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German Pages 212 [214] Year 2018
Reformation in der Region Personen und Erinnerungsorte
Herausgegeben von Michael Matheus
21 Mainzer Vorträge Franz Steiner Verlag
Reformation in der Region Herausgegeben von Michael Matheus
mainzer vorträge Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. Band 21
Reformation in der Region Personen und Erinnerungsorte
Herausgegeben von Michael Matheus
Franz Steiner Verlag
Umschlagabbildung: Das Hutten-Sickingen-Denkmal unterhalb der Ebernburg in Bad Münster am Stein-Ebernburg. Foto: Stefan Frerichs, CC BY-SA 3.0 de (Wikimedia Commons)
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über abrufbar. Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist unzulässig und strafbar. © Franz Steiner Verlag, Stuttgart 2018 Druck: Bosch Druck, Landshut Gedruckt auf säurefreiem, alterungsbeständigem Papier. Printed in Germany. ISBN 978-3-515-12045-6 (Print) ISBN 978-3-515-12046-3 (E-Book)
Inhaltsverzeichnis
Michael Matheus Einleitung ............................................................................................
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Gerold Bönnen Die Reichsstadt Worms und die reformatorische Bewegung .................
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silvana seidel Menchi Ulrich von Hutten ................................................................................ 39 reinhard scholzen Franz von Sickingen (1481–1523) Fehde als Geschäftsmodell .......................................................................
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Kurt anderMann Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen Zeitgenossen – Altersgenossen – Standesgenossen ....................................... 75 WolfGanG Breul Franz von Sickingen und die Reformation ............................................ 89 volKer Gallé Lassalles Franz von Sickingen Eine Debatte um Utopie und Individualität ............................................ 107
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Matthias Müller Als Ritter wie ein Fürst Herrscherbildnis und Medienkonkurrenz im Zeitalter des Franz von Sickingen .............................................................................. 115 andreas tacKe Zwei Seiten einer Medaille Verlierer und Gewinner auf dem Kunstmarkt der Reformationszeit ........... 139 christoph resKe Buchdruck und Reformation Eine buchwissenschaftliche Betrachtung mit Blick auf die auflagen sowie die Drucker in Mainz, Speyer und Worms. ..................................... 163 rudolf steffens Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben Martin Luthers Bibelübersetzung und die Entstehung unserer Schriftsprache ............................................................................. 187 Bildnachweis ........................................................................................ 209 Die Autorinnen und Autoren ............................................................... 211
Einleitung
M
it einem umfangreichen Vortragsangebot unter dem Titel »Reformation in der Region – Personen und Erinnerungsorte« vermittelte das Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. (IGL) zusammen mit zahlreichen Kooperationspartnern im Jahre 2015 in Mainz, Worms und Speyer aus interdisziplinärer Perspektive einen Einblick in die regionale Forschung zur Reformation (http://www.igl. uni-mainz.de/veranstaltungen/vortrge/vortragsreihe-2015/). Im Rahmen der 2008 von staatlichen und kirchlichen Institutionen gestarteten »Lutherdekade« sowie im Vorfeld des 500jährigen Jubiläums des Martin Luther zugeschriebenen Thesenanschlags unternahm das IGL im Kontext des Projektes »Reformation in der Region« den Versuch, auf das Reformationsjubiläum hinzuführen. Zugleich sollten über die kostspieligen nationalen Jubiläumsvorhaben sowie über die historischen Orte in den »Stammländern« der Reformation in Mitteldeutschland hinaus Möglichkeiten geboten werden, die Bedeutung des historischen Ereignisses und seine Aktualität in der Gegenwart bei den Menschen entlang der Rheinachse ins Bewusstsein zu rufen. Zum Abschluss der Reihe fand in der Mainzer Akademie der Wissenschaften und der Literatur ein von Heike Schmoll moderiertes Podiumsgespräch mit S. E. Karl Kardinal Lehmann und Prof. Dr. Dr. h. c. Wolfgang Huber statt. Über die Vorträge hinaus wurde eine Themenseite im Internet zur Reformation in Rheinland-Pfalz gestaltet (http://www.reformation-rlp.de). Dieses Portal kann über die Lutherdekade hinaus ein nachhaltig wirkendes Instrument für die Forschung und zur Forschungsvermittlung sein. Zudem konnte dank des Geschichtsmobils des Instituts eine mobile Ausstellung zum Thema in vielen Orten von Rheinland-Pfalz gezeigt werden. Der vorliegende Band, in dem leider nicht alle Vorträge der Reihe gedruckt werden können, richtet den Fokus auf die Geschichte der Reformation im heutigen Rheinland-Pfalz. Es geht darin besonders auch um bedeutende Stätten des Reformationsgeschehens wie die Ebernburg und Worms. So skizziert Gerold Bönnen die Spezifika der Durchsetzung der reformatorischen Bewegung in der Reichs- und Bischofsstadt Worms und bettet sie
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in die seit 1500 verschärften, fundamentalen Konflikte zwischen Teilen der Geistlichkeit und dem Rat ein. Der zügige Erfolg der reformatorischen Ideen und Neuerungen in der Stadt seit den 1520er Jahren führten (auch aufgrund der nötigen politisch-herrschaftlichen Rücksichtnahmen des Rates) aber nur zu einer gebremsten, unvollständigen Konfessionsbildung. Erst seit den 1550er Jahren konnte sich eine lutherische Bekenntnisrichtung durchsetzen, und erst jetzt gelangte der komplexe Prozess der Herausbildung neuer konfessioneller Fronten in der auch danach mehrkonfessionellen Stadt (mit weiterhin bestehenden altgläubigen Institutionen samt Domkapitel) zu einem gewissen Abschluss. Über die Orte reformatorischen Geschehens hinaus werden auch Einzelpersonen behandelt, die für die Reformationsgeschichte in den Landschaften des heutigen Rheinland-Pfalz eine wichtige Rolle spielten. Die Beiträge vermitteln dabei nicht nur Informationen über Verlauf und Charakter der Reformation, sondern auch Einblicke in die Erinnerungskultur vor Ort und deren Wandlungen. Zu den erörterten Personen zählt Ulrich von Hutten, der u. a. wahrscheinlich an der 1477 eröffneten Universität Mainz studierte und als Hofrat zeitweise in Diensten des Mainzer Erzbischofs und Kurfürsten Albrecht Kardinal von Brandenburg tätig war. Dieser wurde lange Zeit einseitig und eindimensional als prunkliebender Renaissancefürst, als Genussmensch und Verschwender dargestellt und als einer der Hauptverantwortlichen für die Reformation denunziert. In ihrem Beitrag analysiert die italienische Historikerin Silvana Seidel Menchi im Kontext allgemeiner Überlegungen zum Wechselverhältnis von Humanismus und Reformation sowie der Vereinnahmung des Reichsritters aus nationalstaatlicher Perspektive vor allem zwei wichtige Werke Huttens: den Dialog »Aula« oder »De vita aulica« (1518) und seine letzte anspruchsvolle Schrift, die »Expostulatio cum Erasmo Roterodamo presbytero theologo« (1523). Während der Diskussion zu ihrem Beitrag berichtete die Autorin, im Laufe ihres Forscherlebens habe sich ihr Bild von Ulrich von Hutten radikal geändert. Seine Texte seien ihr ursprünglich flach und wenig beeindruckend erschienen. »Heute hingegen ist Hutten in meinen Augen eine der am meisten unterschätzten Gestalten der deutschen Kulturgeschichte – eine titanische Persönlichkeit, die noch auf ihren Interpreten wartet.« In mehreren Beiträgen geht es um einen weiteren Reichsritter, Franz von Sickingen. Ihm war im Jahr 2015 parallel zur Vortragsreihe eine große Sonderausstellung im Mainzer Landesmuseum gewidmet: »Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation.« Reinhard Scholzen skizziert vor dem Hintergrund allgemeiner wirtschaftlicher, gesellschaftlicher, politischer und militärischer Wandlungsprozesse den Bedeutungsverlust, mit dem sich Teile der Ritterschaft im nordalpinen Reichsgebiet im späten Mittelalter konfrontiert sahen. Welche Chancen trotzdem bestanden, zeigt er am
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Beispiel der aus dem Kraichgau stammenden Familie von Sickingen. Ihre Stellung und ihr eher ungewöhnlicher Reichtum gründeten auf einer geschickten Heiratspolitik, innovativen Investitionen im Bergbau sowie engen Beziehungen zu mächtigen Dynasten. Scholzen legt dar, wie die 1495 zwar reichsrechtlich untersagte Fehde als an bestimmte Formen gebundenes Mittel zur Durchsetzung von Rechtsansprüchen auch mit gewaltsamen Mitteln um und nach 1500 weiter florierte. Sie wurde von Franz von Sickingen bis zu seiner Niederlage in der Trierer Fehde und zu seinem Tode zu einem erfolgreich praktizierten Geschäftsmodell systematisiert und ausgebaut und mit politischen Ambitionen und Zielen verknüpft. Kurt Andermann behandelt mit Franz von Sickingen und dem von Johann Wolfgang von Goethe literarisch stilisierten Götz von Berlichingen in vergleichender Perspektive zwei Akteure aus den beiden Kerngebieten der freien Reichsritterschaft im nordalpinen Reichsgebiet. Zwischen deren ökonomischen und machtpolitischen Ressourcen bestanden gravierende Unterschiede, entsprechend verschieden waren ihr Gestaltungsanspruch und ihr Aktionsradius. Dies trug dazu bei, dass der eine als Raubritter diskreditiert, der andere als kühner Kriegsunternehmer gefeiert werden konnte. Botschaften der Reformatoren griffen sie auch deswegen auf, weil ihre Existenz von der Intensivierung der Landesherrschaften bedroht wurde. Der Autor diskutiert vermeintliche und nachweisbare Interaktionen zwischen beiden Akteuren sowie ihre höchst verschiedenartige Instrumentalisierung in der historischen Erinnerungskultur. Der Beitrag Andermanns wird ergänzt und erweitert von Wolfgang Breul, der Franz von Sickingen und sein Verhältnis zur Reformation thematisiert. Der Autor skizziert die Voraussetzungen für Sickingens Rolle als lange Zeit erfolgreicher und geschickter Akteur auf der regionalen, der reichspolitischen und der europäischen Bühne. Breul legt dar, wie Ulrich von Hutten Sickingen für die Anliegen Martin Luthers und der Reformatoren gewann, zugleich aber auch, wie wenig selbstverständlich etwa vor dem Hintergrund von Familientraditionen dessen Hinwendung zur Reformation war. Vergeblich versuchte Hutten, Martin Luther auf Sickingens Ebernburg an der Nahe zu locken. Sie wurde daher zwar nicht zur »Wartburg des Westens«, wohl aber zu einem Ort des Asyls für eine Reihe bedeutender reformatorischer Theologen (»Herberge der Gerechtigkeit«). Zwar lassen sich Aktionen wie die Trierer Fehde Breuls Einschätzung zufolge nicht als Ausweis reformatorischer Haltung deuten, doch weisen nach seiner Darlegung eine Reihe von Anhaltspunkten darauf hin, dass der Reichsritter nicht nur aus politischem Kalkül handelte, sondern ihm eine eigenständige reformatorische Überzeugung zugeschrieben werden kann. Der bis ins späte 18. Jahrhundert weitgehend vergessene Franz von Sickingen wurde im 19. Jahrhundert zum in Denkmälern gefeierten Heros,
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der von einer preußisch-kleindeutsch-protestantisch geprägten Historiographie zum Nationalhelden stilisiert wurde. Dass es auch andere Narrative gab, macht Volker Gallés Beitrag über das 1858 beendete Sickingendrama Ferdinand Lassalles deutlich. In der Figur des gescheiterten edlen Räubers niederadliger Herkunft spiegeln sich Lassalles eigene Position als Jude und individueller Abenteurer und ein Individualismus, der von Karl Marx scharf kritisiert wurde. Die Sickingen-Debatte wirkte weiter, nicht nur in der marxistischen Literaturtheorie, sondern etwa auch in Sartres in Worms spielendem Drama »Der Teufel und der liebe Gott« von 1951. Zweifellos war die Reformation auch ein Medienereignis. Matthias Müller untersucht die Bildnisse Franz von Sickingens, mit deren Hilfe er selbst und seine Anhänger im Kontext einer vormodernen Mediengesellschaft die politische Bedeutung des Ritters zu inszenieren und dessen Erinnerung zu sichern versuchten. Sie entstanden in einer Zeit, in der die Druckgraphik den etablierten Medien des Herrscherbildnisses erstmals ernsthafte Konkurrenz zu machen begann. Anspruchsvoll gestaltete Kupferstiche oder Holzschnitte vermochten die Vorzüge der anderen Bildmedien auf sich zu vereinen und mit den Möglichkeiten der Serienproduktion und der Mobilität der in Erz gegossenen Medaillen zu verbinden. Das druckgraphisch in Auflagenhöhen zwischen 200 und 2000 Stück produzierte Herrscherbildnis bediente zielgerichtet die gewandelten Bedürfnisse der politisch-kulturellen Eliten des 16. Jahrhunderts. Auch Franz von Sickingen und seine Anhänger wussten das druckgraphische Porträt und die Bildnismedaille für ihre politisch-reformatorischen Ziele zu nutzten. Ihre Bemühungen werden als Teil eines umfassenden Medienwandels gedeutet, in dessen Verlauf das Herrscherbildnis neben seinen etablierten Funktionen auch zu einem Medium für politischkonfessionelle Kampagnen avancierte. Der Beitrag von Andreas Tacke geht in zwei Schritten der Frage nach, welche Auswirkungen die Reformation auf den Kunstmarkt hatte, vor allem nach der Phase der Radikalisierung, bei der im Bildersturm insbesondere die religiöse Kunst attackiert wurde. Was machten die Bildhauer oder Maler, nachdem beispielsweise ihre bereits ausgelieferten Werke nicht mehr bezahlt bzw. keine neuen religiösen Werke in Auftrag gegeben wurden? Die Klage der Künstler war unüberhörbar, Abwanderungen bzw. der Wechsel des Berufes prägten die Umbruchszeit, aber ebenso auch eine zukunftsweisende thematische Neuausrichtung der Künstlerwerkstätten. Exemplarisch für diese Entwicklungen steht Lucas Cranach der Ältere in Wittenberg. Er gehörte nicht wie viele seiner Künstlerkollegen zu den Verlierern, sondern war einer der großen Gewinner der neuen Zeit. Martin Luther und die Reformation sorgten bei ihm für eine Umsatzsteigerung. Voraussetzung dafür war, dass Cranach wie andere Künstler seiner Zeit unabhängig von der jeweils eigenen Glaubenseinstellung konfessionell
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neutral blieb. Seine Werkstatt belieferte die Anhänger der neuen wie alten Kirche, so in großem Umfang auch den Mainzer Kurfürsten Albrecht Kardinal von Brandenburg. Zum anderen entwickelte Cranach neue Bildthemen, für die er einen neuen Absatzmarkt fand. Das geläufige Diktum »ohne Buchdruck keine Reformation« sowie den Begriff der mit der Reformation vermeintlich einsetzenden neuzeitlichen »Medienrevolution« unterzieht Christoph Reske einer kritischen Überprüfung. Er verweist auf eine Reihe von wichtigen Kommunikationsträgern für die reformatorische Bewegung (Klerus, Mönche, Humanisten) im Bereich verbaler Kommunikationsprozesse angesichts der großen Mehrheit nicht lesekundiger Menschen im römisch-deutschen Reich. Im Beitrag werden methodische Probleme diskutiert, die Auflagenhöhe von Druckschriften gesichert zu ermitteln, und namentlich die kolportierte Auflagenhöhe von Luthers Neuem Testament von 1522 in Frage gestellt. Zugleich wird betont, dass von Produktionszahlen nicht auf einen tatsächlichen Bedarf geschlossen werden kann. Im Bereich des Drucks seien mit der Reformation keine Neuerungen eingeführt, sondern bereits existierende Formate konsequent angewendet worden. Aufs Ganze gesehen bevorzugt Reske gegenüber dem Begriff der »Medienrevolution« den der »Medienevolution.« Abschließend skizziert er die sehr unterschiedlichen Konstellationen in den Druckorten Mainz, Speyer und Worms und die prekäre wirtschaftliche Situation vieler dort tätiger Drucker. Hatte man im 19. Jahrhundert angenommen, Martin Luther sei mit seiner deutschsprachigen Bibelübersetzung der Schöpfer unserer Schriftsprache, so fallen heutige Beurteilungen vorsichtiger und differenzierter aus, wobei Luthers wichtige Rolle für die Herausbildung der Standardsprache (in ihrer geschriebenen Form) nicht strittig ist. Die Bedeutung der Bibelübersetzung des Reformators (1522 Neues Testament, 1534 und 1545 Vollbibeln) für die Herausbildung unserer Schriftsprache veranschaulicht Rudolf Steffens anhand des Wortschatzes. Luthers Neuschöpfungen wie Bluthund, friedfertig oder Morgenland werden überregional bekannt. In die Schriftsprache aufgenommen werden Wörter, die im 16. Jahrhundert noch Regionalismen des thüringisch-sächsischen (auch niederdeutschen) Raumes waren, z. B. Gerücht, Getümmel, Hügel, Kelter, Lippe, Teich, Ufer, Ziege. Grammatiker und Lexikographen des 16. bis 18. Jahrhunderts trugen zur Verbreitung der »Luthersprache« bei. Ohne Luthers Übersetzung wären Redensarten wie Angst und bange werden, Hände in Unschuld waschen, Perlen vor die Säue werfen, Teufel mit Beelzebub austreiben kaum überregional bekannt geworden. Die Beiträge des Bandes laden dazu ein, mit Blick auf die Reformation nicht nur Wittenberg, die Wartburg und die »Stammlande« der Reformation in den Blick zu nehmen. Sie wollen den Blick dafür schärfen, dass auch ent-
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lang von Rhein und Mosel Personen und Orte in reformatorische Ereignisse involviert waren. Die Vortragsreihe konnte nur dank des Engagements der Autorinnen und Autoren sowie im Zusammenwirken mit zahlreichen Kooperationspartnern durchgeführt werden: der Akademie des Bistums Mainz, Erbacher Hof; der Akademie der Wissenschaften und der Literatur Mainz; dem Altertumsverein Worms e. V.; der Generaldirektion Kulturelles Erbe RheinlandPfalz, Direktion Landesmuseum Mainz; dem Gutenberg-Museum Mainz; dem Historischen Verein der Pfalz e. V.; der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, Historisches Seminar und Ev. Theologische Fakultät; dem LeibnizInstitut für Europäische Geschichte Mainz; dem Ministerium für Wissenschaft, Weiterbildung und Kultur; der Pfälzischen Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften; dem Stadtarchiv und Landesarchiv Speyer sowie der Stadt und dem Stadtarchiv Worms. Für die Realisierung des Bandes sind wir dem Land Rheinland-Pfalz zu großem Dank verpflichtet. Hier seien insbesondere der Regierungsbeauftragte für das Reformationsjubiläum für Rheinland-Pfalz, Prof. Dr. Gerhard Robbers, und Anton Neugebauer genannt. Der Dank gilt nicht zuletzt Hedwig Brüchert, die in bewährter Weise den Band redaktionell betreute. Mainz, Oktober 2017
Michael Matheus
Gerold Bönnen
Die Reichsstadt Worms und die reformatorische Bewegung
Abb. 1: Sebastian Münster, Ansicht der Stadt Worms, um 1550, Ausschnitt
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as reformatorische Erbe markiert heute einen zentralen Bestandteil der historisch-kulturtouristischen Identität der Stadt Worms – keine Beschreibung, Stadtführung oder Darstellung der Stadt und ihrer Eigenarten kommt insbesondere ohne einen Bezug auf die Ereignisse des Reichstags 1521 und seine Folgen aus, seit 2016/17 beginnen die Vorbereitungen für den Jahrestag 2021. Die seit der Mitte des 19. Jahrhunderts enorme Präsenz dieses Aspekts der Stadtgeschichte kann allerdings leicht vergessen machen, dass unser Wissen über Ablauf, Besonderheiten und Folgewirkungen der reformatorischen Bewegung in Worms trotz forschender Anstrengungen gerade auch während der jüngeren Vergangenheit nach wie vor von mehr offenen Fragen als von gesicherten Erkenntnissen geprägt ist und dass wesentliche Zusammenhänge als kaum erforscht gelten müssen. Immer noch finden wir uns gern mit der Feststellung ab, dann und oder dann sei die Reformation in Worms »eingeführt« worden. Es muss nicht näher ausgeführt werden, dass diese Vorstellung völlig anachronistisch ist. Die im Folgenden gewählte Fragestellung nach der städtischen Ebene, eingebettet in die Reformation als städtisches Ereignis, richtet sich auf die handlungsleitenden Elemente im Verhalten des Rates als Obrigkeit unter Rückgriff auf Ansätze der Zeit um 1500. Welche Rolle spielt die Religion überhaupt im öffentlichen Leben, was ist für das Handeln des Rates während der reformatorischen Bewegung seit den 1520er Jahren maßgebend? Wo liegen im Falle der Reichs- und zugleich Bischofsstadt Worms im Vergleich zu anderen Städten und Territorien die Besonderheiten der kirchenpolitischen Ordnungsbestrebungen zwischen 1520 und 1560 sowie der spezifischen Konfessionslage bis zum Ende des Alten Reiches? Kein Platz bleibt hier für einen lohnenden Vergleich zwischen der ganz ähnlichen Entwicklung in den beiden benachbarten, in vielerlei Hinsicht eng verwandten Städten Worms und Speyer während der für die reformatorische Bewegung entscheidenden Jahrzehnte zwischen circa 1520 und 1560. In beiden gleichzeitig Reichsstädten und Bischofssitzen konnte es aufgrund der politisch-herrschaftlichen Rahmenbedingungen zu keiner wirklichen Durchkonfessionalisierung kommen; im Ergebnis des gewissermaßen schon vor 1500 einsetzenden reformatorischen Prozesses stand stattdessen eine 1
Der folgende Text entspricht weitgehend dem im Mai 2015 in Mainz gehaltenen Vortrag und erhebt nicht den Anspruch, eigene, neue Forschungen zur Stadtgeschichte im Reformationszeitalter zu bieten. Stattdessen kann hier nur ein Überblick über ausgewählte Aspekte auf Basis der neueren Literatur versucht werden; die Literaturliste wurde bis Ende 2016 weitergeführt.
Die Reichsstadt Worms und die reformatorische Bewegung 15
Mehrkonfessionalität im Sinne eines rechtlich strikt geregelten Nebeneinanders von Konfessionen, keine klare Dominanz einer Seite. Dieses Phänomen ist jüngst für Speyer mit beachtlichen Erkenntnissen erstmals gründlicher erforscht worden. Bereits einleitend muss daher auf die enormen (und für Worms typischen) Beschränkungen und Begrenzungen einer wirklich umfassenden kirchenpolitischen Neuordnung hingewiesen werden, die die Betrachtung der Konfessionsentwicklung aber zweifellos besonders spannend macht. Für die Fülle an offenen, bislang unerforschten Fragen ist natürlich die vor allem infolge des Stadtbrandes von 1689 prekäre Quellenlage wesentlich mitverantwortlich. Zwar hat die Forschung der letzten Jahrzehnte zahlreiche wichtige neue Aspekte herausgearbeitet, und traditionell gilt die reformatorische Bewegung in ganz besonderem Maße als urban event. Viele der dabei erarbeiteten Forschungsansätze lassen sich aber mangels Quellen kaum auf die Stadt übertragen – was im Übrigen einen Vergleich mit der Zwillingsstadt Speyer noch wichtiger und reizvoller machen würde. Wichtig für den Forschungsstand zur Wormser Reformationsgeschichte ist neben den Arbeiten von Frank Konersmann (2005/15 in der »Geschichte der Stadt Worms«) und Sabine Todt (2005) die 2008 erschienene kommentierte Edition der evangelischen Kirchenordnungen. Dazu kommen u. a. Arbeiten über den Drucker Peter Schöffer und die 1991 vorgelegte, grundlegende Edition der Wormser Inschriften von Rüdiger Fuchs. Besonders bedauerlich ist das Fehlen von Quellen zur Zusammensetzung des Rates und dem wirtschaftlich-sozialen Hintergrund der Führungsschicht sowie der Mangel an Selbstzeugnissen und Hinweisen auf das Selbstverständnis der Akteure. Dies gilt auch für die wichtige Vernetzung der Stadt mit ihren traditionellen Bündnispartnern wie Frankfurt und Straßburg. Zu Voraussetzungen und Entfaltung reformatischer Bewegung in den 1520er Jahren – gebremste Konfessionsbildung Zur Bedeutung der Konflikte zwischen Geistlichkeit und Rat um 1500 Ausgehend von der Feststellung, dass ohne den Rückgriff auf die Voraussetzungen aus der Zeit um 1500 die reformatorische Bewegung ganz besonders im Wormser Fall nicht nachvollzogen werden kann, ist ein Blick in die Phase fundamentaler Konflikte und folgenreicher Entscheidungen um 1500 zum Verständnis der Entwicklungen nach 1520 unerlässlich.
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Abb. 2: Vom Rat veranlasster Einblattdruck, Jan. 1500
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Auf den 25. Januar 1500 datiert ein vom Wormser Rat in Speyer in Auftrag gegebener Einblattdruck (Auflage 500 Stück), der von dem als skandalös und unrechtmäßig empfundenen Auszug des Klerus aus Worms im September 1499 berichtet. Der Rat rechtfertigt sich hier gegenüber den weltlichen Großen und den Zeitgenossen und berichtet aus seiner Sicht ausführlich über das spektakuläre Geschehen. Der Druck und verwandte städtische chronikalische Quellen registrieren den Vorgang mit großer Bitterkeit: Empört wird festgehalten, die Geistlichen hätten bei ihrem Auszug alle »kirchengezierde« mitgenommen, »brachen dafeln ab an den wenden, namen seyle und swengel von den glocken«. Bereits vorher hätten sie damit begonnen, »die heyligthum, kleynot, kirchengezierde, kelche, monstranzen, mesz- und singbücher, meszgewandt, chorkappen« mitzunehmen, wiewohl diese durch fromme Stiftungen ihrer Vorfahren zustande gekommen und daher nicht »ir eygen seien«. Die Geistlichen hätten darüber hinaus die hoch verehrte Marienstatue in dem von städtischen Kräften maßgeblich mit errichteten Liebfrauenstift »ir gewonlichen kleydung und gezierde abgezogen, beraubt heimlich … ausz unser statt gefuret und entpfremdet«. Der Klerus erscheint geradezu als Dieb und Bilderstürmer. Die hier ausgebrochenen offenen Konflikte hatten sich seit dem Amtsantritt von Bischof Johann von Dalberg 1482/83 (er starb 1503) immer mehr hochgeschaukelt. Bereits damals brachen fundamentale Auseinandersetzungen um die Frage nach der genauen Formulierung der jeweiligen Eidestexte von Stadtherrn und Rat aus. Dies machte einen dem Herkommen entsprechenden Herrschaftsantritt des Juristen von Dalberg undenkbar. Um seinen Einritt überhaupt zu ermöglichen, wurde der dahinterstehende Dissens vertagt. Es ging dabei um Fragen der rechtlichen Grundlagen der Stadtherrschaft insgesamt. Die Hoheit über die Stadt wurde in nicht gekannter Schärfe zum Streitpunkt, traditionelle Konfliktlösungsstrategien und Streitschlichtungsinstrumentarien versagten. Der Rat, der sich durchweg der Unterstützung von »Ratsfreunden« benachbarter, traditionell verbündeter Städte, wie Speyer, Straßburg und Frankfurt, versicherte und bei allen politischen Schritten Rücksicht auf die Kurpfalz zu nehmen hatte, verwies stets auf seine auch zeremoniell unterstrichenen Bindungen an das Reich und suchte diese Anlehnung weiter auszubauen. Im Grunde vermochte weder Johann von Dalberg, der stark von der Unterstützung der Kurpfalz abhängig blieb, seine Ansprüche gegen die Stadt durchzusetzen, noch konnte die Geistlichkeit ihn bei der Durchsetzung seiner Vorstellungen und ihrer Ansprüche effektiv unterstützen. Stark waren die Tendenzen zur fortschreitenden Verrechtlichung, auf städtischer Seite gestützt auf die Hilfe des Reiches und seines Oberhauptes, dessen schwankende Haltung mit zur Verzögerung klarer Entscheidungen beigetragen hat.
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Auffallend ist auf städtischer Seite eine 1499/1500 kulminierende Kombination aus umfassender »Propaganda« (Nutzung des Mediums Druck, bauliche Maßnahmen an der jetzt ausgebauten »Münze« als seit 1491 neuem städtischem Rechts- und Repräsentationsort, versehen mit Bau- und Spruchinschriften unter Bezug auf die Libertas, die Reichsfreiheit), eine intensive Chronistik unter Abfassung offiziöser Geschichtsquellen; die Einführung eines neuen Siegels, die Abfassung eines neuen Stadtrechts (1499, die sogenannte »Stadtrechtsreformation«) sowie der intensivierte Zugriff auf einen Teil der religiösen Institutionen durch Einsetzung von Pflegern zu deren Kontrolle und Beaufsichtigung: Neue Formen der Kommunikation und Selbststilisierung des Rates und seiner Herrschaft entstehen, ein neues kommunales Symbolreservoir, neue Legitimationsmöglichkeiten, ja eine Art neuer »Ideologie« werden erkennbar. Aus Protest gegen die Publikation und Inkraftsetzung des neuen Stadtrechts Mitte 1499 zog dann die (Stifts-)Geistlichkeit unter den angedeuteten Umständen in spektakulärer Weise aus Worms aus. Die (städtischen) Quellen lassen die mangelnde Einigkeit innerhalb des sozial stark gegliederten Klerus erkennen, von dem sich ein Teil erfolgreich gegen den Auszug zur Wehr setzte. Spannend gerade für den Blick aus den 1520er Jahren rückwärts ist, wie der Rat auf diese für ihn ungeheuerliche Provokation und den drohenden Verlust der geistlichen Gnadenmittel (in Verbindung mit drohender politischer Isolierung) reagiert hat. Das plötzlich entstandene Vakuum der religiösen Versorgung und Daseinsvorsorge wurde umgehend, energisch und offenbar erfolgreich ausgefüllt. Unter Fortführung bereits länger angelegter Tendenzen wurde ein laikales Kirchenregiment zügig aufgebaut und institutionell verfestigt. Der Rat suchte der Gemeinde und dem Klerus gleichermaßen zu beweisen, dass man die »pfaffheit« nicht benötige und die religiös-öffentliche Ordnung nicht von den alten Institutionen abhing, ja dass das religiöse Leben noch gesteigert werden konnte. Vor dem Hintergrund der vom Rat betonten Tradition städtischer Religiosität wurden zunächst die seit 1385 im Bürgerrecht stehenden, mit den städtischen Familien eng verbundenen Bettelordenskonvente in die Pflicht genommen, von denen allein die Dominikaner mit nicht weniger als 24 Geistlichen einen starken Konvent bildeten; er war nicht zuletzt als Kreditgeber des Rates (1482/88) eng mit der städtischen Führung verbunden. Der Rat bemühte sich umgehend, die verwaisten Stiftskirchen mit angestellten Priestern zu besetzen, und klagte darüber, dass die ausgezogene Geistlichkeit unter Missachtung der von den Vorfahren ermöglichten und nun »eigenwilliglich abgestellten« Stiftungen die ihnen übertragenen Aufga-
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Abb. 3: Aufstellung über städtische Kirchenpflegschaften, Titelseite, 1500
ben ruhen lasse. Hier wird die in der Sicht des Rates der Geistlichkeit zustehende bzw. seine Stellung einzig legitimierende Aufgabe, die Sicherung des Gebetsgedächtnisses und der religiösen Versorgung der Stadt im Dienste ihrer Bürger, deutlich. Organisiert wurden mehrfach Prozessionen mit den Geistlichen aus den ›loyalen‹ Klöstern und Konventen zur nördlich der Stadt befindlichen Liebfrauen-Stiftskirche, denen sich der Rat sowie die Zunftvertreter mit Kerzen in den Händen anschlossen. In das Haus zur Münze und damit das zentrale Repräsentations- und Versammlungsgebäude des Rates – gleichsam ein baulicher Widerpart zur Domkirche – lud man die diensthabenden Pfarrer zum Essen ein und bezahlte sie. Dies alles geschah mit Bedacht am öffentlichen Ort der Ratsentscheidungen und somit außerhalb der Sphäre der Kirche: Demonstrationen der Handlungsfähigkeit und der neuartigen Deutungshoheit des Rates auch, ja gerade gegenüber den Bürgern. Die Geistlichkeit wird schon hier zu einer Art Dienstleister im Angestelltenverhältnis.
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Für die Geistlichkeit hatten die Ereignisse die fatale Folge, dass ihre Legitimation grundsätzlich in Frage gestellt wurde und die Stiftsgemeinschaften irreparabel in Misskredit gerieten. Im Gefolge des Wegzugs des häufig in Ladenburg residierenden oder sich in Heidelberg aufhaltenden Bischofs und des Stiftsklerus seit Spätsommer 1499 konnte der Rat also seinen Wirkungsbereich erheblich und effektiv erweitern. Dass der jetzt gleichsam »entzauberte« Stiftsklerus die Lage vollkommen falsch eingeschätzt hatte, kann auch als Beleg für die gewachsene soziale Distanz zur Stadt und die erhebliche Binnendifferenzierung des Klerus insgesamt angesehen werden. Nach dem Auszug des Klerus 1499 sollte es zehn Jahre dauern, bis die Geistlichkeit nach einem mühsam verhandelten Kompromiss in die Stadt zurückkehrte, allerdings unter Aufgabe ihres traditionellen Anspruchs auf unbedingte Steuerfreiheit. Während dieser Jahre gelang dem Rat keine Einigung mit Johann von Dalbergs im Sommer 1503 gewähltem Nachfolger Bischof Reinhard von Rüppurr, da man auf städtischer Seite Reichsacht und Kirchenbann zu widerstehen vermochte. Vergeblich versuchte der Bischof, auf den Reichstagen der folgenden Jahre auf seine Situation aufmerksam zu machen und für Abhilfe zu sorgen. Dem Rat gelang es durch geschicktes Taktieren und die Nutzung der guten Beziehungen zum Reichsoberhaupt, ein weiter gesteigertes Maß an Unabhängigkeit von der formalen bischöflichen Herrschaft zu erlangen. So wurden 1505, als auch die Privilegien der Stadt durch den König bestätigt worden waren und die Stadt das Münzrecht erhielt, neben einer neuen Judenordnung weitere Neuerungen im Gerichtswesen in Kraft gesetzt, darunter die Einsetzung eines rechtsgelehrten Schultheißen als Vorsitzendem des Stadtgerichts. Die jahrelange Abwesenheit des Klerus und das erhebliche Desinteresse des abwesenden Bischofs hatten zu einer überaus negativen Entwicklung der seelsorglichen und insgesamt der kirchlichen Situation in der Stadt stark beigetragen. Die Verwaltung und Spendung der Sakramente wurden immer stärker politisch instrumentalisiert; das Ansehen des Stiftsklerus schwand stetig. Ein Zwischenfazit lautet daher: Der Rat ist am Vorabend der reformatorischen Bewegung nachhaltig an der Durchsetzung gesteigerter Herrschaftsansprüche in und gegenüber der Stadt interessiert, und vor genau diesem Hintergrund ist sein Verhalten in religiösen Fragen zu verstehen. Der Kultus war bereits eine ausdrücklich beanspruchte städtische Angelegenheit unter Ratsaufsicht geworden, als die reformatorische Bewegung einsetzte.
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Zur Entfaltung der reformatorischen Bewegung in Worms: offene Bekenntnislage und gebremste Konfessionsbildung
Abb. 4: Deutsche Messe 1524
Nachdem erste reformatorische Neuerungen in Worms ab 1521 aus dem Umfeld des im südlichen Stadtgebiet gelegenen, bald nach 1000 neu begründeten St. Andreasstifts zu beobachten sind (Teile der Stiftsgeistlichkeit wandten sich sehr früh den neuen Ideen zu), blieb es die Linie des Rates, alles Machbare zur Durchsetzung eigener politischer Interessen zu tun. Ein Jahr nach Luthers Auftritt auf dem Reichstag im April 1521 (in diesem Zusammenhang erhielt die Stadt wenige Tage nach Luthers Widerrufsverweigerung, am 22. April 1521, von Kaiser Karl V. auch eine Bestätigung ihrer reichsstädtischen Privilegien) wurde 1522 mit dem später so genannten 13er-Rat (an sich eigenmächtig) ein neues Exekutivorgan an der Stadtspitze eingesetzt, das bis zum Ende des Alten Reiches 1798 als oligarchisch organisiertes Gremium bestehen bleiben sollte. Ob die mehrfach bezeugte Euphorie um den Auftritt Luthers Auswirkungen auf den schnellen Erfolg der reformatorischen Sache in Worms nach sich zog, darüber sind im Übrigen nur Spekulationen möglich.
