiseführern.
39 40 41
assoziierter Blogger auf der in fünf Sprachen angebotenen Website www.tripwolf.com. Zugänge dieser Art liegen heute für jeden Internet-Benutzer auf der Hand, und das Werkzeug erleichtert sie durch ihre Offenheit mehr als jeder gedruckte Reiseführer die subjektive Aneignung und Nutzung in Verbindung mit den eigenen Motiven.« Kramer, Tourismus in der Konsumgesellschaft; 253. Vgl. auch: Stillich, Sven, Urlaub mit dem Smartphone: Wie clevere Technik Reiseführer alt aussehen lassen. 65 Stern 18 (2010) 130-134. Kramer, Tourismus in der Konsumgesellschaft; 254. Vgl. Gorsemann, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung; 103. Pagenstecher, Der Niedergang des BAEDEKERs; 110.
3. Reiseführer und Bildung
Zwei Phänomene sind dabei zu unterscheiden: Zum einen erfolgt in den Darlegungen eine Normierung und Standardisierung gemäß einer Touristenstromlenkung als »Straße der Ameisen«. Etablierte touristische Leitbilder und Wahrnehmungsmuster werden reproduziert. Zum anderen individualisiert sich der Gebrauch von Reiseführern nach Lebensstilkollektiven, dies wird deutlich in der Art und Weise der Darstellung und der Informationsauswahl. »Der BAEDEKER hilft den Bildungsreisenden ebenso wie der Alternativreiseführer den ›Travellern‹, ihre Zugehörigkeit zu einem Lebensstilkollektiv zu erfahren und ihre Abgrenzung gegenüber anderen Stilgruppen zu demonstrieren. Welche Kirche, welchen Strand, welche Disco man gesehen haben muss, um zum jeweils relevanten Milieu dazuzugehören, verrät einem das richtige Buch.«42 Insgesamt muss festgehalten werden, dass eine starke Standardisierung des touristischen Blicks dominiert43 , auch wenn eine Pluralisierung der Reisemotive und der Reiseformen das gegenwärtige Touristikbild bestimmen. So wird deutlich, dass mit der Veränderung der Gesellschaften, Reisegewohnheiten und Motive sich auch die Reiseführer veränderten. Bildung wurde zum Allgemeingut durch die schulische Wissensvermittlung – »Kulturbeflissenheit« und Reiselust wurden im Bürgertum gepflegt und als hohes Gut betrachtet – »die Reise in die Sommerfrische kam auf, das Bürgertum verreiste«44 . Eine erweiterte Infrastruktur und die immer präsentere Werbung beschleunigen diesen Prozess bis zum heute vorzufindenden differenzierten Tourismus der deutschen Gesellschaft als Allgemeinphänomen.
3.2
Bildungsanspruch in Reiseführern
Kann nun für Reiseführer ein Bildungsanspruch erhoben werden, und wenn ja, in welcher Form wird hier Bildung verstanden? Bildung wurde bestimmt als Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die beim Handeln zum Gelingen des Lebens beitragen. Unbestritten dürfte daher sein, dass der Reiseführer bedeutsame Informationen vorstellt. Aber ist das Bildung? Wird von einem bestimmten Kanon von Wissenswertem ausgegangen, so schließen sich die Fragen an, wer die Inhalte und die konkreten Ausführungen auswählt und die Selektion vornimmt. Dabei können drei Möglichkeiten unterschieden werden: Zum Ersten ist die Auswahl eine Reaktion auf den Nachfragemarkt der Konsumenten; eine weitere Mög-
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Ebd.; 110. Vgl. Urry, John; Larsen, Jonas, The Tourist Gaze 3.0. London u.a. 2011. Hinrichsen, Zur Entstehung des modernen Reiseführers; 23.
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3. Reiseführer und Bildung
Zwei Phänomene sind dabei zu unterscheiden: Zum einen erfolgt in den Darlegungen eine Normierung und Standardisierung gemäß einer Touristenstromlenkung als »Straße der Ameisen«. Etablierte touristische Leitbilder und Wahrnehmungsmuster werden reproduziert. Zum anderen individualisiert sich der Gebrauch von Reiseführern nach Lebensstilkollektiven, dies wird deutlich in der Art und Weise der Darstellung und der Informationsauswahl. »Der BAEDEKER hilft den Bildungsreisenden ebenso wie der Alternativreiseführer den ›Travellern‹, ihre Zugehörigkeit zu einem Lebensstilkollektiv zu erfahren und ihre Abgrenzung gegenüber anderen Stilgruppen zu demonstrieren. Welche Kirche, welchen Strand, welche Disco man gesehen haben muss, um zum jeweils relevanten Milieu dazuzugehören, verrät einem das richtige Buch.«42 Insgesamt muss festgehalten werden, dass eine starke Standardisierung des touristischen Blicks dominiert43 , auch wenn eine Pluralisierung der Reisemotive und der Reiseformen das gegenwärtige Touristikbild bestimmen. So wird deutlich, dass mit der Veränderung der Gesellschaften, Reisegewohnheiten und Motive sich auch die Reiseführer veränderten. Bildung wurde zum Allgemeingut durch die schulische Wissensvermittlung – »Kulturbeflissenheit« und Reiselust wurden im Bürgertum gepflegt und als hohes Gut betrachtet – »die Reise in die Sommerfrische kam auf, das Bürgertum verreiste«44 . Eine erweiterte Infrastruktur und die immer präsentere Werbung beschleunigen diesen Prozess bis zum heute vorzufindenden differenzierten Tourismus der deutschen Gesellschaft als Allgemeinphänomen.
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Bildungsanspruch in Reiseführern
Kann nun für Reiseführer ein Bildungsanspruch erhoben werden, und wenn ja, in welcher Form wird hier Bildung verstanden? Bildung wurde bestimmt als Erwerb von Kenntnissen und Fähigkeiten, die beim Handeln zum Gelingen des Lebens beitragen. Unbestritten dürfte daher sein, dass der Reiseführer bedeutsame Informationen vorstellt. Aber ist das Bildung? Wird von einem bestimmten Kanon von Wissenswertem ausgegangen, so schließen sich die Fragen an, wer die Inhalte und die konkreten Ausführungen auswählt und die Selektion vornimmt. Dabei können drei Möglichkeiten unterschieden werden: Zum Ersten ist die Auswahl eine Reaktion auf den Nachfragemarkt der Konsumenten; eine weitere Mög-
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Ebd.; 110. Vgl. Urry, John; Larsen, Jonas, The Tourist Gaze 3.0. London u.a. 2011. Hinrichsen, Zur Entstehung des modernen Reiseführers; 23.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
lichkeit liegt in der Autorität des (fachkundigen) Autors45 , der zudem in der Regel auf eine Historie der Beschreibung von Reisegebieten zurückgreifen kann, und als dritte Möglichkeit unterliegt der Inhalt der Wertung des Lektors des Verlagshauses, mit je spezifischen Schwerpunktsetzungen und auch einer Imageverpflichtung zur Orientierung der Käufer auf dem vielfältigen Angebotsmarkt für Reiseführer. Der vierte Gedanke umfasst Bildung: Warum bzw. wozu wird etwas ausgewählt? Es wird also deutlich, dass von einer normativen Vorentscheidung ausgegangen werden kann. Ihrem selbst zugesprochenen Anspruch gemäß laden Reiseführer zur Begegnung mit Neuem – seien dies Sehenswürdigkeiten – Naturlandschaften oder Menschen, ein. Zur Orientierung in der Fremde hilft der Reiseführer durch Sachinformationen und Orientierungsanker, indem in Vergleichen/Analogien und deutlichen Beschreibungen versucht wird Realität darzustellen. So verdichtet sich hier die Frage, ob Reiseführer einen Beitrag leisten zum Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeit und Kenntnissen, die es dem Einzelnen ermögli-
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Gorsemann hat eine Fragebogen-Aktion bei Reiseführerautoren durchgeführt, thematisiert wurde u.a. der berufliche Stellenwert der reiseschriftstellerischen Tätigkeit und die Selbsteinschätzung der Autoren bezüglich ihrer Kenntnisse und Vermittlungsabsichten (Gorsemann, Sabine, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung. Produktion, Aufbau und Funktion von Reiseführern, Kap. 6: Produktion von Reiseführern. Münster, New York 1995; 246-276.) Bei den Wortproduzenten können drei Gruppen unterschieden werden: freie Autoren, die hauptberuflich Reiseführer schreiben; freie Autoren, die teilberuflich arbeiten und einen anderen Teilberuf haben und Autoren, die neben ihrem Hauptberuf als freie Autoren arbeiten. Wichtig ist in diesem Zusammenhang, welche Qualifikationen Autoren aus anderen Lebens-, Arbeits-, und Ausbildungsbereichen mitbringen. »Die Mehrheit der Befragten schreibt nur nebenbei Reiseführer.« (269) »Zwei Drittel aller Befragten arbeiten als Journalisten, Redakteure oder Lektoren im publizistischen Bereich.« Einen wissenschaftlichen Berufshintergrund gibt mehr als ein Drittel der Reiseführerautoren an«. (268) »Die Bezugspunkte, die diese Autoren mit ihren Reisegebieten verbinden, sind nicht eindeutig beruflicher Natur, sondern reichen von privaten Lebensumständen und Interessen bis in berufliche Zusammenhänge hinein.« (269) In einem Iranreiseführer, der später noch genauer vorgestellt wird, wird auf Seite 9 der Autor vorgestellt mit: »Walter M. Weiss«, »kam 1992 erstmals nach Iran«, »auf unzähligen Reisen hat er Iran, auch als Studienreiseleiter und Fotograf, bis in die abgelegensten Winkel erkundet, und darüber viel publiziert.« (Weiss, Walter M., Iran. DuMont Reise-Handbuch. DuMont Reiseverlag Ostfildern 2018). Wie kaum anders zu erwarten war, halten die befragten Autoren ihren theoretischen und praktischen Kenntnisstand für fundiert und stellen nach Selbstauskunft hohe Ansprüche an ihre Produkte. Als Ziele wurden Bildung, Unterhaltung und gebrauchsorientierte Information überwiegend genannt. So heißt es im Iran-Reiseführer aus dem Trescher Verlag: »Dieser Reiseführer stellt alle Sehenswürdigkeiten und Landschaften ausführlich vor und bietet eine fundierte Einführung in Geschichte, Kultur und Politik«. (Kerber, Peter, Iran. Islamische Republik und jahrtausendealte Kultur. 4. aktualisierte und erweiterte Aufl. Trescher Verlag Berlin 2015, letzte Seite – ohne Angabe der Seitenzahl).
3. Reiseführer und Bildung
chen, angemessen zu handeln, das heißt sich auf Reisen angemessen verhalten zu können. Eine differenziertere Qualitätsanalyse des Inhaltes müsste sich daran messen lassen, wie Realität in Reiseführern wiedergegeben wird und wie Reiseführer durch ausgewählte Inhalte und Darstellungsformen dieses Ziel des angemessenen Reisens vorbereiten. Dies umfasst die Fragen danach, was er vermitteln will und was er unterlässt. Bildung beinhaltet immer die Frage nach dem »Wie«. Also ist weiterhin wichtig, welche sprachlichen, literarischen, visuellen und gestalterischen Mittel Verwendung finden.46 Im Kontext der Bildungsfrage steht jedoch auch, ob ein sachliches Verhältnis zu anderen angelegt wird. Es geht also fokussiert um die Frage, ob Reiseführer einen Beitrag dazu leisten, dass der Reisende auf Reisen angemessen handelt – dies würde den Erwerb von Fähigkeiten, Fertigkeiten und Kenntnissen umfassen, welche dazu benötigt werden. Wie weit dies intendiert ist, lässt sich nur an konkreten Textpassagen verdeutlichen. Würde ein Reiseführer mit zuvor genannter Beschreibung (sachliches Verhältnis zur Welt und zu anderen) umfassend erläutert sein, verstünde er Bildung nur als materiale Bildung, in der es um eine sachliche Auseinandersetzung geht. Bildung, verstanden als das sachliche und sittliche Verhältnis zu sich, zur Welt und zu anderen, strebt zu richtigem und gutem Handeln. An diesem Punkt endet der immanente Aufforderungscharakter von Reiseführern, hier kommt nun das pädagogische Paradoxon zum Tragen, dass das Individuum nur zu dem geführt werden kann, was es von selbst tun muss. An diesem Punkt verbindet sich die Bildung mit der Aufforderung der Erfahrung, der zunächst eine Selbstreflexion und Positionierung vorausgeht. In der Erfahrung kann sich etwas Neues bilden, können bestehende Denk- und Handlungsmuster in Frage gestellt, kritisiert, verändert oder bestätigt werden. Dies bedeutet den ersten Schritt zu möglichen Dialogintentionen und -erfahrungen in Begegnungen. Hier schließen sich die Grundlagen der interkulturellen und interreligiösen Pädagogik an. Zur Analyse bieten sich Reiseführer an, die möglichst qualitativ als auch quantitativ hohe bzw. differenzierte Fremdheitserfahrungen bei Reisedestinationen beinhalten.47 Es ist wichtig, dass neues Wissen zur Information und Kenntnis kommt 46
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Grosemann hat ein Analyseinstrument zum Vergleich und zur Bewertung von Reiseführern entwickelt. Sie erhebt folgende Analysepunkte: 1. Buch- und Serientitel (Spezifizierung des Anspruchs, der Zielgruppe, des Reisegebiets), 2. Programmatische Aussagen, 3. Inhaltsverzeichnis, 4. Layout (äußere und innere Gestaltung), 5. Konzeption – darstellerische Mittel (Orientierung, Unterhaltung, Verständlichkeit, Authentizität) und 6. Realitätsinterpretation. Vgl. Gorsemann, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung; 111-176. An dieser Stelle möchte ich bereits auf zwei mögliche Problemfelder aufmerksam machen: Das »Fremde« wird im Kontext der Reise oftmals essentialisiert, dadurch erfährt Kultur eine
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
und Zusammenhänge erkannt und somit gelernt werden können. Dieses Lernen umfasst nicht nur – wie bereits im Kontext des Reisens dargelegt – ein Dazulernen, sondern ein Umlernen. Über ein Stutzen und die Ratlosigkeit des Nichtwissens soll ein Erkenntnisgewinn angestrebt werden, in der Haltung des nach Lösungen Suchenden vollzieht sich der Lernprozess.48 Es ist davon auszugehen, dass nicht nur im Tätigsein des Reisens (unmittelbare Erfahrungsmöglichkeiten), sondern bereits vorab bei der Auseinandersetzung mit Reiseführern als vermittelten Erfahrungsgehalten Bildung möglich ist. Wichtig ist dabei, dass den Inhalten eine Bedeutung zugemessen wird. Eine Bedeutungszumessung kann in einem doppelten Sinne geschehen – wie anhand der Diskussion um Sehenswürdigkeiten noch näher erläutert werden: zum einen durch den Autor, der den dargestellten Inhalten einen Wert beimisst und zum anderen durch den Leser und Rezipienten. »Dinge an sich« haben keinen Wert, dieser muss ihnen zugesprochen werden. Bildungstheoretisch bedeutsam ist, dass es eines Lernprozesses bedarf, den möglichen Wert von Dingen zu erkennen. Dabei zeigt sich dann die Herausforderung, in einer konkreten Situation den Wert zu bevorzugen, der situationsangemessen ist. Ladenthin postuliert, dass der Mensch aus den grundsätzlich möglichen Werten jenen auswählt, »der in dieser konkreten Situation seinen absoluten Lebenssinn verwirklicht.«49 Für konkrete Handlungen bedeutet dies, dass ein tatsächlicher Wert bevorzugt wird. »Kriterium für die Bevorzugung ist das, was wir ›Lebenssinn‹ nennen. Die grundlegende Bereitschaft gemäß diesem Sinn zu leben, nennen wir ›Haltung‹.«50 Da eine starke Entsprechung zwischen Reiseführern und dem Reisen gilt, muss parallel der Blick auf die heute existierende Reisefreudigkeit der deutschen Bevölkerung gerichtet bleiben. In diesem Zusammenhang kommt der Suche nach Authentizität im Reisegebiet eine besondere Rolle zu, wie bereits dargelegt wurde. Hier öffnet sich dann in einem weiteren Schritt der Blick auf interkulturelle und interreligiöse Thematiken und »Sehanleitungen« in Reiseführern. Einige Wissenschaftler gehen davon aus, dass die »westlichen Kulturen […] die Eigenart fast je-
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genetische Verortung bei der einheimischen Bevölkerung, des Weiteren wird die Differenz betont zwischen dem Reisenden und der Reisedestination. Dies werde ich u.a. im Rahmen der Diskussion um »den Orient« aufgreifen. Vgl. auch: Attia, Iman (Hg.), Orient- und IslamBilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Münster 2007 und Attia, Iman; Popal, Mariam (Hg.), BeDeutungen dekolonisieren. Spuren von (antimuslimischem) Rassismus. Münster 2018. Protz, Siegfried, Unterricht. In: Benner, Dietrich; Oelkers, Jürgen (Hg.), Historisches Wörterbuch der Pädagogik. Weinheim, Basel 2004; 1031-1070; 1034. Ladenthin, Volker, Wert Erziehung. Ein Konzept in sechs Perspektiven. (hg. von Anke Redecker) Baltmannsweiler 2013; 84. Im Original: der in dieser konkreten Situation seinen absoluten Lebenssinn verwirklicht. Ebd.; 87.
3. Reiseführer und Bildung
den Ortes auf der Welt untergraben (haben), die Medien, besonders das Fernsehen, forcieren die Einebnung regional-kultureller Differenzen, verbreiten Stereotypen von Nationalcharakteren und Länderklischees – das Massenphänomen Reisen hat als Industrie inzwischen fast alle Länder erreicht.«51 Dennoch kann von (irritierender) Fremdheit weiterhin als ein Charakteristikum ausgegangen werden – und hier schließt sich der Kreis zur Frage nach der Diskussion und Erläuterung eines Bildungsanspruchs in Reiseführern. Gipfelnd in einem humanistischen Ideal der Völkerverständigung oder wie John Ernst Steinbeck sagt: »Der Fremdenverkehr und das Reisen fördern den Frieden. Es ist beinahe unmöglich, ein Volk zu hassen, das man näher kennengelernt hat«, lastet eine große Herausforderung auf der konkreten Verschriftlichung/Darlegung52 in Reiseführern. So geht es in diesem Kapitel der Arbeit als Forschungsgegenstand exemplarisch um den Bildungsanspruch in Reiseführern: dies zunächst in einem allgemeinen Teil (3.2.2 Ergebnisse der Analyse, 3.2.3 Inhalt: Verhaltensregeln), dann mit dem Fokus auf Sehenswürdigkeiten (3.2.4 Inhalt: Sehenswürdigkeiten) und schließlich im Kontext interkultureller (3.4. Kultur in Reiseführen – Kultur und interkulturelle Bildung) und interreligiöser (3.5. Religion in Reiseführern – Religion und interreligiöse Bildung) Thematiken.
3.2.1
Auswahl der Reisedestinationen und Formate
Zur Auswahl sind die Länder Iran, Marokko und die Türkei gekommen. Zum einen sollen die religiösen Unterschiede ins Visier genommen werden, die sich u.a. in den kulturellen Besonderheiten und Ausformungen zeigen. Die zunächst beliebig erscheinende Länderauswahl ist auch den Reiseerfahrungen der Verfasserin geschuldet. Obwohl es nicht um die Analyse der Richtigkeit und Vollständigkeit der Informationen geht, so erleichtert doch die eigene Kenntnis den Zugang sehr. Die meisten Erfahrungen liegen hier für die Türkei – speziell für Istanbul – vor; Iran und Marokko dienen als weitere Referenzrahmen. Nach dem Kriterium der »Fremdheit« und dem53 »Islam als Religion« hätten auch Länder wie Indonesien, Pakistan, Indien bis hin zu Albanien als Beispiele fungieren können. Exemplarisch werden jeweils drei Reiseführer ausgewählt. Neben dem Auswahlkriterium einer (1) möglichst großen Fremdheit54 gelten noch weitere Kri51 52 53
54
Biernat, »Ich bin nicht der erste Fremde hier«; 9. Die Wirkmacht der Sprache wird durch Bilder und Zeichen ergänzt, die unbedingt im Zusammenspiel wahrgenommen werden müssen. Auch wenn ich an dieser Stelle von dem! Islam spreche, so möchte ich darauf hinweisen, dass es den! Islam nicht gibt, sondern es sich um eine Vielfalt von religiösen Richtungen handelt, die zum Islam gehören. Die beiden größten Gruppen unterscheiden sich in Sunniten und Schiiten, aber auch innerhalb dieser beiden großen Gruppen existieren verschiedene Unterteilungen. Bekannt sind des Weiteren die Aleviten. Wobei dies sehr subjektiv ist und nicht verallgemeinert werden kann.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
terien: zum einen (2) Aktualität und zum anderen (3) die Adressatenorientierung (es wird Bezug genommen auf drei sich differenzierende Gruppen, »Bildungsreisende«, Individualreisende, »low-budget Reisende«55 ). Zu Grunde gelegt wurden, in Kenntnis von Geocenter und Barsortimenten, das Verzeichnis lieferbarer Bücher für den deutschen Buchhandel. Es ist besonders, dass sich die Formate MARCOPOLO, DUMONT56 , BAEDEKER57 , Lonely Planet und STEFANLOOSE TravelHandbücher; ergänzt durch E-Book Reiseführer unter dem Verlagshaus MAIRDUMONT subsumieren. Für die Türkei wurden ausgewählt: BAEDEKER Türkei (2010) in der neuesten lieferbaren Ausgabe58 . Zu den Autoren ist eine Besonderheit zu erläutern: Baedeker Ausgaben zeichnen sich aus durch ein Autorenteam. Die Sparten unterscheiden sich in Text, Bearbeitung, Kartografie, 3D-Illustrationen, Gestalterisches Konzept und Chefredaktion. Zum Anspruch der Aktualität kann mit Recht eingewendet werden, dass ein Alter von zehn Jahren nicht mehr dem Kriterium der Aktualität entsprechen möge. BAEDEKER gilt als der älteste aufgelegte deutschsprachige Reiseführer und avancierte zum »Klassiker«. Auch wenn zu Beginn des Jahrhunderts ein Imageeinbruch deutlich wurde und die BAEDEKER Reihe als antiquiert und wenig zeitgemäß kritisiert wurde, so hat der Verlag seit einer Generalüberholung im Jahr 2005 wieder an Renommee gewonnen. Die Innovation zeigt sich u.a. in erweiterten Formaten. So gibt es für die Türkei einen weiteren BAEDEKER SMART Reiseführer Türkische Küsten59 und BAEDEKER Türkische Mittelmeerküste, des Weiteren noch zwei unterschiedliche BAEDEKER Formate zu Istanbul. Wie an verschiedenen Stellen dieser Arbeit bereits angeklungen, ist der deutsche Reiseführer stark mit dem BAEDEKER identifiziert. Bei der Adressatenorientierung greife ich zurück auf die Selbstdarstellung auf der Verlagshomepage: »Die BAEDEKER Rei-
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56 57 58 59
In Kenntnis und dem Vorbehalt der teils massiven Pressung – liegen folgende Überlegungen zu Grunde: Bildungsreisende: BAEDEKER (Türkei), BAEDEKER (Marokko), DUMONT Reisehandbuch (Iran); Anmerkung: Zu Iran liegt kein BAEDEKER vor; Individualreisende: MICHAEL MÜLLER Verlag (Türkei), STEFAN LOOSE Travel Handbücher (Marokko), TRESCHER Verlag (Iran) Kurzinformationen, low budget: MARCO POLO (Türkei, Marokko, Iran). DuMont Reisehandbuch, DuMont Reise-Taschenbuch, DuMont Kunst-Reiseführer. BAEDEKER Reiseführer und BAEDEKER SMART Reiseführer. BAEDEKER Türkei. Baumgarten, Peter; Becks, Ralf; Boumer, Achim u.a., Karl Baedeker Verlag Ostfildern 9. Aufl. 2010. Preis: 25,95€; 672 Seiten. [BAEDEKER, Türkei] Das »Neue« am Smart Format ist, dass dies eine »Reiseführer-Serie mit Spiralbindung für alle (ist), die wenig Zeit für Vorbereitungen haben, die nichts verpassen wollen und es praktisch und schnell lieben« (www. BAEDEKER.com [14.08.2018].
3. Reiseführer und Bildung
seführer bieten allen, die erlebnishungrig unterwegs sein wollen, umfassende Informationen zum Wunschreiseziel.«60 MARCOPOLO Reiseführer: Zaptçioğlu, Dilek; Gottschlich, Jürgen, Türkei. (16. Aufl. 2016): Hierbei handelt es sich um einen Reiseführer, der laut eigener Aussage einen schnellen Überblick bietet. Mit 148 Seiten ist er vergleichsweise knapp. Er liegt im unteren Preissegment (12,99 €) und gilt als »(a)llzeit und immer dabei«Reiseführer. Vom gleichen Verlag gibt es noch »Türkische Südküste« (7. Aufl. 2016), »Türkische Westküste« (7. Aufl. 2017) und »Istanbul« (2016). MICHAEL MÜLLER Verlag – individuell reisen: Bussmann, Michael; Tröger, Gabriele, Türkei. (5. komplett überarbeitete und aktualisierte Aufl. 2015): Als Zielgruppe gelten Individualreisende. Kennzeichnend ist, dass die Autoren benannt werden, und der Schreibstil gilt als subjektiv und persönlich. (26,90 €; 911 Seiten) Für Iran wurden ausgewählt: DUMONT-Reise-Handbuch: Weiss, Walter, M., Iran. (1. Aufl. 2018). Als Adressaten werden bei der firmeneigenen Homepage die Menschen genannt, die auf umfassende Kulturinformation und Individualität beim Reisen Wert legen.61 Es wendet »sich an Reisende mit einem tieferen Interesse am Zielgebiet, ohne damit dem reinen Erholungsurlaub oder dem Kurztrip ganz ohne Sightseeingprogramm seine Berechtigung abzusprechen. Wir legen Wert auf erfahrbare Qualität – auf ausgewählte Inhalte, kompetente und aktuelle Informationen, einen guten Schreibstil und ein ansprechendes Layout. Unsere Reiseführer sind nicht für Low Budget-Reisende konzipiert, wohl aber für Preisbewusste, die gelegentlich auch mal über die Stränge schlagen (möchten).«62 (24,99 €; 504 Seiten) MARCOPOLO Reiseführer. Weiss, Walter, M., Iran. (1. Aufl. 2018, MAIRDUMONT Ostfildern 2018). Besonders ist, dass hier derselbe Autor zu Wort kommt wie beim Format DuMont Reise-Handbuch Iran. (12,99 €; 152 Seiten) TRESCHER-Verlag: Kerber, Peter, Iran. Islamische Republik und jahrtausendealte Kultur. (4. aktualisierte und erweiterte Auflage 2015). Wie auf der firmeneigenen Homepage zu lesen ist, publiziert der Verlag vorwiegend Individualreiseführer zu Osteuropa, Russland, zu den GUS-Staaten sowie zu Mittel- und Ostasien. Sie haben vielfach den Charakter von Handbüchern, die auch als Landeskunde genutzt werden können. (21,95 €; 581 Seiten) Es ist wichtig zu erwähnen, dass es lediglich sechs Titel zu deutschsprachigen Reiseführern für Iran im Verzeichnis lieferbarer Bücher gibt (Stand: 02.08.2018). Für Marokko wurden ausgewählt: BAEDEKER, Marokko. 10. Auflage 2014. Verlag Karl BAEDEKER Ostfildern 2014. (24,99 €; 516 Seiten. 60 61 62
http://www.BAEDEKER.com [14.08.2018]. Vgl. http://www.DuMontreise.de [27.12.2018]. http://www.DuMontreise.de [27.12.2018].
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
MARCOPOLO Reiseführer. Brunswig-Ibrahim, Muriel, Marokko. (12,99 €; 148 Seiten). Hier ist ebenfalls die Autorin identisch mit der Verfasserin des unten genannten Formats von Stefan Loose. STEFAN LOOSE Travel Handbücher, Brunswig-Ibrahim, Muriel; Baur, Thomas (Mitarbeit), Marokko. DuMontReiseverlag Ostfildern 2017. (24,99 €; 628 Seiten). Stefan Loose gehört zum Premium Segment beim Reisebuchverlag MAIRDUMONT. Er gilt als Globetrotter Traveller und ist geeignet für Low budget- und Individualreisen. Auf der Rückseite (Umschlagtext) heißt es: »Von Travellern für Traveller. Die Autoren des Stefan-Loose-Teams sind Globetrotter aus Leidenschaft, sie sind ständig auf Achse und haben Freude daran, ihre eigenen Erfahrungen und Tipps für den Aufbruch zu neuen Horizonten weiterzugeben.«63 Nun könnte wiederum der Vorwurf der völligen Beliebigkeit bei der Auswahl der Formate erhoben werden. Dem kann entgegengehalten werden, dass es nicht um eine qualitative Bewertung (nach inhaltlicher Richtigkeit im Sinne von Korrektheit und Fehlerfreiheit, Informationsgehalt, Layout etc.) und ein Ranking zwischen den Reiseführern gehen wird64 , sondern um eine bildungstheoretische Analyse. Anhand des im Kontext des Reisens bereits umrissenen Bildungsverständnisses wird diese »Matrix« auf die Inhalte der Reiseführer angelegt und analysiert. Hierbei werden nach einem eher allgemeinen Analyseteil die spezifischen Sichtweisen der interkulturellen und interreligiösen Thematiken erörtert. Wichtig scheint mir darüber hinaus eine detaillierte Diskussion der »Sehenswürdigkeit« im Kontext der Bildung.
3.2.2
Ergebnisse der Analyse
Vor einer Analyse der Ziele und Aufgaben (Selbstinformation, Unabhängigkeit, Entscheidungsfindung, Leitfunktion, Unterrichtung, Animation) in den ausgewählten Reiseführerformaten, möchte ich zunächst die Adressatenorientierung genauer in den Blick nehmen, die (neben Aktualität und »Fremdheit«) eins meiner Auswahlkriterien darstellt. An dieser orientiert sich die Selektion und Darstellungsform der Inhalte; rezipientenbezogen wird informiert, begleitet und instruiert.
63 64
DUMONT, Marokko; hintere Umschlagseite. Ein mögliches Analyseinstrumentarium dafür hat bereits Gorsemann entwickelt. Sie verglich damit in einer Fallstudie Reiseführer für Island.
3. Reiseführer und Bildung
3.2.2.1
Adressatenorientierung
Es ist nicht weiter verwunderlich, dass das Format MARCOPOLO Reiseführer65 für alle drei Reisedestinationen die gleiche Gliederung aufweist. Schnell wird deutlich, für welchen Adressatenkreis die Auswahl getroffen wurde: Starten alle mit der Nennung von 15 Highlights – die einem stark normierten Blick folgen66 (z.B. Türkei: »Blaue Reise« Westküste, Troja, Hagia Sophia, Topkapi-Palast; Marokko: Chefchauaouen, Mosquée Hassan II, Mazagan, Medina in Essaouira; Iran: ImamReza-Heiligtum, Sultaniye, Golestan-Palast, Juwelenmuseum), gefolgt von InsiderTipps und dem Hinweis auf den digitalen Service von MARCOPOLO, der auch noch einmal in einem eigenen Kapitel »Links, Blogs, APPS & Co.« vertieft wird, so gliedert sich die Einführung in die Unterpunkte: »Best of…- Tolle Orte zum Nulltarif, Typisch (Türkei, Iran, Marokko), – Schön, auch wenn es regnet und – Entspannt zurücklehnen«. Für die Adressatengruppe wird angenommen, dass sie 1. einen schnellen Informationsfluss möchte: Der »Auftakt« (= Einführung) und die »Fakten, Menschen & News« sind subjektiv und in direkter Anrede formuliert (»Stellen Sie sich vor: ein Feiertag im Frühling in einer iranischen Stadt, Teheran zum Beispiel, Isfahan oder Shiraz’…die imaginäre Reise geht weiter und der Leser wird mitgenommen Neues zu entdecken (Wasserpfeifen, Duft, »Welcome in Iran« rufen x-beliebige Passanten auf der Straße, zum Probieren werden Datteln und Nüsse angeboten),
65 66
Zur besseren Lesbarkeit werden die Reiseführernennungen durch Fett-Druck hervorgehoben. Der »normierte Blick« zeigt sich deutlich im Vergleich der Nennungen der Highlights, wobei die Reihenfolge sich unterscheidet und auch keine komplette Übereinstimmung vorliegt. So kann für den MARCOPOLO Reiseführer festgestellt werden, dass er z.B. für Marokko 15 Highlights benennt, die mit der Liste der Highlights im Format STEFAN LOOSE zu Zweidrittel übereinstimmt, teilweise jedoch mit etwas veränderten Schwerpunktnennungen. Des Weiteren werden aber auch Unterschiede deutlich in der Beschreibung, so z.B. für das Highlight Volubilis: im MARCOPOLO heißt es in der Kurzbeschreibung: »Rom in Marokko – oder besser gesagt, die Reste davon«, dagegen steht im BAEDEKER »Volubilis: Bedeutende römische Ausgrabungsstätte mit einzigartigen Mosaiken, dem Triumphbogen und dem Decumanus Maximus«. Für den Vergleich der drei Reiseführer Iran kann festgehalten werden, dass nur MARCOPOLO eine Highlightliste voranstellt, im DUMONT Reisehandbuch ist dies zu Beginn des jeweiligen Kapitels zum Reisegebiet angegliedert mit der Unterteilung: Sehenswert, Schöne Route und Meine Tipps; das Format des Trescher-Verlages integriert die Sehenswürdigkeiten mit Unterpunkten in den Fließtext der jeweiligen Reisedestination (z.B. Der Norden, Stadt und Provinz Qazvin, Sehenswürdigkeiten; 182).
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung 2. an Erlebnissen interessiert ist: So heißt es z.B. im Kapitel »Im Trend«: Party im Untergrund. Abtanzen67 , Instant-Kochkurs. Food68 , Fest im Sattel. Radtouren sind in69 , Marathon-Boom. Nicht im Sande verlaufen70 , 3. Interesse an Konsum hat: In einem eigenen zweiseitigen Kapitel »Einkaufen«, welches untergliedert ist z.B. in Keramik, Kulinarisches, Lederwaren, Antiquitäten, Gold, Silber, Teppiche und Safran, wird auf die Besonderheiten des jeweiligen Landes hingewiesen, ebenso enthält jedes Buch eine Rubrik »Essen und Trinken«, 4. wenig Geld ausgeben möchte (dem Low budget-Reisenden zuzurechnen ist, bzw. sich dieser Etikette als Reisender verpflichtet fühlt), dies wird eigens bedient in der Rubrik: »Tolle Orte zum Nulltarif«, aber es wird auch durchgängig in den Erläuterungen sichtbar, so z.B. in den Übernachtungsbeschreibungen, die teilweise exklusiv genannt werden: »In einigen kleineren, einfachen Hotels…«, »In der Altstadt finden Sie viele kleine, gemütliche Pensionen der einfachsten Kategorie«. 5. sowohl aktiv, als auch entspannt ihre Reisezeit gestalten möchte: In allen drei Reiseführern findet sich ein Kapitel zu »Entspannt zurücklehnen«; hierunter finden sich z.B. »Relaxen am Strand«71 , »Dachtresse zum Träumen«72 , »Spaziergang im Grünen«73 , »Schlammpackung«74 . Wie schon angedeutet, wird auch auf sportliche Aktivitäten hingewiesen, sei dies Bergsteigen, Bootstouren oder Golf in der Türkei75 , Klettern, Kameltrekking und Skifahren in Iran76 oder Hochgebirgstouren und Maultiertrekking in Marokko77 .
Bei den anderen Formaten für die Länder Iran, Türkei und Marokko gilt, dass sie ihre Leserschaft wesentlich umfassender und inhaltlich fundierter informieren, d.h. in die verschiedenen Bereiche der Reisedestination einführen. Neben einer Standardisierung lassen sich jedoch auch hier Spezifika nachweisen. Eine deutliche Adressatenorientierung nennt Walter M. Weiss im DUMONT Reisehandbuch Iran. »Es (der Reiseführer) versteht sich in erster Linie als informativer und praktischer Wegbegleiter dieses ungemein vielschichtigen, faszinie67 68 69 70 71 72 73 74 75 76 77
MARCOPOLO, Iran; 18. Ebd. MARCOPOLO, Türkei; 19. MARCOPOLO, Marokko; 18. MARCOPOLO, Marokko; 11. Ebd. MARCOPOLO, Iran; 11. MARCOPOLO, Türkei; 11. Ebd.; 104ff. Vgl. MARCOPOLO, Iran; 114ff. Vgl. MARCOPOLO, Marokko; 112ff.
3. Reiseführer und Bildung
renden Landes – insbesondere auch für die rasant wachsende Zahl von Individualreisenden, die Iran abseits der klassischen Hauptrouten kennenlernen möchten. Daneben will es die Widersprüche und quecksilbrigen Facetten im Gottesstaat aufzeigen und begreifbar machen«.78 Etwas weiter im Text tritt der unterweisende Charakter besonders hervor, »Zugrunde liegt diesem Buch aber vor allem auch der tief empfundene Wunsch des Autors, der von Medien allzu gern praktizierten Simplifizierung entgegenzuwirken.«79 Im Trescher Reiseführer Iran wird hervorgehoben, dass er alle Sehenswürdigkeiten und Landschaften ausführlich vorstellt und eine fundierte Einführung in die Geschichte, Kultur und Politik bietet.80 Wie dicht ein alltagssprachlich-temporeicher Schreibstil (begleitet von Stereotypen, Pauschalisierungen und auch falschen Suggestionen) und fundierte Fachlichkeit nebeneinander existieren, zeigt sich im MICHAEL MÜLLER Türkei besonders deutlich. Bei der Vorstellung der beiden Autoren Gabriele Tröger und Michael Bussmann startet die Einführung mit: »In der Türkei wird nicht lange gefackelt. In der Türkei wird angepackt. Setzen Sie sich in ein Restaurant: Ruck, zuck haben Sie die Speisekarte,… Oder nehmen Sie ein Taxi: Mit quietschenden Reifen kommen Sie ans Ziel… Genauso schnell können Türken auch ins Schneckentempo wechseln… Wir Europäer seien ja immer so hektisch, heißt es dann.« An wen sich dieser Reiseführer richtet, wird deutlich in der Passage: »Das Gros aller Türkeiurlauber bekommt dies aber gar nicht mit (gemeint ist das Land zwischen Orient und Okzident). Es lernt nur einen kleinen Teil […] kennen, manche nur die gebuchte Clubanlage, den Traumstrand davor und das künstliche Shoppingdorf dahinter. Wer aber durch das Land reist, erfährt die Türkei«.81 Durch diese abgrenzende Formulierung und Dichotomisierung wird die Zugehörigkeit zu einem Lebensstilkollektiv, das eine bewusste Reiseform wählt, angesprochen. Gleichzeitig erfolgt eine Abgrenzung zu – wie an anderer Stelle detailliert dargestellt – Vorstellungen des Pauschaltouristen (Massentouristen); hier allerdings in Verkennung der tatsächlichen touristischen Orientierung und Angleichungen des Reisenden und Touristen in einer je spezifischen »tourist bubble«. Für die beiden Exemplare des BAEDEKER Marokko und BAEDEKER Türkei wird der Anspruch erhoben, dass sie Hintergründe und Zusammenhänge erklären. Zu Beginn der Erläuterung der Touren im Führer Marokko heißt es, »nicht nur Kulturreisende, Badeurlauber und Bergwanderer kommen hier auf ihre Kosten«82 ;
78 79 80 81 82
DUMONT, Iran; 9. Ebd. TRESCHER, Iran; hinterer Umschlagtext. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 18. BAEDEKER, Marokko; 143.
95
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
hierdurch wird der Anspruch eines Universalcharakters unterstützt, welcher sich von einer klaren Adressatenformulierung löst.
3.2.2.2
Aufgaben und Ziele
Orientiert an der Form des Unterrichtens, oder treffender formuliert – da es sich ja nicht um einen unmittelbaren interaktiven Prozess handelt – des Unterweisens mit dem Ziel des Erwerbs von bedeutsamen und handlungsrelevanten Kenntnissen, Fähigkeiten und Fertigkeiten geistiger, emotionaler oder leiblicher Art, muss bei der Analyse des Textkorpus differenziert werden in Didaktik und Methodik. Leitende Idee des Unterrichts/der Unterweisung sind die Kategorien Wahrheit, Nützlichkeit und Notwendigkeit. Unterricht als methodisch kontrollierter Zugang zur Welt (Ladenthin) muss dabei system-, anwendungs- und umgangsoffen sein. Die Aufforderung zu gültiger Selbsttätigkeit ist hierbei die oberste Prämisse. Didaktik wird in diesem Zusammenhang verstanden als die Theorie der Auswahl und Anordnung und fragt nach der Bedeutungszumessung von Gegenständen und Inhalten.83 Wird Didaktik wissenschaftlich als eine Reflexion von Lehr- und Lernprozessen verstanden, so liegt bei der Gattung Reiseführer eine Instruktion vor, jedoch keine (face to face) Interaktion. In diesem Zusammenhang wird von einer Didaktik ausgegangen, die analog zum Schulbuch eine Praxis des Lehrens umfasst, die selektierte Inhalte, Ziele und deren Begründung umfasst. Dabei unterscheidet sich der Sachteil (Hintergrundtexte) in einem Reiseführer in verschiedene Gattungen, so z.B. Politik, Geschichte, Religion, Essen und Trinken, Freizeit, Natur, Tiere, Wald, Gesundheit, Wirtschaft, Architektur, Kunst, Fotografie, Musik und Verkehr und Verkehrsmittel, um nur einige zu nennen, die in der Systematik von Reiseführern vorzufinden sind. Die Methodik ist die Theorie der Zugänge oder Vermittlung von Wissen. Unterschieden werden kann Wissen in das Wissen konkreter Einzelheiten, systematischer Zusammenhänge und Ordnungen – Fakten, Theorien und Regeln werden dargelegt. Die Ausbildung eines vielseitigen Interesses hat die Funktion, als Grundlage für einsichtiges Handeln zu dienen.84 Ob dies zu einer Befähigung zu sittlichem Handeln führt, ist ungewiss – wie durch konkrete Textstellen zu belegen sein wird. Folgende Gliederungspunkte lassen sich in allen neun Reiseführern finden, die sich mit den Aufgaben:
83 84
Vgl. Rekus, Jürgen, Die Aufgabe der Didaktik heute. In: Vierteljahresschrift für wissenschaftliche Pädagogik 79 (H. 1/2003); 62-73; 62f. Vgl. Protz, Unterricht; 1053.
3. Reiseführer und Bildung
• • •
Möglichkeit der Selbstinformation, der Unabhängigkeit und der Leitfunktion
beschreiben lassen. Tabelle: Einzelne Kapitel (Gliederungen) werden darüber hinaus von spezifischen Aufgaben dominiert Kapitel
Zuordnung
Aufgabe
Einführung, Hintergründe und Fakten
Sachbuch, Hintergrundtext
Vermittlung, Unterrichtung
Beschreibung von Reisezielen/Sehenswertem
Führer/Begleiter, Orientierungstext
Vermittlung, Leitfunktion und Orientierung, Funktion der Animation
Reiseroutenvorschläge
Führer/Begleiter, Orientierungstext, Besichtigungstext
Leitfunktion und Orientierung, Funktion der Animation
Nennung von Highlights und Verhaltensregeln
Führer/Begleiter, Orientierungstext, Ratgebertext
Vermittlung, Leitfunktion, Unterrichtung und Orientierung, Funktion der Animation
Quelle: Selbstgestaltet
Sachbuch: Dass ein Reiseführer ein Sachbuch darstellt, kann bei allen neun Titeln nachgewiesen werden. Jedes Buch enthält ein Kapitel »Fakten, Menschen & News«, »Land und Leute«, »Hintergrund«, »Wissenswertes über …« o.ä. und gliedert sich – hier einmal das Format MARCOPOLO ausgenommen – in verschiedene Gattungen bzw. Unterkapitel, die fachwissenschaftlich orientiert sind, so z.B. Naturraum, Bevölkerung, Politik, Wirtschaft, Geschichte, Kunst und Kultur, Religion und Gesellschaft. Dieser »Kanon des Wissenswerten« wird zusammengestellt nach Bedeutungszumessung des Autors und ist der materialen Bildung zuzurechnen. Bildungstheoretisch kann hier von einer Unterweisung nach Art eines Fachund Sachbuches gesprochen werden. Auch findet sich die Form eines Nachschlagewerkes. Der zugrundeliegende Anspruch ist eine sachangemessene Wiedergabe der Realität, die der Wahrheit verpflichtet ist. Zum Grad der Richtigkeit und Objektivität lassen sich Unterschiede analysieren, was nicht weiter verwunderlich ist, da die Autorenschaft wissenschaftspropädeutisch verortet ist und nicht dem Anspruch einer fachwissenschaftlichen Ausführung genügen muss. In der Regel sind
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
diese Textteile verobjektiviert formuliert, dadurch kann ein sachliches Verhältnis zur Welt (Kultur und Natur) und zu anderen aufgebaut werden. Die Tiefe, Qualität und fachwissenschaftliche Fundierung und Perspektive variieren dabei – dies entsprechend auch der Rezipientenorientierung. Besonders deutlich wird dies im Format MARCOPOLO, welches in leicht verständlicher, subjektiver Sprache kurze Informationen aneinanderreiht; diese sind jeweils mit Überschriften gegliedert, die mehr summarisch als inhaltlich aufbauend angeordnet sind. Es ist kennzeichnend, dass an bekannte Inhalte und allgemein beim Rezipienten vermutete Interessen und Kenntnisse angeknüpft wird. Hierbei ist die bildende Unterhaltung bestimmender als die Unterrichtung. Teilweise werden bei anderen Ausgaben (z.B. bei MICHAEL MÜLLER Türkei und DUMONT Iran) diese Beschreibungen unterbrochen von Themenseiten, die zwar einen informierenden Charakter haben, aber subjektiviert und auch appellativ an den Rezipienten gerichtet sind. So heißt es im DUMONT Iran im Kapitel »Natur und Umwelt« zum Unterkapitel »Klima und Flora« unter der Überschrift »Ein Land (ver-)durstet«: »Die Zeichen stehen auf Alarm: Den Iranern droht eine katastrophale Wasserknappheit. Die Probleme sind vielfältig, aber allesamt vom Menschen verursacht.«85 Gerade an diesen vertiefenden Aspekten oder Themenseiten wird die Bedeutungszumessung des Autors bzw. des Autorenteams besonders deutlich. Führer und Begleiter: Ebenso wie die Rubrik »Fakten zum Land« enthält jeder Reiseführer Informationen zu Reisezielen/Sehenswertem. Die BAEDEKER-Ausgaben sortieren diese in alphabetischer Reihenfolge, alle anderen systematisch nach Reiseregionen bzw. Reiserouten. Alle enthalten Informationen zu Anreise und Reisen im Land, zu den Themen Übernachten, Essen und Trinken, Feiertage, dem Unterwegs mit Kindern, und (teilweise) einen Sprachführer sowie weitere praktische Hinweise. Diese Angaben sind der Orientierungsebene zuzuordnen mit dem Ziel der Bildung durch Wegweisung und Organisation der Reise. Ebenso kann hier auf die Funktion der Fürsorge Bezug genommen werden. Zwar ist der Reisende dafür verantwortlich, wie er seine Reise, Reisevorbereitung und -begleitung organisiert und somit für das Gelingen (mit-)verantwortet, ein Reiseführer beinhaltet aber Tipps und Empfehlungen (Anleitungen), animiert zu Besuchen, Erlebnissen o.ä. und trägt so fürsorglich zu einem Gelingen bei, indem Interessen, Motive, Sehnsüchte bedient und Sorgen, Ängste und das Nichterreichen der lokalen, materiellen und immateriellen Reiseziele vermieden bzw. ausgeräumt werden.
85
DUMONT, Iran; 26f.
3. Reiseführer und Bildung
3.2.3
Inhalt: Verhaltensregeln
Ein integraler Bestandteil ist des Weiteren eine Einführung in Verhaltensregeln, die ich an dieser Stelle genauer vorstellen möchte. In verdichteter Form findet sich hier eine Anleitung, die zweckorientiert formuliert wird. Durch die Befolgung der Verhaltensregeln, so wird suggeriert, könne der Reisende seinen Teil zum Gelingen einer Reise beitragen. In Teilen wird auch ein reflektierender Charakter deutlich, indem ein vertiefter Bezug hergestellt und auf Diskrepanzen hingewiesen wird. Mit Erläuterungen und Begründungen wird um Verständnis geworben. Es zeigt sich für die »Verhaltensregeln« eine Spanne von knapper Unterweisung bis hin zu erläuterndem Wissen, dass auf den Gebrauch hin orientiert ist, d.h. auf der Lektüre folgenden Handlungen (beim Tätigsein des Reisens).86 Die MARCOPOLO Ausgaben beenden ihre Ausführungen mit einer Kategorie »Bloss nicht«. Hierunter finden sich Verhaltensregeln z.B. dahingehend, welches Handeln zu vermeiden bzw. zu unterlassen sei: »In jedem Fremden einen Freund sehen«87 , »Zu viel Haut zeigen«88 , »Alles Fotografieren«89 , »Hetzen«90 , »Vor Anderen schneuzen«91 und »Den Daumen recken«92 . In den beiden BAEDEKER Ausgaben findet sich die Rubrik »Knigge« bzw. »Etikette«, in der verschiedene Verhaltenscodices genannt und erläutert werden, so z.B. für das Verhalten bei Einladungen, das Verhalten von Alleinreisenden im öffentlichen Raum und in öffentlichen Verkehrsmitteln93 , für das Betreten von Moscheen94 und zu tragende Kleidung95 . STEFAN LOOSE Travel Handbücher betitelt die Rubrik »Verhaltenstipps« und benennt Regeln z.B. für das Handeln, die Kleidung, die linke Hand, die Begrüßung und einiges mehr.96 Ohne noch weitere Beispiele anzuführen, seien hier nur noch die Rubrikbezeichnungen erwähnt. Im DUMONT Iran sind diese aufgeführt unter »Dos and Don›ts«97 . Bei TRESCHER Iran sind Verhaltensregeln an verschiedenen Stellen genannt ohne eigene Kategorie, so z.B. bei »Das Wichtigste in Kürze«98
86 87 88 89 90 91 92 93 94 95 96 97 98
Einen Teil der Beispiele werde ich erneut unter dem Aspekt der interreligiösen und interkulturellen Bildung aufgreifen und diskutieren. MARCOPOLO, Türkei; 148. Ebd. MARCOPOLO, Marokko; 148. Ebd. MARCOPOLO, Iran; 152. Ebd. BAEDEKER, Türkei; 110ff. BAEDEKER, Marokko; 471ff. Ebd.; 473f. STEFANLOOSE, Marokko; 83. DUMONT, Iran; 91f. TRESCHER, Iran; 16.
99
100
Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
und »Reisetipps«99 . In der MICHAELMÜLLER Türkei Ausgabe sind die Verhaltensempfehlungen ebenfalls unter der Rubrik »Wissenswertes von A-Z«100 verteilt zu finden. Dominant zeigen sich in den Ausführungen Verhaltensregeln und Einführungen in Zeichensysteme, diese umfassen jedoch keine der Bildung verpflichteten Handlungen.
3.2.4
Inhalt: Sehenswürdigkeiten
Die Beschreibung und Diskussion von Sehenswürdigkeiten und deren Repräsentation in Reiseführern erfordert auf Grund ihrer bildungstheoretischen Relevanz ein umfassenderes Kapitel. Alle Reiseführer beinhalten sogenannte Sehenswürdigkeiten, teilweise klassifiziert mit einem Sternesystem, ausgezeichnet als Geheimtipp oder zugeschnitten auf die jeweilige Klientel: Menschen, die als Rezipienten vermutet werden bzw. im Fokus stehen. So fragt Müllenmeister: »Es ist eine faszinierende und bis heute ungenügend beantwortete Frage, wie Sehenswürdigkeiten entstehen. Werden sie gemacht, entdeckt, entwickelt, ausgegraben, aufgefunden?«101 Die Frage ist, ob sich der Prozess für die Etablierung von Sehenswürdigkeiten noch rekonstruieren lässt. Folgendes Verfahren als Fünf-Phasen-Modell entwickelt Dean Mac Cannell: 1. naming phase, 2. framing and elevation phase, 3. enshrinement, 4. mechanical reproduction und 5. social reproduction. Ich möchte anders vorgehen: Betrachtet man die Ausführungen zu Sehenswürdigkeiten in Reiseführern, so zeigt sich ergänzend zu einem recht standardisierten Kanon (1) eine zunehmende Beliebigkeit (2), oft gekennzeichnet als sogenannte »Geheimtipps«. Diese sind oft adressatenspezifisch (3) auf die jeweilige Leserschaft zugeschnitten. Von besonderem Interesse für die Auswahl der zur Darstellung kommenden variablen Sehenswürdigkeiten ist die Bildungsabsicht (in Korrelation mit der Motivation) der Reisenden. Die Frage ist, »wann und wo, wie und warum welche Reisende welche sogenannten Sehenswürdigkeiten auf der Basis welcher Informationen und mit welchen Auswirkungen für das eigene Leben besichtigen.«102 Hans Magnus Enzensberger schrieb bereits im Jahr 1962 zu Sehenswürdigkeiten: »Hielt sich das vergangene Jahrhundert noch an den Fundus, den Museum und Tiergarten
99 Ebd.; 550-556. 100 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 46-71. 101 Müllenmeister, Horst Martin, Sehenswürdigkeiten oder die Reise in die Vergangenheit. Bildungstourismus zwischen gestern und morgen. Hannover, Trier 1988; 8. 102 Lauterbach, Burkhart, Thesen zur kulturwissenschaftlichen Reiseführer-Forschung. In: Kramer, Dieter; Lutz, Ronald (Hg.), Reisen und Alltag. Beiträge zur kulturwissenschaftlichen Tourismusforschung. Frankfurt 1992; 55-69; 64.
3. Reiseführer und Bildung
voraussetzen, so produziert das unsere synthetische Sehenswürdigkeiten nach Bedarf. […] Zu sich selbst kommt die Sehenswürdigkeit endlich in der Abstraktion, wo sie, aller fremden Kontingenz enthoben, zum touristischen Absolutum wird.«103
3.2.4.1
Definition »Sehenswürdigkeit«
Wird wieder als erster Zugangsweg der Duden bemüht, der den common sense reproduziert, so heißt es hier zur Sehenswürdigkeit: »Etwas wegen seiner Einmaligkeit, außergewöhnlichen Schönheit, Kuriosität o.Ä. besonders Sehenswertes, was nur an einem bestimmten Ort zu finden ist und deshalb besonders für Touristen von besonderem Interesse ist.«104 Wie oben bereits angeklungen, wird der Begriff der Sehenswürdigkeit mittlerweile inflationär benutzt. Es bleibt jedoch die Frage nach der formalen Struktur einer Begründung, was eine Sehenswürdigkeit ist. Merkmale von Sehenswürdigkeiten: Thurner unterscheidet verschiedene Merkmale zur Klassifizierung und Wahrnehmung von Sehenswürdigkeiten: 1. Ernennung – »Zur Sehenswürdigkeit wird, was von einer Autorität – einer Stadt- oder Landesverwaltung, einem Denkmalamt, einer Altertümerverwaltung, einer Kulturbehörde, national oder supranational – zu einer solchen erklärt und von einer Tourismusorganisation als solche vermarktet wird.«105 Die Gewichtung der Autoritäten reicht in einer Spanne von Welterbe, deklariert durch die UNESCO, bis zu einem entsprechenden Sternchen- und Auszeichnungssystem in Reiseführern (oftmals orientiert an den Asterisken des BAEDEKER). Steinecke stellt fest, dass durch den selektiven Blick der Touristen Kulturobjekte besonders attraktiv sind, welche gekennzeichnet sind durch a. eine beeindruckende Architektur (z.B. Windtürme in Iran), b. einen Bezug zu bedeutenden historischen Persönlichkeiten (z.B. wird als BAEDEKER Tipp für den Besuch des Dolmabahce Palast in Istanbul hervorgehoben: »Mustafa Kemal Atatürk nutzte den Palast nach dem Regierungsumzug nach Ankara als Sommerresidenz. Am 10. Mai 1938 um 9.05 Uhr erlag er hier den Folgen seiner schweren Krankheit. Die Uhr in seinem Sterbezimmer (im Original fett hervorgehoben) zeigt noch heute diese Uhrzeit an.«106 oder
103 Enzensberger, Eine Theorie des Tourismus; 162. 104 Vgl. http://www.duden.de [24.02.2020] 105 Thurner, Ingrid, Sehenswürdigkeiten: Konstruktion und Rezeption. In: Kagermeier, Andreas; Steinecke, Albrecht (Hg.), Kultur als touristischer Standortfaktor. Potenziale – Nutzung – Management. Paderborn 2011; 1-18; 3. 106 BAEDEKER SMART, Istanbul. Perfekte Tage in der Bosporus-Metropole. MAIRDUMONT Ostfildern 2016; 112.
101
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
zu wichtigen historischen Ereignissen.107 Als touristische Attraktionen unterscheidet Steinecke kulturelle Relikte, Einrichtungen und Schauplätze und subsummiert darunter Burgen, Schlösser und Herrensitze, Parks und Gartenanlagen, Kirchen, Klöster, Moscheen und Tempel, Museen und Ausstellungen, Schlachtfelder und Militäranlagen, Grabmäler und Friedhöfe und Gefängnisse, Konzentrationslager und Gedenkstätten. Des Weiteren nennt er als kulturelle Attraktionen Städte, ländliche Räume und Industrieregionen.108 2. Kontrolle – zunächst gedacht als Wartung und Pflege – bedarf eine Sehenswürdigkeit der physischen Umgebung im Sinne einer Atmosphäre. Des Weiteren ist eine touristenstromlenkende Administration zu schaffen, inklusive einer entsprechenden Infrastruktur. 3. Wertung – als sehenswert katalogisiert sich »das Herausragende, Kostbare, Ungewöhnliche, Kuriose, Seltene, Rare«109 . Mit der Zuschreibung »sehenswert« verbindet MacCannell eine »Sakralisierung«, wobei die höchste Auszeichnung die Ernennung zum Welterbe durch die UNESCO bedeutet.110 Dabei gibt es jedoch auch solche Sehenswürdigkeiten, die teils nur regional vorkommen, äußeren Umständen unterliegen und vielfach vom Zufall geprägt sind. Oft sind heutige sogenannte Sehenswürdigkeiten zur Zeit ihrer Entstehung keine Besonderheiten gewesen, sondern werden erst durch Alter und Seltenheit dazu – solche »Nicht-Orte« unterliegen der Interpretation und dem Wandel, so könnte es sein, dass z.B. »Nicht-Orte« des 20. Jahrhunderts zu Sehenswürdigkeiten der nächsten Generation werden. Ein Beispiel dafür ist bereits die neu entdeckte Faszination von Plattenbauten und »Hochhaussiedlungen«111 . Ein vielfach anzutreffendes Kennzeichen einer touristischen Attraktion als Sehenswürdigkeit ist das »Übriggebliebene«, eine gerade noch sichtbare Vergangenheit.112 Dabei ist das »Restaurieren von alten Überresten […] nicht einfach nur Erhaltung, sondern Auswahl der richtigen Phase der Sehenswürdigkeit, angewandtes Zeitmanagement. Präsentiert wird dabei eine neue Geschichte, gereinigt von den unpassenden oder einfach überflüssigen Teilen der Vergangenheit.«113 c.
107 Vgl. Steinecke, Kulturtourismus; 65. 108 Eine detaillierte Darstellung bietet Steinecke in: Ders., Kulturtourismus. Marktstrukturen, Fallstudien, Perspektiven. München 2007; 64-272. 109 Thurner, Sehenswürdigkeiten; 4. 110 Vgl. MacCannell, Dean, The Tourist. A New Theory of the Leisure Class. Berkeley 1999; 43ff. 111 Zum Beispiel erfährt das Quartier Köln Chorweiler zurzeit touristische Konjunktur auf Grund seiner besonderen Architektur als größte Plattenbausiedlung Nordrhein-Westfalens in den 1960er Jahren (und der bekannten und mittlerweile zu Ruhm gelangten Architekten). 112 Vgl. Groebner, Valentin, Retroland. Geschichtstourismus und die Sehnsucht nach dem Authentischen. Frankfurt a.M. 2018; 83. 113 Ebd.; 166.
3. Reiseführer und Bildung
Als weiteres Kriterium der Wertung zeigt sich, dass das Besondere nicht unbedingt positiv besetzt sein muss. So können, wie bereits angeklungen, auch Mahnmale, Gedenkstätten und ehemalige Konzentrationslager zu Sehenswürdigkeiten werden. 4. Wiederholung – eine Sehenswürdigkeit bedarf der Bestätigung, sei dies durch Besucher, durch Fotografien oder anderer Replikation durch Reiseführer, Souvenirs, Bildbände, Postkarten. »Durch stete Wiederholung und Präsenz an vielen Orten werden die Sehenswürdigkeiten dem Betrachter zu etwas Vertrautem und verlieren ihre Fremdheit«.114 Unter anderem wurde diese Aussage anhand einer wissenschaftlichen Untersuchung der Fotos von Pauschaltouristen zum Thema Fremdheitserfahrung bestätigt.115 Gleichzeitig wird durch die Wiederholung die Sakralisierung betont und dies in reziproker Weise.116 Die Wiedererkennung wird erreicht durch Vervielfältigung. »Vervielfältigung ist das Schicksal jedes Monuments, sobald es zum historischen Wahrzeichen kanonisiert wird.«117 Besonders für als historisch bezeichnete Sehenswürdigkeiten wird die Organisation von Wiedererkennungseffekten kombiniert mit der nachträglichen Herstellung von Kontinuitäten: So werden Geschichten, Bilder und Artefakte aus der Vergangenheit in die Gegenwart transportiert.118 »Damit historische Ereignisse – gewöhnlich solche aus dem Mittelalter – als der Inbegriff einer solchen vermeintlich historisch bedingten lokalen Besonderheit bezeichnet werden können, müssen sie regelmäßig wiederaufgeführt werden, in historischen Kostümen und erhaltenen Altstädten.«119 5. Zeit – die Historisierung steigert die Bedeutung, d.h. der Zeitbezug eines Objektes wird betont. In einer kulturellen »Rethrophie«, die bis zu einer Nostalgisierung führen kann, und ebenso in der Anerkennung von Hochmodernem wird dem Faktor Zeit Rechnung getragen. Für die Historisierung gilt, dass mit der Sehenswürdigkeit ein Ort bezeichnet wird, an dem der Besucher in die Vergangenheit eintauchen kann, »ohne dass seine eigene Zugehörigkeit zur Moderne bedroht oder in Frage gestellt wird. Die besuchte Vergangenheit muss
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Thurner, Sehenswürdigkeiten; 5. Vgl. Schmidt, Bernd O., Der Orient – Fantasia 1001 Nacht. Wie Touristen Fremdes sehen und verstehen. Über Fremdbild und Fremdwahrnehmung von deutschen und österreichischen Urlauberinnen und Urlaubern in orientalischen Mittelmeerländern. Eine explorative Studie anhand eingesandter Fotos und ihrer Kommentierungen zu dem Fotowettbewerb »Das Fremde im Urlaubsland«. Ammerland 2001. Vgl. Thurner, Ingrid, Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen. In: Schnepel, Burkhard; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 151-182; 168. Groebner, Retroland; 91. Vgl. ebd.; 22, Ebd.; 114.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
ausreichend Kontraste zum eigenen Alltag bieten, aber problemlos praktisch benutzt, besichtigt und fotografiert werden können.«120 Und damit ist ein Zweites mit dem Faktor Zeit impliziert, hier geht es um die Reihenfolge der Besichtigungen. Wurde an anderer Stelle schon auf die »Straße der Ameisen« Bezug genommen, so muss hier wiederholt werden, dass mit der Reihenfolge der Besichtigung von Sehenswürdigkeiten auch eine Ungleichzeitigkeit einhergeht. Die Reihenfolge wird oftmals bestimmt durch die Anordnung in Reiseführern, durch eine Reiseroute, Öffnungszeiten, Topografie, Verkehrsmittel. Weitere äußere Faktoren ließen sich ergänzen. Diese Relevanz der äußeren Faktoren ist nicht gering zu schätzen, oftmals ist sie ausschlaggebend dafür, ob eine Sehenswürdigkeit in den Kanon des Besichtigungswerten aufgenommen wird oder nicht. Des Weiteren kann unter dem Faktor Zeit eine Heterogenisierung von Sehenswürdigkeiten gefasst werden, d.h. dass durch das Konservieren von Gebäuden, Objekten, Gegenständen diese »in Szene gesetzt« werden, konserviert bis hin zu wiederhergestellt oder gar rekonstruiert werden. »Additive Präsentationen von Vielfalt und Kontrast ist erfolgversprechende Strategie touristischer Vermarktung. Die Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen, das Nebeneinander von nicht Zusammengehörendem findet den höchsten Ausdruck in Museen«.121 6. Bedeutung – Orte werden mit Bedeutung aufgeladen und sakralisiert: »manufacturing heritage« (Cartier). Die Konstruktion von Sehenswürdigkeiten erfolgt dabei weniger in Anlehnung an und durch Umsetzung von Forschungsergebnissen von Historikern und Archäologen, sondern vielmehr an soziokulturellen Hintergründen der an Touristen orientierten Bildungsvorstellungen. Die Prozesse der Sakralisierung, Asteriskierung und der Kommodifizierung zeigen dabei eine hohe Interdependenz.122 Ein Beispiel von Thurner sei an dieser Stelle wiedergegeben: Machte schon Enzensberger darauf aufmerksam, dass der Tourist das zerstört, was er sucht, so trifft das für den Souk von Marrakesch zu. Obwohl die traditionelle Struktur des Souk weitgehend verloren gegangen ist, (es gibt kaum noch Handwerker dort, die Färber sind nur noch vereinzelt anzutreffen, demgegenüber haben sich Händler niedergelassen, die Meister der Präsentation von bunten Dingen für den ausschließlichen Verkauf an Touristen sind), so wird dennoch der ausländische Besucher den Souk als einmalig und besuchenswert empfinden. »Der Souk repräsentiert für Touristen den Orient schlechthin, Marokkaner hingegen gilt er als touristisch.«123 Bedeutung wird an Bilder geknüpft, die erwartet
120 121 122 123
Ebd.; 173. Thurner, Sehenswürdigkeiten; 7. Vgl. Thurner, Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen; 157. Ebd.; 170.