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Bereits seit 1518 in Worms nachweisbar, förderte der Drucker Peter Schöffer recht bald eine ebenso frühe wie lebhafte Rezeption reformatorischer Lehrauffassungen; er blieb (und das stellte sich als wichtiger Faktor für die Entfaltung und Verbreitung neuer Ideen heraus) bis zu seinem Wegzug nach Straßburg 1529 aktiv im Dienst der neuen Lehre mit Schwerpunkt auf seinem Engagement zugunsten der täuferischen Bewegung. Als der Rat im März 1523 in einem Religionsmandat erstmals zu den virulenten Fragen der Religion als untrennbarem Bestandteil der öffentlichen Ordnung insgesamt Stellung nahm, betonte er (in deutlicher Kontinuität zu seinem Handeln schon gut zwanzig Jahre zuvor) seine obrigkeitliche Zuständigkeit und Verantwortung für den Stadtfrieden sowie die Sorge um die notwendige, von ihm zu wahrende Eintracht im Gemeinwesen. Einer faktischen Unterstützung der neuen Lehre stand aber eine formell neutrale Haltung mit Rücksicht auf die Umstände gegenüber. Das Verhältnis von Religion und öffentlicher Ordnung bewegt sich hier noch ganz in den traditionellen Bahnen. Ein Jahr später, mit der bei Peter Schöffer dem Jüngeren gedruckten evangelischen »Deutschen Messe« von 1524, die ohne eine Beteiligung des Rates undenkbar war, ist zwar eine stillschweigende Akzeptanz der eingetretenen Veränderungen unübersehbar, jedoch zeigt das extrem behutsame Vorgehen und die betont konservative Grundhaltung der Deutschen Messe an, wie sehr die Evangelischen gegenüber dem Bischof Rücksichten zu nehmen hatten. Dass im selben Jahr 1523 auch eine neue städtische Judenordnung erlassen wurde, belegt zudem, dass es dem Rat weniger um Stellungnahmen zu den in einem Flugschriftenstreit umstrittenen Religionsfragen im engeren theologischen Sinne als vielmehr um eine herrschaftliche Absicherung seiner Position als Obrigkeit ging und nur hier seine ureigenen Interessen berührt waren. Wie nachdrücklich die bereits um 1500 forcierten politischen Ziele des Rates gegenüber Bischof und Klerus auch in der sich formierenden reformatorischen Bewegung dominierten, belegt ein Blick auf die sich 1524/25 in der Region dramatisch zuspitzenden Bauernkriegsunruhen. In ihrem Gefolge kam es erneut zu einer alten Mustern folgenden Zuspitzung des Streits mit Bischof bzw. altgläubiger Partei und einem Versuch zur Erzwingung neuer Rechtsverhältnisse unter Beendigung des bereits seit dem späten Mittelalter immer wieder bekämpften rechtlichen Sonderstatus des Klerus; allerdings bleiben die Regelungen in dem entsprechenden Vertrag mit dem Klerus von Anfang Mai 1524 nur sehr kurzlebig. Erst 1526 kam es in einer neuen Rachtung zur Regelung der dann bis zum Ende des Alten Reiches 1798 geltenden Rechtsverhältnisse in der Stadt. Mit dem hier gefundenen Modus vivendi erfolgte eine erneute, jetzt dauerhafte
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Ausbalancierung zwischen der Eigenständigkeit der freien Stadt und der Präsenz von Bischof und religiösen Institutionen unter Rückgabe aller Kirchen im Stadtgebiet mit Ausnahme von St. Magnus an die Altgläubigen. Im selben Jahr 1526 ist ein vom Rat veranlasster evangelischer Gottesdienst im Schiff der Dominikanerkirche bezeugt, der auf den schon erwähnten Rechtsbeziehungen (Bürgerrechtsaufnahme der Franziskaner und Dominikaner 1385) beruht, die seinerzeit übrigens nochmals abschriftlich festgehalten wurden. Die Forderung des Rates nach Wahl und Einsetzung der Pfarrer konnte nicht durchgesetzt werden. Der Punkt zeigt deutlich, wie stark die reformatorische Bewegung auch als Vehikel genutzt wurde, um bereits ältere Ansprüche auf Herrschaftsausweitung vorzubringen. Während der gesamten 1520er Jahre ist allerdings ratsseitig noch keine offene Förderung der evangelischen Konfessions- und Kirchenbildung und eine stattdessen bemerkenswert offene Bekenntnislage festzustellen. Auch als sich die Stadt nach dem Reichstag zu Speyer 1529 zu einem faktischen ius reformandi ermächtigt sah, änderte sich daran nichts, ungeachtet der breiten sozialen Trägerschaft der neuen religiösen Vorstellungen. Wichtiger als religiöse Fragen blieben für die handelnden Akteure politisch-rechtliche Klärungen, die ganz klar in traditionellen Bahnen verliefen und eingefahrenen Mustern folgten. Dabei gilt auch für Worms, dass es einen Gegensatz zwischen Volks- und Ratsreligion nicht gegeben hat. Ein lange Zeit unterschätztes Charakteristikum der Wormser reformatorischen Bewegung war der hohe Anteil täuferischer Gedanken und Persönlichkeiten in den 1520er Jahren. Nicht zuletzt durch die später dominierende lutherische Orthodoxie verschwand der in der jüngeren Forschung zu recht herausgestellte Anteil der täuferischen Bewegung und ihrer zum Teil durchaus radikalen Vertreter an der Dynamik des Wandels in Worms fast aus dem Gedächtnis. Persönlichkeiten wie Hans Denk, Melchior Rinck und Ludwig Hetzer sowie die 1527 bei Schöffer gedruckte Prophetenausgabe, der Thesenstreit und die 1527/28 vollzogene Täuferausweisung bzw. der sich massiv verschärfende Konflikt mit Anhängern der Täufer markieren eine Zäsur in der Entwicklung reformatorischen Gedankengutes. Als eines ihrer Ergebnisse ist das Ende der Druckertätigkeit des »Sympathisanten« Peter Schöffer festzuhalten, der 1529 nach Straßburg ging.
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Abb. 5: Prophetenübersetzung 1527
Ein wichtiger Markstein in der Durchsetzung der reformatorischen Bewegung war die fast zeitgleich mit dieser Weichenstellung 1527 erfolgte Begründung einer Schule als Keimzelle des späteren Gymnasiums. In diesem Jahr wurde vom Rat an der Stelle des Franziskanerklosters die offiziell 1539 etablierte Lateinschule eingerichtet. Ungeklärt ist bisher, inwiefern damit auch die Ausarbeitung einer Schulordnung verbunden war. Während sich der erste Rektor der Schule, Leonhart Brunner, wahrscheinlich an den Straßburger Schulreformen Johannes Sturms orientierte, scheint sein späterer Nachfolger Friedrich Zorn, der auch als Wormser Chronist bedeutsam wurde, sächsische und kurpfälzische Schulordnungen zum Aufbau einer dreiklassigen Lateinschule herangezogen zu haben. Einen wichtigen Schritt hin zu einer Durchsetzung der Reformation war auch die 1527/29 erfolgte Berufung des aus Straßburg stammenden Leonhard Brunner unter Einrichtung einer Prädikatur durch den Rat. Was war für das Ratshandeln bestimmend? Maßgeblich war auch hier das traditionelle Postulat der Aufrechterhaltung der innerstädtischen Eintracht unter steter Beachtung der politisch-rechtlich-herrschaftlich-regionalen Gesamtlage. Hier
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nun fungierte der Rat (unter Fortsetzung schon 1500 angelegter Tendenzen und Vorstellungen) als eine Art Kirchenvorstand. Entsprechend fungierte Brunners Katechismus von 1543 als gleichsam offizielles Dokument für den Bekenntnisstand in der Reichsstadt.
Abb. 6: Katechismus 1543
Gebremste Konfessionsbildung, Rücksichtnahmen auf politische Rahmenbedingungen und vorsichtiges Taktieren, bekenntnismäßig lange Zeit Offenheit, Fortsetzung länger angelegter Strategien des politischen Handelns im Sinne einer Machterweiterung auf Kosten des Klerus ohne eigenes Hervorkehren religiösen Eifers: Dies sind die Zeichen für die unfertige Konfessionsbildung in den wichtigen 1520er Jahren.
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Neuanfang und Durchbruch ab 1548/52: lutherische Offensive ohne wirkliche Konfessionsbildung Die 1550er Jahre
Abb. 7: Agendbüchlein 1560
Die Rückschläge für die Durchsetzung der reformatorischen Ideale in den Städten und Territorien des Reiches in den späten 1540er Jahren gingen selbstverständlich auch an Worms nicht vorbei. So unterwarf sich notgedrungen auch Worms 1548 den Bestimmungen des sogenannten Interims als reichsgesetzlichem Ergebnis der militärischen Niederlage des protestantischen Schmalkaldischen Bundes gegen Kaiser Karl V. Evangelische Lehrer und Prediger (Leonhard Brunner ging nach Straßburg, dann nach Landau, wo er 1553 starb) mussten die Stadt verlassen. Erst nach dem Passauer Vertrag von 1552 wurden wieder evangelische Prediger angestellt; von jetzt an begann auch der (im Übrigen bisher noch nie näher untersuchte) sukzessive Ausschluss von Altgläubigen aus dem Stadtrat. Erst die weiteren 1550er Jahre haben dann eine offizielle Hinwendung des Rates zur jetzt deutlich vernehmbaren lutherischen Konfession mit sich
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gebracht. Sichtbares Zeichen dafür ist die 1560 im Druck veröffentlichte Kirchenagende; sie diente ausdrücklich nicht zur Vorbereitung einer eigenen Kirchenordnung, zu der es in Worms nie kam. Sicher ist aber, dass das Agendbüchlein den tatsächlichen, sich jetzt fester etablierenden Konfessionsstand am Ende der wichtigen 1550er Jahre belegt. Als Gründe für dieses späte und eingeschränkt konsequente Bekenntnis konnte Frank Konersmann 2005/2015 plausibel die kirchenpolitischen Erfahrungen der 1520er Jahre und die nach wie vor gebotene Rücksicht auf die besonderen Reichsbindungen herausstellen. Als überaus wichtig für die jetzt entschiedene Etablierung einer lutherischen Richtung in der Reichsstadt nach dem Augsburger Religionsfrieden von 1555 (mit seinen reichsrechtlichen Schutzbestimmungen für die katholischen Institutionen) erwies sich die von Kurfürst Ottheinrich in der nach wie vor für die Stadt überaus wichtigen, bis direkt vor die Tore der ohne Territorium dastehenden Reichsstadt reichenden Kurpfalz massiv vorangetriebene Entwicklung zugunsten der Durchsetzung der lutherischen Lehre ab 1556; hieran konnte sich der Rat nun entschieden anlehnen und Fakten schaffen. Erstaunlich war dabei, dass sich der seit 1552 vermutlich ausschließlich von Lutheranern besetzte Stadtrat nicht zur Ausarbeitung oder wenigstens Übernahme einer dezidiert lutherischen Kirchenordnung entschlossen hat. Daher ist zwar von einer vom Stadtrat zögerlich geförderten lutherischen Konfessionsbildung der städtischen Bevölkerung, nicht jedoch von einer mittels Kirchenvisitationen, Kirchenordnung und Katechismus vorangetriebenen lutherischen Konfessionalisierung auszugehen. Auch fehlt in den Akten und Chroniken jeder Hinweis auf eine typisch lutherische Rechtfertigung obrigkeitlichen Kirchenregiments, die den Stadtrat als einen Notbischof betrachtet hätte. Der Stadtrat begründete die meisten seiner den Klerus oder kirchliche Institutionen betreffenden Verordnungen ähnlich wie schon seit um 1490 mit seinen traditionellen obrigkeitlichen Funktionen der Friedenswahrung, Rechtssicherung und Aufsicht über die gute Policey. Das galt bereits für das erwähnte Religionsmandat von 1523. An der prekären kirchenpolitischen Gesamtlage hatte sich auch nach Augsburg in der Stadt nichts Grundlegendes geändert. Allerdings: Jetzt, in den 1550er Jahren, beobachten wir bei aller Problematik einer dünnen Quellendecke so etwas wie eine konfessionelle Lagerbildung, einschließlich Erosionserscheinungen im katholischen bzw. altgläubigen Milieu, was sich beschleunigt nach 1555 nicht mehr übersehen lässt. Um das bisher durchaus eher theoretisch Vorgestellte etwas konkreter zu fassen, soll an dieser Stelle ein Einzelbeispiel diese Überlegungen veranschaulichen.
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Das Beispiel Caspar Meiel
Abb. 8: Grabdenkmal Meiel
Eines der wenigen Zeugnisse für die sich in den 1550er Jahren abspielenden Wandlungen ist das Grabdenkmal für Johann Caspar Meiel (1587/1601). Das Grab des um 1530 geborenen Goldschmieds, Ratsherrn und Stättmeisters sowie seiner Frau und Kinder stammt von dem spätestens für das Jahr 1562 belegten lutherischen Friedhof im nördlichen Vorstadtgebiet; das Denkmal befindet sich heute im Museum der Stadt Worms im Andreasstift. Die auf dem Friedhof nachweisbaren Denkmäler stammen in hohem Maße von Rats-
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mitgliedern; Anlage und Ausgestaltung des Begräbnisortes können als Beleg für den zunehmend beobachtbaren Zusammenhang zwischen Ratswahlfähigkeit und lutherischer Konfession angesehen werden, denn spätestens gegen Ende der 1550er Jahre erhielt die Konfession eine offenbar entscheidende Rolle für die Wahlfähigkeit in den Rat, und das noch vermehrt, als der Stadt 1558 die Konfessionshoheit zufiel. Meiel machte ab 1558 im Gemeinen und dann im für die Stadt entscheidenden 13er-Rat Karriere, wobei (ganz typisch) schon seine Vorfahren wie auch sein Schwiegervater Ratsmitglieder waren. Sein Schwager war kein Geringerer als der (bereits genannte) Gymnasialdirektor und Chronist Friedrich Zorn. Die Grabinschrift für Meiel betont (bis dahin kaum vorstellbar) den »unversehrten lutherischen Glauben« (fides luttera integra). Bezeichnet wird Meiel als »Pfleger des Gerechten und Guten«. Insgesamt kann das Denkmal mit seinem 1587 verfassten Text als Beleg für eine starke lutherische Offensive und eine neue Ausrichtung sowie neuartiger Exklusionstendenzen in der Führungsschicht der Stadt angesehen werden. Die nun bestimmend werdende lutherische Kontinuität zeigt sich u. a. daran, dass nach etwa 1570 nur noch wenige Denkmäler aus dem Kreis der katholischen Bevölkerung überliefert sind, die nicht Geistliche betrafen. Zum Verhalten des Rates gegenüber den religiösen Einrichtungen Bislang als Indikator für die bestimmenden Motive des Rates in religiösen Angelegenheiten und zur Beantwortung der Frage, welche Ziele dem Rat seit den 1520er Jahren vordringlich wichtig waren, kaum herangezogen wurde von der Forschung das Verhalten gegenüber den zahlreichen und vielfältigen religiösen Institutionen. Hierzu bergen die Bestände der Abt. 1 B des Reichsstädtischen Archivs ungeachtet der Verluste von 1689 noch zahlreiches, bislang ungenutztes Quellenmaterial. Auf die seit dem 14. Jahrhundert bestehenden, in der Reformationsepoche unter anderen Vorzeichen neu belebten Rechtsbeziehungen zu den Bettelorden für Kirchennutzung (Dominikaner) und Schuleinrichtung (Franziskaner) wurde bereits ebenso hingewiesen wie auf den fehlenden Zugriff auf Pfarrkirchen, was die Ausübung des Gottesdienstes in neuer Form auf Dauer extrem erschweren sollte und selbst bei St. Magnus bis in das 18. Jahrhundert zu ständigen Konflikten mit der katholischen Seite führen sollte. Beinahe noch spannender ist ein Blick auf die Frage, wie sich der Rat gegenüber den Klöstern und Stiften in und vor der Stadt verhielt. Auf die älteren Traditionen wie Kirchenpflegschaften und traditionelle Aufsichtsverfahren wurde ja schon hingewiesen, und genau diese kamen verstärkt seit den 1520er Jahren mit gesteigerter Effizienz zum Einsatz.
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Abb. 9: Archivalien des Karmeliterkonvents
Typisch sind hier die Befunde für das Karmeliterkloster. Nachdem im Jahre 1525 ein Inventar der Gültbriefe und des Kirchengeräts durch den Rat angelegt worden war und 1530 Herausgabeansprüche über Konventsgegenstände ins Leere liefen, setzte man 1546 einen städtischen Pfleger ein; dann passierte dem Konvent erst einmal nichts. Erst 1564 ist ein (vergeblicher) Versuch zur Übernahme der Kirche für die nach wie vor herrenlosen Lutheraner belegt, der von weiteren rechtlichen Streitigkeiten begleitet wurde. Ganz ähnlich liefen die Dinge im Bergkloster (Reuerinnen) westlich vor der Stadt ab (Stadtarchiv Worms Abt. 1 B 1891): Städtische Zinsregister der Jahre 1522 bis 1536 und 1545 bis 1548 belegen ein intensives Interesse des Rates und der von ihm eingesetzten Wirtschaftsprüfer an der ökonomischen Lage und der materiellen Ausstattung der Abtei; 1584 folgte noch ein weiteres Gültbriefinventar. Einem Aufhebungsversuch des Rates um diese Zeit trotzte man auf rechtlichem Weg mit kaiserlicher Hilfe. Auch im Augustinerkloster (desgl. Abt. 1 B 1868B), wurden nicht zufällig in den bereits herausgestellten 1550er Jahren Inventare nach Vorläuferanstrengungen seit Mitte der 1520er Jahre angelegt. Hier kam es 1567 zum sonst die Ausnahme bleibenden Übergang
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des Bettelordenskonvents an die Stadt. Selbst die wirtschaftlich schwachen Beginengemeinschaften in Worms konnten sich bis weit in die 1560er Jahre hinein halten und Aufhebungsbestrebungen abwehren (Archivalien sind hier bis um 1580 vorhanden). Aus den 1590er Jahren erhaltene Prozessakten des Reichkonvents (desgl. Abt. 1 B 1892) belegen die immer noch gegebene Enge der städtischen Spielräume bei dem Versuch, Klöster aufzuheben. Das wurde dann auch ab etwa 1590 nicht mehr versucht. Als Gesamteindruck ergibt sich folgendes Bild: Wichtig sind dem Rat in erster Linie die Absicherung und Erweiterung von Spielräumen für Ratspfleger zur Vermögensaufsicht und Verwaltungskontrolle. In den 1520er Jahren gibt es eine erste Welle der Intensivierung bereits länger bestehender Pflegschaftsbemühungen gegenüber »stadtnahen« Konventen unter deutlich verstärkter Schriftlichkeit und Bürokratisierung. In den 1550er Jahren folgt dann ein nochmals intensivierter Zugriff. Aufhebungsversuche enden in langwierigen Prozessen und gestalten sich äußerst mühsam. Ein längeres Nachleben lässt sich selbst für Beginenkonvente bezeugen. Wichtigstes Ziel des Rates waren Aufsicht und Kontrolle über das Vermögen, die rechtlichen Hürden für tatsächliche Auflösungen blieben hoch. Punktuell kam es nur in den 1560er Jahren zu einigen Übernahmen von Klöstern im Gefolge der skizzierten Durchsetzung der lutherischen Konfession. Die Bestimmungen des Augsburger Religionsfriedens sicherten die Existenz fast aller religiösen Einrichtungen aber ab 1555 nachhaltig. Im Schutz der reichsstädtischen Verfassung bleiben zahlreiche Kirchen und Klöster bis zur Säkularisation 1801 intakt, wenngleich im Streit über St. Magnus und Dominikanerkirche Veränderungen eintraten, Augustinerund Franziskanerkloster nach ihrer Räumung durch die Konventualen in den 1540er bzw. 1560er Jahren vom Rat aufgekauft wurden und das vorstädtisch gelegene regulierte Chorherrenstift Kirschgarten schon 1525 anlässlich eines Aufruhrs von Bauern und Bürgern zerstört worden war. Die Schwächung der altgläubigen Seite in der Stadt machte sich vor allem dort bemerkbar, wo nach dem Niedergang und Zerstörungen von Baulichkeiten während des 16. Jahrhunderts ein Wiederaufbau mangels ausreichender Unterstützung unterblieb. Ein schweres Schicksal erlitten vor allem die Konvente vor den Stadtmauern, deren Öffnung und Profanierung durch die pfalzgräfliche Verwaltung in Heidelberg v. a. während der 1550er und 1560er Jahre erzwungen wurde.
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Abb. 10: Peter Hamman, Ratssaal mit Reichsadler; Haus zur Münze, 1690
Abb. 11: Peter Hamman, Haus zur Münze, Marktplatz, 1690
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Repräsentativ-bauliche Anstrengungen auf Ratsseite sind wegen des fehlenden Zugriffs auf kirchliche Einrichtungen fast nur im profanen Bereich greifbar: Zu nennen ist hier das 1581 erneuerte und mit Inschriften ausgestattete Gerichtshaus als Mittelteil des Rathaus-Münze-Komplexes mit Bezug auf Kaiser, das Haus Habsburg und antike Sagengestalten unter Herausstellung des Kernbegriffs der Libertas sowie Rückgriff auf altrömische Vorbilder der Aufopferung für das städtische Gemeinwohl. In den 1570er Jahren wurden im Übrigen vom Rat auffallend viele Feiertagsordnungen für die Regelung des Verhaltens an Ostern, Pfingsten, Allerheiligen und an Weihnachten erlassen, zusätzlicher Beleg für die Bedeutung dieser Zeit im Hinblick auf religiös striktere Disziplinierungsbestrebungen. Ausblick
Abb. 12: St. Magnus, Innenaufnahme
Zu Beginn des 17. Jahrhunderts mehren sich Belege für eine lutherische Orthodoxie: So erfolgte 1614 eine neue Ausmalung der Magnuskirche unter Aufsicht des durch Policey-Ordnungen regierenden Rates mit einem dezidiert lutherischen Spruchprogramm, dies auch vor dem Hintergrund eines Konflikts mit dem benachbarten Andreasstift. Die Identität von Kirchengeschworenen und Ratsmitgliedern zeigt das jetzt erreichte Ausmaß an Symbiose klar an; das Ganze datiert nicht zufällig in eine Zeit massiver Bürgerunruhen und eines Vertreibungsversuchs der jüdischen Gemeinde. Überhaupt kann der Umgang des Rates mit der kontinuierlich bestehenden Judengemeinde in seiner Indikatorfunktion für die Ansprüche der Obrigkeit kaum überschätzt werden. Seit dem Anfang des 16. Jh. zeigen die Judenordnungen
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wachsende Regelungsansprüche und Restriktionsbemühungen gegenüber der zahlenmäßig wachsenden Gemeinde an. Wir beobachten eine durch Visitationsprotokolle dokumentierte Besteuerung und Beaufsichtigung durch den Rat, gleichsam die andere Seite der in der reformatorischen Bewegung deutlichen Herrschaftsansprüche gegenüber den Untertanen in der Stadt. Nach der Stadtzerstörung 1689 und der Rückkehr des Rates aus dem Frankfurter Exil zehn Jahre später kam es auch auf religiösem Gebiet zu einer Wiederherstellung der rechtlichen Verhältnisse in der Reichsstadt, in der nach der widerwillig erfolgten Zulassung einer reformierten Gemeinde 1699 jetzt drei christliche Konfessionen und das Judentum zusammen- bzw. nebeneinanderlebten. Dominierend blieb für den Rat der massiv marginalisierten Stadt die exakte rechtliche Austarierung der jeweiligen Ansprüche und Rechtstitel. Durchgehend blieben Konflikte und Abwehrhaltung virulent – jede Form von Toleranz im modernen Verständnis blieb undenkbar. Verkrustung und Oligarchisierung nahmen weiter zu. Erst mit dem Bau der Dreifaltigkeitskirche 1725 (vgl. den parallelen, bis heute erhaltenen Bau einer vergleichbaren Kirche in Speyer bis 1717) wurde ein gleichsam religiös untermauerter Neuanfang im Blick auf die bauliche Präsenz der Lutheraner in der Stadt möglich. Es dominierte in Worms bis 1798 ein orthodoxes Luthertum, bis durch die französische Herrschaft 1798 bis 1814 ein auf Kosten der alten Eliten erfolgter fundamentaler Neuanfang möglich war. Im 19. Jahrhundert begann sich dann die nach wie vor zu zwei Dritteln evangelische Stadt neu zu erfinden und sich dazu des geistigen Erbes der Reformation in nun betont nationalprotestantischer Weise zu bedienen bzw. dies in bis heute wirkmächtiger Weise umzudeuten. Schlussthesen Das Verhalten des Rates in Fragen der Religion als Teil der öffentlichen Ordnung wurde noch lange im 16. Jahrhundert durch die Erfahrungen und Rechtssetzungen der Zeit um 1500 geprägt. Es ging dem Rat seit dem späten Mittelalter immer zuerst um die Erlangung von Einfluss auf das Leben und die Ökonomie der religiösen Gemeinschaften, die Sicherung einer nun möglichen ratsoffiziellen Religionsaufsicht, die Reduzierung der rechtlichen Sonderrolle des Klerus, die Sicherung von Einfluss auf die Wirtschaftsführung der Konvente und die Durchsetzung obrigkeitlicher Herrschaftsansprüche und Rechtsgewalt gegenüber allen Bürgern und Bewohnern und damit die Sicherung von Eintracht im Interesse der Wahrung der Reichs- und Stadtfreiheit. Diese »Ideologie« blieb während der so wichtigen 1520er Jahre leitend für das Handeln des oligarchisch gefügten Rates gegenüber den religiösen Fragen, die im engeren Sinne längere Zeit eben ausdrücklich nicht direkt
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geregelt wurden. Eine längere Zeit offene und formal neutrale Haltung in Bekenntnisfragen war Ausdruck von politischem Realismus angesichts der Stellung von Kaiser, Bischof und Kurpfalz. Diese spezifische, in Speyer ganz ähnlich anzutreffende Konstellation verhinderte noch in den für die Durchsetzung lutherischer Grundsätze in der Stadt entscheidenden 1550er Jahren eine wirkliche Durchkonfessionalisierung im Sinne anderer Städte oder Reichsstände. Die Reformation wurde nicht »eingeführt«, sie erhielt ihre Konturen in einem von den 1520er Jahren bis in die 1560er Jahre reichenden allmählichen Prozess, über den wir nach wie vor kaum wirklich Genaueres wissen. Entscheidend für das Handeln des Rates blieben die seit den 1490er Jahren in neuer Qualität eingeübten Verhaltensmuster, in deren Mittelpunkt ein obrigkeitlicher Zugriff auf die Bewohner und Bürger sowie eine Abwehr klerikal-bischöflicher Rechtspositionen standen und eine Beaufsichtigung der religiösen Gemeinschaften sowie die engstmögliche Anlehnung an das Reichsoberhaupt entscheidend blieben. Worms blieb nicht zuletzt aufgrund reichsrechtlicher Rahmenbedingungen eine mehrkonfessionelle Stadt, in der das Gros der altgläubigen religiösen Gemeinschaften bis 1801 Bestand hatte. Der Rat verfügte vor 1725 über kein zentrales Gotteshaus, dessen programmatischer Bau in Gestalt der 1945 total ausgebrannten Dreifaltigkeitskirche erst nach der verheerenden, in seinen Folgen aber auch wiederum nicht zu überschätzenden Stadtzerstörung 1689 möglich wurde, begleitet von einer allseitigen Restauration überkommener Strukturen. Mit den vom Rat beaufsichtigten und besteuerten, eng herrschaftlich kontrollierten Juden, den (seit 1699 mehr als widerwillig zugelassenen) Reformierten sowie den Katholiken lebten im 18. Jahrhundert drei bzw. vier Konfessionen nebeneinander. Die Verfassung der wirtschaftlich spätestens nach 1600 zunehmend marginalisierten Stadt mit lutherisch orthodoxem Rat blieb auf Basis der zwischen 1499 und 1526 ausgehandelten Verfassungsgrundsätze bestehen. Nach dem Ende der reichsstädtischen Zeit unter der umstürzenden französischen Neuordnung ab 1798, in der die lutherische Führungsschicht zu den Verlierern der Entwicklungen gehörte, wurden die neuen Möglichkeiten allenthalben begrüßt und die Zeit vor 1798 durchweg negativ erinnert. Mit einigem Grund kann man übrigens das relativ hohe Maß an politischer und religiöser Liberalität in Rheinhessen und der Pfalz während des 19. Jahrhunderts durchaus mit den hier flächendeckend seit der Reformationsepoche gemachten Erfahrungen der Mehrkonfessionalität in Verbindung bringen, die so in anderen Landschaften nicht eingeübt waren – aber das ist ja schon wieder ein ganz anderes Thema.
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silvana seidel Menchi
Ulrich von Hutten1 Dem Andenken an Delio Cantimori in Dankbarkeit gewidmet
Vorbemerkung
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ieso wird das Thema Ulrich von Hutten ausgerechnet einer Referentin aus Italien anvertraut? Hutten ist doch schlechthin ein deutsches Thema. Unter den Gelehrten, die sich mit ihm befasst haben, sind fast ausschließlich deutsche Namen zu finden. Allerdings mit einer Ausnahme, denn es steht auch ein italienischer Name in dieser Liste: Delio Cantimori. Professor Cantimori ist mein Doktorvater gewesen. Meine erste Begegnung mit Hutten geht auf meine Studienzeit an der Universität Florenz zurück. Als Cantimori die Betreuung meiner Studien übernahm, schenkte er mir, bei einem unserer ersten Gespräche, ein Exemplar seiner eigenen Doktorarbeit, ein schmales Faszikel von 79 Seiten. Mit dieser Abhandlung hatte Cantimori sein Studium an der Scuola Normale Superiore in Pisa abgeschlossen. Die Publikation datiert aus dem Jahr 1930. Der Titel lautet: Ulrich von Hutten und die Wechselwirkungen zwischen Renaissance und Reformation.2 Die handgeschriebene Widmung verbindet sich mit einem Wunsch: »Silvana Menchi zugeeignet, aus der Hand des Verfassers, hoffend, sie möge daran gehen, in dieser Arbeit alle Fehler, Unzulänglichkeiten, sowie kritische historische und philologische Arglosigkeiten ausfindig zu machen, und sich ferner über die Anmaßung ihres Verfassers zu amüsieren«.
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Aus dem Italienischen übersetzt von Antonio Staude. Delio Cantimori: »Ulrico von Hutten e i rapporti tra Rinascimento e Riforma«, Annali della R. Scuola Normale Superiore di Pisa, Classe di Lettere e Filosofia, Vol. XXX, Fasc. II, 1930. Ich zitiere aus dem mir vorliegenden Faszikel, das wie folgt untergliedert ist: S. I–VII (»Avvertenza«/Vorbemerkung); S. 1–79 (Haupttext).
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Worin bestanden die Fehler und Arglosigkeiten, die eine naive Zwanzigjährige in dieser Arbeit entdecken sollte? Hier eine Kostprobe daraus: Durch Huttens Werk, so schreibt Cantimori, »nahm die lutherische Reformation jenen politischen Charakter an, durch den sie zur Seele der deutschen Nation und des preußischen Staates wurde: und über Huttens Ideen, blieb ein humanistisches Gedankengut innerhalb der protestantischen Bewegung erhalten, was jene Idee der Nation befeuerte, aufgrund der […] sich in Deutschland neueste politische Strömungen auf ihn zurückbesinnen«.3 Tatsächlich liegen Cantimoris Publikation drei grundlegende Gedankengänge zugrunde: – – –
die protestantische Reformation als Erbe des italienischen Humanismus, der preußische Staat als Ursprung des modernen Deutschland, der Nationalismus, der deutsche ebenso wie der italienische, als Faktor kultureller Erneuerung für Europa.
In aller Deutlichkeit lassen sich hier die Gefahren und die Missverständnisse erkennen, mit denen sich die Auslegung von Huttens Schriften verbindet: – – –
die Gefahr historischer Verallgemeinerungen, die sich als unhaltbar erweisen, z. B. die These, wonach die Reformation als ein Erbe italienischer humanistischer Strömungen zu gelten hat, die Gefahr, unheilvolle politische Bewegungen und Umstürze zu begünstigen, vor allem Formen des Nationalismus und der Verherrlichung eines starken (preußischen, oder auch nicht-preußischen) Staates, die Gefahr, apologetische Geschichtsbilder vorzugeben, insbesondere in Bezug auf die protestantische Reformation (z. B. die Reformation als den Wendepunkt, mit dem die Entstehung der modernen Welt eingeläutet wurde).
Seit mehr als einem halben Jahrhundert hat die Forschung Hutten von diesen Anklagepunkten freigesprochen und hat ihn aus derart heiklen Verstrickungen herausgelöst. Doch spannt sich weiter eine Art Schatten über ihn, und das daraus entstehende Missbehagen erklärt das vergleichsweise geringe Interesse, das dem fränkischen Ritter seitens der heutigen Geschichtsschreibung entgegengebracht wird. Huttens Biographen nehmen, bereits im einleitenden Teil ihrer Darstellung, stets die Rolle eines Pflichtverteidigers ein. Ich 3
»Per opera sua [di Hutten] la Riforma luterana assunse quel carattere politico che poi ne ha fatto l’animatrice della nazione germanica e dello stato prussiano; e attraverso le sue idee altre linfe umanistiche sono rimase operose nel moto protestante, a vivificare quell’idea di nazione che … fa ritornare a lui modernissime correnti politiche della Germania«, a. a. O., S. V–VI.
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denke nicht, dass Hutten eine solche Verteidigung nötig hat. Was hingegen Not täte, wäre ein einfühlsamer Biograph, der es versteht, Huttens Leben neu zu deuten, und zwar im Lichte der neuesten Forschungsergebnisse, die das Profil des Menschen Hutten für meine Begriffe einschneidend verändert haben. 1. Leidenschaft und Vernunft, oder die Rationalität des Irrationalen (1503–1517) Hutten lebte die 35 Jahre seines Lebens (1488–1523) mit frenetischer Intensität. Die Biographen geraten bei dem Versuch, den Eilschritten seiner Erfahrungen nachzukommen, leicht außer Atem.4 Als Sprössling aus altem niederem Schwertadel ward ihm durch seinen Vater eine Mönchslaufbahn in der Reichsabtei Fulda bestimmt, jedoch entzog er sich dem väterlichen Plan und entschied sich für ein ausgedehntes Universitätsstudium. Bereits als Jugendlicher nahm sein Leben die Gestalt eines Irrweges an. Die damaligen Studenten waren ja ohnehin Vaganten; doch Hutten kam innerhalb von neun Jahren an insgesamt sieben Universitäten – darunter Erfurt, Leipzig, Köln, Wittenberg, Wien. Später reihten sich auch Pavia und Bologna in diese Liste ein, noch später studierte Hutten abermals in Bologna und schließlich in Ferrara. Schon in seiner Studentenzeit im Deutschen Reich hatte er mit widrigen Bedingungen zu kämpfen; in Italien wurde sein Leben noch stürmischer. Eine Zeitlang diente er als Soldat in der kaiserlichen Armee, er duellierte sich mit französischen Soldaten, er musste überstürzt aus Städten flüchten, wo er ungestüm für die Privilegien der deutschen Studentennation eingetreten war. Der Begriff, mit welchem die Humanisten den Reichsritter bezeichneten, ist miles: Soldat. Hutten war ein miles. Dieser Begriff, der ihm regelmäßig zugeschrieben wurde, brachte ihm ein militärisches Profil ein, das von den wirklich bedeutsamen Erfahrungen seines Lebens weit entfernt ist. Tatsächlich waren seine Studienjahre durch eine einzige, ausschließliche Leidenschaft geprägt: Die studia humanitatis, also die Beschäftigung mit den Sprachen und mit dem Erbe des klassischen Altertums. Diese Leidenschaft ließ Hutten von einer Universität zur nächsten ziehen, auf der Suche nach möglichst berühmten Lehrern. Er war kein Mann für halbe Sachen. Er war 4
Bei den biographischen Angaben stütze ich mich auf folgende Monographien: Paul Kalkoff: Ulrich von Hutten und die Reformation, Verein für Reformatonsgeschichte, Band IV, Leipzig 1920, Nachdruck Hamburg 2013; Hajo Holborn: Ulrich von Hutten, Göttingen 1968; Heinrich Grimm: Ulrich von Hutten. Wille und Schicksal, Göttingen 1971.
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ehrgeizig und setzte alles daran, um möglichst hoch hinaus zu kommen. Die Aneignung der Fähigkeit, sich in geschmeidiger Prosa auszudrücken, reichte ihm nicht. Er wollte die Kunstfertigkeit erlernen, lateinische Verse zu dichten, Oden und Epigramme zu verfassen. In der leidenschaftlichen Hinwendung zu den studia humanitatis fanden sich so alle übrigen Visionen Huttens vereint: die Idee des Reiches, die Verehrung des Kaisers, der Glaube an die Deutsche Nation. An dieser Stelle ist nun unsere Vorstellungskraft gefordert: wir müssen uns in eine entfernte Welt versetzen. In der Welt Huttens war das gültige Kommunikationsmittel im öffentlichen Bereich die lateinische Sprache. Die Sekretariate der Landesfürsten, die Kanzleien der Reichsstädte, das Netzwerk der kaiserlichen Diplomatie, die schier übermächtige päpstliche Kanzlei: allenthalben waren hier große Humanisten tätig, also Männer, die ein glänzendes Latein schreiben konnten und die in dieser ehrwürdigen Sprache Schlüsselworte prägten, mit deren Hilfe für die Fürsten ein Konsens gestiftet und aufrechterhalten werden konnte. Und die Fürsten entlohnten ihre Gelehrten für diesen Dienst in angemessener Weise. Thomas Morus in der Kanzlei Heinrichs des VIII. in London, Alonso de Valdès im Sekretariat Karls von Habsburg bzw. Karls V. in Spanien, Pietro Bembo in der Päpstlichen Kanzlei in Rom, Guillaume Budé in Paris – um nur einige der prominentesten Beispiele anzuführen: Sie alle waren Männer, denen die Macht des Wortes gehörte, und das in einer Welt, in der das Wort ein Gewicht und eine Wirkmächtigkeit besaß, die wir uns heutzutage kaum noch vorstellen können. Über ein geschmeidiges, elegantes und mitreißendes Latein zu verfügen, das mit einer humanistischen Bildung einherging, war eine Qualifikation, die einem jungen Gelehrten beinahe alle Türen aufstoßen konnte. Im Jahr 1514 nahm der Erzbischof Albrecht von Brandenburg, der noch junge Kurfürst von Mainz, Hutten zunächst in seine Protektion, um bald darauf auch seine Dienste in Anspruch zu nehmen. Somit lag eine brillante Karriere vor dem 26-Jährigen, der nun im diplomatischen Apparat dieses sowohl in der Kirche als auch im Reich sehr einflussreichen Fürsten eine verantwortungsvolle Funktion bekleidete. Bis hierhin hatte Hutten sich nicht gerade vernünftig verhalten, seine Zukunft nicht geplant. Z. B. hatte er niemals den Abschluss des Jurastudiums erworben, um dessentwillen sein Vater ihn nach Pavia und Bologna geschickt hatte und den auch der Kurfürst von ihm erwartete. Der Heranwachsende hatte niemandem gehorcht außer seiner eigenen Leidenschaft. Doch diese Leidenschaft erwies sich letztlich als äußerst rational. Die Biographen unterstreichen, dass Huttens Anstellung in den Diensten des Kurfürsten das Ergebnis der Empfehlung eines einflussreichen Familienmitglieds war. Doch keine noch so illustre Empfehlung hätte Wirkung
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gezeigt, wäre Hutten nicht selbst ein vorzüglicher Lateiner, ein berühmter Literat gewesen, kurz: ein aufsteigender Stern am Gelehrtenhimmel, mit dem der Kurfürst seine Hauptstadt schmücken wollte. Dieselbe Überlegung gilt für die Dichterkrone, den poetischen Lorbeer, den Kaiser Maximilian I. im Sommer des Jahres 1517 im Rahmen einer feierlichen Zeremonie an Hutten verlieh. Auch in diesem Fall heben die Biographen das politische Kalkül hervor, das die Entscheidung Maximilians erklären könnte. Doch der Lorbeer krönte einen literarischen Ruhm, der in dieser Zeit Tag für Tag strahlender wurde. In der Tat hatte der junge Humanist die Art seiner schriftstellerischen Tätigkeit inzwischen stärker ausdifferenziert. Er dichtete nicht mehr vornehmlich lateinische Verse – etwa um das Deutsche Reich zu besingen oder um zum Krieg gegen die Türken aufzurufen –, sondern hatte sich bereits als schlagfertiger Publizist profiliert. In einer Reihe ungestümer Flugschriften hatte er der Fehde, die seine Familie gegen den Herzog Ulrich von Württemberg eröffnet hatte – nachdem letzterer einen Vetter Huttens wegen einer Frauengeschichte umgebracht hatte –, nicht nur literarischen Ausdruck, sondern auch soziale Wirksamkeit verliehen. Ein noch weitaus größeres Gewicht kam Huttens Stimme in der Streitdebatte zu, die für und wider den Hebraisten Johann Reuchlin entbrannt war, den die Dominikaner aus Köln dem Tribunal der Heiligen Inquisition überstellen wollten. Hutten und seine Humanistenfreunde hatten Reuchlins Verteidigung übernommen und eine Parodie jener klerikalen Welt veröffentlicht: die »Dunkelmännerbriefe« (Epistolae obscurorum virorum), in denen schonungslos die Grobheit, Unwissenheit, Gier und Unzüchtigkeit der Kölner Dominikanerbrüder karikiert wurde.5 In der Meinungskampagne, die aus diesem Anlass ausbrach, tat sich Hutten als Vertreter der deutschen Humanisten hervor. Er war bestrebt, die Bedeutung des Studiums der drei klassischen Sprachen zu verfechten: Latein, Altgriechisch – und Hebräisch. Auch Hebräisch, denn der europäische Humanismus war damals im Begriff, die bei der Beschäftigung mit dem antiken Schrifttum entwickelten philologischen Methoden auf die Überlieferung christlicher Texte anzuwenden, allen voran auf die Bibel.6
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Eine Überblicksdarstellung zum Reuchlin-Streit bietet Erika Rummel: The Case Against Johann Reuchlin. Religious and Social Controversy in Sixteenth-Century Germany, Toronto 2002. S. hierzu Kaspar von Greyerz / Silvana Seidel Menchi / Martin von Wallraff: Basel 1516: Erasmus’ Edition of the New Testament, Spätmittelalter, Humanismus, Reformation 91, Tübingen 2016.
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2. 1518: Ein gesellschaftlicher Suizid? Doch was geschieht zu diesem Zeitpunkt? Was widerfährt Hutten im Jahr 1518? In diesem Jahr veröffentlichte der Buchdrucker und Verleger Johannes Froben in Basel einen Huttenschen Dialog mit dem Titel »Aula« – einen Dialog, der vom Hofleben handelte.7 Da Froben damals als Europas angesehenster Buchdrucker galt, bedeutete diese Veröffentlichung einen zusätzlichen qualitativen Sprung für den jungen Publizisten. Darüber hinaus ist auch die Widmung des Dialogs an Thomas Morus, den Verfasser des philosophischen Dialogs »Utopia«, ihrerseits ein deutliches Zeichen von Prestige. Hutten war in den Olymp der literarischen Kultur Europas aufgenommen worden. Allerdings ruft der Charakter des »Aula«-Dialogs beim Leser Verwirrung hervor und überfordert den Biographen. Es ist ein unerhört scharfer Angriff auf das höfische Leben. Hutten nimmt hier kein Blatt vor den Mund. Der Hof, den er beschreibt, ist ein Nährboden für alle möglichen Laster und Entartungen: Knechtschaft, Gewalt, Betrügerei, zügellose Schmeichelei, Täuschung und Heuchelei, Willkür, verderbliche Eitelkeit. Der Protagonist beschreibt z. B., wie die Höflinge mit bangen Blicken das Gesicht des Fürsten prüfen, darin wetteifern, die geringsten Anzeichen seiner Launen zu erkennen, um seinen Wünschen zuvorzukommen und in niederträchtiger Weise seinen Eitelkeiten zu schmeicheln. Hinter diesen und anderen ähnlichen Impressionen erkennt der Leser Spuren tatsächlich gelebter Erfahrungen. Schildert der Höfling Hutten hier das Leben am kurfürstlichen Hof zu Mainz? Wie der Kurfürst auf die Veröffentlichung seines Hofrats und wie die anderen Höflinge, also jene, die sich mit Hutten um die Gunst des Fürsten stritten, darauf reagierten, ist mir nicht bekannt. Bekannt ist allerdings die Reaktion Willibald Pirckheimers, eines sehr einflussreichen Patriziers aus Nürnberg, mit dem Hutten freundschaftlich verbunden war. Der Dialog, so schrieb Pirckheimer an Hutten, war intempestivus, also inopportun und unangebracht; darüber hinaus ließ er noch härtere Kommentare folgen: er sprach von Dreistigkeit, Aufdringlichkeit, Unverschämtheit (wofür er sich der griechischen Sprache bediente).8 Nach den Maßstäben der humanistischen Korrespondenzen lag in diesem Urteil eine unerhörte Härte. 7 8
Ulrichi de Hutten Equitis Germani, Aula dialogus, Basel, Johann Froben, November 1518. Im Katalog der Drucke von Johann Froben, den Valentina Sebastiani z. Zt. vorbereitet und der 2018 bei Brill erscheinen wird, hat dieser Druck die Nummer 101. Epistolae Ulrichi Hutteni equitis, in: Ulrich von Hutten: Schriften, herausgegeben von Eduard Böcking. Erster Band, Leipzig 1859, S. 193 f. Der nicht datierte Brief muss unmittelbar nach der Veröffentlichung des Dialogs (November 1518) verfasst worden sein.
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Hutten antwortete mit dem berühmten Brief an Pirckheimer vom 25. Oktober 1518 De vita sua, einer lebendig sprudelnden Selbstauskunft von großer kommunikativer Kraft, außerordentlicher Unmittelbarkeit und Erfahrungsdichte. In diesen Ausführungen begegnen wir Hutten von Angesicht zu Angesicht: Der dreißigjährige Gelehrte, dessen Begabung weithin anerkannt war, stellt sich, mit dem Elan der Großzügigkeit und der Freundschaft, einer sehr harten Kritik: Er stellt seine Seele bloß, ruft den täglichen Horizont seiner Erfahrungen auf, gesteht seine Ängste ein und enthüllt seine Visionen. Der Brief endet mit einem leidenschaftlichen Bekenntnis zu Huttens eigenem Zeitalter, für dessen Werte er stets einzutreten bereit sei. Es sind die berühmten Zeilen, die wohl jedem Humanismusforscher bekannt sein dürften: O seculum! O litere! Iuvat vivere, etsi quiescere nondum iuvat. Vigent studia, florent ingenia. Heus tu, accipe laqueum, Barbaries, exilium prospice. »Oh Jahrhundert, oh Wissenschaft, es ist wert zu leben, wenn auch noch nicht in beschaulicher Stille. Die Studien blühen, die Geister regen sich. Horch auf, du, nimm den Strick, Barbarei, deine Vertreibung steht bevor!«9
Dieser Lobgesang auf das Leben und auf den Glanz des humanistischen Zeitalters ist umso bewegender, weil derjenige, der ihn anstimmt, ein schwer kranker Mann ist: Der Morbus Gallicus, also die Siphylis, plagte Hutten bereits seit einigen Jahren und hatte inzwischen ein Stadium erreicht, das er in seinem Brief an Pirckheimer unverhohlen und mit entsetzlich grausamer Lebhaftigkeit schildert. Sein Elan, seine Begeisterung und sein großzügiger und glühender Geist gaben ihm dieses herrliche autobiographische Schreiben ein – doch auf diesen berühmten Seiten ist keine Spur von Einsicht zu finden. Hutten beabsichtigt hier, seinen Weg in derselben Richtung fortzusetzen, die er in dem »Aula«-Dialog eingeschlagen hatte. Zum einen äußert er kein einziges Wort des Bedauerns über das, was er geschrieben hat, und zum anderen holt er an diesem Punkt seines Lebens zu einem Schlag aus: Er möchte das System mitten ins Herz treffen. Er möchte die Spitze niederreißen. Und das Herz des Systems, die Quelle allen Übels, ist die päpstliche Macht in Rom. Im Jahr 1518 erklärt Ulrich von Hutten Rom den Krieg. So wie der »Aula«-Dialog einen Angriff auf das System der Fürstenhöfe darstellt, haben es die in der Zeit von 1518 bis 1520 entstandenen Dialoge auf den päpstlichen Hof abgesehen und stellen die Legitimität das Papsttums, nicht nur als weltliche Macht, sondern auch als geistliche Autorität, in Frage, was einem Affront gegen die gesamte Hierarchie der Kirche gleichkommt, 9
a. a. O., S. 217 (Übersetzung von Heinrich Grimm).
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von ihrer Spitze bis hin zu den niedrigsten Rängen. Hutten erhebt sich selbst zum Beschützer der libertas, der Befreiung Deutschlands vom römischen Joch. Allerdings bedeutet libertas für ihn auch Gewissensfreiheit. Ich möchte mich hier darauf beschränken, die beiden heftigsten dieser Attacken in Erinnerung zu rufen: »Die Römische Dreifaltigkeit« (Vadiscus sive Trias Romana) und »Die Bulle oder der Bullenvernichter« (Bulla seu Bullicida). Darauf, eine Probe von diesen Attacken zu geben, verzichte ich ganz bewusst, da kein vereinzeltes Zitat ihrer Heftigkeit je gerecht werden kann: Ihre Stärke besteht in der repetitio, also in der Wiederholung, das heißt in einer unnachgiebigen Beharrlichkeit hinsichtlich eines Begriffes, oder einer Reihe von Begriffen, deren Eindringlichkeit auf diese Weise bedeutend gesteigert wird.10 War der »Aula«-Dialog noch Ausdruck einer Unvorsichtigkeit, die ein edelmütiger Fürst wie Albrecht von Brandenburg mit Nachsicht, vielleicht gar mit Amüsement betrachten konnte, kamen die romfeindlichen Dialoge der darauffolgenden Jahre vielmehr einem gesellschaftlichen und beruflichen Suizid gleich. Dem Fürsten, der Hutten ein prestigeträchtiges Amt gewährt hatte und der ihm weitere Ehren zuteilwerden ließ, hielt der umtriebige Gelehrte stets die Treue, doch seine Stellung am Mainzer Hof ließ sich bald nicht länger aufrechterhalten: Rom verlangte von Albrecht von Brandenburg Huttens Kopf. Somit endete im Jahr 1518 Huttens Dienstverhältnis als Hofrat; im folgenden Jahr war jede Verbindung zu dem Kurfürsten beendet. Der Humanist musste sich auf die Suche nach neuen Mäzenen und nach neuen Gleichgesinnten begeben. Huttens Biographen sind der Frage nachgegangen, welches die Beweggründe für die biographische Wende des Jahres 1518 gewesen sein mögen. Ihre Antworten sind wenig plausibel. Die landläufige Erklärung ist, dass der Augsburger Reichstag von 1518 das Thema der »Beschwerden der Deutschen Nation« (Gravamina germanicae nationis) auf die Tagesordnung gesetzt hatte, also das Thema der Ausbeutung der Geldmittel des Reiches, die aufgrund des engmaschigen Systems der Annaten und der weiteren Tributzahlungen, die die Kurie dem deutschen Klerus abverlangte, nach Rom geleitet wurden. Vermutlich sei die antirömische Wendung Huttens erst durch eben diese Beschwerden und Klagen ausgelöst worden. Jedoch ist dieses Argument keines10 Nachfolgend nun doch zwei sehr knappe Ausschnitte aus dem Dialog »Vadiscus sive Trias Romana« (Die Römische Dreifaltigkeit), in Ulrich von Hutten: Schriften, herausgegeben von Eduard Böcking, Vierter Band, Leipzig 1860, S. 180: »Tria … maximo in pretio Romae sunt: venustas mulierum, equorum prestantia. et diplomata pontificis« (Drei Dinge hält man zu Rom in großem Wert: hübsche Frauen, schöne Pferde, und päpstliche Bullen), und S. 182: »Tria esse frequenti in usu Romae: carnis voluptatem, vestium luxuriam, et animorum fastum« (Drei Dinge seien in gemeinem Gebrauch in Rom: fleischliche Wollust, pompöse Kleider und Hochfahrt oder Übermut).
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wegs überzeugend. Bei den »Beschwerden der Deutschen Nation« handelt es sich um gemäßigte Forderungen und Vorschläge. Die flammende Empörung, die aus den Huttenschen Dialogen spricht, ist in dieser Quelle nicht zu finden. Für die Wende des Jahres 1518 meine ich eine andere Erklärung zu kennen. 3. Julius II: Eine posthume Begegnung Im Jahr 1517 konfrontierte sich Hutten mit Papst Julius II. Allerdings war es eine posthume Begegnung, denn Papst Julius II. war im Februar 1513 verstorben, nachdem er Europa mit seinen Kriegen zerrüttet, bestimmte Fürsten abgesetzt und andere eingesetzt, Königstitel anerkannt oder abgesprochen und in der päpstlichen Kammer einen solchen Schatz angehäuft hatte, wie es ihn seit Menschengedenken nicht mehr gegeben hatte (möglich war dies durch die umsichtige Vergabe der Ämter und Pfründen gewesen). Während seines ersten Aufenthalts in Italien im Jahr 1512/13 war Hutten Augenzeuge dieses Pontifikats geworden und hatte sich als Soldat selbst an den Kriegen von Papst Julius beteiligt. Doch jene ununterbrochenen Kriege – Kriege, die ein christlicher Papst gegen christliche Fürsten und Völker auslöste –, jene Begierde weltlicher Macht seitens des Nachfolgers Petri, die Bullen, mit denen Julius den für sein Heer kämpfenden Soldaten Plenarablässe und einen direkten Weg ins Paradies versprach: all das hatte in dem miles Hutten keinerlei Aufregung geweckt; weder zeigte er sich davon überrascht noch empört. Im Jahr 1512/1513 hatte Hutten die rein weltliche Realität des Papsttums hingenommen. Er hatte sich fortan damit beschieden, seine Klagen über die weit verbreitete Praxis der Simonie zu äußern. Im Jahr 1517 geschah etwas, das seine Augen öffnete. Was ihm die Augen öffnete, war eine kleine Schrift, die den Namen des verstorbenen Papstes trägt, »Iulius«. Der »Iulius«-Dialog ist unter Humanismusforschern eine sehr berühmte Quelle. Der eben erst verstorbene Papst wird hier gleichsam in Szene gesetzt. Er findet sich, von seinen Soldaten gekrönt, an der Himmelspforte ein und versucht vergebens, die Pforte mit dem Schlüssel zu öffnen, der ja das Symbol seines Amtes verkörpert. Doch der Schlüssel des Julius ist nicht mehr der Schlüssel Petri, er funktioniert nämlich nicht. Durch die jähzornigen Schreie seines Nachfolgers aufgeschreckt, gibt sich Petrus durch ein Guckloch zu erkennen und nimmt mit Julius eine lange Unterhaltung auf. Am Ende des Dialogs schmäht Petrus den verstorbenen Papst als »Feind
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Jesu Christi« und als »Pest der Kirche« und verwehrt ihm den Eintritt ins Himmelreich.11 Der Dialog ist brillant, sarkastisch und gespickt mit genauen zeitgeschichtlichen Angaben jener Zeit; es handelt sich allerdings nicht um eine persönliche Attacke gegen Julius II. und seine Politik, sondern vielmehr um eine Infragestellung der päpstlichen Macht, die hier als Entfremdung von Jesus Christus und Verrat am Evangelium gebrandmarkt wird. Hutten war wie vom Donner gerührt. Er nahm die Schrift begierig auf, verinnerlichte sie und verarbeitete sie in seinen eigenen Kompositionen: Reminiszenzen, Echos und Fragmente des »Iulius«-Dialogs verteilen sich auf alle seine antirömischen Schriften. Huttens leidenschaftliche Natur wandelte die besagte Bezichtigung in ein existentielles Credo um. Und für dieses Credo, für diese Idee, war er bereit, sein Leben einzusetzen. Das beredteste Zeugnis dieser Erleuchtung, dieser Art von Besessenheit, ist die »Fürbitte an Christus für den Papst Julius II.« (Oratio ad Christum pro Iulio secundo pontifice), die Hutten 1520 in Druck gab. Die anonym veröffentlichte kleine Schrift ist in der sehr gelehrten, von Josef Benzing zusammengestellten Bibliographie der Huttenschen Werke nicht aufführt, wurde aber durch einen Basler Gelehrten, Frank Hieronymus, als ein Werk Huttens identifiziert.12 Auch ich lege meine Hand ins Feuer für diese Zuschreibung. Huttens glühender Geist, die völlig fehlende Zurückhaltung sowie auch sein Pathos sprechen zu uns aus diesen spannungsgeladenen Seiten, in denen Christus dazu aufgefordert wird, Julius’ Papstherrschaft aus dem Gedächtnis der Menschheit auszulöschen: »Domine Iesu Christe, qui vere summus es pontifex, procul avertat tua misericordia, ut tuus vicarius omnia bello, caede, sanguine, caede permisceat; ut qui tuo exemplo pacis omine salutat populum, ipse fax sit belli …«.
Die Themen der antirömischen Dialoge finden sich hier auf wenigen mitreißenden Seiten dicht zusammengedrängt. Diese Seiten, ja dieses Pathos, erklären den kämpferischen Verlauf und die selbstzerstörerischen Unternehmungen aus Huttens letzten Lebensjahren: den Schulterschluss mit Franz von Sickingen, den Pfaffenkrieg, den verzweifelt naiven Versuch, bei dem jungen Kaiser Karl V. Gehör zu finden, ja womöglich bis in sein Herz vorzu-
11 Iulius exclusus, edited by Silvana Seidel Menchi, Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, Ordinis I, Tomus octavus, Leiden, Boston 2013. 12 Frank Hieronymus: »Huttenica«, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 17 (1979), S. 159–242. Das Thema der Autorschaft der »Oratio ad Christum pro Iulio Secundo pontifice« wird im dritten Teil dieses Aufsatzes behandelt.
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dringen, die Niederlage, die Flucht, die Erfahrung, von allen Seiten verlassen zu werden, den Tod in Einsamkeit. »Jacta est alea!«, sagt Hutten, »ich habs gewagt!«
Der miles hatte sein Leben für eine Idee eingesetzt. Das Scheitern dieser Idee bezahlte er mit dem Leben. Die Gestalt Huttens ist es wert, dass man ihr Bewunderung entgegenbringt. Schluss: »Nos omnia adversa et facere et pati ut constet libertas par est« Während meiner Studienzeit habe ich mich nicht näher mit Ulrich von Hutten beschäftigt, wie dies mein Lehrer Cantimori gewünscht hätte. Zu einer solchen Beschäftigung ist es erst viel später gekommen. Mir ist Hutten über seine letzte Schrift bekannt geworden, »Expostulatio cum Erasmo Roterodamo«.13 Huttens letztes Lebensjahr, 1522/1523, war geprägt durch seine Kontroverse mit Erasmus, die mir hier als Ausgangspunkt für den Schluss dienen soll. Erasmus ist der Verfasser jenes Dialogs »Iulius«, der für Huttens Leben von so großer Bedeutung gewesen war. Der Humanistenfürst und Germaniae sol – wie Erasmus im Jahr 1516 tituliert wurde – hatte jenen »blasphemischen« Dialog mit Schwung und aus Überzeugung geschrieben, jedoch nicht veröffentlicht, zumal das Werk für immer seinen Einfluss in Rom und an den Höfen, etwa in London und Brüssel, geschädigt hätte. Erst Hutten war es, der den Dialog zum Druck gab. Er ließ die Schrift bei seinem Mainzer Buchdrucker Peter Schöffer dem Jüngeren drucken. Huttens Rolle als Herausgeber der Flugschrift »Iulius« ist durch die neuere Forschung zweifelsfrei belegt.14 Die Drucklegung des Dialogs »Iulius« geschah mit dem Wissen des Verfassers und zumindest mit seiner teilweisen Zustimmung. Die Autorschaft der Schmähschrift musste allerdings geheim gehalten werden. Hutten versicherte Erasmus, er werde dieses Geheimnis schützen. Seit dem Jahr 1514, dem Zeitpunkt ihrer ersten Begegnung, war Hutten Erasmus durch tiefe Verehrung und Liebe verbunden. Er betrachtete ihn als seinen Lehrer und als sein Vorbild, er wollte für Erasmus die gleiche Bedeutung einnehmen, wie sie Alkibiades für Sokrates gehabt hatte. Auch Erasmus wusste Hutten zu schätzen. Er stellte ihn auf eine Stufe mit Thomas Morus,
13 Ulrichi ab Hutten: Cum Erasmo Roterodamo presbytero theologo expostulatio, Strassburg, Johann Schott, 1523, jetzt in: Ulrich von Hutten, Schriften, hg. von Eduard Böcking, Zweiter Band, Leipzig 1859, S. 180–248. 14 S. hierzu Iulius exclusus (wie Anmerkung 11), Introduction, S. 50–64.
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ja womöglich wünschte er sich, dass Hutten am Mainzer Hof ähnliche Aussichten hätte, wie sie Morus am Londoner Hof erhalten sollte. Die Aufgabe, die anonyme Schmähschrift zu veröffentlichen, ließ zwischen dem anonymen Verfasser (Erasmus) und dem ebenfalls anonymen Herausgeber (Hutten) ein Band der Verbundenheit entstehen, das letzterem ein köstliches Gefühl der Nähe zu dem geliebten Lehrer einflößen musste sowie auch ein Gefühl persönlichen Stolzes infolge des Vertrauens, das ihm Erasmus entgegengebracht hatte. Sobald die Flugschrift aber in gedruckter Form zu kursieren begann, erkannten sogleich sämtliche Kenner der literarischen Szene, einschließlich Luther, dass sie der Feder des Erasmus entstammte. Dieser jedoch bestritt ernstlich, eindringlich und immer wieder, der Verfasser des »blasphemischen Libells« zu sein. Hutten hüllte sich in Schweigen. Sein Schweigen hörte allerdings auf, als Erasmus sich ab dem Jahr 1521, und dann in immer stärkerem Maße, öffentlich von der Sache Luthers lossagte, dessen »Wildheit« und »Schmähungen« verurteilte und die eigene Loyalität Rom gegenüber bekräftigte, vor allem gegenüber dem Papst, welcher – so die feierliche und öffentliche Erläuterung des Rotterdamers – »uns mit seinen evangelischen Tugenden das Bild Christi vorhält« (1523).15 »Evangelische Tugenden«? »Bild Christi«? Hutten war dies unbegreiflich. Während seiner Flucht aus Deutschland, gegen Ende des Jahres 1522, weilte er für sechs Wochen in Basel und versuchte hier mit Erasmus zusammenzutreffen. Wahrscheinlich beabsichtigte er, ihn zu jenen öffentlichen Huldigungsbekundungen zu befragen. Unter einem unwürdigen Vorwand weigerte sich Erasmus, den ergebenen Schüler, seinen Freund und »Mittäter«, zu empfangen.16 Die »Expostulatio cum Erasmo Roterodamo« (1523) ist Huttens Reaktion auf diese Geste. Jedoch ist sie hauptsächlich Ausdruck des Schmerzes, den er angesichts des Verrats seitens Erasmus empfand. Ich halte diese Kontroverse für einen Text von großer Eloquenz, von außerordentlichem Schwung und großer Kraft, der mit wunderbaren Glanzlichtern gespickt ist, so, wenn der Schüler das Gewissen seines Lehrers anruft (»Appello coscientiam tuam«) oder
15 Opus epistolarum Des. Erasmi Roterodami, Tom. V, Oxford 1924, epistola 1342, 1 Februar 1523, S. 224, II. 891–893: »Alicubi scripsi pios omnes ubique favere dignitati Pontificis. Quis autem non faveat eius dignitati qui virtutibus evangelicis Christum nobis repraesentat?« 16 Die neueste, Erasmus gegenüber sehr wohlwollende Rekonstruktion der Episode findet sich in der Einleitung zur »Spongia adversus aspergines Hutteni«, hg. von Cornelijs Augustijn, Opera omnia Desiderii Erasmi Roterodami, Ordinis noni, Tomus primus, Amsterdam – Oxford 1982, S. 93–114.
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wenn er sein Bekenntnis zur Gewissensfreiheit bekräftigt (»Nos omnia dura et adversa facere et pati ut constet libertas par est«).17 Dieser Liebes- und Schmerzensschrei verweist auf einen Aspekt, der mich ganz besonders bewegt hat. Insgesamt geht aus der Quellenlage eindeutig hervor, dass Hutten über eigenhändige Briefe von Erasmus verfügte, die bezeugen, dass die blasphemische Flugschrift – deren Autorschaft Erasmus so überzeugend abgestritten hatte und in welcher der Papst als »Feind Christi« bezeichnet wurde –, dass diese Flugschrift seiner, also Erasmus’ eigener Feder entstammte. Wie er selbst zugibt, war Hutten versucht gewesen, von diesen Zeugnissen Gebrauch zu machen.18 Aber er tat es nicht. Vielmehr hielt er sein Versprechen, das er einem Lehrer und Freund gegeben hatte, der nicht nur ihre gemeinsame Sache verraten, sondern ihn auch verleugnet, gedemütigt und letzten Endes allein gelassen hatte. Nach dieser Schrift starb Hutten.
17 Expostulatio cum Erasmo Roterodamo (wie Anm. 13), S. 196, II. 7–8. 18 ebd., S. 195, II. 13–18 (der Passus wird zitiert und kommentiert in Iulius exclusus, Introduction, wie Anm. 11, S. 55, Anm. 239).
reinhard scholzen
Franz von Sickingen (1481–1523) Fehde als Geschäftsmodell
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inige Aspekte des Lebens Franz von Sickingens möchte ich Ihnen vorstellen, das ewig aktuelle Thema »Sickingen und die Reformation« dabei aber völlig außer Acht lassen. Im Mittelpunkt soll stattdessen die Frage stehen, wie ein an der Wende vom Spätmittelalter zur Frühen Neuzeit lebender Niederadeliger aus der Pfalz in einem krisenhaften Umfeld durch das Führen von Fehden nicht nur ein beachtliches Vermögen, sondern auch eine große politische Bedeutung erlangte. Als Franz von Sickingen am 1. März 1481 auf der Ebernburg, unweit von Bad Kreuznach, geboren wurde, war die Blütezeit der Ritter vorüber. Mehrere gesellschaftliche Wandlungen, die zum Teil miteinander verflochten waren, hatten dazu geführt, dass die im Hochmittelalter noch unverzichtbare Kriegerkaste mehr und mehr an Bedeutung verloren hatte. Die Macht der Kaiser hatte seit dem 13. Jahrhundert abgenommen und der Stellenwert der Territorialfürsten war gestiegen. Der Kampf der Großen des Reiches um die Macht ging bald zu Lasten der Niederadeligen. Deutlich zeigte sich dies zum Beispiel an der Expansionspolitik Balduins von Luxemburg, der strategisch auf eine ausgefeilte Lehnspolitik setzte. Die Bindungen an den Trierer Kurfürsten wurden bald so eng, dass sie die Bewegungsmöglichkeiten vieler Ritter deutlich einschränkten. Die wirtschaftliche und – eng damit verbunden – politische Blütezeit der Städte, die nahezu zeitgleich einsetzte, bedrängte den niederen Adel ebenso. Viele Städte entwickelten im 14. Jahrhundert eine magnetische Wirkung auf ihr Umland, wofür es zahlreiche Ursachen gab. Einerseits machte Stadtluft frei, andererseits erschien vielen Bauern das Leben in einer spätmittelalterlichen Stadt schlichtweg einfacher als das Leben auf dem Lande. Ohne Zweifel profitierten in dieser Zeit große Kommunen wie Köln, Straßburg, Nürnberg und Augsburg vom Fernhandel. Auch viele der zur Hanse zusam-
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mengeschlossenen Orte prosperierten, ebenso wie solche Gemeinden, deren Handwerker sich auf die Produktion besonders begehrter Luxusgüter spezialisierten. Exorbitante Gewinne brachte den Kaufleuten der Handel mit kostbaren Tuchen, Schmuck und Gewürzen, die aus Afrika und Asien stammten. Große Handelshäuser – wie die bald weltbekannten Fugger und Welser – bauten seit dem 15. Jahrhundert ihre Wirtschaftsimperien auf. Orte uneingeschränkter Glückseligkeit waren die Städte jedoch nicht. Dies belegen die vielen inneren Streitigkeiten, die spätmittelalterliche Städte geradezu charakterisieren. Auch mit der Liberalität war es nicht weit her; man denke beispielhaft an den seit dem 14. Jahrhundert geradezu exzessiv geregelten und rigoros beschränkten Zugang zu den Handwerksberufen. Ganz zu schweigen von den Lebensbedingungen der Randgruppen der städtischen Gesellschaft. Wer deren Leben angesichts unserer gegenwärtigen Lebensverhältnisse in einem demokratischen und sozialen Rechtsstaat mit dem Adjektiv schwierig beschreibt, kommt noch nicht einmal in die Nähe mittelalterlicher Wirklichkeit. Im Spätmittelalter verschlechterten sich für viele Niederadelige die Lebensbedingungen. Die beschriebene Sogwirkung der Städte führte zu einer langanhaltenden Abwanderungsbewegung der ländlichen Bevölkerung. Dies traf die Niederadeligen, denn weniger Untertanen bedeuteten – vereinfacht gesagt – geringere Einnahmen. Gleichzeitig nahm in dieser Zeit die Bedeutung des Geldes rasch zu. Die Grundherren reagierten, indem sie ihre Abgabenforderungen mehr und mehr von Natural- auf Geldleistungen umstellten.
Abb. 1: Albrecht Dürer: »Der Reuter« (»Ritter, Tod und Teufel«) Kupferstich 1513
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In den letzten Jahrzehnten des 15. Jahrhunderts kam es zu mehreren Wirtschaftskrisen, die sich zum Teil gegenseitig bedingten. Zunächst stiegen die Nahrungsmittelpreise nach mehreren Missernten sprunghaft an und wenig später verfiel der Wert des Geldes. Die Herren forderten daher von ihren Untertanen wieder Naturalabgaben ein, was vielerorts auf den erbitterten Widerstand der hungernden Untertanen stieß. Das ausgehende Mittelalter brachte für Teile der Ritterschaft einen sozialen Abstieg und wirtschaftliche Einbußen. Für den gesamten Stand wandelte sich dessen originäre Aufgabe: Eine rasch in der Bedeutung anwachsende Artillerie veränderte die Kriegsführung grundlegend. Zudem machte eine gut gedrillte und geeignet bewaffnete Infanterie die Ritter zunehmend überflüssig. Allenfalls als Heerführer waren sie noch gefragt. Der soziale Aufstieg über die Besetzung einer Führungsposition in Städten oder Territorien blieb den allermeisten Niederadeligen verwehrt; denn für diese Betätigungen war mehr und mehr der universitär Gebildete gefragt. Auf Bildung legte aber gerade der niedere Adel in dieser Zeit nur selten Wert. Als Ausweg blieb nicht wenigen die Flucht in das Raubrittertum.