3. Reiseführer und Bildung
werden. Dabei verschiebt sich Tradition (als »ursprüngliche« Authentizität) zu orientalischen Vorstellungen und Suggestionen. Hier ließe sich nun der Diskurs postkolonialer Theoriebildung anschließen, der den Orient als westliche Erfindung postuliert, dies ausgehend von der These Edward Saids, der die exotistischen, kulturalistischen und rassistischen Bilder hervorhebt.124 Ähnliche Tendenzen zum Souk in Marokko (speziell in Marrakesch) werden auch für den großen Basar in Istanbul festgestellt. »Gebäude, Plätze, Straßen, Dörfer, Regionen, vielleicht ganze Länder werden für den Tourismus aufbereitet und in hübscher Verpackung vermarktet.«125 Oftmals wird so durch Sehenswürdigkeiten die Sicht auf die Geschichte eher verstellt und behindert, als dass sie Transparenz und Erkenntnis hervorrufen. Hier stellt sich nun wiederum die zentrale Frage, ob Reiseführer diese »Sehanleitung« gestalten (Unterrichtung) oder dem dargebotenen Bild des Tourismus erliegen und es bestätigen und somit reproduzieren. Im BAEDEKER Marokko126 heißt es im Kapitel Marrakesch »Souks« – ausgezeichnet mit zwei Sternen: »Nördlich der Jemaa el Fna erstrecken sich die Souks der Stadt, die ausgedehntesten und faszinierendsten von ganz Marokko.«127 Nach einer Darlegung der Lage und der Gänge wird der historische Wandel im Souk thematisiert: »Dort öffnet sich nach rechts eine breite Passage mit dem Souk des Potiers (Töpfer) zur Linken. Diesem folgt der ehemalige Souk der Korbmacher, der heute weitgehend Textilläden aufweist«.128 Auch an weiteren Stellen wird die Zeitunterscheidung von früher zu heute deutlich: Man »kommt an den Läden der Kissaria vorbei zur Rue Souk Attarine, dem ehemaligen Souk der Gewürzhändler, in dem sich heute Läden mit unterschiedlichen Waren befinden.« So wird in sachlich angemessener Weise auf eine Diskrepanz zwischen historisch-echter Einordnung und touristischauthentischem Blick und Erleben der Souks von Marrakesch hingewiesen. Gerade für die Medinas des Orients kann eine Gentrifizierung festgestellt werden; dies bezeichnet als »Auto-Orientalisierung«, d.h. dass der Orient vom Orient selbst konstruiert wird.129 An dieser Stelle ist zu ergänzen, dass Vergangen-
124 Vgl. Schulze, Reinhard, »Orientalismus. Zum Diskurs zwischen Orient und Okzident«, In: Attia, Iman (Hg.), Orient- und Islambilder. Interdisziplinäre Beiträge zu Orientalismus und antimuslimischem Rassismus. Münster 2007; 45-68. 125 Thurner, Sehenswürdigkeiten; 10. 126 BAEDEKER, Marokko. Lehmann, Ingeborg; Henss, Rita u.a., Karl BAEDEKER für MAIRDUMONT Ostfildern 10. Aufl. 2014 (aktuellste zurzeit verfügbare Auflage), MAIRDUMONT Media Ostfildern 2014. 127 BAEDEKER, Marokko; 284. Im Original: die ausgedehntesten und faszinierendsten von ganz Marokko. 128 Ebd. 129 Vgl. Schnepel, Burkhard; Brands, Gunnar; Schönig, Hanne, Orient – Orientalistik – Orientalismus. Geschichte und Aktualität einer Debatte. Bielefeld 2011.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
heit und Geschichte sich dadurch unterscheiden, dass Vergangenheit nur lückenhaft verfügbar, auf immer verstummt und unzugänglich ist. »Geschichte dagegen, die Nacherzählung dieser Vergangenheit, kann nach Bedarf jederzeit vervollständigt werden.«130 Dabei bedarf die Geschichte der ständigen Wiederholung, und diese Redundanz verstärkt ihre Wirkung. »Die Vergangenheit erscheint umso authentischer, je häufiger sie reinszeniert wird.«131 Durch diese Temporalisierung einer Destination wird deren Attraktivität über die Diversifizierung gesteigert.132 Wie schon deutlich wurde, müssen bei der Untersuchung von Sehenswürdigkeiten zwei Ebenen unterschieden werden: das Objekt der Sehenswürdigkeit (kulturanthropologischer Ansatz) und der Themenkomplex, wie sich Touristen vor Sehenswürdigkeiten verhalten (sozialanthropologischer Ansatz). »Eine Sehenswürdigkeit ist nicht, sie wird gemacht, und zwar im Rahmen des Destination Branding«133 , orientiert an Ernennung, Kontrolle, Wertung, Wiederholung, Zeit und Bedeutung. Die Wechselwirkungen zwischen Reisepraxis, Länderimages und Destination Branding müssen bei der genaueren Betrachtung von Sehenswürdigkeiten berücksichtigt werden. Rezipient: Nach der Darlegung und Wiedergabe der verschiedenen Merkmale zur Klassifizierung und Wahrnehmung von Sehenswürdigkeiten wird nun der Rezipient betrachtet mit seinen Erfahrungen von Sehenswürdigkeiten. Sieben Faktoren sind zu unterscheiden: Zugänglichkeit, Legitimation, Interesse, Imagination, Deutung, Emotionen und Identität. Da an verschiedenen anderen Stellen der Arbeit hier bereits Bezug darauf genommen wurde, so z.B. bei den Reisemodalitäten und den Reisemotiven, werden diese nur kurz zusammenfassend genannt. 1. Zugänglichkeit – auch wenn die Mobilität des Reisens sich rasant erweitert hat, so müssen eine Zahlungsfähigkeit, ein Urlaubsanspruch sowie eine physische und intellektuelle Verfassung vorliegen; hieraus ergeben sich bereits gewaltige Unterschiede in den Ausgangslagen für einzelne Länder. »Auch unterliegen die Objekte durch die allgemeinen Zugänglichkeiten einem Wandel, der vordergründig nicht ins Auge fällt. Denn während Sehenswürdigkeiten heute für
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Groebner, Retroland; 117. Ebd.; 119. Vgl. Thurner, Tourismuslandschaften – Sehenswürdigkeiten – Menschen; 162. Thurner, Ingrid, »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen«: Über die Wechselwirkung zwischen Reisepraxis, Länderimages und Destination Branding. In: Pechlaner, Harald; Volgger, Michael (Hg.), Die Gesellschaft auf Reisen – Eine Reise in die Gesellschaft. Wiesbaden 2017; 225-238; 228.
3. Reiseführer und Bildung
2.
3.
4.
5.
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viele sind, waren viele Sehenswürdigkeiten zur Zeit ihrer Entstehung nur für wenige.«134 Legitimation – der Besuch von Sehenswürdigkeiten führt zur Legitimation von Reisen. Die Frage nach der Motivation und des Warum von Reisen lässt sich mit dem (aktiven) Besuch von Sehenswürdigkeiten als Orten, an denen man als Tourist erwünscht ist, beantworten, zudem wird der Tag strukturiert und gefüllt. Interesse – im Kontrast zu Langeweile – muss geweckt, gehalten und gestillt werden durch die Sehenswürdigkeit, d.h. sie muss sich würdig erweisen, dass an ihr/in ihr Zeit verbracht wird. Imagination – in der Verwirklichung des Imaginären wird dem Wunsch entsprochen, dass das Reisen eine Projektionsfläche von Sehnsüchten darstellt. Groebner geht soweit, dass er für den Touristen behauptet, dass das, was Touristen am intensivsten besichtigen, ihre eigenen Empfindungen sind.135 In einer »konkreten Utopie« (Raymond) wird die touristische Kultur zu einer Touristenkultur. Die Darstellung der Realität wird zu einer Konstruktion für den Touristen, die er gleichzeitig auch wieder im Prozess verändert. Dabei ist dieser Prozess der Artifizialität von Sehenswürdigkeiten allen Beteiligten bewusst. Touristische Inszenierungen enthalten oftmals Hinweise darauf, wie eine »Konservierung« (Restaurierung, Sanierung, Rekonstruktion, Inszenierung, Simulakren) erfolgte. Für die Sehenswürdigkeit bedeutet dies, dass sie nicht Abbilder oder Bilder der Realität sind, sondern oftmals Idole im Sinne von Traum- und Trugbildern des Tourismus. Für aus der Geschichte und Tradition als relevant begründete Sehenswürdigkeiten gilt, dass wenn »Vergangenheit touristisch genutzt werden soll, muss sie erstens sichtbar sein, original, aus sich selbst heraus (oder wenigstens so aussehen) und zweitens muss sie aktuell nutzbar sein, also aufdatiert für die Bedürfnisse ihrer Besucher.«136 Dieser Geschichtsgebrauch setzt einen mythischen Ort voraus, »an dem alle Besucher von sich selbst erwarten, mehr und intensiver zu empfinden als zu Hause.«137 Gerade an diesem Punkt ist zu klären, wie hier Bildung verstanden wird, ob es bei einem rein konsumptiven Anhäufen von »Sehenswertem« belassen wird, ohne dem Anspruch der Wahrheit im Sinne eines begründeten, geordneten und für gesichert erachteten Wissens zu genügen. Deutung – die Wahrnehmung und Deutung von Sehenswürdigkeiten ist sehr variabel, sie orientiert sich an biographischen Erfahrungskontexten und dif-
Thurner, Sehenswürdigkeiten; 10. Vgl. Groebner, Retroland; 178. Ebd.; 81. Ebd.; 151.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
feriert individuell und in Raum und Zeit. Ein Muslim wird die Hagia Sophia anders wahrnehmen als ein Christ. 6. Emotion – »Untersuchungen belegen das touristische Bedürfnis, beim Besuch historischer Stätten emotional involviert zu sein.«138 Dies kann bedeuten, dass die Erhabenheit und Besonderheit des Objektes den Rezipienten in ihren Bann ziehen. Speziell für die Konservierung von Geschichte und Tradition betont Groebner, dass »touristische Geschichtsnutzung […] auf der beharrlichen Forderung (beruht), die Ereignisse in der fernen Vergangenheit nicht nur jetzt sehen und anfassen zu können, sondern auch von ihnen angesprochen zu werden und gemeint worden zu sein.«139 Die Emotionalisierung im Angesicht der Sehenswürdigkeit kann unterschiedlich erfolgen: Kunsthistorisches Interesse kann sich wandeln in Nostalgie, ethnologisches und soziologisches Interesse kann sich äußern in Exotismus und Voyeurismus – aber auch eine »naive« Erstannäherung kann tiefergehendes Interesse wecken, Kontexte können gesucht werden, Analogien helfen dabei zu strukturieren und zu ordnen. Wie noch eingehend zu zeigen sein wird, schwingt immer die Frage mit, ob Reisen der Bildung oder der Unterhaltung dient; dies gilt besonders bei der »Konsumierung« von Sehenswürdigkeiten. 7. Identität – Sehenswürdigkeiten sind hybride Konstrukte (Thurner). Sie repräsentieren Kultur und Geschichte und sind gleichzeitig geschaffen für die Gegenwart140 ; hier zeigt sich eine Differenz an einem dritten Ort. Sie sind beliebig vermarktbare und reproduzierbare Fremdenverkehrsembleme141 , dadurch werden sie zu einem gültigen Ausdruck einer lokalen, historischen Identität. Damit verbunden ist der Wunsch nach Authentizität, dabei sagt diese Beschreibung nichts über den Gegenstand aus. Echt sein kann im Grunde alles, jedoch wird im Kontext der Sehenswürdigkeit damit etwas Besonderes assoziiert im Sinne von erlebbarer Geschichte und Tradition. Im Extrem formuliert kann dabei sogar Tradition ohne Vergangenheit funktionalisiert werden. »Das Authentische […] ist authentisch, weil es im Namen von Unmittelbarkeit und Intensität wiederholt werden kann. Das Wort sagt nichts über einen Gegenstand aus, sondern über den Prozess, der ihn erneut zur Verfügung stellt, durch technische (oder juristische) Verfahren zu seiner Vervielfältigung, die erst multiples Erscheinen ermöglichen.«142 138
Thurner, Sehenswürdigkeiten; 14. Thurner verweist hier auf Studien von Oria, Butler und Airey und Poria, Reichel und Biran. 139 Groebner, Retroland; 186. 140 Groebner erläutert in seinem Werk »Retroland« unterschiedliche Beispiele, bei denen Sehenswürdigkeiten aus mittelalterlichen Vergangenheiten im 21. Jahrhundert neu gebaut werden. 141 Vgl. Groebner, Retroland; 115. 142 Ebd.; 181.
3. Reiseführer und Bildung
3.2.4.2
Standardisierte Sehenswürdigkeiten
Standardisierte Sehenswürdigkeiten erleichtern die Annäherung an fremde Welten, dies gilt besonders, sofern das zu bereisende Land ein hohes Irritations- bzw. Fremdheitsniveau hat. Die Erfahrung des Neuen und Fremden korreliert mit der Reiseerfahrung und mit möglichen Vergleichen. »Ein besichtigtes Objekt wird […] nicht für sich genommen beurteilt und für attraktiv oder nicht befunden, sondern in der Konkurrenz zu gleichartigen Phänomenen in anderen Regionen.«143 Für die Reisepraxis gilt, dass Sightseeing als soziale Konvention zum integralen Bestandteil einer Reise gehört und eine zentrale Form touristischer Aneignung ist – wie bereits bei den Reisemotiven erläutert wurde, nennen vierzig Prozent der Befragten (FUR Reiseanalyse 2015) den Besuch von Sehenswürdigkeiten als wichtig für ihre Reise. Sehenswürdigkeiten werden zunehmend normiert, sie erfüllen eine Mittlerfunktion zwischen Hochkultur und Populärkultur, der mit einem standardisierten Blick begegnet wird.144 Der Demokratisierung des Reisens steht eine Normierung gegenüber, die Müller eine »Gefahr der Freiheitsberaubung« nennt: Der »gefesselte Reisende« unterwirft sich den textuellen Fesseln einer Sehenswürdigkeit um dem Anspruch »was der Tourist sehen muss« zu genügen.145 Ohne die Kontroverse um den Begriff »Kulturtourismus« hier entfalten zu wollen, ist ein differenzierter Blick auf die Urlauber sinnvoll. »Empirische Untersuchungen kamen zu dem Ergebnis, dass nur 10 % der kulturell interessierten Urlauber als Kultururlauber im engen Sinne zu betrachten sind, für die Kultur das zentrale Reisemotiv darstellt. Bei 90 % handelt es sich hingegen um Besichtigungsurlauber bzw. Auch-Kultururlauber, die neben kulturbezogenen auch zahlreiche andere Urlaubsaktivitäten ausüben«146 . Antz spricht in diesem Zusammenhang von der Klientel der Kulturnutzer im Tourismus und unterscheidet drei Gruppen: Kulturtouristen im engeren Sinne, Gelegenheits-Kulturtouristen und ZufallsKulturtouristen.147 Hierauf wird in den Beschreibungen von Sehenswürdigkeiten in den einzelnen Formaten der Reiseführer reagiert, dies zeigt sich u.a. in der Auswahl, Ausführlichkeit der Darlegung und Anordnung im Reiseverlauf. Kulturelle Aneignung von Sehenswürdigkeiten: Mandel unterscheidet verschiedene Intensitätsmodi bei der Auseinandersetzung mit Kunst und Kultur – mit Sehenswürdigkeiten, die sie in idealtypischen Stufen kultureller Aneignung differenziert.
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Gorsemann, Bildungsgut und touristische Gebrauchsanweisung; 167. Vgl. Müller, Die Welt des Baedeker; 18f. Vgl. ebd.; 117f. Steinecke, Kulturtourismus; 4. Vgl. Antz, Christian, Kulturtourismus. Empfehlungen für einen langfristigen Erfolg. In: Handbuch Kulturmanagement. Berlin, Stuttgart 2008 und http://www.kulturmanagement-portal .de [15.08.2018]
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Das niedrigste Niveau zeigt sich in einer standardisierten, interesselosen, ästhetischen Wahrnehmung globaler touristischer Symbole. Hierbei wird ästhetische Wahrnehmung als Oberbegriff für bewusste sinnliche Wahrnehmung verwendet, die jedoch noch nicht zu einer Aneignung führe; hierzu bedürfe es einer weiteren Auseinandersetzung mit dem Vorgefundenen. Bei dieser Form handele es sich um ein Sightseeing, das mechanisch und interessenlos abläuft, ohne persönliche Beteiligung. Ein besonders herausragendes Feld der globalen touristischen Symbole stellen dabei die Sehenswürdigkeiten mit dem Titel »UNESCO Weltkulturerbe« dar. Hier wird deutlich, dass ein historisches Erbe zu einem Erbe der Menschheit universalisiert wird, d.h. es wird eine globale Bedeutungszumessung vorgenommen, die jedoch in diesem Modus keiner subjektiv zugeschriebenen Bedeutung entspricht und die reduziert wird zu einer rein kosumptiven Wahrnehmung. Im zweiten Intensitätsmodus werden idealisierte Vorstellungsbilder durch ästhetische Wahrnehmung und ästhetisches Erleben bestätigt. »Die Wahrnehmung bekannter Sehenswürdigkeiten oder anderer kultureller Phänomene wird bereits vor Ort als etwas Besonderes erlebt und als ein positiv konnotierter Höhepunkt der Urlaubsreise nachhaltig erinnert.«148 Voraussetzung dafür ist, dass vorhandene Vorstellungen und Bilder Bestätigung erfahren, das heißt, dass die Imagination greift. Im dritten, sich qualitativ steigernden, Intensitätsmodus wird ästhetische Erfahrung als bewusst erfahrene und (gestaltend) reflektierte ästhetische und/oder interkulturelle Differenzerfahrung definiert. Die mitgebrachten Imaginationen und Vorstellungen werden nicht (vollständig) bestätigt, es bedarf einer Neuorientierung und differenzierteren Auseinandersetzung. Neugier und Interesse sind hierbei maßgebend, wobei diese Differenzerfahrungen nicht nur zu einer Öffnung und Horizonterweiterung führen können, sondern ebenso die pauschale Ablehnung des Fremden daraus resultieren kann. Als höchste Intensität sieht Mandel die »interkulturelle Erfahrung als aktive, längerfristige Auseinandersetzung mit Menschen eines anderen Kulturkreises«149 . Voraussetzungen hierfür sind längere Aufenthalte, das Beherrschen der Sprache und eine dialogische Interaktion ohne Hierarchieanspruch. Hierauf werde ich an anderer Stelle im Kontext der interkulturellen Bildung vertiefend eingehen. Zur Frage nach Konstruktion und Rezeption von Sehenswürdigkeiten ist ergänzend zu erwähnen, dass der kulturelle Wert eines Objektes auch zu einem kommerziellen Wert wird, sobald dieses Objekt zur Sehenswürdigkeit wird.150 Zu unterscheiden ist eine Kommodifizierung als ein Prozess der Kommerzialisierung bzw.
148 Mandel, Birgit, Tourismus und Kulturelle Bildung. Potentiale, Voraussetzungen, Praxisbeispiele und empirische Ergebnisse. München 2012; 50. 149 Mandel, Tourismus und Kulturelle Bildung; 51. 150 Vgl. Thurner, Sehenswürdigkeiten; 3.
3. Reiseführer und Bildung
des »Zur-Ware-Werdens« vom Prozess der In-Wertsetzung, der die Kommerzialisierung mit Bewahren verbindet.151 Durch die Konnotation einer Besonderheit – in den meisten Fällen positiv besetzt152 – wird diese Wertung manifest. Diese Sehenswürdigkeiten erfahren zudem eine Multiplizierung und Verbreitung, sei dies z.B. durch Reiseführer, Postkarten, Filme oder Werbung. Durch Wiederholung erfolgt ein Prozess der »manufacturing heritage« (AlSayyed) und des »touristed landscape« (Cartier). Zugleich finden durch die Auszeichnung »Sehenswürdigkeit« viele Reiseformen ihre Legitimation, so z.B. die Studienreise, Kulturreise und Rundreise. Henning geht sogar so weit, dass er mit Sehenswürdigkeiten den Wunsch nach Imagination verbindet im Sinne einer Realisierung von Fantasien und Wunschvorstellungen. Er formuliert hier zugespitzt, dass es dem Touristen nicht – ich würde in diesem Zusammenhang ergänzen: nur – um die Erkenntnis und das Kennenlernen fremder und unbekannter »Welten« geht, sondern bereits vorherige Bilder (im Sinne von Vorstellungen und Wünschen) eine Gestalt bekommen. Unbestritten dürfte jedoch bleiben, dass »Wahrnehmung und Deutung von Sehenswürdigkeiten variieren nach biografischen Erfahrungshorizonten, auch nach Herkunfts-, Sozialisations- und Traditionskontexten […] (; sie) differieren daher in Raum und Zeit und von Individuum zu Individuum.«153
3.2.4.3
Bildungsanspruch und Sehenswürdigkeiten
Ausgehend von der Verortung von Reiseführern in der Gebrauchsliteratur und von dem didaktischen Anspruch der Wissensvermittlung und Führung (hier kann auch bereits bildungstheoretisch von Lenkung und Fürsorge ausgegangen werden), wird in einem ersten Schritt der unterrichtende Teil näher diskutiert. Ein sachliches Verhältnis wird geklärt. Unterricht als planmäßige, regelmäßige Unterweisung Lernender durch Lehrende wird transformiert in die schriftliche Form einer Information und Unterweisung durch einen Autor/Autoren, die geplant ist und einem bestimmten Zweck (dem Reisen) zugeordnet wird. Doch hier wird bereits ein Widerspruch deutlich: Der Anspruch ist in die Sehenswürdigkeit einzuführen. Aussagen darüber unterliegen dabei dem Wahrheitsanspruch, da sie sachangemessen erfolgen müssen, nur so können sie als richtig anerkannt werden. Und hier zeigt sich bereits eine grundsätzliche Schwierigkeit der Geltungsansprüche, da – wie bereits gezeigt wurde – die Darstellung der Realität in Reiseführern nicht dem Wunsch
151
152 153
Vgl. Bendix, Regina, Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe). Akteure und Kontexte im Laufe eines Jahrhunderts. In: Schnepel, Burkhard; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 45-73. Aber auch Mahnmale, historische Orte des Schreckens etc. gelten als Sehenswürdigkeiten. Thurner, »Es wandelt niemand ungestraft unter Palmen«; 234.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
nach Wahrheit verpflichtet ist, sondern zum einen der Suche nach authentischem Erleben (mit all seinen Fallstricken und letztlich seiner Unerreichbarkeit) und zum anderen der Realitätsinterpretation mit der Tendenz der Sakralisierung. Dadurch wird Dingen – hier Sehenswürdigkeiten – ein reiseorientierter Wert zugesprochen. Dinge an sich haben keinen Wert, dieser muss ihnen zugesprochen werden. Diese Wertung wurde bereits deutlich bei der Bedeutungszumessung »beeindruckende Architektur«, »Bezug zu bedeutenden historischen Persönlichkeiten« und »wichtigen historischen Ereignissen«. Bildungstheoretisch erfordert dies die Frage, ob Wertungen eine Bedeutsamkeit im Hinblick auf gute (= angenehme) und sittliche Handlungsfähigkeit entspricht. Die Wertung erfolgt in doppelter Richtung: Der Autor/die Autorengruppe wertet in den Aussagen, die in einem Reiseführer zur Darstellung gelangen. Dies bedeutet bildungstheoretisch, dass durch das Werten den Dingen eine Bedeutsamkeit zugeschrieben wird, und diese Inhalte einen Sinn für den Autor haben. Hier lassen sich wiederum verschiedene Wertungsmöglichkeiten unterscheiden: Grundlegend ist die Frage, ob die Wertungen sachangemessen sind und so einem am Regulativ der Wahrheit ausgerichteten Urteil entsprechen. Wie bereits eingehend erläutert wurde, ist dies nicht allgemein konstitutiv für Reiseführer. Dem Gültigkeitsanspruch der Sachaussagen steht der Anspruch gegenüber, einen »wertvollen« Urlaub zu ermöglichen, dies bedeutet, dass Reiseformen und Reisemotive im Sinne von soziokulturellen Ansprüchen der Reisenden mit dem Sachanspruch korrelieren und in (distanzverringernden) journalistischen Vermittlungsweisen154 auf die Bedürfnisse der Rezipienten reagiert wird. Reiseführer führen zwar in die Realität ein, gleichzeitig interpretieren sie diese aus einem touristischen Blick heraus. Durch diese Wertung wird der bildende Anspruch instrumentalisiert, so dass kein durchgängiger, umfassender Sachbezug vorzufinden ist. Zwar kann überwiegend für die Inhaltsbereiche Landeskunde (Geographie, Geschichte, Religion und Gesellschaft, Kultur und Kunst) eine sachangemessene Form analysiert werden, dies trifft für die Darstellung von Sehenswürdigkeiten jedoch in unterschiedlichen Qualitäten zu. Damit der Rezipient diese Informationen als sinnhaft begreift, erfolgt hier eine zweite Wertung und Bedeutungszumessung. Der Geltungsanspruch der Aussagen im Sinne, dass die Bedingungen für die Gültigkeit der betreffenden Aussage erfüllt sind (Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und normative Richtigkeit)155 ist essentiell. Ladenthin betont, dass Geltungsansprüche zuerst in sachlicher Hinsicht
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Vgl. Thurner, Sehenswürdigkeiten; 144. Vgl. Habermas, Jürgen, Theorie des kommunikativen Handelns. Frankfurt 1981; 25ff.
3. Reiseführer und Bildung
gestellt werden können.156 Damit der Rezipient lernt (im Sinne eines reflektierten Lernens und nicht einer Ansammlung von Wissen), muss er das zu Lernende als bedeutsam erkennen, d.h. der Leser muss, um sich zu bilden, die Inhalte als sinnvoll bewerten. Des Weiteren muss er ihnen eine Bedeutsamkeit für sein Leben (seine Menschwerdung in Selbstbestimmung) zusprechen. Erweitert wird diese Ebene noch durch die Handlungsebene: Die Darstellungen in Reiseführern leiten und begleiten Reisetätigkeiten, und Reisen ist ein Handlungsmodus, daraus folgt die Frage, ob mit den Darstellungen und Wertungen selbstverantwortetes Handeln im Sinne von Bildsamkeit ermöglicht wird. Bezogen auf die Schilderungen in Reiseführern zeigt sich dabei eine doppelte Aufgabe: Es ist zu klären, ob in der Darstellung von Sehenswürdigkeiten ein sachliches Verhältnis zur Welt (Kultur und Natur) und zu anderen angelegt wird. Dies würde aber noch nicht ausreichen, von einem Bildungsanspruch auszugehen, da darüber hinaus noch die Schaffung einer Haltung im Sinne eines sittlichen Verhältnisses zu sich, zur Welt und zu anderen erreicht werden muss, die zu gutem (wie angenehmen) und richtigem Handeln strebt. »Jedes sachliche Erkennen stellt die Frage nach dem richtigen, guten und sinnvollen Umgang mit dem Erkennen – also die Frage nach der Sittlichkeit.«157 Zu unterscheiden sind demnach die Kriterien: • • • •
sachlich richtig, - repräsentativ/Unikat eines Sachverhaltes, gut/angenehm – dies bezeichnet den Beitrag des Sachverhaltes dazu, das Leben gut und angenehm zu machen, sittlich – eine Aufforderung moralisch über einen Sachverhalt nachzudenken und sinnvoll, so dass der Sachverhalt dazu beiträgt, das Leben gelingen zu lassen.
Bevor jedoch der zweite Schritt (der richtige, gute und sinnvolle Umgang mit dem Erkennen in der Handlung) – im Sinne eines zweiten Urteilsaktes, der analog zum Unterricht hypothetisch ist, da erst zeitverzögert gehandelt werden kann (pädagogisches Paradoxon) – zur Diskussion gestellt wird, soll die wertende Darlegung umfassender analysiert und diskutiert werden. Verschiedene Kategorien der Wertung lassen sich unterscheiden, die ein sachliches Urteil voraussetzen und sich an Fachdisziplinen orientieren: ästhetisch, historisch, kulturell, gesellschaftlich, wirtschaftlich, architektonisch, mathematisch,
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Vgl. Ladenthin, Was ist Bildung?; 237-260. Ladenthin, Volker, Werteerziehung als Aufgabe von Unterricht. In: Redecker, Anke (Hg.), Volker Ladenthin: Wert Erziehung. Ein Konzept in sechs Perspektiven. Hohengehren 2013; 25-46; 41.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
geografisch, religiös und ethisch, biologisch-medizinisch, touristisch…158 Es lassen sich noch weitere ergänzen. Beispiel Volubilis (Marokko): Am Beispiel von Volubilis in Marokko möchte ich verdeutlichen, welche Wertungen im Textkorpus nachgewiesen werden können. So heißt es: Marokko159 – Volubilis, ausgezeichnet mit zwei Sternen – (gemäß den Analysekategorien Ernennung, Wertung, Zeit und Bedeutung): • • •
»die größte, wichtigste und schönste römische Ausgrabungsstätte Marokkos« (mathematische, historische, ästhetische Wertung), »berühmt wegen der herrlichen Mosaikfußböden« (ästhetisch), seit 1997 auf der UNESCO-Liste des Weltkulturerbes« (kulturell).
Eine konkrete Sehanleitung als Analogie folgt: »Manchen mag die Kulisse bekannt vorkommen, war sie doch Schauplatz von Martin Scorseses Film ›Die letzte Versuchung Christi‹«. Über fünf Seiten wird die Sehenswürdigkeit beschrieben, ergänzt durch ein Schaubild (Lageplan), zwei Fotos und einer Seite mit der Überschrift »Volubilis erleben« mit Angaben zu Anreise, Festen, Essen und Übernachten. Deutlich wird, dass die Bedeutungsbeimessung zum einen fachwissenschaftlichen Kriterien und Beschreibungsmöglichkeiten folgt, zum anderen werden durchgängig persuasive sprachliche Bewertungen vorgenommen, die das Reiseziel als lohnend klassifizieren. Angelegt ist die Begründung, dass es gut ist, Volubilis zu besuchen; dadurch kann das Gelingen einer Reise begünstigt werden. Hierin zeigt sich die sachliche Bedeutsamkeit in Reiseführern, die dies als Grundlage für gutes Reisen beschreiben – eine Sehenswürdigkeit ist somit eine Sache, die aus einem touristischen Interesse heraus besucht wird. Woraus dieses touristische Interesse besteht, ist dabei fluide. Als konsensuale Annahmen zur Beschreibung einer gelungenen und angenehmen Reise gelten Entspannung, Freude, Lust und Neugier – und hier ließen sich weitere Motive ergänzen. Das Betrachten und Erleben von Sehenswürdigkeiten führt so zu einem guten Leben (zu einer guten Reise). Beispiel Istanbul – Hagia Sophia (Türkei): Ein weiteres Beispiel ist der Vergleich der Darstellungen von Istanbul in verschiedenen Reiseführern und hier speziell der Sehenswürdigkeit der Hagia Sophia. Im BAEDEKER Türkei wird die Stadt Istanbul, ausgezeichnet mit zwei Sternen, auf 28 Seiten beschrieben und erläutert. Die Einführung startet mit: »›Die 158 159
Touristisch kann sowohl als übergeordnete Kategorie aller Darstellungen in Reiseführern gesehen werden, als auch als Fachdisziplin neben anderen Wertungskategorien. BAEDEKER, Marokko; 323-330.
3. Reiseführer und Bildung
Steine und der Boden Istanbuls sind aus Gold‹, sagt ein türkisches Sprichwort – und wirtschaftliche Gründe sind es wohl vor allem, warum ein Fünftel der türkischen Gesamtbevölkerung in Istanbul, der Weltstadt auf zwei Kontinenten, oder in deren Einzugsbereich lebt. Für viele Türken ist die Metropole am Bosporus die heimliche Hauptstadt des Landes.« Werden in diesen einführenden (und werbenden) Worten bereits Fachorientierungen deutlich im Sinne einer Bedeutungszumessung, die eine Nennung und Erläuterung legitimieren (gesellschaftlich, geografisch), so weist die nachfolgende Gliederung immanente fachwissenschaftliche Orientierungsmarker auf, die am Textrand in roter Schrift benannt sind, so z.B. Stadtbild und Geschichte. Die Erläuterungen zu Alt-Istanbul sind gegliedert in die Sehenswürdigkeiten Yeni Cami (besondere Architektur), Ägyptischer Basar (Historienbezug, touristisch – »wahrhaft orientalisches Ambiente«), Topkapi Sarayi (Kultur).160 Des Weiteren werden besonders wichtige Sehenswürdigkeiten – z.B. die Hagia Sophia (»Sie gehört zu den bedeutendsten Sehenswürdigkeiten der Welt161 «) und die Blaue Mosche (beide mit zwei Sternen ausgezeichnet) mit ausfaltbaren 3D-Darstellungen/ Informationsseiten ergänzt. Durchgängig kann an allen Textpassagen eine fachwissenschaftliche Orientierung (mit der Präsupposition des touristisch Interessanten) nachgewiesen werden. So heißt es zur Hagia Sophia »reifste Raumschöpfung byzantinischer Baukunst«; »berühmteste Denkmal der Stadt«, dann folgen Angaben zur Baugeschichte, zum Bau, zur Konstruktion und zur Innenausstattung in sachangemessener und verobjektivierter Form. Auf die Wirkung wird eingegangen: »Der von der herrlichen Mittelkuppel (32 m Durchmesser) beherrschte Hauptraum der einstigen Kirche macht im Licht, das durch die unzähligen Fester einfällt, einen überwältigenden Eindruck.«162 Die Beschreibung von Istanbul umfasst im MARCOPOLO (knapp) vier Seiten und ist gegliedert in Sehenswertes (hier wird an erster Stelle die Ayasofya – Hagia Sophia – genannt), Essen & Trinken, Wellness, Übernachtung, Auskunft und Ziele in der Umgebung. Darüber hinaus enthält der Reiseführer Informationskästen zu »City, Wohin zuerst?« und »Bücher & Filme«. Der Informationstext zur Hagia Sophia ist sehr kurz gehalten: »Die größte Basilika des byzantinischen Reichs wurde 537 n. Chr. eingeweiht. Die Kuppel ist 18
160 Unterbrochen werden diese Erläuterungen durch Bilder/Illustrationen, einen Stadtplan, besondere Kenntlichmachung der Highlights in einem eigenen Textfeld, organisatorische Hinweise (Einkaufen, Essen, Nachtleben, Übernachten usw.) und sogenannte Themenseiten, hier z.B. im Kontext der Beschreibung des Topkapi Sarayi mit drei Seiten zu »Intrigen im Harem«. 161 BAEDEKER Türkei; 414. 162 Ebd.; 412.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Stockwerke hoch und hat einen Durchmesser von 30 m. Die Besichtigung kann im Erdgeschoss beginnen und auf den Galerien enden, von wo man noch einmal einen grandiosen Blick auf den Innenraum hat.«163 Hier greift lediglich die Bedeutungszumessung: Größe und Architektur. Wie deutlich wird, sind dies beliebige Setzungen, sie sind zwar fachlich richtig, ihre Nennung bzw. Unterlassung/Auslassung weiterer Informationen zeigt die Bedeutungszumessung des Autors, (d.h. die dargelegten Informationen sind sachangemessen in dem Sinne, dass sie nicht falsch sind) – alles Weitere muss jedoch nach dem jeweiligen Anspruch und Ziel auf Angemessenheit überprüft werden; dies muss der Rezipient leisten. Wird hier eine Sehanleitung vorgestellt, die unterstellt, dass es Kriterien der Bewertung gibt, so muss die Bewertung dieser Anleitung durch den Leser/Reisenden erfolgen. Wie an anderer Stelle bereits ausgeführt wurde, hängt die Qualität und Differenziertheit der Bewertung, Nutzung und auch Abgrenzung von einer Engführung des Blicks von der Reise, Reiseform, vom Individuum und von äußeren Faktoren ab. Im Reiseführer Türkei des MICHAEL MÜLLER Verlages wird Istanbul auf 73 Seiten (104-177) beschrieben. Eingeleitet wird mit den Worten »Istanbul liebt man oder Istanbul hasst man, dazwischen gibt es wenig«164 . Nach einer allgemeinen Einführung (Istanbul als eine der prächtigsten Städte Europas, Stadt auf zwei Kontinenten, Schmelztiegel an Innovationen, Träume von ausländischen Reisenden und Türken, Widersprüche, Istanbul hat viele Gesichter) werden in einem gesondert platziertem Informationskasten die Highlights kurz vorgestellt, an zweiter Stelle wird hier die Hagia Sophia genannt. Darauf folgt fachwissenschaftlich orientiert die Geschichte der Stadt und Orientierungswissen (für Individualreisende) zu Basis-Informationen (Verbindungen: Flughäfen, Bus, Zug), Stadtverkehr und Parken, Adressen, Baden und Fußball, Kultur, Nachtleben, Essen und Trinken, Übernachten und Camping. Unterbrochen werden die Erläuterungen durch Themenseiten, wie z.B. »Kalif, Kadi und Khedive – Titel, Gruppen und Institutionen des Osmanischen Reichs«, »Istanbul – keine Angst vor dem großen Beben«. Weiter beinhaltet das Istanbul-Kapitel einen Stadtplan und einen Plan des öffentlichen Verkehrsnetzes. An dieser Gliederung und Systematik wird zum einen die Adressatenorientierung deutlich, die immanent mit der Bedeutungszumessung des Autors in wechselseitiger Beziehung steht. Zum anderen wird auch in der gewählten Sprache der subjektive Anspruch des Autors erkennbar, dies zeigt sich u.a. in der Beschreibung der Sehenswürdigkeit der Hagia Sophia. In der Chronologie folgen nach dem allgemeinen Teil zur Stadt Istanbul die Erläuterungen zu Sehenswertem, jeweils ergänzt durch praktische Informationen. Gestartet wird mit Sultanahmet, hier heißt 163 MARCOPOLO, Türkei; 42. 164 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 104.
3. Reiseführer und Bildung
es »2700 Jahre Geschichte treffen auf Millionen Besucher. Türken begegnet man hier vornehmlich als Kellner, Taxisfahrer, Portiers und Schlepper.«165 Die Einführung in die Hagia Sophia startet mit »Erst Kirche, dann Moschee, heute Museum – aber zu allen Zeiten beeindruckend.«166 Das Besondere an der Darstellung ist, dass nach bzw. zwischen konsensual sachbuchorientierten Erklärungen zu Historie und Baustil, Innenausstattung und Erläuterungen in einem Rundgang auch gesellschaftlich aktuelle Bezüge hergestellt werden. Nach der Information, dass Atatürk die Hagia Sophia in ein Museum umwandelte, um zu verhindern, dass hier ein Zentrum reaktionärer islamischer Kreise entstehe, formulieren Bussmann und Tröger: »Doch nicht nur Atatürk, sondern Erdogan prägt die Gegenwart. So würde es nicht wundern, wenn den Forderungen der Nationalreligiösen nachgegeben würde: die Rückwandlung der Hagia Sophie in eine Moschee.«167 Fünf Jahre später hat diese Spekulation die Realität erreicht: »Nach 85 Jahren als Museum wird die Hagia Sophia in Istanbul wieder eine Moschee. Präsident Recep Tayyip Erdogan ordnete an, das Gebäude aus dem 6. Jahrhundert in ein muslimisches Gotteshaus umzuwandeln. Kurz zuvor hatte das Oberste Verwaltungsgericht in der Türkei den Weg dafür frei gemacht. Es annullierte eine Entscheidung des türkischen Ministerrats aus dem Jahr 1934, mit der das Gebäude damals zu einem Museum geworden war.«168 Ergänzend zu den drei Formaten zur Türkei möchte ich einen weiteren Reiseführer anführen: BAEDEKER Smart, Istanbul. Perfekte Tage in der BosporusMetropole. 1. Aufl. 2016.169 Auch in dieser Erläuterung zeigen sich aktuelle gesellschaftliche Bezüge, so heißt es: »Welche symbolische Strahlkraft das UNESCO-Welterbe noch heute hat, zeigt sich in den Bestrebungen islamischkonservativer Kreise, das Gotteshaus wieder seiner Funktion als Moschee zuzuführen.« – dies jedoch in sprachlich objektivierender Form. Unter BAEDEKER Tipp zur Hagia Sophia ist erwähnenswert, dass eine konkrete Empfehlung ausgesprochen wird: »Die vielen Details und Feinheiten der Mosaikenportraits170 in der Apsis und unterhalb der Kuppel sind am besten mit einem Fernglas zu erkennen.«171 Dieser als Anleitung und Unterweisung zu verstehende Tipp kann im Spannungsfeld zwischen Fürsorge und starker Lenkung verortet werden. Lassen sich für diese beiden gewählten Beispiele (Istanbul und speziell die Hagia Sophia) noch konsensuale Bewertungskriterien und Qualifizierungen als 165 166 167 168 169
Ebd.; 127. Ebd.; 128. Ebd.; 129. http://www.tagesschau.de[11.07.2020] Merkel, Florian, BAEDEKER Smart. Istanbul. MAIRDUMONT Ostfildern 2016. 204 Seiten; 14,99 € 170 Im Original: Details und Feinheiten der Mosaikenportraits. 171 Merkel, Florian, BAEDEKER Smart. Istanbul. MAIRDUMONT Ostfildern 2016; 53.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
»wichtig, sehenswert, in hohem Maße bedeutsam« nach unterschiedlichen fachwissenschaftlichen Kriterien benennen in Kenntnis der »Sakralisierung« von Sehenswürdigkeiten und liegt für die Nennung und Bezeichnung von Sehenswürdigkeiten überwiegend eine Normierung vor, so stellt sich dies für die sogenannten Tipps anders dar. Variierende Bedeutungsbeimessung: Die variierende Bedeutungsbeimessung kann an nur wenigen Beispielen schnell verdeutlicht werden: So werden im STEFANLOOSE Marokko unter Zentrale Atlantikküste vier Tipps unter Essaouira genannt u.a.: »Sidi Kaouki, Das kleine Surferparadies südlich von Essaouria lebt nicht nur von den Wassersportlern, sondern dank seines Ortsheiligen auch von den Pilgern, die hierherreisen, um den Segen des Sidi Kaouki zu empfangen«172 , was danach auf etwas mehr als einer Seite erläutert wird. Dieser Ort wird in den beiden anderen Formaten zu Marokko gar nicht erwähnt. Besonders bei den sogenannten Insider-Tipps werden Vorschläge unterbreitet, die möglichst einem Alleinstellungsmerkmal genügen, dadurch entbehren sie auch allgemeiner (fachwissenschaftlicher und/oder touristischer) Bewertungskriterien und unterliegen vielfach der Beliebigkeit, dies z.B. auch explizit gekennzeichnet durch den Autor als »Meine Tipps«173 . Ein weiteres Beispiel für einen Insider-Tipp ist dem MARCOPOLO Marokko entnommen: »Shoppen beim Tee-Trinken. Das kleine Geschäft Au Grain des Sésame174 (im Original kursiv hervorgehoben) in Rabat ist Teestube, Galerie und Concept-Store in einem. Es macht Spaß, hier länger zu verweilen.«175 Diese Information steht an prominenter Stelle in der Rubrik »Die besten MARCOPOLO Insider -Tipps« auf der siebten Seite und wird weiter hinten ausgeführt und mit dem Bewertungslabel »Grün & fair: für ökologische oder faire Aspekte« ausgezeichnet. Fazit Besonders an diesen Textteilen wird deutlich, dass Reiseführer nicht (allein) dem Wunsch nach Wahrheit verpflichtet sind, sondern das authentische Erleben wichtig ist. Unterhaltung geschieht durch darstellerische Mittel, seien dies narrative und/oder auch deskriptive Elemente. Zusammenfassend kann festgestellt werden, dass in allen analysierten Reiseführerformaten eine fachwissenschaftliche Orientierung, allerdings in unter-
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STEFAN LOOSE, Marokko; 227. Vgl. DUMONT, Iran. Zu den Kapiteln »Teheran und Kaspi-Küste«, »Der Nordwesten«, »Der Süden, Isfahan und zentrales Hochland« und »Der Nordosten« gibt es immer zu Kapitelbeginn die Rubrik »Meine Tipps«. Im Original: Au Grain des Sésame. MARCOPOLO, Marokko; 7.
3. Reiseführer und Bildung
schiedlicher Qualität und Tiefe vorzufinden ist, die Nennung und Beschreibung der Sehenswürdigkeiten einer normierten Sicht folgen, in der Bedeutsamkeitsbeimessung durch die Autoren/Autorenteams ist ein Konsens erkennbar. Dieser Konsens ist den Bewertungskriterien des Reisens (als Tourismus) angelehnt, der sich in Teilen Kriterien der Bildung (fachwissenschaftliche Orientierung) bedient. Darüber hinaus lassen sich in allen Reiseführern beliebige Informationen finden, die keinen allgemein gültigen Kriterien und Auswahlmustern folgen. Die jeweiligen Autoren inszenieren eine Reisewelt, diese zeigt eine Reduktion der Alltagswelt, »übersichtlicher« und »besser« – so kommt es zu einer Überschaubarkeit und Ordnung, wobei diese tourist gaze vom Touristen identifiziert wird176 . Die enge Durchdringung der Adressatenorientierung, gepaart mit der Konstruktion von Imagination, dem Bedienen von Reisemotiven und allgemeinen gesellschaftlichen Ansprüchen und Reiseforderungen, wird deutlich. Die Frage, ob und, wenn ja, in welcher Form und Intensität, ein erkennendes und wertendes Verhältnis zu den Aussagen im Reiseführer gestaltet wird, kann nur sehr differenziert beantwortet werden.
3.3
Exkurs: Fotografie und Wahrnehmung
Die Relevanz des Fotografierens lässt sich durchgängig in allen Reiseführerformaten finden, so gibt es Tipps zu besonders fotogenen Sehenswürdigkeiten, zur Optimierung des Fotoergebnisses und Aufforderungen, das Fotografieren zu unterlassen. Alle Autoren und Autorenteams bewerten das Fotografieren als besondere Tätigkeit des Reisens (die als erwähnenswert gilt); hierzu einige Beispiele: • • •
•
176
»Der Medusenkopf von Didyma gehört zu den meistfotografierten der Welt.«177 Bodrum: »Das weiße Zuckerwürfelstädtchen mit seinem großen Yachthafen zählt zu den beliebtesten Fotomotiven.«178 »Die mehrheitlich von Kurden bewohnte Ortschaft lässt einen, wie sie sich da mit ihrem Flachdach-Lehmziegelhäusern in 1100m Seehöhe an einen bewaldeten Hang schmiegt, tatsächlich gleich zur Kamera greifen.«179 »Fotogene Farbenspiele im Getessaal der Nazir-ol-Molk-Moschee«.180
Dass diese Ordnung eine Illusion ist, wird in der Regel bewusst in Kauf genommen; zu Irritationen führt sie jedoch bei Fehlinformationen, d.h. wenn der Rezipient beim Reisen auf Fehler stößt, die den Reiseverlauf bzw. »Reiseerfolg« tangieren. 177 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 313. 178 Ebd.; 321. 179 MARCOPOLO, Iran; 41. 180 DUMONT, Iran; 278.
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schiedlicher Qualität und Tiefe vorzufinden ist, die Nennung und Beschreibung der Sehenswürdigkeiten einer normierten Sicht folgen, in der Bedeutsamkeitsbeimessung durch die Autoren/Autorenteams ist ein Konsens erkennbar. Dieser Konsens ist den Bewertungskriterien des Reisens (als Tourismus) angelehnt, der sich in Teilen Kriterien der Bildung (fachwissenschaftliche Orientierung) bedient. Darüber hinaus lassen sich in allen Reiseführern beliebige Informationen finden, die keinen allgemein gültigen Kriterien und Auswahlmustern folgen. Die jeweiligen Autoren inszenieren eine Reisewelt, diese zeigt eine Reduktion der Alltagswelt, »übersichtlicher« und »besser« – so kommt es zu einer Überschaubarkeit und Ordnung, wobei diese tourist gaze vom Touristen identifiziert wird176 . Die enge Durchdringung der Adressatenorientierung, gepaart mit der Konstruktion von Imagination, dem Bedienen von Reisemotiven und allgemeinen gesellschaftlichen Ansprüchen und Reiseforderungen, wird deutlich. Die Frage, ob und, wenn ja, in welcher Form und Intensität, ein erkennendes und wertendes Verhältnis zu den Aussagen im Reiseführer gestaltet wird, kann nur sehr differenziert beantwortet werden.
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Exkurs: Fotografie und Wahrnehmung
Die Relevanz des Fotografierens lässt sich durchgängig in allen Reiseführerformaten finden, so gibt es Tipps zu besonders fotogenen Sehenswürdigkeiten, zur Optimierung des Fotoergebnisses und Aufforderungen, das Fotografieren zu unterlassen. Alle Autoren und Autorenteams bewerten das Fotografieren als besondere Tätigkeit des Reisens (die als erwähnenswert gilt); hierzu einige Beispiele: • • •
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»Der Medusenkopf von Didyma gehört zu den meistfotografierten der Welt.«177 Bodrum: »Das weiße Zuckerwürfelstädtchen mit seinem großen Yachthafen zählt zu den beliebtesten Fotomotiven.«178 »Die mehrheitlich von Kurden bewohnte Ortschaft lässt einen, wie sie sich da mit ihrem Flachdach-Lehmziegelhäusern in 1100m Seehöhe an einen bewaldeten Hang schmiegt, tatsächlich gleich zur Kamera greifen.«179 »Fotogene Farbenspiele im Getessaal der Nazir-ol-Molk-Moschee«.180
Dass diese Ordnung eine Illusion ist, wird in der Regel bewusst in Kauf genommen; zu Irritationen führt sie jedoch bei Fehlinformationen, d.h. wenn der Rezipient beim Reisen auf Fehler stößt, die den Reiseverlauf bzw. »Reiseerfolg« tangieren. 177 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 313. 178 Ebd.; 321. 179 MARCOPOLO, Iran; 41. 180 DUMONT, Iran; 278.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
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»Fotogener geht›s kaum: die Festung von Rayen vor dem Schneegipfel des Kuhe-Hezar«.181 »Das schönste Licht zum Fotografieren hat man übrigens früh am Morgen«.182 »Viel jüngeren Datums ist das Wrack183 eines griechischen Frachtschiffs an der Westspitze und speziell bei Sonnenuntergang als Fotomotiv sehr populär.«184 »Insbesondere im nachmittäglichen Schräglicht eröffnet er eine ideale Fotoperspektive auf Takht-e-Soleyman.«185 »Die beste Fotozeit für das Darius-Relief ist am späten Vormittag.«186 Madrese Sadr: »Auf das Fotografieren sollte man hier verzichten.«187
Fotografieren heute: Das Fotografieren ist eine der beliebtesten Tätigkeiten während des Reisens188 , und mit der globalen Einführung der Digital- und auch der Handykamera hat ein inflationäres »Knipsen« und Darstellen in digitalen Foren und Netzwerken189 eingesetzt. Urry geht sogar so weit, dass er das Reisen als Bildermachen bezeichnet. Groebner formuliert, dass das »Bilder-machen-müssen«, sei es mit Spiegelreflexkamera oder mit dem Smartphone eine Verbindung zu den Vorfahren aus dem 19. Jahrhundert herstellt. »Tourismus als Dienstleistung und Infrastruktur muss seither das vermeintlich Uralte und Ursprüngliche deshalb so intensiv als Bildmotiv bewirtschaften, weil er selber dessen genaues Gegenteil darstellt.«190 Bereits in den 1980er Jahren unterschied Spitzing die Tätigkeit der Knipser, Amateurfotografen, Semi-Profis und Berufsfotografen191 , wobei aus psychischer Motivation eine Trennung in zwei Kategorien – den Gelegenheitsknipsern (Ästhetik des Dilettantismus) und den engagierten Fotografen – zutreffender ist. Die Mo181 182 183 184 185 186 187 188
Ebd.; 447. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 600. Im Original:Wrack. MARCOPOLO, Iran; 91 DUMONT, Iran; 218. TRESCHER, Iran; 415. Ebd.; 338. In einem kleinen Exkurs möchte auf die Möglichkeiten und Grenzen des Fotografierens auf Reisen und der Nutzung der Fotos aus bildungstheoretischer Sicht eingehen. Mir ist bewusst wie komplex dieses Inhaltsfeld ist, jedoch würde es den Rahmen dieser Arbeit sprengen, näher auf die Theoriegeschichte der Fotografie Bezug zu nehmen. 189 So z.B. POIDH als Akronym für Pics or it did`nt happen verzeichnet unter Jugendlichen und jungen Erwachsenen einen neuen Kommunikationstrend. Auch wird von einer »Generation Snapchat« gesprochen, die mit Veröffentlichungen inflationär umgehe und diese zur Selbstinszenierung nutze. 190 Groebner, FERIENMÜDE; 85. 191 Vgl. Spitzing, Günter, Foto-psychologie. Die subjektive Seite des Objektivs. Weinheim, Basel 1985; 95f.
3. Reiseführer und Bildung
tivation und das Ziel des Fotografierens variieren so zwischen dem wahl- und ziellosen, d.h. beliebigen Knipsen und dem ausgewählten, geplanten und reflektierten Aufsuchen und Positionieren von Objekten vor der Kamera. Das wahl- und ziellose Knipsen erfährt hierbei eine inflationäre Bedeutungszunahme bei gleichzeitiger Entwertung der Bilder. Im gleichen Maße differenzieren sich auch die Veröffentlichungsoptionen und die Ziele, die mit der Fotografie verbunden sind.192 Gebrauchsweisen: Bourdieu unterschied in den 1980er Jahren verschiedene Gebrauchsweisen der Fotografie, so z.B. als Schutz gegen die Zeit, zur Kommunikation mit anderen, zum Ausdruck von Empfindungen, für gesellschaftliches Prestige oder auch zur Flucht aus dem Alltag193 . Durch die sich in den letzten Jahrzehnten rasant erweiternden Möglichkeiten des Fotografierens vervielfältigen sich auch die Gebrauchsmodalitäten. Über eine digitale Infrastruktur ist das Teilen von Fotos zu einer »Partizipation einfordernden Sozialität«194 geworden. Das Fotografieren im privaten Raum, verstanden als nichtprofessionelles Fotografieren bei besonderen Anlässen, spezifischen Situationen oder auch begleitendem Reiseerleben, galt lange Zeit als Veröffentlichungswert in einem begrenzten (privaten) Raum; dies änderte sich radikal durch die Praktiken des Fotosharing in anonymen Öffentlichkeitsforen. Das Selfie stellt hierbei ein besonderes Phänomen der vernetzten Fotografie dar.195 Soziale Medien avancieren zu globalen Fotoalben, zunächst Flickr, dann aber zunehmend Instagram und EyeEm. Damit verbunden ist eine Verschiebung oder auch Erweiterung der Ziele des Fotografierens: Es geht verstärkt um eine Ästhetisierung des eigenen Alltags, die Selbstoffenbarung196 und die Kundgabe der Zugehörigkeit zu einem bestimmten Lifestyle.197 Gerling, Hoschbach und Löffler sprechen von »konnektiven Praktiken«, das Produzieren und Konsumieren von Bildern hat eine neue Dimension erreicht. Hierdurch setzt sich u.a. eine »Ästhetik des Dilettantismus« durch. Erinnerungen werden
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An dieser Stelle möchte ich auf die mögliche Kontroverse um die Objektivitätsfrage der Fotografie u.a. und prominent gestellt von Bourdieu, insofern eingehen, als dass ich davon ausgehe, dass die Fotografie kein neutrales Abbild darstellt, welches der Objektivität und Wahrhaftigkeit verantwortet ist. Das heute selbstverständliche Paradigma der Visual Studies stellt den Objektivismus deutlich infrage. 193 Vgl. Bourdieu, Pierre, Kult der Einheit und kultivierte Unterschiede. In: Ders.u.a., Eine illegitime Kunst. Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Hamburg 2006; 25-84; 26f. 194 Gerling, Winfried; Hoschbach, Susanne; Löffler, Petra, Bilder verteilen. Fotografische Praktiken in der digitalen Kultur; Bielefeld 2018; 10. 195 Vgl. ebd.; 21. 196 Vgl. Meier, Stefan, Die Simulation von Fotografie. Konzeptionelle Überlegungen zum Zusammenhang von Materialität und Bildlichkeit. Visuelle Artefakte zwischen Aisthesis und Semiosis. Berlin 2012; 126-142; 127. 197 Vgl. Gerling; Hoschbach; Löffler, Bilder verteilen; 50.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
geteilt in einer existenzversichernden Geste. »Zuvor private Praktiken des Erinnerns und Sammelns entwickeln sich dabei mehr und mehr zu kollektiven Verhaltensweisen, in die kommunikative Austauschprozesse und kollaborative Aushandlungsprozesse intervenieren.«198 Nur kurz sei an dieser Stelle auf die Bildmigration Bezug genommen, die auch bereits als virales Potenzial wahrgenommen wird. Vielfach verbreiten sich Bilder epidemisch durch Filesharing-Communities. Demgegenüber muss aber auch dem Umstand Rechnung getragen werden, dass heute Fotos weniger gemacht werden, um sie aufzubewahren, wie das Beispiel Snapchat deutlich macht. Sondern es kann festgehalten werden, dass digitale Bilder sehr beweglich sind, ihre Wirkweise ist relational und ihre Bedeutung ist vorläufig und situativ.199 Wie verhält es sich nun mit dem Fotografieren während einer Reise? Auch hierzu gilt, dass sich diese Praktiken nur temporär stabilisieren; grundsätzlich muss von einer »diskontinuierlichen Kontinuität fotografischer Praktiken«200 ausgegangen werden. Es bleibt jedoch weiterhin unbeantwortet, wie ein Fotomotiv entsteht, bzw. was ein Objekt oder Subjekt als fotografierbar klassifiziert. Reiseführer und Fotografie: Mit der Touristifizierung von Räumen sind Normierungen, Standardisierungen und »Sehanleitungen« verbunden. In verschiedenen Rubriken wird das Fotografieren thematisiert: 1. als reisespezifische Tätigkeit wird sie wahrgenommen und auf Fotomotive wird an prominenter Stelle hingewiesen, so heißt es z.B. im BAEDEKER Türkei unter Top-Reisezielen 27, Ölüdeniz, »Die wunderschöne Lagune an der Südküste gehört zu den beliebtesten Fotomotiven der Türkei.«201 Eine weitere Verbindung findet sich in den praktischen Unterweisungen oder auch kulturellen Einführungen; 2. im DUMONT Reisehandbuch Iran steht in einem eigenen Kapitel in der Rubrik »Reiseinfos von A-Z«: »Fotografieren: Iraner lieben es, vor Kameras zu posieren oder gemeinsam mit Ausländern Selfies zu schießen. Ältere Personen auf dem Land, vor allem Frauen, sind hingegen tendenziell fotoscheu.«202 An anderer Stelle steht zu »Masuleh: In dem fotogenen Bergdorf« (S. 112). 3. Im BAEDEKER Marokko wird unter »Praktische Hinweise« darauf hingewiesen, dass der Islam bilderfeindlich ist; »viele Muslime empfinden es noch heute als entwürdigend, fotografiert zu werden. Natürlich haben sich Bräuche und
198 199 200 201 202
Ebd.; 213. Vgl. ebd.; 219. Ebd.; 262. BAEDEKER, Türkei; 5. MARCO POLO, Iran; 95.
3. Reiseführer und Bildung
Ansichten durch den Tourismus relativiert, […]. Dennoch ist großes Feingefühl203 nötig; man sollte sich bewusst sein, dass das Fotografieren204 in Marokko einen größeren Eingriff in die Intimsphäre darstellt als in Mitteleuropa.«205 Ein praktischer Hinweis erfolgt unter: »Fotografieren auf der Jemaa el Fna geht meist nicht ohne Bezahlung.«206 In Kenntnis der Regeln und Gebräuche bei der Fotografie von Personen des Gastlandes betont Mandel jedoch, dass die Urlaubsreise in Distanz zum Alltag zu ästhetischer Wahrnehmung, verstanden als bewusste, sinnliche Wahrnehmung, einlädt. So werden Dinge, Landschaften, Architektur u.a. als besonders und zwischen den Kategorien Schön und Hässlich bewusst wahrgenommen.207 Dabei ist es nicht möglich, wertfrei zu fotografieren. »Jedes Foto hat eine ›lebensweltliche Spur‹, irgendjemand hat ein Foto irgendwann vor dem Hintergrund irgendeiner Entscheidung mit irgendeiner Absicht angefertigt.«208 Guschker betont, dass am Beginn der fotografischen Handlungskette immer etwas Besonderes steht; dies kann unterschieden werden in Seltenes, Vergängliches, Abweichung von der Norm, Statuszeugnis oder auch Exklusives.209 Weitere Beispiele, wie in Reiseführern hierauf hingewiesen wird, sind z.B.: Cap Spartel »Alle zieht es in die Grotte, die zum Meer hinaus geöffnet ist. Das Besondere daran: Diese Öffnung hat die Umrisse von Afrika und sorgt für Tausende von Schnappschüssen jeden Tag.«210 »Sie werden rasch erkennen, dass die zwei (gemeint sind Adai und Afella Adai) in sämtlichen Werbeprospekten Marokkos abgebildet sind. Schießen Sie also ein Foto und folgen Sie dann dem Fußweg«211 ; hier ist auch ein Leuchtturm […], der aber ein schönes Fotomotiv abgibt.«212 ; »Viel fo203 Im Original: großes Feingefühl. 204 Im Original: Fotografieren. 205 BAEDEKER, Marokko; 472. Die Begründung der Bilderfeindlichkeit wird religiös verankert im sunnitischen Islam – wie zuvor gezeigt, scheint dies in Teilen des Iran, der schiitisch ausgerichtet ist, zunächst keine Rolle zu spielen. Wie an anderer Stelle noch detaillierter diskutiert wird, greifen religiöse Vorschriften eines religiös geprägten Landes in den (kulturellen) Alltag ein. Dies scheint dem (religionsunkundigen) Leser jedoch im Vergleich nicht zwingend logisch (Marokko und Iran sind Länder mit muslimischer (Staats-)Religion). 206 BAEDEKER, Marokko; 284. 207 Vgl. Mandel, Tourismus und kulturelle Bildung; 32. 208 Müller, Silke, Foto-Safari. Visuelle Artefakte einer Urlaubsreise mit Erklärungskraft? In: Ziehe, Irene; Hägele, Ulrich (Hg.) Eine Fotografie. Über die transdisziplinären Möglichkeiten der Bildforschung. Münster, New York 2017; 181-196; 182. 209 Vgl. Guschker, Stefan, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit. Eine soziologische Studie über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens. Frankfurt a.M. 2002; 144f. 210 DUMONT, Marokko; 41. 211 Ebd.; 79. 212 STEFAN LOOSE, Marokko; 373.
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tografiert: der Pavillon beim Wasserbassin des Jardin Ménara«213 . Auch finden sich negativ konnotierte Hinweise zur Fotografie: »Das Viertel zieht Massen von Touristen an, die von den benachbarten Terrassen der großen Ledergeschäfte hinab zur Arbeitsstätte von zig Handwerkern schauen und diese fleißig bei ihrer Arbeit fotografieren.«214 Immer handelt es sich bei der Fotopraxis um eine sozio-kulturelle Praxis. Besonders bei dem Foto einer Sehenswürdigkeit geht es dabei nicht um die objektive Komponente ihrer raumzeitlichen Seltenheit, sondern um eine soziale Bewertung des Motivs.215 Generell handelt es sich bei einer Fotografie immer um ein Bildmedium, und nicht um einen Abbildungsmechanismus.216 »So sehr sich ein Fotograph auch bemüht, er wird Gesehenes nicht authentisch im Bild festhalten können, weil er an die Kamerabedingungen gebunden ist und allenfalls ein Bild mit den partiell verzerrenden Eigenschaften des Mediums herstellen kann«217 . Und nicht nur die Kamerabedingungen grenzen dieses Vorgehen ein; besonders der Schritt von der analogen zur digitalen Fotografie verändert das Verständnis von einer hohen Ikonizität zu einer Wahrnehmungsähnlichkeit mit der Welt.218 Konnte bereits die analoge Fotografie kein Analogon zur Welt darstellen, so beschreibt Meier die digitale Fotografie als eine Simulation von Fotografie.219 Als Materialisierungen des Gesehenen zeigen Fotos als Bestätigungen, dass das Individuum/der Reisende an diesem Ort war. Beim Fotografieren können drei Funktionen unterschieden werden: 1. der Aufzeichnungsprozess: In Zeit und Raum werden Momente aufgezeichnet; 2. der Verarbeitungs- und Wahrnehmungsprozess: Der »Mensch, der eine Kamera auf etwas richtet, das Bildmittel einsetzt und bearbeitet, aktiviert gleichzeitig seine Wahrnehmungsprozesse, die an dem Akt beteiligt sind«220 und 3. der Rezeptionsprozess: Hierbei werden Assoziationen, Erfahrungen und Emotionen eingebracht.221
Fotografieren von und vor Sehenswürdigkeiten: Besonders das Fotografieren von und vor Sehenswürdigkeiten und der Replizierung bedeutet eine faktische Realität (in völliger Subjektivität) für den Reisenden. Er erfährt selbst die Sehenswürdigkeit, 213 214 215 216 217 218 219 220 221
BAEDEKER, Marokko; 300. STEFAN LOOSE, Marokko; 320. Vgl. Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit; 146. Vgl. Schnelle-Schneyder, Sehen und Photographie – Ästhetik und Bild; 137. Ebd.; 143. Vgl. Meier, Die Simulation von Fotografie; 127f. Vgl. ebd.; 127. Schnelle-Schneyder, Sehen und Photographie – Ästhetik und Bild; 175. Vgl. ebd.; 175.