Abb. 2: Petrarcameister: »Raubritter überfallen einen Kaufmann« (Holzschnitt)
Es wäre jedoch eine unzulässige Vereinfachung, das späte 15. Jahrhundert und die folgenden Jahrzehnte als die Zeit des Niedergangs des niederen Adels zu bezeichnen. Es gab in dieser Zeit durchaus auch für Ritter Aufstiegschancen, dazu mussten aber günstige Voraussetzungen gegeben sein. Für die ursprünglich aus dem Kraichgau stammende Familie von Sickingen ging es wirtschaftlich im 15. Jahrhundert bergauf. Schweikard VIII., der
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Vater des Franz von Sickingen, vergrößerte den Eigenbesitz, verkaufte aber auch unwirtschaftliche Besitzungen. Zudem heiratete er eine reiche Frau. Einen Rückschluss auf sein Vermögen erlaubt ein Kredit von insgesamt 24.300 Gulden, den er dem Kurfürsten von der Pfalz gewährte. Etwa zur gleichen Zeit lieh er auch Pfalzgraf Johann von Simmern einen größeren Geldbetrag. Zum Ausgleich seiner Geldforderungen erhielt er im Jahr 1482 die Ebernburg, die er bis zu dieser Zeit lediglich zum Teil besessen hatte. Schweikard hatte die Zeichen der Zeit erkannt und bei seinen wirtschaftlichen Aktivitäten durchaus mutig auf einen Zweig gesetzt, der im 15. Jahrhundert auch in der Pfalz einen enormen Aufschwung erlebte. In einem Konsortium mit den Brüdern Rhemfried und Friedrich von Rüdesheim und Friedrich von Dhaun ließ er in mehreren Bergwerken, unter anderem bei der Ebernburg, nach Kupfer, Quecksilber und Silber graben. Hierfür waren hohe Investitionen notwendig: Innerhalb weniger Jahre steckten die Betreiber 10.000 Gulden in eine Erzgrube. Weitere Quellen belegen, dass Schweikard keine finanziellen Sorgen plagten. Sowohl seine Ausgaben als auch Einnahmen waren stattlich. Während der Frankfurter Herbstmesse des Jahres 1499 kaufte er für mehr als 182 Gulden Waren ein und erzielte zur gleichen Zeit aus seinem Allodialbesitz – also seinem Eigenbesitz – um Landstuhl beträchtliche Einnahmen. Über die Kindheit und Jugend seines Sohnes Franz wissen wir nur wenig. In der schriftlichen Überlieferung tritt dieser lange Zeit nicht in Erscheinung. 1495 begleitete er seinen Vater zum Wormser Reichstag. 1498 oder 1499 heiratete er Hedwig von Flersheim. Etwas reichlicher fließen die historischen Quellen erst nach dem Tod des Vaters im Jahr 1505. Franz führte dessen unternehmerische Aktivitäten fort, doch setzte er auch auf ein dichtes Beziehungsgeflecht zu den starken politischen Kräften in seiner Region. Kontinuierliche Einnahmen erhielt er als kurpfälzischer Amtmann in Kreuznach. Der Trierer Kurfürst, Jakob II. von Baden, verlieh ihm im Jahr 1506 ein Burglehen zu Hunolstein, womit jährliche Abgaben aus Breit an der Mosel verbunden waren. Auch Bischof Wilhelm von Straßburg gab ihm 1509 mehrere Lehen, und im gleichen Jahr schloss Sickingen einen Solddienstvertrag mit dem Kurfürsten von Mainz. Er stellte Erzbischof Uriel von Gemmingen gegen eine jährliche Zahlung von 150 Gulden eine aus sechs Reitern bestehende Truppe. Weitere Hinweise auf seine finanziellen Möglichkeiten liefern die beiden Erbteilungen nach dem Tod seiner Eltern. In der Summe zahlte er innerhalb zweier Jahre an seine Geschwister mindestens 6.000 Gulden aus, ohne dass diese Ausgaben seinen Drang nach Besitzerweiterung merklich behinderten. In Norheim, unweit der Ebernburg gelegen, kaufte er im Jahr 1508 einen Anteil an einer Steingrube, zwei Jahre später erwarb er vom Kreuznacher
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Bürger Hans Koch zum Preis von 100 Gulden einen Hof und erstand weitere Besitzungen im Elsass. Wie gut es Franz von Sickingen finanziell ging, belegt auch eine aus den Jahren 1505 bis 1512 erhaltene Schneiderrechnung. Meister Jacob Wolff aus Heidelberg fertigte für ihn diverse Kleidungsstücke, unter anderem einen aus fünfeinhalb Ellen schwarzem Leintuch gefertigten Rock, wofür der Schneider fünf Gulden und zwei Albus verlangte. Im Verlauf der Jahre kam ein Gesamtbetrag von mehr als 150 Gulden zusammen. Zwar bezahlte Sickingen seinen Schneider nur widerwillig, aber dies ist eher ein Beleg für die allgemein schlechte Zahlungsmoral zu Beginn des 16. Jahrhunderts als ein Hinweis auf persönliche finanzielle Sorgen. Dass er über genügend Geld verfügte, belegen auch mehrere große Kredite, die er in dieser Zeit dem Pfalzgrafen gewährte. Als Gegenleistung befreite dieser im Jahr 1511 die Erzgruben am Rheingrafenstein von allen Abgaben und verlieh ihm darüber hinaus das Recht, bei Deimbach Quecksilber abzubauen. Zu dieser Zeit wurden in Mittel- und Südamerika gewaltige Mengen an Gold, Silber und weiteren Metallen gefördert. Das führte in Europa zu einem Überangebot mit einem drastischen Preisverfall, weshalb viele Bergwerke nicht mehr rentabel betrieben werden konnten. Dies traf auch auf den Abbau am Rheingrafenstein zu. Sickingen reagierte rasch und verkaufte die Grube am 3. November 1514 zum Preis von 3.200 Gulden. Es spricht aber manches dafür, dass die Metallkrise nicht der einzige Grund war, sich von dieser Mine zu trennen. Zur Erklärung müssen wir einige Jahre zurückblicken. Im gesamten Mittelalter kam der Fehde eine hohe Bedeutung als Rechtsmittel zu. Seit dem Hochmittelalter war die rechte Fehde eindeutig vom bloßen Faustrecht unterscheidbar, was Otto Brunner in seiner Darstellung »Land und Herrschaft« eindrucksvoll herausarbeitete. Keine befriedigende Antwort konnte jedoch bisher auf die Frage gefunden werden, wer denn überhaupt eine Fehde führen durfte. Dies als das Recht des »rittermäßigen Mannes« anzusehen, bringt uns nicht weiter, da sich der Ritterstand einer definitorischen Umklammerung entzieht. Zwar lässt er sich zu den in der sozialen Hierarchie darüber stehenden Schichten der Bevölkerung noch einigermaßen problemlos abgrenzen, jedoch öffnet sich nach unten ein weites Feld. Zu allem Überfluss bestehen zwischen den einzelnen Territorien große Unterschiede: Die Ritterschaft im Rheinland ist etwas anderes als die Ritterschaft östlich der Elbe; zudem erlebte dieser Stand im Verlauf des Mittelalters vielfältige Wandlungen. Die praktische Durchführung einer Fehde war in hohem Maße ritualisiert: Sie begann mit dem Fehdebrief, wobei auch die Art und Weise der Übergabe detailliert geregelt war. Ebenso war festgelegt, wie viel Zeit zwischen der Aushändigung der »Absage« und dem Beginn der
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Kampfhandlungen liegen musste. Auch das Ende einer Fehde war weitgehend standardisiert. Die zahlreichen Fehden behinderten das gedeihliche Wirtschaften. Daher beschloss der Wormser Reichstag im Jahr 1495 einen Ewigen Landfrieden, dessen Kernpunkt ein allgemeines Fehdeverbot bildete. Rein formell war damit die Zeit der Fehden vorüber. Danach durften tatsächliche oder vermeintliche Rechtsansprüche nicht mehr selbst mit unterschiedlichen Mitteln der Gewalt verfochten werden. Jedoch fehlte einerseits dem Reichstagsbeschluss eine wirkmächtige Exekutive, um die Einhaltung des Verbotes überall durchzusetzen. Andererseits waren damit ja nicht die zahlreichen Rechtsstreitigkeiten aus der Welt geschafft. Lange Verhandlungszeiten und zweifelhafte Entscheide ließen bei vielen kein rechtes Vertrauen in die Gerichtsbarkeit aufkommen. Eine Fehde hingegen brachte oft einen schnellen und durchschlagenden Erfolg. Viele Niederadelige in Süd- und Südwestdeutschland entwickelten aus dem subsidiären Rechtsmittel der Fehde ein durchaus lukratives Geschäftsmodell, das recht einfach konstruiert war: Man trat für die Rechte anderer ein, schadete der Gegenpartei nach besten Kräften und ließ erst dann vom Gegner ab, wenn der sich mit einem stattlichen Geldbetrag Frieden erkaufte. Die Familie von Absberg tat sich in Fehden ebenso hervor wie die Herren von Rosenberg oder Götz von Berlichingen. Konrad von Boyneburg, Schertlin von Burtenbach und Georg von Frundsberg perfektionierten das Fehdenführen und stiegen innerhalb weniger Jahre zu eigenständig handelnden Kriegsunternehmern auf. Auch Schweikard von Sickingen, Franzens Vater, hatte eine Fehde geführt, deren Grund auf den ersten Blick gering erscheint: Obwohl der Kölner Rat innerhalb der Stadtmauern das Waffentragen verboten hatte, wurde Schweikard von den Stadtdienern mit einem Dolch bewaffnet aufgegriffen und gezwungen, seine Waffe abzulegen. Den wahren Grund für die Fehde bildete aber wohl nicht die gekränkte Ehre des Ritters, sondern ein handfester Streit, der noch auf seinen Vater zurückging: Reinhard von Sickingen hatte im Jahr 1475 vor dem Hofgericht in Rottweil eine Geldforderung in Höhe von 3.000 Gulden an den Grafen Philipp von Virneburg geltend gemacht. Das Gericht gab Reinhard Recht und verurteilte den Grafen zur Begleichung der Schuld. Als Philipp in Köln inhaftiert wurde, rieb sich Sickingen wohl schon erwartungsvoll die Hände, doch er freute sich zu früh; denn die Kölner ließen den Herrn aus der Eifel bereits nach kurzer Zeit wieder frei, ohne dass Reinhards Rechtsanspruch eingelöst worden wäre. Noch ein anderer Vorfall kommt als Grund für Schweikards Fehde gegen Köln in Betracht. Während der Unruhen von 1481 beschlagnahmten die Ordnungshüter der Stadt das Vermögen des Goldschmieds Heinrich Dringenberg. Dieser wandte sich an
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Schweikard von Sickingen und bat den Ritter, bei den Stadtherren die Herausgabe seines Vermögens zu verlangen. Wahrscheinlich ging Schweikard aus diesen Gründen mehrfach mit Gewalt gegen Kölner Bürger vor, unter anderem konfiszierte er 1492 die Waren zweier Kesselmacher am Bacharacher Zoll. Die Stadträte drängten auf eine rasche Beilegung des Streits; denn die ständige Bedrohung schränkte das Wirtschaften ihrer Kaufleute – und damit die Steuereinnahmen der Stadt – ein. Dennoch vergingen noch sechs Jahre, bis die Beteiligten endlich einen Schlussstrich zogen. Über die Modalitäten der Einigung ist nichts bekannt. Über Franz von Sickingens erste Fehde wissen wir mehr. Den Anstoß dazu lieferten Streitigkeiten zwischen Bürgern der Reichsstadt Worms und ihrem Bischof. Einer der Geschädigten war der bischöfliche Notar Balthasar Schlör. Dieser hatte mehrere Versuche unternommen, um auf dem vorgeschriebenen Rechtsweg seinen Besitz wiederzuerlangen. Nachdem alle Bemühungen ergebnislos geblieben waren, wandte er sich an Franz von Sickingen. Am 1. November 1514 – also zwei Tage vor der bereits erwähnten Unterzeichnung der Verkaufsurkunde des Bergwerks am Rheingrafenstein – sandte Sickingen an den Rat der Stadt Worms einen Brief. Darin forderte er, der Wormser Nicolas Knobellach solle Balthasar Schlör die geliehenen 150 Gulden zurückzahlen. Darüber hinaus drohte der Ritter, falls der Rat nicht rasch eine positive Lösung finde, sei er gezwungen, andere Wege zu suchen, um das Geld zu erhalten, obwohl er eigentlich ein gutes Einvernehmen mit der Stadt suche. Die schlechte Witterung gab den Wormsern noch einen kurzen Aufschub, aber pünktlich zum Frühlingsanfang kaperte Sickingen eines ihrer Kaufmannsschiffe, das sich auf dem Weg zur Frankfurter Messe befand. Der Ritter hatte sich auf diesen Überfall mit großer Sorgfalt vorbereitet: Er hatte eine ansehnliche Streitmacht aufgeboten, die Ankunftszeit, Bewaffnung und Ladung des Schiffes ausgekundschaftet, einen günstigen Ort für den Überfall ausgewählt und bereits die weitere Behandlung der Kaufleute und der erbeuteten Waren geplant. Trotz des umfangreichen Schlachtplans unterlief während des Handstreiches ein Missgeschick. Unter den erbeuteten Waren befanden sich nämlich Gewürze des vornehmen Straßburger Bürgers Friedrich von Gottesheim, der sich umgehend beim Rat seiner Heimatstadt über den herben Verlust beschwerte. Dies ließ Sickingen nicht kalt. Er schrieb den Straßburger Räten und beteuerte, diese Güter seien versehentlich konfisziert worden. Darüber hinaus informierte er die Elsässer, er habe Friedrich als Ersatz für den entstandenen Schaden bereits 25 Gulden gezahlt. An das Ende des Briefes setzte er die zeitgemäß üblichen Höflichkeiten, doch sollte man sie in diesem Fall
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nicht als bloße Floskeln abtun: Sickingen war um ein gutes Verhältnis zum Handelszentrum am Oberrhein bemüht. Die Dinge nahmen ihren Lauf. Am 25. März traf der Fehdebrief in Worms ein. Mitte April verhängte der Kaiser die Reichsacht über den streitlustigen Ritter. Fast einen Monat später erneuerte Maximilian die Achterklärung. Obwohl damit jegliche Form der Unterstützung für den Geächteten verboten und für die Zuwiderhandlung eine hohe Geldstrafe festgesetzt worden war, unterstützten ihn seine adeligen Standesgenossen bereitwillig. Götz von Berlichingen beschreibt in seiner Autobiographie nicht ohne Stolz seine Hilfsmaßnahmen: Er selbst, Hans Thomas von Rosenberg und einige weitere Ritter stellten Franz von Sickingen 70 oder 80 Pferde für seine Fehde zur Verfügung. Berlichingen beschreibt auch das do ut des unter den Niederadeligen. Franz hätte sogleich für die Pferde bezahlen wollen, erwähnte der Ritter mit der eisernen Hand, doch hätten dies seine Unterstützer abgelehnt. Stattdessen hätten sie betont, wenn sie in einer vergleichbaren Situation seien, würde ihnen ihr guter Freund Franz ja ebenso bereitwillig helfen. Nimmt man als durchschnittliche monatliche Kosten für einen Reiter zehn Gulden an, so hatte dieser Freundschaftsdienst einen Gegenwert von stattlichen 700 bis 800 Gulden, was in etwa dem Preis von 20 bis 30 hochwertigen Reitpferden entsprach. Aber weder die Unterstützung durch die Standesgenossen noch eine deutliche Verschärfung der Fehdeführung gegen die Reichsstadt brachte den erhofften Erfolg. Die Wormser gaben nicht auf, da sie auf mächtige Helfer hofften.
Abb. 3: Hieronymus Hopfer: Franz von Sickingen (Kupferstich um 1520)
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Obwohl das Ende der Fehde gegen Worms noch nicht absehbar war, mischte sich Sickingen in einen anderen, komplizierten Streit ein. Er vertrat die Interessen des Gangolf von Geroldseck, der Ansprüche auf eine Silbermine des Herzogs Anton von Lothringen geltend machte. Damit trat Sickingen auf die europäische politische Bühne mit ihren vielen unterschiedlichen Interessen und ständig wechselnden Koalitionen. Im Juni 1516 durchzogen seine Truppen das Herzogtum, richteten große Verwüstungen an, konnten aber auch hier keinen durchschlagenden Erfolg erzielen. Am fehlenden Geld lag das nicht; denn sowohl der englische König Heinrich VIII. als auch Kaiser Maximilian finanzierten den Feldzug. Damit wollten beide den Lothringer, der bereits eine Zeit lang mit Frankreich liebäugelte, zurück in die Arme des Reiches treiben. Als in der Folgezeit der französische König sein Engagement für den bedrängten Herzog Anton verstärkte, stellten England und das Reich ihre Unterstützung ein. Sickingen reagierte umgehend auf den versiegenden Geldstrom. Er vereinbarte mit Herzog Anton die Erstattung seiner restlichen Kriegskosten und schloss mit dem Lothringer einen Solddienstvertrag ab. Für eine jährlich zu zahlende Pension wollte der Ritter aus der Pfalz ihm jederzeit militärische Unterstützung gewähren. Spätestens im Frühjahr 1516 begann Franz von Sickingen eine eigenständige Machtpolitik zu betreiben, die sein Biograph Ulmann treffend umschrieb: »Fortan wird er durch seine lothringischen Beziehungen noch mehr als bisher in den Kreis der kleinen Dynasten gezogen, die durch eine gewandte Schaukelpolitik zwischen den beiden benachbarten Reichen ihre Existenz zu fristen, ihre Bedeutung und Macht zu erhöhen verstanden. Sein Name begann ein Factor zu werden, mit dem man rechnen mußte.« Vor diesem Hintergrund war es konsequent, dass er im Herbst 1516 die Koalition wechselte, indem er mit dem französischen König Franz I. einen Solddienstvertrag schloss. Über die vertraglichen Bedingungen ist wenig bekannt; angeblich wurde ihm ein jährlicher Sold von 2.000 Franken gezahlt. Der Chronist der Flersheimer Chronik beschreibt jedoch lakonisch, der König habe Sickingen »zu einem Diener ahngenommen, dem viel versprochen vndt wenig gehalten«. Nicht nur Sickingen reagierte auf die Veränderungen der europäischen Machtverhältnisse. Da das Reich und Frankreich am 3. Dezember 1516 in Brüssel einen Friedensvertrag unterzeichneten, erhielt Kaiser Maximilian größere politische Bewegungsfreiheit und nutzte diese umgehend, um die Stadt Worms in ihrem Kampf zu unterstützen. Am 6. Dezember schrieb er daher an die Reichsstände und forderte sie auf, zum 12. März 1517 ihre Truppen für einen Feldzug gegen Sickingen bereit zu stellen. Im Reich traf die eifrige Initiative des Kaisers allerdings auf wenig Unterstützung. Insbesondere die zur Hilfe aufgeforderten Städte wussten, dass damit für sie hohe Kosten verbunden waren. Und ihre Kassen waren – wie
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zu allen Zeiten – leer. Daher suchte man händeringend nach guten Gründen, die eine Teilnahme unmöglich machten. Heilbronn und Wimpfen schoben einen vermeintlichen Formfehler vor: Sie seien fälschlicherweise als Vertreter des fränkischen Reichskreises zur Hilfe aufgefordert worden, obwohl sie nach ihrer Ansicht nur als Mitglieder des Schwäbischen Bundes angeschrieben werden könnten. Der Bund und nicht sie müsse die Entscheidung treffen, ob eine Hilfe gegen Sickingen zu gewähren sei. Auch der Schwäbische Bund zauderte. In seiner Entschließung vom 1. Februar 1517 gab er demonstrativ das Heft aus der Hand: Sollten sich die Kurfürsten, Fürsten und anderen Reichsstände für einen Feldzug entscheiden, erst dann wollte der Bund die Hilfe nicht verweigern. Franz von Sickingen hingegen handelte. Am 25. März überfiel er bei Weisenau, wenige Kilometer südlich von Mainz, einen Warenzug süddeutscher Kaufleute, der sich auf dem Weg zur Frankfurter Frühjahrsmesse befand. Damit hatte er – vielleicht unwissend – in ein Hornissennest gestochen. Da auch Nürnberger Kaufleute betroffen waren, wandte sich deren Ratsversammlung umgehend an Ulrich Artzt, den Bürgermeister von Augsburg, der in Personalunion einer der drei Hauptleute des Schwäbischen Bundes war, und bat ihn dringend um Hilfe für ihre geschädigten Kaufleute. Artzt kannte den Fall bereits, da sich unter den Opfern auch Bürger seiner Stadt befanden. Er nahm Kontakt zu Isny, Kempten, Leutkirch, Ravensburg und Ulm auf, aus denen weitere Geschädigte stammten. Gleichzeitig brachte er die Causa
Abb. 4: Hans Holbein der Ältere: Ulrich Artzt (Silberstiftzeichnung)
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Sickingen auf die Tagesordnung des Schwäbischen Bundes. Dessen nächste Versammlung, die auf den 10. Mai terminiert wurde, sollte sich ausschließlich mit dem Rechtsbruch des pfälzischen Ritters beschäftigen. Für die großen Städte gehörten in dieser Zeit Überfälle auf ihre Kaufleute zum Alltag, weshalb sie Mechanismen entwickelt hatten, um in solchen Fällen wenigstens eine Schadensminimierung zu versuchen. Dazu war es notwendig, den wahren Schuldigen zu finden, was sich kompliziert gestaltete. Nach intensiven Beratungen richteten sich ihre Vorwürfe gegen den Geleitsherrn, den Kurfürsten von der Pfalz. Einige Heißsporne erwogen sogar militärische Aktionen gegen Kurpfalz. Der Überfall auf die süddeutschen Kaufleute bewirkte einen Stimmungswandel. Im Reich häuften sich im April und Mai 1517 in Territorien und Städten die Stimmen, die für eine Strafaktion gegen Sickingen plädierten. Der ließ sich dadurch nicht beirren und überfiel am 23. Mai 1517 in Landau und in einigen umliegenden Orten die Viehherden. Diese Demonstration der Sorglosigkeit erhöhte in den elsässischen Städten die Angst vor dem Ritter. Besonders Straßburg, zu dem Sickingen immer gute Beziehungen unterhalten hatte, zauderte, Truppen gegen ihn zu entsenden. Man scheute wohl auch die damit verbundenen hohen Kosten. Nach einem sorgfältigen Abwägen des Für und Wider und dem Überwinden mancher Widerstände und Bedenken setzten sich Mitte Juni 1517 auch die elsässischen Kontingente in Marsch. Am 7. Juli traf das Straßburger Heer unter seinem Befehlshaber Glad Böcklin von Böcklinsau in Speyer ein, wo die Kommandogewalt auf die kaiserlichen Hauptleute überging. Mitte Juli erreichten die ersten elsässischen Truppen Worms. Finanzielle Nöte drückten nicht nur die Städte im Elsass. Memmingen und Kempten hatten ihr Kontingent – je einen Reiter und 34 Fußknechte – am 13. Juni nach Worms in Marsch gesetzt. Am 8. Juli schrieben die Memminger Befehlshaber an die Räte ihrer Heimatstadt; sie hätten bisher zwar ihren guten Willen gezeigt, seien ohne Sold zum Sammlungsort der Truppen nach Wimpfen gezogen, benötigten nun aber, da sich der Soldmonat seinem Ende zuneige, dringend Geld. Auch durch größte Sparsamkeit, in der sie sich in der Reichsstadt geübt hätten, könnten sie ein weiteres Verweilen nicht ermöglichen, da die »zerung allenthalben ganntz tewr ist«. Die Memminger Knechte mussten noch mehrere Briefe schreiben und lange Zeit warten, bis sie endlich einige Gulden aus der Heimat erhielten. Mit den finanziellen Problemen standen sie nicht allein. Allenthalben häuften sich daher die Stimmen, die auf einen Rückzug der Truppen drängten. Nachdem der Juli vorübergegangen war, ohne dass es zu militärischen Aktionen gegen Sickingen gekommen war, verloren auch die großen Städte die Geduld. Gleichwohl gab sich Ulrich Artzt immer noch Mühe, die Mit-
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glieder des Schwäbischen Bundes für eine Fortsetzung des Feldzugs zu gewinnen, aber es tauchten neue Gerüchte auf, die das gesamte Unternehmen in Frage stellten: Am 17. August teilten die Ulmer Ratsherren ihren Straßburger Kollegen mit, es sei zwischen Kaiser Maximilian und Franz von Sickingen zu einer Verständigung gekommen. Ähnliches konnte auch der Straßburger Befehlshaber Glad Böcklin berichten. Wenige Tage später wurde aus den Vermutungen Gewissheit, woraufhin die Städte des Schwäbischen Bundes am 23. August die Erlaubnis erhielten, ihre Truppen abzurufen. Bald darauf zog man auch die elsässischen Kontingente von Worms ab. Den wichtigsten Grund für den raschen Sinneswandel des Kaisers hatte Sickingen in den im Juli geführten Verhandlungen mit dem Reichsoberhaupt immer wieder genannt: Er sei der einzige, der den aufmüpfigen Herzog Ulrich von Württemberg in die Schranken weisen könne. Diesem Argument wollte und konnte sich der Kaiser nicht verschließen und entließ den Ritter am 17. Juli aus der Reichsacht. Zum Dank unterstrich dieser in einem Brief vom 16. August 1517 nochmals seine Kaisertreue und Bereitschaft, gegen Herzog Ulrich und seine Unterstützer militärisch vorzugehen.
Abb. 5: Silbermedaille 1518, Franz von Sickingen, kniend vor Kaiser Maximilian
Die Wormser erlebten somit, wie ihre Interessen der Reichspolitik geopfert wurden. Zu allem Überfluss blieben sie auf den hohen Kosten sitzen, die ihr Schreiber auf 86.200 Gulden addierte. Die Verständigung mit dem Kaiser ermutigte Franz von Sickingen, weitere Fehden zu führen. Im Sommer 1518 begann er einen Feldzug gegen Metz, der ihm 25.000 Gulden einbrachte. Danach wandte er sich gegen den hessischen Landgrafen. Während er gegen Worms und den Herzog von Lothringen noch langwierige Feldzüge geführt hatte, suchte er jetzt durch flächendeckende Brandschatzungen den raschen Erfolg. Mit kleineren Truppenteilen
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durchstreifte er den südlichen Teil der Landgrafschaft und stellte innerhalb weniger Tage rund 40 Ortschaften vor die Wahl, entweder Geld zu zahlen oder die Häuser in Flammen aufgehen zu sehen. Die Höhe der jeweils erpressten Gelder variierte sehr stark: Die kleine Gemeinde Eschollbrücken bei Darmstadt musste 20 Gulden aufbringen, während er das nicht weit davon entfernt gelegene Kloster Arheilgen zur Zahlung von 2.000 Gulden zwang. Die Gesamteinnahmen aus den Brandschatzungen ergaben 14.842 Gulden. Darüber hinaus musste sich der Landgraf am 23. September im Darmstädter Vertrag verpflichten, Sickingen weitere 35.000 Gulden zu zahlen. Unmittelbar nach der Fehde gegen Hessen wandte sich der Ritter gegen die Reichsstadt Frankfurt. Die Räte willigten rasch in einen Frieden ein, zahlten 4.000 Gulden und konnten damit ihre Stadt vor Schlimmerem bewahren. Insgesamt brachten die Fehden des Jahres 1518 Sickingen Einnahmen von 82.896 Gulden. Nach dem Tod Kaiser Maximilians rangen zunächst drei Kandidaten um die Nachfolge: Sein Enkel Karl, der französische und der englische König. Der Inselherrscher zog seine Kandidatur bald zurück, weshalb dann Franz von Frankreich und Karl von Spanien mit allen Mitteln um die Gunst der sieben Kurfürsten warben. Dazu war es wichtig, einerseits mächtige Mitstreiter zu gewinnen, andererseits dem Konkurrenten Machtmittel aus den Händen zu schlagen. Die französischen Unterhändler versuchten daher, Franz von Sickingen zur Aufgabe seiner Bindung an Habsburg zu bewegen. Die Gesandten sparten dabei nicht mit finanziellen Versprechungen, verwiesen aber auch drohend auf die angeblich übermächtige pro-französische Koalition im Reich. Auch die habsburgische Diplomatie war nicht untätig. Margareta, die Generalstatthalterin der Niederlande und Tochter Kaiser Maximilians, erkannte Sickingens Schlüsselposition ebenso. Daher drängte sie ihre Vertrauten, den Ritter im habsburgischen Lager zu halten. Aufgrund seiner militärischen Macht und seiner günstigen strategischen Lage in der Pfalz eignete sich dieser als Schutzpuffer zwischen Frankreich und den Kurfürstentümern Köln, Mainz, Trier und Pfalz. Nachdem sich Sickingen Anfang März 1519 für die habsburgische Seite entschieden hatte, löste er sein noch zu Lebzeiten Kaiser Maximilians gegebenes Versprechen ein und rüstete sich für einen Feldzug gegen Herzog Ulrich von Württemberg, der die Konfusion nach dem Tod des Kaisers genutzt und am 28. Januar die Reichsstadt Reutlingen erobert hatte. Sickingen, der nun im Reichsauftrag handelte, ging davon aus, dass sich ihm von allen Seiten, insbesondere von den Reichsstädten, helfende Hände entgegenstrecken würden. Voller Selbstbewusstsein schrieb er daher am 13. März an Frankfurt. Er tat den Räten kund, mit seinem Heer durch die Stadt am Main zu ziehen und, falls dies aus seiner Sicht nötig sei, dort auch über Nacht zu bleiben. Die
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Frankfurter verwehrten dem Heer aus guten Gründen jedoch den Zugang in ihr Stadtgebiet. Einerseits war ihnen die Fehde, die Sickingen wenige Monate zuvor gegen sie geführt hatte, nur allzu gut in Erinnerung, andererseits lagen den Räten auch Fingerzeige auf neue Fehdepläne gegen ihre Stadt vor. Erst als der Schwäbische Bund Frankfurt mit Nachdruck drängte, Sickingens Heer in die Stadt zu lassen, schlugen die Räte als Kompromiss vor, 200 Reiter aufzunehmen. Der Rest müsse, so schrieben sie, außerhalb der Mauern bleiben. Mit diesem Vorschlag konnte der Heerführer nicht zufrieden sein; denn dies hätte ohne Zweifel zu Verstimmungen in seiner Truppe geführt. Noch einmal versuchte er, für seine 600 Reiter in Frankfurt Quartier zu beziehen. Vergebens. Höchstens 300 Berittenen wollten die Ratsherren den Einlass in die Mainmetropole gewähren.
Abb. 6: Sickingen-Becher, Speyer 1519
Sickingen und der Schwäbische Bund waren über diese Entwicklung sehr verärgert. Um die Wogen zu glätten, rechtfertigte Frankfurt wenige Tage später seine Entscheidung schriftlich. Sie hätten die Truppen nicht in ihre Stadt hineinlassen können, da sie fürchteten, die Übernachtungskapazitäten könnten nicht ausreichend sein, weil sich bereits andere Truppenkontingente in der Stadt befanden. Sickingen besänftigte dieses Argument nicht. Um Zwie-
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tracht zu säen, streute er in den folgenden Tagen das Gerücht, die Reichsstadt unterstütze den französischen König. Bei den habsburgischen Beratern verfing dies jedoch nicht, und der Reichsvizekanzler Nikolaus Ziegler schrieb an den Frankfurter Rat, er könne dessen Weigerung nicht verurteilen. Andere Städte hätten sich ähnlich verhalten wie Frankfurt. So habe Nördlingen dem Markgrafen von Brandenburg mit seinen Truppen auch nicht die Tore geöffnet. Den Feldzug gegen Herzog Ulrich von Württemberg beeinflussten diese Querelen nicht. Da der Aufrührer dem Schwäbischen Bund nur wenig entgegenzusetzen hatte, wurde bereits vor Abschluss der militärischen Aktionen ein Teil der angeworbenen Söldner entlassen und Herzog Ulrich musste aus seinem Land fliehen. Auf Sickingens Dienste wollte Habsburg nicht verzichten. Zusammen mit Georg von Frundsberg stand er bereit, um den Ort der Königswahl zu sichern. Die Vorkehrungen, die offiziell getroffen wurden, um einen möglichen militärischen Schlag Frankreichs abzuwehren, fanden im Reich aber nicht überall Zustimmung. Besonders deutlich wandte sich der sächsische Abgesandte Eberhard Senfft in einem Brief vom 25. Juni 1519 gegen solche Einschüchterungen. Er fürchtete einen militärischen Angriff, falls sich die Kurfürsten gegen den Habsburger entscheiden würden. Die am Wahlort aufmarschierten Truppen sorgten zwar bei manchen Anwesenden für Besorgnisse, spielten aber für die Wahlentscheidung nur eine untergeordnete Rolle. Den Ausschlag für Habsburg gaben die großzügigen Geldgeschenke, die an das siebenköpfige Wahlgremium gingen. Auch für Sickingen brachte die Intervention auf habsburgischer Seite einen stattlichen finanziellen Gewinn. In dem Verzeichnis über die Ausgaben, die im Zusammenhang mit der Wahl Karls zum deutschen König entstanden, findet sich ein Zahlungsposten an den Pfälzer in Höhe von 38.717 Gulden. Danach taucht Sickingen für etwa ein Jahr fast nicht mehr in den Quellen auf. Vom Sommer 1519 bis zum Herbst 1520 betätigte er sich als Werber für den Hochmeister des Deutschen Ordens, legte einen Rechtsstreit mit dem Kölner Erzbischof bei und ließ mit dem südamerikanischen Lignum Guaiaci seine Krankheit behandeln. Woran der Ritter litt, wissen wir nicht: Das aus Südamerika stammende Holz wurde sowohl in der Behandlung der Gicht als auch der Syphilis angewandt. Im Herbst 1520 erschien Sickingen mit einem Paukenschlag wieder auf der internationalen Bühne. Er lieh Karl V. 20.000 Gulden, ohne dafür irgendwelche Sicherheiten zu verlangen. Über die Gründe, die zu diesem großzügigen Kredit führten, wurde von den Historikern eifrig spekuliert. Heinrich Ulmann sah es in seinem nach der Reichsgründung von 1871 erschienenen Buch als besondere Ehre an, dass Sickingen dem Kaiser diesen
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Kredit gewähren durfte, zudem »zeuge dies von der Bedeutung, die man ihm beimaß und vielleicht auch von großen Plänen, die man mit ihm vorhatte«. Als »großartige Geste aus der Dienstverpflichtung des Ritters heraus« wertete rund 100 Jahre später Günther Franz den Kredit. In diesen Bewertungen spiegelt sich der Zeitgeist wider, überzeugen können sie jedoch nicht. Sickingen demonstrierte in den Jahren seit 1515 ein feines Gespür für sich verändernde Machtverhältnisse. Daher stellte er sich stets auf die Seite, die ihm die größten Vorteile versprach. Eine Kreditvergabe an Karl V. aus altruistischen oder ideellen Gründen erscheint vor diesem Hintergrund wenig wahrscheinlich. Möglicherweise wollte er – genauso wie andere Finanziers des Kaisers – mit dem Kredit die Fortführung des guten Verhältnisses zum Hause Habsburg sichern, um ungestört seinen weiteren Unternehmungen nachgehen zu können. Wie so häufig, mündete auch bei Sickingen der rasche Aufstieg in eine Hybris: Im Jahr 1521 setzte er auf eine noch engere Verbindung zum Kaiser und führte auf dessen Befehl einen selbst finanzierten Feldzug gegen den französischen König. Mit 4.000 Reitern und 15.000 Fußknechten drang er in das französische Territorium ein, musste sich aber nach der fehlgeschlagenen Belagerung der Festung Mézières zurückziehen. Am Ende des Feldzugs schuldete ihm der Kaiser insgesamt 96.000 Gulden, und Sickingens ehemals so prall gefüllte Kriegskasse war völlig leer. Dies führte dazu, dass sich die Rückzahlung eines Kredits an Straßburg um mehrere Monate verzögerte. Händeringend suchte er nach Finanziers und beauftragte im Mai 1522 seinen Freund, den Ritter Hartmut von Kronberg, die Frankfurter Ratsherren um einen Kredit zu bitten. Er empfahl ihm, bei den Verhandlungen besonders auf seine Außenstände beim Kaiser hinzuweisen. Dieses Argument überzeugte die Frankfurter ganz sicher nicht; denn nur zu gut kannten sie die prekäre finanzielle Lage des Reichsoberhaupts. Auch kleinere Geldbeträge versuchte Sickingen einzutreiben. Im Frühjahr 1522 forderte er das Mainzer Domkapitel auf, ihm 200 Gulden zu zahlen, und auf je 100 Gulden aus den Zollstellen in Engers und Boppard hoffte der Ritter auch noch. Am 31. Juli schrieb Sickingen wieder an seine Freunde in Straßburg. Nachdem er den vorangegangenen Kredit mittlerweile getilgt hatte, bat er sie um eine weitere Geldzahlung in Höhe von 8.000 Gulden. Bis spätestens zum 2. Februar 1523 wollte er die stattliche Gesamtsumme begleichen und versicherte den Räten, er plane einen Feldzug, der sich nicht gegen den Kaiser richte und letztlich den Straßburgern von Nutzen sei. Dies überzeugte die Ratsherren, und sie gaben ihm am 5. August 1522 das Geld. Im Sommer 1522 trafen sich viele Ritter aus dem Westen und Südwesten des Reiches in Landau. Der Beschluss der »brüderlichen Vereinigung« vom 13. August beinhaltete ein defensives Programm der Ritterschaft, in dem ne-
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ben allgemeinen Richtlinien über die rechte Lebensweise insbesondere organisatorische Fragen des ritterlichen Zusammenlebens einen breiten Raum einnahmen. Die Versammlung ernannte Franz von Sickingen zum Hauptmann, dem die Hauptaufgabe zukam, interne Streitigkeiten zu schlichten. Ein aggressives oder gar revolutionäres Moment findet sich in dem Landauer Beschluss nicht. Ende August sandte Sickingen dem Kürfürsten von Trier, Richard von Greiffenklau, seinen Fehdebrief. Als Grund nannte er eine Geldforderung an die Trierer Bürger Jakob von Kröv und Richard von Senheim, die er aus der Haft seines adeligen Standesgenossen Heinrich von der Tann freigekauft hatte. Dafür habe er 5.000 Gulden Lösegeld und zusätzlich noch 150 Gulden für Kost und Logis für deren 22-wöchigen Aufenthalt auf der Burg des Heinrich gezahlt. Manches spricht für die Deutung des Trierer Stadtschreibers Johann Flade, Sickingen sei der Drahtzieher dieser Lösegelderpressung gewesen und habe sich hierdurch einen Vorwand für die Fehde verschafft. Richard von Greiffenklau hatte sich bereits im Jahr 1518 auf einen möglichen Konflikt vorbereitet und dazu eine gegenseitige Hilfeverpflichtung mit Kurpfalz unterzeichnet. Während des Wormser Reichstags wurde das Bündnis durch die Aufnahme Hessens zu einem Dreibund erweitert, der 1522 in Oberwesel noch einmal ausdrücklich bekräftigt wurde. Zudem hatte der Trierer Kurfürst viel Geld in die Aufrüstung seiner Truppen und die Befestigung Triers gesteckt.
Abb. 7: Pfeilbrief Franz von Sickingens, 1522
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Nachdem Sickingen mit der Belagerung Triers begonnen hatte, wurde das Reichsregiment aktiv. Allen Städten und Territorien befahl es, ihre in dessen Heer dienenden Söldner umgehend abzurufen und etwaigen Hilfstruppen für Sickingen den Zug durch ihr Territorium zu verweigern. Dieser ließ Trier beschießen und versuchte, die Einwohner gegen den Kurfürsten aufzubringen: Nicht gegen die Bürger, sondern nur gegen den Bischof und den Klerus wolle er vorgehen, ließ er auf Briefe schreiben, die er mit Pfeilen in die Stadt schießen ließ. Damit versuchte er, einen seit Jahren glimmenden Streit anzuheizen, der sich an den Bemühungen Triers entzündete, Reichsstadt zu werden. Der erhoffte Aufstand der Bürger blieb jedoch aus. Unter diesen Bedingungen und mit fast leeren Kassen konnte er die Belagerung nur eine Woche lang aufrechterhalten. Am 14. September zog sein Heer unverrichteter Dinge von der Moselstadt ab. Dass er fest mit einer Belagerung seiner Burgen rechnete, belegen seine Anweisungen an die Burgbesatzungen von Nanstein (oberhalb von Landstuhl) und der Ebernburg, Pulver zu beschaffen und die Artillerie zu verstärken. Zunächst wandten sich die Feinde gegen seine Unterstützer. Sie belagerten Hartmut von Kronbergs Burgen und zahlreiche weitere feste Häuser in Hessen, Franken und der Pfalz. Den Mainzer Bischof Albrecht zwangen sie zur Zahlung von 20.000 Gulden, weil dieser Sickingen unterstützt habe. Fast im gesamten Reich führten sie und auch das Reichsregiment Ermittlungen gegen mögliche Helfer Sickingens durch. Auch Straßburg musste seine Zahlungen an ihn rechtfertigen, konnte aber durch seine geschickten Diplomaten einer Bestrafung entgehen. Im Frühjahr 1523 hatten die Fürsten ihre Vorbereitungen für den Feldzug gegen den Hauptschuldigen abgeschlossen. Am 24. April zogen sie vor Sickingens Burg Nanstein. Eine Woche später begann die Beschießung. Der Reichsherold Kaspar Sturm beschrieb den Kriegszug detailliert. Die zusammengezogene Artillerie, die Burg Nanstein beschoss, war für ihn beispiellos. Dort seien »also vil grausamlicher schöß geschehen mit hauptstücken / scharpffe Metzen / Carthauunen vnd Notschlangen etc. als on zweyffel in disen landen nit mer gehört oder geschehen ist.« Im Verlauf des Beschusses wurde Sickingen verwundet. In einem undatierten Brief an Balthasar Schlör schrieb er, er sei durch herabfallende Steine verletzt worden. Die Verwundung war so schwer, dass er daran am 7. Mai 1523 starb. Seine weiteren Burgen eroberten und zerstörten die Fürsten in den folgenden Wochen. Danach gaben sich die Sieger große Mühe, weitere Unterstützer ausfindig zu machen. Als Grundlage für ihre Nachforschungen dienten zum einen Angaben der Burgbesatzung von Nanstein. Insgesamt ermittelte man 34 Städte und Personen, die Sickingen materiell oder auch nur ideell unter-
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stützt hatten oder lediglich im Verdacht standen, dies getan zu haben. Die Liste liest sich wie ein Who is who des südwestdeutschen Adels. Die Grafen Reinhard von Bitsch sowie Wilhelm und Friedrich von Fürstenberg sind dort verzeichnet, ebenso Ulrich von Hutten, Dietrich Spät, Wolf von Berlichingen, Johann Hilchen von Lorch, Dieter von Gemmingen und andere. Darüber hinaus fanden die Eroberer auf Sickingens Burgen mehrere Aufzeichnungen, die dessen weitläufige finanzielle Verflechtungen erahnen lassen. Diese lieferten den Anlass, im gesamten Jahr 1523 tatsächlichen und auch vermeintlichen Helfern nachzustellen. Diese Rachefeldzüge gegen Teile des niederen Adels wurden unter dem Vorwand geführt, geltendes Recht durchzusetzen. Oftmals standen dahinter aber egoistische ökonomische und politische Ziele. Daraus ergaben sich zum Teil Rechtsstreitigkeiten, die in einem Fall erst zwölf Jahre nach Sickingens Tod beigelegt wurden: Am 2. Oktober 1535 schwor Friedrich vom Hagen, der bei der Eroberung der Burg Nanstein gefangen genommen worden war, dem Kurfürsten von Trier Urfehde. Da Franz von Sickingens gesamter Besitz von den Siegern eingezogen worden war, gerieten seine Söhne Schweikard, Hans und Franz Conrad in finanzielle Not. Bald fanden sich aber Fürsprecher, denen an einem Ausgleich gelegen war. Manches spricht dafür, dass dabei die Unruhen des Bauernkrieges von 1525 eine nicht geringe Rolle spielten. Karl V. trat für Sickingens Erben ein, ebenso die Herzöge von Bayern, die reiche Stadt Straßburg, der Kurfürst von Mainz und der Bischof von Speyer. Auch die Feinde von einst wurden im Laufe der Jahre milder. Seit 1526 setzte sich der Kurfürst von Trier für Franzens Söhne beim hessischen Landgrafen ein, zunächst ohne Erfolg. Ludwig V. von der Pfalz lenkte im Jahr 1532 ein. Schritt für Schritt wurden die harten Bedingungen für die Söhne gelockert; so kam zum Beispiel im Jahr 1533 die im Elsass gelegene Hohkönigsburg in den Besitz der Sickingen. Im Jahr 1542 wurde in Heidelberg ein Schlussstrich gezogen und der väterliche Besitz an die drei Söhne zurückgegeben.
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Abb. 8: Hohkönigsburg im Elsass
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Kurt anderMann
Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen Zeitgenossen – Altersgenossen – Standesgenossen
W
eshalb nur schrieb Goethe ein Drama über Götz von Berlichingen, nicht aber eines über Franz von Sickingen? Weshalb ein Drama über Götz, einen notorischen Unruhestifter und »Raubritter« eher provinziellen Zuschnitts, der mit seinen aus der Zeit gefallenen Fehden ganz Oberdeutschland in Atem hielt, der mit seinem Engagement im Bauernkrieg scheiterte und der über dem anschließenden langjährigen Hausarrest auf seiner Burg Hornberg am Neckar alt wurde, einen Mann, dem – abgesehen von dem durch ihn selbst in Auftrag gegebenen Grabmal im Kloster Schöntal an der Jagst – bislang nur zwei Denkmäler gesetzt wurden, 1962 unterhalb Burg Krautheim an der Jagst in Erinnerung an seinen dort entbotenen, viel zitierten Gruß, man möge ihn hinden lecken, und schließlich 1999, anlässlich des fünfzigjährigen Jubiläums der örtlichen Burgfestspiele vor dem Rathaus in seinem mutmaßlichen Geburtsort Jagsthausen? Freilich: Zu Ehren sowohl Götz von Berlichingens als auch Franz von Sickingens hat bereits im späten 18. Jahrhundert der kunstsinnige, im Stil der Zeit mit einer literarischen Tafelrunde die Ritterromantik pflegende fränkische Reichsritter Christian Freiherr Truchseß von Wetzhausen im Landschaftspark seines Schlosses Bettenburg in den Haßbergen ein Denkmal errichten lassen. Es wäre denkbar, dass Götz und Franz zu den Vorfahren des Truchsessen gehörten. Weshalb aber schrieb Goethe kein Drama über Sickingen, einen zu seiner Zeit ebenso gefürchteten wie vielbewunderten Kondottiere modernen Zuschnitts, dessen vergleichsweise kurzes Leben sich höchst dramatisch gestaltet hatte, dessen kriegerisches Potential einst in ganz Mitteleuropa Aufsehen erregte, der 1519 die Kaiserwahl des Habsburgers Karl in Frankfurt am Main allein dadurch beeinflusste, dass er mit einem Heer vor der Stadt lag, und der sich bald darauf als entschiedener Vorkämpfer der Reformation her-
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vortat – über einen Mann, dem schließlich im langen 19. Jahrhundert eine ganze Reihe heroisierender Denkmäler gesetzt wurde? Weshalb? Die Antwort scheint einfach: Als Goethe 1771 die erste und 1773 die zweite Fassung seines »Götz von Berlichingen« verfasste, war Franz von Sickingen kein Thema. Obgleich – oder vielleicht gerade weil – die zahlreichen Nachfahren Sickingens im 18. Jahrhundert in der eo ipso katholischen Reichskirche reüssierten, ja zu den allererfolgreichsten Pfründenjägern in den Landschaften um Rhein und Main zählten, war zum einen wohl das Engagement des umtriebigen Vorfahren für die frühe Reformation in Vergessenheit geraten und zum anderen waren die von den Zeitgenossen einst vielbewunderten militärischen Leistungen Sickingens über zahllosen seither erlittenen Kriegen und Schlachten ebenfalls vergessen. Und als schließlich 1787 der Wormser Weihbischof Stephan Alexander Würdtwein, ein leidenschaftlicher Historiker, – vermutlich zur Freude hochrangiger sickingischer Prälaten aus seinem Bekanntenkreis und daher selbstredend ohne Bezug auf die Reformation – sein schmales Büchlein über »Kriege und Pfedschaften des edlen Franzen von Sickingen« veröffentliche, war dies die allererste monographische Würdigung von Leben und Taten des bereits mehr als ein Vierteljahrtausend davor Gefallenen. 1787 indes hatte Goethe seine Sturmund Drangphase längst hinter sich; ihn beschäftigten inzwischen klassische Themen wie Iphigenie, Tasso oder Faust. Gewiss, auch Götz von Berlichingen hatte in der frühen Neuzeit keine biographische Würdigung erfahren. Allerdings hatten seine im hohen Alter dem Patronatspfarrer von Neckarzimmern diktierten Lebenserinnerungen vom 16. bis ins 18. Jahrhundert in zahlreichen Abschriften eine ganz außerordentlich weite Verbreitung gefunden, nicht allein im Adel aller Ränge, sondern auch im städtischen Bürgertum, und waren 1731, weil sie im damaligen Diskurs um die immer wieder verschleppte Reichsreform das Interesse des hohenlohe-neuensteinischen Geheimen Rats und Kanzleidirektors Wilhelm Friedrich Pistorius gefunden hatten, von diesem zum Druck befördert worden. Aus dem hohenlohischen Neuenstein stammten auch Goethes mütterliche Vorfahren Textor, und so mag es sich – vielleicht sogar aufgrund persönlicher Bekanntschaft – erklären, dass Pistorius’ Edition der Götz’schen Lebenserinnerungen auch in der Bibliothek des Kaiserlichen Rats Dr. iur. utr. Johann Kaspar Goethe in Frankfurt stand und dort von dessen Sohn Johann Wolfgang just zu der Zeit entdeckt wurde, als dieser, von Sturm und Drang bewegt, sich für ganze Kerle begeisterte. Natürlich war auch Franz von Sickingen zu Goethes Zeit kein gänzlich Unbekannter. Wer sich über ihn informieren wollte, fand in Zedlers Universal-Lexikon die wesentlichen Daten seiner Biographie, übrigens anders als bei Götz von Berlichingen nicht nur im Rahmen eines Familienartikels,
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sondern in einem eigenen Personenartikel. Überdies stand schon damals eine Reihe genealogischer Nachschlagewerke zur Verfügung, die der Dichter bei Bedarf hätte konsultieren können, ganz zu schweigen von Johann Christian Lünigs vielbändigem »Reichs-Archiv«, einer schier unerschöpflichen Fundgrube für historisch Interessierte. Auch in der Büchersammlung von Goethes Vater gab es zahlreiche Werke zur Universal- und Reichsgeschichte, und was dort eventuell fehlte, ließ sich gewiss in diesem oder jenem Frankfurter Haus erreichen. Insofern war dem jungen Dichter selbstverständlich auch Sickingen alles andere als fremd. Aber nein, nicht in Sickingen, sondern in Berlichingen hatte Goethe sein Thema gefunden, die kraftvolle Persönlichkeit, die er der eigenen kraftlosen Zeit gegenüberstellte. Und nicht zuletzt war es seine geliebte Schwester Cornelia, die ihn zur dichterischen Verarbeitung gerade dieses Stoffs nachdrücklich ermuntert hatte. Franz von Sickingen hat Goethe darüber zwar nicht vergessen, ihm aber nur eine Weislingens Unzuverlässigkeit kontrastierende (Neben-) Rolle als Exempel von Verläßlichkeit und Freundschaft zugewiesen – vielleicht auch schon als protestantischen Reflex auf Sickingens Engagement für die Reformation? Wollte man Goethe glauben, wären Götz von Berlichingen und Franz von Sickingen im engeren Sinn Schwäger gewesen. Sogar Götz selbst bezeichnet in seiner Lebensbeschreibung Franz wiederholt als seinen Schwager. Allerdings entspricht diese Schwägerschaft nicht der historischen Wahrheit. Vielmehr handelt es sich im einen Fall, wenn in Goethes Drama Berlichingens Schwester Maria, die von dem treulosen Weislingen versetzt wurde, schließlich den aufrechten Sickingen ehelicht, um ein Beispiel wohlkalkulierter dichterischer Freiheit. Und im anderen Fall, in Götzens Lebenserinnerungen, bringt die in einem weiteren Sinn gebrauchte Bezeichnung Schwager allein das Bewusstsein ahnenstolzer, geburtsständischer Verbundenheit zum Ausdruck, ähnlich wie Adlige vielfach noch heute einander ganz unspezifisch als Vettern titulieren und damit ihre Zusammengehörigkeit und Standesgenossenschaft betonen. Blutsverwandt waren die historischen Götz (geb. um 1480) und Franz (geb. 1481) ebenfalls nicht. Nach Ausweis der Ahnenwappen auf ihren Grabdenkmälern hatten Berlichingen und Sickingen bis in die Generation ihrer Urgroßeltern keine gemeinsamen Vorfahren, und auch davor deutet nichts auf eine verwandtschaftliche Verbindung zwischen beiden hin. Berlichingens Schwester Margarethe war zwar in zweiter Ehe mit Martin von Sickingen verheiratet, jedoch entstammte dieser einer ganz anderen Linie des weitverzweigten Geschlechts und war mit Franz seinerseits nur ganz entfernt verwandt. Die Konnubiumskreise der Berlichingen erstreckten sich im wesentlichen auf Franken, auf das Gebiet um Odenwald, Spessart, Rhön und Steigerwald. Die Sickingen Swicker’scher Linie hingegen, denen Franz zugehörte,
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orientierten sich seit ihrem Ausgreifen auf das linke Rheinufer vor allem nach Westen, nach dem Elsass, dem Westrich und dem Mittelrheingebiet. In dem dazwischen gelegenen Kraichgau, wo die Sickingen ihren Ursprung genommen hatten, begegneten die beiderseitigen Heiratskreise einander immer wieder einmal, freilich ohne dass Götz und Franz davon unmittelbar berührt gewesen wären. Persönlich begegnet sind Sickingen und Berlichingen einander aber gewiss bei vielen Gelegenheiten, vermutlich nicht zuletzt an dem glanzvollen Heidelberger Hof der Pfälzer Kurfürsten und zweifellos auch bei mancherlei Versammlungen und Gesellschaften des Ritteradels um Rhein und Main. Und beigestanden haben sie einander ebenfalls, sogar in mehreren ihrer Unternehmungen. Das muss nicht heißen, dass beide einander in Freundschaft verbunden gewesen wären, aber von einer zweckorientierten, den jeweils anderen wertschätzenden ritteradligen Verbundenheit und Partnerschaft wird man ganz zweifellos ausgehen können. Um 1500, im Zuge der Fehde Hans Thalackers gegen Württemberg, an der der noch junge Götz freilich nur als Helfer beteiligt war, barg man die bei diversen Überfällen gemachten Gefangenen und Beute auf Burg Drachenfels im Wasgau, zu deren Ganerbengemeinschaft damals auch Franz von Sickingen gehörte. 1515, in Sickingens Fehde gegen die Stadt Worms, leisteten Götz und sein Nachbar Hans Thomas von Rosenberg dem Standesgenossen Zuzug mit siebzig bis achtzig Pferden. Desgleichen schickten Götz und sein Onkel Fritz von Thüngen im Jahr darauf Reiter zu Sickingens Feldzug nach Lothringen, an dem jedoch Götz wegen seiner gleichzeitigen Händel mit Kurmainz nicht persönlich teilnehmen konnte. Sickingens Fehde gegen Hessen im Spätsommer 1518 begleitete Berlichingen mit Überfällen auf hessisches Gebiet in der Obergrafschaft Katzenelnbogen, und bald darauf folgte er einer Einladung Sickingens zu standespolitischen Konsultationen auf der Ebernburg. Während Berlichingens mehr als drei Jahre dauernder Haft in Heilbronn setzte Sickingen sich – auch darauf reflektiert Goethe in seinem Drama – nachdrücklich für die Belange des in Bedrängnis geratenen »Schwagers« ein, und einmal zechten auch beide in dem Heilbronner Wirtshaus, in dem Götz als Gefangener des Schwäbischen Bundes Einlager halten musste, gemeinsam mit Georg von Frundsberg und anderen Adligen, die für ihren allseits hochgeschätzten Standesgenossen Berlichingen demonstrativ Partei ergriffen. Und als schließlich Sickingen nach seinem Scheitern vor Trier im Spätjahr 1522 Unterstützung bei der fränkischen Ritterschaft suchte, bat er neben anderen selbstverständlich auch Berlichingen, einen fränkischen Rittertag einzuberufen, um zu beraten, wie der Ritteradel sich der wachsenden fürstlichen Zudringlichkeiten erwehren könne. An Sickingens berühmtem Ritter-
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tag im August 1522 in Landau hatte Götz wohl nur deshalb nicht teilgenommen, weil er zur fraglichen Zeit noch in ritterlicher Haft in Heilbronn saß. Wie hart muss es angesichts so vieler gemeinsamer Erlebnisse und Unternehmungen Götz getroffen haben, dass er ein halbes Jahr später nicht umhin kam, sich an der Strafexpedition der verbündeten Fürsten von Pfalz, Hessen und Trier gegen Franz von Sickingen zu beteiligen, wodurch er mit schuldig wurde an Sickingens Niederlage und Untergang. Zwar bleibt unklar, ob Berlichingen in eigener Person im pfälzischen Belagerungsheer vor Landstuhl im Mai 1523 zugegen war, aber danach wurden seinem Knecht Christoph Mulich von Kurpfalz 26 Gulden für ein bei dem Zug gegen Sickingen getötetes Pferd ersetzt. Ob Mulich allein oder in Gesellschaft seines Herrn unterwegs war, lässt sich nicht mehr sagen, aber für Götzens lebenslange Gewissensqual bleibt das ohne Belang, denn ohne sein Wissen und ohne seinen Willen wird der Knecht ganz gewiss nicht vor Landstuhl gezogen sein. Es ist vielmehr anzunehmen, dass Berlichingen sich als Pfälzer Lehnsmann der Teilnahme an diesem Kriegszug nicht verweigern konnte. Und vielleicht ist aus diesem unvermeidlichen »Wohlverhalten« ja auch zu erklären, dass vier Wochen später, als der Schwäbische Bund in Franken die Schlösser von mehr als zwanzig Fehderittern schleifte, Götzens Häuser Hornberg und Jagsthausen verschont blieben. In seinen ansonsten so aufschlussreichen Lebenserinnerungen jedenfalls verliert Götz über all dies kein Wort, und allein solch totales Schweigen über die Sickingen-Geschichte ist ein beredtes Indiz dafür, wie zutiefst unangenehm dem alten Mann die ganze Sache noch Jahrzehnte später gewesen sein muss. Wiewohl gleichen Standes, hätten die wirtschaftlichen Ressourcen Berlichingens und Sickingens unterschiedlicher kaum sein können. Unter sechs urkundlich bezeugten Kindern seiner Eltern war Franz der einzige Sohn und mithin alleiniger Erbe eines für ritteradlige Verhältnisse ohnehin ungewöhnlich großen Vermögens. Neben den von den sickingischen Vorfahren überkommenen Stammgütern umfasste dieses Erbe vor allem zahlreiche Burgen samt zugehörigen Grund- und Herrschaftsrechten, darunter nicht zuletzt Bergwerke, sowie namhafte Aktivkapitalien aus dem Nachlass der erloschenen Familien von Sien und Puller von Hohenburg. Diesen gewaltigen Zuerwerb hatten in den beiden Generationen davor Franzens Großvater Reinhard und sein Vater Swicker bewerkstelligt, indem es ihnen gelungen war, Erbtöchter der genannten Geschlechter zu ehelichen. So streute Franzens Herrschaftsbesitz, der manchem Grafen gut zu Gesicht gestanden hätte, vom Kraichgau im Osten bis auf die nachher so genannte Sickinger Höhe im Westen und vom unteren Elsass im Süden bis ins Mittelrheingebiet im Norden. Seine Erträge waren derart opulent, dass die Schwestern, soweit man sie nicht ins Kloster geschickt hatte, mit Summen ausgesteuert werden konnten,
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wie sie ansonsten unter Grafen und Herren gebräuchlich waren. Gemessen an seinen ritteradligen Standesgenossen, war Franz von Sickingen ganz ungewöhnlich reich. Das Geheimnis der attraktiven Erbtöchter kannten natürlich auch die Berlichingen, und wie fast alle Familien des Adels konnten im Lauf ihrer vielhundertjährigen Geschichte auch sie wiederholt von derartigen vorteilhaften Heiraten profitieren. Götz selbst hatte mit seiner ersten Ehefrau Dorothea Gailing von Illesheim eine unverzogen erbdochter ergattert, das heißt eine Tochter, die, weil sie nicht mit Rücksicht auf Geschwister und den Mannesstamm Verzicht hatte leisten müssen, ihrem Ehemann ein ungeschmälertes elterliches Erbe zubringen konnte. Aber mit den Dimensionen der durch Sickingens Vater und Großvater erlangten Erbschaften ist das, was Götz erheiratet hatte, nicht einmal annähernd zu vergleichen. Überdies hatte, anders als Sickingen, Berlichingen wenigstens neun Geschwister, darunter vier Brüder, die das Erwachsenenalter erreichten und mit denen er sich in die Hinterlassenschaft seiner Eltern teilen musste. Von den Schwestern wurde nur eine ins Kloster geschickt, die anderen waren mit vielen hundert Gulden standesgemäß auszusteuern. Gleichwohl war auch Götz von Anfang an alles andere als arm. Indes bemaß sich sein solider Wohlstand mit vier Burgen, einem runden Dutzend Ortsherrschaften, diversen Zehntrechten und Kirchenpatronaten sowie vielerlei zwischen Neckar und Aisch, Main und Kocher weiträumig verstreuten Gütern und Gülten ganz nach ritteradligen Verhältnissen und war, anders als der Sickingens, mit gräflichen oder gar fürstlichen Dimensionen nicht annähernd zu vergleichen. Im einzelnen war dieser Besitz aus Ererbtem und Erheiratetem zusammengewachsen, dazu aus selbst Erwirtschaftetem und nicht zuletzt aus Beutegut und Lösegeldern, die er – sehr wohl im Einklang mit mittelalterlichem Recht – durch seine Fehdetätigkeit erlangt hatte. Und nicht zu vergessen sind schließlich seine Aktivitäten als Geldverleiher und Finanzmakler, mit denen er, wie es scheint, sehr erfolgreich war. Gemessen an seinen ritteradligen Standesgenossen in Franken und darüber hinaus war Götz ganz ohne Zweifel ein reicher Edelmann. Auch was ihre Engagements in fürstlichen Diensten betrifft, standen Berlichingen und Sickingen, wenngleich der kurfürstliche Hof zu Heidelberg ein beiden gemeinsamer Begegnungsraum war, in unterschiedlichen Traditionen. Für die aus dem Kraichgau stammenden Sickingen war spätestens seit dem dritten Jahrzehnt des 14. Jahrhunderts der Pfälzer Hof von buchstäblich zentraler Bedeutung, umso mehr, als die benachbarten, sehr viel bescheideneren Höfe der Bischöfe von Speyer und Worms seit dem ausgehenden 14. Jahrhundert nur noch als Filialhöfe des Pfälzers gelten können. Die Höfe der Grafen von Württemberg und der Markgrafen von Baden waren angesichts des minderen Ranges ihrer Herren von geringerer Attraktivität,
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von anderen, noch kleineren Höfen der näheren und weiteren Umgebung ganz zu schweigen. In Heidelberg hatten die Sickingen so recht Karriere gemacht. Über fünf Generationen hinweg bekleideten Franzens Vorfahren in der pfälzischen Territorialverwaltung sowie am engeren Hof höchste und einflussreichste Ämter; gleiches gilt für ihre nähere und weitere Verwandtschaft, über die sie das politische Beziehungsnetz zum Nutzen aller Beteiligten zusätzlich verdichteten und stabilisierten. Auch Franz selbst führte diese ihm gewissermaßen in die Wiege gelegte Tradition zunächst fort und stand in jüngeren Jahren als Amtmann zu Kreuznach und zu Böckelheim in Pfälzer Diensten, bis er sich schließlich ganz auf das Kriegsunternehmertum verlegte und dabei seine Auftraggeber nach Belieben wechselte. Den im Tal der Jagst, weitab von größeren Residenzen gesessenen Berlichingen standen, wenn sie fürstliche Dienste suchten, von vornherein mehrere etwa gleichwertige Möglichkeiten zu Gebote. Von den Würzburger Bischöfen – Herzögen von Franken – hatten sie zwar von altersher die meisten Lehen, doch scheint nach einem folgenreichen Konflikt im Jahr 1347 ihr Verhältnis zu diesen geistlichen Fürsten auch viele Generationen später noch immer distanziert gewesen zu sein. Stattdessen bevorzugten sie, soweit sie sich mit Aufträgen der ihnen unmittelbar benachbarten Edelherren, dann Grafen von Hohenlohe nicht begnügen wollten, den Pfälzer Hof in Heidelberg oder den Brandenburger Hof in Cadolzburg beziehungsweise in Ansbach; beide Höfe waren ebenso wie der Württemberger etwa gleich weit von Jagsthausen und Berlichingen entfernt. Götz zog es, wie er in seinen Lebenserinnerungen verschiedentlich betont, zwar eher an den quasi königlichen Hof nach Heidelberg; aber sowohl durch seine mütterliche Verwandtschaft als auch durch seinen Onkel Konrad von Berlichingen, den er in seiner Jugend einige Jahre lang begleitet hatte, war er doch stärker auf Ansbach orientiert, wo er nach des Onkels Tod auch höfische Umgangsformen lernte. Indem er danach am Hof des seit 1495 herzoglichen Landesherrn von Württemberg verkehrte und zeitweise sogar als Amtmann in württembergischen Diensten stand, machte er klugen Gebrauch von den zahlreichen, seiner adligen Unabhänigkeit vorteilhaften Optionen in dem territorial extrem zersplitterten Franken. Die Vielfalt fürstlicher Höfe um Kocher und Jagst, wo die Berlichingen noch heute sitzen, sowie um den Kraichgau, wo die Sickingen einst beheimatet waren, bedeutete allerdings auch die Konfrontation mit einer Vielfalt zumeist divergierender territorialpolitischer Interessen, und diese wiederum begünstigten, indem sie miteinander konkurrierten, seit dem Ende des Hochmittelalters eine weithin autonome Entfaltung des Ritteradels in diesen Regionen. Nicht von ungefähr zählten später sowohl der eine als auch der andere Raum zu den Kerngebieten der freien Reichsritterschaft. Als diese sich seit 1542 formierte, war indes Franz von Sickingen längst tot, und Götz
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von Berlichingen erlebte nur noch ihre Anfänge, vermutlich in tiefer Skepsis gegenüber einer Organisation, die zunächst ja nichts Anderes bezweckte als die Eintreibung von Steuern und die damit genau dem Rechnung trug, was sowohl Berlichingen als auch Sickingen mit aller Entschiedenheit und Gewalt bekämpft hatten, nämlich dem Verfassungswandel, den sie erlebten und der ihre ritteradlige Autonomie bedrohte. Dieser tiefgreifende Verfassungswandel, der schließlich den modernen Staat hervorbrachte, vollzog sich zum einen und vor allem in den fürstlichen Territorien. Dort fand er seinen Ausdruck im Streben nach Expansion, Arrondierung und Konsolidierung, vor allem aber in der Intensivierung von Landesherrschaft mittels einer immer weiter um sich greifenden Verschriftlichung der Verwaltung sowie in der Rezeption des gelehrten Rechts, wodurch aus den bisherigen Hörigen und Hintersassen alsbald in vieler Hinsicht bevormundete Untertanen wurden. Zum anderen erfasste dieser Verfassungswandel am Ende des 15. Jahrhunderts auch das Heilige Römische Reich als solches, weil in der sogenannten Reichsreform einmal mehr die Territorialherren als Reichsstände initiativ wurden und Anspruch erhoben auf eine stärkere Teilhabe an den Belangen des Reiches. Mit dem Erlass eines ewigen Landfriedens, der Gründung eines in erster Linie von den Ständen des Reiches getragenen Reichskammergerichts und der Ausschreibung einer allgemeinen, von allen Reichsangehörigen aufzubringenden Steuer, des Gemeinen Pfennigs, traf der Reichstag von Worms 1495 diesbezüglich wegweisende Entscheidungen. Gegen die solcherart betriebenen Neuerungen, die mit den althergebrachten Rechten der bewaffneten Selbsthilfe mittels Fehde sowie mit der althergebrachten Steuer- und Abgabenfreiheit des Ritteradels nicht zu vereinbaren waren und den Stand in seinen Grundfesten erschütterten, begehrten die betroffenen Ritter auf, die einen leiser, die anderen lauter. Sowohl Götz von Berlichingen als auch Franz von Sickingen gehörten zu den Lauten, jeder auf seine Art und jeder entsprechend den ihm zu Gebote stehenden Mitteln. Dass Sickingen dabei zum modernen Kriegsunternehmer großen Stils wurde, der binnen kurzem auch in die Reichspolitik, ja sogar in die europäische Politik einzugreifen trachtete und am Ende auch noch auf die Wahl des römisch-deutschen Königs und Kaisers unmittelbar Einfluss zu nehmen vermochte, erscheint angesichts der ihm zur Verfügung stehenden ungewöhnlich großen Ressourcen eigentlich nur folgerichtig. Seinen unbeirrt auch weiterhin erhobenen Anspruch auf das vom Reichstag ihm und seinen Standesgenossen aberkannte Recht der bewaffneten Selbsthilfe demonstrierte er mit der allergrößten Selbstverständlichkeit, indem er ungeachtet des in Worms 1495 verkündeten Friedensgebots ganz einfach Krieg führte, sowohl
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auf eigene Faust gegen die Städte Worms, Mainz, Metz, Köln und Frankfurt, gegen den Herzog von Lothringen, den Landgrafen von Hessen und den Kurfürsten von Trier als auch in Diensten des Königs von Frankreich, des Schwäbischen Bundes und des römisch-deutschen Kaisers. Dabei vermochte er nicht allein Heere in einer Stärke aufzubieten, wie man sie ansonsten nur von Fürsten kannte, vielmehr verhielt er sich auch in seiner Missachtung des Ewigen Landfriedens wie so mancher Fürst. Und seine Erfolge schienen ihm recht zu geben. Seine militärische Schlagkraft war allenthalben gefürchtet, und nicht einmal der Kaiser als oberster Friedenswahrer im Reich hatte Skrupel, sich zur Durchsetzung seiner Interessen dieses schwer zu beherrschenden Potentials zu bedienen, obgleich nicht lang davor er selbst gegen Sickingen die Reichsacht verhängt hatte. Im Bewusstsein solcher Kraft mag in Franz von Sickingen der Gedanke gereift sein, sich mit den Fürsten gleich ganz auf eine Stufe zu stellen und sich zu diesem Zweck ein passendes Fürstentum anzueignen. In Anbetracht der mit der Reformation verstärkt in die Kritik geratenen Kirche bot sich dafür wohl am ehesten ein geistliches Fürstentum an. Weshalb also nicht das Erzstift Trier, mit dessen derzeitigem Fürsten aus der Familie Greiffenclau von Vollrads er zwar verschwägert, aber auch in tiefer gegenseitiger Abneigung verbunden war? Nur auf den ersten Blick wird dieser Gedanke abwegig erscheinen. In geistlichen Staaten zu fürstlichen Würden zu gelangen, hatte für Angehörige des Ritteradels eine lange und in ihrer Legitimität nie in Zweifel gezogene Tradition. Als Bischöfe und Erzbischöfe waren die Abkömmlinge von Rittern und Edelknechten schon seit Jahrhunderten ganz selbstverständlich aus dem Niederadel in den Rang von Fürsten und Kurfürsten aufgestiegen, nicht selten sogar, ohne davor die entsprechenden kirchlichen Weihen erlangt zu haben. Weshalb also sollte es da – beflügelt von den revolutionären Thesen Martin Luthers – nicht auch vertretbar sein, statt des herkömmlichen Wegs über die Wahl durch ein Domkapitel und die Bestätigung durch den ungeliebten Papst es einmal auf andere, auf eine neue Art zu versuchen und Fakten zu schaffen, indem man eines der ohnehin in die Kritik geratenen geistlichen Fürstentümer kurzerhand mit Gewalt usurpierte? Natürlich war das nicht nur ein Friedens-, sondern auch ein eklatanter Rechtsbruch. Aber setzten sich nicht selbst Fürsten über Friedensgebote und Recht hinweg, wenn es darum ging, ihre eigenen Interessen zu verfolgen, man denke nur an die Kurpfalz und ihre Politik gegenüber der Reichsabtei Weißenburg, an die Wittelsbacher und ihre Erbauseinandersetzung im Landshuter Krieg 1504 oder an Herzog Ulrich von Württemberg und seinen Überfall auf Reutlingen 1519? Und wenn es darum ging, mit vielerlei kleinen und großen Schikanen dem Ritteradel das Leben schwer und ihm seine von unvordenklichen Zeiten hergebrachten Standesrechte streitig zu
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machen, ihn dieser oder jener Landesherrschaft zu unterwerfen, fragten die Fürsten schließlich auch nicht viel nach Frieden und Recht. Vielleicht ließe sich anhand solcher Überlegungen die zunehmende Selbstüberschätzung und Maßlosigkeit erklären, die Sickingen zu seinem Überfall auf das Erzstift Trier bewog und ihn schließlich in den Untergang führte. Im Kern hatte Berlichingen dasselbe Anliegen wie Sickingen, den entschiedenen Willen zur Bewahrung der althergebrachten ritteradligen Autonomie. Gleichwohl wäre Götz gewiss nie auf den Gedanken gekommen, sich ein Fürstentum anzueignen, einerlei ob ein geistliches oder ein weltliches. Dazu fehlte es ihm nicht allein an den dafür nötigen wirtschaftlichen Voraussetzungen. Ein derartiger Umsturz hergebrachter, legitimer Herrschaft lag ganz zweifellos außerhalb seiner sehr konventionellen, durch und durch bodenständigen Vorstellungen von Recht und Ordnung. In den zentralen Anliegen seines Standes war aber auch Götz alles andere als kompromissbereit. Sein Recht auf bewaffnete Selbsthilfe und seine Freiheit von Steuern und Abgaben, die ihn wie alle anderen Ritter von den bäuerlichen Hintersassen unterschied, war für ihn unter keinen Umständen verhandelbar. Und durchzusetzen suchte er seinen Anspruch auf diese ihm angeborenen und nach seiner Überzeugung unveräußerlichen Rechte wiederum in gut mittelalterlicher Manier, indem er von den Standesprivilegien, die man ihm aberkennen wollte, kurzerhand demonstrativ Gebrauch machte. Insofern war es nur folgerichtig, wenn er, dem schon in der Kindheit eine große Zukunft als kriegsman oder reutterßman verheißen worden war und der, nachdem er vor Landshut seine rechte Hand verloren hatte, nichts mehr fürchtete, als zu einem kriegsman verdorben zu sein, bereits in jungen Jahren jede Gelegenheit wahrnahm, sich sowohl in kaiserlichen als auch in fürstlichen Diensten als Reitersmann – sprich: Rittersmann! – standesgemäß zu ertüchtigen. Und indem er schließlich dazu überging, Fehden auf eigene Faust zu führen, tat er genau das, was die Verteidigung seiner ritteradligen Autonomie erforderte: Selbstbewusst übte er Gewalt aus eigenem Recht, ebenso, wie seine Vorfahren dies jahrhundertelang unangefochten getan hatten und wie er als standesbewusster Edelmann allen gegenwärtigen Anfechtungen zum Trotz es auch weiterhin zu tun gedachte. So hielt mit seinen großen Fehden zeitweise auch Götz von Berlichingen ganz Oberdeutschland in Atem, erregte wiederholt reichsweit Aufsehen und war als schwer zu bändigender Unruhestifter selbst dem Kaiser ein Begriff. Aber die Zahl der Helfer, die er bei seinen Unternehmungen aufbot, hielt sich doch immer in einem vergleichsweise bescheidenen Rahmen. Während die von Sickingen geführten Heere regelmäßig in die Tausende zählten, wahrte Berlichingen mit Trupps zwischen dreißig und zweihundert Reitern stets herkömmliche ritteradlige Proportionen.