3. Reiseführer und Bildung
zugleich distanziert er sich durch die Linse von ihr. Es erfolgt eine mittelbare Begegnung, die zugleich eine Distanz schafft. Das Ergebnis kann aber in den Alltag transportiert werden. Oft ist mit dem Fotografieren der Wunsch verbunden, Erinnerungen zu schaffen, und dies in herausgehobenen Zeiten und an herausgehobenen Orten. Weiterführend kann durch Publizierung und Vorführung der Bilder eine Erlebnisverstärkung bewirkt und intendiert sein.222 Bildungstheoretisch kann hier von Erinnerung und Übung gesprochen werden. Der Tourist setzt durch das Foto einen Marker (MacCannell), indem er sich eine Sehenswürdigkeit persönlich aneignet. In der wiederholten Schau und Sichtung der eigenen Fotos werden Erlebnisse und Erfahrungen erinnert und reproduziert. In der postfotografischen Situation transformieren sich Bilder; Guschker spricht aus soziologischer Perspektive in diesem Zusammenhang von dem Foto als einfacher Form der symbolischen Interaktion.223 Aus standardisierten Bildern können so eigene Bilder entstehen, allerdings kann auch nur eine Duplizierung der vorhandenen Perspektiven erfolgen. Guschker analysiert für den Werdegang der Fotoproduktion, Fotorezeption und der Fotoverwendung, dass privaten Fotos ein Sinn attribuiert wird.224 Ihnen wird eine autobiografische Bedeutung beigemessen. Fotografie und Wahrnehmung: Ausgehend von der These, dass man nur das sieht, was man weiß, ist auch das Fotografieren kein beliebiger Akt. Hierbei gleichen sich die Mechanismen der Wahrnehmung und der Fotografie: Beide sind auf Identifikation und Selektion angelegt.225 »Jede Person hat einen charakteristischen Weg, die Dinge, die ihr bekannt sind, anzuschauen.«226 Noton und Stark prägten hierzu den Begriff des »Scan Path«, d.h. prinzipielle Merkmale des Objektes werden
222 Vgl. Spitzing, Foto-psychologie; 138. 223 Vgl. Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit; 233. Er führte eine soziologische Studie durch (veröffentlicht 2001) über die Rolle privater Fotos für die Sinnhaftigkeit des eigenen Lebens, durch qualitative Fallstudien konnte er eine valide Typologie der Gebrauchs- und Bedeutungsweisen von Fotos konstruieren. Ich gehe davon aus, dass sich die Gebrauchsund Bedeutungsweise in den vergangenen zwei Dekaden stark verändert hat, wie oben bereits angedeutet – die Grundmatrix bleibt jedoch bestehen. So zeigt sich auch beim inflationären Fotografieren und Darstellen in sozialen Netzwerken der Wunsch nach Selbstinszenierung und Bezeugung nach einer Bedeutungszumessung. Ob diese einem sachlichen und sittlichen Urteil gemäß erfolgt, ist fraglich, und dies lässt sich nur an konkreten Beispielen nachweisen. Besondere Bedeutung hat in diesem Kontext die Korrelation von Reisen/ Reisedokumentation und »Selfie-Manie« bzw. »Online-Sog«. 224 Vgl. Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit; 2. 225 Vgl. zu Problemen visueller Wahrnehmung: Schnelle-Schneyder, Sehen und Photographie – Ästhetik und Bild; 12. 226 Ebd.; 29.
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identifiziert und so im Gedächtnis repräsentiert.227 Bernhard Waldenfels unterscheidet im Kontext der Wahrnehmung und der Sichtbarkeit der Dinge im Bild zwischen einem Wiedererkennen/Neues zu sehen und einer Weise des neuartigen Sehens. »Im ersten Falle ist das Neue ein Was […], das sich durch den unbestimmten Artikel als Fall eines Allgemeinen zu erkennen gibt. Jede neue Tatsache verweist bereits auf eine Bekanntheits- oder Regelstruktur, die ein Wiedererkennen ermöglicht.«228 Die zweite Möglichkeit beschreibt das »Wie«, eine neuartige Struktur, Gestalt oder Regel wird wahrgenommen; dies nennt Waldenfels »sehendes Sehen«. »Was« und, wenn ja, »wie« gesehen wird, hängt ab vom Sehbegehren. »Referenz ist nicht zu denken ohne eine wenigstens minimale Präferenz.«229 In diesem Sinne ist das Sehen produktiv, d.h. es gibt eine Differenz von »Wie« und »Was«, die nicht durch eine Ordnung zu verringern ist.230 Kann das schnelle »Knipsen« im Vorbeigehen als ästhetische Aktion verstanden werden, so verdichtet sich die Qualität der Handlung bei einer bewussten Suche nach neuen, besonderen Blickwinkeln zu einer schöpferischen Leistung.231 An dieser Gegenüberstellung wird bereits sichtbar, inwieweit hier von einem lernenden Akt gesprochen werden kann. Werden herkömmliche Wahrnehmungsmuster unterbrochen, findet eine Irritation statt, sodass neue Perspektiven und Herangehensweisen geboten sind, so kann aus einem unreflektierten Knipsen ein Akt der Bildung werden, indem Gegenständen/Objekten begegnet wird, die zu einem Umlernen auffordern.232 Sinnliche Erfahrungen können zu einem Bruch mit den üblichen und gewohnten Erfahrungen führen. Durch Emotionalität und wechselnde Intensität werden kognitive Zugänge erweitert in eine ästhetische Aneignung und in höchster Anstrengung zu ästhetischer Reflexion. Dadurch werden nicht nur Wunschbilder und Imaginationen bestätigt, sondern die eigenen Weltsicht kann eine Relativierung erfahren, so dass die eigenen kulturellen Muster dezentralisiert werden. Dadurch geschähe – so Dewey – eine schöpferische, 227 Vgl. Schnelle-Schneyder, Sehen und Photographie – Ästhetik und Bild; 29. 228 Waldenfels, Bernhard, Ordnungen des Sichtbaren. In: Rimmele, Marius; Sachs-Hombach, Klaus; Stiegler, Bernd (Hg.), Bildwissenschaft und Visual Culture. Bielefeld 2014; 111-129; 114. 229 Ebd.; 115. 230 Vgl. ebd.; 117. 231 Vgl. Mandel, Tourismus und kulturelle Bildung; 33. 232 Von Zschoke wurde die Korrelation von Kunstrezeption und Aufmerksamkeit detailliert dargelegt unter der Überschrift »der irritierte Blick«. Dies lässt sich in Teilen auf die Wahrnehmung und Suche von zu fotografierenden Reisemotiven übertragen. »Visuelle Phänomene, die sich aufgrund von Mehrdeutigkeit, Instabilität, Inkohärenz oder Widersprüchen zu anderen Wissens- oder Wahrnehmungsinhalten einer solchen unmittelbaren Deutung und Einordung entziehen, stören den glatten Ablauf des Erlebens. Sie irritieren, werfen Fragen auf und werden häufig als Störungen, Illusionen, Rätsel, aber auch als unheimliche Phänomene oder »Wunder« erlebt.« Zschocke, Nina, Der irritierte Blick. Kunstrezeption und Aufmerksamkeit. München 2006; 15.
3. Reiseführer und Bildung
kreative Erfahrung. Für ihn ist die ästhetische Erfahrung an Wertschätzung, Wahrnehmung und Genuss gebunden.233 »Die Beziehung ist bei einem starken künstlerisch-ästhetischen Erlebnis so eng, dass sie Tun und Wahrnehmung gleichzeitig bestimmt. Eine solche elementare Verbundenheit der Beziehung kann nicht empfunden werden, wenn lediglich Hand und Auge beteiligt sind.«234 Hoffmann geht sogar so weit, dass er die Fotografie als eine Form der Meditation bezeichnet, die Ausdruck der Kreativität ist.235 Dem entgegengesetzt argumentiert Urry, dass mit dem touristischen Blick mitgebrachte Vorstellungsbilder analoge Bewegungen irritieren und behindern und Gefühle bedient werden, die »global vagabundierenden« Zeichen entsprechen und nicht unmittelbare, unvoreingenommene Wahrnehmungen möglich sind. Touristen haben Vorstellungen (Images) von Räumen und Orten und suchen deren Bestätigung. »Touristen besuchen diejenigen Orte, die ihnen vorher durch Bilder als besonders sehenswert, zeichenhaft, ästhetisch anziehend vermittelt worden seien. Die Bilder zeigten nicht einfach nur das Sehenswerte und Schöne, sondern wurden zu Verpflichtungen: Während die Orte dafür berühmt seien, dass sie berühmt sind, müssten die Fotos ihrer Besucher selbst ihre Gemeinschaft, ihr Vergnügen und ihre Intimität vor Ort erzeugen und vorzeigen.«236 Wöhler formuliert, dass »nicht die objektive Welt, sondern das, was das Ich berührt und was es empfindet, […] Räume und Orte (füllt und konturiert,) mit dem Ergebnis, dass sich mit dieser territorialen Besitznahme das Ich ebenso wie Räume und Orte bilden.«237 Er geht davon aus, dass Touristen ikonisch verengte Bilder238 konstruiert bzw. vorgefunden haben, durch die sowohl ein Selbstbezug, als auch ein Weltbezug hergestellt wird. Auf ikonisch universal verbreitete Bilder wird auch in Reiseführern hingewiesen: »Ait Ben Haddou ist mit Abstand das beliebteste Postkartenmotiv für den Süden Marokkos.«239 Inwieweit aber durch das Fotografieren ein Selbst- und Weltbezug möglich ist, und nicht nur Images abgebildet werden, liegt in der »doppelten Erschlossenheit«. Der Mensch erschließt sich seine kulturelle Umwelt und bleibt dennoch in seiner eigenen Wirklichkeit. Dabei kann ein bereits etabliertes Weltund Selbstverhältnis in Frage gestellt und verworfen werden, dadurch sind neue Antizipationen möglich – in diesem Sinne kann von Bildung gesprochen werden.
233 Vgl. Dewey, Kunst als Erfahrung; 60. 234 Ebd.; 63. 235 Vgl. Hoffmann, Torsten Andreas, Fotografie als Meditation. Eine Reise zur Quelle der Kreativität. Heidelberg 2013. 236 Groebner, FERIENMÜDE; 61. 237 Wöhler, Touristifizierung von Räumen; 101. 238 Vgl. ebd.; 57. 239 STEFAN LOOSE, Marokko; 195.
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Unbestritten bleibt, dass Fotografien eine große Überzeugungskraft zugesprochen wird und die Annahme virulent ist, dass eine Fotografie das Reale darstelle. »Die Fotografie scheint das Reale zu bestätigen, es zugänglich zu machen. Und so sieht es aus, als ob sie auch für Faustens letztwilliges Verlangen ›Augenblick verweile, du bist so schön‹ eine Lösungsmöglichkeit bereithielte.«240 Immanent bleibt der Wunsch die Welt anzuhalten.241 Als zweites bleibt bestehen, dass der Fotografie sowohl ein radikaler Zweifel an der Evidenz des Sichtbaren entspricht, als auch eine empathische Proklamierung derselben.242 Schnelle-Schneyder betont, dass die Kamera ein Bild festhält, und so »extrahiert sie einen Moment aus dem zeitlichen Fluss und komprimiert ihn gleichzeitig zu einem simultanen Bild.«243 Dies entspricht dem Wunsch, »die Welt anzuhalten«.244 »Vor allem die massenmedial erzeugten Raumbilder prägen die Wahrnehmung und das Verständnis nachhaltig und wirken einschneidend auf die touristische Praxis zurück: Touristen wollen das sehen, erleben und erfahren, was sie bereits vorher als reale (im Original kursiv hervorgehoben) Erscheinungen gesehen haben (z.B. [in Reiseführern, M.T.], in Broschüren, im Fernsehen oder Internet)«245 . MacCannell fordert in diesem Zusammenhang einen »turn of subjectivity« – obwohl, so seine Ausgangsthese, der Tourist in einer »tourist gaze« verhaftet ist, kann er durchaus authentische Erfahrungen machen, d.h. dass eine Bedeutungszumessung möglich und auch notwendig ist. In diesem Sinne bekommt die Fotografie eine darstellende Funktion. »Fotografie ist stets eine Bejahung der gegenständlichen Welt, Fotos können nicht negieren oder kritisieren, sondern nur ästhetisieren«.246 So bringt jedes Bild etwas von der Mentalität des Herstellers und/oder der Selektion zum Vorschein. Ballstaedt unterscheidet zwei Wirkungsformen: Mit Klimawirkungen ist der emotionale Grundton verbunden, der sich u.a. in der Farbe zeigt; unter Erlebniswirkungen versteht er dominierende Bildinhalte, die bestimmte Emotionen direkt ansprechen, kulturelle Schemabilder transportieren oder auch visuelle Stereotype bedienen.247 Stiegler formuliert, dass mit der Fotografie diskursive, bildliche
240 Spitzing, Foto-psychologie; 173f. 241 Vgl. Burkart, Günter; Meyer, Nikolaus (Hg.) »Die Welt anhalten«. Von Bildern, Fotografie und Wissenschaft. Weinheim, Basel 2016. 242 Vgl. Stiegler, Bernd, Theoriegeschichte der Photografie. München 2006; 10. 243 Schnelle-Schneyder, Sehen und Photographie – Ästhetik und Bild; 143. 244 Vgl. Burkart; Meyer, »Die Welt anhalten«. 245 Wöhler, Touristifizierung von Räumen; 59. 246 Bolz, Norbert, Das große stille Bild im Medienverbund. In: Ders.; Rüffer, Ulrich (Hg.), Das große stille Bild. München 1996; 16-45; 41. 247 Vgl. Ballstaedt, Steffen-Peter; Wozu dienen Bilder? Zur Funktion der Bebilderung in Reiseführern. In: Franzmann, Bodo (Hg.) Reisezeit-Lesezeit. (Stiftung Lesen) München, Wien 1999; 60-69; 67.
3. Reiseführer und Bildung
oder kulturelle Konstruktionen verbunden sind.248 So muss festgehalten werden, dass die Fotografie nicht kontingent ist. Belting schreibt: »Die Photografie gibt den Blick wieder, den wir auf die Welt werfen. […] Wir können gar nicht anders, als in ihr das Medium eines Blicks zu sehen, den sie im Bild festhält, wohlgemerkt eines anderen Blicks, der sich auf unseren eigenen Blick überträgt, wenn wir vor dem fertigen Bild stehen.«249 Funktion und Veröffentlichung: Abschließend möchte ich auf die Funktion von Fotos und deren Veröffentlichung eingehen, die statussichernd und -stabilisierend wirken; in ihrem Ausstellungs- und Verbreitungsmodus haben sie selbstoffenbarende Wirkung und bilden so eine soziokulturelle Konstante der Wirklichkeitspräsentation. In der Art, Fülle und Verschiedenartigkeit tragen sie zur Lebensstildokumentation bei. Müller nennt dies Foto-Safari, die analog zu Jagdtrophäen einen Prestigegewinn im Sinne einer Identitäts- und Selbstvergewisserung beinhaltet.250 Fotos sind als Mittel der Rückübersetzung des Besonderen in den Alltag zu verstehen und haben dabei zwei Wirklichkeiten: Zum einen die Wirklichkeit, in der das Foto gemacht wird, zum anderen die Wirklichkeit der Übersetzung in die Alltagswelt.251 Aber nicht nur im negativ konnotierten Modus des »Posens« bleibt das Fotografieren verhaftet, sondern auch der Mimesis in den Alltag und so in das weitere Erleben des Reisenden. Als Erinnerungsmarker verdichten sie die Gefühle, Erlebnisse und Erfahrungen im Kontext des Fotografierens – Bilderreihen können sich zu Geschichten verdichten, und in der Wiederholung des Erzählens konstruiert sich Wirklichkeit neu, wird reflektiert und gefiltert. »Fotos haben eine stabile Referenz zur Wirklichkeit, die sich in allen Verwendungsarten nicht ändert. Was sich dagegen ändert, sind die Bedeutungen, die ein Foto erlangen kann.«252 So kann aus bildungstheoretischer Perspektive eine Lernleistung erfolgen, d.h., dass Dingen und Erlebnissen eine Bedeutung beigemessen wird, die sowohl das sachliche, als auch das sittliche Verhältnis zu sich, zu anderen und der Umwelt verändern und bestimmen – hier wird dann Bildung real. Nach einer korrektiven Arbeit, die sich zeigt in Selektion und Manipulation (durch Veränderung) wird der Zeugnischarakter eines Fotos kommuniziert. Waren zur Veröffentlichung in der Vergangenheit Fotoalben oder Diaserien einige Jahrzehnte dominant, so beschleunigt und differenziert sich die Veröffentlichung in den letzten beiden Dekaden rasant. Dies
248 Vgl. Stiegler, Theoriegeschichte der Photografie; 418. 249 Belting, Hans, Bild-Anthropologie: Entwürfe für eine Bildwissenschaft. München 2. Aufl. 2002; 223f. 250 Vgl. Müller, Foto-Safari; 181. 251 Vgl. Guschker, Bilderwelt und Lebenswirklichkeit; 144. 252 Ebd.; 204.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
wirkt wiederum stark auf die Motive und den kommunikativen Prozess über Fotografien zurück. Die Wirkung der Fotografie lässt sich nicht aus der Fotografie selbst heraus erklären, sondern es bedarf der narrativen, kognitiven und emotionalen Arbeit in Durchdringung zueinander, um der Fotografie eine Sinndeutung beizumessen.253 Durch Erzählungen geschieht Bedeutungsakkumulation. »Durch den Erzählvorgang werden Erinnerungen sequenzialisiert, strukturiert und eine neue Kontinuität hergestellt.«254 Hierbei kann es zu einer Paradoxie der verändernden Wiederholung kommen. Durch die Erinnerung, die ein aktiver Akt ist, werden nicht nur fotogestützte Erinnerungen abgebildet oder wachgerufen, sondern es verbindet sich Vergangenes mit Gegenwärtigem und so modifiziert jede Erinnerung das Erlebte.
3.4
Kultur in Reiseführern – Kultur und (interkulturelle) Bildung
Ausgehend von der bereits dargelegten Inhaltsbeschreibung und Gliederung von Reiseführern lässt sich festhalten, dass sich alle hier vorgestellten Reiseführer dem Anspruch verpflichten, in die Kultur des Gastlandes einzuführen. Wie dabei Kultur gefasst und definiert wird, variiert jedoch sehr. Es geht um die Analysefragen: • •
Was verstehen Reiseführer unter Kultur? Wie führen Reiseführer in die Kultur ein?
3.4.1
Was verstehen Reiseführer unter Kultur?
Nicht eigens formuliert, aber als durchgängiges Muster erkennbar, werden Kulturen im Reiseland unterschieden in: • • • •
Reisekulturen (mit entsprechender touristischer Infrastruktur), Urlaubskulturen (die sich an bestimmten Tätigkeiten orientieren – z.B. Badestrand, Gebirgstouren, Wüstenerlebnisse etc.), authentische Kultur(en) der Bevölkerungsgruppen des Gastlandes (in noch vom (Massen-)Tourismus unentdeckten Destinationen) und Touristenkulturen.
Wurde im Kapitel »Definition Reiseführer« bereits dargelegt, dass Reiseführer Großtexte sind, die sich aus unterschiedlichen Subtexten mit unterschiedlich 253 Vgl. ebd.; 242. 254 Ebd.; 246.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
wirkt wiederum stark auf die Motive und den kommunikativen Prozess über Fotografien zurück. Die Wirkung der Fotografie lässt sich nicht aus der Fotografie selbst heraus erklären, sondern es bedarf der narrativen, kognitiven und emotionalen Arbeit in Durchdringung zueinander, um der Fotografie eine Sinndeutung beizumessen.253 Durch Erzählungen geschieht Bedeutungsakkumulation. »Durch den Erzählvorgang werden Erinnerungen sequenzialisiert, strukturiert und eine neue Kontinuität hergestellt.«254 Hierbei kann es zu einer Paradoxie der verändernden Wiederholung kommen. Durch die Erinnerung, die ein aktiver Akt ist, werden nicht nur fotogestützte Erinnerungen abgebildet oder wachgerufen, sondern es verbindet sich Vergangenes mit Gegenwärtigem und so modifiziert jede Erinnerung das Erlebte.
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Kultur in Reiseführern – Kultur und (interkulturelle) Bildung
Ausgehend von der bereits dargelegten Inhaltsbeschreibung und Gliederung von Reiseführern lässt sich festhalten, dass sich alle hier vorgestellten Reiseführer dem Anspruch verpflichten, in die Kultur des Gastlandes einzuführen. Wie dabei Kultur gefasst und definiert wird, variiert jedoch sehr. Es geht um die Analysefragen: • •
Was verstehen Reiseführer unter Kultur? Wie führen Reiseführer in die Kultur ein?
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Was verstehen Reiseführer unter Kultur?
Nicht eigens formuliert, aber als durchgängiges Muster erkennbar, werden Kulturen im Reiseland unterschieden in: • • • •
Reisekulturen (mit entsprechender touristischer Infrastruktur), Urlaubskulturen (die sich an bestimmten Tätigkeiten orientieren – z.B. Badestrand, Gebirgstouren, Wüstenerlebnisse etc.), authentische Kultur(en) der Bevölkerungsgruppen des Gastlandes (in noch vom (Massen-)Tourismus unentdeckten Destinationen) und Touristenkulturen.
Wurde im Kapitel »Definition Reiseführer« bereits dargelegt, dass Reiseführer Großtexte sind, die sich aus unterschiedlichen Subtexten mit unterschiedlich 253 Vgl. ebd.; 242. 254 Ebd.; 246.
3. Reiseführer und Bildung
dominanten Textfunktionen zusammensetzen, so ist dies für die Darlegung der Kulturvorstellung von besonderer Relevanz. Unterschieden wurden die Subtextsorten: Orientierungstexte, Ratgebertexte, Besichtigungstexte und Hintergrundtexte. Gilt für die Hintergrundtexte, dass sie ein vertiefendes Wissen zu unterschiedlichen Themen umfassen, so ist hier im engeren Sinne von Kultur zu sprechen, wie bei der Analyse eingehender gezeigt werden wird. Auch finden sich Beschreibungen kultureller Zustände und Sachverhalte in den Orientierungstexten, es werden sprachlich meist positiv besetzte stereotypisierte Attribute (etwa: ewige Strände, interessante Geschichte, unbeschreibliches Erlebnis, schönste Bauwerke, märchenhafte Paläste etc.) benutzt. Unterschiedliche Themen werden aneinandergereiht, die einen persuasiven Charakter haben und das Reiseziel als sehens- und besuchenswert klassifizieren. Wie schon zuvor ausgeführt, lassen sich diese Textstrukturen der Subtextsorten nicht trennscharf im Reiseführer finden, es lassen sich aber Kumulationen und zusammenführende Systematiken nachweisen.
3.4.1.1
Reisekulturen
Der Kulturbegriff, wie er bei der Darstellung der Reisekulturen impliziert wird, beschreibt im Reiseland vorzufindende Gegebenheiten, welche in Teilen konsensual normiert sind. Ergänzt, aufgezählt und erläutert werden dazu variable (beliebige) Inhalte; in diesem Sinne werden unterschiedliche Wissens- und Orientierungssysteme genannt und systematisiert. Das Spektrum reicht von Sprache, Schrift, Lebensformen, Religion, Brauchtum, Tradition, Geschichte, Politik, Architektur, Städtegestaltung, Ackerbau, Landwirtschaft, Kulinarik, Handwerk bis hin zu Literatur. Unterschieden werden: • • • •
materielle Kultur (Kunst und Handwerk, Monumente, Gedenkstätten etc.), immaterielle Kultur (Feste, Tänze, Rituale, Sprachen, Dialekte, indigenes Wissen etc.); ergänzt wird dies durch kulturell oder historisch bedeutsame Natur (Nationalparks, Berge und Flüsse) und alltägliche Aspekte der materiellen Kultur und des Habitus (außergewöhnliche Wohnstätten, traditionelle Arbeitsmuster, häusliche und familiäre Arrangements, bestimmte Speisen und Getränke, Stile der Kleidung, auffällige Gewohnheiten oder Lebensweisen etc.).255
255 Vgl. Schnepel, Burkhard, Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Eine programmatische Einführung. In: Ders.; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 21-43; 24f.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Wie nachfolgend dargelegt werden wird, handelt es sich bei den Darstellungen in Reiseführern nicht um allgemeine Kulturdarstellungen der Ursprungskultur, sondern um Wahrnehmungsdispositive, das heißt, es werden vorentscheidend Selektionen und somit Wertungen vorgenommen, die im Kontext einer Reise stehen. Durchgängig wird eine Präsupposition deutlich, indem im Reiseführer Kultur mit touristischer Perspektive gedacht wird. Dabei kann alles relevant sein, was »Objekt der Neugierde bzw. des kulturellen Interesses ist und einen gewissen Unterhaltungswert hat«256 . Ausgehend von diesem Zitat drängt sich die Frage auf, was unter »kulturellem Interesse« zu verstehen ist. Die Auswahl der Informationen wird dabei (meist) nicht explizit begründet, auch findet keine deutliche Darlegung der zugrundeliegenden Bewertung(en) statt. Insgesamt geht es bei der Analyse des Kulturbegriffes und der Darstellung von Kultur in Reiseführern um die weitere Diskussion der Ausgangsthese: Die bildungstheoretische Bedeutsamkeit von Reiseführern kann nur im Kontext von Reiseformen und Reiseimaginationen verstanden werden. Im MARCOPOLO Reiseführer Marokko werden unter »Typisch Marokko« unterschiedliche Bereiche genannt, die die Kultur des Landes repräsentieren; diese werden in unsystematischer Abfolge aufgezählt und reichen von Kulinarik über Wohnen bis hin zu Aktivitäten als Erlebnismöglichkeiten (»Street-Food-Tajines«, »Wohnen in Lehm«, »Zelebrierter Teegenuss«, »Kamele am Strand« usw.). Entdeckt wird das Land unter dem Slogan: »Reisen Sie nach Marokko, und Sie finden beides: Afrika und Europa. Und dieser einzigartige Mix wird gespickt mit einem Hauch Orient und arabischem Flair. In Marokko treffen Sie auf eine geografische, historische und kulturelle Vielfalt, die es anderswo nicht gibt.«257 Kultur wird also in diesem Reiseführer als sehr weiter Sammelbegriff (für ›bearbeitete‹ Landschaft, Infrastruktur, Gebäude, Architektur, Städtebau) genutzt, geradezu inflationär und unspezifisch. So heißt es: »Und wenn Sie kulturell interessiert sind, kommen sie im Norden ebenfalls auf Ihre Kosten: Tanger, Chefchaouen und Tetouan sind aufregende Orte. Jebha und Saidia entwickeln sich zu netten Ferienzentren, überall gibt es viel zu entdecken. Als Gast fühlt man sich bestens aufgehoben. Denn die Menschen des Nordens sind Bauern und auf Touristen so gut wie gar nicht eingestellt. Das macht sie liebenswert und offen, und Sie haben damit einen echten Kontakt zu Land!«258 Deutlich wird ein materialer Kulturbegriff (Geografie, Historie), der durch einen Erlebnismodus als »Erleben von Kultur« ergänzt wird, dabei wird auf ein Erlebnis und das Erfahrbare von »Flair« und ein »Hauch Orient« verwiesen. Auffallend ist jedoch beim materialen Begriff, dass keine systematische Trennung erkennbar 256 Fandrych; Thurmair, Textsorten im Deutschen; 53. 257 MARCOPOLO, Marokko; 13. 258 Ebd.; 32.
3. Reiseführer und Bildung
ist: So werden hier Geografie, Historie und Kultur nebeneinander aufgezählt. Damit wird suggeriert, dass die Kultur nicht nur Geografie und Historie umfasst. Spezifisch formuliert wird die Zusage, dass Touristen sich an diesen Orten wohl fühlen. Der Satz »Denn die Menschen des Nordens sind Bauern und auf Touristen so gut wie gar nicht eingestellt« – beinhaltet anschließend die Bewertung, dass sie »liebenswert und offen« seien und lässt ein doppeltes Tourismusbild erkennen, welches sich zugleich verkehrt. Zum einen zeigt es eine deutliche Engführung in der Beschreibung der Bevölkerung auf Bauern, des Weiteren werden Bauern – und explizit Bauern ohne Tourismuskontakt – als »offen« und »liebenswert« klassifiziert. Zu hinterfragen ist besonders die Bedeutung »liebenswert«. Durch diese deutliche Wertung wird die Deskriptionsebene verlassen, eine Erwartungshaltung wird vorbereitet und die Wahrnehmung enggeführt. Kultur, die auf eine variable Mehrzahl von Personen verweist, kommt hier nur bruchstückhaft und verzerrt zur Ausführung. Auch wenn damit eine Einladung zur Kontaktaufnahme verbunden wird, ist diese jedoch asymmetrisch angelegt.259 Noch eingehender zeigt sich in diesem Zitat, dass nicht von Kultur allgemein gesprochen wird, sondern von dem, was »kulturell Interessierten« auffällt. So wird eine Differenz zwischen der »objektiven« Landeskultur und dem, was »kulturell Interessierten« auffällt, formuliert. Attribuiert werden »aufregend«, »nett«, »viel zu entdecken«, »bestens aufgehoben«, »liebenswert« und »offen«. Somit wird Kultur positiv konnotiert als etwas Gutes und Schönes beschrieben. Schmutz, Elend, soziale Spannungen, auch wenn sie typisch für ein Land sein mögen, werden nicht genannt, d.h. dies ist nicht relevant für den »kulturell Interessierten«. So wird deutlich, dass nicht »alle Objektivaktionen« eines Landes, sondern nur die wertvollen und »besonderen« (»liebenswert«, »offen«, »aufregend«) thematisiert werden. Auf eine »Reisekultur« wird hingewiesen, die als besichtigungswert gilt, und die der Reisewillige aufsuchen will und/oder soll. Kultur wird als eine Ansammlung von Werten (Attribute, die eine Reise als wertvoll deklarieren) verstanden. Die Darstellung orientiert sich somit an der Auswahl und Darlegung von Werten, die ein Reiseland aufweist, welche dieses als Reiseland besonders auszeichnen. Die Frage ist, was sehen »Kulturinteressierte« als wertvoll an – dies gilt als Selektionsmuster. An dieser Verbindung wird deutlich, dass der Reiseführer genau dies dem Leser unterstellt: Dass er genau das sucht, was »aufregend«, »nett«, liebenswert« ist, er »viel entdecken« möchte und sich »bestens aufgehoben« fühlen möchte. Das Wohlgefühl wird dabei als dominantes Reisemotiv angenommen – auf dieses hin wird formuliert und suggeriert. Kultur wird auf jene Objektivationen reduziert, die Wohlgefühl schaffen – dies gilt als Wahrnehmungsdispositiv.
259 Ausführlicher gehe ich auf diese Phänomene unter »Begegnung« ein.
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Nun schließt sich eine detaillierte Betrachtung an, was Reisende »benötigen«, um sich wohl zu fühlen. Dabei ist leicht zu erkennen, dass es sich hierbei um Orientierungen an der Erlebnisgesellschaft und einem harmonistischen Modell handelt – auch zeigen sich alle in der RA und FUR häufig genannten Reisemotive. Mit einem Neologismus kann von einer »Gefälligkeitsgesellschaft« gesprochen werden – eine »heile Welt« wird stilisiert. Dabei wird die Optionalität (Wahlmöglichkeiten) »viel zu entdecken« betont. Der Kulturbegriff als Reisekultur zeigt sich somit stark affirmativ. Die Eigenheit dieses Begriffes wird deutlich, wenn man erinnert, was er nicht umfasst: Das Objektive, das Faktische, das Spröde, das Sperrige. Hierdurch zeichnet sich ein Bild als Kontrast zur Heimatkultur (mit Sehnsuchtsfaktor und »Paradies«-Image). Der Reiseführer führt also keineswegs in die Kultur ein, sondern in die »schöne Kultur«, d.h. die Kultur wird positiv selektiert (= zur Erreichung von Reisezielen und -imaginationen). Ausgehend von der einführenden Interpretation dieses Zitates zeigt sich als Grundstruktur eine begriffliche Ungenauigkeit bei allen ausgewählten und analysierten Reiseführerformaten. Kommt der Begriff »Kultur« zwar in vielen Kontexten vor und wird an vielen Stellen auf Kultur hingewiesen, so findet sich keine Definition, was alles mit Kultur verbunden wird. •
• •
• •
Im STEFAN LOOSE Marokko wird unter der Überschrift »Architektur, Kunst und Kultur«260 Kultur enggeführt auf und syonymisiert mit Musik und Literatur. In verschiedenen Formaten findet sich die Kapitelüberschrift »Kunst und Kultur«261 . Im BAEDEKER Marokko beginnt dieses Kapitel (»Kunst und Kultur«) mit einem kunstgeschichtlichen Überblick, greift das Thema islamisch-arabische Kunst auf, erklärt islamisch-arabische Bauten und endet bei einer Erläuterung von Musik und Tanz. Unterschiedliche Aspekte werden ohne Definition und Abgrenzung, was alles unter Kultur subsummiert wird, dargelegt. Im TRESCHER Iran zeigt sich unter der Überschrift »Kultur und Kunst« eine Gliederung in Architektur, Literatur, Film, Musik, Sport, Speisen und Getränke. Im Reiseführer DUMONT Reise-Handbuch Iran wird Kultur in Architektur, Geschichte, Staat und Politik, Religion und Bevölkerung unterschieden. Besonders der Geschichte wird ein Überblickskapitel mit den Gliederungen »Vorund Frühgeschichte«, »Das Alte Persien«, »Persien im Mittelalter« usw. gewidmet.262 Hervorgehoben wird an einer Stelle zu Beginn der Ausführungen zu
260 STEFAN LOOSE, Marokko; 116. 261 TRESCHER, Iran; 105-119 und BAEDEKER, Marokko; 70-85. 262 Vgl. DUMONT, Iran; 38-47.
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»Iran – ein Kernland der Menschheitsgeschichte«: »So eindrücklich viele Basare, Paläste und Moscheen, Gipfel, Canyons und Sanddünen auch sein mögen: Die eigentliche Attraktion des Landes sind die Menschen.«263 Deutlich wird eine Gegenüberstellung von Kultur in Objekte und Menschen (Bevölkerung). Dabei fällt auf, dass die Menschen ebenfalls objektiviert werden: Sie werden zu »Attraktionen«. Mit diesem Terminus verbunden wird eine Konsumhaltung des Wahrnehmens und Entdeckens. Sehenswerte Objekte werden herausgestellt: »Südlich der beiden zentralen Wüsten ballen sich die kulturellen Fünfsterne-Attraktionen: Uralte Handelszentren wie Kashan, Yazd und Kerman mit berühmten Basaren und prächtigen Baudenkmälern, dazwischen eine Vielzahl kleinerer Stadtjuwele, Oasen, Bergdörfer, Karawansereien und, in ihrer Fremdheit faszinierend, die heilige Stadt Qom.«264 Attraktionen als etwas, was außergewöhnlich ist und eine große Anziehungskraft besitzt, kommen zur Anschauung. Ihre Bedeutsamkeit wird hervorgehoben durch die Bezeichnung »Fünfsterne« – dahinter verbirgt sich wiederum eine Aufzählung von Besonderheiten: »uralt«, »berühmt«, »prächtig«, »Juwel«. Als eigene Bedeutungsbeimessung wird »fremd« hinzugenommen, etwas erlangt Attraktivität durch das Fremdsein – hier wird zugleich die zu erwartende Reaktion vorweggenommen, dass dort eine Faszination hervorgerufen wird. Dabei wird eindeutig die deskriptive Form der Kulturdarstellung zugunsten einer suggerierenden verlassen.
Eine Spanne von Sachdimension zu Sozialdimension ist offensichtlich zu analysieren: In einer Sachdimension werden objektivierbare Aspekte quantitativ von einfacher Nennung bis hin zu tiefergehender Erläuterung vorgestellt. Das inhaltliche Bildungsprogramm umfasst dabei unterschiedliche Bereiche und kann als unbestimmt bezeichnet werden. In der Systematik von Hintergrundtexten zeigt sich eine konstatierend-asserierende Funktion, die Ähnlichkeit zeigt zu Lehrbuchtexten und enzyklopädischen Texten. Erweitert und ergänzt wird diese Dimension um die Darstellung eines zusammenfassenden Gesamteindrucks einer Vielfalt touristischer Attraktionen. In Anlehnung an journalistische und populärwissenschaftliche Texte zeigt sich ein persuasiver Charakter, der mit positiven und euphorischen sprachlichen Bewertungen Merkmale und Attraktionen hervorhebt. Hierbei wird die Sachdimension von Hintergrundtexten hin zur Sozialdimension von Werbetexten (zu finden in den
263 Ebd.; 8. 264 Ebd.; 14.
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Textsorten Orientierungs-, Besichtigungs- und Ratgebertexte) verlassen. Bei beiden Formen soll Wissen bzw. Information bereitgestellt werden, jedoch mit unterschiedlichen Intentionen. Geht es beim Ersteren um ein Bereitstellen von Wissen im Sinne der materialen Bildung, so bezeichnet Letzteres eine Lenkung der Wahrnehmung/des Reisens als »Sehanleitung« zu touristischen Zielerreichungen, auch bezeichnet als Wahrnehmungsdispositive. Straub definiert Kultur folgendermaßen: »›Kultur‹ verweist stets auf eine variable Mehrzahl von Personen, die in ein Bedeutungsgewebe aus Wirklichkeitsdefinitionen, Welt- und Selbstauffassungen, Deutungs- und Orientierungsmustern sowie – vor allem und zuerst – in kollektive symbolische, insbesondere sprachliche Praktiken eingebunden sind. Eine Kultur kann abstrakt als Zeichen-, Wissensund Orientierungssystem aufgefasst werden, das die Praxis, mithin das Handeln (Denken, Fühlen, Wollen und Wünschen) aller daran teilhabenden Personen strukturiert und ordnet, ermöglicht und begrenzt. Kulturen sind symbolisch vermittelte Lebensformen, die den Wirklichkeits- und Möglichkeitssinn jener Personen prägen, welche geschichtliche, also die kollektive Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassende, konjunktive Erfahrungsräume und Erwartungshorizonte miteinander teilen, zumindest als ein gemeinsames Bezugssystem, auf das sie referieren, um verbindliche und verbindende Welt- und Selbstdeutungen sowie damit verwobene Lebens- und Handlungsorientierungen auszuhandeln.«265 . Wird diese Definition als Analyseinstrument herangezogen, sind folgende Kennzeichen zu finden: • •
Mehrzahl von Personen (dies wird festgemacht an der Bevölkerung einer Reisedestination oder auch vorzufindenden Subgruppen), die Unterteilung in Bezugssysteme (Zeichensystem, Wissens- und Orientierungssystem): Dies lässt sich vorfinden in Sprache, Schrift, Lebensformen, Religion, Brauchtum, Tradition, Geschichte, Politik; aber auch in Architektur, Städtegestaltung, Ackerbau, Landwirtschaft, Kulinarik, Handwerk, Kunst und Literatur.
Wie sich dies in den einzelnen Formaten differenzierter zeigt, wird im Folgenden dargelegt. Zur Analyse unterscheide ich zunächst die Reisegebiete Marokko, Iran und Türkei.
265 Straub, Jürgen, Kultur. In: Ders.; Weidemann, Arne; Weidemann, Doris (Hg.), Handbuch interkulturelle Kommunikation und Kompetenz. Stuttgart, Weimar 2007; 7-24; 15.
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3.4.1.1.1 Reisekulturen – Marokko Allen drei Reiseführern ist gemeinsam, dass sie in das Land einführen über Kategorien wie: • • •
Fakten, Menschen & News (MARCOPOLO; 20-25), Hintergrund (BAEDEKER; 15-93) und Land und Leute (STEFAN LOOSE Travel Handbuch; 86-121).
An verschiedenen Stellen wird deutlich, dass von einem statischen und sehr reduzierten Kulturbegriff ausgegangen wird: »Wohnen in Lehm. Früher ließ man die prächtigen Lehmburgen verfallen, denn unter modernem Leben verstanden die Marokkaner etwas anderes.« (MARCOPOLO; 9). Kultur wird hier mit Fortschritt kontrastiert, das Historische gilt als erwähnenswert, da sich darin ein kultureller Wert zeigt und eine kollektive Vergangenheit zur Sprache kommt. BAEDEKER Tipp: »Beim Bummel durch die Straßen kann man winzige, düstere Stuben finden, in denen Weber noch an altertümlichen Trittwebstühlen arbeiten.«266 Im STEFAN LOOSE heißt es mit einer Aufforderung zum Entdecken: »Da sind z.B. die vielen Frauen, die an den öffentlichen Brunnen267 der Stadt – meist ausgestattet mit bunten Fliesen und Wasserhähnen aus Messing – ihre Wäsche waschen.«268 An anderer Stelle formuliert die Autorin: »Wer gern marokkanisches Familienleben erleben möchte, sollte den Besuch der Kasbah auf einen Freitag oder das Wochenende legen.«269 In einer »rückwärtsgewandten Chronotopie« (Spode) zeigt sich das »touristische Paradies«, »wo das Alte noch bewahrt wird, wo die ›freie‹, ›gesunde‹, ›unverstellte‹ Natur physisch und/oder sozial noch intakt ist.«270 Wie am zweiten Zitat deutlich wird, werden dabei traditionelle Rollenbilder unkritisch bedient. »Und die Marokkaner halten alle religiösen Feiertage strikt ein.« (MARCOPOLO; 15). Durch eine Generalisierung eines Phänomens wirkt diese Aussage stereotypisierend und zeigt eine sehr reduzierte Sicht auf die marokkanische Bevölkerung, ein statisches Kennzeichen der Religiosität (als kulturellem Merkmal) wird universalisiert. Hierdurch wird auf ein gemeinsames Bezugssystem aufmerksam gemacht.
266 267 268 269 270
BAEDEKER, Marokko; 350. Im Original: öffentlichen Brunnen. STEFAN LOOSE, Marokko; 260. Ebd.; 385. Spode, Hasso, Homogenisierung und Differenz. Zur Ambivalenz touristischer ChronotopieKonstruktion. In: Schnepel, Burkhard; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 93-115.
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»Kaum eine schwangere Frau in Marokko, die sich nicht wünscht, an einem Donnerstag zu gebären.« (Bezug auf die Zahl Fünf – Magie in Marokko, M.T.) (MARCOPOLO; 22). Hier zeigt sich eine vereinfachte und stark reduzierte Sicht auf die heutige Bevölkerung. Zwar kann der Glaube an Magie als kulturelles Kennzeichen in der marokkanischen Gesellschaft wahrgenommen und klassifiziert werden, es ist aber fraglich, ob sich in solchen Aussagen eine verbindliche Welt- und Selbstdeutung finden lässt, ergo erfolgt hier eine Reduktion bis hin zur Falschaussage. Obwohl Kulturen durch ihre Prozesshaftigkeit und Veränderbarkeit gekennzeichnet sind – Kultur(en) sind immer nur Momentaufnahmen und dies auch nur in begrifflichen Abstraktionen (Prozess- und Bewegungsbegriff) – zeigt sich in Reiseführern ein überwiegend statisches Verständnis derselben. Im Vergleich zum Format MARCOPOLO geht der BAEDKER differenzierter – im Sinne einer Darlegung einer Vielzahl von Kategorien von Kultur – vor: Bereits im Umschlagtext heißt es unter BAEDEKER Wissen: •
»…zeigt, was man über Marokko wissen sollte: Wie hat sich das Dromedar dem Lebensraum Wüste angepasst? Wie machen sich die Menschen dort die Oasen zunutze, welche Ausprägungen besitzt der Islam und was ist eigentlich eine Kasbah?«
Spezifisches Wissen wird in collagenartiger Form – ausgehend von einer Frage – dargelegt. Damit wird ein Bild projiziert, welches das Fremde und Unbekannte kumulativ zur Erläuterung bringt. Die Aufzählung ist dabei nicht systematisch (Dromedar – Oase – Islam – Kasbah) angelegt, sondern eher wie eine beliebige, quizartige Fragestellung. Der BAEDEKER nimmt des Weiteren an prominenter Stelle unter TOPReiseziele (bevor die wichtigsten Sehenswürdigkeiten kurz genannt und erläutert werden) auch Bezug auf die Bevölkerung Marokkos: •
»Legendär sind zudem die orientalische Gastfreundschaft und Offenheit der Marokkaner.« (S. 2).
Reiseimmanente Erwartungen an die Gastgeber werden zunächst als Kennzeichen hervorgehoben und dann als spezifisch (Gastfreundschaft, Offenheit) simplifiziert. In einem eigenen Kapitel »Willkommen im Alltag« wird genannt: »Arabisch sprechen«, »Naturkosmetik selbst gemacht«, »Bei Einheimischen wohnen«, »Kochkurse« und »Art-Decó Erbe entdecken«. Motivierend heißt es: »Marokko einmal abseits der Touristenpfade erleben und ›ganz normale‹ Leute treffen – dazu einige Tipps
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von der BAEDEKER-Redaktion.«271 Als erstrebenswert wird die Abkehr von Touristenströmen hervorgehoben, zugleich wird in der Aufzählung auf Kontaktmöglichkeiten hingewiesen, dies jedoch in konsumierender Weise. Bei Einheimischen zu wohnen, wird ein Erlebniswert zugesprochen, der analog zu weiteren Erlebnisund Freizeitaktivitäten gestellt wird. Dieses als »Ethnotourismus« beschriebene Phänomen werde ich im weiteren Verlauf dieser Arbeit im Zusammenhang mit Touristenkultur erneut aufgreifen und diskutieren. Besonderheiten in den Reiseführerformaten Marokko - Bezüge (zur Kunst und zum Filmgenre): Es ist auffällig, dass alle drei Formate Komparationen herstellen zur Malerei, zu Künstlern, deren Kunst vom Land Marokko inspiriert, und zu Filmen, die in Marokko gedreht wurden. Vergleiche sollen beim Leser aufgerufen werden, die er mit der Reisedestination konnotativ verbindet. Dadurch werden Kulturgüter instrumentalisiert und trivialisiert. Zum einen werden Verbindungen zu bereits aus anderen Bezügen (Kino, Museen) Bekanntem intendiert, zum anderen wird der medialen Verbreitung und Internationalisierung eine Bedeutung zugesprochen, die diese als erwähnenswert in einem Reiseführer erscheinen lässt. Hierdurch wird eine koloniale Herangehensweise intendiert und vorbereitet, die ein bemächtigendes Wahrnehmen und Reisen anleitet. Im MARCOPOLO ist zu Beginn bei »Die wichtigsten MARCOPOLO Highlights!« unter 3. Mazagan zu lesen: »Die unterirdischen Wasserspeicher der Cité Portugaise dienten Orson Welles als Filmkulisse« (Umschlagseite 1) und auf S. 69 heißt es erläuternd hierzu: »[…] heute Weltkulturerbe und ältester Teil der lebendigen und schönen Stadt El-Jadida. Imposant ist die Zisterne mit dem gotischen Kreuzrippengewölbe.« (S. 69). Auch im BAEDEKER wird an prominenter Stelle (erste Seite des Umschlagtextes) unter »8. Filmkulissen« hierauf hingewiesen: »Marokko ist Kult – wenigstens im Film. Berühmte Regisseure wurden hier auf der Suche nach einer stimmungsvollen, exotischen Kulisse für Klassiker wie ›Lawrence von Arabien‹ fündig«. Eine deutliche Instrumentalisierung reduziert die Ursprungskultur auf ihre Nützlichkeit und Aura/Ausstrahlung für westliche Kulturen. Auf S. 344 ist unter BAEDEKER Wissen eine doppelseitige Ausführung zu »Spiel’s noch einmal, Sam«. Aber auch auf die Malerei wird eingegangen, so auf Matisses Bild »Porte de la Casbah« (S. 412)272 , der Künstler Eugène Delacroix (S. 398) kommt mehrfach vor,
271 BAEDEKER, Marokko; 42. 272 »Ein freundlicherer Aspekt der Geschichte des Bab el Assa ist [hier wird Bezug genommen auf die Prügelstrafe, die hier Übeltäter auf Fußsohlen und Rücken erleiden mussten], dass
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ebenso der Literat Paul Bowles (u.a. S. 398 und unter »berühmte Persönlichkeiten«, S. 88f.). Ein eigenes Kapitel, wieder unter der Rubrik BAEDEKER Wissen, gibt es zu »Künstler in Marokko« (S. 406f.) Sind diese Auflistungen und Bezugnahmen deskriptiv, so stellt sich hier die Frage, warum dies besonders erwähnenswert ist. Es wird dadurch die Kultur aufgewertet, ein eurozentrischer bis kolonialer Blick zeigt sich dahinter. Daneben wird auch bei Sehenswürdigkeiten eine Analogie zu Filmkulissen aufgebaut, so z.B. bei Volubilis: »Manchem mag die Kulisse bekannt vorkommen, war sie doch Schauplatz von Martin Scorseses Film ›Die letzte Versuchung Christi‹.« (S. 323). Auch wird auf Ouarzazate als Filmkulisse unterschiedlicher Filme hingewiesen. Hier pervertiert sich allerdings die Bedeutungszumessung. Volubilis, eine archäologische Stätte, welche die am besten erhaltenen Monumente aus der röm ischenAntike zeigt und 1997 als UNESCO-Weltkulturerbe anerkannt wurde, wird als Kulisse und somit Hintergrund deklassiert. Im STEFAN LOOSE Travel Handbuch ist ein eigenes Kapitel mit »Filme« überschrieben (S. 593). Ouarzazate findet Erwähnung mit der Nennung der Filme »Lawrence of Arabia«, »Der Himmel über der Wüste«, »Die Mumie« etc. (S. 424). Als Maler wird Matisse hervorgehoben (S. 360). Eine Doppelseite widmet sich »Casablanca in den 1940er Jahren: Wie viel Film ist echt?« (S. 270f.) und es wird verwiesen auf Orson Welles› Othello und Szenen aus Game of Thrones (S. 230). Herausgreifen möchte ich die Verknüpfung von Casablanca mit dem Film »Casablanca«. Casablanca als größte Stadt Marokkos mit einer langen Geschichte wird in Relation gesetzt zur Frage: Wie viel Film ist echt? Möchte der Autor (vielleicht) mit dieser Frage auf die Diskrepanz aufmerksam machen, dass der Film in Hollywood gedreht wurde, so zeigt diese Bezugnahme eine Diskreditierung einer Stadt auf verwertbares Filmmaterial. Bei der Auswahl und deren Bedeutungszumessung ist deutlich die Heteroperspektive zu erkennen. Nicht die für das Land kulturimmanenten Bezüge zum Kunst- und Filmgenre finden Erwähnung, sondern westlich orientierte oder international bedeutsame Inszenierungen. 3.4.1.1.2 Reisekulturen – Iran In allen drei Reiseführern zu Iran ist eine einführende Rubrik in die Kultur enthalten:
es Matisse zu seinem Gemälde ›Porte de la Casbah‹ inspirierte, auf dem sich von der Kasbah aus der Blick auf Tor und Medina öffnet.«
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• •
•
im MARCOPOLO unter dem Titel Auftakt (S. 12-17) und Fakten, Menschen & News (S. 20-25), im TRESCHER Verlag unter Land und Leute (S. 20 – 119) – unterschieden wird in »Geographie«, »Geschichte«, »Der iranische Staat«, »Religion und Gesellschaft« und »Kultur und Kunst«; im DUMONT Reisehandbuch unter Wissenswertes über Iran (S. 20 – 69) mit der Untergliederung »Steckbrief Iran«, »Natur und Umwelt«, »Wirtschaft, Staatskultur und aktuelle Politik«, »Geschichte im Überblick«, »Zeittafel«, »Gesellschaft und Alltagskultur« und »Architektur und Kunst«.
Der Schwerpunkt der Darstellungen – und es handelt sich hier überwiegend um Hintergrundtexte – liegt auf der Beschreibung der Besonderheiten, speziell bei der Architektur und der Landschaft. Iran als schiitisches Land und islamische Republik wird explizit erläutert und dargelegt – die Interdependenz von Religion und Gesellschaft ist dabei bestimmend. Diese Betonung grenzt den eigenen Referenzrahmen (des politischen Systems in Deutschland/Westeuropa) deutlich vom Besonderen ab. Dabei gelten nicht politische, demokratische oder partizipative Unterscheidungskriterien, sondern die Fokussierung auf das Fremde im Sinne von Erlebnismomenten des Entdeckens und des Staunens. Es geht hierbei nicht um eine tiefere Auseinandersetzung mit einem anderen System, lediglich eine Einführung zur Kontextualisierung ist beabsichtigt, das Neue wird zur Anschauung gebracht; ein Lernen, welches über einen Wissenszuwachs hinausgeht, ist dabei nicht beabsichtigt. Wichtig scheinen den Autoren die Menschen im Land. Herausgehoben wird, neben den vielen Sehenswürdigkeiten – Iran hat 23 UNESCO Welterbestätten – die »Freundlichkeit und Aufgeschlossenheit der Bevölkerung«273 . »Die eigentliche Attraktion des Landes sind die Menschen. Ihrem Charme und ihrer Gastfreundschaft […]«274 und »Wenn es ein Wort gibt, das die Erfahrung einer Reise durch dieses wundersame Land zusammenfasst, dann ist das die Quintessenz, die für immer in Erinnerung bleibt. ›Khosh amadid‹ ›Welcome to Iran‹275 , X-beliebige Passanten der Straße rufen es, Kinder, Alte und Händler«276 , belegen diese These. Inwieweit hier von Zu- und Festschreibungen auszugehen ist, die kulturdeterminiert sind, ist zu hinterfragen. Wichtig ist die Betonung von positiven Erlebnismöglichkeiten mit der einheimischen Bevölkerung. Reiseimmanente Erwartungen und Wünsche werden im Kontaktgeschehen in Aussicht gestellt, dadurch findet eine Instrumentalisierung statt. Zwar ist dies positiv konnotiert, jedoch bleibt zu
273 274 275 276
TRESCHER, Iran; 13. DUMONT, Iran; 8. Im Original: ›Khosh amadid‹ ›Welcome to Iran‹ (und farbig). MARCOPOLO, Iran; 13.
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fragen, ob Charme und Gastfreundschaft ein Ausdruck der kollektiven Gegenwart der teilhabenden Personen sind. In dieser Engführung werden weder differenzierte Lebens- noch Handlungsorientierungen deutlich. Eine mögliche Interpretation, warum diese (Gastfreundschaft, Willkommensbekundung) als Phänomene so erwähnenswert erscheinen, drängt sich durch die jahrelange Isolation des Landes und des weit verbreiteten schlechten Images von Iran auf. Darauf geht Walter M. Weiss ein, indem er schreibt: »Iraner sind überaus kontaktfreudig, suchen den Dialog mit Fremden. Und nicht selten bitten sie beim Abschied darum, man möge, nach Hause zurückgekehrt, doch berichten, hierzulande seien Ausländer stets gern gesehen.«277 Als zweites ist zu fragen, ob die besondere Herausstellung (Agenda Setting278 ) auch den immanenten Erwartungen bis hin zu Vorurteilen der Autoren (bzw. der von den Autoren vermuteten fiktiven Leserschaft) entspricht. Eine besondere Form der Essentialisierung mit deutlicher Normierung wäre hierbei die Relativierung der Unterschiede, bzw. die argumentativ gestützte Beseitigung möglicher (erwarteter) Kritikpunkte (Gottesstaat, Autokratie, Frauenrolle etc.). Besonderheiten in den Reiseführerformaten Iran: Anders als bei den Marokko Reiseführern fallen bei der Einführung in die Kultur in allen drei Reiseführerformaten zu Iran zwei Besonderheiten auf: • •
die starke Betonung und Erläuterung der Religion mit entsprechenden Auswirkungen auf den Alltag (hierauf gehe ich im Kontext der Religion näher ein), die Benennung der (aktuelleren bis aktuellen) politischen Lage und der Regierung des Landes.
Benennung der politischen Lage des Landes Zur Beschreibung der (aktuelleren – seit 1979 – bis aktuellen) politischen Lage des Landes ist in allen Formaten kompendiarisches Wissen enthalten. In kürzester Form im MARCOPOLO durch eine Zeitleiste im Auftaktkapitel. Leitend ist hierbei eine ökonomische Faktenvermittlung. Erläuternd zur Darstellung werden die Themen Willkür, Zensur und Doppelmoral, aber auch die Verhüllung der Frauen angesprochen. Es sind weder eine Systematik noch Progression hierbei erkennbar, collagenartig werden als für die Politik des Landes besonders empfundene Themenbereiche genannt und erläutert. Erfolgt die Darstellung der politischen Entwicklung überwiegend deskriptiv, so wird bei den Erläuterungen auf einen objektiven Stil geachtet, der versucht, antizipierte Irritationen der Leserschaft mit Erklärungen zu kontextualisieren. Ausführlicher – im Sinne von differenzierter – geht 277 DUMONT, Iran; 9. 278 Hierauf gehe ich differenzierter bei der Darstellung von Fremd- und Andersheit ein.
3. Reiseführer und Bildung
der DUMONT Reiseführer vor, er untergliedert in »Verfassung und Staatsstruktur« (Inhalte: Das Fundament des Gottesstaates, Rahbar, Räte und Parlament, Religiöse Stiftungen) und »Entwicklungen in jüngerer Zeit« (Inhalte: Aufbruchsstimmung nach Khomeinis Tod, Enttäuschte Hoffnungen, Die Ära Rohani). Zur Geschichte des Iran seit 1979 differenziert der TRESCHER Reiseführer weiter in »Ayatollah Khomeini und die neue Verfassung«, »Die Besetzung der Amerikanischen Botschaft«, »Der Iran-Irak-Krieg«, »Die Zeit nach Khomeini« und »Die Ereignisse 2009 und danach«.279 Orientierungswissen wird zur Verfügung gestellt, welches sich am vermuteten Wissen der Leser orientiert. Hierbei orientiert sich die Auswahl an der Informationsfülle, der Komplexität des Gegenstandes und der Heterogenität der Zielgruppe. Besonders kontrastierende Merkmale und Attraktionen werden berücksichtigt. Das zugrundeliegende Politikverständnis ist an westeuropäischen Demokratievorstellungen angelehnt. Dies wird besonders in der vertiefenden Beschreibung der Durchdringung von Politik und Religion als Theokratie deutlich. 3.4.1.1.3 Reisekulturen – Türkei Auch für dieses Reiseland finden sich in allen drei Formaten Kulturerläuterungen: • • •
Fakten, Menschen & News (MARCOPOLO), Hintergrund: Zwischen Orient und Okzident – Fakten, Geschichte, Kunst und Kultur, Berühmte Persönlichkeiten (BAEDEKER) und Hintergründe & Infos, Geschichte im Abriss (MICHAEL MÜLLER).
Das Format MICHAEL MÜLLER zeigt hierbei nur ein recht knappes Einführungskapitel, integriert aber sehr differenziert Wissen in die Erläuterung der einzelnen Reiseziele. Insgesamt wird im MICHAEL MÜLLER-Format eine Fülle an Informationen präsentiert. Detaillierte Beschreibungen und geschichtliches Material kennzeichnen die einzelnen Destinationsausführungen; es fällt auf, dass auch weniger touristische Gebiete hierbei berücksichtigt werden. Im Vergleich zum Umfang der beiden anderen Reiseführer (BAEDEKER – 671 Seiten und MARCOPOLO – 148 Seiten) umfasst der MICHAEL MÜLLER Reiseführer 911 Seiten, und dies in kleiner Schrift, d.h. mit fast maximaler quantitativer Ausnutzung der Seiten und vergleichsweise wenigen Bebilderungen. Im MARCOPOLO Format wird ähnlich den vorgestellten Reiseführern zu Iran und Marokko im Telegrammstil auf Besonderheiten und Wissenswertes hingewiesen. Dies geschieht zunächst in alphabetischer Anordnung und lässt keine Systematik erkennen; so starten die »Fakten, Menschen & News« mit Atatürk, Chris-
279 Vgl. TRESCHER, Iran; 69-76.
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ten, Erdbeben, Familie und enden mit dem Politischen System, Sprache und Wirtschaft. »Insel-Wissen« wird leicht verständlich in kompendiarischer Form präsentiert. Hierbei dominiert ein statischer Kulturbegriff, und es werden Stereotype bedient. Statische Aussagen werden deutlich: •
•
• •
»Atatürk. Verehrt wird Staatsgründer Mustafa Kemal Atatürk, weil er das Land vor der Aufteilung bewahrt und ihm mit der Gründung der Republik eine neue Perspektive gegeben hat.«280 »Die Zahl der sogenannten ›Ehrenmorde‹ ist vor allem im kurdischen Milieu stark angestiegen. Die schnelle soziale Veränderung erreicht noch nicht die konservative ländliche Umgebung; Frauen werden auf dem Land oft noch von ihren Männern unterdrückt.«281 »In Istanbul können […] (die Menschen) so leben wie in Berlin, Frankfurt oder Rom, in den Pubs trifft sich eine kosmopolitische, gebildete Mittelschicht.«282 »Das […] (mit dem Anknüpfen an die Tradition des Osmanischen Reiches) verbundene Wiedererstarken des Islam hat zu einem Kulturkampf geführt, der sich in fast allen Lebensbereichen bemerkbar macht, nicht nur im Streit um das Kopftuch oder um das Verbot von Alkohol, sondern im Erstarken traditioneller Vorstellungen insgesamt.«283
Obwohl ein Prozess angekündigt wird (»Die türkische Gesellschaft verändert sich mit großer Geschwindigkeit: Grundsätzliches und Hintergründiges zum Verständnis«284 ), wird mit Erläuterungen gearbeitet, die keine Bewegung aufweisen; Zuschreibungen erfolgen, ein vereinfachtes Bild wird wiedergegeben (die Türken verehren Atatürk, Kurden vollziehen Ehrenmorde, Istanbul ist eine Metropole der Mittelschicht, das Wiedererstarken des Islam führt zu einem Kulturkampf – Kultur wird enggeführt auf Religion (Verbot des Alkoholkonsums) bzw. religiös begründete Traditionen (Bedeckung der Frau). Hierin zeigt sich kein »Bedeutungsgewebe aus Wirklichkeitsdefinitionen, Welt- und Selbstauffassungen, Deutungs- und Orientierungsmustern«, die Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft umfassen, sondern eine vereinfachende Popularisierung. Ein als typisch behaupteter Sachverhalt zur Musik wird formuliert: »Ob Shakira, Tarkan, türkische ›Kunstmusik‹ oder Sufi-Klänge: Musik wird Sie in der Türkei auf Schritt und Tritt begleiten.« (S. 24) Die Zusammenstellung von: a. Shakira –
280 281 282 283 284
MARCOPOLO, Türkei; 20. Ebd.; 23. Ebd.; 16. eine kosmopolitische Mittelschicht: im Original fett und türkis hervorgehoben. Ebd.; 17. Ebd.; 21.
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eine kolumbianische Rock-Pop-Sängerin, b. Tarkan, ein türkischer Popmusiker, c. der Nennung des Begriffs »türkischer Kunstmusik« in Anführungszeichen, welche bereits das Qualitätsmerkmal Kunst in Frage stellt, und schließlich d. der Nennung von Sufi-Klängen, wobei es sich hier um eine Reduzierung von Musik auf Klänge handelt285 , zeigt eine unsystematische bisweilen falsche Auflistung eines türkischen Phänomens. Besonders durch die Nennung von »Kunstmusik« in Anführungszeichen wird hervorgehoben, dass es sich – in Unterscheidung von E- und U-Musik – nicht um Kunstmusik im Sinne von (europäischer) Hochkultur handelt. Werden hierdurch Stereotype bedient, so wird gleichzeitig auch auf beim Leser vermutete Stereotype hingewiesen, so heißt es: »Machen Sie sich deshalb darauf gefasst, dass Ihnen auf den Reisen durch die Türkei unterwegs so manch lang gehegtes Vorurteil abhandenkommt.«286 Die anschließend in Reisegebieten angeordneten Sehens- und »Erlebnis«würdigkeiten werden wiederum komprimiert beschrieben; auffällig ist hier, dass ein differenziertes Publikum (siehe auch Touristenkultur) angesprochen wird. So finden sich Hinweise zu Bademöglichkeiten, Städten (Architektur), Fundstätten des Altertums, Sonnenanbetung, Sport und Kultur, Spuren jahrtausendealter Besiedelung, älteste Städte, Bergwelt, üppige Vegetation und byzantinische Klöster. Der BAEDEKER Türkei wurde, wie fast alle BAEDEKER-Ausgaben, von einer Autorengruppe verfasst und zeigt dominant in einer konstatierend-assertierenden Funktion Hintergrund- und Orientierungswissen. Monumente, Plätze, Museen, Architektur, Altstadt, Moscheen, Medresen, Landschaften (Seen, Berge etc.) werden als sehenswert beschrieben. Zwar werden unterschiedliche Reiseziele und Motive genannt: »Die Türkei wird in erster Linie wegen seiner (sic!) Strände sowie seiner antiken Stätten und orientalischen Prachtbauten besucht. Doch nicht nur Badehungrige und Bildungsbeflissene kommen in der türkischen Republik auf ihre Kosten, das Land kann auch denen viel bieten, die Sport, Spaß und Erlebnisse suchen.«287 Mit dem Hinweis »Was Sie auf keinen Fall verpassen sollten« wird allerdings eine exklusive Auswahl von »klassischer Kultur« als Sachdimension (und somit Engführung von Sehenswertem) mit großer Bedeutungsbeimessung vorgestellt; genannt werden, in dieser Reihenfolge, imposante Ruinenstätte, orientalisch geprägte Städte, Naturschönheiten und Badeorte. Es wird durchgängig versucht, eine Ordnung und Überschaubarkeit herzustellen, die nur sehr zurückhaltend von subjektiven Einführungen und Kommentaren begleitet wird. Tipps und Vorlieben der Autoren werden nur dezent deutlich: »[…] unbedingt probieren sollte man in der Stadt die Schokolade-Nuss-Bonbons, eine
285 DieSufi Musik ist der Oberbegriff für regional unterschiedliche Stile islamischerMusik, die zur rituellen Glaubenspraxis von Anhängern des Sufismus gehört. 286 MARCOPOLO, Türkei; 17 287 BAEDEKER, Türkei; 93.