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So pflegte Berlichingen die Fehde auf ganz mittelalterliche Art, während Sickingen in einem modernen Sinn Krieg führte. Oder anders gewendet: Berlichingen bewegte sich mit seinen Unternehmungen vergleichsweise bescheiden in den hergebrachten Dimensionen seines Standes, während Sickingen mit dem, was er unternahm, ebenso machtvoll wie maßlos weit über seinen Stand hinausstrebte. Im 19. Jahrhundert, das sich mit der Beurteilung des späten Mittelalters besonders schwertat und in der Zeit zwischen dem Ende der Staufer und dem »Morgenrot der Reformation« nicht mehr als eine Periode des Verfalls erkennen wollte, war es insofern nur ein kleiner Schritt, Berlichingen als antiquierten Raubritter zu diskreditieren – ein Negativbild, das selbst Goethes stürmendes und drängendes Drama mit seiner zutiefst positiven Darstellung Berlichingens nicht umzukehren vermochte, ein Negativbild, das mit allen seinen anachronistischen und ideologischen Facetten Götz bis in die Gegenwart nachhängt. Den kühnen Kriegsunternehmer Franz von Sickingen hingegen stilisierte das 19. Jahrhundert – genauer: die preußisch-kleindeutsch-protestantische Historiographie – im Zeichen einer neuerlichen Konfessionalisierung zum Nationalhelden. Maßgeblich dafür war Sickingens inzwischen ganz gezielt in den Vordergrund gestelltes Eintreten für die frühe Reformation, vor allem die Gastfreundschaft, die er auf seiner von Ulrich von Hutten als »Herberge der Gerechtigkeit« stilisierten Ebernburg einer Gruppe von Reformatoren der ersten Stunde gewährte. Inwieweit Sickingens Hinwendung zur Reformation persönlicher oder gar intensiver Frömmigkeit entsprang, mag hier dahingestellt bleiben. Sicher jedenfalls ist, dass er die Lehren Martin Luthers seit 1519 durch Huttens Vermittlung kennenlernte. Offenbar erkannten beide auf Anhieb das in dieser Lehre brodelnde politische Potential und seine Relevanz für die Sache des bedrängten Ritteradels. So war es nur folgerichtig, wenn der eloquente Hutten Sickingens Engagement für die frühe Reformation ebenso wie dessen sonstige Unternehmungen propaganistisch flankierte, bis hin zur dreisten Umdeutung des Angriffs auf Trier als Maßnahme mit dem Ziel, dem Evangelium eine Öffnung zu bereiten. Daher kann es auch nicht wundernehmen, wenn Franz von Sickingen bald – aber ganz zu Unrecht – vorrangig als selbstloser Vorkämpfer der Reformation wahrgenommen und im 19. und früheren 20. Jahrhundert als solcher gefeiert wurde. Dass auch Berlichingen – wie die allermeisten seiner Standesgenossen am unteren Neckar und im Kraichgau – zu den ganz frühen Anhängern der Reformation gehörte, interessierte niemanden. Wer sein Grab besucht, findet es im Kreuzgang eines Zisterzienserklosters und schließt daraus, Götz sei im Frieden mit der alten Kirche gestorben und folglich in ihrem Schoß begraben worden. Dem war aber keineswegs so, denn spätestens seit 1522 war Götz ein entschiedener Lutheraner, und bei den Zisterziensern in Schöntal
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an der Jagst fand er sein Grab nur deshalb, weil er sich mit der größten Selbstverständlichkeit in eine jahrhundertealte Tradition der Familie Berlichingen stellte, in eine Tradition, mit der zu brechen gerade für ihn als standesbewussten Edelmann und Verteidiger des alten Herkommens gänzlich undenkbar gewesen wäre. In seinen Herrschaften hatte er dessen ungeachtet längst die Reformation und die brandenburg-ansbachische Kirchenordnung eingeführt. Übrigens erlaubten schon wenig später, nachdem sie unter dem Pontifikat Julius Echters von Mespelbrunn sich ihrer Katholizität bewusst geworden waren, die Schöntaler Mönche in ihrem Kloster keine Beisetzungen der evangelischen Berlichingen mehr. Dass der Ritteradel die Lehren Martin Luthers so bereitwillig rezipierte, hatte gewiss verschiedene Ursachen. Nicht zuletzt aber dürfte den politisch bedrängten Edelleuten Luthers Sendbrief »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (1520) eingeleuchtet haben, denn auf kirchlich-religiösem Gebiet verhieß er ihnen genau das, was sie in ihrem Alltag gegenüber Fürsten und Reichsständen mit Zähnen und Klauen zu verteidigen im Begriff waren – Autonomie. Ging es im politischen Kampf um nicht weniger als die Unmittelbarkeit zu Kaiser und Reich, so wies mit der begrifflichen Trias sola gratia, sola fide, sola scriptura Martin Luther ihnen nun auch in ihrem Verhältnis zu Gott einen wahren Königsweg, machte sie gewissermaßen unmittelbar zu Gott. Das war ein ebenso griffiges wie überzeugendes Konzept, das jenseits aller sonstigen theologischen Spitzfindigkeiten selbst mäßig gebildete Ritter wie Berlichingen und Sickingen auf Anhieb zu begreifen vermochten. Die rechte Lehre zur rechten Zeit. In Goethes »Götz von Berlichingen« spielt trotz aller politischer Implikationen die Reformation keine Rolle, es sei denn man wollte die negative Darstellung des bischöflichen Hofs zu Bamberg unter konfessionellem Aspekt interpretieren. Ganz anders das zwar nicht von Goethe, aber schließlich von Ferdinand Lassalle verfasste Sickingen-Drama. Für Lassalle, den späteren Gründer und ersten Präsidenten des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins, der Franz von Sickingen 1857/58 sein literarisches Denkmal setzte, hatte das »reformatorische Bewußtsein (…) eine auf soziale und geistige Befreiung gerichtete Triebkraft, die (…) stärker war als das geschichtliche Ereignis der Reformation selbst (…) und diese schließlich überdauerte«. Gepaart mit seinen preußisch-nationalstaatlichen Vorstellungen sollte dieses reformatorische Bewusstsein Lassalles sozialistisch-genossenschaftlichen Zielen zum Durchbruch verhelfen. Dabei dienten ihm Hutten und Sickingen als Wort- und Heerführer einer von einem katholischen Kaiser und von eigensüchtigen Reichsfürsten unterdrückten Ritterschaft, die er als Propagandisten seiner politischen Ziele instrumentalisierte. Dem Stück war indes nur wenig Erfolg beschieden. Gleich nach seinem Erscheinen kritisierten Marx und Engels
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die positive Darstellung des nach ihren Überzeugungen zum historischen Untergang verdammten Adels. Die Überfrachtung mit politischer Theorie und entsprechend sperrige Dialoge hatten außerdem zur Folge, dass Lassalles »Franz von Sickingen« zunächst überhaupt nicht aufgeführt wurde. Die Uraufführung erfolgte schließlich – nach Überarbeitung für die Bühne und erst mehr als ein Vierteljahrhundert nach Lassalles Tod – 1890 in Berlin. Eine weitere Aufführung wurde 1921 bezeichnenderweise im Volkswohl-Theater an der Dresdner Ostra-Allee gegeben. Goethes Drama verdankt seinen nun schon über so viele Generationen anhaltenden Erfolg der Tatsache, dass es ein überschäumendes Lebensgefühl zum Ausdruck bringt. Das Werk Lassalles hingegen ist nicht mehr als ein schwerfälliges politisches Lehrstück, bar jeden dramentheoretischen Schliffs. In den jüngeren Auflagen von Kindlers Literatur-Lexikon findet es schon gar keine Erwähnung mehr. Franz von Sickingen und Götz von Berlichingen, Zeitgenossen, Altersgenossen und Standesgenossen: Abgesehen von der Überzeugung, im Interesse ihrer ritteradligen Autonomie dem Verfassungswandel, wie er mit der Reichsreform einherging, in aller Entschiedenheit entgegentreten zu müssen, verband die beiden wohl nicht allzu viel. Sickingen, ungestüm, ja maßlos, scheiterte am Ende an sich selbst und ging mit dem Mittelalter unter. Berlichingen hingegen, risikobewusst und bauernschlau, überlebte – ganz anders als Goethe uns glauben machen will – gerade nicht sich selbst, sondern regenerierte sich in der neuen Zeit. Nach dem langjährigen Hausarrest, den der Schwäbische Bund ihm nach dem Bauernkrieg auferlegt hatte, demonstrierte der alte, allseits angesehene Mann noch einmal seine ritteradlige Autonomie; zwar führte er nun keine Fehden mehr – die Zeit der Fehden war inzwischen unwiederbringlich vorüber –, aber weiterhin verweigerte er Steuern und Abgaben, und vor allem diente er fortan nicht mehr diesem oder jenem Fürsten, sondern allein noch dem Kaiser. So lebt unter Ausblendung mancher negativer Seiten Franz von Sickingen im öffentlichen Bewusstsein fort als kraftstrotzender Protektor der frühen Reformation, Götz von Berlichingen hingegen – mit Goethe vielzitiert – als derber, etwas skurriler Haudegen. Aber für beide gilt zum Schluss eine Einsicht, die wir einmal mehr Goethe verdanken: Wo starker Schatten ist, ist viel Licht! Eine textgleiche Fassung mit wissenschaftlichem Apparat erscheint unter dem Titel »Götz von Berlichingen und Franz von Sickingen. Zeitgenossen – Altersgenossen – Standesgenossen« in der Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins, Bd. 165, 2017.
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Literatur anderMann, Kurt: Dem Evangelium eine Öffnung? Überlegungen zu Franz von Sickingens Trierer Fehde. In: Mitteilungen des Historischen Vereins der Pfalz 109 (2011), S. 65–86. anderMann, Kurt: Berlichingen. Portrait der scheinbar bekanntesten Familie des fränkischen Ritteradels. In: ZWLG 73 (2014), S. 187–200. anderMann, Kurt: Das alte Herkommen bewahren. Zur Situation des Ritteradels in Südwestdeutschland am Ende des Mittelalters. In: Blätter für pfälzische Kirchengeschichte und religiöse Volkskunde 82 (2015), S. 215–233. Breul, WolfGanG (hG.): Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation (Katalog zur Ausstellung des Landesmuseums Mainz), Regensburg 2015. Kehrer, harold h.: Die Familie von Sickingen und die deutschen Fürsten. In: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 127 (1979) S. 71–158 und 129 (1981) S. 82–188. press, volKer: Franz von Sickingen, Wortführer des Adels, Vorkämpfer der Reformation und Freund Huttens. In: Ulrich von Hutten. Ritter, Humanist, Publizist 1488 bis 1523. Katalog zur Ausstellung des Landes Hessen anläßlich des 500. Geburtstages, bearb. von Peter Laub, Kassel 1988, S. 293–305. scholzen, reinhard: Franz von Sickingen. Ein adeliges Leben im Spannungsfeld zwischen Städten und Territorien (Beiträge zur pfälzischen Geschichte, Bd. 9), Kaiserslautern 1996. ulMschneider, helGard: Götz von Berlichingen. Ein adeliges Leben der deutschen Renaissance, Sigmaringen 1974.
WolfGanG Breul
Franz von Sickingen und die Reformation
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ie frühe Reformationszeit war eine Wendezeit. Diesen Umbruch haben viele Zeitgenossen empfunden. Eine Flugschrift aus diesen Jahren drückt das deutlich aus:
»Aber das spil hat sich gar verkeret / vorzeitten lernet ma[n] das gesatz gottes vo[n] den priestern / ietzund wer vo[n] noeten / das sie zů den leyen in die schul gingen / vnnd von ienen die bibel lerneten lesen« (Franz von Sickingen, Sendbrief 1522, Bl. Aiir).
Eine verkehrte Welt! Vor Zeiten waren es die Priester, welche die Laien im göttlichen Wort und Gesetz unterrichteten, nun sind sie es, die sich durch die Laien in der Heiligen Schrift belehren lassen – genauer gesagt: belehren lassen müssen. Dieses Zitat stammt aus der Vorrede des Johannes Schwebel (1490–1540) für eine Flugschrift aus dem Jahr 1522. Die Vorrede richtete sich an einen adligen Freund, Georg Luthrummer, aus seinem Geburtsort Pforzheim, das er Anfang desselben Jahres hatte verlassen müssen. Nach Studium in Tübingen, Leipzig und Heidelberg hatte sich der humanistisch gebildete Schwebel 1510 dem Hospitalorden vom Heiligen Geist seiner Heimatstadt angeschlossen und dort 1514 die Position als Prediger erreicht. Als Schwebel sich reformatorische Überzeugungen zu eigen machte, musste er Kloster und Stadt verlassen. Wie für viele evangelische Prediger der frühen Reformationszeit bedeutete auch für Schwebel der Anschluss an Luther die peregrinatio propter Christum (»Wanderschaft um Christi willen«). »Es můssen die prediger goettlicher warheyt / veruolgt werde[n]. Die finsternuß begreifft nitt das liecht« (Franz von Sickingen, Sendbrief 1522, Bl. Aiv), schreibt Schwebel in der Vorrede. Doch müsse man sich nicht fürchten: die Verfolger könnten zwar den Leib töten, nicht aber Gewalt über die Seele haben. Nun aber habe ihn Gott zu »liebhaber[n] Euangelischer leer« gesandt.
90 Wolfgang Breul »Ich wolt das ewer veste etwa[n] bei mir wer vnd horte die Euangelisch christlich red / so on vnderlaß bey vns gebraucht wuerdt. Ich hett gemeynte es wer keyn orde[n]sman / wie geystlich er sich bedu[nckt] / od[er] [Aii r] keyn Theologus / wie gelert er sich acht so stedt vnd vernuenfftig redet von den dingen / so das lob gottes vn[d] sel selikeit bela[n]ge[n]« (Franz von Sickingen, Sendbrief 1522, Bl. Aiv-Aiir). »Ich wünschte, dass Ihr [wörtlich: Euer Ehrenfeste] einmal bei mir wäret und die evangelische christliche Rede hörte, die bei uns ohne Unterlass gebraucht wird. Ich hätte gedacht, nicht einmal ein Ordensmann, so geistlich er sich ansehen mag, oder kein Theologe, wie gelehrt er sich auch immer sieht, könne so verlässlich und vernünftig von den Dingen reden, welche das Lob Gottes und die Seligkeit der Seele betreffen«.
Dieser Liebhaber göttlicher Lehre, dessen Lob Schwebel hier singt, ist Franz von Sickingen. Auf dessen Ebernburg hatte er nach seinem Abschied aus Pforzheim Zuflucht gefunden und war zum Nachfolger Johannes Oekolampads als Burgkaplan geworden. Schwebel kündigt an, seinem Pforzheimer Freund bald »etlich disputation od[er] red« zusenden zu wollen, welche »teglich« (Franz von Sickingen, Sendbrief 1522, Bl. Aiir) auf der Ebernburg stattfinden. Sickingens Burg – eine Herberge der Gerechtigkeit und der Burgherr geistlicher als ein Ordensmann, verlässlicher und in religiösen Fragen vernünftiger als ein Theologe: Schwebels Worte haben sicherlich auch dazu beigetragen, Franz von Sickingen zum Anführer der ritterschaftlichen Reformation zu stilisieren und die Landauer Einung wenige Wochen vor dem Beginn seiner letzten großen Fehde zum Aufstand der Reichsritter zu befördern. Solche Bilder sind zählebig und halten sich trotz mancher begründeter kritischer Einwände bis in die Gegenwart unter wechselnden Vorzeichen. Dienten sie im 19. Jahrhundert dazu, Sickingen durch sein reformatorisches Engagement und seine Trierer Fehde zum Vorkämpfer nationaler Einheit und Größe aufsteigen zu lassen, so konnte er auch für eine linke, sozialgeschichtliche Geschichtsschreibung zum gescheiterten Helden avancieren, bei dem nun die antiklerikalen Begleittöne zum cantus firmus wurden. So schreibt der einer mennonitischen Perspektive verpflichtete Hans Jürgen Goertz in seiner 1987 erschienenen Reformationsgeschichte »Pfaffenhaß und groß Geschrei«: »Die Anhänger Sickingens und Huttens sahen in der antiklerikal-reformatorischen Bewegung eine Chance, nicht nur eine Fehde, sondern einen Aufstand mit dem Ziel einer politischen und kirchlichen Neuordnung des Reichs gegen die Landesfürsten und die altgläubige Geistlichkeit zu gewinnen«. Dass Goertz diese Verknüpfung für richtig hält, lässt er am Schluss seines Kapitels erkennen: »Ulrich von Hutten und Franz von Sickingen war es für kurze Zeit im Aufbruch der Reformation gelungen, Politik und Religion aus einer Wurzel zu begreifen und für eine Erneuerung von Reich und Kirche zu kämpfen«. Mit dem Tod Sickingens endete, so Goertz, »das letzte große Aufgebot der Ritter gegen die Landeshoheit;
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seitdem schied die Ritterschaft als bedeutende Kraft aus dem politischen Geschehen aus« (Goertz, Pfaffenhaß, S. 108). Der populäre Sickingen, der wahlweise als Leitfigur nationaler Auferstehungshoffnung oder revolutionärer Träume einer Volkserhebung gegen das Establishment diente, ist vorwiegend ein Produkt historischer Legitimationen des 19. und 20. Jahrhunderts (Ullmann, Lasalle). Für beides gibt es in den Quellen gewisse Anhaltspunkte. Doch können diese Züge ein umfassendes Bild Franz von Sickingens und der Reformation nicht tragen. Die nachfolgenden Ausführungen skizzieren zunächst Sickingens Aufstieg zu einem Akteur auf der reichspolitischen Bühne, bevor sie auf sein Verhältnis zur frühreformatorischen Bewegung eingehen. Überlegungen zu seiner reformatorischen Haltung bilden den Abschluss. I. Sickingens Aufstieg Sickingens seit dem ausgehenden 18. Jahrhundert wachsende Popularität verdankt sich wesentlich seiner Bedeutung in der Reichspolitik des 16. Jahrhunderts. Sein Aufstieg vom Adligen mit regionalem Bewegungsradius im Grenzraum zwischen Kurpfalz, Kurmainz, Kurtrier und Kurköln zum reichspolitischen Akteur vollzog sich in wenigen Jahren ab 1515. Die Grundlage für Sickingens großes Spiel auf der reichspolitischen Bühne hatten die Vorfahren mit dem Erwerb eines weit gestreuten Besitzes im Südwesten gelegt, von der wir durch die gründliche Studie Harold H. Kehrers detaillierte Kenntnis besitzen. Dabei war die Anlehnung an die Pfalzgrafen, die seit 1326 greifbar ist und unter Ruprecht III. (1398–1410, König seit 1400) ihren Höhepunkt erreichte, ein wichtiger, wenn nicht sogar entscheidender Faktor. Der Schwerpunkt der Eigengüter, Lehen und Pfandschaften lag im Gebiet zwischen Mainz und Nahe und links der Nahe. Insbesondere dem Großvater Reinhard (gest. 1472) und dem Vater Schweikhard (VIII. gest. 1505?) war es gelungen, die Position der Swickerischen Linie der Familie (Ritter! Tod! Teufel? S. 124) nicht nur pekuniär durch den Erwerb von Bergbaurechten und einträgliche Heiraten, sondern auch politisch als Geldgeber des Pfälzer Kurfürsten Philipp des Aufrichtigen (1476–1508) zu stärken. Der politische Erfolg der Familie bekundet sich insbesondere in den hochkarätigen Ämtern am kurpfälzischen Hof (Kehrer, Familie von Sickingen [1981], S. 97–106), an dem sich auch Franz in jugendlichen Jahren aufgehalten hatte: So befand er sich 1494/95 im pfalzgräflichen Gefolge auf den Reichstagen, darunter der wichtige Reformreichstag von 1495 in Worms. Der politische Status der Sickingen zeigte sich aber auch in der relativen Dichte von Ämtern in der Territorialverwaltung zwischen Main, Rhein und Nahe (Karte bei Kehrer, Familie von Sickingen [1979], S. 111). Es erscheint daher angemessen, dass
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Harold H. Kehrer Reinhard und Schweikhard von Sickingen als Wegbereiter ihres Enkels bzw. Sohns Franz bezeichnet (Kehrer, Familie von Sickingen [1981], S. 120). Franz von Sickingen setzte diese Politik nach dem Tod seines Vaters gegen Ende des bayrisch-pfälzischen Erbfolgekriegs, den er 23jährig bei Aufenthalten in Amberg und Landshut aus der Nähe erlebt hatte, fort. Als 1507 auch seine Mutter Margarethe starb, ist es Sickingen möglicherweise nicht leicht gefallen, die beim Tod fälligen 9.000 Gulden Aussteuer und Erbschaft für seine fünf Schwestern aufzubringen (Kehrer, Familie von Sickingen [1981], S. 135). Doch zeigen schon die Rechnungen Sickingens dieser Jahre, dass er trotz dieser Lasten noch immer gut betucht war (Scholzen, Franz von Sickingen, S. 40). So gab er über einen Zeitraum von acht Jahren zwischen 1505 und 1512 insgesamt über 150 Gulden beim Heidelberger Schneider Jacob Wolff aus. Das Interesse an feinem Tuch und gutem Schnitt relativiert das einfache Bild vom ritterlichen Rauhbein. Dass er sich dies leisten konnte, zeigen seine wiederholten Darlehen an den pfälzischen Kurfürsten, die er wie sein Vater in beträchtlicher Höhe bereitstellte. 1508 und 1511 gab er jeweils 2.000 Gulden (Scholzen, Franz von Sickingen, S. 423 Anm. 73). Seine Heirat mit Hedwig von Flersheim bedeutete zwar anders als bei seinem Vater nicht einen großen Zugewinn an Besitz, sie stärkte aber die Verflechtung mit dem Adel der Region, die für seine spätere Fehdeführung von Bedeutung war. Wie sein Vater übernahm Sickingen pfälzische Ämter und Funktionen, aber auch Dienste bei anderen Fürsten (Wild- und Rheingrafen von Dhaun, Pfalzgrafen von Simmern, Erzbischof von Mainz, Bischof von Straßburg). Dies mag auch mit der Schwäche der Kurpfalz nach der Niederlage im bayrisch-pfälzischen Erbfolgekrieg zu tun haben. So erwecken die spärlichen Quellen den Eindruck, dass Franz von Sickingen im ersten Jahrzehnt nach dem Tod seines Vaters insgesamt noch in dessen Bahnen handelte. Dies änderte sich erst zur Jahreswende 1514/15 im Umfeld des Todes seiner Frau Hedwig (gest. 9. Januar 1515). Ob ein Zusammenhang zwischen dem Tod seiner Frau und dem Beginn der extensiven Fehdeführung besteht, ist nicht sicher zu sagen, es wäre denkbar. Denn die juristische Vorbereitung der Fehde begann zwar schon im Herbst 1514, der erste sorgfältig geplante militärische Schlag erfolgte aber erst im März 1515, als Sickingen ein Schiff Wormser Kaufleute zwischen Gernsheim und Oppenheim überfiel. Am 1. November 1514 forderte Franz von Sickingen in einem Brief an den Rat der Stadt Worms die Begleichung einer Schuld von 150 Gulden, die der Wormser Bürger Nicolas Knobellach an den bischöflichen Notar Balthasar Schlör zu zahlen habe. Schlör habe ihm diese Schuld vor einiger Zeit übertragen und Knobellach wiederholt vergeblich zur Begleichung aufgefordert. Im Hintergrund standen Konflikte zwischen
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Bischof und Stadt sowie innerstädtische Differenzen, die 1513/14 zu heftigen Auseinandersetzungen in Worms geführt hatten. Die Fehde war im Spätmittelalter eigentlich ein meist subsidiäres und an bestimmte Normen gebundenes Mittel zur Durchsetzung von Recht mit Waffengewalt und war in niederadligen Kreisen weithin anerkannt. Als solche verlangte sie das Vorliegen eines Rechtsgrundes und das erfolglose Bemühen um die Durchsetzung der Ansprüche auf rechtlichem Weg. Seit etwa 1500 ist bei einzelnen Vertretern des Niederadels eine Tendenz zu einer stärkeren Kommerzialisierung der Fehdeführung erkennbar. Franz von Sickingen hat dieses Geschäftsmodell auf die Spitze getrieben. Er übernahm fremde bis dahin nicht realisierte Rechtsansprüche und setzte sie mit großer militärischer Macht durch – gegen eine hohe Entschädigungsleistung der Unterlegenen (Breul, Sickingens Fehden). Dass dabei auch politische Motive eine Rolle gespielt haben, ist nicht auszuschließen. Die Flersheimer Chronik lässt solche Interessen erkennen, wenn sie von einem Gespräch Sickingens mit seinem Schwager Philipp von Flersheim kurz nach dem Tod seiner Frau berichtet. Beim Ritt zur Ebernburg, die wesentlich von seiner gerade verstorbenen Frau ausgebaut worden war, lässt die Chronik Sickingen sagen: »Schwager, man muess das ein dapffern bau (…) sein lassen, unnd solt ich nit etwas mehr thuen, dann gebauet haben, das wurdt mir verechtlich sein«. Mit Blick auf offene Forderungen aus den Fehden seines Vaters Schweikhard heißt es weiter: »Soll ich nun etwas gegen den fursten anfahen, so sein die vom adel, meine freundt, der fursten lehenmenner, der khan ich nit geniessen. (…) Nun bin ich ganntz entschlossen, mich Balthasers Schlörs gegen denen von Wormbss anzunemmen unnd dermassen, das ich, ob gott will, durch das die sachen dahin arbeiten will, das ich ohne einigen krieg unnd schwertschlagen mein annder forderung zu vertrag bringen« (Flersheimer Chronik, S. 54). »Schwager, man muss das als einen tapferen Bau anerkennen, sollte ich aber nicht mehr getan haben, als zu bauen, würde mir das verächtlich sein. (…) Sollte ich nun etwas [einen Konflikt] mit den Fürsten anfangen, so würde ich nichts davon haben, denn die vom [Nieder-] Adel, meine Freunde, sind Lehensmänner der Fürsten. (…) Nun bin ich ganz entschlossen, Balthasar Schlör gegen Worms zu unterstützen – und zwar so, dass ich – wenn Gott will, dass ich die Sache dahin bringe, dass ich ohne Krieg und Schwert meine zweite Forderung vertraglich durchsetze.«
Die Aufforderung seines Schwagers, sich wieder zu verheiraten, und seine Warnung vor einer Fehde gegen das kaisernahe Worms schlug Sickingen nach dem Bericht der Chronik seines Schwagers in den Wind. Möglicherweise hat er sich um ein rechtliches Verfahren vor dem Reichskammergericht bemüht. Auf »Krieg und Schwertschlagen« hat er jedenfalls nicht verzichtet. Den Höhepunkt dieser Art der Fehdeführung bildete die Fehde gegen die Landgrafschaft Hessen im September 1518 (Breul, Trauma). Sickingen nutzte die nach dem Tod des Vaters des hessischen Landgrafen Philipp, Wilhelms des Mittleren, 1509 bestehenden Spannungen von großen Teilen des
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hessischen Adels mit der regierenden Landgrafenwitwe Anna, über die er durch seine adligen Verbindungen sicherlich bestens unterrichtet war. Als formaler Fehdegrund dienten wiederum einige vergleichsweise geringfügige Forderungen seines Vetters Hans VI. von Sickingen an Philipps Vater Wilhelm II. aus dem Pfälzischen Erbfolgekrieg (1504/05) im Gebiet der sogenannten Obergrafschaft Katzenelnbogen um Darmstadt. Seinem überraschenden Überfall mit Truppen, die er noch von der unmittelbar vorausgehenden Fehde gegen die Reichsstadt Metz zusammen hatte, konnte die ungleich mächtigere Landgrafschaft nichts entgegensetzen. Die kriegerischen Auseinandersetzungen um Darmstadt dauerten nur wenige Tage, bereits am 23. September wurde zwischen hessischen Adligen in Darmstadt und Franz von Sickingen ein Vertrag geschlossen, der nicht nur eine enorm hohe Brandschatzungszahlung durch die unterlegene Landgrafschaft in Höhe von 35.000 Gulden beinhaltete, sondern auch zahlreiche politische Regelungen zugunsten des Adels, die beträchtlich in die Herrschaft des jungen hessischen Landgrafen eingriffen. Als der Landgraf beim Kaiser gegen das in Darmstadt geschlossene Vertragswerk klagte und erreichen konnte, das fast alle Regelungen mit Ausnahme der Brandschatzungszahlung kassiert wurden, weil sie nicht im Fehdebrief enthalten gewesen waren, war dies der Anfang einer jahrelangen rechtlichen und publizistischen Auseinandersetzung (Ritter! Tod! Teufel? S. 128 f., 135–140). Größere Truppenbewegungen Sickingens im Umfeld Hessens, wie etwa bei der Frankfurter Kaiserwahl 1519, versetzten die Statthalter in den landgräflichen Residenzen in Alarmbereitschaft und veranlassten wiederholt umfangreiche Rüstungsmaßnahmen. Erst mit der politischen Konsolidierung der Landgrafschaft um 1521 durch die Erneuerung und den Abschluss mehrerer Bündnisverträge beruhigte sich die Stimmung. Doch der Landgraf hatte das Trauma seiner ersten Regentschaftsjahre seit 1518, als er nicht einmal 14 Jahre alt war, nicht vergessen. 1519 ließ sich Franz von Sickingen einen kostbaren teilvergoldeten »Häufebecher« anfertigen (Ritter! Tod! Teufel? S. 140 f.). Der vermutlich aus einer Speyerer Werkstatt stammende Stapelbecher mit acht Trinkschalen trägt Umschriften, von denen eine festhält: »EX MILITIA PARTIS FRANCISCVS DE SICKINGEN ME FIERI FECIT 1519« – »Aus dem im Kriegsdienst Erbeuteten hat mich Franz von Sickingen machen lassen 1519«. Er wurde angefertigt auf dem Höhepunkt seiner Macht – sein Aufbewahrungsort, das Hessische Landesmuseum in Kassel, erinnert aber auch an seine finale Niederlage, die das kostbare Trinkgefäß zur hessischen Beutekunst werden ließ. Sickingens beachtlicher Aufstieg der vorangegangenen Jahre verdankt sich wesentlich der finanziellen Basis, die Vater und Großvater gesammelt und die Franz im ersten Jahrzehnt nach dem Tod des Vaters mit Geschick fortgeführt und weiter ausgebaut hatte. Hinzu kam sein offensichtliches mi-
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litärisches Geschick (Press, Ritter, S. 16), das ihn mit ebenso riskanten wie gut geplanten Aktionen zu einem erfolgreichen Truppenführer werden ließ. Schließlich halfen ihm in diesen Jahren sein politisches Gespür und seine Wendigkeit, eine beachtliche Position in der Reichspolitik zu erlangen. Seine zeitweiligen militärischen Dienste für den französischen König ebenso wie für den deutschen Kaiser demonstrieren Spielräume und Beweglichkeit gleichermaßen. Als Sickingen 1519 für die Absicherung der Kaiserwahl angeworben und im Herbst 1520 auf die Dauer von fünf Jahren zum kaiserlichen Rat, Kämmerling und Diener bestellt wurde, zeigte dies die politische Stellung, die er erreicht hatte, sie leitete jedoch zugleich seinen Niedergang ein. Dem neuen Kaiser, den er von Aachen nach Köln begleiten durfte, lieh er 20.000 Gulden ohne ausreichende Absicherung – mehr, als ihm seine Bestallung über die gesamte Dauer eingebracht hätte (3.000 Gulden jährlich für die Bereithaltung von 60 Reitern). Noch deutlich mehr kostete ihn die kaiserliche Bestallung zum Heerführer – gemeinsam mit Graf Heinrich von Nassau – im Kriegszug gegen seinen früheren Bundesgenossen Graf Robert von der Marck. Das militärische Unternehmen schlug weitgehend fehl, die in Aussicht gestellte Entschädigung für die 4.000 Reiter und 15.000 Fußknechte blieb aus. »Unnd ist er, Franntz, zu Key. Mat. gehn Prüssel geritten, daselbst viel zeit vergeblich gelegen, zuletzt der bezalung halben ein abschiedt nemmen muessen unnd kein gelt empfanngen« (»Und ist er, Franz, zu Kaiserlicher Majestät nach Brüssel geritten, hat dort lange Zeit vergeblich gewartet und hat schließlich in der Sache der Bezahlung wieder abreisen müssen und hat kein Geld erhalten«), heißt es in der Flersheimer Chronik (S. 70). Durch seinen Kredit an Karl V. und seinen Kriegszug in kaiserlichen Diensten hat Sickingen über 90.000 Gulden verloren. Gewollt oder ungewollt war es dem Kaiser damit gelungen, einem der prominentesten Unruhestifter im Reich die pekuniäre Basis für seine militärischen Aktionen zu entziehen und – durch die Bindung an den Kaiser – zugleich auch seinen politischen Aktionsradius einzuschränken. Dank seiner finanziellen, militärischen und politischen Agilität hatte sich Sickingen weit oberhalb der üblichen Möglichkeiten seines Standes in der Reichspolitik bewegen können und dafür auch die Lösung der traditionellen Bindung an die Kurpfalz in Kauf genommen. Eine feste Machtbasis hatte er damit aber nicht gewonnen, die traditionelle Bindung des Ritteradels an den Kaiser war keine verlässliche Größe, und die pekuniären Mittel ebenso wie die politischen Bindungen waren allzu flüchtig.
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II. Sickingen und die frühreformatorische Bewegung Auf dem Höhepunkt seines militärischen Erfolgs vertiefte Franz von Sickingen die Freundschaft mit seinem aus Osthessen stammenden Standesgenossen Ulrich von Hutten während der Strafexpedition des Schwäbischen Bundes gegen Sickingens früheren Bundesgenossen, Herzog Ulrich von Württemberg (1487–1559). Hutten war es, der ihn dafür gewann, sein militärisches Gewicht auch in der damals wichtigsten literarischen Fehde, dem noch immer schwelenden Streit um den Humanisten Johannes Reuchlin (1455–1520), einzusetzen. Seine Androhung einer Fehde gegen den Dominikanerorden und dessen päpstlichen Inquisitor Hoogstraeten führte zum Einlenken der Gegner Reuchlins im Streit um die Zerstörung oder Erhaltung jüdischer Schriften: Am 10. Mai 1520 wurde ein Kompromiss geschlossen; Hoogstraeten wurde vorläufig suspendiert (Peterse, Hoogstraeten, S. 64 f.). Das war freilich nur ein vorübergehender Erfolg, die Kurie griff nur wenige Wochen später zugunsten Hoogstraetens ein, und Reuchlins Votum für den Erhalt jüdischer Schriften wurde am 23. Juni 1520 verurteilt. Sickingens Engagement in dieser Sache war gleichwohl – wie Kehrer zurecht betont (Familie von Sickingen [1981], S. 147 f.) – ohne Aussicht auf einen eigenen materiellen Vorteil geschehen. Hutten hat sich, verglichen mit anderen Humanisten, erst recht spät der Luthersache zugewandt. Anfangs hielt er sie für Theologengezänk, das den humanistischen Bildungsinteressen hinderlich sei. Seinen Wunsch an die Streitparteien in der Ablasssache formulierte er in einem Brief an den Grafen Hermann von Neuenahr (1492–1530) am 3. April 1518: »Consumite, ut consumamini invicem (…) Ac faxit deus Opt. Max. ut intereant et emoriantur qui surgentibus impedimento sunt literis, quo aliquando enascantur viva pulcherrimarum virtutum, quae toties isti conterunt, pantaria« (Böcking, Huttens Schriften 1, S. 167). »Fresset einander, damit ihr voneinander gefressen werdet. (…) Ja, gebe Gott, dass alle zugrunde gehen und aussterben, welche der aufkeimenden Bildung hinderlich sind, damit die lebendigen Pflanzungen der herrlichsten Tugenden, die sie so oft zertreten haben, endlich sich erheben mögen« (Schilling, Hutten, S. 40).
Erst nach der Leipziger Disputation vom Sommer 1519 begann sich Huttens Haltung zu ändern, und bereits wenige Monate später scheint er auch Sickingen für die Luthersache gewonnen zu haben. Am 20. Januar 1520 bot er in einem Schreiben an Philipp Melanchthon erstmals den Schutz seines Standesgenossen für Luther an, der auch Reuchlin geholfen habe. Am 28. Februar wiederholte er das Angebot mit genauen Instruktionen zum Vorgehen (Melanchthons Briefwechsel 1, S. 162 f., 164 f.). Nachdem Luther auf
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die Aufforderung, sich auf dem schnellsten Weg in die Obhut Sickingens zu begeben, nicht reagiert hatte, riskierte Hutten am 4. Juni 1520 ein direktes Schreiben an den Wittenberger. Der mit einem Ausruf auf die Freiheit beginnende Brief bezieht sich an seinem Schluss auf Huttens frühere Anläufe zur Kontaktaufnahme über Melanchthon. Auch hier lässt er Vorsicht walten, der Name Sickingen bleibt unter einem Siglum verborgen. »N.« habe ihn, Hutten, drei- oder viermal aufgefordert, an den Adressaten zu schreiben. Er fordere Luther auf, zu ihm zu kommen, wenn er nicht mehr sicher sei, und wolle ihn energisch gegen alle Feinde verteidigen (Luther, Briefwechsel (WA) 2, 115–118; Ritter! Tod! Teufel? S. 160 f.). Damit ist deutlich, dass seit Anfang 1520 aus dem Unterstützer Reuchlins auch ein Parteigänger in der causa Lutheri geworden ist. Huttens Schreiben vom 4. Juni erwähnt bereits Gerüchte von dem bevorstehenden Bannurteil gegen Luther und die negativen Urteile der Kölner und Löwener Theologen zur Leipziger Disputation (30. August 1519, Köln; 7. November 1519, Löwen). Sickingen dürfte sich also bewusst gewesen sein, dass eine Exkommunikation Luthers drohte. Irgendwelche Vorteile konnte er in dieser Situation von einer Unterstützung des Wittenbergers kaum erwarten, wenn man von der Sympathie in den humanistischen Sodalitäten einmal absieht. Dass sich Sickingen der neuen Lehre zuwandte, war keine Selbstverständlichkeit. Er war offensichtlich in den tradierten Formen adliger Religiosität aufgewachsen, sein Vater hatte eine Jerusalemwallfahrt unternommen und auf der Ebernburg eine Kapelle gestiftet (Kehrer, Familie von Sickingen [1981], S. 146). Schon die kaum zufällige Namensgebung weist darauf, doch hat Sickingen aktiv an der Frömmigkeit der römischen Kirche partizipiert. In die gleiche Richtung weisen das aufwändig gestaltete Totengedächtnis für seine Anfang 1515 verstorbene Frau Hedwig von Flersheim (Flersheimer Chronik, S. 53) und die Bemühungen um ein eigenes Kloster der Familie. Sickingen hatte 1510 die von seinem Vater begonnene Wiederaufrichtung der Augustinerklause in Trombach vollendet und sie gemeinsam mit seiner Frau aufwändig mit Grundbesitz ausgestattet (Kehrer, Familie von Sickingen [1981], S. 146 f.). Acht Schwestern sollten dort nach der Franziskanerregel leben können; die Familie Sickingen behielt sich das Reservationsrecht auf zwei dieser Pfründen vor. Als die Bestätigung der Stiftung durch den Mainzer Erzbischof nach einigen Querelen 1520 eintraf, hatte sich Sickingens religiöse Haltung jedoch schon grundlegend verändert. Im September 1520 schied Ulrich von Hutten aus den Diensten Albrechts von Brandenburg aus und richtete sein Domizil für die nächsten Monate überwiegend auf der Ebernburg ein. Von dort setzte er seine Bemühungen fort, Luther auf Sickingens Burg zu locken. Als derartige Zuflucht hätte sie in der Tat eine »Wartburg des Westens« werden können, die sie aber
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nicht wurde, weil Luther auch während seiner Reise zum Wormser Reichstag ein entsprechendes Angebot ablehnte. In Oppenheim, der letzten Station vor Worms, war ihm durch Martin Bucer – anstelle des erkrankten Hutten – eine Einladung von Sickingen und Hutten auf die Ebernburg unterbreitet worden. Die ältere Forschung sah wie Luther selbst darin eine Intrige, die darauf zielte, Luther von Worms fernzuhalten und vielleicht sogar seiner habhaft werden zu können, wenn die Geleitzusage ausgelaufen war. Die neuere Forschung urteilt hier vorsichtiger, unterschiedliche Interessen kamen zusammen – auch eine Beschwichtigung Sickingens und Huttens. Doch wäre man auf Seiten des Kaisers nicht unglücklich gewesen, den Auftritt Luthers in Worms verhindern zu können (Schäufele, Herberge). Wie auch immer man die Vorgänge bewertet, dokumentieren sie doch auch ein fortgesetztes Interesse Sickingens am Wittenberger Reformator. Dass sich dieses Interesse nicht nur auf Luther bezog, sondern auf reformatorische Anliegen, wird daran deutlich, dass Sickingen später auch anderen Theologen Asyl auf der Ebernburg bot, die eine wichtige Rolle innerhalb der reformatorischen Bewegung spielten. Thomas Kaufmann hat die Bedeutung der Ebernburg-Theologen für die Reformation im Südwesten ausführlich untersucht (Kaufmann, Ebernburgkreis), hier genügt ein kurzer Überblick: Mit Martin Bucer (1491–1551) kam einer der später führenden Theologen der Reformation gleich zweimal in die Obhut Sickingens, in der Schlussphase seines Prozesses um die Entbindung von den Ordensgelübden im März 1521 und im Frühjahr 1522 nach einer zwischenzeitlichen Tätigkeit als Hofkaplan bei Pfalzgraf Friedrich. Dort versah er ab dem Frühsommer bis zum November 1522 die Pfarrstelle in Landstuhl. Caspar Aquila (1488–1560), der spätere thüringische Reformator in Saalfeld (ab 1527), hatte Sickingen bereits 1515 als Feldprediger in der Fehde gegen Worms gedient. Im Frühjahr 1521 trat er wieder in Sickingens Dienste, zunächst als Lehrer, später wieder als Feldprediger; er blieb bis zur Kapitulation am 6. Juni 1523 gut zwei Jahre auf der Ebernburg. Von April bis September 1522 hielt sich Johannes Oekolampad (Hausschein) auf der Ebernburg auf und wirkte an ersten Änderungen der traditionellen gottesdienstlichen Formen mit. Schließlich kam auch Johannes Schwebel im Juni 1522 in die »Herberge der Gerechtigkeit«, der Verfasser des eingangs zitierten Vorworts zum Sendbrief Sickingens an seinen Schwager Diether von Handschuchsheim: »Aber das spil hat sich gar verkeret / vorzeitten lernet ma[n] das gesatz gottes vo[n] den priestern / ietzund wer vo[n] noeten / das sie zů den leyen in die schul gingen / vnnd von ienen die bibel lerneten lesen«.