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örtliche Spezialität«288 , »Von den Thermalbädern in Cekirge lohnt vor allem das Kara Mustafa Kaynarca Kaplicalari einen Besuch.«289 , deutlicher instruierend wird formuliert: »Wir haben Ihnen zusammengestellt, was Sie auf keinen Fall versäumen sollten«290 . Es handelt sich, quantitativ dominant, um inszenierte Topographien, die oftmals auf Monumente und das Stadtbild reduziert werden. In historisierender Weise wird in wissenschaftlich anmutender Art beschrieben. Es fällt auf, dass wenig Bezug zur Bevölkerung hergestellt wird. In BAEDEKER-typischer Weise ist die Anordnung nach einführenden Kapiteln zu Hintergrund, Praktischen Informationen von A bis Z und Touren alphabetisch (Reiseziele von A bis Z) geordnet. Als didaktisch-methodische Herangehensweise wird die Frage gewählt, welche dann im Verlauf der Erläuterungen beantwortet wird; hierbei wird disziplinübergreifend vorgegangen. Bei der Beschreibung der Reiseziele von A bis Z wird in der Reihenfolge Bezug genommen auf herausragende Sehenswürdigkeiten, Großstadtatmosphäre, abgeschiedene Landschaften, fantastische Strände und vielbesuchte Badeorte. Die Gliederung zu den einzelnen Reisezielen erfolgt in einer Beschreibung (der Stadt, der Gegend) mit einem Unterkapitel zu »Geschichte«, der Kenntlichmachung durch BAEDEKER Sterne (Asterisken) – »Sehenswertes in…« (Highlights), der Nennung von BAEDEKER-TIPP(s) und endet mit dem Gliederungspunkt »Umgebung von…«. In der Verknappung von Inhalt und Form wird eine Selektion und Wertung vorgenommen. Im Vergleich zu den beiden anderen Formaten wird hier die Form der Besichtigungsreise als dominant angenommen, in wissenschaftlich orientierter Weise wird die Darlegung in eine Ordnung und Überschaubarkeit gebracht. Zwar wird eingegangen auf Massentourismus und alternative Reiseformen und noch vorzufindende einsame bzw. einsamere Destinationen, trotzdem handelt es sich vornehmlich um einen Reiseführer zur Sehhilfe bei Sehenswürdigkeiten (seien dies Städte, Monumente oder Landschaften). Kultur wird hierbei überwiegend in einem historisierten und statischen Sinne verstanden. Die Wertung des Sehenswerten ist einem bildungsbürgerlichen Ideal verantwortet (eine Besonderheit des BAEDEKER ist das Glossar zu Architektur und Kunst), die Auszeichnung als UNESCO-Weltkulturerbe gilt bei der Auswahl als höchste Instanz. Das Glossar umfasst Fachtermini, die im Textkorpus ohne Erläuterung genannt werden z.B. Bedesten (Markthalle türkischer Städte), Cami (große Freitagsmoschee im Unterschied zur kleineren Mescit291 ).
288 289 290 291
Ebd.; 159. Ebd.; 320. Ebd.; 2. Vgl. ebd.; 658f.
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Eine Aufforderung zur Begegnung mit der Bevölkerung erfolgt eher zurückhaltend, so heißt es zwar unter »Knigge« (S. 110): »›Kommen Sie zu Freunden‹ verspricht der Werbeslogan der Türkei. Und wirklich, wenn Sie den zahlreichen Touristenhochburgen ab und zu den Rücken kehren – was übrigens unbedingt zu empfehlen ist – können Sie noch echte türkische Gastfreundschaft erleben.« Dennoch liegt der Fokus bei den Objekten, die selektiert und in ihrer Bedeutung als sehenswert klassifiziert werden. Eine klare Unterscheidung in »wir – die Reisenden« und »die – die Einheimischen« wird deutlich – eine sprachliche Dichotomisierung findet sich auf S. 125: »Die kleineren Basare im Land sind weitgehend auf die Bedürfnisse der einheimischen Bevölkerung zugeschnitten und bieten daher für den Sammler wertvoller Andenken nur relativ wenig Außergewöhnliches.« Das Bild des Reisenden wird bestimmt als Sammler von Außergewöhnlichem, wobei die Interpretation dessen aus einer Heteroperspektive und nicht kulturimmanent (Ursprungskultur) erfolgt. In allen drei Formaten werden als Besonderheit deutsch-türkische Verbindungen herausgestellt, dabei zeigen sich jedoch Unterschiede: •
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•
Ortsbezüge; Hotspots der Deutschen: Im MARCOPOLO wird z.B. Alanya erläutert mit: »Ca. 20000 Deutsche haben sich in Alanya (110000 EW.) niedergelassen, weshalb die Stadt von den Türken Kücük Almanya (›Klein-Deutschland‹) genannt wird.«292 Auch deutschkritische Aussagen finden sich: »Alanya ist der touristische Hotspot der Türkischen Riviera. Noch bis vor wenigen Jahren kam das Gros der Urlauber aus Deutschland und erfreute sich an Jägerschnitzel und Rinderbraten.« Das Bild der deutschen Urlaubskultur wird geprägt durch Ignoranz und Dominanz; Vorlieben der Urlauber werden, entgegen der kulturellen kulinarischen Eigenheiten, bedient – im Sinne einer ökonomischen Inbesitznahme. Historische Bezüge: Der BAEDEKER betont auf zwei Themenseiten »Haymatloz – Exilland Türkei. Aus Nazideutschland mussten sie fliehen, in der Türkei waren sie willkommen.« und »Atatürk zu Besuch im Deutschen Reich.« In der Auswahl wird eine Beliebigkeit deutlich. Zum einen stellt sich die Frage, warum keine weiteren Themen wie z.B. Arbeitsmigration und Gastarbeiter behandelt werden. Zum anderen, von welchem Geschichtsverständnis die Autoren geleitet werden. Wirtschaftliche Bezüge – Fortschritt: Im MICHAEL MÜLLER heißt es: »Viele Strecken des türkischen Schienennetzes schufen übrigens deutsche Ingenieure.« Zu fragen ist, warum diese Information dem Autorenteam wichtig erscheint. Durch die Hervorhebung (Agen-
292 MARCOPOLO, Türkei; 50.
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•
da Setting und die Beifügung des Adverbs »übrigens« – als nebenbei bemerkt) zeigt sich die Wertigkeit und Überlegenheit der Deutschen im Fortschrittsprozess. Als Erläuterung wird neutral formuliert: Izmir: »Allein aus Deutschland haben 430 Unternehmen im Großraum Izmir Niederlassungen.« Fraglicher Bezug – Werthaftigkeit: »1983 (machte) der damalige Bundespräsident Richard von Weizäcker in Kizkalesi drei Tage Urlaub […] – worauf man übrigens bis heute stolz ist.« Es lässt sich hinterfragen, warum der Besuch eines deutschen Bundespräsidenten in diesem Kontext erwähnenswert erscheint. Diese Bedeutungsbeimessung (implizit mit der Frage nach dem »man«) führt zu einer Aufwertung eines Ortes, die nur aus einer asymmetrischen Sicht, die von Kulturarroganz zeugt, erklärt werden kann.
3.4.1.1.4 Reisekulturen – Alltag und Bevölkerung Es wurde bereits festgehalten, dass Kulturbeschreibungen (quantitativ) dominant objektorientiert und nur zu einem geringen Teil subjektbezogen erfolgen, und dass die Bevölkerung zwar thematisiert wird, dies jedoch zum einem mit der Aufforderung der Kontaktaufnahme, zum anderen aber auch vielmals als »Konsumgut«, welches der Anschauung und Beobachtung dient. Nun erfolgt eine Vertiefung der Analyse. Die Verhaltenstipps und »Warnungen« gehen auf Irritationen ein – hierauf wurde bereits hingewiesen. Des Weiteren nimmt für die hier ausgewählten muslimischen Länder die Religion eine herausragende Stellung ein. Es ist interessant herauszufinden, ob die Reiseführer von einer kollektiven Kultur der deutschsprachigen Reisenden (und somit Nutzer ihrer Literatur) ausgehen (später wird von dieser Gruppe als Gästekultur gesprochen), und wie auf einzelne Aspekte des Zusammenlebens der Menschen als Kultur einführend hingewiesen wird. Dass an einigen Stellen ein westeuropäisch orientierter Referenzrahmen beim Kontakt mit Neuem als Orientierung dient, wurde bereits an Beispielen verdeutlicht. Im Prozess des Reisens trifft der Reisende (unmittelbar) auf die einheimische Bevölkerung oder mittelbar durch die Lektüre des Reiseführers; beide Gruppen (die Reisenden und die Bereisten) symbolisieren eine (kollektive) soziale Identität. Bevölkerung: Allen drei Formaten zu Marokko ist gemeinsam, dass sie – in unterschiedlicher Ausführlichkeit – auf die verschiedenen Bevölkerungsgruppen (Berber, Araber, Haratin, Juden) eingehen. Die geschichtliche und geografische Entwicklung wird kurz angesprochen bis ausführlich dargelegt. Es wird von einer zu beschreibenden kulturellen Identität ausgegangen, welche die Gesellschaftlichkeit des Menschen als Konstitutivum annimmt. Zu unterscheiden sind die deskriptiv-
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narrativen Elemente von den deutlich normativen Aussagen zur Bevölkerung. An einigen Beispielen möchte ich dies verdeutlichen: MARCOPOLO: »Die Menschen in Asilah […] sind freundlich und zurückhaltend« (S. 40); »Die Menschen hier sind auffallend freundlich, und durch die jahrelange Zurückgezogenheit haben sie sich, neben einer ganz eigenen, immateriellen Kultur, auch eine einzigartige Architektur erhalten.« (S. 71); »Denn die Menschen in Figuig sind unglaublich entspannt und freundlich.« (S. 86). In undifferenzierter und normativ wertender Form wird hier beschrieben; angebliche menschliche Charaktereigenschaften und Temperamente, die im Zusammenhang mit einer Reise für die Reisenden wünschenswert sind, werden hervorgehoben. Aus der Perspektive des Reisenden werden Angaben gemacht, die zu einem Gelingen der Reise beitragen können. Dies wirft zwar zunächst ein positives Bild auf die Bevölkerung, entbehrt aber einer adäquaten Darstellung der Realität. BAEDEKER: »Alte Sitten und Gebräuche stehen neben westlichen Lebensformen, traditionelle Arbeitsmethoden neben ausgefeilter Hochtechnologie.« (S. 13); »Akademiker, die in Europa studiert haben und im Berufsleben westliche Kleidung tragen, halten zu Hause mitunter noch an der herkömmlichen Geschlechtertrennung fest, je nachdem, aus welcher sozialen Schicht ihre Ehefrau stammt und wie hoch deren Bildungsstand ist. In streng orthodoxen Kreisen werden noch heute Mahlzeiten getrennt eingenommen. Man kann es so auf den Punkt bringen: In den Medinas wird arabisch-islamische Wohnkultur293 gepflegt, in den Nobelvillen und modernen Appartements der Villes Nouvelles ist die Lebensführung mehr oder weniger europäisiert.« (S. 243). Zwar werden unterschiedliche Vorstellungen deskriptiv zur Anschauung gebracht, es zeigt sich jedoch eine normative Setzung im Vergleich zu westlichen Gesellschaften, die als höherwertig eingestuft werden. Positiv konnotiert erscheinen Akademiker in westlicher Kleidung. Es wird im Kontrast ein Bild von Frauen dargestellt, die aus einer anderen sozialen Schicht kommen und einen anderen Bildungsstand haben. Nicht eindeutig ist die Wertung der arabisch-islamischen Wohnkultur; hier zeigt sich ein doppeltes Bild. Für die eigene Lebensführung (als westeuropäischer Tourist) ist die Zuordnung eindeutig, zugleich ist der Wunsch nach Exotik bestimmend, so dass der arabisch-islamischen Wohnkultur ein touristischer Wert zugesprochen wird, jedoch nicht im Sinne einer gleichwertigen Alltagskultur, sondern des Besonderen und Fremden, mit dem zugleich Rückständigkeit (dies unterstützt durch den Gradpartikel »noch«) impliziert wird. Deutlich am westeuropäischen Referenzrahmen orientiert beschreibt der BAEDEKER in distanzierter Form Phänomene der Gesellschaft, Charakteristika der Bevölkerung und Besonderheiten der Lebensführung und -gestaltung. Dem Anspruch der Aufklärung und Information wird so nicht adäquat entsprochen, der 293 Im Original: arabisch-islamische Wohnkultur.
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altertümlichen Lebensführung und den aus der Geschichte noch deutlich zu erkennenden Unterschieden wird eine Bedeutsamkeit beigemessen. Dadurch werden eine Nostalgisierung und Verzerrung vorgenommen, die Kultur als wertvoll im Sinne von »anders« als die gelebte westeuropäische Herkunftskultur unterscheidet. Dadurch wir Kultur zu einem Selbstzweck, der Erfahrungsräume des Anderen umfasst und konserviert. Zu analysieren ist dabei eine deutliche asymmetrische Betrachtungsweise von Geschichte, Tradition, Entwicklung und Fortschritt bis hin zum Kulturimperialismus. Kann zwar – und dies besonders im Subtext »Hintergrundwissen«- bildungstheoretisch von Unterrichtung im Sinne von Wissensaneignung und -zuwachs gesprochen werden, suggerieren vor allem die Orientierungs- und Besichtigungstexte dennoch einen exotischen Blick mit sehnsuchtsvollen Hinwendungen zu vergangenen Gegenständen und Praktiken. Besonders durch die Beifügung des »noch« wird das Pittoreske betont, des Weiteren wird auf den überschaubaren (historischen) »Rest« abgezielt. Im STEFAN LOOSE lassen sich die meisten Aussagen zur Bevölkerung finden: »natürliche Freundlichkeit der Menschen« (S. 23); »Fes ist eine freundliche Stadt mit zurückhaltenden, aber hilfsbereiten Einwohnern« (S. 313); »Es fällt auf: An keinem anderen Ort Marokkos sehen die Menschen so entspannt aus wie hier.« (S. 385); »Denn die Menschen hier im Tal sind auffallend freundlich.« (S. 458) und »liebenswerte Menschen« (S. 392). Auch hier zeigt sich eine Reduzierung auf tourismusrelevante Eigenschaften, zudem wird auf die Bereiche Freundlichkeit, Hilfsbereitschaft, Zurückhaltung und Entspanntsein enggeführt. Unter der Rubrik »Mensch im Fokus« werden unterschiedliche Aspekte benannt: respektvoll miteinander umgehen als Grundlage, lokal buchen, auf fairen Handel achten, bettelnden Kindern kein Geld geben und nachhaltigen Tourismus unterstützen (S. 51). Ethische Normen werden gesetzt für die Interaktion von Reisenden und Einheimischen (respektvoller Umgang) und für touristisches Handeln (lokal, fair, nachhaltig); in der Aufzählung systematisch überraschend ist der Verhaltenstipp zu den bettelnden Kindern: »Auch wenn›s schwerfällt: Bettelnden Kindern294 kein Geld geben. Wirksamer sind Spenden an Kinderhilfsorganisationen oder Bildungseinrichtungen vor Ort.« Kritik an der Kindheits- und Bildungsarmut wird defensiv geäußert und dies nicht erläutert, stattdessen wird die Aufmerksamkeit umgelenkt zu sozialcaritativen Hilfsaufforderungen. Erwähnen möchte ich auch die Information über die Steine werfenden Kinder: »Am ärgerlichsten sind wahrscheinlich die Steine werfenden Kinder, die es leider immer wieder in Marokko gibt«. (S. 72) Diese Information erfolgt – als Warnung – ohne Kontextualisierung. Es werden weder Gründe noch Erklärungen angeboten.
294 Im Original: Bettelnden Kindern.
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»Wer das Glück hat, einmal bei Berbern einer abgelegenen Region zu Gast zu sein, wird schnell merken, wie wenig diese Menschen mit den arabischen Städtern zu tun haben. Sie sehen anders aus, bewegen sich anders, leben ein anderes Leben – offener, wie es scheint.« (S. 93) Als Kontrastbild werden Berber und Araber hervorgehoben ohne tiefergehende Analyse oder Beschreibung. Hervorgehoben werden die Berber durch ihre Offenheit, ein Wert, dem der Autor eine hohe Bedeutung beimisst. Dies lässt implizit annehmen, dass er dies den Arabern abspricht. Auch hier liegt der Fokus wieder auf der Erlebnismöglichkeit des Besonderen, was u.a. im Zusatz »abgelegenen Region« verstärkt wird. Die Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung wird konnotiert mit der Tätigkeit des Beobachtens, die sich hin zum Voyeurismus steigert. Parallel dazu macht aber die Autorin ihre Haltung deutlich: Wichtig ist ihr eine Begegnung zwischen den Menschen (wie gezeigt wurde, wird dies jedoch nicht kongruent verfolgt), außerdem nachhaltiger Tourismus und ressourcenschonendes, faires Reisen. Die Interdependenzen des Reisens werden angesprochen: »Reisende sind nirgendwo bloß unbeteiligte Zuschauer. Ihr Verhalten hat Auswirkungen auf die Umwelt und die besuchten Menschen.« (S. 50) Iran: Alle drei Iran-Reiseführer betonen die Möglichkeit der Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung. Dies kann zum einen ein kurzer Kontakt anlässlich von Selfies sein (»(Iraner) lieben es, gemeinsam mit Ausländern Selfies zu schießen«295 ) bis hin zu konkreten Aufforderungen zur Kontaktaufnahme.296 Es ist zu fragen, mit welchem impliziten Bild die Selfie-Leidenschaft der Iraner betont wird. Hier zeigt sich eine starke Reduktion, die einen flüchtigen Kontakt gutheißt und Individuen auf Fotoobjekte reduziert. Kann zwar von einem Unterschied bei der Haltung zu Selfieaufforderungen in Iran ausgegangen werden, so werden dennoch durch die Dokumentation Unterschiede manifest, die dem Wunsch nach Exotik (im äußeren Erscheinungsbild und Bekleidungsregeln) entsprechen. Unter »Dos und Don›ts« (S. 91) wird (einschränkend) formuliert: »Private Einladungen werden, die iranische Gastfreundschaft ist überbordend, am laufenden Band ausgesprochen, sind zunächst jedoch dankend abzulehnen. Erst nach mehrmaliger Wiederholung kann man sichergehen, dass sie keine Höflichkeitsfloskeln, sondern ernst gemeint sind.«297 Hervorgehoben wird die Wichtigkeit einer Reise für den Kontakt und die Möglichkeit einer Annäherung im Abschlusszitat im DUMONT Iran (vergleichbar mit
295 MARCOPOLO, Iran; 123. 296 Z.B. unter Rund um Natanz: »Auch Kontakte zur Bevölkerung sind möglich.« TRESCHER, Iran; 372. 297 DUMONT, Iran; 92.
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den Ausführungen zu den Marokko-Formaten gilt auch hier eine Einschränkung – die Ungleichmäßigkeit): »Die gefährlichste Weltanschauung ist die Weltanschauung derer, die die Welt nie angeschaut haben.« (Klappentext hinten). Wird hier die Aufgabenhaftigkeit im Prozess von Meinen und Wissen betont, die die Identität beeinflusst (bisweilen strukturiert), so bleibt die Beschreibung in einer Dualität von »wir« und »die« verkürzt. Türkei: Mit der Aufforderung »Entdecken Sie die Türkei!«298 (MARCOPOLO), »Tipps und Informationen zur Reise können wir Ihnen liefern, nicht aber die Entschlüsselung des faszinierenden Rätsels Türkei, des bunten Mosaiks aus Antike und Gegenwart, aus westlich-modernem Denken und konservativer Frömmigkeit.«299 (MICHAEL MÜLLER) und die »Türkei, das Mittlerland zwischen Orient und Okzident, hat Besuchern viel zu bieten.«300 (BAEDEKER), werden die Leser zum Reisen aufgefordert. Ein Kriterium ist dabei die Rätselhaftigkeit, die nur im Erleben entschlüsselt werden kann. So bleibt ein nicht zu beschreibender Graben zwischen der Erläuterung in Reiseführern und dem Erlebnis in der Reisedestination; die hierdurch hervorgerufene Wirkung des Unbeschreibbaren, des Rätsels, der Stimmung etc. bedient dabei touristische Sehnsuchtsbilder. In den jeweils einführenden Kapiteln werden die Bevölkerungsstruktur und Bevölkerungsgruppen genannt (und teilweise erläutert). Am ausführlichsten geschieht dies im BAEDEKER, besonders werden die Kurden erwähnt, verknüpft mit historisch-politischen Aussagen.301 Auch werden weitere Minderheiten vorgestellt. Ausführlicher gehen alle drei Formate bei den jeweiligen Reisezielen/-regionen auf die Bevölkerung, deren Spezifika, politische Ausrichtung und Religiosität ein. Auch die seit 4000 Jahren wechselvolle Geschichte, in der »die Türkei« Heimat verschiedener großer Weltkulturen (Hethiter, Griechen, Römer, Byzantiner, Seldschuken, Mongolen, Kreuzritter und Osmanen) war, wird in den jeweiligen Kapiteln thematisiert. Aussagen über die jetzige Bevölkerung sind dagegen rar; thematisiert werden der Kontrast von Wohlstand (Aufbruch) und Armut, Kemalismus und eine konservativ-islamische Regierung, ein Wiedererstarken des Islam, der den Alltag bestimmt, und aktuelle politische Bezüge. Im BAEDEKER finden sich nur wenige Äußerungen zur aktuellen Bevölkerung, so z.B. zu Ankara, wo eine junge Bevöl-
298 299 300 301
MARCOPOLO, Türkei; 13. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 19. BAEDEKER, Türkei; 14. »Die Republik Türkei erkennt die Kurden nicht als nationale Minderheit an, sondern betrachtet sie als ›Bergtürken‹ ohne Sonderrechte. Die rigorose Repression der kurdischen Eigenständigkeit hat zu einer Radikalisierung der Autonomiebestrebungen geführt.« (S. 29)
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kerung das Stadtbild prägt302 , zum als konservativ geltenden Erzurum303 und zur noch äußerst traditionell eingestellten Bevölkerung in Konya304 . Zu fragen ist, warum diese Informationen für das Autorenteam eine Relevanz haben. Mit welchen suggestiven Implikationen soll Wahrnehmung gelenkt werden? »Junge Bevölkerung«, »konservativ«, »äußerst traditionell« – zeigt Kontrastbilder zu deutschen bzw. westeuropäischen Städtebeschreibungen (oder zumindest vermuteten Selbstdeutungen der Reisenden). MARCOPOLO beschreibt die Menschen in der Metropole Istanbul als eine kosmopolitische, gebildete Mittelschicht – dies zeigt eine Engführung und Etikettierung, die nicht annähernd 17 Mio. Türken in Istanbul umfassen kann. Kontrastierend zur »weltlich orientierten Mittelklasse« wird das Festhalten an »archaischen Wertvorstellungen«305 genannt. Es wird hingewiesen auf: Leben in einem strengen Patriarchat, »ein Verständnis von Ehre, das auch vor Ehrenmorden nicht haltmacht, und ein Denken, das an Clanstrukturen orientiert ist«306 . Hier werden kritikwürdige Facetten der türkischen Gesellschaft (Ehrenmorde, strenges Patriarchat) als allgemein beschreibende Elemente in einem Einführungskapitel eingesetzt. Muss davon ausgegangen werden, dass die gemeinsame Welt eine moralische Welt ist, in der Handeln gesollt und gewollt ist (Buck), so muss sich Partikulares an normativen Ansprüchen orientieren, aber eben als Partikulares beschrieben werden. Hier wird zum einen eine Differenz (zur freiheitlich-demokratischen Grundordnung) deutlich, zum anderen wird in Abgrenzung und Verurteilung dieser Phänomene zumindest eine offene Haltung gegenüber den Gastgebern erschwert. Demgegenüber schließt jedoch das einführende Kapitel Auftakt im MARCOPOLO mit dem bereits an anderer Stelle aufgeführten Zitat ab: »Machen Sie sich deshalb darauf gefasst, dass Ihnen auf den Reisen durch die Türkei unterwegs so manches lang gehegte Vorurteil abhandenkommt. Lassen Sie sich einfach überraschen. Entdecken Sie die Türkei!307 «308 In dichotomisierender Weise beschreiben auch Bussmann und Tröger (MICHAEL MÜLLER Verlag) die Bevölkerung: »Sie werden Menschen begegnen, die Ihnen den Eindruck vermitteln, dass das Land ganz klar den Fuß in der Tür nach Europa hat: gebildete Menschen mit der heißen Liebe nach Fortschritt und von ausschweifendem Frohsinn, weniger prüde als die Amerikaner des mittleren Westens.
302 303 304 305 306 307 308
Vgl. BAEDEKER, Türkei; 213. Vgl. ebd.; 366. Vgl. ebd.; 495. MARCOPOLO, Türkei; 16. Ebd. Im Original: Entdecken Sie die Türkei! (und farbig). MARCOPOLO, Türkei; 17.
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Doch Sie werden auch auf Menschen treffen, die genau dieses liberale Leben ihrer Landsmänner und -frauen als dekadent, unmoralisch und bis auf die Knochen verderbt ansehen.«309 An dieser Gegenüberstellung von gebildeten fortschritts- und europaorientierten zu traditionellen, an konservativen Werten orientierten und rückwärtsgewandten Menschen wird der Referenzrahmen der Autoren deutlich. Besonders der Zusatz, dass erstere einen »ausschweifende(n) Frohsinn« leben, unterstreicht diese Wertung und Bejahung. Fraglich ist der Einschub des Vergleichs mit prüden Amerikanern des mittleren Westens. Wie noch später deutlicher gezeigt wird, ist eine Analogie ein häufig genutztes sprachliches Mittel. Soll eine solche in der Regel zur Verständnisklärung beitragen und diese erleichtern, so wird hier ein diffuses klischeehaftes Bild bedient. Entweder wird eine Reiseerfahrung vermutet, die darin Bestätigung finden soll, oder medial vagabundierende Bilder und Urteile gelten als Grundlage des Vergleichs. Der Auflistung folgen noch weitere Stereotype und diskriminierende Vorurteile: »Dazu brauchen Sie noch nicht einmal bis in den Südosten des Landes zu fahren, […] wo Frauen verschleiert zum Markt huschen, während ihre Männer in der Moschee über die Vorzüge des Gottesstaates plaudern; wo verkaufte Bräute, Polygamie und Ehrenmord leider keine Klischees sind.«310 Die Beschreibungen »verschleiert« und »huschen« muten herabwürdigend an – das zugrundeliegende Frauenbild wird dominiert durch die Etikettierung der Bedeckung als Besonderheit, und dies in einer sprachlichen Verdichtung mit Negativkonnotation – »verschleiert«. Es bleibt zu fragen, warum Frauen sich lautlos und schnell bewegen sollten – hier wird ein patriarchales Rollenbild konstruiert und bedient, welches die Unterdrückung der Frau suggeriert. Aber auch die religiösen Männer werden diskreditiert; ihre religiöse Haltung und Einstellung als einer Bejahung eines Gottesstaates werden durch das Verb »plaudern« – sich gemütlich und zwanglos unterhalten – ins Lächerliche verkehrt. Die darauffolgende Aufzählung komplettiert dann noch die Vorurteile mit der Behauptung, dass es in der Türkei, und hier besonders im Südosten des Landes, verkaufte Bräute, Polygamie und Ehrenmorde gibt. Dies mag zwar in Teilen den Tatsachen entsprechen, durch dieses Setting wird es aber ausgeweitet zu einem vielerorts zu findenden Stereotyp; so werden medial verbreitete Bilder bestätigt und Vorurteile bedient. Wiederum in Gegensatzpaaren wird die Vielfalt demonstriert – normiert wird jedoch im doppelten Sinne; zum einen innertürkisch und zum zweiten durch die gewählten Kontrastbilder im Vergleich zur deutschen Gesellschaft: So heißt es zwischen moderner Lebensfreude und trister Orthodoxie, zwischen Feudalismus und Demokratie, zwischen Kommerz und Koran und zwischen Minirock und Schlei-
309 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 19. 310 Ebd.
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er.311 Im weiteren Verlauf wird bei der Beschreibung der Reiseziele nur noch an wenigen Stellen die Bevölkerung ausführlicher behandelt, so heißt es z.B. in Ayvalik gibt es aufgeschlossene Menschen312 ; in Bodrum sind die Menschen lebenslustiger, freizügiger und ausgeflippter313 , Sile kennzeichnet eine konservative Mittelschicht314 , im westanatolischen Binnenland ist die Bevölkerung etwas rauher315 . Als positiv für die gesamte Türkei wird die Gastfreundschaft hervorgehoben. Alltag: Der Alltag wird an unterschiedlichen Stellen dargestellt. Als spezifisch für das Land halten die Reiseführer Themen wie die Rolle von Mann und Frau (mit entsprechendem Verhaltenskodex), Kleidungsvorschriften und -erscheinungsweisen und Kulinarik (inkl. Alkoholverbot). Für Marokko wird explizit darauf hingewiesen, dass der Islam die offizielle Staatsreligion ist und das Alltagsleben der Marokkaner bestimmt.316 Hier zeigt sich eine Engführung, die die Vielfalt (Araber, Berber,…) einebnet. Zudem wird im Reiseführer postuliert, dass das Land aus westeuropäischer Perspektive als traditionell mit konservativen Moralvorstellungen gilt. In diesem Zusammenhang wird eine angemessene Bekleidung und entsprechendes Verhalten im öffentlichen Raum empfohlen, und an verschiedenen Stellen wird wiederholt in allen drei Reiseführerformaten darauf hingewiesen. Im MARCOPOLO wird der Lebensstil als mediterran und orientalisch beschrieben; kennzeichnend für die Bevölkerung sind Gelassenheit, Gastfreundschaft und Offenheit gegenüber Fremden.317 Auch hier wird deutlich, dass ein statischer Kulturbegriff zugrunde liegt, Essentialisierungen werden gefestigt (auch wenn dies hier im positiven Sinne geschieht). Im Reiseland Türkei werden wiederum die Kontraste hervorgehoben – ein Land zwischen boomendem Wirtschaftsleben und westlich orientierter Lebensführung, Gesellschaftsschichten, die die Trennung von Staat und Religion gut heißen, bis hin zu traditionellen Lebensformen mit einem stark muslimisch geprägten Alltag, der hauptsächlich noch in den ländlichen Gebieten im westanatolischen Binnenland, Nordostanatolien und Südostanatolien anzutreffen ist. Wird für Beyoglu (Istanbul) gesagt, dass eine westliche Großstadtmoral das Bild und die Menschen bestimmen318 , so heißt es für einen weiteren Stadtteil in Istanbul (Üsküdar), dass dort Moscheen und »im wahrsten Sinne des Wortes zugeknöpfte Frauen
311 312 313 314 315 316 317 318
Vgl. ebd. Vgl. ebd.; 205. Vgl. ebd.; 321. Vgl. ebd.; 541. Vgl. ebd.; 612. Vgl. MARCOPOLO, Marokko; 15. Vgl. ebd.; 16. Vgl. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 159.
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charakteristisch sind«319 . Mit der Wahl des umgangssprachlichen Adjektivs »zugeknöpft« werden zwei Bilder zeitgleich möglich: im ersten Sinne angezogen mit einem Kleid, welches mit Knöpfen verschlossen ist (Kleidungsvorschriften für muslimische Frauen) und im zweiten Sinne als Beschreibung von verschlossen und wenig auskunftsfreudig bis hin zu unnahbar. Noch drastischer im Sinne von andersartig wird Uzungöl beschrieben, jede zweite Frau trägt dort einen Tschador oder Niqah, und es gibt keinen Alkohol.320 Wieder werden die Frauen als Bild für die traditionelle Gesellschaft herausgehoben, und auch der – für alle Reisenden immanent wichtig zu scheinende Alkoholkonsum im Urlaub – wird thematisiert. Für den Alltag gelten für Reisende bestimmte Regeln, die entsprechend der Unterschiedlichkeit der Städte und Regionen differieren; dies gilt besonders für Bekleidungsvorschriften321 , Regeln während des Ramadans, Bade(bekleidungs)vorschriften und den Kauf und Genuss von Alkoholika. Mit dem Alltag eng verknüpft ist die Politik des Landes. Es wird dargelegt, dass es einer hohen Sensibilität bedarf, die Möglichkeiten und Grenzen für Gespräche und Diskussionen zu (gesellschafts-)politischen Themen realistisch einordnen zu können. So heißt es unter Verhaltenstipps (STEFAN LOOSE Handbuch Marokko): »Fatale Folgen kann es haben, wenn man in Diskussionen den Islam322 oder den König323 beleidigt. Jede Form der kritischen Äußerung kann zu heftigen Reaktionen führen. Die Beleidigung der Königsfamilie ist sogar strafbar. Besser solche Themen meiden.«324 3.4.1.1.5 Analyseergebnisse Reisekulturen Folgende Vorstellungen von Kultur lassen sich in Reiseführern nachweisen: •
•
Unter Kultur verstehen Reiseführer etwas Materielles, zum einen besteht ein überwiegender Konsens bei der Auswahl und Priorisierung der Kulturdarstellungen, zum anderen werden Objekte mit je eigener Bedeutungsbeimessung (»Geheimtipp«, »Meine Tipps« etc.) ergänzt. Bei den Wertigkeiten liegt eine Einigkeit in der Orientierung an touristischen Interessen vor, wobei die zugrunde liegenden Wertungskriterien nicht offengelegt werden.
319 Ebd.; 173. 320 Vgl. ebd.; 602. 321 So heißt es z.B. im MICHAEL MÜLLER für einen Besuch von Konya: »Touristen sollten der in Konya extrem praktizierten Religiosität Respekt zollen und sich zurückhaltend kleiden und benehmen.« (S. 663) 322 Im Original: Islam. 323 Im Original: König. 324 STEFAN LOOSE, Marokko; 83.
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Darüber hinaus wird mit Kultur ein Erlebnis, etwas Erfahrbares verbunden. Das genuin Besondere einer Reise wird fluide, d.h. nicht konkret beschrieben oder kriteriengeleitet zum Ausdruck gebracht. Es wird auf die Gefühlsebene abgezielt, Emotionen (Erwartungen, Hoffnungen) werden bedient. Aus einer Heteroperspektive heraus erfolgt die Selektion und Darstellung. Objekte werden Subjekten entgegengestellt, dominant ist die Beschreibung von sehens- und besuchenswerten Objekten, die Bevölkerung wird dabei nach tourismusspezifischen Qualitätskriterien, die zum Gelingen einer Reise beitragen, vorgestellt. Die Bevölkerung als kulturelle Gemeinschaft wird in allen Formaten hervorgehoben und positiv dargestellt. Es zeigen sich jedoch suggestive Verzerrungen durch werbende Adjektive, Simplifizierungen (bis hin zu Falschaussagen) und asymmetrische Interaktionsaufforderungen. Die Menschen sind nicht reale Personen, sondern Statisten als Teil der Kultur. Dadurch wird ein kulturdominanter Blick bedient, der sich bis zum Kulturimperialismus steigert. Kultur wird überwiegend statisch verstanden, oftmals finden sich historisierende Betrachtungen (und Wertigkeiten), so werden z.B. alte Traditionen als hochwertig klassifiziert. Analog zu den Kriterien für die Auszeichnung »Sehenswürdigkeit« gelten diese ebenfalls als Auszeichnung für Kultur (historisch, selten, besonders usw.) Kultur erhält einen Selbstzweck. Es wird deutlich, dass die Reisekultur vielfach an der Heimat- und Herkunftskultur gemessen wird, d.h. sie ist von eigenen Kulturvorstellungen geprägt, die sich an der Moderne und Urbanität orientiert, des Weiteren wird von der sozialen Mittelschicht ausgegangen. Ambivalenzen werden nicht (oder nur sehr zurückhaltend) thematisiert, Andersartigkeit gilt als Programm, welches nicht erläutert und in den Kontext gestellt wird, sondern als Exotik hervorgehoben wird. Kultur wird normativ vermittelt durch ein implizites Bewerten. Es zeigt sich ein enggeführter und begrenzter Kulturbegriff, der sich inhaltlich auf reiseimmanente Motive beschränkt. Kultur meint dementsprechend nicht die Gesamtheit der Objektivitäten, sondern lediglich eine tourismusorientierte Auswahl.
3.4.1.2
Urlaubskulturen
Gehen die beiden letztgenannten Kriterien der Kulturdarstellung bereits auf die Frage ein, wie in die Kultur eingeführt wird, so möchte ich zunächst die Systematik der Unterscheidung in Reise-, Urlaubskultur und authentischer Kultur fortsetzen.
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Die Adressaten werden im Sinne einer Zielgruppenorientierung in allen Reiseführerformaten deutlich. Urlaubskulturen – als Kulturbeschreibungen, die sich an bestimmten Tätigkeiten (Baden, Wandern, Sightseeing etc.) orientieren – werden spezifisch erläutert. An verschiedenen Stellen werden Versprechen gemacht, so wird im BAEDEKER Marokko explizit formuliert: »Jeder kann hier (Touren durch Marokko, M.T.) sein ganz persönliches Traumziel finden«325 . 3.4.1.2.1 Urlaubskulturen – Marokko Wie nicht anders zu erwarten, orientiert sich die Auswahl und Gliederung des Reiseführerinhalts an der fiktiven Leserschaft. Dies wurde bereits im Kapitel 3.2.2.1 Adressatenorientierung genauer analysiert. Auf den Nutzer bezogen zeigen sich entsprechend orientierte Kulturdarstellungen und Beschreibungen. Neben den Orientierungs- und Hintergrundtexten wird dies besonders deutlich in den Ratgebertexten. Hier erfolgt eine »Auswahl auf der Grundlage von Annahmen über das bestehende oder präsupponierte Handlungswissen der Leser«326 . So lässt sich für den STEFAN LOOSE Reiseführer eine starke Orientierung am Individualtourismus feststellen; mit den immanenten Fragestellungen nach Transportmitteln und -zeiten, der individuell zu organisierenden Reiseroute, der Organisation von Guides vor Ort, der Buchung von Unterkünften und dem Essen und dem Einkauf von notwendigen, alltäglichen Dingen. Kennzeichnend ist, dass immer low budget Informationen gegeben werden, sei es für Unterkünfte, aber auch für Restaurantbesuche; jedoch werden auch andere und exklusivere Reisemöglichkeiten und Unterbringungen vorgestellt. An verschiedenen Stellen äußert sich die Autorin allerdings abgrenzend zu den sogenannten Pauschaltouristen (wobei hier die Massentouristen gemeint sind), den Touristen, die mit der Stranderfahrung Vorlieb nehmen, und denen, die nicht auf den heimischen Standard und Luxus verzichten möchten.327 Auch wird abwertend auf die »Straße der Ameisen« hinge325 BAEDEKER, Marokko; 144. 326 Fandrych; Thurmair, Textsorten im Deutschen; 63. 327 Beispiele hierfür sind: »Hier kann man abseits der großen Trekkingpfade herrliche Touren unternehmen, weit weg von den Menschenmassen in und um Agadir. Denn die allermeisten, die in diese Region reisen, steuern natürlich das Meer an. Agadir (im Original fett hervorgehoben), das Pauschalurlaubsziel und wichtigste touristische Zentrum Marokkos außerhalb von Marrakech, ist der Hotspot für Sonnenhungrige und Badenixen, vor allem aus dem deutschsprachigen Raum.« (S. 488); »Die Hauptattraktion des Tafilalet ist der Erg Chebbi (im Original fett hervorgehoben), das riesige Sanddünengebiet an der Grenze zu Algerien. Hierher zieht es täglich Tausende von Touristen, die das Klischee der Sandwüste erleben wollen. Wer sich etwas mehr Zeit nimmt und tiefer in die Sandberge hinein marschiert, kann unglaubliche Wüstenerlebnisse haben.« (S. 475); »[…] Figuig nicht von Massen überschwemmt wird. Und genau das macht den Ort aus! Hier ist es ruhig, unberührt, […]« (S. 417); Aroumd: »[…] die Infrastruktur ist deutlich weniger entwickelt als in Imlil – entsprechend authentischer ist es.« (S. 187).
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wiesen – Touristenmassen, die standardisierte Routen »absolvieren«: »Aber zum Glück laufen die Gruppen eigentlich immer die gleichen Wege und essen in den gleichen Restaurant und Cafés, sodass man die Oase am Morgen und Abend für sich alleine hat.« (S. 432) Direkt oder auch unterschwellig ist durchgängig eine Leserschaft der »Globetrotter« angesprochen. Diese hat sich aber – wie bereits im Kapitel »Reisen« dargelegt wurde – gesellschaftlich verändert und differenziert. Auch in diesem Segment ist eine Vielfalt erkennbar: Die Marokko-Reisenden, die in Backpacker-Unterkünften einen Joint suchen, in einem teuren Riad unterkommen, mit dem Kamel eine mehrtägige geführte Wüstenerfahrung anstreben und danach in einem Hammam mit anderen (Pauschal-)Touristen entspannen – nicht zu vergessen, dass zwischenzeitlich eine Trekkingtour mit der Unterbringung in Privatunterkünften erfolgte. Eine bevorzugte Reiseaktivität scheint das Trekking zu sein, da hierzu durchgängig – sofern es die Reisedestination hergibt – Informationen mit ganz praktischen Tipps gegeben werden. Landschaften, Reiserouten/Infrastruktur, Leben in der Nähe von bzw. bei Einheimischen (z.B. Hinweise auf private Unterkünfte), Empfehlung für längere Aufenthalte und Zeitangaben, um »angemessen« das Land zu erkunden, sind stets Bestandteil. Jede Übersichtsseite zu einer Region enthält die Information »Wie lange?« mit entsprechenden Antworten: z.B. »Mind. zwei Wochen, besser drei« (S. 423), »Wer alles sehen will, sollte 12 Tage einplanen. Für den Anti-Atlas allein reichen 4-5 Tage.« (S. 525). Als Adressaten des BAEDEKER wird offenbar von einem fachlich versierten Nutzerpublikum ausgegangen.328 Die Informationen setzen Hintergrundwissen in den Bereichen Religion, Architektur und Geschichte voraus. Zudem wird mit Analogien zu anderen Reisedestinationen zur Veranschaulichung gearbeitet.329 Beim BAEDEKER gestaltet sich – u.a. auch durch die alphabetische Gliederung der Reiseziele – die Information und Einführung anders als bei den beiden anderen Formaten. Zwar gibt es an anderer Stelle – kurze – Tourenbeschreibungen, so liegt der Schwerpunkt auf verinseltem Wissen und Hinweisen für eine Urlaubsregion,
328 An einigen Beispielen möchte ich dies verdeutlichen: »Staatsreligion Marokkos ist der Islam der orthodoxen sunnitischen Richtung » (S. 44), Islamisch-arabische Kunst; Architektur: »Da die Araber als Wüsten- und Nomadenvolk keine größeren öffentlichen und privaten Gebäude kannten, ist ihre spätere Baukunst nicht ursprünglich. Erst in der Auseinandersetzung mit den fremden Kulturen, die sie bei ihren Eroberungszügen kennenlernten, schufen sie einen charakteristischen Mischstil. So verschmolzen die Araber die Bauform der griechischen Basilika mit jener der altpersischen Säulenhalle und bedienten sich des von den Westgoten stammenden Hufeisenbogens. Die Apsiden und Kapellnischen der christlichen Vorläuferbauten leben im Mihrab, die Kirchtürme in den Minaretten weiter.« 329 Z.B. auf S. 82 des BAEDEKER: »Mini-Mausoleen, sogenannte Koubbas, gehören zur marokkanischen Landschaft genauso wie Bildstöcke zu Bayern oder Außenkirchlein zu den griechischen Inseln.«
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oder eher noch eine Stadt. Nach einer kurzen Einführung in die Besonderheiten folgen ein geschichtlicher Bezug, die Nennung und Erläuterung von Sehenswertem und einige Hinweise zur Umgebung. Das Stadtbild mit wichtigen Plätzen, Gebäuden und Besonderheiten wird beschrieben. Bildungstheoretisch interessant ist die Begründung des Sehenswerten: Neben der Auszeichnung als UNESCO Weltkulturerbe gelten weitere Bedeutungszumessungen wie Seltenheit, Alter, Anordnung, Irritation im Kontext (= etwas Besonderes) und ein geschichtlicher Bezug. In verobjektivierender Art wird der Leser in die Reisedestination eingeführt und durch die Stadt, die Sehenswürdigkeiten und sehenswerten Objekte geleitet. Eher zurückhaltend geben die Autoren persönliche Vorlieben und Wertungen preis. So entsteht der Eindruck, dass die vorzufindende Kultur rein deskriptiv vorgestellt wird. An eine umfassende Leserschaft richten sich die Darstellungen in MARCOPOLO. Beim Badeurlaub insistiert die Autorin (MARCOPOLO: »Weite Strände am Atlantik, versteckte Buchten am Mittelmeer«330 ), mit einer motivierenden Ansprache, darauf nicht begrenzt zu bleiben. Sie schreibt »Jeder, wirklich jeder, der mehr von Marokko sehen möchte als einen Strand und ein Vier-Sterne-Hotel, wird nach Zentralmarokko reisen. Denn hier liegen sie, die vier großen Königsstädte Marrakesch, Rabat, Meknès und Fès.«331 Die Auswahl der Kulturdarstellungen erfolgt vergleichbar (und normiert) zu den beiden anderen Formaten, jedoch in fragmentarischer Form. Informativ, aber in verknappender Art wird in leicht verständlicher Sprache in etwas eingeführt, was der Reiseführer unter Kultur versteht. Dem Erlebniswert wird an unterschiedlichen Stellen Rechnung getragen: z.B. »Neues entdecken und den Geldbeutel schonen« (S. 8), »Typisch Marokko – Das erleben Sie nur hier« und »Erlebnistouren« (S. 100-111)332 . 3.4.1.2.2 Urlaubskulturen – Iran Die Adressatenorientierung ist inhaltlich zwischen den drei Formaten nicht so deutlich zu unterscheiden. Die Quantität der Ausführungen ist jedoch sehr unterschiedlich – dies ist ja schon dem Umfang der jeweiligen Werke geschuldet. Aber die Auswahl ist miteinander zu vergleichen. Die bevorzugte Reiseform ist 330 Ein weiteres Beispiel: Agadir, »Hier landen und verweilen die meisten Strandtouristen […] kilometerlanger Sandstrand, ein herrliches Hinterland […] eine ausgezeichnete touristische Infrastruktur und nicht zuletzt Sonne, Sonne, Sonne.« (S. 71f.) Aber auch auf die Schattenseite des Tourismus wird hier kritisierend hingewiesen: »Die Küste ist mit Hotels zugepflastert, auf Schildern einiger Restaurants wird auf Deutsch Bier vom Fass und Filterkaffee angeboten.« (S. 72). 331 MARCOPOLO, Marokko; 42. 332 Die Erlebnistouren werden untergliedert in: »Marokko perfekt im Überblick«, »Von Demnate ins ›Tal der Glücklichen‹, »21 Jahrhunderte in Rabat und Salé erkunden« und »Vom Meer in die Wüste«.
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die Rundreise, sei diese organisiert oder – hierauf gehen sowohl der DUMONT als auch der TRESCHER Reiseführer bei den Streckeninformationen, Unterbringungsmöglichkeiten, Hinweisen zu lokalen Guides und den Restaurant-/ Verpflegungshinweisen ein – zunehmend individuell geplant. Insgesamt wird von einer kulturinteressierten Leserschaft ausgegangen333 , bei der landesimmanente Reisemotive (Landschaften, Architektur, Sehenswürdigkeiten) überwiegen. Auf eine Orientierung an Sehenswürdigkeiten wird in Reiseführern hingewiesen, dies besonders für die Vielzahl an UNESCO Weltkulturerbestätten, Regionen werden dadurch erst einen Besuch wert: Information zu den Zagros-Provinzen, »Traktoren und Erntemaschinen waren noch bis vor Kurzem fast so selten wie Sehenswürdigkeiten, die Touristen in nennenswerter Zahl anlocken könnten.«334 Zwar werden auch andere Reisemotive erwähnt, hier primär das Trekking, doch ist das Motiv Baden, Sonne und Strand marginal, dies liegt vordringlich daran, dass im Iran geschlechtergetrennt gebadet und gesonnt wird. So heißt es im DUMONT »Angesichts dieser Umstände finden Europäer für Badeferien sicherlich geeigneter Ziele.« 3.4.1.2.3 Urlaubskulturen – Türkei MARCOPOLO Türkei: Die Adressatenorientierung ist segmentiert von Massentourismus (mit der überwiegenden Anzahl von Strandurlaubern) über Bildungsurlauber, die in der Regel in einer Rundreise das Land erkunden, bis hin zu Individualtouristen, die differenziertere Motive des Reisens aufweisen. Kulturinteressierte finden jedoch in diesem Format lediglich eine Einführung in die Vielschichtigkeit der als sehenswert deklarierten Orte. Es ist auffällig, dass der Tourismus selbst ausführlich thematisiert wird; einerseits problematisiert im Massentourismus, andererseits wird auf sanften Tourismus hingewiesen und auf eine differenzierte Türkeisicht (ausgehend von den in vielen deutschen Köpfen vermuteten »Bildern«) wird hingearbeitet. So heißt es unter »Entdecken Sie die Türkei!« gleich zu Beginn: »Unbemerkt durchläuft die Türkei den größten Wandel gerade in der Reisebranche. Alte Hotels werden fortwährend durch neue, hochmoderne Anlagen ersetzt, daneben treten schicke Boutiquehotels, Residenzen, City-Appartements und Luxusvillen. Weg von All-Inclusive, hin zu gehobenem Individualtourismus heißt das Motto«.335
333
Auf diese Leserschaft wird auch eigens eingegangen, z.B. unter Tourat-E Jam. »Warum Sie ihn (den Ausflug) machen sollten? Bildungsbürgerliche Begründung: Weil […] ein Architekturjuwel […]« MARCOPOLO; 36; »Für kulturhistorisch Interessierte […]« TRESCHER; 398; »Ein Geheimtipp für Architektur- und Landschaftsfreunde […]« TRESCHER, Iran; 363. 334 DUMONT, Iran; 221. 335 MARCOPOLO, Türkei; 13. Im Original farbig: hin zu gehobenem Individualtourismus heißt das Motto.
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Im Reiseführer wird auf vermutete »Bilder im Kopf« eingegangen, Erwartungen werden thematisiert und neue Erfahrungen werden in Aussicht gestellt; so heißt es z.B. unter der Rubrik »Essen & Trinken«: »Mehr als nur Döner und Kebap – ein türkisches Abendessen ist ein Erlebnis für Augen und Gaumen.«336 Auch wird kritisch auf die Tendenzen des Massentourismus in den letzten Jahren/Jahrzehnten hingewiesen: »In den Touristenhochburgen der Mittelmeerküste wurde die traditionelle Küche in der Vergangenheit häufig zu Gunsten internationaler SchnitzelEinheitskost zurückgedrängt.«337 Der MICHAEL MÜLLER Reiseführer Türkei der Autoren Michael Bussmann und Gabriele Tröger richtet sich explizit an Individualreisende und zeichnet sich durch sehr ausführliche und subjektive Informationen aus. In einer eher essayistischen Art werden Informationen präsentiert und ein unterhaltender Schreibstil wechselt mit wissenschaftsorientierter Erläuterung. Wie bei den beiden anderen Formaten werden die UNESCO Weltkultur/ Naturstätten beschrieben, ebenso werden Geheimtipps und »ein Muss« als sehenswert klassifiziert. Von größerem Umfang ist die Erläuterung des Tourismus in der Türkei, hierbei wird unterschieden in internationalen Tourismus und türkischen Binnentourismus. Als dominante Urlaubsreiseform der Leserschaft wird der Individualtourismus angenommen, und hier noch spezieller der abenteuerinteressierte Tourist und Entdeckertyp, der auch mit einer einfacheren touristischen Infrastruktur auskommt. An vielen Stellen werden die Leser durch die Autoren von den sogenannten Massentouristen (oftmals enggeführt auf Sonnenanbeter und All-Inclusive Touristen) abgegrenzt: •
Kritisch angemerkt werden: »Alanya…tummeln sich die Massen« (S. 14); »Das Gros aller Türkeiurlauber bekommt das (gemeint ist die Vielschichtigkeit und Schönheit des Landes, M.T.) gar nicht mit. Es lernt nur einen kleinen Teil […] kennen, manche nur ihre gebuchte Clubanlage« (S. 18); Bodrum, Feriendörfer, Clubanlagen und mit Liegestühlen zugepflasterte Strände (S. 332), durstige Touristen »Die nationalen Promis wollen mit den internationalen »Prollis« nichts zu tun haben.« (S. 340); »die größte Veränderung brachten die Touristen, das einst verschlafene Fischernest ist einer der größten internationalen Rummelorte der Türkei geworden.« (S. 341); Icmeler ist fest in der Hand von britischen, holländischen und russischen Pauschaltouristen […] Viele schaffen es nur bis zum Strand.« (S. 347) »Belek. In ihnen (den Pinien-, Eukalyptus- und Kiefernwäldern) verstecken sich rund 50, teils riesige All-inclusive-Anlagen, darunter die gepflegtesten des Lan-
336 Ebd.; 27 337 Ebd.; 26.
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des. Wer in Belek urlaubt, den erinnern lediglich das abendliche Efes-Bier oder die dazugehörige Folkloreveranstaltung daran, dass es in der Türkei ist. […] Für Individualreisende ist ein Abstecher nach Belek uninteressant.«338 Die Ambivalenz des Tourismus wird deutlich in folgenden Passagen: Nord- und Südägäis: »Dazwischen Ferienorte für jeden Geschmack, von türkisch-authentisch über mondän und teuer bis zu alternativ-gemütlich.«339 ; Mugla: »profitieren so wie kaum eine andere vom Tourismus.«340 und Marmaris: »Klasse trifft Masse oder andersrum: Marmaris ist ein Zentrum des Jachttourismus, aber auch des britischen Pauschaltourismus.«341 Als drittes wird an verschiedenen Stellen die noch vorzufindende Authentizität betont: so z.B. Kiyiköy: »Atmosphäre ist ursprünglich.«342 ; Halbinsel Resadiye: »Viele Ortschaften abseits der Straße sind noch eine Welt für sich, natürlich und ursprünglich.«343 und Kemaliye: Das »in einem grünen Tal gelegene Kleinod (kann man) immer noch als fast unentdecktes Kleinod bezeichnen.«344
Aber nicht nur der internationale Massentourismus wird kritisch bewertet, sondern auch der Binnentourismus wird thematisiert, dies jedoch nicht unter dem Aspekt der Möglichkeit einer Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung, sondern unter dem Aspekt der Warnung vor der Menge. So heißt es z.B. über Dikili: »fest in der Hand türkischer Urlauber«345 ; über Foca: »Überwiegend Türken wissen das halbwegs ruhige Fleckchen abseits des Trubels der international etablierten ägäischen Badeorte zu schätzen.«346 – aber auch eine Koexistenz wird beschrieben, so in Sinop: »Die Strände ziehen in den hier nicht ganz so heißen Sommermonaten vorwiegend türkische Urlauber an. Zu ihnen gesellen sich ein paar wenige ausländische Individualtouristen, denen die Südküste zu voll und zu laut geworden ist.«347 Adressatenorientiert erfolgt die Kulturauswahl. Neben der detaillierten Darstellung klassischer Kulturgüter (die sich ebenso im BAEDEKER und – in knapper Form – im MARCOPOLO finden lassen), werden weitere Bereiche erläutert, so z.B. Wohnformen, Infrastruktur, Religion und Gesellschaft, Politik (dies besonders für 338 339 340 341 342 343 344 345 346 347
MICHAEL MÜLLER, Türkei; 459. Ebd.; 14. Ebd.; 337. Ebd.; 340. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 97. Ebd.; 352. Ebd.; 852. Ebd.; 232. Ebd.; 245. Ebd.; 566.
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die Regionen, die an Syrien und Georgien grenzen), Ethnien werden beschrieben, und es wird detaillierter auf Landschaften und Wegbeschaffenheit und -distanzen eingegangen. Hier vermischen sich dann auch die Funktionen eines Reiseführers mit denen eines Handbuchs und Ratgebers, der durchaus fürsorglichen Charakter hat und zum Gelingen einer Reise beitragen möchte. Auffällig ist – wie auch bereits bei den beiden anderen Formaten kurz angeklungen – dass die Bevölkerung nur rudimentär beschrieben wird. 3.4.1.2.4 Analyseergebnisse Urlaubskulturen Unterschieden werden die Bereiche Individualtourismus, Reisegruppe und Pauschaltourismus, wobei letzterer oftmals falsch mit Massentourismus gleichgesetzt wird. Jener wird im Kontext von Authentizität (als untouristisch, unentdeckt) besonders in den Formaten der Länder Marokko und Türkei dargelegt und kritisch beleuchtet. Des Weiteren werden die Urlaubsaktivitäten unterschieden nach: Sightseeing, Baden, Trekking, Wüstenerlebnis, d.h. hierzu erfolgt die Kulturauswahl, die im Reiseführer dargelegt wird. Für die in den Reiseführern zu findenden Urlaubskulturen lassen sich dabei folgende Kriterien analysieren: •
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In einer feststellbaren Standardisierung der Darlegungen wird dem Anspruch der sachangemessenen Wiedergabe der Ursprungskultur nur zum Teil entsprochen. Für die Subtextsorte Hintergrundtexte ist nachzuweisen, dass dort ein vertiefendes Wissen zu unterschiedlichen kulturellen Aspekten in einer konstatierend-assertierenden Form intendiert ist. So gilt für die Orientierungstexte, dass es sich hierbei um wertende Aussagen handelt, die sich am touristischen Interesse orientieren. Der Rezipient gilt bei der Auswahl und Darstellung als Hauptbezugspunkt, dies wird deutlich in - der Auswahl der Kulturdarstellungen – es findet eine Konfektionierung statt, - in der verwendeten Sprache und - in den durchgängig zu analysierenden Bezügen. Als Kontrast zu (Pauschalund) Massentourismus348 wird der Suche nach Authentizität eine hohe Priorität eingeräumt. Normativ wird gewertet nach einer Zweck- und Zielorientierung; die Beschreibungen sollen zum Gelingen einer Reise beitragen. Die Vorzüge der Urlaubskultur werden herausstellt, ein werbender Charakter ist durchgängig
348 An verschiedenen Stellen werden der Pauschal- und Massentourismus fälschlicherweise synonym gebraucht. Im Kontext wird jedoch ersichtlich, dass es sich hauptsächlich um die Thematisierung der Menge handelt und nicht der Buchungs- bzw. Reiseform.
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kennzeichnend. Dazu wird mit Superlativen, Hyperbel und Klimax gearbeitet, viele positiv konnotierte, schmückende und beschreibende Adjektive finden Verwendung, und es werden meist Begriffe vermieden, die eine Geringschätzung suggerieren. Dies führt soweit, dass Mythologisierungen und Sakralisierungen deutlich werden. Hier wird die These aus dem Kapitel »Sehenswürdigkeiten« erneut bestätigt, dass mit jeder Reise(-vorbereitung und -begleitung) Imaginationen verbunden sind, die dominant die Bewertung einer Reise und auch die Nutzung eines Reiseführers bestimmen. Es wird ein Wissenszuwachs angestrebt, wobei in der Strukturierung touristische Praktiken zum Ausdruck kommen. Gemäß den Kriterien einer Unterrichtung wird nur dem informierenden Teil entsprochen, analysierende oder reflektierende Elemente sind nur vereinzelt erkennbar. Einschränkend bleibt festzuhalten, dass der informierende Teil deutlich persuasive Züge zeigt, grundsätzlich werden positive bis euphorische sprachliche Bewertungen vorgenommen. Eine Kohärenz bildet in allen Urlaubskulturdarstellungen die Präsupposition, dass der Reiseführer einen Beitrag dazu leistet, dass touristische Ziele gefunden und Erwartungen und Hoffnungen bedient werden. In einem konstatierend-wissensbereitstellenden Teil, der ergänzt wird durch narrative Elemente, wird die Wahrnehmung gesteuert. Die Reiseorte erhalten durch zielgruppenspezifische Produktionen ihr Image, es findet eine Konfektionierung statt. Durch eine sprachlich angelegte Kommodifizierung, in der Werbung für die Urlaubsorte und -tätigkeiten gemacht wird, geschieht eine Exotisierung dieser Orte. Dabei wird »das Neue/Unbekannte« stereotypisiert und kontrolliert zur Anschauung und Kenntnis gebracht.
3.4.1.3
Authentische Kultur der Bevölkerungsgruppen des Gastlandes
Das Authentische gilt als erstrebenswert, und so werden Gebiete, Städte, Landschaften als besonders im Sinne von authentisch klassifiziert. MacCannel sieht als Hauptantriebsfeder des touristischen Reisens die Suche des Touristen nach Authentizität.349 Nationale Ursprungsnarrative treffen dabei auf touristische Unterhaltungsangebote.350 Die Suche nach Räumen der Andersheit im Sinne von »Chronotopien« verschiebt sich nach der Suche von Räumen, in denen das Vergangene, das Ursprüngliche gefunden werden kann.351 Dabei können sowohl Gegenstände als auch Menschen authentisch sein. Doch was bedeutet in diesem Kontext »authentisch«? 349 Vgl. MacCannell, The Tourist. 350 Vgl. Groebner, Retroland; 115. 351 Vgl. Girke; Knoll, Drohung und Verheißung; 14.
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Zum einen ist festzustellen, dass »authentisch« ein Konstrukt ist, welches sich auf die Erwartungen der Reisenden bezieht. Oftmals ist damit ein Kontrast zum Selbstbild verbunden.352 Zum zweiten lässt sich in Reiseführern nachweisen, dass »authentisch« oft mit »touristenfrei« assoziiert wird. »Im Wunsch nach dem Authentischen steckt der nach dem unmittelbaren, intensiven ersten Mal, nach dem Angefasst- (und Überwältigt-)Werden durch das Echte.«353 In diesem Zusammenhang muten die Geheimtipps, die an eine umfassende Leserschaft gegeben werden, seltsam an. Hier parodiert sich die Einsamkeit bereits – auch wenn vor Ort der Eindruck vielleicht noch eine Zeitlang überdauern kann, dass der Reisende eine Erfahrung mit Expeditionscharakter machen konnte.354 3.4.1.3.1 Authentische Kultur – Marokko An verschiedenen Stellen wird in allen drei Reiseführern auf authentische Kultur, Tradition und Folklore hingewiesen, sei dies im Bereich der Musik355 , des Tanzes, der Essenszubereitung, der künstlerischen Darstellung oder des Handwerks. Immer wieder wird betont, dass es »unberührte«, oder zumindest noch dem breiten Reisepublikum »verborgene« Stellen in Marokko gibt, diese werden als authentisch beschrieben: • • • •
Meknès: unverfälschtes, marokkanisches Leben356 authentisches Übernachten357 , unverfälschtes Oasenleben358 , »das Restaurant serviert authentische Hausmannskost.«359
352 Vgl. Hüncke, Anna, Die Tourist Bubble des San-Projektes »Treesleeper Camp« in Tsintsabis, Namibia. In: Schnepel, Burkhard; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 217244; 218. 353 Groebner, Retroland; 180. 354 STEFAN LOOSE, Travel Handbuch formuliert: »Eigentlich ist es erstaunlich, dass so wenige Europäer hier Ferien machen. Oualidia ist unter europäischen Touristen immer noch ein Geheimtipp.« (S. 250); »Sefrou gehört zu den schönsten Orten Marokkos. Es ist verwunderlich, dass es hier keine Hotels und kaum Touristen gibt« (S. 335). 355 Im STEFAN LOOSE Travel Handbuch heißt es unter dem Kapitel Musik: »Sie ist ein wesentlicher Ausdruck der marokkanischen Volkskultur, denn Musik dient nicht nur der Unterhaltung, sondern ist oft auch ein Ausdruck der eigenen Identität und der politischen Meinung.« (S. 120) 356 MARCOPOLO, Marokko; 62. 357 Ebd.; 81. 358 Ebd.; 86. 359 BAEDEKER, Marokko; 427.
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»Mit seinen kleinen Pensionen und bescheidenen Hotels ist der Ort noch nicht für den Pauschaltourismus ausgerüstet und somit eine angenehme Station zwischen Tanger und Rabat.«360 »Hier gibt es nicht nur Urlauber, sondern auch ›ganz normale Menschen‹.«361 »Dennoch ist der Souk von Taroudant erfreulich untouristisch«.362 »Es kommen nur sehr wenige Touristen«.363
Es scheint eine Grundannahme zu sein, dass der Tourist Fremdes (Neues und Historisches) erkunden möchte. So kann auch beim Reisen von einem Wettbewerbsgedanken gesprochen werden in dem Sinne, als dass dem heutigen Globetrotter zumindest noch Destinationen bevorstehen, in denen er mit einer der ersten Reisenden/Touristen sein kann. Das Vorfinden einer Authentizität erhält dabei sicherlich eine andere Qualität als in touristisch völlig erschlossenen Gebieten, jedoch bleibt die Paradoxie bestehen, dass sich durch den ersten Touristen jegliche Destination zugleich verändert. Allerdings gibt es für die Möglichkeit der Begegnung hier noch eine besondere Chance, da noch nicht mit verwobenen und interaktiv ausformulierten oder erhobenen Erwartungen und Vorstellungen kommuniziert bzw. in Kontakt getreten wird. Hierauf gehe ich später bei der Darlegung der Durchdringung von Ursprungskultur und Gastgeberkultur differenzierter ein. Des Weiteren ist auch eine Reise in die Vergangenheit gewünscht – Groebner hebt hervor, dass Menschen es schlecht aushalten, dass die Vergangenheit »ein für immer unbetretbares Land ist«364 , das unwiderruflich verschwunden ist, und so kennzeichnet er: »(Wer) das eigene Ich im Früher wiederfinden will, redet ziemlich schnell vom unverwechselbaren Echten, von seinen Wurzeln, seiner Herkunft und seine Identität.«365 Als erstrebenswertes Ziel nennt Brunswig-Ibrahim im STEFAN LOOSE Travel Handbuch den Osten Marokkos. »Die Städte sind – sieht man einmal von Saida ab – nahezu untouristisch und versprühen das typisch marokkanisch-arabischberberische Kleinstadtflair, das es Reisenden so einfach macht, in Kontakt mit der Bevölkerung zu kommen und vollkommen unangestrengt den Alltag vor Ort mitzuerleben.« (S. 394). Die Autorin motiviert den Leser und stellt die Machbarkeit der Kontaktaufnahme und des authentischen Erlebens heraus. Enggeführt wird dieser Kontakt auf das Erlebnis des Besonderen. In diesem Sinne wird die Bevölkerung instrumentalisiert zu touristischen Zielerfüllungen. Die Frage ist: Was beinhaltet ein
360 361 362 363 364 365
Ebd.; 267. STEFAN LOOSE, Marokko; 377. Ebd.; 515. Ebd.; 534. Groebner, Retroland; 190. Ebd.; 187.
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typisch marokkanisch-arabisch-berberisches Kleistadtflair? Hier werden Imaginationen hervorgerufen, indem global vorhandene Bilder psychologisch motiviert auf Erlebnisse hin dargestellt werden in einer Vagheit bis hin zur Illusion. Eine rückwärtsgewandte Sicht wird deutlich in: »Die Bewohner führen hier ein authentisches Leben: mit wenig Strom und viel Subsistenzwirtschaft. Dass die Menschen auf dieser Hochebene ›glücklich‹ sind, hängt mit ihrer Unabhängigkeit vom Regenfeldbau zusammen.« Authentisch wird gleichgesetzt mit traditionell, zugleich erfolgt eine Romantisierung durch die Betonung des einfachen Lebens – abseits vom Fortschritt und der damit verbundenen Erleichterung der Arbeit – mit der Verknüpfung, dass dies glücklich macht. Eine Reduzierung des Alltags auf sozialromantische Vergangenheitsbilder der »unberührten Natur« (etwa wenig Strom) findet statt, zumindest zeigt sich durch die Bewertung aus der Heteroperspektive keine differenzierte Beschreibung der Lebensbedingungen. Authentische Kultur wird (wie eingangs bereits mit den Zitaten gezeigt) kontrastiert zu Tourismus. Damit verbunden ist (in unterschiedlichen Ausführungen) oftmals eine Wertung: Entsprechend heißt es im STEFAN LOOSE Travel Handbuch – »Kein Wunder also, dass dieser Teil Marokkos zusammen mit Marrakech die meisten Touristen anlockt. Das bringt Vor- und Nachteile: Die gute Seite ist, dass es hier eine hervorragende Infrastruktur gibt […] Er schafft nicht nur Arbeitsplätze, sondern sorgt auch für den Erhalt des Lehmbaus.« (S. 424). Ist hier noch von einem positiven Aspekt für die Bevölkerung auszugehen, so zeigt sich in den beiden nachfolgenden Beispielen eine Konservierung von Kultur als traditionelle Inszenierung. Im BAEDEKER steht unter Jemaa El Fna: »Ein Unterhaltungsangebot in dieser Vielfalt konnte sich nur in den Städten und Märkten Südmarokkos entwickeln, weil es sich früher vorwiegend an die Nomaden […] richtete […]. Heute setzen sich die Zuschauer aus Marrakchis, aus Durchreisenden und Touristen zusammen. Wegen des vermehrten Wochenendtourismus treten die meisten Schausteller nur noch freitags, samstags und sonntags auf.« (S. 283f.) Besonders durch den Wochenendtourismus auf der Nachfrageseite wird das Angebot ökonomisiert. Eine weitere Inszenierung zeigt sich in Imilchil – hier findet jährlich ein Hochzeitsmarkt statt. »Während die erste Ehe arrangiert ist, suchen sich die geschiedenen oder verwitweten Frauen hier ihre Ehemänner selbst aus.«366 : »Aufgrund seiner touristischen Vermarktung und des erfreulichen Einflusses der Moderne (hiermit ist die Freiheit der Partnerwahl und die Gleichberechtigung der Geschlechter gemeint, M.T.) ist der Moussem nicht mehr, wie er ursprünglich war. Ein Moussem, als ursprünglich religiös motiviertes Fest zu Ehren eines Heiligen, wird profanisiert. Hierbei zeigt das Autorenteam implizit eine doppelte Wertung: Zum einen
366 BAEDEKER, Marokko; 37.
3. Reiseführer und Bildung
in der Distanz zu arrangierten Ehen (»erfreulicher Einfluss der Moderne«, »zudem erhalten immer mehr Mädchen eine Ausbildung – und so ist es nur eine Frage der Zeit, bis der Heitratsmoussem vollends der Vergangenheit angehören wird«367 ) und zum anderen in der Betonung der Weiterentwicklung eines religiösen Festes zu einem Volksfest (« der Riesenmarkt mit seinen 500 bis 700 Händlerzelten368 , wo sich 12000 Menschen versammeln, lohnt die Reise zum Moussem nach Imilchil«). Tradition wird reduziert auf Vorführungen: Trachtenschau, folkloristische Darbietungen und »ursprüngliche Ait-Haddidou-Hochzeit mit Henna- und Brotzeremonie«369 (205f.). Auch die Bezugnahme auf den »Ursprung«, wie sie hier verwendet wird, zeigt sich des Öfteren ohne dass geklärt würde, was als Ausgangspunkt oder Zeitraum, von dem etwas seinen Anfang nimmt, gemeint sein soll. 3.4.1.3.2 Authentische Kultur – Iran In den Reiseführern Iran wird die Tourismusfrage (und somit die Authentizitätsfrage) nur am Rande gestreift, dies mag auch daran liegen, dass Iran (noch) kein massentouristisches Ziel ist, auch sind selbstbezogene Urlaubsmotive (noch) nicht so dominant. Dies lässt den Schluss zu, dass die Betonung der Authentizität noch nicht wichtig ist, da (fast alles) als authentisch für Reisende gilt. Auf den Zusammenhang zwischen Authentizität und Tourismus wird nur an wenigen Stellen in allen drei Formaten eingegangen, z.B.: MARCOPOLO geht auf vermehrten Tourismus ein unter Kondovan: »Die vielen Touristen, die fotografierend auf den steilen Wegen umhersteigen, kaufen gerne Honig, Kräuter und das heilkräftige Quellwasser des Orts.« (S. 85); »Vakil-Teehaus: Kein Geheimtipp mehr. Aber unter den verfliesten Ziegelgewölben dieses 200 Jahre alten früheren Hammam muss man einfach einen Tee schlürfen« (S. 64) und Bastani: »Wegen hoher Reisegruppen-Frequenz nicht gerade eine Oase der Ruhe« (S. 56). TRESCHER Verlag: An einigen Stellen betont der Autor die Ursprünglichkeit; Taq-e Bostan: »Der Basar hat noch seine Ursprünglichkeit bewahrt.« (S. 418) oder Aq Qala: »der wohl ursprünglichste Markt370 « (S. 299); auch wird hier auf einheimische Touristenziele hingewiesen371 , oftmals mit der Bemerkung, diese bei religiösen Feiertagen oder am Freitag zu meiden. Ein beginnender Massentourismus wird so nur am Rande thematisiert, z.B. unter Kharanaq: »Vor 15 Jahren war der
367 368 369 370 371
Ebd.; 206. Im Original: Riesenmarkt mit seinen 500 bis 700 Händlerzelten. Im Original: Ait-Haddidou-Hochzeit mit Henna- und Brotzeremonie. Im Original: ursprünglichste Markt. So heißt es z.B. im TRESCHER: »Diese Höhle ist ein beliebtes einheimisches Touristenziel« (S. 411) oder »Der zentrale Abschnitt der Kaspi-Küste gilt Millionen hitzegeplagten Hochlandbewohnern als Urlaubsparadies.« DUMONT; 164.
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alte Ortsteil mit seinen fotogenen Lehmbauten noch ein Geheimtipp« (S. 401). Vermehrt finden sich noch sogenannte Geheimtipps – auch wird auf den bevorstehenden zu erwartenden Tourismuszuwachs (wobei hier die Entwicklung der politischen Situation grundlegend ist) hingewiesen, so z.B. für die Provinz Golestan: »Einige dieser Tepes bergen sicherlich noch Überraschungen und könnten nach ihrer Erschließung zu Touristenattraktionen werden wie der Hügel Qaleh Khandan im südwestlichen Stadtgebiet von Gorgan« (S. 294). 3.4.1.3.3 Authentische Kultur – Türkei Auf die Betonung der Authentizität in der Türkei wurde bereits im Zusammenhang mit der Reise- und Urlaubskultur hingewiesen: »Atmosphäre ist ursprünglich.«; Halbinsel Resadiye: »Viele Ortschaften abseits der Straße sind noch eine Welt für sich, natürlich und ursprünglich.« und Kemaliye: »(Das) in einem grünen Tal gelegene Kleinod (kann man) immer noch als fast unentdecktes Kleinod bezeichnen.« Authentizität wird hierbei mit ursprünglich beschrieben, meint jedoch untouristisch. »Natürlich« im Gegensatz zu »kultiviert« wird als besonders herausgestellt, die Bezeichnung »Kleinod« in Verbindung mit »unentdeckt« wertet immanent positiv. Dadurch werden die Aussagen im Kontext einer Reisevorbereitung und -begleitung berichtenswert. Als zu befürworten und erstrebenswert gelten einsame Destinationen, die vielerorts Erwähnung finden, so z.B. am Golf von Gökova: »Der touristisch kaum erschlossene Golf von Gökova ist noch immer einer der schönsten Küstenabschnitte der Türkei.«372 ; das Hatay: »Die südlichste Provinz der Türkei liegt abseits der großen Touristenströme.«373 und Mustafapasa: »Das Bilderbuchdorf lädt auf erholsame-ruhige Tage ein. Allabendlich, nach dem letzten Tourenbus, bleibt in Mustafapasa nichts anderes als ländlich verschlafenes Kappadokien zurück.«374 Mit Superlativen versucht der Autor die Leser zu überzeugen, dass bei diesen Reisedestinationen Wünsche erfüllt werden. Zu fragen ist, was er mit dem Begriff »Bilderbuchdorf« assoziiert. Kann dies beschreibend als prototypisch angenommen werden, so werden kindlich vereinfachte »Bilder im Kopf« bedient, die gute Gefühle assoziieren sollen. Die Exotik wird strukturiert und »portioniert« – reiseimmanente Motive (Bedürfnis nach Ruhe und Entspannung) werden angesprochen. Bei der Formulierung »ländlich verschlafenes Kappadokien« ist eine Überheblichkeit des Autors erkennbar, so wird hier keine Entwicklung erwartet, rückwärtsgewandt werden statisch Bilder von Stillstand und Rückständigkeit (gemessen am Referenzbezug der eigenen westlichen Gesellschaft) produziert. Dies zeugt von einem manifesten kulturimperialistischen Blick, bestenfalls kann von 372 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 334. 373 Ebd.; 528. 374 Ebd.; 764.
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nostalgischer Sicht gesprochen werden, die eine Sehnsucht nach Vergangenheit umfasst. Exkurs: Kolonialismus in europäischen/deutschen Museen: Bevor ich nach der Analyse aller neun Formate zu einer Synopse der Ergebnisse zu authentischer Kultur komme, möchte ich noch einen Exkurs einfügen, der alle drei Reisedestinationen und entsprechend die Reiseführer betrifft: Der »Kolonialismus in europäischen/deutschen Museen«. So wird – ohne kritische Distanz oder offene Kritik – in den Reiseführern über den Verbleib und die Ausstellung ursprünglich türkischer, iranischer und marokkanischer Kulturgüter in Museen berichtet. Im BAEDEKER Türkei heißt es: »Mit Pergamon assoziieren viele Deutsche in erster Linie das gleichnamige Museum in Berlin mit seinem berühmten Exponat, dem Zeusaltar, der im 19. Jh. nach der Entdeckung und Erforschung des antiken Pergamon durch deutsche Archäologen in die damalige Reichshauptstadt gebracht wurde.« (S. 558); TRESCHER Iran: »Bishapur, […] Hauptpalast […], in denen man Bodenmosaike fand, die jetzt im Nationalmuseum in Teheran und im Louvre aufbewahrt werden, z.B. eine Harfe spielende Frau« (S. 515). Auch wenn diese vielfach mit Genehmigung außer Landes gebracht wurden um einer Öffentlichkeit präsentiert zu werden, so bedarf dieser Umstand in der heutigen Zeit zumindest einer kritischen Reflexion in Reiseführern. 3.4.1.3.4 Analyseergebnisse authentische Kultur Authentizität als kulturelles Kriterium zeigt sich ambivalent: • • •
• •
•
Authentizität wird als ein Kennzeichen von Kultur definiert und durchweg positiv bewertet. Authentisch wird oft synonym mit untouristisch gebraucht. Die Autoren gehen davon aus, dass es etwas Typisches im Reiseland gibt, hierbei werden historisierende Bewertungen vorgenommen. Die Reisedestinationen werden rückwärtsgewandt in ihrer Besonderheit dargestellt, eine am westlichen Fortschrittsdenken orientierte Bewertung des Alltags entbehrt der Authentizität. Kultur – als authentische Kultur – wird somit statisch. Mit dieser Historisierung, positiv deklariert als Betonung der Tradition, negativ assoziiert mit (noch) rückständiger Entwicklung, wird ein kolonialer Blick vorbereitet. Eine asymmetrische Wahrnehmung deklassiert die Gegenstände und Menschen auf Folklore, Exotismus und Ursprünglichkeit (im Sinne von Rückständigkeit im Prozess des Fortschrittsdenkens). Hierbei zeigt sich eine Teleologie: Zunächst gilt Kultur (im Sinne von Ursprungskultur) als authentisch, wird sie touristisch erschlossen, verliert sie
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ihre Authentizität. Dabei zeigt sich ein touristisches Paradoxon, so kann der Reisende/Tourist nie authentische Kultur erleben. Gleichzeitig ist auch eine Reise- und Urlaubskultur authentisch im Sinne von unverfälscht und echt. Deutlich wird hier die Ursprungskultur gegen die Reisekultur (und noch mehr gegen die Urlaubskultur) ausgespielt.
3.4.1.4
Touristenkultur
Im Zusammenhang mit dem fluiden Gebrauch des Kriteriums »authentisch« sind die Fragen nach gelebter (oder lebendiger) Tradition/Folklore und touristischer Inszenierung eng verknüpft. Im Zusammenhang mit Tourismus wurden bereits zwei Ebenen unterschieden: die Reisenden und die Bereisten, die Authentizität unterschiedlich interpretieren. Noch weiter differenziert spricht die Tourismusforschung von dem »Vier-Kulturen-Modell«375 und hier vermischen sich die zuvor differenzierte Reise-, Urlaubs- und authentische Kultur. Wie zeigt sich diese Unterscheidung in Reiseführern? 1. Kultur der Quellregion, diese umfasst die kulturellen Elemente, die für die Einwohner des Entsendelandes typisch sind – dies wird normativ deutlich am gewählten Referenzrahmen bei der Beschreibung und Einordnung von Kultur. 2. Kultur der Zielregion, hier werden die kulturellen Elemente der Empfangsregion unterschieden – dies erfolgt orientiert an der Reise- und Urlaubskultur. 3. Touristische Kultur(en) bezeichnen die Wechselwirkungen zwischen den Kulturkreisen der Quell- und Zielregion, die wiederum unterschieden werden in Gästekultur und Gastgeberkultur – dabei zeigt sich deutlich eine Vermischung und Durchdringung von autochthoner Kultur/Ursprungskultur und Reise-/Urlaubskultur; in ihrer Darstellung und Erscheinung steht diese im Spannungsfeld von Authentizität als Ursprünglichkeit und (touristischer) Zurschaustellung. a. die Gästekultur wird auch als »Heimatkultur auf Reisen« betitelt. Dieser Bereich wird ebenfalls oft synonym mit dem Begriff der Touristenkultur verwendet. »Die Gästekultur kann sich ›unterwegs‹ deutlich von den Verhaltensweisen ›zu Hause‹ unterscheiden: Viele wollen im Urlaub ›anders‹ sein und sich anders verhalten. Trotzdem nehmen Touristen ihre Heimatkultur ›mit auf Reisen‹.«376 b. Bei der Gastgeberkultur wird die allgemeine Kultur der Zielregion von den tourismusspezifischen Besonderheiten unterschieden. Der Lebensstil der Einwohner wird gemäß ihrer Gastgeberrolle gesehen, und so gibt es Verschiebungen bei der Sprachanpassung, den Verpflegungsleistungen bis 375 Vgl. Freyer, Tourismus; 490f. 376 Ebd.; 491.
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hin zu Werten und Normen. Diese Gastgeberkultur übernimmt dabei Elemente verschiedener Kulturkreise, es wird von einer Tourifizierung der Zielgebietskultur gesprochen oder auch einer Dienstleistungskultur, dies zeigt sich u.a. in »traditionellen« Tanzaufführungen und der touristischen Inszenierung von besonderen Festtags- und Feierriten. Eine Kommerzialisierung von Kultur, angelehnt an die Bedürfnisse auf der Nachfrageseite, findet statt. 377 Wie schon eingehend gezeigt wurde, wünscht sich der »Reisende […] einzutauchen in die authentische Kultur der bereisten Regionen, aber dieser Wunsch muß scheitern angesichts der Tatsache, daß der Tourismus in Wirklichkeit eine neue Welt produziert.«378 In einer besonderen Form zeigt sich dies in einem neu inszenierten Folklorismus als Konsumfaktor für Reisende. Hier wird deutlich, dass unterschieden werden muss zwischen einer Kultur für Touristen und einer Touristenkultur. Beide Formen stehen in Interdependenz zur Veränderung der »Ursprungskultur« des Gastlandes. Die Beschreibung von Touristenkultur ist orientiert an einer Synopse von Reise- und Urlaubskultur. Von besonderer Relevanz ist hierbei die gewählte Reiseform. Bei einem gruppenreisenden Urlauber gilt es, zwischen den Interaktionen innerhalb der Reisegruppe und den Begegnungen mit »der Fremde/dem Neuen« zu unterscheiden. Gyr formuliert die These, dass massentouristisches Verhalten stark ritualisiert ist. Kennzeichnend sind häufige Rollen- und Rhythmuswechsel.379 Touristische Erlebnisse sind in der Regel geplant und unterliegen einer Auswahl, die in irgendeiner Form geleitet wird, z.B. durch Reiseführer. In Reiseführern wird – wie dargelegt – der Authentizität ein hoher Wert beigemessen, gleichwohl wurde die immanente Schwierigkeit des Auffindens von Authentizität deutlich. Hierauf wird in allen Formaten durchgängig hingewiesen. Verhaltenscodices werden in Gruppen anders übernommen als im sogenannten
377
Zu warnen ist in diesem Zusammenhang vor einer Generalkritik, die sich zwar aus kulturhistorischer Perspektive aufdrängt, aber ein möglicher Effekt kann zumindest eine Wiederbelebung traditioneller Elemente sein, die eine Renaissance erfahren. Kritisch wird in der Tourismusforschung vielerorts angemerkt, dass sich der Tourismus – zumindest was den Massentourismus betrifft – oft in einem Spagat zwischen der Ermöglichung einer touristischen Scheinwelt und dem vermittelten Gefühl einer neuen Form des Kolonialismus für die bereisten Länder befindet. Unabhängig von dieser negativen Konnotation ist es aber auch wichtig, für die Touristenseite anzumerken, dass die gemachten Erfahrungen und Erlebnisse auch rückgebunden werden an die heimische Alltagskultur und diese beeinflussen und verändern. 378 Kramer, Kulturwissenschaftliche Tourismus-Forschung; 13. 379 Vgl. Gyr, Kultur für Touristen und Touristenkultur; 23.
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Individualtourismus. »In der Gegenwart eines ›führenden‹ Reiseleiters und weiterer Mittouristen ist man nicht allein und begreift durch Anweisung oder Imitation rasch, wie man sich beispielsweise beim Betreten einer sakralen Stätte, vor verkrüppelten Kindern und leprösen Bettlern, vor einem wild tanzenden Kopfjägerstamm, vor einem aufdringlichen Schlangenbeschwörer oder bei einer inszenierten Beschneidungszeremonie zu verhalten hat.«380 Anders verhält es sich mit der Normierung des Verhaltens bei Individualreisen, das einer erhöhten oder zumindest anders gearteten Empathie bedarf, bzw. einer Vorbereitung und Wissensaneignung zu Ritualen und gebotenen Verhaltenscodices. Dies wird in Reiseführern besonders deutlich in den Verhaltens»tipps«, den Ratgebertexten und in Teilen auch in den Besichtigungstexten. Gerade die Formate, die sich schwerpunktmäßig an Individualreisende richten, geben hierzu differenzierte Informationen, jedoch – wie bereits gezeigt wurde – enggeführt auf reiseimmanente Motive und nicht (oder zumindest nicht durchgängig381 ) orientiert an einer sachangemessenen Wiedergabe und Kontextualisierung, die Begründungen und Erläuterungen enthält. Durch einen Vergleich von Reiseführerformaten aus unterschiedlichen Jahren/ Jahrzehnten wird deutlich, dass Reiseführer auf den Prozess der gegenseitigen kulturellen Beeinflussung als Folgen der gelebten Touristenkulturen eingehen: Wo Tourismus mit autochthonen, nicht-westlichen Gesellschaften in Kontakt kommt, findet eine Transformation statt, traditionelle Formen wandeln sich und neue Perspektiven verändern Bekanntes und beeinflussen Normen und Werte, was letztlich einen Kulturwandel beinhaltet. Besonders auf das in den letzten beiden Dekaden sich entwickelnde Bedürfnis des Life-Seeing gehen die Reiseführer ein. Das Mitleben (oder vielmehr die Suggestion davon) erlangt Bedeutung: •
Es wird einerseits werbend darauf hingewiesen: »Überall gibt es kleine Dörfer, die unverfälscht und untouristisch sind.«382 , »Hier gibt es keine Attraktionen zu sehen – nur unverfälschtes, marokkanisches Kleinstadtleben.«383 und »›Bei Einheimischen wohnen‹- das bedeutet chez les habitants384 . Es ist ein einmaliges Erlebnis vor allem dann, wenn Sie mit der ganzen Familie unterwegs sind. Denn die Kleinen können so zu den Kindern der marokkanischen Gastfamilien ohne Komplikationen Kontakt aufbauen und beide Seiten ihre kulturell so unterschiedlichen Seiten kennenlernen.«385 »Für Reisende, die das einheimische
380 Ebd.; 30. 381 Eine genaue Qualitätsaussage muss sich an den jeweiligen Formaten orientieren, es sind deutliche Unterschiede bei den Reiseführern erkennbar. 382 MARCOPOLO, Marokko; 81. 383 Ebd.; 99. 384 Im Original: chez les habitants. 385 MARCOPOLO, Marokko; 117.
3. Reiseführer und Bildung
•
Leben näher kennenlernen möchten, werden Privatunterkünfte angeboten«386 . Im BAEDEKER Marokko wird in einem eigenen Abschnitt – Tipps von der BAEDEKER Redaktion/Alltagsbegegnungen – mit der Überschrift »Bei Einheimischen wohnen« auf diese Möglichkeiten des offiziellen Programms »loger chez l›habitant« hingewiesen.387 »Organisiert wird dabei das Verhältnis zwischen der vertrauten Selbstwelt und der als echt, rau und ursprünglich imaginierten Fremdwelt, zur gegenseitigen Steigerung: ich intensiv im Echten.«388 Zum anderen wird auf ein Paradoxon aufmerksam gemacht und es wird gleichzeitig bedient: »Nicht wenige Reiseführer preisen als Ausflugsziel das Dorf Bazm389 […]. In der Tat können Eilige dort im Sommerhalbjahr in einem Tourist Complex die Alltagskultur der in dem Berggebiet heimischen KhamsehNomaden beschnuppern. […] Die Unternehmung hat inzwischen allerdings einen recht synthetischen Charakter, der nicht jedem behagt. Ungleich tiefer prägt sich ein Aufenthalt in einem echten Nomadenlager ins Gedächtnis […]. Bahman Mardanloo […] nimmt Gäste von Shiraz aus mit zu seinen Verwandten und eröffnet dabei […] authentische Einblicke in deren Lebenswelt.«390 Einerseits wird durch die Abgrenzung von Inszenierung u.a. durch das Verb »beschnuppern« als vorsichtig prüfend kennenzulernen versuchend, auf die Alternative von zu erlebender Authentizität hingewiesen. Andererseits impliziert die Aufforderung zum »echten« Aufenthalt (wiederholt) einen touristischen Widerspruch.
Durch die Internationalisierung und Globalisierung bis hin zur Wahrnehmung der »Welt als Dorf« durch massenmedial vermittelte Anteilnahme ist eine spezifische Analyse von kulturveränderndem Tourismus in bereisten Regionen kaum möglich; zu viele Faktoren spielen eine Rolle, die nicht trennscharf analysiert werden können.391 Es bleibt jedoch zu betonen, dass der touristische Faktor eine kulturstiftende und -verändernden Kraft hat. »Hauptthemen der im sozio-kulturellen Bereich diskutierten Problemkreise sind die Auswirkungen auf Kultur, Kunst, Tradition, Sitte, Moral, Sozialstruktur, Umwelt und Politik.«392 Diese als Akkulturation zu bezeichnenden Prozesse sind ein Faktum des weltweiten Tourismus. Ihre Bewertung
386 387 388 389 390 391
TRESCHER, Iran; 559. Vgl. BAEDEKER, Marokko; 42f. Groebner, Retroland; 178. Im Original: Bazm. DUMONT, Iran; 307. So wären hier zum Beispiel die wirtschaftlichen Bezüge, berufliche Mobilitäten und die breite Möglichkeit der Informationsvermittlung und Berichterstattung als weitere wichtige Faktoren zu nennen. 392 Freyer, Tourismus; 487.
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als Problem hängt davon ab, ob eine freiwillige und selbstgewählte Transformation stattfindet, oder im sogenannten Kolonialkolorit diese Prozesse in einer Form, z.B. durch wirtschaftliche Belange, ausgehend von der touristischen Nachfrageseite, erzwungen werden. Zwei Vorstellungen stehen sich hier gegenüber: 1. »Tourismus zerstört traditionelle Lebensformen sowie lang währende soziokulturelle Strukturen und Institutionen. Gastfreundschaft und Solidargemeinschaft wurden durch Profitgier und individuelles Gewinnstreben ersetzt, altehrwürdige Sitten und Moralvorstellungen durch modernen Habitus und westliche Ethik erodiert« und 2. durch »Tourismus (wurde) in vielen Gegenden der Welt die Landflucht aufgehalten oder sogar umgekehrt […]. Vielerorts habe der Tourismus zudem dazu beigetragen, dass örtliches Kunsthandwerk neuen Elan und neue Absatzmärkte findet und dass kulturelle Performanzen unterschiedlichster Art erhalten bleiben oder gar erst kreiert werden.«393 Dadurch ist es möglich, dass alte Gebäude, Plätze, Parks, Altstädte, Märkte, Monumente, Zoologische Gärten und Kulturlandschaften eine Renaissance erleben.394
3.4.1.4.1 Kultur für Touristen Kultur für Touristen umfasst eine metakulturelle Produktion, die sich aus gelebten kulturellen Kontexten bedient »und daraus erfahr- und kaufbare Güter schafft«.395 Deutlich wird an vielen massentouristischen Orten eine Verfremdung und Inszenierung von Kultur als Massenware oder als Einheitswert, der zu einem Wohlfühlfaktor für Massen als Konsumgut für »positive Gefühle« instrumentalisiert bis parodiert wird. Kultur als Ware bedarf im touristischen Kontext der Unmittelbarkeit. »Sie muss sich irgendwie verdinglichen oder materialisieren, muss in eine verkäufliche Form gebracht werden, etwa als Performanz oder Themenpark, Museum oder Speise, Postkarte oder Souvenir, also als etwas, das besucht, fotografiert, begangen, gegessen, bestaunt, genossen, angefasst, geliebt, bezahlt und weggetragen werden kann. Und das, was für diese Möglichkeit der Veräußerung gerahmt, hergestellt und benannt wird, ist immer eine konkrete Abstraktion oder ein diakritisches Zeichen der Kultur als Ganzes.«396 In Reiseführern wird die Kultur für Touristen vorgestellt, dabei wird teils motivierend-werbend darauf hingewiesen. Oftmals ist nichts so modern, wie die Produkte und Dienstleistungen, die als »authentisch« oder »traditionell« deklariert
393 394 395 396
Schnepel, Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus; 6f. Vgl. ebd.; 7. Bendix, Dynamiken der In-Wertsetzung von Kultur(erbe); 49. Schnepel, Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus; 29.
3. Reiseführer und Bildung
werden. Einige Beispiele wurden hierzu bereits erwähnt, folgende möchte ich zur weiteren Verdeutlichung noch ergänzen: MARCOPOLO Marokko: »Bei einem mondänen Dinner in den Restaurants der Medina […] steht Bauchtanz397 als Dessert auf dem Programm.«398 Beim Bauchtanz zeigt sich eine doppelte Performanz: der Bauchtanz wurde in Paris erfunden399 , und im Sinne einer Orientalisierung wurde dieser in den ägyptischen Solotanz integriert und im arabischen Raum verbreitet. In dem aufgeführten Zitat wird er als Beigabe (Dessert) bezeichnet mit der Zweckorientierung Unterhaltung, wobei es sich hier um touristische Unterhaltung handelt und nicht eine Inszenierung von (darstellender) Kunst als Solotanz intendiert ist. Die Beschreibung des Dinners mit dem Adjektiv »mondän« als eine extravagante Eleganz dargestellt, suggeriert Bilder des Orients, die sich assoziativ verbinden mit Verführungstricks, Harem und Freizügigkeit. DUMONT Iran: Hinweis zum Folklore-Abend: »(Ein) Abend als Fenster zu traditionellem Brauchtum und Kultur. […] Touristisch, trotzdem authentisch«400 ; kurdisch-traditionell […]. Hier serviert man zu regionalen Spezialitäten auch gleich Folklore, sprich: Live-Volksmusik und in kurdische Tracht gekleidete Kellner«401 . Es fällt auf, dass (auch hier wieder) touristisch gegen authentisch gestellt wird, wobei authentisch alles sein kann, sofern es »echt« ist, den Tatsachen entsprechend. Implizit wird der Wunsch, Folklore und Brauchtum zu erfahren mit einer touristischen Inszenierung (»in kurdische Tracht gekleidete Kellner«) gleichgesetzt. Dadurch werden kulturelle Praktiken kontextenthoben inszeniert und somit trivialisiert. Deutlich auf die Inszenierung hingewiesen wird an einer Stelle im BAEDEKER Marokko: »Für Touristen ziehen Einheimische noch manchmal das blaue DráaGewandt über und wickeln sich den dunkelblauen langen Schal/Schech oder Litham um den Kopf. Auch die Guedra-Tänze402 , einst am Abend der Markttage beim Lagerfeuer oder in den Nomadenzelten aufgeführt, werden fast nur noch in Hotels, Restaurants und Nachtclubs gezeigt.«403 Handelt es sich bei diesen Beispielen vornehmlich um (für den Tourismus) inszenierte Folklore, so wird im BAEDEKER Türkei eigens auf Ausdrucksformen von Folklore (Volkstänze, traditionelle Sportarten und »türkischer Eulenspiegel«) hin-
397 398 399 400 401 402 403
Im Original: Bauchtanz (und rot). MARCOPOLO, Marokko; 29. Vgl. Pfilsch, Andreas, Mythos Orient. Eine Entdeckungsreise. Freiburg 2003. DUMONT, Iran; 428. Ebd.; 222. Im Original: Guedra-Tänze. BAEDEKER, Marokko; 263.
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gewiesen, die auch heute noch im Alltag gepflegt werden.404 In einem eigenen Kapitel werden diese wissenserweiternd erläutert, hierzu einige Beispiele: •
• •
»Volkstänze. Die türkischen Volkstänze werden noch heute gepflegt. Zu den bekanntesten gehören der nur von Männern in bunten Kostümen getanzte ›Zeybek405 an der ägäischen Küste, der Mut und Tapferkeit ausdrücken soll«. »Traditionelle Sportarten. Nationalsport der Türken ist der ›Yagli Güres‹(ÖlRingkampf)«; »›Türkischer Eulenspiegel‹. Der gern als ›türkischer Eulenspiegel‹ apostrophierte Nasreddin (Nasrettin) Hoca (auch Nasreddin Efendi; um 1208 bis um 1284), ein halblegendärer Volksweiser406 «.
Wie zwiespältig andere Hinweise im Sinne von Eindringen in die Kultur und Erhalt der Kultur zu sehen sind, wird ebenfalls deutlich: »Heute leben hier nur noch eine Handvoll Menschen. Ait Ben Haddou ist zum Museumsdorf geworden. Die Einheimischen führen Besucher und Gäste gegen Trinkgeld durch ihr Haus, damit diese sehen können, wie man früher einmal lebte.«407 Kultur wird hier deutlich als im Prozess befindlich und in der Wertigkeit sich verbessernd von früher zu heute dargestellt; zudem wird eine Beobachterperspektive vorgeschlagen, mit der distanzierenden Vorgabe des Museumsbeispiels, so problematisiert die Autorin dieses Verhalten selbst mit anschließender Rechtfertigung. Sie schreibt: »Das mag auf den ersten Blick bizarr wirken. Doch überlegt man sich, dass dies der einzige Weg für einige Familien ist, im Dorf wohnen bleiben zu können, kann man leichter damit umgehen.«408 Kann dies zum einen ein Dilemma verdeutlichen, so wird doch über die Finanzierung und Unterstützung eine »neue Kolonialisierung« möglich und legitimiert. Dominant ist bei allen Darstellungen von Folklore und Tradition die Herangehensweise, dass das Fremde zum Genussmittel409 wird. Diese Scheinwelt ist dem Touristen bewusst, er weiß darum, zugleich integriert er sich in diese durch Teilnahme und Konsum. Groebner zieht einen Vergleich zwischen den heute vorzufindenden touristischen Inszenierungen und den Darstellungen der Vormoderne und sieht darin Parallelen: Touristische Inszenierungen sind die modernen Äquivalente zu den Schäferidyllen der Vormoderne, in denen Dichter und Theaterautoren das
404 405 406 407 408 409
Vgl. BAEDEKER, Türkei; 68f. Im Original: »Zeybek«. Im Original: halblegendärer Volksweiser. STEFAN LOOSE, Marokko; 196f. STEFAN LOOSE Travel Handbücher DUMONT Reiseverlag Ostfildern 2017; 196f. Vgl. Lutz, Der subjektive Faktor; 249.
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Leben der arbeitenden Landbevölkerung jahrhundertelang in verkitschten erotisierten Stereotypen dargestellt haben – nicht obwohl, sondern weil (Hervorhebung, M.T.) sie sehr genau wussten, dass Bauern und Hirten unter sehr anderen Bedingungen lebten und in ganz anderen Sprachen redeten.«410 Zur Bewertung muss unterschieden werden zwischen einem westlichen Ethnozentrismus, der sich durch seine Voreingenommenheit kulturell überheblich zeigt, jedoch die touristische Attraktivität als Selbstzweck hervorhebt, und einem Romantismus, der bestimmte Kulturen oder deren Inszenierung erhalten will, entgegen deren Bestrebung der Verwestlichung und »Modernisierung«.411 Neben der Folklore sind zwei weitere kulturelle Besonderheiten erwähnenswert: • •
der »Kauf in der Fremde« und die Kulinarik.
3.4.1.4.2 »Kauf in der Fremde« Mit dem Konsum von Waren werden Suggestionen gekauft. • • •
•
»Souk heißt das Zauberwort: Sofort sind die Bilder im Kopf, die Farben, Gerüche, das Gewusel in den vollgestopften Gassen«412 . »Mit kulinarischen Souvenirs aus Marokko können Sie zu Hause […] dem Essen eine exotische Note verleihen und ihre Gäste beeindrucken.«413 »Auch wenn heute manche Märkte oder zumindest einige Bereiche davon wohlgeordnet sind wie ein Kaufhaus und auch Dinge des modernen alltäglichen Gebrauchs anbieten – von Plastiklatschen über Trainingsanzügen bis hin zu industriell produziertem Klimperkram aus Fernost –, so ist doch die Atmosphäre immer noch ein Erlebnis.«414 Auch der Umstand des Erwerbs, sei es durch »normalen« Kauf, Feilschen oder Handeln ist ein Teil dieses Prozesses; »Zum traditionellen Souk-Szenario wie generell zur arabischen Kultur gehört selbstverständlich das Feilschen, was das Zeug hält.«415
Mit dem Kauf wird ein Erlebnis verbunden – orientalische »Bilder im Kopf« werden bedient, Exotik kann exportiert werden, Atmosphäre ist spürbar, und wird zu
410 411 412 413 414 415
Groebner, Retroland; 190. Vgl. Freyer, Tourismus; 489. BAEDEKER, Marokko; 117. MARCOPOLO, Marokko; 31. BAEDEKER, Marokko; 117. Ebd.
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einem Gefühl, und neues Handeln (Feilschen) kann ausprobiert werden. Dadurch werden Waren und Settings stilisiert, der Tourist unterscheidet sich deutlich von Einheimischen, den Waren wird ein touristischer Wert beigemessen – Konsum findet in einer »touristischen Blase« statt. Diese Inszenierung ist dabei nicht verborgen – die Regeln und Imaginationen sind allen Beteiligten bewusst, dies wird deutlich in den Warnungen in Reiseführern: »Vorsicht: Abzocke!«416 , »Tipps fürs Feilschen«417 , »Augen auf beim Einkauf«418 . Auf den Unterschied zwischen Kunsthandwerk und Souvenir wird aufmerksam gemacht, aber auch deren Interdependenz wird deutlich: »Ob Holzkästchen, Silbertabletts, Lederwaren oder Keramikschalen – Marokkos Kunsthandwerk lieferte ursprünglich nur Dinge für den Alltagsgebrauch. Heute sind sie beliebte Souvenirs.« Eine Reduktion von Kunsthandwerk auf Alltagsgegenstände zeigt hierbei eine Normierung und lässt die Frage nach Kunst in Marokko offen, wobei sich folgende Gliederung zeigt: Leder, Textilien, Kupfer und Messing, Holz, Keramik, Schmuck, Teppiche, Fossilien und Mineralien (dies passt nicht in die Thematik, wird aber mit dem Vermerk »Neben Kunsthandwerk werden Fossilien, Mineralien und Halbedelsteine zum Kauf angeboten.« ergänzt). 3.4.1.4.3 Kulinarik Zum Zweiten sind die kulinarischen Kontakte im Gastland ein Moment der Aneignung des Fremden. In vielen Reiseführen gibt es eigene Kapitel zu »Speisen und Getränken« des bereisten Landes, der bereisten Region. Eigene Kapitel zu »Essen und Trinken« sind unterteilt in die Rubriken »Wo isst man?, »Was isst man?« und »Was trinkt man?«419 . Eingeführt wird durch »›Leben kommt aus dem Magen‹, heißt ein türkisches Sprichwort, das deutlich macht, welchen Stellenwert das Essen in der türkischen Kultur und Gesellschaft einnimmt. […] In den großen Touristenzentren gibt es vom Chinarestaurant bis zum bayrischen Biergarten alle erdenklichen Lokalitäten. Bei den türkischen Speiselokalen unterscheidet man in der Hauptsache zwischen Lokanta420 und Restoran421 .«422 Im MICHAEL MÜLLER Türkei gibt es eigene Info-Kästen zu »Stichwort ›Bio‹« und »Die Türkei für Vegetarier‹«. Auffällig ist, dass nicht mit typisch türkischen Loka-
416 417 418 419 420 421 422
BAEDEKER, Türkei; 125. BAEDEKER, Marokko; 124. Ebd. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 4. Im Original: Lokanta. Im Original: Restoran. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 41.
3. Reiseführer und Bildung
len begonnen wird, sondern eine Spannbreite (die eine stereotype Sicht des Autors hervortreten lässt) formuliert wird. Gerade bei der Beschreibung der Kulinarik zeigen sich große Unterschiede in den Reiseführerformaten: Auffordernd wird formuliert: »Geschmacklich können Sie auf eine faszinierende Entdeckungsreise gehen«423 oder auch: »Für Neugierige wird eine Rundfahrt durch die Regionen stets auch zu einer kulinarischen Abenteuertour.«424 Die Möglichkeiten werden deutlich in: »Die Speisekarten der Restaurants unterscheiden sich deutlich voneinander – abhängig davon, wo und wie Sie essen.«425 Gewarnt wird der Leser vor touristischer »Einheitskost«: »Voraussetzung ist allerdings, dass man sich nicht mit Standardgerichten abspeisen lässt. Als Einzelreisender mit beschränktem Budget, aber auch als Gruppe, die sich vorwiegend in Restaurants typischer Touristenhotels verköstigt, ist man nämlich oft mit eher eintönigen Menükarten konfrontiert.«426 Die Perspektive der Bewertung zeigt sich in »Gerichte sind für Mitteleuropäer gut verträglich und selten übermäßig gewürzt.«427 Zuvor wurde für als unbekannt vermutete Speisen geworben: »Geehrt fühlen darf sich, wer auf dem Lande ›Glocken des Glücks‹, gegrillte Hammelhoden, oder Marzipan aus dem Fett von Schafsschwänzen, Helva, serviert bekommt.«428 Auf die zu erwartenden Vorbehalte gegen Schaffleisch wird reagiert mit: »Ansonsten vermag die türkische Küche Feinschmecker aus den westlichen Ländern durchaus zufrieden zu stellen, scheinen doch manche Köstlichkeiten direkt aus der Palastküche zu kommen«429 . Sind die Aussagen zwar kontextuell so angelegt, dass sie auf die Vorzüge hinweisen und den Leser zum Genuss einladen, so wird dennoch ein kulturimperialistischer Blick deutlich in der Teleologie den Gast zufriedenzustellen. Auch durch den Zusatz der Adverbien »ansonsten« und »durchaus« wird auf die vermuteten Zweifel Bezug genommen – hierdurch wird eine negative oder zumindest skeptische Sicht bedient. Es lässt sich feststellen, dass die AutorInnen davon ausgehen, dass die Bereitschaft, sich während des Urlaubs einem anderen Ernährungsstil zu unterwerfen, je nach Reiseform stark variiert. Dies wird deutlich in den Darstellungen der Reiseund Urlaubskulturen, welche sich in den unterschiedlichen Reiseführerformaten und auch je nach Reisedestination unterscheiden.
423 424 425 426 427 428 429
MARCOPOLO, Iran; 26. DUMONT, Iran; 81. MARCOPOLO, Marokko; 28. DUMONT, Iran; 81. BAEDEKER, Türkei; 99. Ebd.; 95. Ebd.
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Ein gemeinsames Kennzeichen ist jedoch der sich in allen Formaten findende Bezug zu Alkoholika. Dies zeigt sich entweder mit dem Hinweis, dass es in Iran keine Möglichkeit zum Alkoholkonsum gibt, in Marokko sehr unterschiedlich mit der Möglichkeit des Alkoholerwerbs und -konsums verfahren wird bis hin zum Anpreisen spezifischer Sorten in der Türkei: »Neben türkischem Bier – das bekannteste im Land ist die Marke Efes – gibt es auch Biere verschiedener mitteleuropäischer Marken, die in der Türkei in Lizenz gebraut werden […]. Unter den Spirituosen […] sind neben dem Anisschnaps Raki einheimischer Kognak, Wodka oder Gin zu nennen.«430 Im MARCOPOLO Türkei heißt es: »Ausländische Weine gibt es nur in exklusiven Lokalen. Dafür sind die einheimischen Marken Doluca oder Kavalidere solide Tischweine.431 Beim Bier empfiehlt sich die Marke Efes432 . Nicht überall wird Alkohol ausgeschenkt, das gilt vor allem für muslimisch-geprägte zentral- und ostanatolische Städte.«433 Ausführlich beschreibt MICHAEL MÜLLER Türkei die Möglichkeiten unter »Was trinkt man?«. Nach einer Erläuterung von Softdrinks, Heißgetränken, Türkischem Mokka folgt der Alkohol. »Beliebt ist v.a. der Raki434 […]. Die Türken trinken ihn mit Eis und Wasser […]. Neben Raki wird auch gerne ein Bier (bira435 ) zum Essen getrunken. […] Türkischer Wein kann hervorragend sein […]. Weinliebhaber können sich also auf Überraschungen gefasst machen, sofern sie entdeckungsfreudig sind und die Gelegenheit zur Kostprobe haben (All-inclusive-Anlagen und leider auch viele Restaurants legen auf eine gute Weinauswahl keinen besonderen Wert).«436 In einem hervorgehobenen Informationskasten437 wird darauf hingewiesen, dass durch die Restriktionen (Werbeverbot, Verkaufs- und Konsumeinschränkungen) die islamisch-konservative AKP versucht, den Alkoholkonsum im Land zu unterbinden. Durch höhere Steuern wird der Konsum zu einem »teuren Trinkspaß«438 . Waren die ersten Zitate aus dem MARCOPOLO deutlich aus einer Heteroperspektive geschrieben, welche die Gästekultur stereotyp als alkoholaffin darstellen mit einer Verbindung, dass es sich hierbei um Weinkenner handelt (mit einer pauschalen Abwertung der türkischen Weine als solide Tischweine), so zeigt sich im MICHAEL MÜLLER ein differenzierteres Bild, das von den Vorlieben der türkischen Bevölkerung berichtet, zunächst objektiv die Auswahl vorstellt und bezüglich
430 431 432 433 434 435 436 437 438
Ebd.; 101. Im Original: Doluca, Kavaklidere, solide Tischweine (fett und rot). Im Original: Efes. MARCOPOLO, Türkei; 29. Im Original: Raki. Im Original: Bira. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 45. Vgl. ebd.; 45. Ebd.; 45.
3. Reiseführer und Bildung
der Weine auf ein vom Autorenteam vermutetes Klischee bei den Lesern korrigierend eingeht, dass die Türkei keine guten Weine habe (Überraschung für Weinliebhaber). Zusammengefasst kann festgehalten werden: Die Frage nach Touristenkultur und Kultur der Touristen (im Kontext der Unterscheidung in Reisekultur, Urlaubskultur und authentische Kultur) zeigt in ihren Varianten eine Wechselwirkung zu den im Reiseführer bedienten Reisemotiven (-erwartungen) und Formen, hier muss von einer großen Interdependenz ausgegangen werden. Die Darstellung bewegt sich dabei im Spagat zwischen der Erzeugung einer touristischen Scheinwelt und dem vermittelten Gefühl eines neuen Kolonialismus.
3.4.2
Wie führen Reiseführer in die Kultur ein?
In den Erläuterungen zu Kulturdarstellungen (Reisekulturen, Urlaubskulturen, authentische Kultur) und der Unterscheidung von Touristenkultur und Kultur von Touristen wurde schon an unterschiedlichen Stellen auf die Didaktik und Methodik – im Sinne von: Wie wird in die Kultur eingeführt? – eingegangen: • • •
Selektion nach tourismusorientierten Motiven, Darstellung gemäß der Spanne der Funktionen: konstatierend-assertierend (vertiefendes Wissen), instruierend bis hin zu persuasiv, Anspruch: Kompaktheit, Übersichtlichkeit, praktische Nutzbarkeit (Gliederung).
Differenzierter beleuchten möchte ich darüber hinaus noch zwei Besonderheiten. Angelehnt an die Zielorientierung bedarf es einer genaueren Analyse des jeweils zur Anwendung kommenden Sprachduktus. Des Weiteren ist für alle Subtexte (Hintergrundtexte, Orientierungstexte, Besichtigungstexte und Ratgebertexte) nachzuweisen, dass sie Analogien herstellen – und dies in einer tourismusspezifischen Form. Neben diesen inhaltlichen und sprachlichen Spezifika müssen weitere Kennzeichen zumindest erwähnt werden: Reiseführer zeichnen sich aus durch ein bestimmtes Layout (äußere und innere Gestaltung), gearbeitet wird durchgängig mit Hervorhebungen (Überschriften, Gliederungen, Kursivdruck, Fettdruck, Buntdruck), es erfolgen Einschübe mit Informationskästen, Bildern, Grafiken, Stadtplänen etc. Hierdurch wird ebenfalls touristische Wahrnehmung gelenkt, Übersichtlichkeit wird hergestellt und es verstärkt sich die praktische Benutzbarkeit.439 439 Es würde den Rahmen dieser Arbeit sprengen, wollte ich diese einzelnen Aspekte analysieren, zumal hier unterschiedliche wissenschaftliche Disziplinen berücksichtigt werden müs-
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
3.4.2.1
Sprachduktus
Es wurde bereits an verschiedenen Stellen deutlich, dass Reiseführer stilistisch eine typische sprachliche Gestaltung haben. Dies gilt besonders für die Subtextsorte »Orientierungstexte«, in etwas abgeschwächter Form auch für die Subtextsorten »Besichtigungstexte« und »Ratgebertexte«. So entsteht »Kohärenz […] durch den Kommunikationszusammenhang, in dem Reiseführer-Subtexte generell stehen: die Beschreibung von touristischen Zielen für praktische (Reise-)Zwecke.«440 Bei den »Ratgebertexten« werden Gemeinsamkeiten mit anderen Gebrauchstexten wie z.B. Anleitungen und Instruktionen deutlich. Bei den »Besichtigungstexten« lässt sich folgendes Spezifikum aufzeigen: Nutzung von Lokal- und Direktionaladverbialen, um eine Perspektivierung zu erreichen. Der Leser wird durch den Raum geführt, hierbei wird das Sequenzierungsmuster »von außen nach innen« deutlich.441 Beispielhaft möchte ich dies an der Beschreibung der Hagia Sophia demonstrieren: Im MICHAEL MÜLLER Türkei wird zunächst das Äußere vorgestellt mit »gedrungener Erscheinung« (mehrmals musste die Kirche wiederaufgebaut und dabei durch zusätzliche klobige Außenpfeiler und Verstärkungen gesichert werden), vier Minarette kamen hinzu, dann folgt der Hinweis: »Für gewöhnlich betritt man die Hagia Sophia auf der Westseite«442 mit einer detaillierten Raumbeschreibung. Durch die Nennung von Himmelsrichtungen und geografischen Fixpunkten erfolgt eine objektive Lagebeschreibung. Eine sprachliche Ökonomisierung wird erreicht durch die Verwendung von Lokaladverbien (hier, da, links, vorne…) und deiktischen Ausdrücken (hier, dort, jetzt, …). Neben den in allen Reiseführerformaten vorzufindenden Spezifika (Selektion, unterschiedliche Funktionen, Anspruch) zeigen sich des Weiteren Unterschiede im Sprachduktus (der auf einen impliziten Bildungsanspruch hinweist). Hierauf möchte ich zumindest beispielhaft eingehen.443 Dabei wird für die textanalytische Untersuchung die Systematik der Sprachwissenschaftler Krieg-Holz und Bülow angewendet. Es geht um die formalen und funktionalen Eigenschaften schriftlicher Texte. »Im Fokus stehen […] die satzübergreifende Analyse sprachlicher Regularitäten und das Ziel, die konstitutiven Merkmale der sprachlichen Einheit ›Text‹ zu bestimmen.«444
440 441 442 443 444
sen (Wahrnehmungspsychologie, Linguistik der Texthervorhebung). Hinweisen möchte ich jedoch darauf, dass besonders die Auswahl und Anordnung der Bilder (Fotos) bildungstheoretisch interessant ist – auch hier zeigen sich Normierungen, Stilisierungen bis hin zu Stereotypenreplizierungen. Fandrych; Thurmair, Textsorten im Deutschen; 56. Vgl. Krieg-Holz, Ulrike; Bülow, Lars, Linguistische Stil- und Textanalyse. Tübingen 2016; 177. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 129. Eine genauere Analyse obliegt hierbei der linguistischen Forschung. Ich beziehe mich auf sprachliche Mittel, um den zugrundeliegenden Bildungsanspruch analysieren zu können. Krieg-Holz; Bülow, Linguistische Stil- und Textanalyse; 3.
3. Reiseführer und Bildung
Differenzierter werden im Folgenden die Formate nach fünf Kriterien analysiert: • •
•
Funktionsstil: Wissenschaftssprache und Alltagssprache, Sprache der Unterweisung und Werbungssprache445 , Wortschatz: zu unterscheiden sind »neutral«, »gehoben« und »abgesenkt«, wobei »abgesenkt« differenziert wird in »umgangssprachlich«, »salopp«, »derb«, »vulgär«446 , »Stilzüge«, die sich inhaltlich »auf die Art der Formulierung, die Beziehung zum Kommunikationspartner (Rezipient, Leser) (und) das Verhältnis zum thematisierten Gegenstand«447 beziehen. Dies geschieht mit folgenden Kriterien: - Redundanzgrad (knapp, weitschweifig) – liegt bei allen Reiseführerformaten eine sprachliche Ökonomisierung vor, so zeigen die einzelnen Formate hierbei Unterschiede, - Komplexitätsgrad (schlicht, kompliziert) – auch hierbei lassen sich Unterschiede nachweisen in den einzelnen Formaten, dies gilt ebenso für die - Stilschicht (gehoben, salopp) und lexikalischen Schichten (archaisierend, fachsprachlich) 448 .
Weitere Untersuchungskriterien zu »Stilzügen«449 – Anschaulichkeitsgrad, Dynamik, Emotionalität, Erkenntniswert der sprachlichen Mittel und Verwendung der Satzformen – wurden bereits in anderen Kontexten analysiert und werden demensprechend hier nur kurz genannt: • •
•
•
445 446 447 448 449
Anschaulichkeitsgrad (bildhaft, abstrakt) – überwiegend lässt sich ein bildhafter Zugang feststellen, Dynamik (variationsreich, monoton) – da in Reiseführen für die Reisedestination geworben wird, dominieren sprachliche Abwechslung und lebendige Schilderungen, Emotionalität (sachbetont, erlebnisbetont, nüchtern) – wie bereits nachgewiesen wurde, sind Hintergrundtexte sachbetont im Vergleich zu Orientierungstexten, die erlebnisbetont formuliert sind, Erkenntniswert der sprachlichen Mittel (wahrheitsgemäß, persuasiv) – hierbei überwiegt deutlich der persuasive Teil, zumal große Teile des Textkorpus der Werbungssprache angelehnt sind,
Vgl. Krieg-Holz; Bülow, Linguistische Stil- und Textanalyse; 85. Vgl. ebd.; 91. Ebd.; 93. Vgl. ebd. Vgl. ebd.; 93.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
•
Verwendung der Satzformen (parataktisch, hypotaktisch), Wortarten (verbal, nominal) und Stilfiguren (figurativ, metaphorisch, personifizierend, allegorisierend)450 .
Marokko: Den BAEDEKER Marokko kennzeichnet ein elaborierter Sprachcode (gehobener und sachbetonter Wortschatz), der sich an eine bereits wissende Klientel richtet. Gleichzeitig unterscheidet sich der Stil von Sachbüchern, da er als Anleitung dient, motivierend aufgebaut ist (erlebnisorientiert) und Tipps und Anregungen integriert. Beim STEFAN LOOSE Travel Handbuch Marokko wird ein neutraler Wortschatz bevorzugt, der schnell lesbar ist, zwar in den Ausführungen eine Progression erkennen lässt, aber zunächst nicht von fundiertem Vorwissen ausgeht. Auch kommt es wiederholt vor, dass umgangssprachliche Redewendungen Verwendung finden451 ; neben einer objektiven Darstellung von Geschichte, Architektur und Landschaft, läuft auf einer zweiten Ebene eine subjektive Ansprache an die Nutzer mit. Der Autorin ist es – so an mehreren Stellen deutlich von ihr formuliert – wichtig, in die Schönheit des Landes einzuführen, Lust auf die Reise zu machen und diese durch praktische Tipps gut zu begleiten. In Teilen sind folglich persönliche Wertungen und Vorlieben erkennbar, diese stehen neben der Deskription von vorzufindendem Sehenswertem. Insgesamt wird eine erlebnisbetonte Emotionalität deutlich, in vielen Passagen sind auffordernde Worte an den Leser gerichtet.452
450 Zu Satzformen, Wortarten und Stilfiguren verweise ich auf die Untersuchung von Fandrych und Thurmair »…sicher eine der schönsten Städte Mexikos: Reiseführer« in: Fandrych; Thurmair, Textsorten im Deutschen; 52-72. 451 Als Beispiele dienen: »Hier gibt es nicht nur Urlauber, sondern auch ›ganz normale Menschen‹.« (S. 376); Bezug Medina in Asilah: »Blitzeblank geputzt ist sie, und auch die Neustadt hat Flair.« (S. 350); »Supergute Restaurants« (S. 350); »tolle Strände« (S. 351); Bezug »Die Rolle der Frau«: »Einer Frau wird von klein auf eingetrichtert ›rein‹ zu bleiben.« (S. 107); »Ganz klar sind Riads und Maisons d´hotes die interessanteste Übernachtungsmöglichkeit in Marokko.« (S. 81); »Klopapier« (S. 49). 452 So schreibt die Autorin: »Ein Aufenthalt im Hohen Atlas gehört für diejenigen, die das Land besser kennenlernen wollen und dabei auf Komfort verzichten können, zu einer Marokkoreise dazu.« (S. 180) und »Am besten lässt man sich durch Azemmour treiben. Natürlich kann man ein Besichtigungsprogramm absolvieren, aber das Schöne an dieser Kleinstadt ist, dass man, egal wohin man läuft, immer neue Entdeckungen macht.« (S. 260)
3. Reiseführer und Bildung
Die Sprache des MARCOPOLO Reiseführers Marokko ist dagegen gekennzeichnet durch einen Telegrammstil453 , daneben zeigen sich subjektive Anreden.454 Der Reiseführer wird dem Anspruch gerecht, dass er an eine umfassende Gruppe Reisender gerichtet ist, es bedarf keines/kaum eines Vorwissens (neutraler Wortschatz), die Informationen sind knapp, gegliedert und werden in leicht verständlicher Form dargeboten.455 Ist die Auswahl zu vergleichen oder zumindest die Priorisierung erkennbar, liegt ein normierter Blick zugrunde, so orientiert sich die sprachliche Umsetzung an der vermuteten Leserschaft und deren Vorlieben, Voraussetzungen und Implikationen (Kaufkraft, Reisezeitvolumen, Interessen, Lebensstilkollektiven). Hierzu ein Beispiel, wie in die Stadt Tanger eingeführt wird: •
•
MARCOPOLO: »Tanger. Ziel von Agenten, Glücksspielern, Drogenbossen – das war Tanger damals, als es vor hundert Jahren als internationale Freihandelszone zwielichtige Gesellen anzog.«456 STEFAN LOOSE: »Tanger. Es gibt kaum eine Stadt in Marokko, um die sich solche Mythen und Geschichten winden wie um Tanger (ca. 975000 Einwohner). Es hat den Ruf, verführerisch und gefährlich zu sein. Jahrzehntelang galt es als Treffpunkt der Reichen und Schönen, der Aussteiger und Schmuggler, der Künstler und Poeten.«457
Ist die Ausführung im ersten Format plakativ und aufsehenerregend, so wählt dieselbe Autorin für das zweite Format eine beschreibende Einleitung. Die Wahrnehmung und Erfahrung von Kultur werden somit unterschiedlich gestaltet, die Vorstellung von Kultur im BAEDEKER legt durch die Versprachlichung einen Hiatus zwischen Alltag und Kultur. Kunsthistorisches und architektonisches Interesse bestimmen die Darstellung von Kultur, wobei auch der Alltag 453 Z.B.: »Sexy Jute. Unbeschwert abschleppen. Keine Sorge, es geht nicht mit Jesuslatschen back tot he Eighties.« (S. 18); »Hohe Kunst für die Straße. Wandtattoos vom Feinsten. Immer mehr marokkanische Städte werden zu Kunsträumen.« (S. 19); »Wie´s damals war, ist heute wieder in. Eco-Adventures. Marokko besinnt sich auf seine Geschichte.« (S. 19); »Sie backen Brot, schnitzen Holzkunst und stellen Tagine her.« (S. 19). 454 »Fahren Sie ins Zentrum Marokkos: Hier treffen Sie auf Städte der Sultane, Strände der Surfer und auf sagenhafte Natur.« (S. 43); »Wenn Sie ganze Tage am Strand vergeuden wollen, sind Sie in Al-Hoceima richtig.« (S. 34); »Schauen Sie sich mal das Bab Assa an, das durch den schönen, mosaikverzierten Brunnen auffällt«. (S. 38). 455 Es ist interessant zu sehen, wie dieselbe Autorin zwei verschiedene Formate bedient – Muriel Brunswig-Ibrahim, MARCOPOLO Marokko und STEFAN LOOSE Marokko. Der Autor des Formates MARCOPOLO Iran ist ebenfalls identisch mit dem Autor des Formates DUMONT Iran (Walter M. Weiss). 456 MARCOPOLO, Marokko; 37. 457 STEFAN LOOSE, Marokko; 355.
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der Bevölkerung als interessant und erkundungswert klassifiziert wird; jedoch gemäß einer Suche nach Alleinstellungsmerkmalen (Authentizität und »Ursprünglichkeit«).458 Schlichter formuliert der STEFAN LOOSE-Führer, an reisebedingte Wünsche und Erwartungen wird angeknüpft, aber auch bei alltäglichen Fragestellungen wird der Leser »an die Hand genommen«.459 Iran: Bei der verwendeten Sprache sind – sich aus der homogeneren Adressatengruppe ergebend – nicht so deutliche Unterschiede bei den Formaten erkennbar. Insgesamt wird in deskriptiver Weise eine Sprache verwendet, die nur geringer Vorkenntnisse bedarf (neutraler Wortschatz), sich dann aber progressiv in der Komplexität steigert, d.h. einmal benutzte Fachbegriffe werden kaum mehr wiederholt, bzw. müssen im Glossar nachgeschlagen werden (dies gilt besonders für das Format TRESCHER). Ausführlich und dem Genre eines Sachbuches (Wissenschaftssprache) entsprechend geht Peter Kerber vor. Deutlichere Impulse und subjektive Begleitungen (erlebnisorientierte Emotionalität) gibt Walter M. Weiss – dies zeigt sich besonders im Format DUMONT. »Warnung: Das Hotel Masuleh an der Ortseinfahrt rechts ist zwar spottbillig, aber miserabel geführt und desolat.«460 Strukturell sind die subjektiven Einschübe angelegt in »Meine Tipps«, dies zu allen gegliederten Reisegebieten: Teheran und Kapsi-Küste, der Norwesten, der Süden, Isfahan und zentrales Hochland und der Nordosten. Türkei: Ähnlich wie bei den Reiseführern zu Marokko variiert auch der Sprachduktus bei den Formaten zur Türkei. Zeichnet sich auch hier der BAEDEKER durch einen gehobenen Wortschatz aus, der einem Sachbuch in Hochsprache angelehnt ist (Wissenschaftssprache), so zeigt der MICHAEL MÜLLER im Gegensatz dazu deutliche Anteile an Alltagssprache/Umgangssprache. Hierzu einige Beispiele: »08/15 458 Ein Beispiel unter der Rubrik BAEDEKER TIPP: Markt von D´ Im-Zouren: »Außergewöhnlich, allerdings nicht wegen seines Angebots, ist der Montagsmarkt von D´ Im-Zouren […]. Zugelassen zu diesem Souk sind nämlich nur Frauen – eine Einfriedung schützt sie vor männlicher Neugier.« (S. 167); »Zum traditionellen Souk-Szenario wie generell zur arabischen Kultur gehört selbstverständlich das Feilschen, was das Zeug hält. Etwa ein Drittel der zuerst genannten Summe ist in der Regel realistisch« (im Original fett hervorgehoben) (S. 117). 459 Z.B.: »Asilah ist ein herrlicher Ferienort, an dem man gern länger bleiben möchte. Es ist sauber, die Menschen sind freundlich und die Medina ist ein Schmuckstück, wie es nur wenige in Marokko gibt. Blitzeblank geputzt ist sie, und auch die Neustadt hat Flair, ganz zu schweigen vom herrlichen großen Strand und dem kleinen malerischen Hafen.« (S. 350); »Kommt man aber erst im September oder geht spätestens Ende Juni wieder, hat man die Stadt mit ihren vielen schönen Plätzen, superguten Restaurants und Cafés fast ganz für sich.« (S. 350); »Ist man an der Kreuzung Rue al Mouassine und Rue Pacha el Glaoui angekommen, befindet man sich schon im Viertel Dar el Bacha. Wenn es eine Ecke im Souk gibt, die wirklich hip ist, dann diese.« (S. 140). 460 DUMONT, Iran; 158. Im Original: Warnung: Das Hotel Masuleh.
3. Reiseführer und Bildung
Orte« (S. 383), »man braucht eine Bombenkondition« (S. 386); »den ›HauptsacheSonne-saufen-und-beides-möglichst-billig‹- Urlauber« (S. 406) und »stolz wie Oskar ist Safranbolu« (S. 588). Durch Vulgarismus und Neologismen wird versucht die Ansprache zu verstärkt, indem eine Alltagssprache genutzt wird. Ein unmittelbarer Bezug zum Leser wird an anderer Stelle durch die Integration von Lesermeinungen und -tipps potenziert.461 Allen drei Formaten ist gemeinsam, dass sie mit schmückenden und beschreibenden Adjektiven arbeiten (bildlicher Anschaulichkeitsgrad). Geschieht dies im MARCOPOLO in der Dynamik eher plakativ und konzentriert, so zeigt sich dies im BAEDEKER und im MICHAEL MÜLLER inhalts- und lehrreich.