In seiner programmatischen Formulierung der neuen Kompetenz der Laien klingt das an, was Martin Luther zwei Jahre zuvor in seiner Schrift »An den
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christlichen Adel« als Programm einer umfassenden Reform der Christenheit formuliert hatte: Alles, was »aus der Taufe gekrochen ist«, ist in den »geistlichen Stand« berufen und aufgerufen, an der Erneuerung der Kirche mitzuarbeiten. Dem Adel und den städtischen Obrigkeiten kommt dabei eine besondere Aufgabe zu, weil sich die Theologen »ausz der muhe und erbeit gesetzt« haben und »die Biblien wol rugen [ruhen] lassen«. Luthers Reformprogramm, seine vermutlich erfolgreichste Einzelschrift mit 15 Einzel- und Teildrucken (Kaufmann, Kommentar, S. 33) ist in Schwebels Vorwort nun nicht mehr Programm, sondern bereits Realität: Die Priester müssen bei den Laien in die Schule gehen, um von ihnen die Bibel lesen zu lernen. Doch ist diese Verkehrung der Verantwortung kein »fröhlicher Wechsel«, sondern trägt fast apokalyptische Züge, weil das Wort Gottes unterdrückt wird. »Verzeiten [Vorzeiten] haben die Bischoff gebraucht das schwert des wort gottes / zů der seel heyl. Vnd weltlicher gewalt das zeitlich schwert zů straff der boesen. Jetzundt verlassen die bischoff dz wort gottes / ja woellen das mit weltlichem schwerdt vnd gewalt tirannisch vndertrucken.« (Franz von Sickingen, Sendbrief 1522, Bl. Aiir)
Die Rede vom Versagen der Bischöfe entspricht frühreformatorischer Polemik gegen den Priesterstand, wie ihn besonders deutlich Ulrich von Hutten formuliert hatte. Die Verantwortung liegt nun bei den weltlichen Obrigkeiten: »Aber die bißher das schwert gebraucht haben / auch wie der mertheyl fürgibt vnbillich vnd tyrannischer weyß / diese zeygen ietzundt an gůtgen gru[n]dt ires fürnemens vn[d] erbarer meynu[n]g neme[n]t an das wort gottes sůchen mer lob / vnd eer gottes dan zeitlichen gwalt vn[d] gůt / Die gesehenden werden blindt / vnd die blinde[n] gesehendt / so wunderbarlich ist gott in seinen wercken (Franz von Sickingen, Sendbrief 1522, Bl. Aiir-v).« »Aber die bisher das [weltliche] Schwert gebraucht haben – wie die Mehrheit meint unrecht und auf tyrannische Weise – diese lassen jetzt gute Gründe ihres Handelns und ehrbare Meinung erkennen. Sie nehmen das Wort Gottes an, suchen vorrangig Lob und Ehre Gottes statt weltlichem Einfluss und Besitz. Die Sehenden werden blind und die Blinden sehend, so wunderbar ist Gott in seinen Werken«.
Diese Aussagen Johannes Schwebels laufen auf Franz von Sickingen zu, der sich nun um das Evangelium bemüht, wie die nachfolgende Schrift, der Sendbrief an seinen Schwager Diether von Handschuchsheim zeigt. Der eigentliche Sendbrief widmet sich fünf Themen, die der Adressat Diether von Handschuchsheim, der Schwiegervater von Sickingens Sohn Schweikhard, an Luthers Lehre bedenklich fand: (1) die Austeilung des Abendmahls in beiderlei Gestalt, (2) die Messreform, (3) den Austritt von Mönchen und Nonnen aus ihren Klöstern samt der Zölibatspflicht, (4) die Heiligenverehrung und (5) die angebliche Aufforderung zur Zerstörung der
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Bilder in der Kirche. Abschließend warnt der Verfasser vor einer abwartenden Haltung in der Frage der Reform. Die reformatorische Position wird mit ausführlichen Schriftbelegen begründet, die eine theologische Verfasserschaft oder Mitverfasserschaft nahelegen; es ist nicht unwahrscheinlich, dass Schwebel auch hier die Feder geführt oder wenigstens am Text mitgeschrieben hat (Oelschläger, Sendbrief, S. 71– 73). Der Sendbrief Sickingens an Diether von Handschuchsheim kann also nicht einfach als Zeugnis seiner theologischen Kompetenz gewertet werden. Doch wie ist Sickingens religiöse Haltung einzuschätzen? War seine Unterstützung der Reformation lediglich ein frommes Mäntelchen, das die politischen Interessen insbesondere in der Trierer Fehde bekleiden sollte? Fehlte es dem politisch und militärisch gewieften Heerführer gar an intellektueller Kapazität, um in die Tiefen des Lutherschen Gedankengebäudes einzudringen? (Andermann, Öffnung, S. 74). Sickingens eigenständige reformatorische Haltung ist in der Folge solcher Fragen wiederholt in Zweifel gezogen worden. Manchen dieser Einwände ist zuzustimmen, gleichwohl meine ich, dass es keinen Grund gibt, an Sickingens reformatorischer Haltung zu zweifeln. III. Sickingens reformatorische Haltung Die ältere Forschung hat die Landauer Einung von Anfang August 1522 als Aufstand der Ritter gedeutet und im Sinne des von Hutten seit 1520 postulierten Pfaffenkriegs mit der Trierer Fehde Sickingens in Verbindung gebracht. Dass Sickingen zum Hauptmann dieser Einung einer stattlichen Zahl Adliger traditionell ritterschaftlich geprägter Landschaften des Reichs gewählt wurde, schien diese These zu stützen. So hat noch vor einer Generation Hans-Jürgen Goertz dieses Bündnis gedeutet (s. o.). Die neuere Forschung seit Volker Press hat jedoch deutlich herausgearbeitet, dass es sich bei der Landauer Einung eher um ein konservatives Bemühen zur Wahrung ritterschaftlicher Rechtsinteressen handelte. Abgesehen von der zeitlichen Nähe besteht keine engere Verbindung zur Trierer Fehde. Auch die Trierer Fehde selbst wird man – trotz mancher schriller antiklerikaler Töne als Begleitmusik – kaum als Ausweis seiner reformatorischen Haltung sehen können. Zu deutlich liegen die politischen Motive vor Augen. Sickingen war nach den politischen und vor allem den pekuniären Rückschlägen offensichtlich darum bemüht, wieder die militärische Initiative zu erlangen und seine Kasse zu füllen, nachdem sich der kaiserliche Dienst für ihn als ein Fass ohne Boden erwiesen hatte. Wenn die Nachrichten zutreffen, dass er beabsichtigte, sich als Landesherr an die Spitze eines säkularisierten Trierer Fürstentums zu setzen, dann weist dies vielleicht auf die Absicht, seinen instabilen politischen Einfluss, der stets an der finanziellen Ausstat-
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tung, der Gewinnung von Bündnispartnern und der Ausnützung günstiger Konstellationen hing, auf die tragfähigere Grundlage einer fürstengleichen Herrschaft zu stellen. Das wäre freilich ein verwegener Plan gewesen, der sich kaum hätte durchsetzen lassen. Während sich also Landauer Einung und Trierer Fehde allenfalls oberflächlich mit Sickingens Haltung zur Reformation in Verbindung bringen lassen, sind andere Hinweise deutlicher. Schon vor der Reformation sind deutliche Zeichen für Sickingens religiöses Engagement zu finden, so insbesondere in der aufwändigen Wiedererrichtung der Klause Trombach als ein kleines Hauskloster der Familie oder in den umfangreichen Feierlichkeiten zum Gedächtnis des Todes seiner Frau (Anfang Februar 1515). Durch Ulrich von Hutten wurde Sickingen vergleichsweise früh für die Luthersache gewonnen. Wie bei vielen anderen bildete auch bei Hutten und Sickingen der Humanismus eine Brücke zu Luthers Ablass- und Romkritik. Sickingens Engagement für die Reformation lässt sich zunächst in seinem Engagement als Schutzherr für gefährdete Theologen der frühreformatorischen Bewegung erkennen – vor allem für Luther. Trotz der Absage Luthers gelang es ihm später, profilierte Vertreter der Reformation für kürzere Zeiträume für einen Aufenthalt auf der Ebernburg oder für seine Dienste zu gewinnen. Dabei werden Huttens humanistische Verbindungen gewiss eine Rolle gespielt haben. Trotz ihres Charakters als Fluchtburg für wichtige Köpfe der frühreformatorischen Bewegung war die Ebernburg nur eingeschränkt ein Ort des Austauschs und der Planung reformatorischer Aktivitäten. Bucers, Oekolampads und auch Huttens Aufenthalte waren dafür von zu kurzer Dauer. Gleichwohl gab es auf der Ebernburg offensichtlich erste Ansätze gottesdienstlicher Reformen. Sickingen setzte die jungen talentierten Köpfe der reformatorischen Bewegung als Hof- und Feldprediger, Gemeindepfarrer und Erzieher ein. Indem er verfolgten, talentierten jungen evangelischen Theologen Schutz und Logis gewährte, damit ihr Überleben sicherte und ihnen die Möglichkeit zu literarischer Betätigung gab, hat er einen nicht unwesentlichen Beitrag für die frühe Reformation geleistet. Vor allem aber muss man Sickingens Sendbrief an Diether von Handschuchsheim als ein Bekenntnis zur Reformation sehen. Das zeigt die Parallele zu einem seiner prominentesten Gegner, Landgraf Philipp von Hessen. Denn unter seinem Namen erschien drei Jahre später ein gedruckter »Sendbrief« – auch dieser an einen Vertreter altgläubiger Positionen gerichtet, den Vorsteher des Marburger Franziskanerklosters. Der Marburger Kirchengeschichtler Hans Schneider hat in seiner gründlichen Analyse dieser Flugschrift betont (Schneider, Flugschrift), dass diese nicht nur dazu diente, die Zuwendung des hessischen Regenten zur Reformation publik zu machen, sondern zugleich die Überlegenheit dieser Haltung zu demonstrieren, indem
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ein Laie einen gelehrten Theologen belehrt. Sie war somit ein Beleg für das »Priestertum aller Gläubigen«, die Mündigerklärung der Laien in der Kirche. Mutatis mutandis gilt dies auch für Sickingens Sendbrief. Schneider weist auf einen weiteren bedenkenswerten Aspekt hin. Auch der hessische Sendbrief wurde vermutlich ähnlich wie bei Sickingen von einem Prädikanten aus der Umgebung Philipps verfasst. Das sei übliche Kanzleipraxis gewesen, durch die Ausfertigung aber werde der Landgraf im rechtlichen Sinn zum Autor (Schneider, Flugschrift, S. 157). In diesem Sinn muss auch Franz von Sickingen als Verfasser des Sendbriefs an Diether von Handschuchsheim gelten, auch wenn er, wie es wahrscheinlich ist, von Johannes Schwebel (mit-) konzipiert wurde. Durch die Publikation unter Sickingens Namen hat er sich seinen Inhalt zu eigen gemacht, denn anderenfalls hätte Schwebel den Sendbrief kaum veröffentlichen können. Trotz der wenigen Quellen ist aus meiner Sicht an der reformatorischen Haltung Sickingens kaum zu zweifeln. Wieweit Sickingens Verständnis der reformatorischen Theologie reichte, ist kaum sicher einzuschätzen. Doch sollte man die Fähigkeiten Sickingens nicht unterschätzen. In der frühen Reformationszeit war es erstmals möglich, neue Ideen differenziert und genau über eine große Entfernung für ein breites Publikum zu transportieren. Die Reformation war ganz wesentlich auch eine Medienrevolution, und vom hessischen Landgrafen wissen wir, dass er sich der neuen Möglichkeiten nicht nur als Autor, sondern auch als Leser bediente. Warum sollte dies bei Sickingen anders gewesen sein? Zeitgenossen erschien Sickingen jedenfalls nicht nur als Anhänger der neuen Lehre, sondern sogar als »verordneter Vollzieher der Gerechtigkeit«. So stellt ihn eine noch im Jahr seines Todes (1523) anonym erschienene Schrift dar, die Sickingen an der Himmelspforte anklopfen lässt. Im Gespräch mit Petrus und mit dem heiligen Georg, dem Schutzpatron der Ritter, präsentiert sich Sickingen als jemand, der nun seinen gerechten Lohn empfangen möchte. Der Dialog kritisiert in scharfer Polemik das Verhalten der Fürsten, Kaufleute, Städte und der »Vinanzer«, die immer neue Steuern erheben wollen. Sickingen wird hier als Anwalt nicht nur der Ritter, sondern auch des gemeinen Mannes charakterisiert; das zeigen schon die ersten Sätze: »Frantz / Wann es der gebrauch bey dießem thorhütter were / wie sunst an künig oder der Fürsten hoefen ettwan [einst] geweßen ist. So würd ich on vereerung oder schanckung nitt ingelassen / doch will ich mich anzeygen vnd melden. Sanct Peter: Wen[n] vernym ich an der pfortte[n]. Frantz / Ich bin Franciscus vo[n] sickingen / ein verordneter volzieher der gerechtickeyt. Peter. ein volzieher d[er] gerechtickeyt / Sag mir / welcher gerechtickeyt. Frantz. ja / der gerechtickeyt / so vil [weit] man der auff erden gehaben kan. Peter. Findet man dann noch ettwas der gleychen« (Dyalogus, Bl. Aiir).
Franz von Sickingen und die Reformation 103 »Franz: Wenn es bei diesem Torhüter so zugeht, wie sonst an Königs- oder Fürstenhöfen gewesen ist, dann würde ich ohne eine Gabe oder Schenkung nicht eingelassen. Doch ich will mich anzeigen und melden lassen. St. Peter: Wen vernehme ich an der Pforte? Franz: Ich bin Franziscus von Sickingen, ein verordneter Vollzieher der Gerechtigkeit. Peter: Ein Vollzieher der Gerechtigkeit? Sagt mir, welcher Gerechtigkeit. Franz: Ja, der Gerechtigkeit, soweit man diese auf Erden haben kann. Peter: Findet man denn dort noch dergleichen?«
Am Ende der Flugschrift heißt es dann: »Frantz. So vill mir müglich gewessen het ich der armen gern verschonet / Aber wider die Fürsten vnd herrn zu kriegen / loeßt sich nit anders dann ernstlich vßrichten / zů meynem bracht hab ich nichts anders gethan / dan[n] mein heüser gebaüwet / vnnd mich gesterckt / dan ich verhofft vorgewalt zůbleiben / den armen noch lenger zů helffen / vnnd der vnderdrückten lere des Euangeliums / ein freyen weg zů mache[n]. So es aber die stund vnd zcyt geendert hatt / Hab ich doch vor meynem abscheydt / mir mein sünde lassen leydt sein / vnd all mein vertraüwen endtlich zů Gott gestellet / vnnd meins wercks weder zů heyll noch verdamnüß nichts zu gemessen / das verhoff ich zů geniessen. Petrus. das endt ist gůt / darumb will ich auffschliessen / das du seligklich růwest / biß zů der vfferstentnyß der ewigen Seligkeyt. Amen« (Dyalogus 1523, Bl. B4r). »Franz: So viel mir möglich gewesen, hätte ich die Armen gerne verschont. Aber gegen die Fürsten und Herren Krieg zu führen, lässt es sich nicht anders als ernsthaft ausführen. Zu meinem eigenen Vorteil habe ich nichts anderes getan, als meine Häuser zu bauen und mich zu stärken, denn ich hoffte unüberwunden zu bleiben, um den Armen noch länger zu helfen und um den Unterdrückten die Lehre des Evangeliums zugänglich zu machen. Als aber meine Stunde schlug, habe ich vor meinem Abschied mir meine Sünde leidtun lassen und all mein Vertrauen allein auf Gott gerichtet und meine Werke mir weder zu Heil, noch zur Verdammnis zugerechnet. Dafür hoffe ich nun, entlohnt zu werden. Petrus: Das Ende ist gut, darum will ich dir aufschließen, damit du selig ruhst bis zur Auferstehung zur ewigen Seligkeit. Amen.«
Quellen Ein sendbrieff / so der Edel vnd || Ernuest Franciscus von Sickingen / seinem || schweher / dem Edlen vnnd ernuesten || iuncker Diethern von Henschuchß=||heym / zů vnderrichtung etzlicher || artickel …, Straßburg 1522 [VD 16 S 6315]. Dyalogus der Rede vnnd gesprech / So Franciscus von Sickingen / vor des him[m]els pfortten / mit sant Peter / vnd dem Ritter sant Jörgen gehalten. Zuuor und ehe dan[n] er inngelassen ist worden, [Speyer ca. 1523] [VD16 D 1321]. Die Flersheimer Chronik. Zur Geschichte des XV. und XVI. Jahrhunderts, hg. v. Otto Waltz, Leipzig 1874.
104 Wolfgang Breul
Ulrich von Huttens Schriften, hg. v. Eduard Böcking, Bd. I: Briefe von 1516– 1520, Leipzig 1859, Neudr. Aalen 1963. D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Briefwechsel Bd. 2, Weimar 1931. Melanchthons Briefwechsel Bd. 1, Texte 1–254 (1514–1522), bearb. v. Richard Wetzel, Stuttgart-Bad Canstatt 1991.
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Franz von Sickingen und die Reformation 105
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volKer Gallé
Lassalles Franz von Sickingen Eine Debatte um Utopie und Individualität
»
In Osthofen mochte sich schon die Kunde von der Ankunft des Gefürchteten verbreitet haben; aus geöffneten Fenstern blickten scheue, neugierige Gesichter, als Städel, die Gräfin führend, an ihrer Seite die bildhübsche Kammerzofe Helene, durch die Straßen schritt und ich mit Lassalle hintendrein kam«, schreibt Wendelin Weißheimer (1838–1910) in seinem 1898 erschienenen Buch »Erlebnisse mit Richard Wagner, Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen« (Weißheimer, S. 297). Der Empfang am 6. Juli 1864 in der elterlichen Steinmühle sei ein »höflich-frostiger« gewesen. Weißheimer hatte seine Eltern wegen der »feindlichen Stimmung, die allerwärts gegen Lassalle herrschte«, erst mühsam von seiner Einladung überzeugen müssen. Der Gutsbesitzer Johann Weißheimer war 1848 hessischer Landtagsabgeordneter gewesen, Bürgermeister von Osthofen und schrieb an einer umfangreichen Chronik seiner Heimatstadt. Zum Zeitpunkt des angekündigten Besuchs »hielt er gerade das Kapitel über die herzoglich von Dalbergischen Besitzungen und besonders die Franz v. Sickingens in der Osthofener Gemarkung aufgeschlagen« (Weißheimer, S. 296). Als die kleine Gesellschaft am Mittag dieses Tages in der Steinmühle eintraf, vertieften sich Lassalle und Weißheimers Vater zunächst in ein »historisches Gespräch (…), während meine Schwester Lenchen, die Mutter und meine Schwägerin Auguste (…) sich mit der Gräfin v. Hatzfeld beschäftigten. Die Unterhaltung wurde warm und wärmer, und nach kurzer Zeit war sie bereits höchst animiert« (Weißheimer, S. 297). Nach dem Abendessen präsentierte Wendelin Weißheimer seine Oper »Theodor Körner« Szene für Szene am Klavier. Lassalle war seinerseits begeistert, umarmte Weißheimer, küsste ihn und sagte: »Eine solche Musik- und Deklamationsgewalt wie die Ihre würde mir für die Agitation hochwillkommen sein. Vor Ihrem Können die allergrößte Hochachtung! Wollen Sie, dass ich Ihnen einen meinen Absichten und Ihren Fähigkeiten entsprechenden Operntext ausarbeite, so bin ich mit Vergnügen
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dazu bereit« (Weißheimer, S. 302 f.). Beide diskutierten die Stoffwahl und kamen vom Bauernkrieg mit Florian Geyer und Thomas Münzer schließlich zu dem hussitischen Heerführer Jan Ziska (1360–1424). Lassalle versprach, sich gleich nach seiner Ankunft in der Schweiz ans Werk zu machen. Dazu kam es nicht, da Lassalle am 31. August 1864 nach einem Pistolenduell in Carouge bei Genf starb. Das Thema aus dem Umfeld von Bauernkrieg und Reformation kam nicht von ungefähr, hatte Lassalle doch im Frühjahr 1857 mit der Ausarbeitung seiner historischen Tragödie »Franz von Sickingen« begonnen. Der Text war im Winter 1857/58 fertiggestellt, wurde aber erst 1969 in Oldenburg uraufgeführt. In seinem Vorwort zum Erstdruck 1859 schreibt Lassalle, er habe sich durch die ein Jahr zuvor erschienene Hutten-Biografie von David Strauss in seiner Stoffwahl darin bestätigt gesehen, »wie zeitgemäß und fast unwillkürlich die Rückwendung auf jene Periode unseres größten und entscheidendsten geschichtlichen Wendepunktes dem gegenwärtigen Geiste ist« (Lassalle, S. 5). An Sickingens »merkwürdiger (bemerkenswerter, der Verf.) Lebensgeschichte« interessiere ihn »der große, in seinem tiefsten Wesen vielleicht noch lange nicht hinreichend gewürdigte humanistische Kampf jenes Mannes« (Lassalle, S. 5). Der Linkshegelianer Strauss hatte Hutten 1860 als Schriftsteller im Reformationsjahrhundert an zweiter Stelle nach Luther gesehen und als Vertreter einer besonderen deutschen Freiheit, wie sie dem Protestantismus eigen sei: »Das Grundwesen des germanischen Geistes ist individuelle Selbsttätigkeit, Leben aus dem eigenen Innern eines Jeden heraus. Dem entwickelten Deutschen kann kein mechanisches Abtun des Religiösen, kein unverständliches Schaugepräng und Plappern, kein gedankenloses Abkugeln von Rosenkränzen genügen: er will selbst mit seinem Bewusstsein, seinem innersten geistigen Wesen, dabei sein. Er kann sich in die Länge seinen Glauben nicht von außen vorschreiben, sich nicht von einer Priesterkaste in geistlichen Dingen bevormunden lassen: er muss selbst forschen, sei es vorläufig in der Schrift, oder weiterhin in der Vernunft. Dass wir das dürfen und können, das verdanken wir protestantische Deutsche der Reformation; dass wir es auch wirklich tun, uns in der Tat und Wahrheit als Deutsche beweisen, das ist unsre Sache« (Vorrede zu »Gespräche von Ulrich von Hutten«). In der Nachfolge Hegels sah Lassalle sein Drama als Geschichtsdrama, in dem er die »Verwirklichung einer historisch berechtigten Idee« (Wunderlich S. 63) zu schildern suchte. Hutten wie Sickingen waren über zweieinhalb Jahrhunderte nahezu vergessen, als ihre Zeit und damit auch ihre Person im Sturm und Drang des späten 18. Jahrhunderts wieder zur Geltung kamen. Der protestantische Theologe Johann Gottfried Herder schrieb 1776 im »Deutschen Merkur«: »Huttens und Sickingens Werk ging unter. Es war damals ein Zeitpunkt, daß Deutschland andere Gestalt gewinnen konnte: mehrere Gute
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strebten: es sollte nicht sein. Die Vorsehung hatte es anders beschlossen, sie gingen im Schiffbruch unter. Liegt in ihrem Untergang samt dem, was sie und wie sie es wollten, nicht eben die größte Lehre?« (nach Rueb, S. 176). Auch die Literatur des Sturm und Drang entdeckte die Ritterschaft zum Zeitpunkt ihres politischen Niedergangs an der Schwelle von Spätmittelalter zur frühen Neuzeit als Spiegelungsfläche für die eigene Befindlichkeit. So schrieb Goethe zwischen 1771 und 1773 sein Schauspiel »Götz von Berlichingen«, das auch als »erstes echtes Geschichtsdrama der Weltliteratur« (Goethezeitportal) bezeichnet wird. Der historische Götz war ein Freund Sickingens, u. a. an dessen Wormser Fehde beteiligt, aber auch in den schwäbischen Bauernkrieg verwickelt. In Goethes Drama ist er der Schwager Sickingens. »Die Zeit des Götz und Sickingen ist die interessante Epoche«, so Hegel in seiner Ästhetik von 1835/38 im Kapitel »Rekonstruktion der individuellen Selbstständigkeit«, »in welcher das Rittertum mit der adligen Selbständigkeit seiner Individuen durch eine neuentstehende objektive Ordnung und Gesetzlichkeit ihren Untergang findet. Diese Berührung und Kollision der mittelaltrigen Heroenzeit und des gesetzlichen modernen Lebens zum ersten Thema gewählt zu haben, bekundet Goethes großen Sinn« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, S. 257). Ebenfalls 1773 erschien Goethes Text »Von deutscher Baukunst« mit einer Rückbesinnung auf die deutsche Gotik am Beispiel des Straßburger Münsters, mithin eine nationale Orientierung. Und Goethes Geniebegriff ist durchaus mit dem Begriff deutscher Freiheit verwandt. Sein Götz schließlich hat Friedrich Schiller neben anderen Einflüssen 1781 zu seinem Schauspiel »Die Räuber« angeregt. Hegel: »Karl Moor, verletzt von der bestehenden Ordnung und von den Menschen, welche deren Macht mißbrauchen, tritt aus dem Kreise der Gesetzlichkeit heraus und macht sich, indem er die Schranken, welche ihn einzwängen, zu durchbrechen die Kühnheit hat und sich so selbst einen neuen heroischen Zustand kreiert, zum Wiederhersteller des Rechts und selbständigen Rächer des Unrechts, der Unbilde und Bedrückung. Doch wie klein und vereinzelt einerseits muß diese Privatrache bei der Unzulänglichkeit der nötigen Mittel ausfallen, und auf der anderen Seite kann sie nur zu Verbrechen führen, da sie das Unrecht in sich schließt, das sie zerstören will« (Hegel, Vorlesungen über die Ästhetik, S. 255/256). Ein Ritter als edler Räuber, der sich tragisch verstrickt – dieses Motiv deutet bereits auf das Spannungsverhältnis zwischen Niederadel und Bürgertum hin, das auch in Lassalles Biografie eine Rolle spielen wird. Goethe wie Schiller stammten aus protestantischen Elternhäusern. Der »Sturm und Drang« thematisierte sowohl die Nation als auch die Republik, bei ersterer lehnte er sich an das antifürstliche Konzept des humanistischen Niederadels an, das von der deutschen Einheit, im Kaiser als einem Volkskaiser verkörpert, Gleichheit erhofft hatte, bei der zweiten an bürgerliche Ideen der französischen Aufklärung. Im Vormärz wurden beide Themen wieder aufgegrif-
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fen, nach der Niederlage 1849 ihr Scheitern diskutiert. Die Emanzipation der Juden in Deutschland verlief, wenn auch in den einzelnen Territorien unterschiedlich, dazu parallel, was häufig zu einer Konversion in Richtung Protestantismus wie bei Heine und einer Assimilation an die deutsche Mehrheitsgesellschaft führte. Schließlich deutete sich in der Hinwendung eines Teils der Achtundvierziger zum Thema Bauernkrieg die spätere Arbeiterbewegung an. Dafür stand vor allem das große Bauernkriegsbuch des schwäbischen Demokraten Wilhelm Zimmermann von 1841/43, auf das Friedrich Engels Bezug nehmen sollte. Auch Lassalle passt in diese Orientierung, stammte er doch aus einer jüdischen Kaufmannsfamilie in Breslau, beschäftigte sich in seinen Berliner Studienjahren 1843–46 intensiv mit Philosophie und Literatur, vor allem mit Hegel und Fichte, Goethe und Heine und wechselte 1862 von der liberalen Fortschrittspartei auf Grund von Meinungsverschiedenheiten im Verfassungsstreit mit Bismarck ins Lager der sich formierenden Arbeiterbewegung. Sein persönliches Umfeld war stark geprägt vom deutschen Niederadel: von Sophie von Hatzfeld als seiner Lebensgefährtin von 1848 bis 1856, von Johann Baptist von Schweitzer und dem Ehepaar von Hofstetten als führenden Mitgliedern des Allgemeinen Deutschen Arbeitervereins ADAV und schließlich von seiner letzten Liebe Helene von Dönniges. Ihr Vater weigerte sich, einer Heirat zuzustimmen. Schließlich forderte Lassalle ihn zu einem Duell, an dessen Folgen er drei Tage später starb. In den Figuren des Sickingen-Dramas spiegeln sich Lassalles Identitätsnarrative: der edle Ritter Franz von Sickingen, der Humanist Ulrich von Hutten, der Bauernagitator Jos Fritz, zahlreiche Ritter, fürstliche Gegenspieler, darunter der Trierer Erzbischof und der Reformator Oecolampadius, zeitweise auf Sickingens Ebernburg zu Gast. Ein Jude kommt nicht vor. Lassalles Tragödie wurde zwar nach ihrer Veröffentlichung 1859 nicht uraufgeführt, aber heftig debattiert. Die »Sickingen-Debatte« zwischen Lassalle auf der einen und Marx und Engels auf der anderen Seite »gilt zu Recht als ein Grundmodell materialistischer Literaturkritik« (Hinderer, S. 7). Und weiter: »Das Drama war als Gefäß der eigenen politischen Hoffnungen, Wünsche und Ideen gedacht; außerdem sollte es mit seinen Parallelen zu den nationalen Problemen von 1857/58 als Lehr-, Erbauungs- und Propagandastück dienen, aber auch in ästhetischer Hinsicht den bisher erreichten Stand des historischen Dramas übertreffen. Das Individuum wurde als Hauptakteuer abgesetzt und dafür die ›größesten und gewaltigsten Geschicke der Nationen‹ als wichtigste dramatis personae eingeführt« (Hinderer, S. 360). Marx und Engels kritisierten im Wesentlichen Lassalles Orientierung an den Ritterfiguren Sickingen und Hutten als »Repräsentanten einer untergehenden Klasse« (Hinderer, S. 38). Sickingen sei mehr eine komische, aus der Zeit gefallene Figur wie Don Quichote als eine
Lassalles Franz von Sickingen 111
tragische Figur, in der eine gesellschaftliche Utopie scheitert. Marx schrieb im April 1859 an Lassalle: »Daß er die Revolution unter dem Schein einer ritterlichen Fehde beginnt, heißt weiter nichts, als daß er sie ritterlich beginnt. Sollte er sie anders beginnen, so müßte er direkt, und gleich am Beginn an Städte und Bauern appellieren, d. h. exakt an die Klassen, deren Entwicklung = negiertem Rittertum (nach Hinderer, S. 38). (…) Bist du nicht selbst gewissermaßen wie Dein Franz von Sickingen in den diplomatischen Fehler gefallen, die lutherischritterliche Opposition über die plebejisch Münzerische zu stellen?« (nach Hinderer, S. 39) Lassalle pocht auf die Ungleichzeitigkeiten von Geschichte und Person und entgegnet: »Ein Individuum kann sich immerhin ganz über seine Klasse hinausheben. So war St. Just ein Marquis, St. Simon ein Pair von Frankreich und der näher liegende Ziska auch ein Ritter und Adliger« (nach Hinderer, S. 64/65). Jan Ziska (1360–1424) war ein hussitischer Heerführer, ebenfalls niederadelig, und sollte ja auch Gegenstand des Librettos sein, das Lassalle für eine Weißheimer-Oper schreiben wollte. Die Sickingen-Debatte setzte sich aber nicht nur in der marxistischen Literaturtheorie fort (Georg Lukacs 1931), sondern auch im Existenzialismus, wie Sartres in Worms spielendes Drama »Der Teufel und der liebe Gott« von 1951 zeigt. Darin geht es um Götz von Berlichingen, der vom Raubritter zum Gründer eines »Sonnenstaats der Nächstenliebe« wird, aber scheitert. »Der Abenteurer merkt, daß er im Grunde nichts anderes tut, als die alte Ordnung zu erhalten. Das Scheitern von Götz ist etwa das des Anarchosyndikalismus der Meister. Er beschließt zum Beispiel, seine Ländereien an die Bauern zu verteilen. Aber er scheitert, weil seine ganz individuelle Tat von der konkreten Gesamtsituation abgeschnitten ist. Es gibt nur eine totale Lösung« (Sartre, S. 170). Das ist die Debatte zwischen dem kommunistischen Existenzialisten Sartre und dem anarchosyndikalistischen Existenzialisten Camus, zwischen Totalitarismus und Freiheitsutopie. In der marxistischen Expressionismusdebatte von 1937/38 zwischen Lukacs auf der einen und Bloch sowie Brecht auf der anderen Seite wird ebenfalls deutlich, wie stark Marx und Engels den Faktor Subjektivität unterschätzt haben. Im Stalinismus gipfelte dieser totalitäre Kern ihres Denkens. Lassalle steht bei allem Linkshegelianismus mehr für die Zwischentöne, aber auch bei ihm gab es Verführungen der Realität, die ein Scheitern provozieren konnten, wobei Scheitern hier bewusst nicht als unabwendbar durch richtiges Denken und Handeln gesehen werden soll. Interessant ist in diesem Zusammenhang vor allem Hans Mayers Aufsatz »Shylock« in seinem Band »Außenseiter« von 1981, weil er explizit einen Blick auf die jüdische Dimension von Lassalles Motivation wirft. Mayer schreibt: »Ferdinand Lassalle gehört zusammen mit Heinrich Heine, James Rothschild, Benjamin Disraeli zu den Prototypen des bürgerlichen Shylock im 19. Jahrhundert« (Mayer, S. 378). In Shakespeares Shylockfigur sieht Mayer das Schei-
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tern jüdischer Emanzipation literarisch gefasst, auch wenn einzelne darunter subsumierte Biografien durchaus unterschiedliche Färbungen und Karrieren beschreiben: »Kein jüdischer Künstler, Gelehrter, Schriftsteller entgeht in jener Ära der siegreichen Bourgeoisie und einer scheinbaren staatsbürgerlichen Egalität den inneren Widersprüchen aus abstrakter Emanzipationsforderung und realer Zerrissenheit« (Mayer, S. 378). Lassalle sei dafür der »vollkommene Phänotyp. Keiner hat mehr zur Fixierung des Bildes vom jüdischen, intellektuellen Abenteurer beigetragen« (Mayer, S. 379). Da hört man erneut den edlen Räuber als Bild für Freiheit und Individualität durch. Und weiter: »Die bürgerlichen Phänotypen des Shylocks im 19. Jahrhundert widerlegen Lessings hochherzige Prämisse: Emanzipation sei möglich durch Bildung und Besitz.« Andrerseits bleibt Lassalle Jude und konvertiert nicht, wie z. B. Heine, zum Protestantismus, auch wenn er dessen historische Vorlagen und Vorbilder nutzt. Er strickt in der Tat ein »sonderbares Konzept«, nach Mayer das »eines Bündnisses von aristokratischem Obrigkeitsregime mit dem organisierten Proletariat: gegen Lassalles eigentliche Feinde im liberal-demokratischen Bürgertum« (Mayer, S. 377). Hier scheint mir Mayer mit Blick auf die kurzzeitigen Verhandlungen Lassalles mit Bismarck falsch zu liegen. Lassalle ist sprunghaft und wechselt seine Bündnispartner. Darin ist er eben eher Sickingen und Hutten ähnlich, und sein Scheitern ist eher persönlich-biografisch als einer historischen Klassenlogik verpflichtet. Er scheint mir eher seine Individualität zu verteidigen, was sich langfristig in der Kulturgeschichte gesehen eben doch als richtige, wenn auch manchmal unvernünftige, täuschbare oder tragische Strategie herausstellen kann. Seine sich von jüdischer Herkunft ableitende Außenseiterstellung macht dies ebenso möglich wie seine Bündnisverirrungen und behauptbaren Wünsche nach Anerkennung, zum Einen im tatsächlich bürgerlich-niederadligen Milieu des Führungskreises der frühen Arbeiterbewegung, aber auch als autodidaktischer Rechtsanwalt und als begeistert empfangener Redner bei Massenveranstaltungen. Sowohl Lassalles als auch Sartres Drama könnte ich mir als geeignete Basistexte für eine neu-bearbeitete Bühnenfassung vorstellen. Dabei könnte das Wissen um die Sickingen-Debatte ebenso einfließen wie die gegenwärtigen Erfahrungen mit demokratischen Aufbrüchen, seien sie erfolgreich wie 1989 in Deutschland, auf der Kippe wie in der Ukraine oder vorerst gescheitert wie in Ägypten oder Syrien.