3.4.2.2
Darstellungen im Vergleich
Durchgängig ist in allen Reiseführerformaten die Methodik des Vergleichs nachzuweisen. Besonders in den Ausgaben für Iran zeigt sich dabei eine Häufung. Neues Wissen soll an Bekanntes anknüpfen. Zur Veranschaulichung und Strukturierung werden Vergleiche, Bilder und Ähnlichkeiten angegeben. Ob dies eine Erleichterung bedeutet, oder eher ein Verständnis verhindert wird, lässt sich an konkreten Beispielen darlegen. Es lassen sich unterscheiden: Größenanalogien: »Der Iran ist etwa viereinhalb mal größer als Deutschland. Die Strecke zwischen Tabriz im Norden und Chabahar am Persischen Golf beträgt 2500 Kilometer und entspricht der Entfernung von Dänemark bis Sizilien.« (TRESCHER; 23); die Türkei ist elfmal so groß wie Bayern, der Van See ist siebenmal so groß wie der Bodensee, Istanbul ist doppelt so groß wie das Saarland462 . »Sehenswürdigkeitenanalogien« oder auch Architekturanalogien: »Golestan-Palast. […] Willkommen in Versailles, der Hofburg, dem Buckingham Palace der iranischen Monarchie.« (MARCOPOLO; 42); »Qom. […] Eine spezifisch iranische Mischung aus Lourdes, Oxford und Vatikan.« (MARCOPOLO; 67); Ramadanmärkte werden mit Christkindelmärkten verglichen und der Ishak-Pascha-Palast als das Neuschwanstein Anatoliens; »Wie die Peterskirche in Rom oder die Akropolis ist auch Istanbuls Topkapi-Palast ein touristisches Muss.«463 ; »Meknes – Versailles Nordafrikas«464 ,
461 Zum Beispiel heißt es auf S. 175 »…meinen Leser«; »Zwei Anbieter, die von Lesern gelobt wurden.« (S. 745) und abschließend wird auf den Seiten 910f. den Lesern namentlich gedankt, die Tipps und Anregungen gegeben haben. 462 Es lassen sich noch weitere Größenanalogien ergänzen, z.B.: Gigildir, »viertgrößter See (ähnlich groß wie der Bodensee)« (MICHAEL MÜLLER, Türkei; 653). 463 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 138. 464 MARCOPOLO, Marokko; 62.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Naqsh e Rostam als persisches Gegenstück zur Nekropole der ägyptischen Pharaonen465 , Imam Platz: »(Siebenmal) größer als Venedigs legendäre Piazza San Marco, und fast so groß wie Pekings Tian›anmen Platz«466 , die St. Georgs Kathedrale wird bezeichnet als »kleines persisches Rom«467 . Personenanalogien: »Der Paradiesische. Er tat für die Sprache der Iraner, was Luther für das Neuhochdeutsche und Dante für das moderne Italienisch taten«. (MARCOPOLO; 24) »Händlerhäuser. Persiens Ottos und Oetkers und Albrechts waren im 19. Jh. fast alle in Kashan daheim.« (MARCOPOLO; 61). In den Reiseführerformaten Iran werden darüber hinaus erklärende Bezüge zu den iranisch-deutschen Beziehungen erwähnt, so z.B. mit aktuellem Bezug »Seit Februar 2009 besteht ein Städte-Freundschaftsvertag zwischen Shiraz und Weimar.« (TRESCHER; 487) Grundgelegt ist dies in der Beziehung von Hafiz und Goethe. An prominenter Stelle (Zitat auf Bilddoppelseite zu Beginn von »Land und Leute) wird Goethe zitiert (in Verbindung mit Hafis): »Herrlich ist der Orient übers Mittelmeer gedrungen/nur wer Hafis liebt und kennt/weiß was Calderon gesungen. Wer sich selbst und andre kennt/wird auch hier erkennen/Orient und Okzident sind nicht mehr zu trennen. Goethe, West-östlicher Divan« (TRESCHER; 20). Des Weiteren unter »Literatur. Blütezeit der Poesie. »Hafis (im Original fett hervorgehoben) (ca. 1320 – 1390), dem zu Ehren Goethe mit 65 Persisch lernte und den ›West-östlichen Divan‹ schrieb«468 . Gebietsanalogien/Ortsanalogien: Kalkan als »Portofino der Türken«469 , Bodrum als »St. Tropez der Türkei«470 , Vergleich von Ölüdeniz und Südsee471 , Nepal in Anatolien472 , Kalouts: Monument Valley auf iranisch473 . Messerschmieden werden beschrieben als osmanisches Solingen. Inwieweit hier Analogien ein Verständnis erleichtern und vorbereiten, werde ich im Kontext der Möglichkeiten der Begegnung (Interkulturelle Bildung) näher analysieren. An dieser Stelle möchte ich exemplarisch auf fragliche Bezüge und Fehler eingehen: Bei Größenanalogien handelt es sich um quantitative Vergleiche, diese sind neutral. 465 466 467 468 469 470 471 472 473
DUMONT, Iran; 295. Ebd.; 349. TRESCHER, Iran; 226. DUMONT, Iran; 67. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 403. BAEDEKER, Türkei; 3. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 383. Ebd.; 574. MARCOPOLO, Iran; 65.
3. Reiseführer und Bildung
Bei den Personenanalogien zeigen sich Verzerrungen: Hafiz – (Persien)Iran; Luther – Deutschland; Dante – Italien. So werden Vergleiche gezogen, die systematisch nicht schlüssig sind: Hafiz, einer der bekanntesten Dichter Persiens, hat sicherlich die Sprache geprägt – dies jedoch mit der Bedeutung Luthers und seiner sprachprägenden Wirkung auf das Frühneuhochdeutsche zu vergleichen zielt auf wissenschaftliche Gelehrsamkeit ab. Demgegenüber steht die als allgemein zu bezeichnende Kenntnis der Personen Hafiz und Luther. Dies kann zumindest auf der Ebene der Bedeutungsbeimessung (herausragende Persönlichkeiten) als verständniserschließend gelten. Dante in diesem Dreischritt zu erwähnen, der das dominierende Latein durch Italienisch als Literatursprache ablöste, lässt fragen, ob dieser Bezug auf Kenntnisse bei den Rezipienten stößt. Bei den Sehenswürdigkeiten verhält es sich ähnlich, die landesspezifische Bedeutungszumessung variiert – globale Bilder werden simplifizierend in einen Kontext gesetzt (Golestan – Palast – Versailles – Hofburg – Buckingham Palace). Besonders prekär wird es im religiösen Kontext (Peterskirche – Akropolis – Topkape – Palast) – Qom als Stadt des intellektuellen Schiismus zu vergleichen mit einer katholischen Wallfahrtsstätte (Qom-Lourdes), verhindert ein Verständnis für die Bedeutung zu entwickeln.
3.4.3
Reiseführer und (interkulturelle) Bildung
Wie an verschiedenen Stellen bereits durch Zitate aus Reiseführern deutlich wurde, ist ihr selbsternannter Anspruch zu Begegnungen im Reiseland einzuladen. Die Spanne reicht von: »Marokko […] ein Ort der Begegnung und des Dialogs […] Marokko ist ein Land, das man nicht ›auslernen‹ kann.«474 bis hin zu: »Das wirklich Besondere ist jedoch die Unberührtheit und die unglaubliche Gastfreundschaft der Bewohner, die keine Touristenscharen kennen und jeden Fremden offen aufnehmen.«475 Ersteres noch offen werbend, zeigen sich im zweiten Zitat Normierungen (das Besondere liegt in der Unberührtheit und Gastfreundschaft) an touristischen Vorstellungen und Wünschen. Abgrenzend zu Touristenscharen, in Verkennung der eigenen touristischen Rolle, wird die Haltung der Einwohner beschrieben, dass sie »jeden offen aufnehmen« – ist dies positiv gemeint, so zeigt sich eine Überheblichkeit und Vereinfachung. Warum sollten Fremde – und hier alle (»jeden«) – offen aufgenommen werden? Anknüpfend an die Vorbehalte, die besonders im Zusammenhang mit dem Ethnotourismus deutlich wurden, möchte ich auf unterschiedliche Schwierigkeiten und Besonderheiten im Kontext der Ermöglichung von Kontakten und Begegnungen hinweisen. Parallel dazu formuliere ich Aufgaben, die sich gemäß der inter474 STEFAN LOOSE, Marokko; 23. 475 Ebd.; 523,
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kulturellen Bildung daraus ergeben. Wenn ich in diesem Zusammenhang von interkultureller Bildung spreche, so benutze ich den Begriff der interkulturellen Pädagogik als Genrebegriff.476 Zu unterscheiden sind zunächst unterschiedliche, sich qualitativ steigernde Topoi der Annäherung, diese reichen von Wahrnehmung, Kontakt, über Interaktion zu Begegnung und können im Dialog münden (vgl. Kapitel »Reisen kann bilden«).
3.4.3.1
Einseitige Motivation des Kontakts – Aufgabe: Erkennen des eigenen Ethnozentrismus
Erstens handelt es sich bei der Nutzung von Reiseführern um eine einseitige Handlung und Motivation des Reisenden. Ist bei der Nutzung zwar der Leser aktiv und tritt in einen Dialog mit dem Inhalt, so gilt für das Tätigsein des Reisens, dass ihm ein zunächst passiver Part des/der Bereisten gegenübersteht. Dies betrifft nicht die dann im Vollzug wechselseitig stattfindende Beeinflussung im Sinne des VierKulturen-Modells. Der Entschluss zu einer Reise und der Nutzung eines Reiseführers bedarf nicht der Zustimmung der Bereisten. Ziel und Anlass der Auseinandersetzung mit Neuem und Unbekannten in einem Reiseführer und auf Reisen ist u.a. das Kennenlernen und Verstehen von Reisezielen, seien dies Objekte oder Subjekte. Zu fragen ist darüber hinaus, wie das und der Fremde dargestellt werden, dass sie bedeutsam sind. Hiervon hängt ab, ob ein bemächtigendes Verstehen erfolgt. Insofern kann dies reduziert auf der pragmatisch-psychologischen Verhaltensebene des Kulturkontaktes (der vorbereitet wird) stattfinden, mit der Ansammlung von singulären Kenntnissen und der Aneignung von kulturellem Spezialwissen. Dabei können Differenzen, Diskrepanzen und Widersprüche wahrgenommen werden und zu unterschiedlichen Reaktionen führen. Vorrangiges Bildungsziel – aus bildungstheoretischer Perspektive – ist die Fähigkeit, »das, was man in den Kulturen vorfindet, zu bewerten und zugleich Neues zu schaffen.«477 Dabei wird Kultur nicht als Ziel verstanden, sondern als Anlass.
476 Gerade in den letzten Jahren war die Suche nach neuen Formulierungen und Betitelungen immens engagiert. Wurde bereits von einem Abschied vom Begriff ausgegangen, so differenzieren sich die Beschreibungen in Migrationspädagogik, kulturenorientierte Bildung, differenzsensible Pädagogik, kultursensitive Pädagogik, diversitätsbewusste Bildung oder auch Inklusion. Wichtig ist es mir zu betonen, dass ich die Interkulturelle Pädagogik nicht als Sonderweg oder Disziplin der Allgemeinen Pädagogik ansehe, sondern in Anlehnung an Mecheril dahingehend, dass die interkulturelle Dimension als allgemeine und nicht spezifische innerhalb pädagogischer Interkationen betrachtet wird. 477 Ladenthin, Volker, Kultur und nationale Identität – eine Verhältnisbestimmung. In: Ders.; Hasselhoff, Görge K.; Hucklenbroich-Ley, Susanne (Hg.), Interkulturelle Verstrickungen – Kulturen und Religionen im Dialog. (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesell-
3. Reiseführer und Bildung
Voraussetzung dafür ist eine Lehre als Explikation der Kultur, die systematisch, methodisch, bewusst und begründet erfolgt.478 An den Darlegungen in Reiseführern lässt sich zeigen, dass sie wissensbereitstellend bis hin zu stereotypisierend/banalisierend auf einen Kontakt (oder Begegnung) hinweisen, dies reicht von einer Aufforderung zu einer Begegnung auf Augenhöhe bis hin zu kulturimperialistischen Herangehensweisen eines Kontaktes von »Zivilisierten« und »Exoten«. Bei dem Terminus »Exoten« kann dabei rückwirkend auch auf die bisweilen noch vorhandenen Bilder des »edlen Wilden« rekurriert werden. Wichtig – im Sinne der interkulturellen Bildung – ist die Vorbereitung eines Erkennens des eigenen, unvermeidlichen Ethnozentrismus.479 Hierzu gehört, dass eine Annäherung an eine andere Kultur nicht in der reinen Information begrenzt bleibt. Entgegen einer »kontrollierten Exotik« ist Begegnung immer »kultürlich«. Die Annäherung an eine andere Kultur geschieht in einem »inter«, wobei damit nicht nur der Standort – zwischen den Kulturen –, sondern auch der Modus – miteinander bzw. gemeinschaftlich – und die Gerichtetheit der Handlungen – wechselseitig –, umfasst wird.480 Zum einen ist ein Ort als sogenannter »dritter Raum« zwischen den Kulturen gemeint, d.h. als Raum der kulturellen Überschneidungssituation (Thomas), als zweites kann damit ein gemeinschaftlicher Modus verstanden werden, in dem die jeweiligen Sichtfelder vergrößert werden; als drittes umfasst »inter« eine Wechselseitigkeit der Handlung. In einer Gleichrangigkeit und Hierarchielosigkeit wird Reziprozität erfahrbar. Kontakt ist an einen bestimmten Kulturraum gebunden. So wird mit ihr ein Fremdverstehen in der Dimension der kulturellen Differenz und Alterität verbunden.481 Dies – gemeint ist der Modus und die Gerichtetheit bis hin zur Wechselseitigkeit – unterliegt bereits dem pädagogischen Paradoxon. In Reiseführern wird auf den eigenen Referenzrahmen Bezug genommen im Sinne eines »inter«, das zwei Standorte verbindet. Dabei zeigt sich eine Spanne von deskriptiver Darlegung des westeuropäisch orientierten Werteund Normensystems als Bezugsystem bis hin zur arroganten Überheblichkeitsdokumentation im Sinne eines aktuell vorzufindenden Kolonialismus. Ethnozentrismus als die »Eingebundenheit in die Denk- und Wertgrundlagen der eigenen Lebenswelt ist notwendig für eine rasche und routinisierte Orientierung in der Welt und für die Aufrechterhaltung einer alltäglichen Handlungsfä-
478 479 480 481
schaft Bd. 2, hg. von Gerhards, Albert; Hutter, Manfred; Kinzig, Wolfram; Mayer, Tilman; Schmoeckel, Mathias). Würzburg 2006; 203-213; 205. Vgl. ebd.; 205. Vgl. Nieke, Wolfgang, Interkulturelle Erziehung und Bildung. Wertorientierungen im Alltag. Wiesbaden 3. aktualisierte Aufl. 2008; 75f. Vgl. Heiser, Interkulturelles Lernen; 62. Vgl. ebd.; 112.
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higkeit«482 – es kann somit kein Ziel sein, sich von dieser Orientierung zu lösen, dennoch ist erforderlich, ein Bewusstsein darüber zu erlangen (dies bedarf einer kognitiven Leistung zur Veränderung), das Nieke »aufgeklärten Ethnozentrismus« nennt. Der in den Reiseführern vorzufindende Ethnozentrismus wird u.a. in den häufig anzutreffenden Analogiebezügen zur Beschreibung von Neuem und Unbekanntem deutlich. Auf die Grenzen und Verzerrungen bei diesen Analogiebezügen wurde einschränkend schon hingewiesen. Buck nimmt Bezug auf die Analogie als »einführende Verständigung« – auf bestehendes Vorwissen wird aufgebaut und dieses soll somit verständniserschließend wirken. Er unterscheidet verschiedene Typologien von Analogien: die epagogische (ein Verständnis wird überhaupt erst ermöglicht) und die apagogische (hierbei handelt es sich um eine »zusätzliche Fasslichkeitsgarantierende Analogie«483 ). Zudem können quantitative Verhältnisse hergestellt werden. Als weitere Beispiele nennt er Allegorie, Schema und Modell.484 »Die didaktisch wichtigste […] ist diejenige der epagogischen Analogie (im Original kursiv). Ihre generelle Funktionsweise ist identisch mit derjenigen der Beispiele, von denen sie sprachlich oft gar nicht unterschieden wird.«485 Alle Formen finden sich in Reiseführern zur Erläuterung und Erklärung von neuem und fremdem Sehens- und Erlebenswertem. Einschränkend zu den Möglichkeiten von Analogien wird jedoch eingewandt: »Unsere Analogieschlüsse in Bezug auf den Anderen können […] zwar korrekt sein, sie können aber auch das situativ Vorgefundene falsch eingliedern und ihm irreführende, selbstbezüglich-wertende Begriffe zuordnen.«486 Dies gilt sowohl für Subjekte als auch für Objekte und führt zu Verzerrungen, Missverständnissen und Verstehensbrüchen.487 Der Anspruch wäre folglich ein Sich-Einlassen auf andere mit der Bereitschaft einer nicht-essentialistischen Wahrnehmung des Anderen.488 Detailliert geht Heiser der Frage nach, wie Interkulturelles Lernen zu verstehen sei, das sich an einer Vielzahl von Zielen orientiert, entgegen einer Instrumentalisierung, Kompetenzorientierung oder Psychologisierung des Lernbegriffs. So definiert er: »Interkulturelles Lernen ist als leibliches, sozial-responsives, intersubjektives und reziprokes Antwortverhalten zu definieren, dem ein logisch-erkenntnistheoretisches Zusammenwirken von Urteils- und Einbildungskraft zu Grunde liegt und 482 Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung; 77. 483 Buck, Günther, Lernen und Erfahrung – Epagogik. Zum Begriff der didaktischen Induktion. Hg. von Malte Brinkmann. Wiesbaden 2019; 241. 484 Vgl. ebd.; 242f. 485 Ebd.; 241. 486 Heiser, Interkulturelles Lernen; 287. 487 Vgl. ebd. 488 Vgl. Schondelmayer, Anne-Christin, Interkulturelle Kompetenz. In: Gogolin, Ingrid; Georgi, Viola B.; Krüger-Potratz, Marianne; Lengyel, Dorit; Sandfuchs, Uwe (Hg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik. Bad Heilbrunn 2018; 49-53; 52.
3. Reiseführer und Bildung
das menschliche Selbst-, Fremd- und Weltverhältnis, die Urteile, Begriffe und das darauffolgende Handeln tangiert.«489
3.4.3.2
Kontakt als eine Möglichkeit – Aufgabe: gegen Kulturalisierung und Essentialisierung von Differenz
Zweitens ist der Kontakt mit Einheimischen in der Reisedestination nur eine Möglichkeit. Ist zwar ein Aufeinandertreffen mit Dienstleistern (als Vertretern der Bevölkerung) notwendig, so greift hier nicht die Kulturkontaktthese, da es sich um eine eigene kulturelle Ausgestaltung von Gast und Gastgeber handelt, die nicht mehr als authentisch im Sinne von »untouristisch« klassifiziert wird. Wurde auf die Inszenierung von Kultur als Folklore bereits differenziert eingegangen, so möchte ich auf eine Anmerkung in einem Reiseführer aufmerksam machen, welche die Absurdität dieses Prozesses benennt: »Folkloregruppen führen gelangweilt vor großen Gruppen Tänze auf«490 . Ein immaterielles kulturelles Erbe wird interesselos zur Anschauung gebracht, dies ist eine unsinnige Handlung, d.h. sie ist ohne Bedeutung. »Aufgrund des touristischen Einflusses kann eine Situation entstehen, in der sich die Mitglieder einer ethnischen Gruppe zu stark als ›living representatives of an authentic way of life‹ definieren. Dies kann dann dazu führen, dass die Gruppe nicht mehr in der Lage ist, angemessen mit transferierenden Einflüssen umzugehen, weil sie eingefroren in einem Bild von sich selbst verharrt, woraus sich wiederum die Marginalisierung dieser Gruppe ergeben kann.«491 Sensibel und differenziert muss unterschieden werden zwischen verschiedenen Formen des Kontaktes: Einheimischer – Gast, Gastgeber (Dienstleister) – Gast, inszenierte Folklore – Gast. Es geht immer um ein Aufeinandertreffen von Individuen als Träger kultureller Identitäten, die zwar Zuschreibungen beinhalten, die aber weder statisch noch rein gruppenorientiert möglich sind. In Abgrenzung des »Eigenen« zum »Anderen« wird der »Andere« zum »Fremden« gemacht. Mit der Schaffung von polarisierenden Gegensätzen (wir – die) handelt es sich hier um einen »wissenschaftlichen Rassismus, der den Menschen erklärt, warum sie anders sind als andere«.492 Es gilt eine Kulturalisierung der Lebenszusammenhänge zu vermeiden, da dadurch eine Essentialisierung von Differenz entstehen kann, die eine Konstruktion
489 Heiser, Interkulturelles Lernen; 347. 490 STEFAN LOOSE, Marokko; 481. 491 Görlich, Joachim, Wa(h)re Kultur. Das ´Kalam-Kulturfestival` im nördlichen Hochland von Papua-Neuguinea. In: Schnepel, Burkhard; Girke, Felix; Knoll, Eva-Maria (Hg.), Kultur all inclusive. Identität, Tradition und Kulturerbe im Zeitalter des Massentourismus. Bielefeld 2013; 183-215; 211f. 492 Jour Fixe Initiative Berlin (Hg.), Wie wird man fremd? Münster 2001; 7-12; 8.
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und Zuschreibung von verallgemeinerten kulturellen Ausdrucksformen zu Merkmalen und Eigenschaften von Individuen entsprechender Herkunft beinhaltet.493 Nur am Rande sei aber ebenfalls auf die entgegengesetzte Möglichkeit der Gefahr eines Kulturrelativismus hingewiesen. Kultur als Repertoire an Kommunikationsund Repräsentationsmitteln bietet demnach auch eine Orientierungs- und Symbolfunktion. In ihrer innersten Struktur bleibt sie allerdings ein Konstrukt, das heterogen und dynamisch ist. Einige Wissenschaftler verweisen hier auf die »Hybridität« von Kulturen, womit gemeint ist, dass sich verschiedene kulturelle Praktiken neu verbinden und auch wieder auflösen können – gemäß eines Transformationsprozesses, der gleichzeitig durch Beharrlichkeit und Veränderung, Konvention und Innovation gekennzeichnet ist.494 In diesem Zusammenhang muss von Bildung als einer Befähigung gesprochen werden, sich ein sachlich gültiges und sittlich gutes Verhältnis zur Welt, zu den Anderen und zu sich selbst gestalten zu können und zu wollen. Kultur verstanden als diskursive Konstruktion bietet hier den Rahmen, in dem Bildung als Wissen und Haltung, Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft (Ladenthin)495 erfolgt.
3.4.3.3
Auseinandersetzung mit Fremdheit – Aufgabe: Umgehen mit der Befremdung
Drittens wird in Reiseführern auf Unbekanntes und Fremdes hingewiesen, sodass eine Dichotomisierung grundlegend ist. Fremdheit kann zu einem problematischen Begriff werden, sofern diese mit Wertungen und Hierarchisierungen verbunden ist. Fremdheit als Beziehungsmodus verstanden versucht demgegenüber nicht, sich des Anderen verstehend zu bemächtigen. Für die interkulturelle Bildung ist fundamental, dass Fremdes in seiner Fremdheit ausgehalten werden muss. Dies »impliziert die Forderung, dem Phänomen des Fremden eine eigene Dignität zuzusprechen, die außerhalb der eigenen Zugeständnisse liegt.«496 Verstehen geschieht immer kontextuell und erhält bildungstheoretisch den Anspruch eines reflektierenden Fremdverstehens, das die Motivationen des Anderen umfasst. Doch auch das Fremde lässt sich nach Hogrebe in drei Bedeutungen differenzieren: Zum einen wird fremd als lokales oder personales Zugehörigkeitsverhältnis erklärt (Verneinung der Zugehörigkeit), eine zweite Deutung umfasst das Unbekannte und Unvertraute im Sinne einer Verneinung des Wissens; und als dritte
493 Vgl. Gogolin, Ingrid; Krüger-Potratz, Marianne, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Opladen, Farmington Hills 2006; 117. 494 Vgl. ebd.; 133. 495 Vgl. Ladenthin, Volker, Bildung. In: Püttmann, Carsten (Hg.), Bildung. Konzepte und Unterrichtsbeispiele zur Einführung in einen pädagogischen Begriff. (Didacta Nova Bd. 29) Baltmannsweiler 2019; 9-52. 496 Heiser, Interkulturelles Lernen; 114.
3. Reiseführer und Bildung
Variante wird fremd im Kontext einer Normalitätserwartung gewertet als seltsam oder unpassend (Verneinung einer Vertrautheit).497 Beim dritten Fall – der Verneinung von Vertrautheit – unterscheidet er weiter in: »So ist es denkbar, daß mir etwas fremdgeworden ist, daß mir etwas noch fremd ist und schließlich: daß mir etwas nicht mehr fremd ist: In diesem letzten Spezialfall löst sich die Fremdheit auf, hat durch Umgang und Bekanntschaft eine »Ent-fremdung« des Fremden stattgefunden.«498 Auch diese drei Bedeutungsebenen (und Varianten) gilt es im Kontext der interkulturellen Bildung zu unterscheiden. Um welche Form es sich bei der Darstellung in Reiseführern handelt, lässt sich nur an konkreten Textpassagen analysieren. Das Umgehen mit der Befremdung muss vorbereitet werden. Beim Reisen ist zunächst davon auszugehen, dass das Fremde als exotisch eingestuft wird – mit einer positiven Konnotation. Im Alltag (Leben in einer Migrationsgesellschaft) »verunsichert es (das Fremde) jedoch zumeist die eigenen Handlungsgewissheiten, Weltsichten und Wertüberzeugungen, weil es sich auf dieselben Alltagsbereiche richtet wie die eigenen Deutungen und Orientierungen.«499 Ob diese Irritation produktiv ist, zu konstruktiver Auseinandersetzung führt und ein Umlernen möglich ist, Gleichgültigkeit oder eine Abwehr daraus resultieren, hängt maßgeblich von der Grundlegung einer Toleranz ab. Auf ein Negativbeispiel, welches nicht auf Toleranz abzielt, sondern den eigenen Referenzrahmen als Ethnozentrismus, der Unverständnis vergrößert und eine ablehnende Haltung provoziert, gebraucht, möchte ich hinweisen: »[…] eine herbe Enttäuschung jedoch, dass sich Frauen selbst hier zum (Sonnen) Baden in strikt sichtgeschützte Zonen zurückziehen müssen.«500 Auch der Begriff der Toleranz kann Machtasymmetrien begünstigen. Im Sinne eines Duldens und Gewährenlassens von anderen Vorstellungen, erhebt sich kognitiv der eine über den anderen, die eine über die andere Gruppe; ob daraus eine Anerkennung der Gleichberechtigung entsteht, ist fraglich. Vielmehr ist der Toleranzbegriff im Sinne Jaspers zielführend, er sagt: »Toleranz kennt Maßstäbe, nur keine endgültigen, ist als positiver Vollzug der Anerkennung selbst in Bewegung, sich irrend und treffend, immer noch zu erwerben. Als Haltung ist sie die Bereitschaft zur Positivität, nie Gleichgültigkeit.«501 In Reiseführern wird durchgängig für das Reiseland geworben, die positiven Seiten, das Sehenswerte, Besondere – das, was die Erwartungen erfüllen soll, wird hervorgehoben: So heißt es
497 Vgl. Hogrebe, Wolfram, Die epistemische Bedeutung des Fremden. In: Wierlacher, Alois (Hg.), Kulturthema Fremdheit. Leitbegriffe und Problemfelder kultur-wissenschaftlicher Fremdheitsforschung. München 1993; 358-372; 358. 498 Ebd.; 359. 499 Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung; 77. 500 MARCOPOLO, Iran; 92. 501 Jaspers, Karl, Philosophie – Existenzerhellung. Bd. 2. Berlin 4. Aufl. 1973; 440f.
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im BAEDEKER Marokko: »Marokko zeigt zwischen Ozean und Wüste eine unbeschreiblich farbenfrohe Vielfalt. Man kann in den Königsstädten die interessante Geschichte des Landes kennenlernen, während einer Kamelsafari in das warme Goldgelb der Sahara eintauchen und die grünen Täler des Hohen Atlas erwandern. Legendär sind zudem die orientalische Gastfreundschaft und Offenheit der Marokkaner.« (S. 2) Der motivierende und auffordernde Charakter wird deutlich z.B. im STEFAN LOOSE Marokko im Zusammenhang der Hinweise für einen Einkauf: »Schöner ist es tatsächlich, sich auf ein Handelsgespräch einzulassen. Denn nirgends kann man so schnell und auf so nette Art und Weise Menschen kennenlernen wie hier. Bei einem Glas Tee kann man viel über die Kultur des Gastlandes erfahren und den ein oder anderen guten Kontakt gewinnen.« (S. 38). So kann bei diesem motivierenden Vorgehen der Blick gelenkt werden; grundlegend ist für den Vollzug des Reisens eine Neugierde und ein Wissen-Wollen; dies öffnet hin auf Begegnungen, und hier zeigt sich ferner, ob der Reisende eine tolerante Haltung zeigt, besonders dann, wenn Widersprüchliches präsent ist und Erwartungen enttäuscht werden. Ob bei auftretenden Inkongruenzen ein interkultureller Lernprozess in Gang kommt, hängt von der Haltung der Toleranz und des Grades der Neugierde und des Wissen-Wollens ab. Im Reiseführer kann lediglich eine Kultivierung der Fremdwahrnehmung angestrebt werden, die propädeutisch in »das Fremde« einführt und zur Auseinandersetzung einlädt. Bei der Herausstellung des Besonderen einer Kultur kann es schnell zu Ethnizismus kommen, d.h. dass kulturelle Elemente eingeengt werden. Es kann sein, dass eine bereits nicht mehr gelebte Kultur reanimiert wird oder gelebte Kultur auf Folklore reduziert wird, d.h. in Kulturdarstellungen inszeniert wird, die nicht mehr im Alltag der Menschen verwoben sind. Hierauf wurde schon an verschiedenen Stellen Bezug genommen.502 So kann es dazu kommen, dass eine »synthetische Vorstellung von Nationalkultur als für die Lebenswelt […] relevant unterstellt wird.«503 Dies ist ein Muster, das in vielen Reiseführerformaten sichtbar ist; teilweise wird auf die Diskrepanz von Alltag und Folklore hingewiesen, aber auch Synonymisierungen finden statt.
3.4.3.4
Bekanntschaft auf Zeit – Aufgabe: gegen Diskriminierung das Fremde aushalten
Viertens erfolgt eine Reise immer nur auf Zeit, d.h. dass die Auseinandersetzung mit dem Neuen und Fremden immer auch deren Ende mitdenkt. Es geht also nicht um das Aushandeln von Lebensentwürfen, um ein gemeinsames Miteinanderleben zu gewährleisten, sondern die zeitliche Befristung ist hierbei eine deutliche Grenze. So kann es sein, dass die Modi des Fremden (Verneinung der Zugehörigkeit, 502 Z.B. im Kapitel 3.4.1.4. Touristenkultur. 503 Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung; 83.
3. Reiseführer und Bildung
des Wissens und einer Vertrautheit) zwar wahrgenommen werden, die Situationen aber nicht als bedeutungsvoll und aporetisch bewertet werden. »Lernen im vollen Sinne tun wir dann, wenn uns die neue Erfahrung dazu nötigt, unser Vorwissen zu korrigieren, bzw. unsere Wahrnehmungsmuster zu modifizieren.«504 Bernhard Waldenfels spricht davon, dass wir auf die Dinge, die uns umgeben, zwar reagieren, wir aber die Freiheit haben, unsere Antworten zu gestalten.505 Dies ist entscheidend abhängig vom Wissen-Wollen (Neugierde), von den auftretenden Fragen und Interessen, die sich aus der Situation ergeben: Handelt es sich um ein Konsumieren (von Exotismus) oder die Erfahrung eines Bruchs mit Gewohntem und Vertrautem, Gewusstem und Bewertetem, also eines Empfänglichund Ergriffen-Seins dahingehend, »dass etwas am Selbst-, Welt-, und Fremdverständnis rüttelt und dass Gewohnheiten des Denkens und Wahrnehmens aus den Fugen geraten«506 ? Demgegenüber kann von einer Parallelität der Welten gesprochen werden. Es geht nicht um Epoché, Polylog, gegenseitige Horizonterhellung oder Assimilation/Akkulturation, sondern um ein zeitlich begrenztes Erlebnis in einer unbekannten Destination. Inwieweit dieses Erlebnis als Erfahrung bildsam werden kann, ist zu fragen. Die Qualität der Auseinandersetzung kann von einem intoleranten Hinnehmen mit Abwehrhaltung bis zu einer Dialektik des Selbst- und Fremdverstehens als Ausgangspunkt eines Umlernens (Buck) reichen. Besonders für die Negativkonnotation der Intoleranz und Abwehrhaltung, die sich steigern kann in Rassismus, wird vertiefend die Nutzung von Ordnungsmustern analysiert. Speziell in Reiseführern wird mit Ordnungsmustern gearbeitet, neue Erfahrungen sollen an bereits gemachte Erfahrungen anknüpfen können. Mit der Heterogenität verbunden sind dabei normativ-moralische Setzungen. Hierbei können Kollektivzuordnungen vorgenommen werden. Durch diese Simplifizierung erfolgt eine Generalisierung, die auch als Übergeneralisierung bezeichnet wird.507 Am deutlichsten enggeführt werden Ordnungsmuster in Stereotypen, die völlig reduziert »Bilder im Kopf« bedienen, auch hierzu lassen sich in Reiseführerformaten Beispiele finden, etwa »Türken grillen im Schatten Lammkoteletts, Engländer in der Sonne sich selbst.«508 Dirim und Mecheril sprechen hier von Differenzordnungen, die zu Diskriminierung führen können. Verschiedene Kategorien können zunächst in einen Grunddualismus strukturiert werden, z.B. Geschlecht in männlich – weiblich;
504 Heiser, Interkulturelles Lernen; 167. 505 Vgl. Waldenfels, Bernhard, Grundmotive einer Phänomenologie des Fremden. Frankfurt a.M. 6. Aufl. 2018; 56-67. 506 Meyer-Drawe, Diskurse des Lernens; 200. 507 Nieke, Interkulturelle Erziehung und Bildung; 9. 508 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 388.
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Rasse/Hautfarbe in weiß – schwarz; Ethnizität in dominante Gruppen – ethnische Minderheit(en); Kultur in zivilisiert – unzivilisiert und gesellschaftlicher Entwicklungsstand in modern – traditionell (fortschrittlich – rückständig; entwickelt – nicht entwickelt).509 Durch sprachliche Strukturen werden Wahrnehmungen präformiert, dies kann zu mannigfachen Diskriminierungen führen, und so können gesellschaftlich etablierte Differenzordnungen verfestigt werden.510 Die Gefahr besteht, dass ethnische Vorurteile in der Beschreibung bedient werden. Mit einem ethnischen Vorurteil ist eine Antipathie verbunden, »die sich auf eine fehlerhafte und starre Verallgemeinerung gründet, die ausgedrückt, oder auch nur gefühlt wird. Sie kann sich gegen eine Gruppe als Ganze richten oder gegen ein Individuum, weil es Mitglied einer solchen Gruppe ist.«511 Kulturrassismus lässt sich in unterschiedlichen Formen feststellen; ein Beispiel ist ein antimuslimischer Rassismus, der sich in einer »Rassifizierung von Musliminnen« (Shooman) zeigt. Mit der bedeckten, gleich kopftuchtragenden Frau, werden Unterdrückung und Patriarchat verbunden. Unbeachtet bleibt, dass es die Gruppe der Musliminnen gar nicht gibt. Das als Ableism formulierte Prinzip besagt, dass die Einzelnen als Stellvertreter angesehen werden »für die Kategorie, an der sie gemessen werden. Sie werden beurteilt mit dem ›Wissen‹, das über ›ihresgleichen‹ in der Welt ist.«512 Verschiedene Merkmale von Rassismus lassen sich dabei unterscheiden: Othering/ Besonderung; personenbezogene Außen-Innen-Imaginationen; deterministische Zuordnungen (Rasse, Kultur) und Wertungsprozesse (Minderwertigkeit, Bedrohung).513 Daraus können dann soziale Diskriminierung, Praktiken der Herabsetzung, Benachteiligung und Ausgrenzung entstehen.514 Für alle hier analysierten Reiseführerformate gilt, dass sie von eigenen Kulturvorstellungen geprägt sind, die sich an der Moderne und Urbanität orientieren; des Weiteren wird von der sozialen Mittelschicht ausgegangen. Dies entspricht der Analyse der FUR515 , dass eine höhere Urlaubsreiseintensität in den oberen sozialen Schichten und den eher auf Neuorientierung setzenden Milieus festzustellen ist. Ist mit jeder Wahrnehmung zugleich eine Einordnung und Wertung verbunden, so
509 Vgl. Dirim, Inci; Mecheril, Paul u.a., Heterogenität, Sprache(n) und Bildung. Eine differenzund diskriminierungstheoretische Einführung. Bad Heilbrunn 2018; 40. 510 Vgl. ebd.; 10. 511 Hormel, Ulrike, Rassismus und Diskriminierung. In: Gogolin, Ingrid; Georgi, Viola B.; KrügerPotratz, Marianne; Lengyel, Dorit; Sandfuchs, Uwe (Hg.), Handbuch Interkulturelle Pädagogik. Bad Heilbrunn 2018; 81-87; 82. 512 Dirim; Mecheril u.a., Heterogenität, Sprache(n) und Bildung; 41. 513 Vgl. Leiprecht, Rudolf, Rassismus. In: Mecheril, Paul (Hg.), Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim, Basel 2016; 226-242; 227. 514 Vgl. Gomolla, Mechthild, Diskriminierung. In: Mecheril, Paul (Hg.), Handbuch Migrationspädagogik. Weinheim, Basel 2016; 73-89; 73. 515 Forschungsgemeinschaft Urlaub und Reisen e.V.
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ist der Grad zur moralisch-normativen Abwertung recht schmal. Buck formuliert: »Jede Kenntnisnahme – und das heißt, jede aktuale Einzel-Erfahrung – geschieht von einem Vorverständnis her. Nur weil die Erfahrung an jedem Punkt ihres Ganges prinzipiell über jede einzelne Kenntnisnahme bzw. über den Gesamtbestand aktueller Kenntnisnahmen hinausgreift, diese transzendiert, kann sie überhaupt einzelnes Kennenlernen und von da aus weiter zu umfassenden Erfahrungen fortschreiten, d.h. einen Gang haben.«516 Ob also – ausgehend von einer Kontrasterfahrung – ein negatives Lernen als Umstrukturierung unseres Vorwissens (Umlernen) in Gang gesetzt wird, hängt u.a. von der Bereitschaft der Individuen ab. Ein Verharren in Verständnislosigkeit, Abwertung und Diskriminierung sind ebenso möglich. Auch können solche enggeführten und deutlich normativ negativen Setzungen in Reiseführern vorgefunden werden, hierzu einige Beispiele: »Konya; Trotz aller oder gerade wegen der strengen Sitten zeigt sich die männliche Bevölkerung überaus interessiert an allein reisenden, westlichen Touristinnen.«517 Das hierdurch bediente Geschlechterbild ist etikettierend (Machos in der Türkei), die Begründung wird direkt mitgeliefert (durch die strengen Sitten), sodass dieses Verhalten des »Überaus-interessiert-Seins« als logische Konsequenz erscheint (in Verkennung der Individualität und Freiheit der Person). Bezugnehmend auf die urbanitäre Sicht der Reisenden heißt es abgrenzend: Tarsus »kleinstädtisch-hinterwäldlerisch«518 – wobei »hinterwäldlerisch« spöttisch die Rückständigkeit und Ungebildetheit betont. »Die Provinzen Gilan und Mazanderan oben am großen Wasser wurden spät islamisiert. Ihre Bewohner ticken bis heute merklich eigenwillig, weltlicher, mehr nach Russland orientiert.«519 – hierdurch wird immanent diesen der Vorzug eingeräumt (eigenwillig im Kontrast zu »konform«); Stereotype (kein Umweltbewusstsein, Türken lieben schnelle Fortbewegung und zeigen sich extrovertiert im Straßenverkehr) werden bedient: »Die Coladose oder Plastikflasche aus dem Auto zu werfen, ist leider gang und gäbe.«520 . »Denn so kämpferisch und stolz, wie die Türken einst auf ihren Steppenpferden bis nach Wien jagten, so selbstbewusst geben sich ihre Ur-Ur-Ur-Enkel heute im Straßenverkehr. Nur der Kampfschrei wird durch eine Hupe ersetzt.«521 . Auch eine deutliche Betonung hat diskriminierende Elemente, da diese Positivkonnotation als erwähnenswert gilt: »Viele Dersimer sind mehrsprachig, der Bil-
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Buck, Lernen und Erfahrung; 62f. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 663. Ebd.; 512. MARCOPOLO, Iran; 32. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 23. Ebd.; 27.
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dungsstandard ist hoch, die gesellschaftliche Atmosphäre durch und durch angenehm.«522 Dichotomisierungen werden als Abgrenzung gewählt – dies bewertend und abwertend in beide Richtungen. So heißt es unter Hos Yeldiniz Türkiyeýe: Man werde gebildete Menschen treffen, aber auch Menschen, »die genau dieses liberale Leben ihrer Landsmänner und -frauen als dekadent, unmoralisch, und bis auf die Knochen verderbt ansehen.«523 Die Urlauber werden ebenfalls in ihrer »Beschränktheit« thematisiert: Die türkische Küche besitzt ein Niveau, »das sich mit den besten Cuisines der Welt messen kann – zur Verwunderung jener, die bislang nur den Döner Kebab524 mit der Türkei in Verbindung bringen können.«525 ; Iran, Kaspi-Küste: »Europäische Gäste hingegen reagieren meist enttäuscht angesichts der Zersiedelung und über weite Strecken wenig gepflegten Infrastruktur.«526 . Auch werden Touristen deutlich klassifiziert: Im Kontext der »Blauen Reise« wird auf Touristen als Mitreisende verwiesen, die als Spießer oder Kiffer bezeichnet werden527 , oder auch als Reisende mit einer »Geiz-ist-geil-Mentalität«528 . Eine Engführung des touristischen Blicks wird deutlich in: »Hierher reist, wer das Klischee Marokkos sucht.«529 Die Thematisierung von Frauen als gesellschaftlich etablierter Differenzgröße lässt sich zeigen als eine Variante des Agenda-Setting. Dies wurde als Stereotypenfeld bereits bei der Rassifizierung von Musliminnen deutlich. Weitere Beispiele lassen sind in allen Reiseführern zu allen drei Reisedestinationen finden, so z.B. zu Iran: »unsichtbare Frauen«530 und zur Türkei: »KAMER – Frauen für Frauen«; »engagiert sich bei häuslicher Gewalt, Ehrenmorden und kämpft gegen die Rechtlosigkeit der Frauen«531 . Im STEFAN LOOSE steht für das Land Marokko: »Denn obwohl sich die Unterdrückung der Frau durch den Koran in keinster Weise legitimieren lässt, so sind doch die meisten arabischen oder muslimischen Länder
522 523 524 525 526 527
Ebd.; 853. Ebd.; 18. Im Original: Döner Kebab. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 40. MARCOPOLO, Iran; 41 So heißt es zur Buchung eines Törns mit anderen unbekannten Reiseteilnehmern als Warnung: »Denn den engen Raum mit Spießern oder Kiffern zu teilen, kann je nach Einstellung die Freude ins Gegenteil kehren. Daher empfiehlt es sich, eine solche Reise gleich als Gruppe zu buchen.« MICHAEL MÜLLER, Türkei; 34. 528 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 37. 529 STEFAN LOOSE, Marokko; 422. 530 MARCOPOLO, Iran; 37. 531 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 861.
3. Reiseführer und Bildung
patriarchalisch geprägt, was gleichbedeutend ist mit einer untergeordneten Rolle der Frau.«532 Reiseführer als Wahrnehmungsdispositive greifen Aspekte der Realität auf, gleichwohl kann durch die Auswahl und Anordnung geleitet, letztlich sogar manipuliert werden. So entsteht durch einprägsame und bildhafte Vereinfachungen eine Generalisierung. Obwohl eine Übereinstimmung vom Stereotyp mit der Wirklichkeit vorliegt – für die hier dargelegten Beispiele: Ja, es gibt in der Türkei häusliche Gewalt und auch Ehrenmorde und ja: die Rechte der Frauen sind im Iran eingeschränkt – so zeigt sich dabei dennoch eine vereinfachte Repräsentation. Im DUMONT Iran wird die Situation der Frauen beschrieben: »Augenfällig ist die Ungleichbehandlung der Geschlechter auch im Zivil- und Strafrecht«. Es folgt die Nennung der verpflichtenden Verschleierung und Hinweise, dass sie in der Familiengesetzgebung (bei Erbschaften, Zeugenaussagen und als Opfer von Kapitalverbrechen) nur halb so viel gelten wie Männer, dass Mädchen ab neun Jahren verheiratet werden dürfen, dass der Ehegatte die Macht besitzt (Zustimmung zum Verlassen des Landes, Ausübung des Berufes) und dass das Scheidungsrecht geschlechtlich ungerecht ist. Demgegenüber heißt es dann: »Vor diesem Hintergrund ist auch aufschlussreich zu sehen, dass die Stellung der Iranerinnen de facto sehr viel besser ist als in den meisten anderen Ländern der islamischen Welt. […] Sie stellen ein Drittel der Arbeitskräfte, unter anderem der Ärzte, und an den Universitäten 60 % aller Studierenden. Iranische Frauen lenken Autos, leiten Firmen, dürfen wählen, Grund und Boden besitzen und bekleiden hohe politische Ämter. […] Und das Wichtigste: Sie kämpfen, in vielerlei feministischen Bewegungen organisiert, selbstbewusster und beherzter denn je und mit stetig wachsendem Erfolg weiter für ihre Gleichstellung und gegen die Dominanz religiös-konservativer, patriarchaler Denkmuster.« (S. 55). Auch wenn, wie in diesem Beispiel deutlich wird, ein differenzierter Blick auf die Situation der Frauen gelenkt wird, so ist die Wirkmacht der Worte und der normativen Aussagen533 nicht zu unterschätzen, zumal vielmals in den Medien und öffentlichen/gesellschaftlichen Diskursen genau diese Themen der Ausgrenzung, Unterdrückung und religiös motivierter Moral präsent sind und im Reiseführer eine (reduzierte) Wiederholung erfahren. Wie deutlich wurde, sind unterschiedliche Möglichkeiten mit den Informationen angelegt; so variieren diese zwischen Unverständnis und
532 STEFAN LOOSE, Marokko; 106. 533 Z.B. STEFAN LOOSE, Marokko: im Kapitel »Die Rolle der Frau« wird zum Thema Familienehre ausgeführt: »Die Familienehre lastet auf ihren Schultern. Und diese basiert auf der Jungfernschaft ihrer Töchter. Einer Frau wird von klein auf eingetrichtert ›rein‹ zu bleiben. Tut sie dies nicht, bleibt häufig nur der Weg in die Prostitution oder der nach Europa.« (S. 107) – danach wird darauf hingewiesen, dass es zwar selten, aber noch Ehrenmorde gibt.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Rebellion gegen die Opferrolle der Frau im Iran bis hin zu Anerkennung des geleisteten Widerstandes und der Beharrlichkeit feministischer Bewegungen. Auch eine Gegenüberstellung zum westlichen Frauenbild ist etikettierend und abwertend formuliert, so heißt es im MARCOPOLO Marokko unter »Bloß nicht allzu luftig gekleidet sein«534 im Kontext der Behauptung, dass Marokko ein traditionelles Land mit konservativen Moralvorstellungen sei: »Diesen zufolge gelten Frauen, die sehr freizügig gekleidet sind, als Prostituierte oder mannstoll. Entsprechend werden sie behandelt.«535 Die Autorin bedient dabei ein enggeführtes Frauenbild, und dies in doppeltem Sinne. Zum einen greift sie eine vermutete Heteroperspektive der männlichen marokkanischen Bevölkerung auf, zum anderen stellt sie diese ohne kritische Reflexion als Gegebenheit dar – die »entsprechende« Behandlung ist eine Konsequenz daraus, die so legitimiert wird. Es wird anschließend darauf hingewiesen, dass sich die Frau entsprechend in weite Kleidung kleiden sollte, die die Schultern und die Knie bedeckt (S. 148). Auch in den anderen Formaten finden sich an westliche Frauen gerichtete Belehrungen, so z.B. zu Frauen unterwegs: »Respektiert man die marokkanische Kultur und hält sich an ein paar ganz einfache Regeln536 , wird man feststellen, dass die Anmache recht schnell aufhört«537 – erläutert werden: niemals reagieren, direkten Augenkontakt reduzieren, sich nie als unverheiratet outen und sich angemessen kleiden. Um Missverständnissen vorzubeugen, möchte ich ergänzen: Sicherlich müssen Unrechtmäßigkeiten, Menschenrechtsverletzungen und generell Verstöße gegen die freiheitlich-demokratische Grundordnung benannt und auch bewertet werden, alles andere würde dem Apriori der Moralität widersprechen – nur so kann an der Idee der Menschwürde festgehalten werden und der eigene kulturelle Orientierungsrahmen Anwendung finden, jedoch – so würde die interkulturelle Erziehung und Bildung fordern – sollte das Fremde auch entgegen der Normalitätserwartung ausgehalten werden, nur so kann Entwicklung (im Sinne von Begegnung) im Prozess gelingen.
3.4.3.5
Sprachliche Verständigung – Aufgabe: Wahrnehmen
Fünftens möchte ich auf die für den Kontakt wichtige Mehrsprachigkeit eingehen. Für das Reisen gelten diesbezüglich eigene Gesetzlichkeiten. Die Sprache des Gastlandes wird nur selten gesprochen, so dass sprachliche Hürden und auch Barrieren konstitutiv sind. Vielerorts ist noch eine Verständigung über die erlernte Zweit- oder Drittsprache des Reisenden Englisch, Französisch oder Spanisch möglich, sie setzt aber ebenso entsprechende Zweitsprachenkompetenz bei der Bevöl-
534 535 536 537
MARCOPOLO, Marokko; 148. Ebd. Im Original: Regeln. STEFAN LOOSE, Marokko; 58f.
3. Reiseführer und Bildung
kerung der bereisten Gebiete voraus. Eine Erleichterung bietet ein Dolmetscher, ein Guide, oder auch ein weiterer Dienstleister vor Ort.538 Als neues Phänomen wird in Reiseführern auch auf Sprachkurse als touristisches Handeln hingewiesen, so z.B. im BAEDEKER Marokko: »Arabisch sprechen. In einigen marokkanischen Städten besteht die Möglichkeit, für ein paar Wochen nähere Bekanntschaft mit der Landessprache zu machen.« (S. 42). In allen Reiseführern ist, in der Regel unter der Rubrik »Praktische Hinweise«, eine Kurzeinführung in die Sprache (Zahlen, wichtige Sätze, Redewendungen usw.) enthalten. Generell stellt die Kommunikation eine Herausforderung dar – und ist zugleich die Grundlage eines Kontaktes, hierbei geht es dann zum einen um die Forderung von Sprachfähigkeit und Mehrsprachigkeit, zum anderen muss jegliche Interaktion zwischen Individuen hinzugenommen werden. Für die Sprache ist zu betonen, dass sie ein Ausdruck von Personalität ist. Ladenthin formuliert hierzu, dass sie »nicht lediglich ein Kommunikationsmittel (ist), sondern sie stellt ganz bestimmt Forderungen, um überhaupt als Sprache wirken zu können, sodass Prinzipien der Sprache herausgestellt werden können, die für das Handeln bedeutsam sind.«539 Hier greift er auf die vier Kriterien des herrschaftsfreien Diskurses von Habermas zurück: Wahrheit, Wahrhaftigkeit, Sittlichkeit und Verständlichkeit. Ausgehend von Paul Watzlawicks Unterscheidung einer Kommunikation in Inhalts- und Beziehungsebene, sind die interkulturelle Kommunikation und deren Störungsquellen genauer zu untersuchen. Hauptstörungsquellen sind besonders auf der Beziehungsebene zu finden. Der Ethnologe und Semiotiker Edward Hall hat die Bedeutung von Intonation, Gesichtsausdruck, Bekleidung, Haltung und anderer Andeutungen (»adumbrations«) im Zusammenhang mit interkulturellen Gesprächskonstellationen untersucht.540 Interkulturelles Verstehen hängt in hohem Maße von diesen »verdeckten Informationen« ab, da diese eine wechselseitige Orientierung bieten und bei falscher Interpretation Verwirrung hervorrufen. »Störungen der Kommunikation entstehen ganz allgemein durch differente Erwartungen, die aus unterschiedlichen lebenspraktischen Kontexten und mit diesen korrespondierenden Vorstellungswelten sowie aus zurückliegenden Erfahrungen mit der Gegenseite und Stereotypen resultieren.«541 Nach Habermas führen abweichende Rollenerwartungen, Normen und Werte zu 538 Im STEFAN LOOSE Travel Handbuch Marokko wird auf den »Transport Touristique« hingewiesen. »Dabei handelt es sich um Geländewagen mit Fahrer […]. Das Besondere an dieser Form des Reisens ist der Kontakt (im Original fett hervorgehoben), den man zum Land bekommt. Denn die Fahrer bilden für den Gast die Brücke zu ihrer Heimat. Sie beantworten Fragen, die man sich sonst vielleicht nicht zu stellen traut«. (S. 80) 539 Ladenthin, Wert Erziehung; 60. 540 Vgl. Auernheimer, Georg, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik. Darmstadt 3. Aufl. 2003; 107. 541 Ebd.; 108.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Verständigungsproblemen, weil sich die Situationsdefinitionen der Kommunikationsteilnehmer nicht hinreichend überlappen. Auernheimer identifiziert vier Dimensionen der interkulturellen Kommunikation, von denen die Erwartungen der Kommunikationsteilnehmer bestimmt werden können: 1. Machtasymmetrien, 2. Kollektiverfahrungen, 3. Fremdbilder (Stereotypen, Vorurteile) und 4. Differenz der Codes (Scripts, Kulturstandards).542 Nur wenn diese Dimensionen aufgedeckt, analysiert und als Störquellen identifiziert werden, sei eine verstehende Kommunikation, die letztlich in einem Dialog münden kann, möglich. Wird in Teilen auf mögliche Kommunikationsschwierigkeiten und Störungen eingegangen, dies vor allem bei den Verhaltenstipps, so wird überwiegend nicht eigens in Reiseführern auf nichtsprachliche Besonderheiten Bezug genommen. Thematisiert werden (1) Verständigung: »in den Touristenzentren an der Küste kommt man mit Englisch oder Deutsch recht gut durch. Selbst in den entlegensten Ortschaften wohnt jemand, der bei Verständigungsproblemen zu Hilfe gerufen werden kann.«543 »Man kommt in Marokko sehr gut mit Französisch durch. Im Norden und in der Westsahara wird häufig auch Spanisch gesprochen. Englisch können fast alle, die im Tourismus arbeiten. Arabisch braucht man zum Reisen nicht. Hilfreich sind aber ein paar marokkanische Floskeln und kurze Sätze, vor allem wenn man sich auf dem Land befindet. Außerdem freuen sich die Menschen ungemein darüber, wenn man versucht, ein paar Worte zu sprechen.«544 Gerade im letzten Satz zeigt sich hier eine Doppeldeutigkeit: Zum einen wird darauf hingewiesen, dass es eine begrüßenswerte Haltung ist, zumindest ein paar Worte der Landessprache zu beherrschen (dies erleichtert den Kontakt), die Verknüpfung mit der zu erwartenden Reaktion lässt aber einen asymmetrischen Ansatz in der Wertigkeit erkennen (die Menschen freuen sich ungemein). Besonders wird diese Hierarchie erreicht durch das Adjektiv »ungemein« im Sinne von »das gewöhnliche Maß beträchtlich übersteigend«. Warum sollten sich die Menschen im Reiseland so über ein paar Worte in ihrer Sprache bei Touristen freuen? (2) Spracheinführung: Der BAEDEKER Türkei führt in die Sprache ein mit: »Amtsund Umgangssprache ist das Türkische, der westlichste Ausläufer der türkischtatarischen Sprachfamilie.«545 Nur über den folgenden Sprachführer wird deutlich, dass Touristen ein paar Wörter können sollten. Der Sprachführer ist unterteilt in: Auf einen Blick, Kennenlernen, Unterwegs, Panne, Tankstelle, Unfall, Es-
542 543 544 545
Vgl. ebd. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 70 STEFAN LOOSE, Marokko; 582. BAEDEKER, Türkei; 130.
3. Reiseführer und Bildung
sen/Unterhaltung, Einkaufen, Übernachtung, Arzt, Bank, Post und Türkische Speisen.546 Anders führt der BAEDEKER Marokko ein, hier wird zunächst ausgeführt, wie eine Verständigung als Tourist möglich wird. »Als Pauschalurlauber in Marokko kommt man im Hotel und den großen Ferienkomplexen mit Deutsch gut zurecht. Als Individualtourist und abseits der bekannten Routen braucht man Grundkenntnisse in Französisch547 , da die Sprache der ehemaligen Kolonialmacht als Verkehrs- und Bildungssprache noch eine große Rolle spielt.«548 Später folgt ein Basiswortschatz in Arabisch und in Französisch. In allen Reiseführern sind Sprachführer enthalten, dies jedoch in unterschiedlicher Ausrichtung: • • • • • • • • •
MARCOPOLO Iran – hier findet sich ein Sprachführer Englisch/Deutsch, DUMONT Iran – beinhaltet einen Sprachführer in Farsi/Deutsch, TRESCHER Iran – Persisch/Deutsch, MARCOPOLO Türkei – Türkisch/Deutsch, BAEDEKER Türkei – Türkisch/Deutsch, MICHAEL MÜLLER Türkei – Türkisch/Deutsch, MARCOPOLO Marokko – Französisch/Deutsch, in ganz geringem Umfang Arabisch/Deutsch, STEFAN LOOSE Marokko – marokkanischer Dialekt (Darija)/Deutsch; ergänzt durch die wichtigsten Berberbegriffe/Deutsch, BAEDEKER Marokko – Arabisch/Deutsch (die Transkription folgt der französischen Umschreibung) und Französisch/Deutsch.
Daran wird deutlich, von welchem Lernpotential und von welcher Lernmotivation die AutorInnen bei den Rezipienten ausgehen. Besonders beim MARCOPOLO Format zeigt sich eine eingeschränkte Sicht, dies insbesondere dadurch, dass im Iran-Format gar keine landessprachlichen Einführungen zu finden sind. Wie schon an verschiedenen Stellen in dieser Arbeit dargestellt, wird der Kontaktaufnahme mit der Bevölkerung ein hoher Wert beigemessen (Möglichkeiten und Grenzen dieses Anspruches wurden differenziert erläutert), so ist in allen Formaten ein Kapitel zu Kommunikation und Sprache enthalten. Dabei zeigen sich Prioritäten bei der Sprachauswahl, die touristische Handlungen umfassen. So gehen alle Sprachführer auf Kulinarik und Einkaufen ein, daneben werden basale Alltagsbezüge in unterschiedlicher Quantität erläutert. Dadurch wird das zugrundeliegende Touristenbild der Autoren deutlich, welches sich an den touristischen 546 Vgl. ebd.; 131-135. 547 Im Original: Grundkenntnisse in Französisch. 548 BAEDEKER, Marokko; 482.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
Handlungen (Begrüßung/Abschied, Datum und Zeitangaben, Unterwegs, Kennenlernen, Übernachten, Einkaufen, Gesundheit, im Restaurant, Panne, Tankstelle, Bank, Post, Kulinarik, Lebensmittel, wichtige Redewendungen) orientiert. Nur im DUMONT Iran wird auf mögliche Verständigungsprobleme (»Fettnäp549 fe« ) explizit – über die Verhaltenstipps hinaus – hingewiesen. Zum einen wird ein Verkaufsgespräch in seiner Besonderheit dargestellt: »Ein Ladenbesitzer im Basar antwortet, nach dem Preis einer Ware gefragt, ›Für dich kostet es nichts‹ oder ›Sie ist wertlos‹. In Wahrheit erwartet er natürlich Bezahlung. Im Subtext bedeuten seine Worte nur, dass ihm der Kunde wichtiger ist als die Ware.«550 Als weiteres Beispiel wird aufgeführt zu »Passanten nach dem Weg fragen«: »Man fragt einen Passanten nach der Straße und dieser gibt trotz Unwissen, nur um sein Gegenüber nicht zu enttäuschen vor, sich auszukennen und weist einen fiktiven Weg.«551
3.4.3.6
Dialog
Abschließend möchte ich noch auf den Königsweg der interkulturellen Bildung aufmerksam machen, der aber nicht als anzustrebende oder angepriesene Möglichkeit in Reiseführern aufgeführt wird. Er gilt als eine eigene pädagogische Aufgabe. Als wichtige Leitidee für den Dialog nennt das »Manifest für den Dialog der Kulturen«552 die Anerkennung der Identitäten der jeweils anderen und die Akzeptanz einer gemeinsamen Zugehörigkeit. Heiser unterscheidet, in Anlehnung an Buck und Meyer-Drawe, die Forderung der Epoché, verstanden als Übung der Reflexion und des Bewusstseins unserer stets wertenden Wahrnehmung und einer (zumindest) temporären Urteilsenthaltung, und der erweiterten Denkungsart als reflexiver Besonnenheit. Diese soll sich konkretisieren im Polylog, als einem gleichberechtigten, vielseitigen und wohlwollenden Gedankenaustausch, bei dem die Meinung des Anderen mitgedacht wird.553 So formuliert Bernhard Waldenfels: »Ich finde mich im Anderen und finde den Anderen in mir.«554 Die Reichhaltigkeit und Vielfalt der unterschiedlichen kulturellen Traditionen und (spirituellen) Ressourcen gilt es zu würdigen.555 Woran soll sich aber nun die Möglichkeit interkultureller Verständigung orientieren? Zum einen wird in diesem 549 550 551 552
Vgl. DUMONT, Iran; 92. Ebd. Ebd. Manifest, Brücken in die Zukunft. Ein Manifest für den Dialog der Kulturen. Eine Initiative von Kofi Annan. Frankfurt a.M. 2001. 553 Vgl. Heiser, Interkulturelles Lernen; 339. 554 Waldenfels, Bernhard, Der Stachel des Fremden. Frankfurt a.M. 1990; 67. B. Waldenfels bezeichnet dies als Wechselspiel. Insgesamt untergliedert er drei Formen der Andersheit: eine Andersheit der Anderen, eine Andersheit meiner selbst und eine Andersheit der fremden Ordnung. (65-71) 555 Vgl. Auernheimer, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik; 139.
3. Reiseführer und Bildung
Zusammenhang auf die »Goldene Regel« der Gegenseitigkeit zurückgegriffen, die von allen großen ethischen und religiösen Traditionen anerkannt wird, zum anderen wird auf die Menschenrechte verwiesen. Doch hier findet sich eine Engführung556 – die Menschenrechte sind abendländisch geprägt. Möchte man eine Universalisierbarkeit von überlieferten Rechts- und Moralvorstellungen vornehmen, so können die Menschenrechte als Grundlage herangezogen werden mit der Öffnung darauf hin, dass sich diese Rechtsgrundsätze auch aus anderen Traditionen heraus begründen lassen und die jetzigen Menschenrechte nicht abgeschlossen und endgültig sind.557 Es sollte eine Orientierung an der Würde des Menschen, den Menschenrechten und am Modus einer verständigungsorientierten Konfliktregulierung erfolgen, die schließlich zu einer Befähigung zum interkulturellen Dialog führt. Heiser nennt dies einen kosmopolitischen Gemeinsinn und formuliert in Anlehnung an Koch, dass Pluralität der Steigerung der moralischen Autonomie des Ich dient und zugleich der gesellschaftlichen Moralität.558 Hierbei erreicht die Kommunikation in der Begegnung eine Qualität, die so in einem Reiseführer kaum angelegt sein kann. Erneut kann es hier nur um eine Kultivierung der Wahrnehmung für das Fremde gehen.
3.5
Religion in Reiseführern – Religion und (interreligiöse) Bildung
Im Sinne einer Annäherung an »Religion und interreligiöse Bildung« bedarf es der Klärung des Gegenstandes und der Fragen: • •
Was verstehen Reiseführer unter Religion? Wie wird in die Religion(en) eingeführt?
3.5.1
Religionsdarstellungen in Reiseführern
Da der Begriff »Religion« vieldeutig ist und er zunächst als Sammelbegriff für unterschiedliche Weltanschauungen benutzt wird, gehe ich von dem aus, was die vorliegenden Reiseführer als Religion verstehen. Hierbei fällt auf, dass • •
Religion in Reiseführern nicht definiert wird und unbestimmt bleibt;
556 Vgl. Ladenthin, Volker, Menschenrechte, Recht und Bildung. In: Ders.; Schilmöller, Reinhard (Hg.), Ethik als pädagogisches Projekt. Grundfragen schulischer Werteerziehung. Opladen 1999; 43-61; 47. 557 Vgl. Auernheimer, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik; 140f. 558 Vgl. Heiser, Interkulturelles Lernen; 343.
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3. Reiseführer und Bildung
Zusammenhang auf die »Goldene Regel« der Gegenseitigkeit zurückgegriffen, die von allen großen ethischen und religiösen Traditionen anerkannt wird, zum anderen wird auf die Menschenrechte verwiesen. Doch hier findet sich eine Engführung556 – die Menschenrechte sind abendländisch geprägt. Möchte man eine Universalisierbarkeit von überlieferten Rechts- und Moralvorstellungen vornehmen, so können die Menschenrechte als Grundlage herangezogen werden mit der Öffnung darauf hin, dass sich diese Rechtsgrundsätze auch aus anderen Traditionen heraus begründen lassen und die jetzigen Menschenrechte nicht abgeschlossen und endgültig sind.557 Es sollte eine Orientierung an der Würde des Menschen, den Menschenrechten und am Modus einer verständigungsorientierten Konfliktregulierung erfolgen, die schließlich zu einer Befähigung zum interkulturellen Dialog führt. Heiser nennt dies einen kosmopolitischen Gemeinsinn und formuliert in Anlehnung an Koch, dass Pluralität der Steigerung der moralischen Autonomie des Ich dient und zugleich der gesellschaftlichen Moralität.558 Hierbei erreicht die Kommunikation in der Begegnung eine Qualität, die so in einem Reiseführer kaum angelegt sein kann. Erneut kann es hier nur um eine Kultivierung der Wahrnehmung für das Fremde gehen.
3.5
Religion in Reiseführern – Religion und (interreligiöse) Bildung
Im Sinne einer Annäherung an »Religion und interreligiöse Bildung« bedarf es der Klärung des Gegenstandes und der Fragen: • •
Was verstehen Reiseführer unter Religion? Wie wird in die Religion(en) eingeführt?
3.5.1
Religionsdarstellungen in Reiseführern
Da der Begriff »Religion« vieldeutig ist und er zunächst als Sammelbegriff für unterschiedliche Weltanschauungen benutzt wird, gehe ich von dem aus, was die vorliegenden Reiseführer als Religion verstehen. Hierbei fällt auf, dass • •
Religion in Reiseführern nicht definiert wird und unbestimmt bleibt;
556 Vgl. Ladenthin, Volker, Menschenrechte, Recht und Bildung. In: Ders.; Schilmöller, Reinhard (Hg.), Ethik als pädagogisches Projekt. Grundfragen schulischer Werteerziehung. Opladen 1999; 43-61; 47. 557 Vgl. Auernheimer, Einführung in die Interkulturelle Pädagogik; 140f. 558 Vgl. Heiser, Interkulturelles Lernen; 343.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
•
dabei wird eine im alltäglichen Sprachgebrauch vorzufindende Bedeutung von Religion im Sinne von Weltreligion genutzt.
3.5.1.1
Was verstehen Reiseführer unter Religion?
Für die hier zu analysierenden Reiseführer der Länder Türkei, Iran und Marokko wird unterschieden zwischen der Religion des Islam, vorrangig in den beiden Ausrichtungen – präziser zu bezeichnen als Konfessionen – Sunniten und Schiiten und der unter den Autoren und der Leserschaft vermuteten Majorität der Christen (oder zumindest wird davon ausgegangen, dass das Christentum hinlänglich bekannt ist). Eingehender zeigt sich dies in den Analogiebezügen. Alle Reiseführerformate zu den drei Reisedestinationen beinhalten Informationskapitel zum Thema Religion und an verschiedenen Stellen weiterführende – oft an konkreten Objekten, (i.d.R. (Sakral)räume, wichtige Personen, Feiern und Riten) festgemachte – Erläuterungen. Deutlich wird eine Engführung des Themas der Religionen auf die sogenannten Weltreligionen, hier speziell der Islam und das Christentum. In Teilen finden sich weitere Differenzierungen in den jeweiligen Länderausgaben, wie zum Beispiel die Zoroastrier im Iran559 . Türkei: Eine Thematisierung der Religion(en) erfolgt in den drei Formaten unterschiedlich: • •
•
im MARCOPOLO wird gegliedert mit den Überschriften: Islam560 , Christen561 ; in MICHAEL MÜLLER: Islam (einführendes Kapitel mit den Themen Koran und Sunna, Propheten, die fünf Säulen des Islam, Moschee, religiöse Feiertage)562 , und an unterschiedlichen Stellen wird das Christentum thematisiert (Marienkirche, Apostel Paulus, Nikolaus, frühchristliche Wallfahrtsorte u.a.); im BAEDEKER: Religion563 , Besondere Feiertage (Ramadan, Seker Bayrami, Kurban Bayrami) und mehrere Seiten als »Special« zu den Derwischorden (Special: Wirbelnd in die Ekstase). Eine systematische Einführung in die Religion des Islam wie im Format MICHAEL MÜLLER findet sich hier nicht. Erläuterungen
559 »Die zentrale Vorstellung der zoroastrischen Lehre ist die Existenz eines all-einen, allwissenden und wohlwollenden Schöpfergottes namens Ahura Mazda (›Weiser Herr‹), später auf Mittelpersisch Ohrmazd genannt, der die geistige und materielle Welt in nur sieben Tagen geschaffen hat. Sein Gegenüber, das personifizierte Negativ-Prinzip, gegen das er als Garant der kosmischen Ordnung kämpft, ist Angra Mainyu alias Ahriman, der ›Böse Geist‹. Dieser Dualismus findet seine Entsprechung in der Vorstellung von Paradies, Fegefeuer und Hölle.« (DUMONT, Iran; 425 – im Kapitel: Zarathustras Erbe.) 560 MARCOPOLO, Türkei; 23f. 561 Ebd.; 21f. 562 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 58-60. 563 BAEDEKER, Türkei; 31f.
3. Reiseführer und Bildung
und weiterführende Informationen sind jeweils bei Moscheen, Medresen und anderen religiösen Objekten angefügt. Iran: Für die Formate Iran findet sich im MARCOPOLO ein Bezug im Kapitel Auftakt mit bereits deutlichen Hinweisen zur Verwobenheit von Staat bzw. Land und Religion (Konfession der Schiiten). So werden Frauen in Tschadors genauso thematisiert wie Ayatollahs, Moral und Sittenstrenge. Als zweite Religion des Landes werden die Zoroastrier vorgestellt. Eine wesentlich ausführlichere und systematischere Erläuterung bietet Paul Kerber (TRESCHER Verlag) unter Religion und Gesellschaft 564 mit der Untergliederung in Sunniten im Iran, die Zwölfer-Schiiten, Unterschiede zwischen Sunniten und Schiiten, die Siebener-Schiiten, Yaresan oder Ahle-Haqq und Sufi-Orden im Iran. Auch auf nichtislamische Religionen (Zoroastrier, Juden, Christen und Bahai) wird hingewiesen. Des Weiteren werden an verschiedenen Stellen Erläuterungen zu den Religionen ergänzt, so z.B. zu den islamischen Kleidungsvorschriften, zu Stätten religiöser Minderheiten, Bezüge zum Christentum (Apostel Thaddäus, Apostel Thomas, Marienkapelle u.a.). Im DUMONT (Autor Walter M. Weiss) wird im Kapitel Religionen ebenfalls auf unterschiedliche Religionen (Zwölfer-Schiismus, sunnitische Muslime, Bahai, Sufis, Juden und Christen) eingegangen; in die Schia wird eigens ausführlicher (Die Schia – Entstehung und Essenz) eingeführt565 . Vergleichbar mit dem Format TRESCHER werden an verschiedenen Stellen Aspekte der jeweiligen Religion und Religiosität genannt und erläutert (religiöse Feiertage, Pilgerstätten, Bezug Christentum – Apostel Bartholomäus, Vank-Kathedrale, Ashura, Zarathustras Erbe, jüdische Pilgerstätte/Purim u.a.). Marokko: Für die drei Formate zu Marokko lässt sich feststellen, dass die Thematisierung der Religion des Islam spezifisch in eigenen Kapiteln und durchgängig in den Beschreibungen stattfindet. Ausführlich behandelt der BAEDEKER den Islam. Gleich zu Beginn wird vom Islam als Staatsreligion gesprochen, der mystische Ausprägungen beinhaltet. Der Islam als Volksglaube wird vorgestellt (S. 44ff.) mit den Aspekten Sufismus, Geisterglaube und Heiligenverehrung. Besondere Erwähnung findet die Zeit des Ramadan in einer eigenen Gliederung unter BAEDEKER Wissen »Ramadan-Rausch« – hier jedoch, wie später noch zu zeigen sein wird, in teilweise enggeführten Aussagen mit der Betonung des allabendlichen Fastenbrechens als »einem ganz spezifischen Zauber«566 . Religiöse Städte und Stätten sowie Heiligtümer werden erläutert, des Weiteren Sakralbauten von besonderer Bedeutung. Wiederholt erwähnt wird das überwiegende Verbot des Zutritts von Nicht-Muslimen 564 Vgl. TRESCHER, Iran; 92-99. 565 Vgl. DUMONT, Iran; 50f. 566 BAEDEKER, Marokko; 49.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
zu religiösen Stätten wie Moscheen, Medresen, Mausoleen oder Heiligtümer. In reduzierter Form stellt der MARCOPOLO das Thema Religion dar. Im einführenden Kapitel wird unter »Auftakt« der Islam als Staatsreligion erwähnt, die den Alltag bestimmt. Auf den muslimischen Fastenmonat Ramadan wird gesondert hingewiesen, dies vor allem unter tourismusorientierten Gesichtspunkten, wie z.B. dem Verkehrschaos am Spätnachmittag und der Musik: »Vor allem im Ramadan können Sie in Marrakesch […] tief eintauchen in die marokkanische Musik«567 . Vergleichbar mit dem BAEDEKER, stellt auch der MARCOPOLO sehenswerte religiöse Gebäude vor; auch hier jeweils mit dem Hinweis auf das überwiegende Besuchsverbot für Nicht-Muslimen. Im dritten Format – STEFAN LOOSE Travel Handbuch – erfolgt die Erläuterung in zwei Strukturen, zum einen in eigenen Themenkapiteln (vergleichbar mit dem BAEDEKER) z.B. zu »Der islamische Kalender«, »Religiöse Feste« und »Moussems«. Ausführlich wird »Der Islam« beschrieben, strukturiert nach Geschichte, Allgemeine Grundlagen, Frau und Mann im Islam, Fundamentalismus und Terrorismus. Hervorgehoben wird der Islam in Marokko mit der ihm eigenen Ausprägung des Heiligen- und Geisterglaubens. Im einführenden Kapitel zu »Architektur, Kunst und Kultur« wird die »Islamische Architektur« vorgestellt, gegliedert in Moscheen, Koranschulen, Kasbahs und Ksour. Auf einer zweiten Erklärebene findet eine Erläuterung bei den einzelnen Reisedestinationen und Sehenswürdigkeiten statt. Für alle drei Formate ist kennzeichnend, dass auch andere Religionen, die es in Marokko gibt oder gab, erwähnt und zum Teil sogar erläutert werden.
3.5.1.2
Wie wird in die Religion(en) eingeführt?
In allen Reiseführerformaten werden die zentrale(n) Religion(en) des Gastlandes thematisiert. Dabei fällt auf, dass die Bezeichnungen variieren und teils synonym verwendet werden. So wird nicht unterschieden zwischen Religionsbezeichnungen (der Islam, das Christentum etc.) und den Gläubigen (Muslime, Christen etc.). Dadurch kommt es zu einer Vermischung der zugrundliegenden Wahrheiten im Sinne von Glaubensinhalten und deren Konkretion im Alltag, d.h. in Handlungen, Riten und Verhaltensvorschriften. Des Weiteren werden die Strömungen Schiismus und Sunnismus zwar unterschieden und in ihren Besonderheiten (dies gilt vor allem für den Schiismus) erläutert, parallel dazu findet eine Synonymisierung mit den Lehren und Glaubensvorstellungen des Islam statt. Dies gilt ebenso für das Christentum, welches nur fragmentarisch und oft nur in einem Vergleich zum Islam oder einem Beispiel dargestellt wird. Konfessionelle Unterschiede finden dabei keine Beachtung (z.B. Heiligenverehrung im Katholizismus – Hl. Nikolaus, Bedeutung der Gottesmutter, Buß- und Beichtformen).
567 MARCOPOLO, Marokko; 11.
3. Reiseführer und Bildung
Im Reiseführer zu unterscheiden sind die Aufgaben und Ziele als Möglichkeiten der (Selbst)Information, der Unabhängigkeit, der Entscheidungsfindung, der Leitfunktion, der Unterrichtung und der Funktion des Animateurs (vgl. Kapitel 3.1.2. Aufgaben und Ziele). Bei der Darstellung der Religion sind die Ziele Information, Unterrichtung und Leitfunktion (Wegweiser) besonders relevant, da diese themenbezogen zu analysieren sind, wohingegen die weiteren Aufgaben (Unabhängigkeit, Entscheidungsfindung, Animation) ein durchgängiges Muster bilden (Möglichkeiten und Alternativen werden vorgestellt, Kriterien für die Entscheidung werden verbalisiert, Aufforderungen und Empfehlungen werden ausgesprochen). Die Information erfolgt dabei unterschiedlich, von fragmentarischen Elementen bis hin zu systematischen Gliederungen. Analog zu den Kulturdarstellungen zeigt sich auch hier eine Unterscheidung der Subtexte in Orientierungstexte, Ratgebertexte, Besichtigungstexte und Hintergrundtexte. Durchgängig handelt es sich um eine kognitiv-rationale Herangehensweise. Teilweise wird in den Beschreibungen von Städten, Routen etc. auf authentische religiöse Praxis hingewiesen, dies jedoch überwiegend in konsumierender Haltung und weniger mit dem Anspruch, Verständnis für andere Religionen zu entwickeln. Religiöse Bauwerke reihen sich ein in die Darstellung von Sehenswürdigkeiten und werden erläutert nach den Kriterien Architektur, religiöse Bedeutung und historischer Wandel. Dies gilt in besonderem Maße für die Wallfahrtsorte in Marokko. Auf eine mögliche emotionale Ebene des Einfühlen-Könnens wird aber ebenfalls in Teilen eingegangen, z.B. bei der Ausführung zum Besuch der Grabkammer des Heiligtums Haram-e Mazumeh: »Die weihevolle Stimmung dieses zentralen Raums mit den vielen Pilgern ist beeindruckend.«568 Erfahrungsbezogene Bemühungen sind dabei sehr selten; in einer verobjektivierten Sicht, die allerdings nicht frei ist von Wertungen und Stigmatisierungen, wird in die Religion des Islam eingeführt. Trotz dieser, in Teilen zu findenden, hierarchisierenden Werthaftigkeit erfolgt eine Aufklärung und Wissensvermittlung über »den Anderen«. Insofern genügen die Reiseführer grundsätzlich dem Anspruch eines Orientierungsrahmens (Information), d.h. die Informationen sind sachlich richtig. Die Bedeutsamkeit der einzelnen Inhalte (Objekte, Glaubensaussagen, Riten etc.) für die Religion bzw. »die Bereisten« wird jedoch kaum (differenziert) thematisiert. Lediglich in motivierenden Aufforderungen durch die AutorInnen wird auf eine vertiefende Begegnung als Leitfunktion hingewirkt (Empfehlung). Dies erfolgt im Kontext der Religion jedoch im Vergleich zur Kultur in stark reduzierter Weise. Sachinformationen werden dabei von normativen Setzungen und subjektiven Bewertungen begleitet, eine Dichotomisierung wird z.B. deutlich in »Die Rolle, die der islamische Glaube in der Türkei einnimmt, ist von Region zu Region, teils 568 TRESCHER, Iran; 312. Auffällig ist die Bezeichnung »weihevoll«, die vorrangig mit dem christlichen Kontext assoziiert wird.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
aber auch von Stadtviertel zu Stadtviertel verschieden. Mancherorts, wie in den unbeschwerten, westlich orientierten Küstenorten, scheint sie gar gegen Null zu tendieren.«569 Zeigt sich zunächst eine doppelte Abgrenzung (innertürkisch): »Region zu Region«, »Stadtviertel zu Stadtviertel« und umfassender in Majorität und »mancherorts«, so wird im zweiten Teil eine Wertung deutlich, die ausgeht von einem westlichen Referenzrahmen. Das Adjektiv »unbeschwert« ist positiv konnotiert, eine Verbindung zu westlich orientierten Küstenorten wird ergänzt, so dass die Orientierung am Westen erstrebenswert erscheint. Die Analyse erfolgt orientiert an den Aufgaben von Reiseführern – folgende Ergebnisse werden zunächst thesenhaft genannt und anschließend erläutert: Informationsfunktion: • • • •
Analogiebezüge werden hergestellt. Religion wird in Bezug gesetzt zur Politik des Landes. Auf Irritationen wird erläuternd eingegangen. Die Religion des Islam wird in Bezug gesetzt zum Christentum.
Leitfunktion: • • • • •
Fürsorge im Kontext der Religion wird durch Ermahnungen und Belehrungen deutlich. Aufforderung zur Kontaktsuche und -aufnahme werden gemacht. Die Kenntnisnahme der Religion wird in Relation zum Reiseverlauf und angenommenen Reiseerwartungen gesetzt. Religion als »Sehenswürdigkeit« wird zum Objekt des Reisens. Aussagen zur Religion werden westlich-europäisch bewertet.
Analogiebezüge werden hergestellt. Zur Verdeutlichung von religiösen Inhalten werden Analogien zu christlichen/westlichen Inhalten benannt, so z.B. werden abendliche Ramadanmärkte mit einem Christkindelmarkt verglichen.570 Dass diese Analogiebezüge teilweise unangemessen sind, wird später noch dargelegt werden (vgl. 3.5.3. Reiseführer – eine Möglichkeit der interreligiösen Bildung?). Zu Aid al Adha (Opferfest) wird erläutert, dass Kinder hierzu Geschenke erhalten mit dem Verweis »wie bei uns zu Weihnachten«571 . Im MICHAEL MÜLLER Türkei heißt es im Kon-
569 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 58. 570 Vgl. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 60. »Dafür gibt es abendliche Ramadanmärkte, traditionelle Musik, Schattenspieltheater etc. – Christkindelsmarkt auf Türkisch.« 571 STEFAN LOOSE, Marokko; 52.
3. Reiseführer und Bildung
text der Vorstellung Demres (Kale): »Im Zentrum Demres steht eine byzantinische Kirche, die lange Zeit die Wirkungsstätte und der letzte Ruheort des Bischofs von Myra war«572 . »Weihnachtsstimmung auf Türkisch! Santa-Claus-Festival.«573 Ein Vergleich von Bauten findet statt: »In dieser religiösen Einrichtung (eine Zaouia ist so etwas wie ein christliches Kloster, das zu einer wichtigen Pilgerstätte gehört) befindet sich das Grab des Landesheiligen«574 . Auch unterschiedliche Verhaltenscodices werden in Analogie kontrastiert: »›Psst! Psst!‹ In Kirchen, heißt es, hat man still zu sein. Höchstens ehrfürchtiges Flüstern geht. In Moscheen dagegen geben sich Gläubige, im Iran wie überall in der islamischen Welt, vergleichsweise viel freier und schwatzen, lachen, ja halten auf dem Teppich hingestreckt ein Schläfchen.«575 Zur Atmosphäre und Bedeutung von religiösen Orten wird Qom bezeichnet (MARCOPOLO) als iranische Mischung aus Lourdes, Oxford und Vatikan576 . In einem anderen Format (DUMONT Iran) wird der Vergleich Qoms mit Oxford, Altötting und Vatikan bemüht.577 Europäische Verknüpfungen werden hergestellt bei »Mini-Mausoleen, sogenannte Koubbas, gehören zur marokkanischen Landschaft genauso wie Bildstöcke zu Bayern und Außenkirchlein zu den griechischen Inseln.«578 und »Die Koutoubia Moschee (Jemaa el Kotbiya) ist für Marrakech das, was der Eiffelturm für Paris und die Freiheitsstatue für New York ist.«579 Auch strukturelle Analogien finden sich, so z.B. »Der Islam kennt im Gegensatz zum Christentum keine institutionalisierte ›Priesterschaft‹, die als Mittler zwischen Mensch und Gott fungiert. Bei den Schiiten existiert unter den religiösen Funktionären jedoch sehr wohl eine Art Hierarchie.«580 Zweierlei wird in diesem Vergleich intendiert: Zum einen wird auf das im Katholizismus (und nicht generell im Christentum) vorzufindende Amtsverständnis (»Mittler« – Bezug zur apostolischen Sukzession) hingezielt, zum anderen werden religiöse »Funktionäre« genannt – und dies durch »jedoch sehr wohl« als Gemeinsamkeit mit dem Christentum. Mit dem Begriff Funktionär wird dabei eine staatliche Macht suggeriert, die so nur eine Entsprechung in Theokratien hat. In dieser Analogie zeigt sich eine Falschaussage.
572 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 413. Die Bezugnahme auf den Hl. Nikolaus scheint in allen Formaten bedeutsam. 573 Ebd.; 414. 574 STEFAN LOOSE, Marokko; 319. 575 MARCOPOLO, Iran; 25 576 Ebd.; 67. 577 DUMONT, Iran; 380. 578 BAEDEKER, Marokko; 82. 579 Ebd.; 279. 580 DUMONT, Iran; 385
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Religion wird in Bezug gesetzt zur Politik des Landes. Im MICHAEL MÜLLER Türkei heißt es: »Den laizistisch geprägten Regierungen der Vor-AKP-Zeit waren religiösfundamentalistische Strömungen stets ein Dorn im Auge. So ernennt der Staat bis heute die Vorbeter (Imame) und schreibt vor, was gepredigt und in Koranschulen gelehrt werden darf. Aus der strengen Kontrolle wurde jedoch mit der Machtübernahme der islamischen AKP gegenseitiges Einverständnis.«581 Für Marokko führt der BAEDEKER aus: »Islam/Staatsreligion in Marokko ist der Islam. Vor allem auf dem Land ist er mystisch geprägt. Eine wichtige Rolle spielen Bruderschaften, Heiligenverehrung und der Glaube an die Scherifen.«582 An vielen Stellen wird auf den Bezug »Islam-Staat« und »IslamMystik-Heiligenverehrung« hingewiesen.583 Die Durchdringung von Religion und Staat/Politik wird für Iran als islamische Republik durchgängig thematisiert und betont.584 Eine wertende Verquickung und Stereotypenbildung findet sich in der Erläuterung von Kayseri (Türkei): »Ab 21 Uhr gehören die Straßen und Gassen vornehmlich den Männern – so manche von ihnen auf dem verstohlenen Rückweg von einem der rar gesäten Bierstände, Anstand und Frömmigkeit steht bei der Obrigkeit Kayseris hoch im Kurs – fast nirgendwo im Land erhält die AKP mehr Stimmen als in Kayseri.«585 Das muslimische Alkoholverbot in Verbindung mit dem Übertreten dieses Gebotes (von Männern) wird kontrastiert mit der Frömmigkeit der Stadtverwaltung. Eine In-Bezugsetzung von Frömmigkeit und Zustimmung zur Partei AKP zeigt dabei eine reduzierte Sicht und trägt zur Stereotypenbildung bei (Wortfeld: Muslim, fromm, AKP).
581 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 58. 582 BAEDEKER, Marokko; Umschlagseite vorne. 583 Z.B.: »Der Islam versteht sich als eine unauflösbare Einheit von Religion und Staat und von Religion und Recht.« (S. 44); »Der Islam hat in Marokko – besonders im berberischen Teil der Bevölkerung – eine starke mystische Einfärbung erfahren, vor allem Heiligenverehrung und Glaube an die Baraka […] sind in Marokko bis heute höchst lebendig.« (S. 45); »am bedeutendsten sind der Schrein des Sidi Othman und die Moschee Sidi Bouabid Cherkis, des Stadtheiligen« (S. 311); »Sidi Yahya Ben Younes ist der Schutzheilige der Stadt, eine sagenumwobene Gestalt.« (S. 355). 584 Z.B.: »Voller Widersprüche ist auch das politische System – eine Kombination aus Parlamentarismus, Scharia und dem weltweit einzigartigen Prinzip der ›Statthalterschaft des Rechtsgelehrten‹«. (DUMONT Iran; 29); »Iran ist per Verfassung ein islamischer Staat und der Zwölfer-Schiismus Staatsreligion.« (DUMONT Iran; 49); im MARCOPOLO Iran heißt es: »Heerscharen von Frauen in pechschwarzen Tschadors, grimmige Ayatollahs und deren Fußvolk […] die Islamische Republik ist eine Theokratie, diktatorisch geführt« (S. 14f.); »Außerdem wurden die Gültigkeit der Sharia, das Tragen des Hejab (Kopftuch), Tanzverbot und ähnliche Verordnungen im Sinne eines strikten Islam festgelegt.« (TRESCHER Iran; 71). 585 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 715.
3. Reiseführer und Bildung
Auf touristische Erwartungen (es gibt Kritisches, aber dies ist nicht im Tourismus erfahrbar) geht MARCOPOLO Iran ein: »Es herrschen Willkür, Zensur, Doppelmoral und unter den Oligarchen aus Klerus und Militär, die alle Einkommensquellen des Staates kontrollieren, hemmungslose Korruption. Sie als Tourist werden von all dem nichts mitbekommen.«586 Hierin zeigen sich verschiedene Setzungen: Zum einen werden Klerus und Militär verbunden (Staat und Religion), zum anderen wird deutlich Kritik geübt (Willkür, Zensur, Doppelmoral, Korruption) – ausgehend von beiden Gruppen (religiöse und staatliche Ordnung). Auf Irritationen wird erläuternd eingegangen. Auf der Informationsebene (und hier besonders bei den Orientierungstexten) wird auf Irritationen erläuternd eingegangen. Im Iran sind verschiedene religiöse Orte nicht für Touristen zugänglich, z.B. der Mosalla-Gebetsplatz. Erklärend wird gesagt, dass z.B. Masshad für Schiiten der heiligste Ort Irans ist. »Da man bei seiner Andacht ungestört bleiben möchte, ist der zentrale Bereich für Nicht-Muslime nicht zugänglich.«587 Wie schon erwähnt, wird in allen drei Marokko-Formaten darauf hingewiesen, dass Nicht-Muslime nur die Moschee Hassan II und die Moschee in Tin-Mal betreten dürfen. Dies wird bei der Erläuterung diverser anderer Moscheen und religiöser Stätten in sachlicher Form wiederholt. Im Format MARCOPOLO liegt hingegen eine Negativkonnotation vor, ein Beispiel dazu: Mosquée Koutoubiya, »Sie ist das Wahrzeichen der Stadt! Eines, das nur für Muslime geöffnet ist. Die anderen müssen draußen bleiben. Doch: Schwamm drüber. Das Schönste können Sie sowieso nur von außen sehen – nämlich das Minarett.«588 Gerade an diesem Zitat wird deutlich, wie säkularisiert der Autor die Bewertung vornimmt. Hier ist kein Lernen über Religion im Sinne einer Anschauung eines religiösen Ortes intendiert, sondern das alleinige Kriterium ist die Schönheit der Architektur, die zur Anschauung kommt. Die Religion des Islam wird in Bezug gesetzt zum Christentum. Als weitere Spezifika wird in Reiseführern die Religion des Islam verknüpft mit dem Christentum. Im MICHAEL MÜLLER Türkei heißt es im Kapitel Islam: »Zu diesen Propheten zählen im Islam neben Abraham und Moses u.a. auch Jesus. Die christliche Auffassung, nach der es sich bei Jesus um den Sohn Gottes handelt, wird vom Islam nicht geteilt.«589 Im BAEDEKER Marokko wird auf Sidi Yahya Ben Younes hingewiesen, der Schutzheilige der Stadt Sidi-Yahya. »Nach muslimischer Version soll er ein Zeit-
586 MARCOPOLO, Iran; 15. Im Original sind die Worte Willkür, Zensur, Doppelmoral fett und bunt gedruckt. 587 TRESCHER, Iran; 463 588 MARCOPOLO, Marokko; 55 589 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 59.
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genosse von Jesus Christus gewesen sein und die Ankunft des Propheten Mohammed prophezeit haben. Die Christen glauben, Sidi Yahya sei Johannes der Täufer gewesen«590 . Wird zum einen eine Relation deutlich von Christentum und Islam, so zeigt sich doch ein unangemessener Sprachgebrauch, wenn von einer Weltreligion als »Version« gesprochen wird. Es geht um Glaubensfragen und Wahrheiten, die jeweils konstitutiv sind und als solche auch dargestellt werden sollten. Zu Sanliurfa steht im MICHAEL MÜLLER Türkei: »In Urfa, der Stadt der Propheten, soll Abraham das Licht der Welt erblickt und Hiob seine Leiden ausgestanden haben. […] Zwischen 2000 und 1800 v. Chr. Soll hier Abraham geboren worden sein, der von Juden, Moslems und Christen gleichermaßen verehrt wird.«591 Unter Saveh heißt es im TRESCHER Iran: »Marco Polo berichtet aus Saveh von der Legende, nach der die Heiligen Drei Könige von hier aus zu ihrer Reise nach Jerusalem und Bethlehem aufgebrochen seien.«592 Teilweise werden gemeinsame Traditionen von Judentum, Christentum und Islam dargestellt. Es wird vielfach darauf hingewiesen, dass es sich bei allen drei monotheistischen Religionen um abrahamitische Religionen handelt. So wird in einem Format die Geschichte Abrahams, der seinen Sohn opfern sollte, allerdings nicht differenziert dargelegt. Hier heißt es: »Hintergrund des Opferfestes ist die (auch biblische) Geschichte von Abraham, der, um Gott seine Treue zu beweisen, seinen Sohn Isaak opfern will.«593 Im Islam wird jedoch von Abraham und Ismael (der Sohn bleibt in der Sure 37,102-107 namenlos, wird aber traditionell mit Ismael assoziiert) ausgegangen. Unter Aid al Adha benennt STEFAN LOOSE, Marokko: »Dieses ›Schlachtfest‹ (hierzulande als ›Opferfest‹ bekannt) soll den Muslim an Abraham erinnern, dem Gott befahl, seinen Sohn zu töten. Die Geschichte ist aus der Bibel bekannt (Genesis 22, 1-19): Gott wollte den Gehorsam Abrahams (arab. Ibrahim) testen, indem er ihm befahl, seinen Sohn zu opfern.«594 Eine Wertung findet sich in einer Passage bei STEFAN LOOSE Marokko, in der es heißt: »Der Islam baut auf diesen beiden Religionen (Judentum und Christentum, M.T.) auf, erklärt sich aus beiden und sieht sich selbst nur als deren Vervollständigung. […] Allein Mohammed ist der letzte in dieser Reihe und rückt gerade, was die Propheten vor ihm nicht ganz richtig gemacht haben. Somit ist er, der
590 591 592 593
BAEDEKER, Marokko; 355. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 829. TRESCHER, Iran; 325. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 60. Deutlich wird in diesem Zitat eine falsche Wiedergabe der Bibelstelle (und auch des Koran). Abraham will nicht seinen Sohn opfern, sondern soll dies tun. 594 STEFAN LOOSE, Marokko; 52. Die Verwendung des Verbs »testen« in diesem Kontext verkennt deren Bedeutung. Gott stellte Abraham auf die Probe (Gen 22,1).
3. Reiseführer und Bildung
letzte, das ›Siegel der Propheten‹ und der Koran nicht mehr als die Korrektur und Vollendung von Bibel und Thora.«595 Hier wird eine Hierarchisierung deutlich, die so theologisch keinen Bestand hat: Angemessen wird erläutert, dass aus muslimischer Sicht Mohammed der letzte Prophet ist. Der Koran ist das offenbarte Wort Gottes. Nichtzutreffend ist die Wertung: Mohammed »rückt gerade, was die Propheten vor ihm nicht ganz richtig gemacht haben«. Bereits die trivialisierte Sprache verletzt theologische Grundaussagen. Auch kann nicht von einer Korrektur der Bibel/Thora gesprochen werden, sehr wohl wird aber aus muslimischer Sicht der Koran als Vollendung der Offenbarung angesehen. Die Leitfunktion im Sinne von Empfehlungen zeigt sich wie folgt: Fürsorge im Kontext der Religion wird durch Ermahnungen und Belehrungen deutlich. Der Leitfunktion in Reiseführern wird entsprochen durch Ermahnungen und Belehrungen im religiösen Kontext. Reiseführer weisen auf Regeln und Besonderheiten hin. So heißt es: »Türkische Moscheen können von Nichtmuslimen jederzeit besucht werden – nur zur Gebetszeit werden Touristen oft abgewiesen. Beachten Sie die Kleidungsvorschriften« – hier folgt eine Auflistung, und zum Schluss heißt es: »Betende sollten nicht fotografiert werden.«596 DUMONT Iran warnt, dass niemand in die Nähe des Schreins in Qom (etwa um zu fotografieren) gelangen darf. Auch wird darauf hingewiesen: »In solch einem Ambiente tun Ortsfremde anderen Glaubens gut daran, besonders sorgfältig auf diskretes Verhalten und – das betrifft vor allem Frauen – auf korrekte Kleidung zu achten.«597 Für den Trauer- und Fastenmonat wird darauf hingewiesen, dass es angemessen ist, im Iran gedeckte Farben zu tragen.598 Eine Begründung erfolgt nicht. Direkt angesprochen werden westliche Touristen im TRESCHER Iran: »Für westliche Touristen ist es wichtig zu wissen, dass auch dort (Insel Kish) die islamische Kleidungsordnung mit Kopftuch sowie Alkoholverbot gilt.«599 Direktiv geht BAEDEKER Marokko vor: »Das Fotografieren von Gläubigen bei der Ausübung ihrer Religion (Gebet, Waschung, Begräbnisse, Pilger) ist absolut tabu.«600 Eine Erklärung zu diesem Tabu wird an dieser Stelle nicht gegeben. Und
595 596 597 598 599 600
Ebd.; 110. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 60. DUMONT, Iran; 383. Vgl. ebd.; 99 TRESCHER, Iran; 541. BAEDEKER, Marokko; 473.
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auf gebotene Kleidung sei zu achten: »Generell kommt konservative Kleidung in islamischen Ländern besser an als ein freizügiges Outfit.«601 Im DUMONT Iran wird eigens in einem Infokasten, »Tipp: Wissenswertes für den Schreinbesuch«, auf Besonderheiten hingewiesen (Rundgang, Empfangsbüro für Touristen, Führungen, Zugang zu den Höfen, Sicherheitskontrolle). Den Abschluss bildet die Information: »Frauen unterliegen strikter Tschador-Pflicht602 (Achtung), anderswo besorgen und mitnehmen, da nicht ausleihbar!«603 Für den Besuch des Imamzadeh Ali ebne Jafar wird empfohlen: »Man sollte sich taktvoll verhalten, dann kann man diesen Grabturm von 1339 besuchen«604 . Eine Empfehlung wird ausgesprochen im STEFAN LOOSE Marokko: »Wo sehr gläubige Menschen leben wie in Moulay Idris, sollte man es unterlassen, Menschen abzulichten, ohne vorher zu fragen.«605 Ebenso heißt es im MICHAEL MÜLLER Türkei: »Die Tekke606 (Derwischkonvent) von Hacibektas ist heute ein Museum, das vornehmlich von Pilgern aufgesucht wird. Die Atmosphäre ist von einer stillen Religiosität geprägt, nehmen Sie darauf Rücksicht.«607 Allgemein fordert STEFAN LOOSE Marokko auf, sich über die Religion (des Islam) zu informieren, so heißt es: »Wer also in Marokko reist, sollte sich zumindest Grundkenntnisse über diese häufig falsch verstandene Religion verschaffen.«608 Aufforderungen zur Kontaktsuche und -aufnahme werden gemacht. An verschiedenen Stellen wird in Reiseführern zur Kontaktsuche und -aufnahme aufgefordert. »Im linken Nebenhof, früher eine Koranschule, treffen Sie mit etwas Glück auf einen Mullah. Sprechen Sie ihn ruhig auf Englisch an. Er ist es gewohnt, weil dafür abgestellt, mit wissbegierigen Gästen in Dialog zu treten.«609 Als Erläuterung zur Imam-Moschee führt DUMONT Iran aus: »(Im) Hof der Medrese in der Südostecke stehen manchmal angestellte Mullahs für informelle Gespräche auf Englisch zur Verfügung.«610 Im DUMONT Iran wird auf die friedvolle Atmosphäre und Willkommenskultur am Shah-Cheragh-Mausoleum hingewiesen.611 MARCOPOLO Iran weist dar-
601 602 603 604 605 606 607 608 609 610 611
Ebd.; 471. Im Original: Schador-Pflicht. DUMONT, Iran; 475. TRESCHER, Iran; 316. STEFAN LOOSE, Marokko; 312. Im Original: Tekke. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 731. STEFAN LOOSE, Marokko; 110. MARCOPOLO, Iran; 53 DUMONT, Iran; 351. »Eindrücklicher aber noch als dies (die mit Fliesen reich verzierten Portale und Kuppeln) bleiben westlichen Besuchern wohl die friedvolle Atmosphäre und die Willkommenskultur im
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auf hin, dass Interessierte im »Büro für religiöse Auskünfte« in der Stadt Qom willkommen sind. Hier heißt es: »Gehen Sie ruhig hinein«.612 Auch DUMONT Iran rät dazu: »Gäste, auch nicht-muslimische, sind herzlich willkommen, bekommen Informationsmaterial ausgehändigt und können das Team hochrangiger Geistlicher dabei beobachten, wie sie Gläubigen aus dem ganzen Land am Telefon im Akkord Ratschläge für gottgefälliges Handeln erteilen und dabei manchmal sogar den Hörer beiseitelegen, um im Namen der heilsuchenden Anrufer ein Gebet mit Fürbitten zu verrichten.«613 Diese Information wird allerdings nicht in einen Kontext gesetzt. Ungewohnt ist dabei nicht, dass Gläubige am Telefon Ratschläge erbitten (vgl. Telefonseelsorge), sondern fremd ist das Setting, dass dieser Vorgang öffentlich ist (kann beobachtet werden) und in schneller Abfolge (im Akkord) geschäftsmäßig geschieht. Potenziert wird diese Fremdheit mit dem Zusatz, dass öffentlich für den Ratsuchenden gebetet wird. Unter »Etikette« wird im BAEDEKER Marokko unterrichtet, dass Marokkaner stolz auf ihre Tradition sind, aber auch tolerant. »Sie schätzen es freilich überaus, wenn man versucht, sich an ihre Gewohnheiten bzw. an die muslimischen Regeln anzupassen.«614 Dabei zeigen sich Wertungen (Bedeutungsbeimessungen und normative Setzungen): Die Kenntnisnahme der Religion wird in Relation zum Reiseverlauf und angenommenen Reiseerwartungen gesetzt. Normative Wertungen werden dadurch deutlich, dass die Kenntnis der Religion in Relation zum Reiseverlauf und angenommenen Reiseerwartungen gesetzt wird: »Während des Ramadan trifft man hier auf kein einziges geöffnetes Restaurant.«615 Hierauf wird im MICHAEL MÜLLER Türkei der Reisende hingewiesen. Der Gebetsrufer erlangt touristische Bedeutung, wenn es heißt, dass dieser für Europäer so verheißungsvoll und orientalisch klingt616 , was dem Wunsch nach Exotik entspricht. Im BAEDEKER Marokko ist zu lesen: »Marokko – das ist der Ruf der Muezzine, der kurz vor dem Morgenrot zum ersten Mal wie ein Sphärengesang ins Unterbewusstsein dringt«617 . Ein Vergleich des Muezzinrufs mit Sphärengesang als einem fast überirdisch schön empfundenen Gesang stellt
Gedächtnis, mit der man in diesem Brennpunkt schiitischer Frömmigkeit auch nicht-muslimischen Gästen begegnet.«; S. 277. 612 MARCOPOLO, Iran; 67. 613 DUMONT, Iran; 384. 614 BAEDEKER, Marokko; 471. 615 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 780. 616 Vgl. ebd.; 60. 617 BAEDEKER, Marokko; 12.
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die Besonderheit und Fremdheit heraus, dies jedoch in Verkennung der Funktionalität eines Muezzinrufs, der kunstreich zum Gebet aufruft. Vor der iranischen Stadt Qom wird tourismusorientiert gewarnt: »Zu einem längeren, entspannten Verweilen lädt die Stadt Andersgläubige aufgrund ihres asketischen und eher rigorosen Wesens allerdings nicht ein.«618 Und an anderer Stelle findet man unter der Rubrik »Abends & Nachts«: »Entertainment in der Heiligen Stadt? Vollständige Fehlanzeige.«619 Im BAEDEKER Marokko heißt es: »Urlauber, die bereit sind, sich auf den Ramadan-Rhythmus einzustellen – das heißt morgens länger zu schlafen und abends mit den Marokkanern zu feiern – werden mit einem ganz spezifischen Zauber belohnt, der nur dem Fastenmonat eigen ist.«620 Auch an diesem Zitat wird deutlich, dass dem Fremden ein Wert zugesprochen wird (»Zauber«), jedoch wird durch die Wortwahl eine Verschiebung sichtbar hin zu einem Erlebnis, dessen eigentlich religiöser Charakter kaum mehr wahrgenommen wird. Auf die Vorzüge während des Ramadan wird hingewiesen: »Nobelrestaurants untermalen die Zeit vom Ftour bis zum S›hour mit andalusischer Musik und Folklore.«621 Unter einer eigenen Rubrik »BAEDEKER Wissen: Ramadan-Rausch« wird der allabendliche Fastenbrechen-Feiercharakter (»Die Nacht wird zum Tag«) betont, die Geselligkeit herausgestellt und erst an späterer Stelle von religiösen Bräuchen gesprochen. Hier wird dann erwähnt, dass im Ramadan auch viel gebetet wird.622 Gerade die Ausführungen zum Ramadan mit implizierter tourismusorientierter Wertung fallen in den einzelnen Formaten (wie oben gezeigt) unterschiedlich aus: Zum einen werden die Vorzüge und Besonderheiten herausgestellt, zum anderen werden Empfehlungen ausgesprochen: »Reisen im Ramadan. Wer es vermeiden kann, sollte außerhalb des Ramadan reisen. […] Die Menschen sind aggressiver und müder.«623 Ein weiterer Aspekt sind die muslimischen Speisegebote, auf die touristisch eingegangen wird: »Schweinefleisch ist für gläubige Muslime tabu, wird aber in größeren Hotels für Touristen angeboten.«624 Wertend ist die Äußerung in MARCOPOLO Marokko: »Das Heiligengrab von Moulay Idriss II. wird Ihnen als Nicht-Muslim nicht viel bieten, da es nur für Muslime geöffnet ist. Draußen aber können Sie es sich gemütlich machen, Gläubige beobachten, die die Wände des Baus küssen und so ihren Segen erhalten.«625 Die618 619 620 621 622 623 624 625
DUMONT, Iran; 380. Ebd.; 387. BAEDEKER, Marokko; 49. Ebd. Ebd. STEFAN LOOSE, Marokko; 32 BAEDEKER, Marokko; 98. MARCOPOLO, Marokko; 49.
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se Formulierung – der Beobachtung der Segen erhaltenden Gläubigen durch das Wände-Küssen – ist irritierend, verhindert ein Sich-Einlassen auf Frömmigkeit und kann als zynisch und die Religiosität verletzend empfunden werden. Ein sensibles Verhalten während der Reise wird gefordert im BAEDEKER: »Moulay-Idriss […] als Wallfahrtsort (ist) Ziel besonders strenggläubiger Pilger. […] So sollte man gerade hier besondere Sensibilität beim Fotografieren, insbesondere von Pilgern und Frauen, walten lassen und die Zutrittsverbote respektieren.«626 Religion als Sehenswürdigkeit wird zum Objekt des Reisens. Religion – wahrzunehmen als Frömmigkeit und Ausdruck religiösen Empfindens, besonders aber repräsentiert in Bauwerken – wird als Sehenswürdigkeit zum Objekt des Reisens. Durchgängig wird in allen Formaten auf architektonisch und religionshistorisch bedeutsame Gebäude, Stätten und Städte hingewiesen. Als Superlativ wird z.B. die Mosquée Hasan II beschrieben: »Das größte Gotteshaus der islamischen Welt außerhalb Mekkas steht in Casablanca«.627 Erläuternd zum Minarett der Koutoubia heißt es: »Es steht in dem Ruf, das vollkommenste und schönste aller Bauwerke dieses Typus im westislamischen Bereich zu sein.«628 Im Vorwort TRESCHER Iran wird formuliert: »Die Religiosität im Iran ist augenfällig, aber selten fanatisch. Bis auf die innersten Bezirke der drei schiitischen Hauptheiligtümer in Mashad, Qom und Shiraz können Reisende alle Moscheen besuchen und deren Architektur bewundern.«629 Hier wird die Engführung auf die Architektur eigens erwähnt. Eine konsumierende Haltung wird z.B. bedient durch die folgende Aussage: »Da die Schaufassaden (der bedeutendsten Pilgerstätte Qazvins, Imamzadeh Hoseyn – Mausoleum, M.T) bereits kurz nach Sonnenaufgang im Schatten liegen, lohnt es, dieses Heiligtum bei Abenddämmerung aufzusuchen, denn erst in Kombination mit dem Scheinwerferlicht entfalten die Farben der Fliesen ihre volle Wirkung.«630 Die Reduzierung eines Heiligtums auf ästhetische Elemente verkennt deren religiöse Bedeutung und erschwert das Kennenlernen einer fremden Religion. Im MICHAEL MÜLLER Türkei wird darauf hingewiesen, dass »Konya, die konservative, ehemalige Seldschukenhauptstadt […] ein Tipp (ist) für Moscheeliebhaber ohne Bierdurst.«631 Zweifelhaft ist der Kontrast in diesem Zitat: Zum einen werden die Rezipienten (als Reisende) in einer Spanne von Biertrinkern und Mo-
626 627 628 629 630 631
BAEDEKER, Marokko; 332. MARCOPOLO, Marokko; 45. BAEDEKER, Marokko; 281. TRESCHER, Iran; 13. Ebd.; 187. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 613.
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scheeliebhabern abgegrenzt, zum anderen werden Moscheen auf Sehenswürdigkeiten enggeführt. Auch auf christliche Kirchen als Sehenswürdigkeiten wird aufmerksam gemacht, so unter Akdamar: »Reizvoller können Kirchen kaum liegen, kunsthistorisch kaum interessanter sein.«632 Mit dem Beisatz »kunsthistorisch« wird zugleich ein Wahrnehmungsdispositiv deutlich. Für das Heiligtum der Zoroastrier in Yazd wird angemerkt: »Alle, alle machen sie hier Station. Draußen vorm Eingang stauen sich die Busse. Drinnen im Hof reden sich die Guides die Münder fusselig. Das soll so sein, denn wie oft in einem Reiseleben steht man vor dem heiligen Feuer eines Zoroastriertempels? Noch dazu einem, das seit 1500 Jahren nie erloschen ist.«633 Auf »das Besondere« wird hingewiesen, wobei dies die alleinige Bedeutungsbeimessung zu sein scheint, sieht man davon ab, dass mit dem Zusatz »alle, alle« auf ein touristisches Pflichtprogramm hingewiesen wird. Weder religiöse Zusammenhänge werden thematisiert, noch wird erläuternd in die religiöse Bedeutung eingeführt. Respektlos ist zudem die Fortführung: »Irgendwie war›s das dann nach zehn Minuten aber. Bei aller Ehrfurcht.«634 Ein Lernen über Religion wird so nicht ermöglicht, da Objekte profanisiert werden, d.h. ohne ihre eigentliche (religiöse) Bedeutung als besichtigungswert benannt werden. Aussagen zur Religion werden westlich-europäisch bewertet. Im Zusammenhang mit der Darlegung der fünf Säulen des Islam und der Pflichten der Gläubigen heißt es: »Bei einigen Geboten gibt es Spielräume«635 . Dies wird aus westlicher Perspektive als positiv im Sinne von liberal bewertet, hier verweist der Autor auf die eingeschränkte Pflicht zur Pilgerfahrt, die Möglichkeit der Waschung als bloßes Ritual und die Sonderstellung von Schwangeren während des Ramadan. Im Eingangskapitel des DUMONT Iran wird auf die Nivellierung von Gegensätzlichkeit hingewiesen mit dem Anspruch, dass es zu einer Vermittlung zwischen den Glaubens- und Geisteswelten des Morgen- und Abendlandes kommen soll.636 U.a. werden auch Hierarchisierungen innerhalb der Religion formuliert. Nach einer Einführung, dass der Islam sich in verschiedene Gruppierungen gliedere, heißt es in Abgrenzung zur Schia in Iran: »Rund 25 % der Türken, darunter viele Kurden, 632 633 634 635 636
Ebd.; 891. MARCOPOLO, Iran; 70. Ebd. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 59. DUMONT, Iran; 9. »Zugrunde liegt diesem Buch aber vor allem der tief empfundene Wunsch des Autors, der von Medien allzu gern praktizierten Simplifizierung entgegenzuwirken. Es soll zur Vermittlung zwischen den Glaubens- und Geisteswelten des Morgen- und Abendlandes beitragen, die trotz ihrer jahrtausendealten gemeinsamen Geschichte immer wieder – und heute mehr denn je – als viel zu gegensätzlich beschrieben werden.«
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sind Aleviten637 , die der Schia638 zugerechnet werden. Mit der Schia iranischer Prägung hat der Alevismus die Nachfolgeregel gemein, lehnt als libertäre, tolerante Glaubensrichtung (u.a. Gleichstellung von Mann und Frau, kein Fasten im Ramadan, keine Moscheen, dafür Versammlungen, an denen auch Frauen teilnehmen) aber z.B. die Scharia639 ab.«640 Dieser Erläuterung folgt unmittelbar eine Abwertung im Sinne von überholt: So wird die Scharia erklärt als überliefertes, antiquiertes islamisches Rechtssystem. Bei der Beschreibung der Religion im BAEDEKER Türkei werden die Alawi von den Sunniten und Schiiten abgegrenzt durch: »(Sie) sind wesentlich weltoffener und unorthodoxer641 . U.a. kennen sie kein Alkoholverbot, und sie schließen Frauen nicht aus der Gesellschaft aus.«642 Bezogen auf das Bilderverbot im Islam643 werden wertende Aussagen getätigt: »Auf dem Land ist es immer noch sehr schwierig, Portraitaufnahmen zu machen. Besonders Frauen verbergen ihr Gesicht vor der Kamera.«644 Personen werden als touristische Objekte instrumentalisiert. Zudem wird die Rückständigkeit durch »immer noch« zur westlichen Vergleichsgesellschaft formuliert. Ferner heißt es: »Der Islam ist bilderfeindlich; viele Muslime empfinden es noch heute als entwürdigend, fotografiert zu werden.«645 Zu dem im marokkanischen Islam integrierten Geisterglauben schreibt STEFAN LOOSE: »Bei uns in Europa werden diese Dinge als Aberglaube abgetan. In Marokko aber sind solche religiösen Praktiken durchaus im Alltag inbegriffen. Der Sprachgebrauch ist voller Segenswünsche und Abwendungen von Geistern. Statt zur Psychotherapie werden psychisch kranke Menschen zur Geistheilerin646 geschickt.«647 Unangemessene Bezüge werden zwischen Alltag, Aberglaube, religiösen Praktiken und Geistheilerinnen gezogen. Aus spiritueller Sicht können Geistheilerinnen eine hohe Bedeutung haben, dies jedoch in (eher) verächtlicher Sprache mit Aberglauben (oder auch mit Psychotherapie) zu vergleichen, ist deplatziert. Eine weitere Besonderheit ist, dass bei den Lesern/Rezipienten nicht, oder zumindest nicht offensichtlich, von deutschen (oder deutschsprachigen) MuslimIn-
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Im Original: Aleviten. Im Original: Schia. Im Original: Scharia. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 59. Im Original: weltoffener und unorthodoxer. BAEDEKER, Türkei; 33. Hierauf wurde bereits im »Exkurs: Fotografie und Wahrnehmung« eingegangen. BAEDELER, Marokko; 473. Ebd.; 472. Im Original: Geistheilerin. STEFAN LOOSE, Marokko; 115.
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nen ausgegangen wird.648 Die Darlegungen orientieren sich an der vermuteten Unkenntnis der Glaubensaussagen und Erscheinungsformen des Islam bei den Reisenden. Zu fragen wäre: Reisen muslimische Deutsche oder in Deutschland bzw. im deutschsprachigen Raum Lebende nicht in die Länder Iran, Marokko und Türkei? Kaufen diese keine Reiseführer? Welche Informationen sind für diese »Reisegruppe« (auch hier liegt bereits eine Engführung und Homogenisierung vor) relevant? Die Reduzierung der Inhalte und die Fokussierung der Sicht bedarf zumindest einer kritischen Überprüfung und entsprechenden Anpassung.
3.5.2
Reiseführer – eine Möglichkeit der interreligiösen Bildung?
Anhand der Aufgaben Information und Leitfunktion, die bereits unter der Fragestellung, wie in die Religion(en) der Reisedestinationen eingeführt wird, konnte deutlich gemacht werden, dass Reiseführer (interreligiöses) Lernen intendieren. • • •
Wissen wird vermittelt, so dass ein Verstehen ermöglicht wird; Kontexte werden erschlossen, so dass Einblicke möglich sind. Auf Beeindruckendes und Faszinierendes wird eigens eingegangen, so dass die Werthaftigkeit und Bedeutung herausgestellt werden.
Vertiefend werden nun Wertungen in den Reiseführern analysiert. Es lassen sich hierbei Stereotype finden, die ein interreligiöses Lernen erschweren bis verhindern: Wiederum werden vorab thesenartig die Ergebnisse genannt und anschließend erläutert: • • •
Eine konsumierende Haltung im Kontext von Religion wird provoziert. Insgesamt wird eine Homogenisierung (der Gläubigen) des Islam betrieben, die die Vielfalt der Konfessionen innerhalb des Islam nicht widerspiegeln. In Teilen lassen sich Ironie, Überzeichnungen und Zynismus feststellen, die ein religiöses Lernen verhindern und blockieren.
Eine konsumierende Haltung im Kontext von Religion wird provoziert. Wird zwar der Anspruch einer Verstehenshilfe eigens formuliert und Interessantes und Beeindruckendes hervorgehoben, so erfolgt doch eine stigmatisierende Beschreibung von Frömmigkeit: »Die Inbrunst der Wallfahrer und die stolze Unnahbarkeit der Geistlichen zu erleben hilft, eine wichtige Facette des iranischen Wesens besser zu ver-
648 In Deutschland leben zwischen 4,4 und 4,7 Mio. Muslime. http://www.bmi.bund.de [23.08.2020]
3. Reiseführer und Bildung
stehen.«649 Auch werden Pilger als Objekte der Anschauung dargestellt: »Besonders beeindruckend ist die große Zahl von Pilgern«650 . Zu Jamkaran wird beschrieben, dass man hier »weitere hochinteressante Einblicke in das religiöse Empfinden frommer Schiiten gewinnen«651 kann. Im Zusammenhang mit dem Imam-Reza-Mausoleum wird erläutert, dass »täglich Tausende von Gläubigen voller Ehrfurcht und Inbrunst mit Händen und Lippen (den Sarkophag) berühren. Faszinierend zu beobachten ist draußen auf dem EnqelabHof der nicht enden wollende Strom von Pilgern, unter ihnen viele Rollstuhlfahrer, Behinderte, aber auch Männer mit Särgen auf den Schultern, die gekommen sind, um Linderung ihrer Leiden bzw. Segen für den Verstorbenen zu erbitten.«652 Es erfolgen Zuschreibungen von gelebter Spiritualität/Frömmigkeit als Inbrunst und eine Betonung der großen Zahl von Personen. Liegt bei »beeindruckend« und »ehrfurchtsvoll« zwar eine positive Konnotation vor, so wird dennoch auf Faszination und Besonderheitsdarstellung abgezielt. Von den Tugenden »Empathie und liebevolle Aufmerksamkeit« (von Stosch) als Voraussetzung der komparativen Theologie, die sich u.a. in teilnehmender Beobachtung und einem partiellen Mitvollzug der religiösen Praxis zeigen können, ist diese Form der konsumierenden Beobachtung zu unterscheiden. So heißt es im STEFAN LOOSE Iran: » […] ist Moulay Idirs doch ein netter Ort, um ein wenig marokkanisches ›Heiligenflair‹ zu schnuppern.«653 Auf das Erleben einer »heiligen Aura« wird hingewiesen für Tameslohte.654 Empfohlen wird der Besuch Mzouras mit: »Wer einen mystischen Ort besuchen möchte, dem bedeutsame Kräfte nachgesagt werden, sollte den Ausflug nach Mzoura nicht verpassen.«655 Bei dieser Aufforderung wird der konsumierende Besuch (z.B. Ausflug), verstärkt durch die Wahrnehmungsdispositive »Flair« und »Aura«, im Vergleich zu einem möglichen »Lernen in Religion« betont. Insgesamt wird eine Homogenisierung (der Gläubigen) des Islam betrieben, die die Vielfalt der Konfessionen innerhalb des Islam nicht widerspiegelt. Handlungen und Haltungen werden essentialisiert, d.h. es erfolgt eine Festschreibung des Anderen auf seine Andersartigkeit. Formuliert der BAEDEKER Marokko noch objektiv: »Für einen gläubigen Muslim besteht strenges Alkoholverbot« (S. 99), so behauptet der MARCOPOLO Marokko: Gläubige Marokkaner halten sich an das islamische Alkoholver-
649 650 651 652 653 654 655
MARCOPOLO, Iran; 66. TRESCHER, Iran; 464. DUMONT, Iran; 388. Ebd.; 477. STEFAN LOOSE, Marokko; 312. Ebd.; 169. Ebd.; 355.
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bot und trinken Cola oder Limonade zum Essen.«656 Des Weiteren heißt es dort verallgemeinernd: »(Jede) Woche, nach dem traditionellen Freitagsgebet in der Moschee, wartet zu Hause Couscous auf dem Tisch«657 und »Marokkaner halten alle religiösen Feiertage strikt ein.«658 Differenzierter formuliert BAEDKER Marokko: »Mit stoischem Gleichmut befolgen die Gläubigen die Ramadan-Gebote, wie sie im Koran, Sure 2, formuliert sind. […] Säkularisierte und Willensschwache verhalten sich wenigstens in der Öffentlichkeit ramadankonform, nicht zuletzt deshalb, weil einheimische muslimische Fastenbrecher strafrechtlich verfolgt werden.«659 Die weitreichendste Unterteilung der muslimischen Richtungen findet sich im TRESCHER Iran. Aber auch hier zeigt sich eine Engführung, so wird mit muslimischen Kleidungsvorschriften das Tragen eines Kopftuches verbunden. Die Bedeckung der Frau ist zwar Pflicht in Iran und in einigen weiteren Ländern, aber kein Konsens für Muslima weltweit. Eine falsche Verquickung von Religion, Politik und Terrorismus findet sich in MICHAEL MÜLLER Türkei: »Konya gilt als Islamisten-Hochburg mit über 70 % AKP-Wählern. Es gibt kaum ein Lokal mir Alkoholausschank und selbst die Muezzine rufen hier aggressiver zum Gebet als anderswo in Westanatolien.«660 Die Wortfeldzusammenstellung ist dabei nicht korrekt und suggestiv bis irreführend: Islamisten-AKP, Islamisten-AKP-Alkoholverbot, Konya – Kontrast zu Westanatolien – aggressive Muezzine. In Teilen lassen sich Ironie, Überzeichnungen und Zynismus feststellen, die ein religiöses Lernen verhindern und blockieren. Eine Instrumentalisierung der Religion zu politischer Machtdemonstration findet sich z.B. in folgender Aussage: »Seitdem (Machtübernahme durch die AKP, Anm. M.T.) sprießen neue Moscheen wie Pilze aus dem Boden, etwa 17.000 […]. In Istanbul entsteht gar eine Megamoschee mit den höchsten Minaretten der Welt (weit über 200 m hoch), die weithin sichtbar von der Größe Allahs und der Herrlichkeit Erdogans künden soll.«661 Hier wird der (religiöse) Begriff der Herrlichkeit Gottes auf Erdogan übertragen, dies ist anmaßend und zynisch. Ein unangemessener Vergleich: »Die Koutoubia Moschee (Jemaa el Kotbiya) ist für Marrakech das, was der Eiffelturm für Paris und die Freiheitsstatue für New 656 657 658 659 660 661
MARCOPOLO, Marokko; 29. Ebd.; 26. Ebd.; 15. BAEDEKER, Marokko; 48. MICHAEL MÜLLER, Türkei; 663. Ebd.; 58. Im März 2019 wurde diese Moschee in Istanbul eröffnet. In der Presse war dazu zu lesen: »Prestigeprojekt von Präsident Erdogan. Größte Moschee der Türkei in Istanbul eröffnet. Sie hat sechs Minarette und bietet Platz für bis zu 63.000 Menschen«. (http://www.spie gel.de – 07.03.2019) [23.09.2020]
3. Reiseführer und Bildung
York ist.«662 Eine Stätte des Glaubens (als Sakralbau) mit Profanbauten zu vergleichen, ignoriert deren spirituelle Bedeutung und reduziert sie auf die Kriterien von Sehenswürdigkeiten (Architektur, Besonderheit). Eine weitere Respektlosigkeit findet sich ebenfalls bei einer bereits angeführten Analogie: »Weihnachtsstimmung auf Türkisch! Santa-Claus-Festival«663 . Zunächst handelt es sich um eine falsche Bezüglichkeit von Weihnachten und dem Hl. Nikolaus, die ja nur zeitlich eng im christlichen (katholischen) Festkreis beieinander liegen. Zudem führt die Bezeichnung Festival im Kontext mit einer Heiligenverehrung zu Unverständnis bis hin zur Diffamierung. Von noch größerem Unverständnis gegenüber dem wissenschaftlich-intellektuellen iranischen Schiismus zeugt die Beschreibung der Stadt Qom als ein Ort mit besonderem »Ambiente«. Es handelt sich hier weder um eine Inszenierung, noch um eine gewollte Außenwirkung, hier werden religiöse Werte und gelebte Spiritualität herabgewürdigt. Zur Stadt Qom wird im DUMONT ausgeführt: »In keiner anderen Großstadt Irans begegnet man so vielen Frauen, die ihre Körper noch vom Scheitel bis zur Sohle in den pechschwarzen Tschador hüllen, nirgendwo so vielen Mullahs, die vollbärtig, beturbant und mit in der Regel sehr distinguiertem Gehabe in ihren langen schwarzen Roben durch die Straßen wallen. Nirgendwo sonst liegt eine ähnliche religiöse Kompromisslosigkeit und latente Trauer in der Luft.«664 In diesem Zitat werden in verdichteter Form unzulängliche Beschreibungen, die bereits zu Spott und Hohn zu rechnen sind, vorgenommen. Durch die Begriffe »beturbant«, »distinguiertem Gehabe« und »durch die Straßen wallen« wird die objektive Beschreibung gänzlich verlassen und lächerlich gemacht. Auch durch das umgangssprachlich emotional verwendete »pechschwarz« im Kontext des Tragens eines Tschadors werden stereotype Bilder bedient, die diskriminierend und diskreditierend sind. Fazit Das Inhaltsfeld der Religion ist zwar in allen Formaten präsent und auf die Relevanz der Religion weisen alle hin, jedoch findet keine vertiefte Information oder Auseinandersetzung statt. Rudimentäre Wissensbestände als Grundinformationen, untermauert mit Geltungsansprüchen, werden in einer Heterointerpretation dargelegt. Reiseführer mit dem didaktischen Anspruch der Wissensvermittlung und Führung bilden für den Bereich der Religion nur einen sehr reduzierten Teil der Realität ab, auch sind falsche Aussagen enthalten. Dies kann zwar als Orientierungsrahmen gelten, auch wird in Teilen der Fürsorgeaufgabe genüge getan, je662 BAEDEKER, Marokko; 279. 663 MICHAEL MÜLLER, Türkei; 414. 664 DUMONT, Iran; 383
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doch bleibt es sowohl auf der Sachebene, als auch auf der Ebene der Ermöglichung der Selbstständigkeit (Aufforderungscharakter) bei marginalen Ansätzen. In einer deutlichen Heterointerpretation ohne Kenntlichmachung des eigenen Bezugsrahmens wird in die Religionen eingeführt. In Teilen finden sich Reproduktionen von Vereinfachungen und Stereotypen. Abschließend muss formuliert werden, dass die Darlegungen und Erläuterungen der Religion(en) in einem musealen Anschauungsmodus verharren, es werden zwar Kenntnisse über die Religion vermittelt, die beiden weiteren Ebenen – Lernen in Religion und Lernen von Religion – werden jedoch nicht vorbereitet. Sowohl von christlich theologischer, als auch von islamisch theologischer Seite lassen sich vielfach Vereinfachungen in den Darstellungen und Erläuterungen feststellen. Es geht weder um eine Kontingenzbegegnung, noch um eine Kontingenzbewältigung. Wahrheitsansprüche werden nur formuliert, aber nicht erläutert oder in den Diskurs gebracht. Besonders bei der Darstellung von Sakralräumen wird deren Reduzierung auf Sehenswürdigkeiten (der Architektur) deutlich, obwohl sie keinem Selbstzweck dienen, die Ausübung von religiösen Praktiken damit verbunden wird und Glaubenshandlungen (über Symbole und Riten) darin stattfinden. Wie bereits bei der Analyse der Kulturdarstellungen, lassen sich ebenfalls die Kriterien der Adressatenorientierung, der Konstruktion von Imaginationen und des Bedienens von Reisemotiven nachweisen.
3.5.3
Interreligiöse Bildung und ihre Anschlussfähigkeit an Reiseführer – eine Aufforderung
Bildungstheoretisch stellt sich die Frage: »Was und wie lernt man im religiösen Bereich, wenn man mit fremden Konfessionen (und Religionen, Anm. M.T.) konfrontiert wird?«665 Zwei Interaktionsmodelle unterscheidet Ladenthin hierbei: die Anpassung und die Ablehnung. Eine mögliche Brücke hin zu einer bildenden Interaktion, bei der beide »Gesprächspartner« verändert aus der Situation entlassen werden, bildet die Analogie, indem ähnliche Strukturen und Sachverhalte in einen Zusammenhang gestellt werden und so neue Einsichten entstehen können. In jedem Fall werden das Vorverständnis und der eigene Orientierungsrahmen davon tangiert. In der Analogie werden die beiden Analogate nicht identisch gemacht, sondern in ihrer Differenz beibehalten und auf Gemeinsamkeiten hin befragt. »Analogisches Handeln besteht gerade nicht darin, etwas nachzuahmen oder andere Menschen nachzuahmen, sondern darin, die Aufgabenstruktur in der Basis zu erkennen und die in der Basis formulierte Lösung als Aufgabe zu nehmen. Dabei ist etwas Bestimmtes vorausgesetzt. Zwischen Basis und Interrogatum muss es etwas Gemeinsames geben. Der sich analog zu jemand anderem Verhaltende 665 Ladenthin, Wie und was lernt man bei religiöser Interaktion?; 240.
3. Reiseführer und Bildung
muss mit ihm etwas Gemeinsames haben, denn nur dann kann er auch sicher sein, dass er und der andere die gleiche Aufgabe haben.«666 Bildung findet so in einer paradoxen Situation statt: In der pädagogischen Interaktion findet eine Aufforderung in der Praxis statt, die nicht auf eine allgemein gültige Aussage hinzielt. Das Tertium comparationis, welches das Vergleichbare zur Sichtung und Sprache bringt, ist nur innerhalb der je spezifischen Praxis, also des aktuellen Begegnungsgeschehens zu suchen. »Würde jemand das Tertium comparationis einer Analogie angeben, so würde die Analogie ihrer Eigenheit beraubt, nämlich eine Inbezugsetzung erst noch zu suchen und etwas Gültiges jenseits des Sagbaren vorauszusetzen«667 . Dies geschieht ohne Hierarchisierung oder Setzung immanenter Machtund Geltungsansprüche. Das Allgemeine wird weder gesucht, noch als Kriterium des Vergleichs im Vorfeld bestimmt. Das analogische Verhältnis in einer pädagogischen Interaktion beinhaltet für Ladenthin Lernen. In diesem Prozess wird ein wertender und verstehender Umgang mit dem Fremden initiiert, der das Fremde analog wahrnimmt und das eigene einer neuen Sichtung unterzieht. Wichtig ist, dass etwas Bestimmtes vorausgesetzt ist, d.h. dass es ein Analogat gibt. Um sich also dieser Herausforderung zu stellen, ist eine eigene Positionierung und Selbstvergewisserung notwendig. So wäre es für das Christentum wichtig, – hier dann für jeden gläubigen Christen – seinen eigenen Anspruch zu klären. In sich erfolgt so schon kontextuell-dialogische Theologie (Waldenfels), die von dem Bemühen gekennzeichnet ist, die christliche Glaubensbotschaft auf den jeweiligen geschichtlichen Kontext hin zu artikulieren.668 Auf Grund des jeweiligen Wahrheitsanspruchs von Religionen wäre ein Konkurrenzverhalten der Religionen naheliegend, das sich geschichtlich an vielen Glaubenskriegen festmachen lässt. Auch verschiedene Missionsansätze bedürfen der kritischen und auch ablehnenden Beurteilung. Worum es aber heute geht, ist ein Verständnis für den und ein Anerkennen des Anderen. Die Zeichen der Zeit müssen wahrgenommen und konstruktiv aufgegriffen werden. In einer globalisierten Welt steht die Kirche als Institution des Christentums vor der Aufgabe der Gestaltung einer Begegnung und eines Dialogs mit anderen (Welt)Religionen. Inwieweit sie hierbei auf Grund ihres Selbstverständnisses noch einen missionarischen Anspruch erhebt, wird an einer anderen Stelle näher zu beleuchten sein. Zu unterscheiden in Hinblick auf mögliche Begegnungs- und Dialogpartner sind Auto- und Heterointerpretationen (Schoonenberg). Jede Heterointerpretation sollte behutsam und vorsichtig vorgehen und erst im Anschluss an eine detaillierte und ausreichende Beschäftigung mit der Autointerpretation erfolgen. 666 Ebd.; 263. 667 Ebd.; 265. 668 Vgl. Waldenfels, Hans, Begegnung der Religionen. Bonn 1990; 11.
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Reiseführer – illusorische Medien der Bildung
»In religiösen Bildungsprozessen wird […] zu einem Weltbetrachtungsexperiment eingeladen: Anders als in authentischer religiöser Praxis selbst, aber in Bezug auf die Sprachformen religiöser Praxis sollen die Lernenden sich selbst und die Welt – und damit auch die Wissensbestände und Geltungsansprüche anderer, z.B. wissenschaftlicher Weltsichten- probeweise in eine religiöse Perspektive rücken.«669 Interreligiöses Lernen kann verstanden werden als eine Lerndimension oder als ein Lernprinzip (Rickers). Es bildet eine strukturelle und intentionale Vorgabe für verschiedene Situationen, in denen Menschen unterschiedlicher Religionen sich mit dem Ziel der Verständigung begegnen. Die Aufgabe, die sich nun, erweiternd zum Analogieverständnis Ladenthins zeigt, bedarf der vertiefenden Diskussion der Ausgangsfrage: Wie finden interreligiöse Lernprozesse statt? Streib schreibt dazu, dass interreligiöse Lernprozesse mit Erfahrungen von Fremdheit verbunden sind.670 Diese Fremdheitserfahrungen müssen jedoch ihrem produktiven Potenzial gerecht werden. Sie sollen Irritationen und Staunen auslösen und Neugier und Wissensbedarf wecken. Es geht, um in einem Schlagwort zu münden, um die »Kultivierung von Fremdheit«. Der Ruf nach der Ausbildung einer »Differenzkompetenz« (Korsch) wird auch hier – vergleichbar mit der interkulturellen Bildung – laut. Durch einen Perspektivenwechsel soll sowohl eine Eigenals auch eine Fremdinterpretation in reziproker Weise erfolgen. Dies entspricht der bildenden Interaktion des analogischen Handelns (Ladenthin), bei der die Gesprächspartner verändert aus der Situation herausgehen werden. An dieser Stelle bleibt die Frage, ob es sich eher um eine kognitiv-rationale Herangehensweise oder um erfahrungsbezogene Bemühungen handelt, bzw. wie und ob eine Inklusio möglich ist. Es stellt sich somit auch die Frage nach der Machbarkeit und eventuellen Überforderung in Bildungsprozessen des interreligiösen Lernens. Es kann festgehalten werden, dass es nicht um eine verobjektivierte Sicht gehen kann, vielmehr muss das Be-fremden Raum haben. Grundlagen für eine Xenosophie bilden sowohl eine »Kultur der Anerkennung des anderen in seiner Andersheit« (Metz), als auch eine »Philosophie des Anderen« (Lévinas), die als Ethik vom Anderen her denkt. »Interreligiöse Bildung meint eine dialogische Begegnung zwischen Angehörigen unterschiedlicher Religionen, die eine vertiefte Kenntnis des und der anderen und eine persönliche Auseinandersetzung mit diesen zur Folge hat. Eine anschließende Veränderung des eigenen Standpunktes ist
669 Dressler, Bernhard, Religiöse Bildung und Schulung. In: Schreiner, Peter; Sieg, Ursula; Elsenbast, Volker, Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh 2005; 85-100; 95. 670 Streib, Heinz, Wie finden interreligiöse Lernprozesse bei Kindern und Jugendlichen statt? Skizze einer xenosophischen Religionsdidaktik. In: Schreiner, Peter; Sieg, Ursula; Elsenbast, Volker, Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh 2005; 230f.
3. Reiseführer und Bildung
möglich, ohne dass Differenz überspielt wird.«671 Das Kennenlernen des und der Anderen impliziert in der Regel eine Profilierung des Eigenen. In diesem Zusammenhang wird oft der Vorgang des Erlernens einer zweiten Sprache als Vergleich bemüht. Das Erlernen einer weiteren Sprache bezieht sich immer auf die erste, die sogenannte »Muttersprache« und lässt diese deutlicher und strukturierter zu Tage treten. Vermieden werden muss in allem die Inanspruchnahme einer Superiorität. Es kann nicht um ein exklusivistisches Wahrheitsverständnis gehen, da so jegliche dialogische Grundhaltung unterlaufen werden würde. Es geht um die Leitregel der Wechselseitigkeit der Anerkennung und die reziproke Gleichwertigkeit der Gesprächsteilnehmer. Selbstreflexivität als Bedingung und Ziel der Auseinandersetzung sind ebenso zu nennen wie die Erfordernis einer Ambiguitätstoleranz, verstanden als Fähigkeit, im Vollzug des Perspektivenwechselns das Spannungsverhältnis zwischen unvereinbaren Gegensätzen und die Mehrdeutigkeit von Aussagen aushalten zu können.672 Das bildende interreligiöse Lernen (Nipkow) basiert auf der Vermittlung, Erläuterung und dem Erwerb systematischer und mehrperspektivischer Informationen über Religionen. Dieses Wissen versteht sich als reflektiertes Wissen im Sinne eines Verstehens, das Selbst- und Fremdverstehen vereint. Wie bereits festgestellt, ist die mehrseitige Perspektivübernahme zur Ausbildung interreligiösen Urteilsvermögens unerlässlich.673 Als methodische Grundstruktur des interreligiösen Lernens ist der Dialog zu nennen, der aber nicht in ein Verständnis des bloßen Miteinander-Redens enggeführt werden darf. Vielmehr geht es um den Dialog des Lebens, des Handelns, des theologischen Austausches und der religiösen Erfahrungen.674 Hans Waldenfels hat einen Anforderungskatalog zum Dialog formuliert; danach erfordert er: • • •
671
»den Blick auf den anderen aus der Sicht der anderen Religion selbst, den Blick auf sich selbst, den Blick auf den anderen aus dem eigenen Sichtwinkel,
Pohl-Patalong, Uta, Interreligiöse Bildung. In: Lämmermann, Godwin; Naurath, Elisabeth; Pohl-Patalong, Uta; Arbeitsbuch Religionspädagogik. Ein Begleitbuch für Studium und Praxis. Gütersloh 2005; 100 – 106; 103. 672 Vgl. Kiechle, Jürgen; Ziebertz, Hans-Georg, Konfliktmanagement als Kompetenz interreligiösen Lernens. In: Schreiner, Peter; Sieg, Ursula; Elsenbast, Volker, Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh 2005; 290f. 673 Vgl. Nipkow, Karl Ernst, Ziele interreligiösen Lernens als mehrdimensionales Problem. In: Schreiner, Peter; Sieg, Ursula; Elsenbast, Volker, Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh 2005; 362-380; 371. 674 Vgl. Schlüter, Richard, Methoden des interreligiösen Lernens: Grundsätzliche Überlegungen. In: Schreiner, Peter; Sieg, Ursula; Elsenbast, Volker, Handbuch Interreligiöses Lernen. Gütersloh 2005; 557-566; 558.
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• • • • • •
den Blick auf das Urteil des anderen über die eigene Religion, den Blick auf den geschichtlichen Kontext des Dialogs, den Blick auf die Einschätzung der Religion(en) in der ›Welt‹ (die ihrerseits in ihrer Universalität und ihren Differenziertheiten zu sehen ist), den Blick auf die Erwartungen der ›Welt‹, den Blick auf die gemeinsamen und die je eigenen Möglichkeiten der Religionen angesichts der ›Welt‹, den Blick auf die Aufgaben, die sich angesichts der inneren Dynamik der einzelnen Religionen im Hinblick auf die Welt ergeben.«675
Für die generelle Anschlussfähigkeit der interreligiösen Bildung lassen sich fünf Aspekte hervorheben, welche die Besonderheit des Untersuchungsgegenstandes Reiseführer im Kontext des Reisens kennzeichnen: 1. Als erstes gilt es einschränkend zu erwähnen, dass es qualitative Unterschiede bei den Gesprächspartnern gibt – es geht hier nicht um Experten/Theologen, die einen Dialog suchen, sondern um Reisende in einer neuen Destination, die sich an den Aussagen eines Reiseführers orientieren können. Es sind sowohl das Interesse, die Bereitschaft, die kognitive Durchdringung und auch die Motivation zur Begegnung i.d.R. sehr unterschiedlich. Qualitativ meint die Tiefe und Breite der wissenschaftlichen Durchdringung von Kontingenz, die Kenntnis und Reflexion der eigenen Kultur und Religion, die Motivation sich auseinanderzusetzen, die Fähigkeiten/Fertigkeiten und Ressourcen der Möglichkeiten einer Auseinandersetzung, die (fehlenden) strukturellen und institutionellen Begegnungsgelegenheiten, die Formulierung einer konsensualen Zielperspektive, und es ließen sich noch weitere Aspekte anschließen. Zur Anschlussfähigkeit der Komparativen Theologie hat Langenhorst (im Kontext einer möglichen Übertragbarkeit in den konfessionellen Religionsunterricht in Schulen) darauf hingewiesen, dass es einer Komparativen Kompetenz bedarf, die letztlich nur von Erwachsenen erwartet werden kann »mit (einer) eigenen Position, der Fähigkeit zu Distanz und Perspektivübernahme sowie dem Willen, diese selbstkritisch in Dialogprozesse einzubringen.«676 Wie deutlich wurde, ist gerade der Dialog eine herausfordernde und anspruchsvolle Form als »Königsweg der Begegnung«. Sicherlich gibt es Reisen und Reiseformen, die gerade dies initiieren, fördern und für sich in Anspruch nehmen – hierauf
675 Waldenfels, Begegnung der Religionen; 20f. 676 Langenhorst, Georg, Religionspädagogik und Komparative Theologie. In: Burrichter, Rita; Langenhorst, Georg; von Stosch, Klaus (Hg.), Komparative Theologie: Herausforderungen für die Religionspädagogik. Paderborn 2015; 89-110; 110.
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wird zum Teil in Reiseführern motivierend hingewiesen. So bleibt doch die Frage (außerhalb des wissenschaftlichen Kontextes), ob im sogenannten Freizeitund Urlaubssegment hierauf Bezug genommen wird. Unbestritten dürfte weiterhin angenommen werden, dass Reisen Begegnungsmöglichkeiten beinhalten. Auch die Seite der Bereisten zeigt sich in diesem Sinne heterogen. Vor einer Simplifizierung und Generalisierung ist auch hier zu warnen, ansonsten werden Einheimische als Bereiste zu Objekten einer Religion. In der Tourismusund Stereotypenforschung ist seit langem bekannt, dass der eingangs zitierte Satz: »Es ist beinahe unmöglich, ein Volk zu hassen, das man näher kennengelernt hat.« (John Ernst Steinbeck) so nicht undifferenziert Bestand hat. Häufig wird zwar unterstellt, dass im Reisen und Tourismus mit der Begegnung von Menschen ein gegenseitiges Lernen geschieht – mit einem Abbau von Vorurteilen und Fremdenfeindlichkeit.677 Lang-Wojtasik und Scheunpflug betonen jedoch, dass es dazu bewusst inszenierter Lernarrangements bedarf. Bevor aber der Frage nachgegangen werden kann, welche Bedingungen erfüllt sein müssen, damit eine vorurteilssensible Annäherung stattfinden kann, ist auch im Rahmen der interreligiösen Bildung auf Stereotype und Vorurteile hinzuweisen. Zunächst kann festgehalten werden, dass Vorurteile/ Vorwissen/»vorgängiger Horizont« (Buck) ein notwendiger Bestandteil jeder Wahrnehmung sind. Dies wurde im Kontext der Erfahrung und Bildung bereits dargelegt. »Stereotype oder rassistische Vorurteile sind demgegenüber Erfahrungen, die deshalb besonders tragfähig sind, da sie durch Pauschalisierung und Wertung […] viele Eindrücke ›theoretisch‹ erklären und damit einordnen lassen, bzw. Anschlussmöglichkeiten eröffnen.«678 Sie bieten so ein großes Maß an Sicherheit und sind dadurch besonders stabil. Eine differenzierte Wahrnehmung und die Öffnung hin zu neuen Erfahrungen sind demgegenüber wesentlich anstrengender, und das Subjekt muss dabei aktiv werden. In der Begegnung mit fremden/neuen Situationen oder fremden/unbekannten Menschen zeigen sich zeitgleich zwei Wirklichkeitserfahrungen: die Angst vor dem und die Faszination des Fremden. Als weiteres wichtiges Kriterium bei der Beurteilung von interreligiösen Lernprozessen formulieren Lang-Wojtasik und Scheunpflug, dass Fremdheitserfahrungen immer an bekannte und erlebte Erfahrungen (Vorerfahrungen) anknüpfen, in welcher Form – ob konstruktiv oder in Ablehnung – ist zunächst noch offen.
677 Vgl. Lang-Wojtasik, Georg; Scheinpflug, Annette, Bildung durch Begegnungsreisen? Interkulturelles Lernen in Zeiten des Massentourismus. In: Kreienbaum, Maria Anna; Gramelt, Katja; Pfeiffer, Stephanie; Schmitt, Thomas (Hg.), Bildung als Herausforderung. Leben und Lernen in Zambia. Frankfurt a.M., London 2002; 17-35; 17. 678 Ebd.; 21.
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»Fremdheitserfahrungen oszillieren (schwingen) zwischen der Anknüpfung an bereits Vertrautem durch Zustimmung oder Zurückweisung.«679 Je nach Intensität der Differenz- oder Kontrasterfahrung kann also von einer Überforderung ausgegangen werden. Dies ist besonders zu betonen, da es sich bei Religionen um Letztbegründungen handelt. Der Wahrheitsanspruch ist konstitutiv, auch wenn eine Andersheit verstanden werden kann und soll und eine Gastfreundschaft für die mögliche Wahrheit des Anderen grundlegend ist. 2. Die Intensität der Differenzerfahrung kann sich durch eine zweite Besonderheit verstärken: der Präsenz der Religion im Gastland. Ist die deutsche Gesellschaft durch »heterogene Transformationsprozesse des Religiösen« (Höhn) gekennzeichnet und eine christliche Religiosität eher im privaten Raum anzutreffen, so steht dieser Privatisierung eine Kontrasterfahrung in islamisch geprägten Ländern gegenüber. MuslimInnen leben ihre Religion im öffentlichen Raum, dies zeigt sich in Geboten und Verboten des alltäglichen Handelns und Verhaltens, optisch in Kleidungsgeboten und kulinarisch in Speisegeboten.680 Diese Fremdheit ist ein Konstitutiv, zu der noch eine weitere Variante von Fremdsein hinzukommt. Zum einen befindet sich der Reisende immer in einer »Fremdheit«, da er ja zeitlich und räumlich seinen Alltag und somit das Bekannte verlässt. Zum anderen trifft er auf Neues und Unbekanntes einer ihm fremden Religion. In dieser doppelten Kontingenz muss auf das Zusammenspiel der Varianten der Fremdeindrücke, einer Sensibilität für Wahrnehmung und Vorurteile sowie einer Stabilisierung der eigenen psychischen Verarbeitungsmöglichkeiten geachtet werden.681 »Es reicht im Sinne eines gemeinsamen Lernprozesses nicht aus, sich zu begegnen, eine Zeit lang miteinander zu leben und sich gegenseitig aus der Alltagswelt zu berichten. Hierzu gehört auch, nach Verbindendem über ethische Unterschiede hinaus zu suchen, statt das Trennende – positiv oder negativ – stetig zu reproduzieren.«682 Es ist wichtig, dass sich die Partner als Subjekt und nicht als Objekte der Begegnung entgegentreten. Hilfreich ist eine vorherige Beschäftigung mit kulturellen und religiösen Unterschieden – hierzu bieten Reiseführer vielfältige Möglichkeiten – in einem systematischen Teil als Einführung in die Religion können vertiefte Kenntnisse erworben werden. Die Thematisierung von Verhaltenscodices hilft
679 Ebd.; 22. 680 Vgl. Sejdini, Zekirija; Kraml, Martina; Scharer, Matthias, Mensch werden. Grundlagen einer interreligiösen Religionspädagogik und -didaktik aus muslimisch-christlicher Perspektive. Stuttgart 2017; 38. 681 Vgl. Lang-Wojtasik; Scheinpflug, Bildung durch Begegnungsreisen?; 17-35. 682 Ebd.; 29.
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bei der Einordnung von Verhalten im Alltag und leitet das eigene Verhalten, eine Einordung von Objekten (seien es Moscheen, Pilgerorte oder auch wichtige Personen) in religiöse Kontexte wird grundgelegt. Dadurch kann im Kontaktgeschehen eine erhöhte Sensibilität erreicht werden. Kognitive Unsicherheiten und nicht zu vermittelnde Kontingenzen müssen dabei ausgehalten werden (hierauf wird u.a. auch in Reiseführern hingewiesen683 ), daher bedarf es einer Ambiguitätstoleranz auf beiden Seiten. Gewarnt werden muss vor einer Generalisierung gemachter individueller Erfahrungen auf Personengruppen oder Nationen. Der Wunsch nach Authentizität und die Erfahrung von authentischen Begegnungen verleiten schnell dazu, individuelle Erfahrungen in Direktkontakten zu verallgemeinern und der Komplexität so ihren Raum zu nehmen. Hier gilt es, gerade der Anforderung einer Multiperspektivität nachzukommen und Aussagen kontextuell zu formulieren. Dies kann als eine Kultivierung des Perspektivwechsels beschrieben werden. Abschließend ist für die Forderung, dass Reisen einen möglichen Beitrag leisten zu einer Verständigung von Kulturen und Religionen, deren Machbarkeit realistisch zu beurteilen. Die Ressource Mensch darf nicht durch Überforderung in Direktkontakten und der Übernahme von zu viel Verantwortung für den Prozess des Reisens blockiert werden, da sonst eher eine Verschärfung und Verdichtung von Stereotypen und Zuschreibungen erfolgt. 3. Eine dritte Besonderheit ist, dass (medial und auch wissenschaftlich unterstützt) der Islam als homogene Gruppe konstruiert wird. Ein Unterscheidungskriterium ist lediglich die Andersheit in Bezug zur eigenen Gruppe, ein differenzierter Blick wird oftmals nicht eingenommen. Dadurch kann Ausgrenzung gefördert werden. Zuschreibungen werden verfestigt und in der Homogenisierung findet eine Essentialisierung statt.684 Auch werden religiöse Minoritäten in Reiseführern oft nur erwähnt, aber nicht weiter erläutert. Nur Besonderheiten, die ein Alleinstellungsmerkmal der Reisedestination zeigen, wie z.B. die Zoroastrier im Iran, wird eine große Bedeutsamkeit beigemessen. 4. Werden im gesellschaftlichen Alltag positive Aspekte des Islam kaum erwähnt685 , so ist als vierter Aspekt deutlich zu machen, dass dies in Reiseführern durchaus geschieht; hier besonders in der Betonung und Hervorhebung der arabischen Kalligrafie, der Kunst, der Poesie (besonders für das Land Iran) und der in allen neun Reiseführern enthaltenen Beschreibung der Gastfreundschaft. 5. Fünftens sind für die Anschlussfähigkeit der interreligiösen Bildung drei Formen des religiösen Lernens zu unterscheiden: das Lernen in Religion, das Ler683 Ein Beispiel hierfür ist die Einführung in das große Trauerfest Ashura in Iran. 684 Vgl. Sejdini; Kraml; Scharer, Mensch werden; 42. 685 Vgl. ebd.; 43.
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nen über Religion und das Lernen von Religion.686 Aus der Beobachterperspektive als Ausgangspunkt kann ein Lernen über Religion erfolgen, das in einem Lernen von Religion münden kann. Die eigene Positionierung nimmt Gestalt an in einem Lernen in Religion. Für das Lernen über Religion ist der Erwerb systematischer und mehrperspektivischer Informationen wichtig. Wird dies für den systematischen Bereich in unterschiedlichen Qualitäten, aber in allen Reiseführern geleistet, so sind die Informationen immer eindimensional; der Autor/die Autorengruppe informieren, d.h. in die Religion wird aus einer Heteroperspektive eingeführt. Deutlich wird, dass Reiseführern immanente Chancen und Möglichkeiten zugesprochen werden können, auf interreligiöse Kontakte (bis hin zum Dialog) bildend hinzuwirken. Dies möchte ich in einem doppelten Zugang erläutern: Zunächst soll von den bereits dargelegten Grundlagen der interreligiösen Bildung ausgegangen werden und diese um Aussagen und Ansprüche der Komparativen Theologie (von Stosch) erweitert werden. Die Suche nach »dem Fremden« ist ein touristisches Selbstverständnis – dies gilt entsprechend für die im Reiseland vorzufindenden Religionen. Damit diese nicht in einem reinen Anschauungsmodus verharren, kann und muss das Wahrnehmungsdispositiv erweitert werden. Es geht um eine »Kultivierung von Fremdheit«, die das produktive Potential einer Reise/einer Reisevorbereitung zu nutzen weiß. Der Reiseführer kann dabei auf Irritationen aufmerksam machen, Neugier sollte geweckt und gehalten und Wissensbedarf gestillt werden. Hierbei ist es wichtig, für eine Xenosophie zu werben: Dazu bedarf es einer Komplexitätstoleranz, die zu Offenheit für die Infragestellung durch das Fremde einlädt. Basis ist eine vertiefte Kenntnis des und der Anderen, darauf aufbauend ist eine persönliche Auseinandersetzung möglich, zu welcher der Reiseführer (gemäß seiner Animationsfunktion) einladen kann. In adäquaten Analogien können ähnliche Strukturen und Sachverhalte der Religionen herausgestellt werden. Wichtig ist dabei, Heterointerpretationen durch Autointerpretationen zu ersetzten oder zumindest zu ergänzen. Für das Erleben authentischer religiöser Praxis sind dabei besondere Herausforderungen und Voraussetzungen wichtig. Wie deutlich wurde, ist der Dialog die höchste und intensivste Form der Begegnung, dabei ist nicht davon auszugehen, dass dies auf Reisen intendiert ist – und kann somit nicht »en passant« gelingen. Hierbei wird nach einem Weg gesucht zwischen Affirmation und Negation, der nicht zu einem Synkretismus führt, der alle Konturen verwischt und alles für gleichgültig erklärt. In zwei Richtungen muss eine Kontextbestimmung erfolgen:
686 Vgl. ebd.; 120.
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Einmal in der Frage, in welchen Kontext hinein das Gespräch erfolgt, zum anderen, aus welchem Kontext heraus der jeweilige Gesprächspartner denkt, spricht und handelt.687 »Mit der mangelnden Beachtung der Relativität und Kontextualität aller Standpunkte geht dann oft der Fehler Hand in Hand, dass nicht geprüft wird, durch welche Brille der andere gesehen wird, die eigene oder eine fremde.«688 Gefordert ist ein Nach- und Mitvollzug, der die eigene Position in Frage stellt, die eigenen Überzeugungen stärker konturiert hervortreten lässt und der dynamisch und im Ergebnis offen ist. Dialogische Beziehungen leben von Gegenseitigkeit (Mutualität) und keiner bleibt am Ende eines Dialogs der, der er zu Beginn war. »Der Weg der Analogie – Ähnlichkeit in Unähnlichkeit und Unähnlichkeit in der Entsprechung – bedeutet die beständige Aufgabe, das Gemeinsame und das Trennende selbstkritisch zu vergleichen.«689 Klaus von Stosch favorisiert eine Herangehensweise, die den Hiatus zwischen Identität und Differenz der verschiedenen Religionen zu überwinden versucht. Die Andersheit soll verstanden werden. Dies soll nicht in einer Form geschehen, dass die Andersheit eingeebnet und relativiert wird, sondern gerade das Andere, das Verstörende, das Neue bis hin zum Unangenehmen und Ablehnungswürdigen soll wahrgenommen und ausgehalten werden. In diesem Kontakt bis hin zur Begegnung soll im Dialog ein Urteilen erfolgen. Dies erfordert eine spezifische Haltung. Ein Sich-dem-Anderen-Nähern gelingt am Besten in der Interaktion einer Freundschaft. War in diesem Zusammenhang schon lange eine Haltung der Toleranz gefordert, so wird diese heute, emotional verdichtet, in Form einer Freundschaft als Basis der Begegnung und des Dialogs als notwendig erachtet. Menschlich verständlich ist es auch so der Angst vor dem Fremden zu begegnen – im freundschaftlich verbundenen Miteinander und gemeinsamen Suchen nach Urteilen können bestehende »Bilder im Kopf«, also Stereotype, Zuschreibungen und Stigmatisierungen aufgebrochen und einer neuen Sicht Raum geschaffen werden. Ein erster Schritt ist die Aufklärung und die Wissensvermittlung über den anderen. In diesem Sich-Einlassen auf etwas Neues wird die eigene Positionierung in Frage gestellt und bedarf einer Neuorientierung und Reformulierung mit einer Trennschärfe zu abweichenden Positionierungen – im Weg des Verstehens des Neuen erfolgt ein Neuverstehen des eigenen Glaubens.690 Dieses Neuverstehen kann sogar so weit gefasst werden, dass es zu einem tieferen Verstehen des eigenen Glaubens und der eigenen Tradition führt. Wichtig ist es hier jedoch, nicht die
687 Vgl. Waldenfels, Begegnung der Religionen; 13ff. 688 Ebd.; 15. 689 Lehmann, Karl, Das Christentum – eine Religion unter anderen? Zum interreligiösen Dialog aus katholischer Perspektive. Bonn 2002; 20. 690 Vgl. Von Stosch, Klaus, Komparative Theologie als Wegweiser in der Welt der Religionen. (Beiträge zur Komparativen Theologie, Bd.6) Paderborn u.a. 2012; 151.
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Offenheit im Blick auf den anderen zu einem Instrument zu machen und so einer Nützlichkeit des Dialogs für die eigene Religion einen positiven Wert zuzusprechen. Von Stosch formuliert: »Erst wirkliche Freundschaft zum anderen und das liebevolle Sich-Aussetzen seiner Andersheit gegenüber kann Begegnung mit dem unverfügbaren Zusagewort Gottes ermöglichen, ohne diese garantieren zu können. Von daher ist gerade die Öffnung für den Nichtchristen Chance für eine tiefere Begegnung mit Christus.«691 Könnte man nun den Vorwurf erheben, dass dies eine spezielle christologische Zentrierung sei, so bleibt es doch bei den grundlegenden Zielen eines Neuverstehens des Eigenen, einer Würdigung des Fremden und der Suche nach einer Wahrheit. Jeder Teilnehmer am interreligiösen Dialog tritt ein für seine eigene Wahrheit. Des Weiteren erkennt er die Ansprüche des anderen an und beide versuchen auf einem gemeinsamen Weg der Wahrheit näher zu kommen. Wie bereits erwähnt, bedarf es im Rahmen eines solchen Theologisierens einer gewissen Haltung. Hier werden die Bemühungen der interreligiösen Bildung erweitert auf den Bereich der Komparativen Theologie und somit akademisiert. Stosch beschreibt in Anlehnung an Cornille fünf Haltungen bzw. Tugenden, derer es bedarf: »doktrinäre bzw. epistemische Demut, konfessorische Verbundenheit mit der eigenen Tradition, die Unterstellung von Kommensurabilität unterschiedlicher Religionen, Empathie und Gastfreundschaft«692 . Im Folgenden sollen nun diese einzelnen Aspekte genauer in den Fokus genommen werden. Da der Mensch immer Lernender bleibt und ihm die Erkenntnis des Unbedingten nie absolut gelingen kann, ist es für ihn von Vorteil und Hilfe, an und von anderen Kulturen und Lebensformen zu lernen. In einer Haltung der Demut (1.) kann er sich – ausgehend von der Erkenntnis, dass alles im Fluss und in der Dynamik und Veränderbarkeit ist – öffnen und in einen Dialog treten. Christlicherseits ist diese Haltung der Demut bereits fundamentaler Bestandteil des eschatologischen Vorbehalts. Um ein wirklicher Dialogpartner zu sein, bedarf es zweitens eines eigenen Standpunktes (2.), der wiederum eine Treue zur eigenen Tradition voraussetzt. »Wenn man nicht mit der eigenen Tradition verbunden ist und für sie Zeugnis gibt, ist das dialogische Bemühen nur noch individuell bedeutsam und vermag nichts mehr zur Aussöhnung der Religionen beizutragen.«693 Der Vorwurf, dass so jedoch auch ein gewisser missionarischer und apologetischer Anspruch impliziert ist, ist berechtigt. Der Unterschied ist hier – so Stosch – dass die andere Position nicht als defizitär gesehen wird und auch nicht die Haltung eingenommen wird, dass ich mein Gegenüber überzeugen möchte, damit auch dieses Gegenüber Anteil am Heil erhält. 691 Ebd.; 153. 692 Ebd.; 155. 693 Ebd.; 157.
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Ein dritter Aspekt umfasst die Haltung, dass wir die Voraussetzung als gegeben sehen, dass die unterschiedlichen Positionen sich prinzipiell verstehen können (3.). Einschränkend wird hier von einer partiellen Inkommensurabilität ausgegangen: Auch bei noch so großem Bemühen werden Gesprächspartner im konkreten interreligiösen Dialog an Grenzen stoßen. Jedoch ist die Ausgangslage ein gemeinsamer Erfahrungsraum, und in diesem können die Konzepte der letzten Wirklichkeit verbalisiert und verständlich zu machen versucht werden. Ladenthin spricht in diesem Zusammenhang davon, dass es zwischen der Basis und dem Interrogatum etwas Gemeinsames geben muss. Ein Vergleich der Positionen ist angestrebt; dies bedeutet noch nicht die Anerkennung der Identität, auch beinhaltet ein Verstehen noch kein Akzeptieren. Die vierte Tugend umfasst die Empathie und die liebevolle Aufmerksamkeit, die es gilt, der Dialogperson in Gänze entgegenzubringen, so auch ihren religiösen Überzeugungen und Praxis (4.). Gerade ihre gelebte Praxis kann – in einem gewissen Rahmen – eine Möglichkeit sein, die religiöse Praxis mit zu vollziehen, oder zumindest teilnehmend zu beobachten. »Und dieses Moment des Transzendierens ist es, das man als analog zu eigenen religiösen Erfahrungen dechiffrieren kann. Und erst auf der Grundlage solcher Dechiffrierungen wird der Mitvollzug der Praxis der anderen zum Einfallstor, um ihre Religion zu verstehen.«694 Die fünfte und letzte von von Stosch benannte Tugend ist die »Gastfreundschaft« für die mögliche Wahrheit des anderen (5.). Im übertragen Sinne geht es darum, dem anderen ein Gastrecht im eigenen Denken einzuräumen. Diese Haltung der Gastfreundschaft lässt sich in zwei Bereiche auffächern: Zunächst geht es um die Anerkennung des Anderen als Anderen, zudem um die Offenheit, sich von der Andersheit als Differenz verwandeln zu lassen (dies zumindest gedacht als Möglichkeit, nicht als schlüssige Konsequenz des Dialogs/der Begegnung). Ozankom spricht in diesem Kontext davon, dass diese Gastfreundschaft keine Gegenseitigkeit einfordere. Es geht um eine Begegnung, die große Mitmenschlichkeit übt.695 »Wie fremd ein Gast auch sein mag, so steht ihm als Mitglied der Menschheitsfamilie Gastfreundschaft zu.«696 Ozankon formuliert weiter, dass Gott oft dann erkannt wird, wenn wir nicht damit rechnen. Dieses Gott-im-Gast-Sehen bedürfe keiner Gegenleistung. Ebenso wenig wird mit der Begegnung bereits eine Wahrheitsunterstellung impliziert. »Es ist für die Praxis der Gastfreundschaft von entscheidender Bedeutung, wenn man selbst, sei es auch nur ein einziges Mal, die Notwendigkeit gespürt hat, als Gast aufgenommen zu werden. Denn solange je-
694 Ebd.; 162. 695 Vgl. Ozankom, Claude, Christliche Theologie im Horizont der Einen Welt. Regensburg 2012; 210f. 696 Ebd.; 210.
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mand nur auf der Seite des Hausherrn bleibt, findet er keinen echten Zugang zum Eigentlichen der Gastfreundschaft.«697 Am Ende dieser Ausführungen wird deutlich, dass eine Komparative Theologie als Theologie der Religionen primär in einem akademischen Rahmen verortet ist. Für die Komparative Theologie gilt die Voraussetzung »eine detaillierte Kenntnis nicht nur der eigenen, sondern auch der theologischen Positionen des bzw. der Anderen. (zu haben) […] Im Idealfall sollte eine/ein Komparative/-r Theologin/-e deshalb mehrere Theologien studiert haben und in der Lage sein, sich zwischen konfessorischen Innenansichten hin und her zu bewegen.«698 Dies grenzt die Anschlussfähigkeit ein, wenngleich die Grundannahmen (Demut, konfessorische Verbundenheit, Kommensurabilität, Empathie und Gastfreundschaft) eine übertragbare Relevanz zeigen. Basis eines möglichen Lernprozesses im Sinne einer interreligiösen Bildung ist immer ein Analogat, d.h., dass etwas Bestimmtes vorausgesetzt wird. Bei diesem »Bestimmten« handelt es sich um Wissensbestände, Geltungsansprüche und Praktiken einer spezifischen Religion. Noch differenzierter muss unterschieden werden zwischen einer Religiosität bzw. Frömmigkeit und den rational-kognitiven Kenntnissen über die jeweilige Religion. Kann eine Autointerpretation und Selbstoffenbarung geleistet werden? Oder wird bereits auf einer Metaebene kommuniziert (ausgelöst z.B. durch Synkretismus oder Indifferenz), die keinem Be-fremden (Xenosophie) Raum geben kann? Und so schließt sich der Kreis: Reiseführer als Wahrnehmungsdispositive zeigen eine »domestizierte Fremde«, dabei ist die Suggestion den Beteiligten bewusst. Bildungstheoretisch sind das Reisen und die Auseinandersetzung mit Reiseführern maßgeblich davon bestimmt, in welcher Form und Intensität eine Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit vorliegt bzw. ermöglicht wird. Im Erlebnis der Differenz zeigt sich ein großes Bildungspotential – und so können Reiseführer sowohl ein sachliches als auch ein sittliches Verhältnis zu sich, zur Welt und zu anderen intendieren, dass zu einer Haltung führt und eine Handlungsfähigkeit in Sittlichkeit ermöglicht in dem Sinne, dass angemessen gereist wird. Für die Wahrnehmung von Religion, die in einem Dialog münden kann, ist zu fordern, dass der touristische Blick erweitert wird. Religion darf weder instrumentalisiert noch inhaltlich reduziert zur Information kommen. Gleichwohl erfolgt eine Auswahl gemäß einer Unterrichtung, diese sollte jedoch behutsam aus einer Autointerpretation geschehen. Diese Auswahl (der Geltungsansprüche) gilt es kenntlich zu machen, in der Artikulation
697 Ebd.; 215. 698 Von Stosch, Klaus, Komparative Theologie als Hauptaufgabe der Theologie der Zukunft. In: Bernhardt, Reinhold; Von Stosch, Klaus (Hg.), Komparative Theologie. Interreligiöse Vergleiche als Weg der Religionstheologie (= Beiträge zu einer Theologie der Religionen 7). Zürich 2009; 15-28; 23.
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dieses Prozesses erfährt der Rezipient im Reiseführer eine Einladung bis hin zur Aufforderung zu kongruentem und sinnvollem Handeln und so zur Selbsttätigkeit.
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Wenn Bildung auf angemessenes Handeln zielt, dann gehört das Reisen auch zu einem Handeln unter Bildungsanspruch. Reisen ist eine Herausforderung für Bildung, da Unbekanntes (Sehenswürdigkeiten – Landschaften, Städte und Stätten etc.-, Kultur, Religion), aber auch Verkehr, Handel und alltäglicher Umgang zumeist bedacht und gelernt werden müssen. Das Genre der Reiseführer hat diese Aufgabe übernommen und teilt sogar mit dem schulischen Lernen den Aspekt des Vorratslernens. Reiseführer liest man vor der Reise, vor und während einer Besichtigung. In diesem Sinne können Reiseführer bildungstheoretisch nur im Kontext einer Reise, bzw. Reisevorbereitung begriffen werden, da sie zweck- und zielorientiert verfasst sind. Wie dargelegt wurde, handelt es sich um eine Sammlung von Texten mit unterschiedlichen Funktionen. Als soziokulturelles Medium, in das gesellschaftliche Vorlieben und Wünsche impliziert werden, geht dieses auf touristische Praktiken ein und bildet ein Wahrnehmungsdispositiv für die Reise. Antagonistische Züge werden eingeebnet, dem Anspruch des Erlebnisses wird entsprochen, so dass es zu verkehrten Welten kommt, in denen Wünsche und verdeckte Bedürfnisse imaginiert werden. Als Ergebnis der Darlegungen und Analysen meiner Untersuchung bestätigt sich die These, dass Reiseführer eine Illusion, eine falsche Wahrnehmung der Wirklichkeit im Sinne einer Scheinwelt und Imagination reproduzieren und somit als illusorisches Medium der Bildung verstanden werden müssen. Es wurde kennzeichnend für Reisen und somit auch für Reiseführer analysiert, dass touristisches Verhalten sich stark ritualisiert und rhythmisiert zeigt und touristische Wahrnehmung selektiv standardisiert erfolgt. Besonders bei der reiseimmanenten Handlung des Fotografierens zeigen sich ikonisch verengte Haltungen, wobei von einer »diskontinuierlichen Kontinuität« fotografischer Praktiken ausgegangen wird. Als Materialisierungen des Gesehenen sind Fotos die Bestätigung, dass der Reisende an diesem Ort war. In einem »ritualisierten Symbolkonsum« findet Lernen statt, indem ein gewisses touristisches Pflichtprogramm absolviert wird, das im Reiseführer vorbereitet wird. Bei der Nennung und Beschreibung von sogenannten Sehenswürdigkeiten
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verdichtet sich der selektive Blick auf beeindruckende Architektur, den Bezug auf bedeutende historische Persönlichkeiten und wichtige historische Ereignisse. Durch Wiederholung (Replikation) und Historisierung (Retrophie bis Hochmoderne) wird die Wertung und Bedeutungsbeimessung stilisiert und verdichtet. Dabei bedingen sich Sakralisierung, Asteriskierung und Kommodifizierung. Standardisierte Sehenswürdigkeiten werden vorgestellt, die zugleich das Reisen und bestimmte Reiseformen legitimieren – wobei dieser Prozess der »Freiheitsberaubung« den Akteuren als »gefesselte Reisende« bekannt und bewusst ist. Dabei lassen sich konsensual tourismusorientierte Beschreibungen (hier kann als höchste Auszeichnung »UNESCO Weltkulturstätte« angesehen werden) von variierenden (beliebigen) Bedeutungsbeimessungen unterscheiden. Die AutorInnen der Reiseführer inszenieren eine adressatenorientierte Reisewelt von Sehenswürdigkeiten als Illusionen, in denen unterschiedliche Motive und Imaginationen inkludiert werden. Strukturell zeigt sich dies in unterschiedlichen Aufgaben, die der Reiseführer erfüllt: Zunächst sind das Möglichkeiten der Selbstinformation, der Unabhängigkeit, der Entscheidungsfindung, des Weiteren umfassen die Aufgaben die Leitfunktion, die Unterrichtung und die Funktion des Animateurs. Meine differenzierte Analyse und Erläuterungen der Kultur- (Reisekulturen, Urlaubskulturen, authentische Kulturen, Touristenkulturen) und Religionsdarstellungen zeigen hierbei ein Spektrum von sachlich angemessener Information, über suggestive Verzerrungen, Konfektionierungen an der Zweck- und Zielorientierung bis hin zur Bedienung einer touristischen Scheinwelt und dem vermittelten Gefühl einer neuen Form des Kolonialismus. Versteht man Bildung als eine Urteilsform, die ein sachliches und sittliches Verhältnis zu sich, zur Welt (Kultur und Natur) und zu anderen zum Ziel hat, so zeigen sich Anteile von (materialer) Bildung im Reiseführer. Er will ein Handlungsratgeber sein in dem Sinne, dass er ein angemessenes Reisen vorbereitet. Bildung bezeichnet die Gesamtheit der verantworteten Handlungsfähigkeit. Sie ist eine Urteilsform bei der Auseinandersetzung mit der Welt und der Wahrheit und Erkenntnis verpflichtet. In einer Aufforderung zu gültiger Selbsttätigkeit, die sich an Sittlichkeit als Moralität des Handelns orientiert, vollzieht sich Selbstbestimmung. Die Frage war dementsprechend: Wie führen Reiseführer zum richtigen Handeln? Oder: Wie führen Reiseführer in den richtigen und verantwortungsvollen Umgang mit dem ein, was einem auf einer Reise begegnet? Zur Beantwortung dieser Frage wurden die Aspekte Kultur und Religion genauer untersucht. Dabei zeigt sich bei den zugrundeliegenden Geltungsansprüchen (an der Wahrheit und Erkenntnis), wie sie in Reiseführern analysiert wurden, deren Selektion und Reduktion. So konnte durchgängig die These bestätigt werden, dass Reiseführer bildungstheoretisch in ihrer Bedeutsamkeit nur im Kontext von Reiseformen und Reiseimaginationen verstanden werden können. Es zeigt sich in ihnen
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eine »domestizierte Fremde«, das Fremde gilt als Grundmuster, das zu Erläuterung bzw. zur Nennung kommt. Ist zwar für jede Reise grundlegend, dass in ihr eine Umweltauseinandersetzung und -aneignung stattfindet, so werden Aussagen dahingehend getroffen, wie sie verwertet und vermarktet werden können. Reisen findet in einem spezifischen Valenzraum statt, der sich von einer »tourist bubble/tourist gaze« bis hin zu einer Phantasmagorie bewegt. Diese überindividuellen, vorselektierten und emotionsgeladenen Vorstellungsbilder werden im Reiseführer reproduziert. Dabei sind diese Suggestion und Simulation – durch inszenierte Topografien, suggestive Verzerrungen bis hin zu Mythologisierungen – dem Reisenden bewusst, und hierauf wird im Reiseführer hingewiesen. Die Alteritätserfahrung umfasst die Teleologie, dass aus einer selektiven und projektiven Perspektive Reisemotive und -wünsche bedient werden und die Reise gelingt. Hierbei ist das Spektrum unterschiedlich, wie an den Reisemotiven gezeigt wurde, durchgängig geht es jedoch um positive Gefühle, Unterhaltung und Vergnügen. Gleichwohl findet sich in Reiseführern eine Unterrichtung. Es handelt sich um ein vielschichtiges Medium: Als Präsupposition wird für die Reisedestination geworben, in inszenierten Topografien wird eingeführt in die Reise- und Urlaubskultur, authentische Kultur wird als Spezifikum kommodifiziert und Touristenkultur wird konfektioniert. Parallel dazu finden sich Anteile materialer Bildung, indem – besonders in den Orientierungstexten – von einem »Kanon des Wissenswerten« ausgegangen wird, der angelehnt ist an enzyklopädisches Wissen. Hier findet sich die Orientierung an der Wahrheit, ohne jedoch auf die Sittlichkeit und den Sinn des Umgangs mit dem Gelernten als Teil des Lernaktes Bezug zu nehmen. Bildung darf nicht instrumentalisiert werden, dennoch wird sie gemessen an der Nützlichkeit und Notwendigkeit, bleibt darin aber nicht begrenzt. Auf die Nützlichkeit wird in Reiseführern durch Ratgebertexte und Orientierungstexte eingegangen, indem Kenntnisse und Fertigkeiten (reiseimmanente Handlungen, kommunikative Möglichkeiten) thematisiert werden. Die Notwendigkeit umfasst in der Sachdimension Informationen zu Reisedestinationen, Sehenswürdigkeiten, Fragen des Alltags, Reiserouten, touristischen Praktiken, Umgangsformen etc. und in der Sozialdimension die Frage nach einem »angemessenen Reisen«. Bei der Sozialdimension werden dann wiederum spezifische Geltungsansprüche der Sittlichkeit und Moralität erhoben (was bedeutet »angemessen«?), wie ich sie im Rahmen der interkulturellen und interreligiösen Bildung dargelegt habe. »Ein Mensch mit Bildung fragt nicht nur nach den Zwecken, sondern auch nach dem Sinn seines Handelns. Menschliches Handeln soll sinnvoll sein, das ist die Zielvorstellung aller Bildungsprozesse.«1 1
Ladenthin, Volker, Terrorismus und Bildung – über die Ursachen des neuen Terrorismus und die Aufgaben von Elternhaus, Schule und Hochschule. In: Ders.; Hasselhoff, Görge K.; Hucklenbroich-Ley, Susanne (Hg.), Interkulturelle Verstrickungen – Kulturen und Religio-
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An dieser Stelle wird nun Bildung mit Lernen und Erfahrung konnotiert. Ausgehend von einem Menschenbild, das auf Empfänglichkeit und Selbsttätigkeit fußt, gehe ich davon aus, dass die Vorbereitung einer Reise und das Tätigsein des Reisens von neuigkeitsfreundlichen (neophilen) und fremden- und fremdheitsfreundlichen (xenophilen) Haltungen begleitet ist. In diesem Sinne können die im Reiseführer zu findenden Ordnungen und die Darlegung einer Überschaubarkeit dazu führen, dass Neugierde geweckt und Interesse bedient wird und Unterhaltung geschieht; letztlich, dass sich der Mensch in der Auseinandersetzung mit der Welt – der zu lernenden Sache im Sinne des Bereisens einer Urlaubsdestination – zur Selbstständigkeit bildet. Dies kann zu kongruentem und sinnvollem Handeln führen. Dabei sind kulturelle Überschneidungssituationen die Grundlage für einen Aufbau eines heuristischen Verständnisses. Das Vorwissen ist dabei immer konstitutiv für die neu zu machenden Erfahrungen (Sinnlichkeit, Wahrnehmungsfähigkeit, Affekte, Emotionen), die dann in der Konfrontation zu einem neuen Verstehen führen können, was Buck als Umlernen bezeichnet. In einer Umstrukturierung erfolgen eine Erweiterung und Differenzierung, die zu einem gewandelten Verhältnis zu sich und zu anderen führen kann. Insofern kann hier von einer Erfahrung als einer Öffnung zur Welt gesprochen werden. Dabei ist entscheidend, wie sich dieser vorgängige Horizont als bereits etabliertes Welt- und Selbstverhältnis zeigt. Des Weiteren konkretisiert sich dieses Umlernen in einer veränderten Haltung. Auf dieses vermutete Vorwissen nehmen alle Reiseführerformte adressatenorientiert Bezug; in Analogien werden Gemeinsamkeiten und Trennendes formuliert. Jedoch fehlt aus der Perspektive der interreligiösen und interkulturellen Bildung die Aufforderung (Orientierungsfunktion, Animationsfunktion), das Neue, mitunter Verstörende, in seiner Wahrnehmung auszuhalten. Reisen und somit die Reisevorbereitung und Begleitung durch Reiseführer umfassen immer eine Kolonialisierung des Raumes und der Zeit, wie eingehend dargelegt wurde. Diese Wahrnehmungsdispositive sind konstitutiv für den Tourismus (synonym verstanden mit heutigen Reisemodularitäten). Dies geht einher mit den Fragen, ob Touristen überhaupt Neues erfahren wollen, und/oder es um die Bestätigung von Wunschbildern geht – und ob und wie Reiseführer dazu auffordern. An dieser Stelle möchte ich auf meine Darlegung der Reisemotive zurückgreifen. Es wurde hier deutlich, dass heute von einer Motivationsinflation auszugehen ist, die in einem »touristischen Tempetopos« mündet, der deutlich macht, dass der heutige Tourist in seiner Raum- und Zeitgestaltung wirkmächtig handelt. Es geht um eine profanierte Transzendenz: ein Hoffen im Sinne von Imaginationen und nen im Dialog (Studien des Bonner Zentrums für Religion und Gesellschaft Bd. 2, hg. von Gerhards, Albert; Hutter, Manfred; Kinzig, Wolfram; Mayer, Tilman; Schmoeckel, Mathias). Würzburg 2006; 109-120; 114.
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Vorstellungen steht neben (physischer) Bedürfnisbefriedigung. »Ferne (verstanden als Reise) ist etwas, dem man zu nähern sich bemüht, an dem man aber niemals ankommen kann. Ihrer Ungewissheit halber kommt sie als Projektionsfläche für Hoffnungen zustatten.«2 Und so kann touristisches Verlangen beides umfassen: Die Suche nach Einsichten in die wirkliche Welt und die Suche nach Sinn und Selbst. Dabei entwerfen Reiseführer Bilder der Fremde, thematisieren gesollte Verhaltensstrukturen der Reisenden, konstruieren Wirklichkeiten, steuern Touristenströme und produzieren und verstärken Urteile3 – bleibt es bei dieser Konsumption oder wird eine kritisch-reflexive Haltung intendiert? Dies entscheidet darüber, ob es sich bei Reiseführern um eine (bildende) Unterhaltung oder um Unterrichtung (informierender, analysierender und reflektierender Charakter) handelt. Im Reiseführer werden gesellschaftliche Vorstellungen und Bedingungen reproduziert und nicht (bzw. nicht als durchgängige Didaktik und Anspruch) in Frage gestellt. Somit wird eine »Überholung« verhindert, Reisende werden nicht zur Reflexion aufgefordert, so dass Erläuterungen in vorgefundenen Umständen verhaftet bleiben (Exotismus, Exotisierung, Orientalisierung, Kulturalisierung der Lebenszusammenhänge, Essentialisierung von Differenz, Festigung von Ambivalenzen – Andersartigkeit als Programm, »rückwärtsgewandte Chronotopie«) und vermeintliche Objektivitäten wiederholt werden. Es geht nicht um die Bewältigung von Kontingenz, um Umstrukturierung und Umlernen in dem Sinne, dass ein sittlicher Umgang mit dem Wissen als Lernakt provoziert wird. Der zu formulierende Anspruch wäre, eine Einstellung zum Wissen zu bewirken; hierdurch kann eine Haltung entstehen, die folgende Handlungen leitet (Ladenthin). Wie eingehend von mir analysiert wurde, zeigen sich bei der Darlegung von Kultur und Religion folgende Charakteristika: •
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Die Darlegungen von Kultur orientiert sich an touristischen Interessen und gleichzeitig soll touristisches Interesse kompetent bedient werden. Diese als Reisekultur bezeichnete Variante zeigt sich dabei fluide. Es findet eine Selektion der Darstellung in Reiseführern statt, die zum einen konsensorientiert erfolgt (nach dominanten Bewertungskriterien des Besonderen) und zum anderen um Alleinstellungsmerkmale bemüht ist (Geheimtipps). Reisekultur wird statisch verstanden und erhält als solche erst einen Zweck. In ihrer normativen Vermittlung, die aus einer Heteroperspektive erfolgt, zeigen
Scheppe, Wolfgang, Reisen als Lebensentwurf. Vom Reisenden der Zukunft und der Kunst, Notwendigkeiten in Freiheit zu verwandeln. In: Steinfeld, Thomas (Hg.), Die Zukunft des Reisens. Frankfurt a.M. 2012; 22-41; 27. Vgl. Steinecke, Lernfeld Tourismus; 18.
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sich suggestive Verzerrungen, die sich in Teilen bis zu einer kulturdominanten Haltung steigern. Bei der Analyse der Urlaubskultur als zweiter Kulturvariante, die sich an den Urlaubsaktivitäten orientiert, wird in besonderem Maße die vermutete Adressatenorientierung der Reiseführerformate deutlich. Die Darstellungen stehen durch eine Konfektionierung und der Suche nach Authentizität in Diskrepanz zur Ursprungskultur des Landes (der Region). Die Zweck- und Zielorientierung zeigt sich in den Präsuppositionen der maßgeblichen Reisemotive (Erlebnis, Genuss, Gefälligkeit etc.). Die authentische Kultur, wie sie in Reiseführern dargelegt wird, zeigt dabei ein Paradoxon oder zumindest eine Ambivalenz. Authentizität gilt als suchensund besuchenswert, wobei nicht definiert wird, was unter Authentizität zu verstehen ist. Bestimmend ist vielfach die Bewertung »untouristisch« im Vergleich zu autochthon. Die Darlegung von authentischer Kultur als Kommunikat in Reiseführern wurde als Zuschreibungsprozess analysiert, in dem reiseimmanente Motive bedient werden. Historisierungen, Romantisierungen und Orientalisierungen werden vorgenommen, besonders in der Touristenkultur zeigt sich der Graben zwischen Folklore/Tradition und touristischer Inszenierung durch metakulturelle Produktionen. In allen Reiseführerformaten wird in die Religion(en) eingeführt, dies jedoch aus einer säkular-bestimmten Haltung heraus. Begrifflichkeiten (Religionsbezeichnungen, Glaubensinhalte, Religiosität) werden nicht verständnisaufschließend eingeführt. Religion reiht sich in den Reigen der befremdenden Sehenswürdigkeiten ein. Eine konsumptive Annäherung wird als ausreichend dargelegt. Die Distanz zur Religion (als Glaubensaussagen, Geltungsansprüche, sakrale Räume – Architektur, gelebte Frömmigkeit und Durchdringung des Alltags) wird weder wissenserweiternd problematisiert noch reflexiv kommensurabel verringert.
Nun greife ich den bereits im Zusammenhang mit dem Kapitel »Interreligiöse Bildung und ihre Anschlussfähigkeit an Reiseführer – eine Aufforderung« angeklungenen, von den ReiseführerautorInnen selbst formulierten Anspruch auf, Vorurteile abzubauen und Begegnungen im Reiseland zu ermöglichen. Hier wäre eine Kultivierung der Fremdwahrnehmung gefordert. Dieses verständniserschließende Vorgehen operiert mit epagogischen Analogien und fordert eine bildende Interaktion des analogischen Handelns. Hierdurch kann eine Xenosophie erreicht werden, durch eine Kultivierung des Perspektivenwechselns in Mutualität. Dabei handelt es sich bei Reiseführern um einen liminalen Raum, im Tätigsein des Reisens ist eine erhöhte Aufmerksamkeit für widerständige Erfahrungen gegeben.
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Es ging bei der Analyse und Bewertung des Bildungspotentials von Reiseführern um die Frage, ob ein Erkennen der Werthaftigkeit von »Fakten« und Situationen als Bedeutsamkeit der Werte gewollt ist, also inwiefern Reiseführer dem eigenen Bildungsanspruch gerecht werden. Kulturen (Reisekultur, Urlaubskultur, authentische Kultur und Touristenkultur), verstanden als diskursive Konstruktionen, bieten dann den Rahmen, in dem Bildung als Wissen und Haltung, Handlungsfähigkeit und Handlungsbereitschaft (Ladenthin) erfolgt. Wie an verschiedenen Stellen dieser Arbeit deutlich wurde, könnten Reiseführer hierzu differenzierte Möglichkeiten nutzen: •
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Der selbsternannte Anspruch der Reiseführer ist es, den Reisenden kompetent zu machen und zu Begegnungen im Reiseland einzuladen. Hierbei wäre es wichtig, den eigenen unvermeidlichen Ethnozentrismus zu thematisieren, entgegen einer Duplizierung von kulturdominanten Sichtweisen. Reziprozität könnte als Ziel formuliert werden, indem verständniserschließend ein Zusammenwirken von Urteils- und Einbildungskraft (Heiser) angestrebt wird. Beim Aufzeigen von Kontaktmöglichkeiten werden Individuen als Träger kultureller und religiöser Identitäten dargestellt. Zu vermeiden sind eine Kulturalisierung der Lebenszusammenhänge und eine Essentialisierung von Differenz. In einer Generalisierung eines Phänomens, das verdichtet erscheint in Agenda Settings, zeigen sich vielfach Popularisierungen. Fremdes gilt in Reiseführern als Wahrnehmungsdispositiv. Dabei haben Reiseführer die Möglichkeit, auf den Umgang mit dem Fremden vorzubereiten. Wird diese Fremdheit als Beziehungsmodus verstanden, so schließt dies ein bemächtigendes Verstehen aus und fordert eine Toleranz als Haltung der Bereitschaft zur Positivität (Jasper). Ausgehend von der anthropologischen Grundhaltung, die ich dem Reisen als Wissen-Wollen in der Haltung der Xenosophie und Neophilie zuschreibe, ist auf die sensible Nutzung von Ordnungsmustern hinzuweisen. Differenzordnungen können zu Diskriminierung und Rassismus führen, dies wird besonders deutlich im Prinzip des Ableism. Dabei haben Reiseführer die Möglichkeit zu insistieren, das Fremde auszuhalten, in dem Sinne, dass die Forderung einer Epoché vorbereitet wird. Für die Möglichkeiten der interreligiösen Bildung in Reiseführern bedeutet dies, dass die Ebenen des Lernens als Lernen »in«, »über« und »von« Religion unterschieden und vorbereitet werden sollten. Es handelt sich hierbei um Letztbegründungen, die von dogmatisch verfasst bis hin zu einer »Hierarchie
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der Wahrheiten«4 reichen. Somit ist hier in besonderem Maße eine Ambiguitätstoleranz gefordert. Reiseführer könnten wissensbereitstellend und instruierend auf eine Kultivierung des Perspektivwechsels hinweisen. Die Unterscheidung in: (1) Information über Glaubensaussagen und Wahrheiten der Religion und (2) Spiritualität und gelebte Frömmigkeit sollte transparent erfolgen. Für den religiösen Ausdruck im Alltag bedarf es dabei einer besonders sensiblen Darstellungsweise, um nicht eine konsumptive Haltung zu begünstigen (im Sinne des Sammelns von touristischen Erlebnissen), sondern eine Haltung der Offenheit, die gipfeln kann in Gastfreundschaft, damit die Aufgabenstruktur in der Analogie deutlich wird. Religiöse Praxis ist ohne Glaubensinhalte nicht vorstellbar, somit handelt es sich hierbei immer um »Martyria«, indem ein Zeugnis über den eigenen Glauben abgelegt wird. In diesem Sinne sollte behutsam und empathisch über religiöse Praktiken berichtet und ihrem möglichen Irritationspotenzial erklärend in einer Autointerpretation entsprochen werden. Nur in der Dechiffrierung der Momente des Transzendierens, die sich in religiösen Praktiken und Erfahrungen zeigen, ist so religiöses Lernen als »Lernen in Religion« möglich. Wenn diese Möglichkeiten genutzt werden, dann kann die (touristische) Illusionsdarstellung als Bildung verstanden werden, die sowohl ein sachliches, als auch ein sittliches Verhältnis umfasst. Hier geht es dann auch nicht um Zielformulierungen (wie ich sie bei der interkulturellen und interreligiösen Bildung und Erziehung konkretisiert habe), sondern um die Personalisation der Person als Selbstbestimmung. Somit würde auch nicht eine Gewinnung von Einsichten in die wirkliche Welt gegen eine Suche nach Sinn und Selbst ausgespielt, sondern ein sachliches und sittliches Verhältnis zu sich, zur Welt und zu anderen. Der Handeln-Wollende sieht sich einem fremden Geltungsanspruch gegenüber oder stellt diesen Geltungsanspruch gegenüber sich selbst (Ladenthin). In diesem Sinne würde dann auch dem Anspruch (STEFAN LOOSE, Marokko) »Die Welt auf eigenen Wegen entdecken.«5 entsprochen, und der eingangs gestellten Frage, ob die Nutzung von Reiseführern bildet, wäre zuzustimmen. Abschließend möchte ich mit einem kritischen Blick auf meine angewandten Untersuchungsmethoden und auf deren Grenzen hinweisen. Ausgehend von einem transzendentalkritischen Bildungsverständnis, das die Grundlage der Analyse
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Die »Hierarchie der Wahrheiten« bedeutet, dass Glaubenswahrheiten auf ein Zentrum hin orientiert sind. Dabei unterscheiden sie sich in der Wichtigkeit (vgl. Unitatis redintegration, Nr. 11). STEFAN LOOSE, Marokko; Titelseite.
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darstellt, wurde zunächst die Frage beantwortet, ob eine Reise bilden kann. Hierzu habe ich durchgängig Ergebnisse der Tourismusforschung aufgegriffen, eine historische Einordnung vorgenommen und diese bildungstheoretisch bewertet. Reisen wird von mir verstanden als soziales Phänomen. Sozialwissenschaftlich fundiert wurden gesellschaftliche Strukturen im Kontext von Alltag, Freizeit und Urlaub/Reise genannt und erläutert, bevor die individuellen Bedingungen der touristisch reisenden Person beschrieben wurden. Dabei wurden volkskundliche, historische, sozialwissenschaftliche und hier speziell soziologische Anleihen im Zusammenhang mit tourismusrelevanten Prozessen und Eigenschaften dargelegt und diskutiert. Dies diente dazu, die These, dass Reiseführer bildungswissenschaftlich nur in ihrer Bedeutsamkeit im Kontext von Reiseformen und Reiseimaginationen verstanden werden können, zu diskutieren. Hierzu waren eine vertiefte Darlegung und Erörterung des Zusammenhangs von Bildung und Sittlichkeit notwendig. Erfahrung wurde als Grundbegriff der Bildung in Korrelation zu Reisen gesetzt; mit dem Ergebnis, dass der bildende Charakter einer Reise bestätigt wurde mit dem Hinweis auf das pädagogische Paradoxon. Ausgehend von der Bedingung des Tätigseins, des Dabei-Seins und des SelberTuns wurde ein Rekurs auf Reisemotive notwendig, der eine historische Darlegung der sich wandelnden Reiseformen und Reisepraxis bedingte. Dabei zeigte sich, dass touristisches Verlangen eine idealistische Praxis darstellt. Kann es zum einen um die Gewinnung von Einsichten in die wirkliche Welt gehen, so werden zum anderen die Suche nach Sinn und Selbst als Ziele gesehen. Empirisches Material der Reiseanalyse (FUR) und der Tourismusanalyse verdeutlichten dies neben kulturwissenschaftlichen und soziologischen Studien, die vorgestellt wurden. Nach diesem Dreischritt der Kontextualisierung: Reise – Bildung – Reisen/Bildung konnte erst der Forschungsgegenstand des Reiseführers genauer beschrieben werden: als unmittelbare Gebrauchsliteratur, die adressaten-, zweck- und zielorientiert auf die Bildung eines Reisenden hin geordnet ist. Die Disziplinen und Quellen der Darlegung orientierten sich – ausgehend von der Bildungswissenschaft, wie gezeigt – hauptsächlich an der Tourismusforschung, die wiederum stark interdisziplinär arbeitet. Es war mir hierbei nicht möglich, Kontroversen und fachspezifische Diskurse näher zu beleuchten und darzustellen; dies ist als Grenze der eigenen Untersuchungsmethode relevant. Mein Fokus lag durchgehend bei der Diskussion und Beantwortung der Frage, wie Reiseführer ihre Aufgabe als Bildungsmedium einlösen, und in welcher Form hier Bildung verstanden und ermöglicht wird. Erst durch ein Aufdecken der Spezifika einer Reise, in die Imaginationen und Wünsche projiziert werden, wird deren Entsprechung in Reiseführern verständlich. Und nur so ist eine Analyse der Bildungschancen und des zugrundeliegenden Bildungsverständnisses der Autoren möglich.
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Die konsensual geltenden, hier vorgestellten Merkmale und Aufgaben von Reiseführern wurden zu Analysekriterien für die ausgewählten neun Formate der drei Reiseländer. Bildungstheoretisch bedeutsam ist das Korrelat zwischen einer Reise (als touristischer Praktik) und der Formulierung und Strukturierung von Reiseführern. Immanent ist die Standardisierung des touristischen Blicks, der sich im touristischen Leitsinn der Geselligkeit, des Vergnügens und des Erlebnisses konkretisiert. Kontextualisiert und analysiert wurden die Spezifika der »Verhaltensregeln« und »Sehenswürdigkeiten«. Die Untersuchung erfolgte durch eine doppelte Analyse: •
•
Der Untersuchungsgegenstand (je drei Reiseführer der Länder Türkei, Iran und Marokko) wurden nach allgemeinen Kriterien und Anforderung von Reiseführern analysiert. - Adressatenorientierung - Aufgaben und Ziele - Sachbuch versus Führer und Begleiter Hierbei wurden die Analysekriterien aus der Bildungswissenschaft begründet. Wichtig ist des Weiteren, dass auf den Grundlagen der Linguistik sprachkritisch analysiert wurde.
Als dritte zu untersuchende These bzw. Fragestellung war leitend, wie Kultur(en) und Religion(en) in den Reiseführern dargelegt werden. Hierbei habe ich mich an den wissenschaftlichen Disziplinen der interkulturellen Pädagogik und des interreligiösen Lernens (in Kombination mit Kriterien der komparativen Theologie) orientiert. Einschränkend ist dabei einzuwenden, dass diese ebenfalls nicht diskursiv erörtert und bewertet wurden. Zielführend ging es immer um die Bildungsfrage, die zur Diskussion stand.
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Handbuch Transdisziplinäre Didaktik
2021, 472 S., kart., 7 Farbabbildungen 39,00 € (DE), 978-3-8376-5565-0 E-Book: kostenlos erhältlich als Open-Access-Publikation PDF: ISBN 978-3-8394-5565-4 ISBN 978-3-7328-5565-0
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