Lassalles Franz von Sickingen 113
Literatur Goethezeitportal, http://www.goethezeitportal.de/wissen/dichtung/schnellkursgoethe/sturm-und-drang-strassburg-frankfurt-wetzlar.html Georg Wilhelm Friedrich Hegel. Vorlesungen über die Ästhetik I, Frankfurt a. M. 1986, Erster Teil, Drittes Kapitel, B II 1 c, Rekonstruktion der individuellen Selbstständigkeit. hinderer, Walter (Hg.): Sickingen-Debatte. Ein Beitrag zur materialistischen Literaturtheorie, Darmstadt und Neuwied 1974. lassalle, ferdinand: Franz von Sickingen – Eine historische Tragödie, Stuttgart 1974. Mayer, hans: Außenseiter, Frankfurt a. M. 1981. rueB, franz: Ulrich von Hutten, Berlin 1981. sartre, jean-paul: Der Teufel und der liebe Gott, Reinbek 1991. strauss, david friedrich: Vorrede zu Gespräche von Ulrich Hutten (1860). URL: http://www.payer.de/religionskritik/strauss02.htm (2005– 01–31). WeissheiMer, Wendelin: Erlebnisse mit Richard Wagner, Franz Liszt und vielen anderen Zeitgenossen, Stuttgart und Leipzig 1898. Wunderlich, Werner (hG.): Der Deutsche Bauernkrieg – Texte zur literarischen Rezeption (Texte und Materialien zum Literaturunterricht), Frankfurt a. M. 1978.
Matthias Müller
Als Ritter wie ein Fürst Herrscherbildnis und Medienkonkurrenz im Zeitalter des Franz von Sickingen1
U
nsere gegenwärtige vielzitierte Mediengesellschaft, in der eine Flut von Bildern in den Print- und elektronischen Medien die Darstellung und Wahrnehmung von Politik und Gesellschaft bestimmt, lässt häufig vergessen, dass es auch schon Jahrhunderte vor der Erfindung der modernen Massenmedien eine Mediengesellschaft gab, deren Kommunikation und Repräsentation ganz wesentlich über Bilder in Gang gesetzt wurde. In einer solchen vormodernen Mediengesellschaft versuchte auch Franz von Sickingen mit Hilfe von Bildern sein Image zu prägen und öffentlich sichtbar zu machen, weshalb sich die Gelegenheit bietet, die in unserer Gesellschaft immer wieder gestellte Frage nach der Bedeutung der Bilder und der sie transportierenden unterschiedlichen Medien nicht nur auf unsere Zeit zu beziehen, sondern diese Frage bewusst an die besonderen, durchaus andersartigen Verhältnisse des Spätmittelalters und der Renaissance, d. h. der beginnenden Frühen Neuzeit und hier besonders der Zeit der Reformation, zu richten. 1
Der vorliegende Beitrag ist eine stark gekürzte und zugleich um Beispiele für Franz von Sickingen ergänzte Fassung eines Aufsatzes des Verfassers, der unter dem Titel »Der Herrscher und die Medien. Bildnismedaillen und Medienkonkurrenz zu Beginn der Frühen Neuzeit« in: Numismatische Zeitschrift 122 (2016): Die andere Seite. Funktionen und Wissensformen der frühen Medaille. Beiträge zur internationalen Tagung in München an der Ludwig-Maximilians-Universität, Center for Advanced Studies, und der Staatlichen Münzsammlung, 7.–8. Februar 2014, hg. von Martin Hirsch und Ulrich Pfisterer, Wien 2016, S. 53–70, publiziert wurde. Wesentliche Teile dieses Aufsatzes finden sich auch in folgendem Beitrag des Verfassers: »Der multimediale Herrscher. Die Pluralisierung der Medien als Herausforderung für das Fürstenporträt in der Frühen Neuzeit«. In: Das Porträt als kulturelle Praxis, hg. v. Eva Krems u. Sigrid Ruby, Berlin/München 2016, S. 120–138.
116 Matthias Müller
Die Bildnisse von Franz von Sickingen, mit deren Hilfe er selbst und seine Anhänger die politische Bedeutung des einflussreichen Ritters zu inszenieren und zu memorieren versuchten, sollen dabei den Ausgangspunkt bilden. Sie wurden bislang noch so gut wie nie auf das ihnen zugrundeliegende Bildkonzept und ihren Zusammenhang mit den damals neuen Formen der repräsentativen Porträtkunst hin untersucht. Anders als die Bildnisse der bedeutenden Fürsten des Reformationszeitalters – wie etwa Kardinal Albrecht von Brandenburg oder Kurfürst Friedrich III. von Sachsen, genannt der Weise – fanden sie in der kunsthistorischen Forschung bislang auch keine besondere Beachtung, sondern wurden – wie die Eisenradierung von Hieronymus Hopfer2 (Abb. 1) – zumeist nur kurz in Werk- oder Ausstellungskatalogen vorgestellt.3
Abb. 1: Hieronymus Hopfer: Franz von Sickingen (um 1520/21, Eisenradierung)
2
3
Bei diesem Druck aus dem Bestand des Mainzer Landesmuseums (Graphische Sammlung, Inv. Nr. GS 1990/9) handelt es sich um einen – vermutlich im 17. Jahrhundert vorgenommenen – Nachdruck von der Originalplatte. Siehe hierzu Stefan Heinz, in: Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation, hg. von Wolfgang Breul und der Generaldirektion Kulturelles Erbe Rheinland-Pfalz, Regensburg 2015, Kat. Nr. 2.1, S. 123–125. Siehe zuletzt den Mainzer Ausstellungskatalog Ritter! Tod! Teufel? Franz von Sickingen und die Reformation (wie Anm. 2).
Als Ritter wie ein Fürst 117
Dadurch blieb bisher auch die bemerkenswerte Nähe der Bildnisse Franz von Sickingens zu den in seiner Zeit aktuellsten Formen des Herrscherbildnisses unbemerkt – und damit die offensichtliche Rezeption und Adaption von soeben erst für die Reichsfürsten entwickelten Porträtkonzepten vor allem im Medium der Druckgraphik und der Medaille. Unbemerkt blieb damit aber auch die strategische Fähigkeit und Weitsicht Franz von Sickingens und seiner medienstrategischen Berater, sich auf dem Gebiet der bildlichen Repräsentation und bildlichen Propaganda der neuesten Trends zu bedienen. Denn sowohl das druckgraphische Porträt als auch die Bildnismedaille waren zu Beginn des 16. Jahrhunderts im Reich keineswegs etabliert, sondern stellten – wie die Medaille – entweder aus Italien übernommene oder – wie die Druckgraphik – vollkommen neue Medien innerhalb der deutschen Porträtkunst dar. Auf beide, die Medaille wie die Druckgraphik, griff Franz von Sickingen nicht zufällig zurück, boten sie ihm doch mindestens zwei wichtige Vorteile: zum einen die sichtbare Zurschaustellung des aktuellsten höfischen Repräsentationsniveaus im Reich, wie es sich in Dürers Holzschnittbildnis Kaiser Maximilians I. aus dem Jahr 1519 (Abb. 2) oder in Dürers im selben Jahr entworfenen Kupferstichbildnis Kardinal Albrechts von Brandenburg (»Der kleine Kardinal«, Abb. 3) manifestierte, womit der Ritter Franz auch visuell einen exponierten gesellschaftlichen Status beanspruchte und das »Establishment« der deutschen Fürsten herausforderte, und zum anderen die Quantität und Mobilität dieser solchermaßen produzierten Bildnisse, die –
Abb. 2: Albrecht Dürer: Kaiser Maximilian I. (1519, kolorierter Holzschnitt)
118 Matthias Müller
anders als Gemälde – einem breiteren Rezipientenkreis zugänglich gemacht werden konnten.
Abb. 3: Albrecht Dürer: Kardinal Albrecht von Brandenburg (»Der kleine Kardinal«, 1519, Kupferstich)
Um diesen kunst- und kulturgeschichtlichen Kontext, in den die Bildnisse Franz von Sickingens eingebunden waren, besser zu verstehen und damit auch die Tragweite der Rezeption und Adaption der fürstlichen Bildniskunst durch einen Ritter präziser einschätzen zu können, soll im Folgenden anhand von ausgewählten Beispielen gezeigt werden, welchen Veränderungen das Fürstenbildnis im Reformationszeitalter vor allem durch das damals neue Medium der Druckgraphik unterworfen war und welche Bedeutung sowohl die Druckgraphik als auch die Medaille für die Inszenierung protestantischer Fürsten im Reich – nicht zuletzt der Kurfürsten von Sachsen – gewinnen sollte. Aus der Kenntnis dieser übergreifenden, vom Kaiser und von den Reichsfürsten für ihre »Imagebildung« und Propaganda genutzten und forciert betriebenen »Medienpolitik« können schließlich auch die Bildnisse Franz von Sickingens in ihrer funktionalen Zielsetzung und ihrem künstlerischen Anspruchsniveau genauer analysiert werden, was im Rahmen dieses Aufsatzes allerdings nur skizzenhaft geschehen kann.
Als Ritter wie ein Fürst 119
Wenn eingangs von der vormodernen Mediengesellschaft die Rede war und die Bedeutung von Druckgraphik und Medaillen als in großer Stückzahl zu produzierenden und über weite Entfernungen zu transportierenden Medien hervorgehoben wurde, dann dürfen wir den Vergleich mit unserer heutigen Mediengesellschaft nicht überstrapazieren. Vor allem müssen wir vorsichtig sein im Umgang mit dem Begriff »Massenmedium«. Denn bei allen durchaus vorhandenen Parallelen zwischen unserer heutigen und der frühneuzeitlichen Mediengesellschaft darf doch nicht übersehen werden, dass es im 15. und 16. Jahrhundert noch keine echten Massenmedien gab, womit den früheren Epochen unser Begriff und unsere Vorstellung einer über Massenmedien verbreiteten Bildkultur bzw. Bildpropaganda schlichtweg fehlte. Wenn selbst von robusten Holzbildstöcken im Höchstfall etwa 2.000 Holzschnittdrucke hergestellt werden konnten und Kupferdruckplatten in der Regel nicht mehr als 1.000 Abzüge ermöglichten, dann erscheint der hierfür in der Literatur nicht selten zu lesende Begriff der frühneuzeitlichen »Massenmedien« doch etwas übertrieben und wenig erhellend zu sein. So wird auch für Dürers berühmten, ab 1519 verbreiteten Holzschnitt von Kaiser Maximilian eine Auflage von höchstens 1.500 Stück angenommen,4 während das von Dürer für Kardinal Albrecht von Brandenburg 1523 hergestellte Kupferstichbildnis (»Der große Kardinal«) nach den Angaben Dürers
4
Diese Zahl nennt – allerdings ohne Quellenbeleg – Sabine Fastert: Die Serienbildnisse aus der Cranach-Werkstatt. Eine medienkritische Reflexion. In: Lucas Cranach d. Ä. 1553–2003. Wittenberger Tagungsbeiträge anlässlich des 450. Todesjahres Lucas Cranachs des Älteren, hg. v. Andreas Tacke, Leipzig 2007, S. 148. Zu den Auflagenhöhen siehe grundsätzlich Falk Eisermann: Auflagenhöhen von Einblattdrucken im 15. und frühen 16. Jahrhundert. In: Einblattdrucke des 15. und frühen 16. Jahrhunderts. Probleme, Perspektiven, Fallstudien, hg. v. Volker Honemann, Sabine Griese, Falk Eisermann u. Marcus Ostermann, Tübingen 2000, S. 143–177. Für die aus sogenannten Riesenholzschnitten zusammengesetzte Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. ist quellenkundlich überliefert (Thomas Schauerte: Die Ehrenpforte für Kaiser Maximilian I. Dürer und Altdorfer im Dienst des Herrschers, München/Berlin 2001, S. 111, S. 452), dass mit den ursprünglich 198 Druckstöcken (ebd., S. 429) dieses druckgraphischen Großprojekts bis zum Tode des Kaisers ca. 700 Exemplare gedruckt worden waren. Danach wurden 1526 im Auftrag von Erzherzog Ferdinand weitere 300 Exemplare in Auftrag gegeben, wobei wir über die tatsächlich erfolgte Anzahl der Drucke keine quellenkundlichen Hinweise besitzen (ebd., S. 455–458). Wichtig ist jedoch die schriftliche Anordnung Erzherzogs Ferdinand, dass nur so viele Exemplare von den alten Druckstöcken gedruckt werden sollten, »als die form erleiden mugen und zu dem truckh zu brauchen seien« (ebd., S. 456 mit komplettem Quellentext S. 423 f.). Insgesamt konnten daher mit den ursprünglichen Druckstöcken offensichtlich ca. 1.000 Exemplare der Ehrenpforte von brauchbarer druckgraphischer Qualität hergestellt werden.
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zunächst nur in einer Auflage von 500 Exemplaren gedruckt wurde.5 Noch weniger für eine massenhafte Verbreitung geeignet war die aus kostbaren Erzen produzierte Porträtmedaille, die in jedem Fall ein exklusives, nur für einen kleinen Rezipientenkreis verfügbares Medium verkörperte und entsprechend eher als kennerschaftliches Objekt in fürstlichen oder humanistischen Sammlungen aufbewahrt wurde. Die Mediengesellschaft der beginnenden Frühen Neuzeit war daher insgesamt auf relativ wenige Rezipienten beschränkt und von einem hohen Maß an Exklusivität bestimmt. Die in diesem relativ eng begrenzten Rahmen produzierten Bilder richteten sich an einen überschaubaren Kreis von Fürsten und Adligen, kirchlichen und städtischen Eliten sowie humanistischen Gelehrten im Umkreis der Höfe und Universitäten. Diese Adressatenkreise waren allerdings untereinander hochgradig vernetzt, was sie wiederum mit unserer heutigen Mediengesellschaft verbindet. Unterschiedlich waren hingegen die Anlässe und sachlichen Zwänge und damit die kulturellen Rahmenbedingungen, innerhalb derer die Medien in der beginnenden Frühen Neuzeit als Mittel der Kommunikation und kunstkennerschaftlichen Gelehrsamkeit zum Einsatz kamen. Denn wo in unserer Gesellschaft heutzutage vorwiegend politische Parteien, juristische Körperschaften oder Unternehmen ihre Interessen mit Hilfe der Bildmedien öffentlich durchzusetzen versuchen, agierten in der Frühen Neuzeit in erster Linie Dynastien, Fürstenhöfe und die an ihrer Spitze stehenden Regenten, die mit ihrer Bildpolitik letztlich immer auch die Reputation und Souveränität des von ihnen vertretenen dynastischen Hauses abzusichern versuchten. Hier trifft der Titel einer 2013 bis 2015 in München bzw. Dresden gezeigten Ausstellung, die mit »Wettstreit in Erz« überschrieben wurde, einen wesentlichen Kern und Nerv der Funktionalität frühneuzeitlicher Bildmedien.6 Trotz dieser insgesamt schwierigen Vergleichbarkeit von vormoderner, eher exklusiv-elitärer, und heutiger, tatsächlich von Bildermassen infiltrierten Mediengesellschaft bieten sich einige interessante und historisch sinnvolle Anknüpfungspunkte für einen Vergleich, dessen Resultate am Ende auch ein besseres Verständnis für bestimmte Phänomene unserer eigenen, gegenwärtigen massenmedialen Bildkultur ermöglichen. Zu diesen Anknüpfungspunkten gehören nicht zuletzt die gezielten Medien- bzw. Bildkampagnen sowie 5
6
Eine solche Auflagenhöhe ist durch den Umstand überliefert, dass Dürer an Kardinal Albrecht von Brandenburg von diesem Bildnis 500 Drucke mitsamt der Druckplatte schickte. Siehe hierzu und zum Bildnis selbst Sabine Fastert: Wahrhaftige Abbildung der Person? Albrecht von Brandenburg (1490–1545) im Spiegel der zeitgenössischen Bildpropaganda. In: Römische Quartalschrift für christliche Altertumskunde und Kirchengeschichte, Bd. 97, 2002 (2003), S. 284–300, hier: S. 295 f. Walter Cupperi / Martin Hirsch / Annette Kranz / Ulrich Pfisterer (Hg.): Wettstreit in Erz. Porträtmedaillen der deutschen Renaissance, Berlin/München 2013.
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die Veränderungs- und Umbruchsprozesse bei den Mediengattungen, wie wir sie seit einigen Jahren vor allem in der Konkurrenz zwischen den Printund den digitalen Medien erleben. Denn so wie heute die digitalen Medien zunehmend den etablierten Printmedien auf dem Feld der Kommunikation den Rang streitig machen, so stellten in der Zeit um 1500 zunehmend die druckgraphischen Medien im Bereich der repräsentativen, herrschaftlichen Bildproduktion die damals etablierten Bildmedien des Gemäldes und der Medaille vor neue Herausforderungen. Diese beiden Anknüpfungspunkte bzw. Aspekte möchte der vorliegende Beitrag aufgreifen und zum einen danach fragen, welche Stellung vor allem die Bildnismedaille im Kontext der anderen seriell herzustellenden Medien zu Beginn der Frühen Neuzeit – also Holzschnitt und Kupferstich – besaß. Und zum anderen soll danach gefragt werden, auf welche Weise die damaligen Bildmedien dazu genutzt wurden, um gezielte Medienkampagnen zur Durchsetzung bestimmter politischer, dynastischer oder konfessioneller Vorstellungen und Ansprüche in Gang zu setzen. Das im Folgenden vorgestellte Material wird sich auf die Gattung und Funktion des Herrscherbildnisses konzentrieren, da sich hier für die Zeit um 1500 am besten die künstlerischen und konzeptionellen Transferprozesse zwischen den verschiedenen Medien, sei es die Medaille, das Gemälde, der Holzschnitt oder der Kupferstich, beobachten lassen. Durch vergleichende Blicke auf die mediale Inszenierung des Franz von Sickingen sollen zwischendurch immer wieder auch die Bezugnahmen eines der mächtigsten Ritter des damaligen Reichs auf die Bildpolitik des fürstlichen Establishments sichtbar gemacht werden. Inwiefern die Künstler mit Hilfe der neuen druckgraphischen Medien dabei auch die Normen des Herrscherporträts veränderten und etwa auf neuartige Weise die traditionsreichen Formen der Bildnismedaille oder der Porträtbüste entweder auf der zweidimensionalen Bildoberfläche zu synthetisieren versuchten oder die Bildnismedaille in ein anderes Material – etwa Holz oder Stein – transferierten oder aber den innovativen Typus der gedruckten Chronistik oder des vervielfältigten Flugblattes für eine Modifizierung des etablierten Typus des Fürstenporträts zu nutzen wussten, ist bislang kaum von der Forschung thematisiert worden.7 Dabei ist es höchst interessant und 7
Zur Rezeption der Medaille in den Bildkünsten siehe zuletzt Cupperi/Hirsch/Kranz/ Pfisterer (wie Anm. 6), darin die Beiträge von Ulrich Pfisterer (»Wettstreit der Köpfe und Künste. Repräsentation, Reproduktion und das neue Bildmedium der Medaille nördlich der Alpen«, S. 15–27, sowie »Medaille und Bildniskünste. Kontexte und Konkurrenzen eines neuen Mediums«, S. 93–96) und Martin Hirsch (»Weite Perspektiven. Die Beziehung von Medaille und Kleinplastik«, S. 47–57). Siehe hierzu auch die Überlegungen von Ruth Hansmann: Zwischen Medaille, Grafik und Malerei. Zu kulturellen Transferprozessen in höfischen Porträtkonzepten. In: Mitteilungen der Residenzen-
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aufschlussreich, einerseits zu beobachten, welche ästhetischen Konsequenzen die spezifischen Eigenschaften und Techniken der verschiedenen Medien für die künstlerische Form des Fürstenporträts hatten, und zum anderen zu analysieren, welche Auswirkungen auf die inhaltliche Aussage und höfischrepräsentative Funktion der Herrscherbildnisse beispielsweise die Rezeption der Medaille oder der plastischen Bildnisbüste in den druckgraphischen Porträts besaßen oder wie sich die Übertragung druckgraphischer Rationalisierungsverfahren auf die Malerei oder neuartige Kombinationen von Bild und Text auswirkten. Bei meinen Überlegungen möchte ich von der These ausgehen, dass die druckgraphischen Medien des Kupferstichs und Holzschnitts innerhalb der soeben skizzierten relativ eng begrenzten Rezipientenkreise nicht nur für eine im Vergleich zum Gemälde oder zur Bildnismedaille größere Verbreitung und Reichweite des Fürstenporträts sorgten und neue, mit dem Gemälde, der Medaille oder der plastischen Bildnisbüste konkurrierende Porträtformen und Gebrauchskontexte ermöglichten, sondern dass sie auch (vor allem im Holzschnittbild) eine bestimmte Form der Popularisierung des Fürsten in seiner bildlichen Darstellung unterstützten. Wenn ich hier den Begriff der Popularisierung verwende, dann sicherlich nicht im modernen Sinn einer Massenkultur, was weder die politischen Verhältnisse noch die weiter oben genannten druckgraphischen Auflagenhöhen von 200 bis 500 Exemplaren, wie sie beispielsweise für Dürers Kupferstichbildnisse von Kardinal Albrecht von Brandenburg überliefert sind, oder von immerhin bis zu 1.500 Exemplaren, wie sie für Holzschnitte, so etwa Dürers Holzschnittporträt von Kaiser Maximilian I., möglich waren, als sinnvoll erscheinen lassen. kommission der Akademie der Wissenschaften zu Göttingen, Sonderheft 12: Atelier. Vorbild, Austausch, Konkurrenz. Höfe und Residenzen in der gegenseitigen Wahrnehmung, hg. von Anna Paulina Orlowska, Werner Paravicini u. Jörg Wettlaufer, Kiel 2009, S. 61–82. Hansmann führt dabei Überlegungen fort, die Wolfgang Schmid und Hermann Maué einige Jahre zuvor in Aufsätzen äußerten: Wolfgang Schmid, Denkmäler auf Papier. Zu Dürers Kupferstichporträts der Jahre 1519–1526. In: Das dargestellte Ich. Studien zu Selbstzeugnissen des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit, hg. v. Klaus Arnold, Sabine Schmolinsky u. Urs Martin Zahnd, Bochum 1999, S. 232–261; Hermann Maué: Medaillen auf Albrecht von Brandenburg. In: Kontinuität und Zäsur. Ernst von Wettin und Albrecht von Brandenburg, hg. v. Andreas Tacke, Halle/Saale 2003, S. 350–380. Siehe darüber hinaus Jeffrey Chipps Smith: Medals and the Rise of German Portrait Sculpture. In: Die Renaissance-Medaille in Italien und Deutschland, hg. v. Georg Satzinger (Tholos. Kunsthistorische Studien, Bd. 1), Münster 2004, S. 271–299; Annette Kranz / Achim Riether: Kopf oder Zahl. Vervielfachte Vielfalt des Porträts in Medaille und Druckgraphik. In: Dürer – Cranach – Holbein. Die Entdeckung des Menschen. Das deutsche Porträt um 1500, hg. von Sabine Haag u. Bodo Brinkmann, München 2011, S. 213–243; Thomas Schauerte: Dürer – das ferne Genie. Eine Biografie, Stuttgart 2012, S. 227.
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Im Rahmen dieses insgesamt überschaubaren Rezipientenkreises vermochte das vervielfältigte Herrscherporträt die bildliche Präsenz eines Fürsten, die Autorität seines Amtes oder gar seiner Persönlichkeit und auch das verehrende Andenken und die religiöse Memoria allerdings beträchtlich zu steigern und darüber schließlich auch eine neue Form fürstlicher Popularität innerhalb der bildrezipierenden Eliten zu bewirken. Nach meiner Beobachtung ereignet sich dieser Vorgang einer Steigerung fürstlicher Popularität durch das druckgraphische Bildnis vor allem im Medium des Holzschnitts und ist nicht ohne die Entwicklung der Druckgraphik zu einem sowohl humanistisch-historiographischen8 als auch quasi journalistischen (Chronistik, Flugblätter) und schließlich auch propagandistischen (so bei der Kaiserwahl von 15199 oder in den reformatorischen Auseinandersetzungen10) Medium zu verstehen. Dabei bleiben die etablierten Medien des fürstlichen Porträts – Gemälde, Medaille, Büste – weiterhin die maßgeblichen Bezugsgrößen, doch wird ihr formaler Grundtypus in den Kupferstich- oder Holzschnittbildnissen durch die Integration von Elementen einer historiographischen oder quasi journalistischen Druckgraphik auch auf der formalen, gestalterischen Ebene bis zu einem gewissen Grad »popularisiert« oder – vorsichtiger formu8
Siehe hierzu u. a. Stephan Füssel: Die Bedeutung des Buchdrucks für die Verbreitung der Ideen des Renaissance-Humanismus. In: Das Buch im Wandel von Mittelalter zur Neuzeit, hg. v. Barbara Tiemann (Jahresgabe der Maximilian-Gesellschaft), Hamburg 1999, S. 121–162; ders., »Dem Drucker aber sage er Dank …« Zur wechselseitigen Bereicherung von Buchdruckerkunst und Humanismus. In: Artibus. Festschrift für Dieter Wuttke, Wiesbaden 1994, S. 167–178. 9 Siehe hierzu Rainer Wohlfeil, Graphische Bildnisse Karls V. im Dienste von Darstellung und Propaganda. In: Karl V. 1500–1558. Neue Perspektiven seiner Herrschaft in Europa und Übersee, hg. v. Alfred Kohler, Barbara Haider u. a., Wien 2002, S. 21–56. 10 Zu einem exemplarischen, wegen der Exponiertheit des betroffenen Fürsten zugleich aber auch wieder besonderen Fallbeispiel siehe Matthias Müller: Bilder als Waffen nach der Schlacht. Die Stilisierung Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen zur imago pietatis und die Fortsetzung des Schmalkaldischen Krieges in der konfessionellen Bildpropaganda. In: Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, hg. v. Oliver Auge, Felix Biermann, Matthias Müller u. Dirk Schultze (Mittelalter-Forschungen, hg. von Bernd Schneidmüller u. Stefan Weinfurter, Bd. 20), Ostfildern 2008, S. 311–339. Siehe hierzu auch Naïma Ghermani: Le Prince et son portrait. Incarner le pouvoir dans l’Allemagne du XVIe siècle, Rennes 2009, S. 94–98, sowie Carl C. Christensen: Princes and Propaganda. Electoral Saxon Art of the Reformation (Sixteenth Century Essays & Studies 20), Kirksville (Miss.) 1992. Siehe darüber hinaus: Druckgraphiken Lucas Cranachs d. Ä. im Dienst von Macht und Glauben, Bestandskatalog der Druckgraphiken Lucas Cranachs d. Ä. anläßlich der Ausstellung: »Im Dienst von Macht und Glauben« in der Lutherhalle Wittenberg, hg. von der Stiftung Luthergedenkstätten in Sachsen-Anhalt, bearb. von Jutta Strehle u. Armin Kunz, Wittenberg 1998.
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liert – dem strengen Korsett höfischer Porträtnormen, so wie sie sich damals auch bereits im Alten Reich durchgesetzt hatten, ein wenig entzogen. Ein anschauliches Beispiel hierfür ist das von Hans Brosamer nach einer Vorlage von Lucas Cranach d. Ä. kurz nach 1534 in Holz geschnittene Porträt des Herzogs Georg von Sachsen, genannt der Bärtige (Abb. 4), zu dessen Markenzeichen ab 1534 ein imposanter Vollbart wurde, da der Herzog nach dem Tod seiner Gemahlin beschlossen hatte, sich als Zeichen der Trauer nie mehr zu rasieren.11 Das davon kündende Holzschnittbildnis sollte zu einem begehrten Sammlerstück werden und neben der schwarz-weißen Fassung auch in einer aufwendig kolorierten Variante vertrieben werden.
Abb. 4: Lucas Cranach d. Ä.: Herzog Georg von Sachsen, gen. der Bärtige (kurz nach 1534, kolorierter Holzschnitt von Hans Brosamer)
Als ein weiteres, ebenfalls sehr anschauliches Beispiel soll das eindrückliche Holzschnittbildnis Johann Friedrichs I. von Sachsen genannt werden, das 1547 nach der Niederlage und Entmachtung des sächsischen Kurfürsten von 11 Zur Biographie Herzog Georgs siehe Siegfried Hoyer: Georg von Sachsen – Reformer und Bewahrer des alten Glaubens. In: Europäische Herrscher, hg. v. Günter Vogel, Weimar 1988, S. 95–105; Stefan Oehmig: Herzog Georg von Sachsen. In: Kaiser – König – Kardinal: Deutsche Fürsten 1500–1800, hg. v. Rolf Straubel u. Ulman Weiss, Leipzig 1991, S. 36–46.
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Michael Riebestein geschaffen wurde und den Kurfürsten mit der in der Schlacht bei Mühlberg erhaltenen blutroten Gesichtsnarbe als protestantischen Märtyrer vorführt (Abb. 5).12 Auch dieses Bildnis war – zusammen mit den zugehörigen Bildnissen Kaiser Karls V. und König Ferdinands I.,13 die Johann Friedrich I. durch ihre triptychonartige Anordnung rechts und links und ihre Kopfdrehung sprichwörtlich in ihrer Mitte festhalten, wodurch die Szenerie in kaum zufälliger Weise dem Typus der Verspottung Christi durch die Kriegsknechte angeglichen wird – offensichtlich als Sammelbild konzipiert. Darauf deutet im Übrigen auch das Vorhandensein in der ursprünglich herzoglich-sächsischen Flugblattsammlung des Kupferstichkabinetts in den Sammlungen auf Schloss Friedenstein in Gotha hin.14
12 Kolorierter Holzschnitt, 40,8 × 29,1 cm, Gotha, Sammlungen Stiftung Schloss Friedenstein, Inv.-Nr. G 15,54. Siehe hierzu Max Geisberg: The German Single-Leaf Woodcut 1500–1550, New York 1974, G. 944; Kunst der Reformationszeit, hg. v. den Staatlichen Museen zu Berlin, Ausst.-Kat. der Staatlichen Museen zu Berlin, Berlin 1983, S. 396, Kat.-Nr. F 28; Michael Enterlein / Franz Nagel: Katalog der Darstellungen Johann Friedrichs des Großmütigen. In: Verlust und Gewinn. Johann Friedrich I., Kurfürst von Sachsen, hg. v. Joachim Bauer u. Birgitt Hellmann (Bausteine zur Jenaer Stadtgeschichte, Bd. 8), Weimar 2003, S. 202–203, Kat.-Nr. 3.22; siehe zuletzt auch in: Bild und Botschaft. Cranach im Dienst von Hof und Reformation, hg. v. der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha und der Museumslandschaft Hessen-Kassel, Ausst.Kat. Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Herzogliches Museum; Museumslandschaft Hessen Kassel, Gemäldegalerie Alte Meister, Schloss Wilhelmshöhe, Heidelberg 2015, S. 312, Kat.-Nr. 118. Zur Deutung des Holzschnitts siehe die Überlegungen des Verfassers andernorts: Matthias Müller: Bilder als Waffen nach der Schlacht. Die Stilisierung Kurfürst Johann Friedrichs von Sachsen zur imago pietatis und die Fortsetzung des Schmalkaldischen Krieges in der konfessionellen Bildpropaganda. In: Bereit zum Konflikt. Strategien und Medien der Konflikterzeugung und Konfliktbewältigung im europäischen Mittelalter, hg. v. Oliver Auge, Felix Biermann, Matthias Müller u. a. (Mittelalter-Forschungen, Bd. 20), Ostfildern 2008, S. 311–339, hier: S. 327–329. 13 Kolorierte Holzschnitte, 40,5 × 28,8 cm (Karl V.) bzw. 34,6 × 25,1 cm (Ferdinand I.), Gotha, Sammlungen Stiftung Schloss Friedenstein, Inv.-Nr. G 15,4 (Karl V.) bzw. G 15,24 (Ferdinand I.); siehe zuletzt Ausst.-Kat. Heidelberg 2015 (wie Anm. 12), 312, Kat.-Nr. 117 u. 119. 14 Zum Sammlungsbestand siehe den in mehrjähriger Forschungsarbeit der Projektgruppe Reformationsgeschichte erstellten und jüngst erschienenen Bestandskatalog: Bernd Schäfer / Ulrike Eydinger / Matthias Rekow: Fliegende Blätter. Die Sammlung der Einblattholzschnitte des 15. und 16. Jahrhunderts der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, hrsg. v. der Stiftung Schloss Friedenstein Gotha, Stuttgart 2016.
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Abb. 5: Michael Riebestein: Bildnis des entmachteten ehemaligen Kurfürsten Johann Friedrich I. von Sachsen (1547, kolorierter Holzschnitt)
Zusätzlich zum allgemeinen Bedürfnis nach einer größeren medialen Präsenz bzw. Verfügbarkeit der Fürsten in Form von seriell produzierten und dann in Bücher einzuklebenden Bildnissen15 – sei es auf eigenen Wunsch des Fürsten oder aufgrund einer »allgemeinen« Nachfrage – scheint von Anfang an der Propagandanutzen des druckgraphischen Herrscherporträts eine wesentliche Triebfeder gewesen zu sein. Hierfür sind sowohl die in unterschiedlicher Weise gestalteten und verwendeten Porträtserien für Herzog Christoph I. von Baden (im Kontext seiner Bemühungen um den Zusammenhalt des Landes) als auch für die sächsischen Kurfürsten (im Kontext der Reformation) wichtige Belege. Bei allen diesen Serien sollte die Medaille eine wichtige inhaltliche wie formale Bezugsgröße bilden. Indem die druckgraphischen Herrscherbildnisse formal auf die Porträtmedaille reagierten und 15 Ein prominentes Beispiel hierfür sind die von Dürer entworfenen Kupferstichbildnisse Kardinals Albrecht von Brandenburg, die zunächst dafür gedacht waren, auf die Rückseite des Titelblatts des Halleschen Heiltumbuchs geklebt (»Kleiner Kardinal«) oder wie ein Titelkupfer in die Prunkhandschrift »Missale Hallense« eingefügt zu werden (»Großer Kardinal«), um dann auch als Bildnisgeschenke an befreundete Personen zu dienen. Hierzu Schmid (wie Anm. 7), S. 224; Hansmann (wie Anm. 7), S. 70, S. 74; Schauerte (wie Anm. 7).
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bestimmte Gestaltungselemente übernahmen, partizipierten sie bis zu einem gewissen Grad weiterhin an der Autorität und Dignität des in Erz gegossenen und damit eine antike Tradition aktualisierenden Medaillenbildnisses. Dieser Vorgang soll im Folgenden anhand einer Porträtserie des Markgrafen Christoph I. von Baden exemplarisch untersucht werden. Während die druckgraphischen Serien für die sächsischen Kurfürsten und Herzöge weithin bekannt sind,16 fanden die Bemühungen des badischen Markgrafen Christophs I. um sein druckgraphisch erzeugtes Porträt bislang wenig Beachtung. Dabei ist Hans Baldung Griens in Holz geschnittenes Bildnis des 58jährigen badischen Markgrafen17 (Abb. 6) für unser Thema besonders aufschlussreich, zeigt es doch eindrucksvoll den Versuch, den Typus des gemalten Porträts, der Bildnisbüste und der Porträtmedaille auf der Fläche eines Holzschnitts zu verbinden. Nach Ausweis der am oberen Bildrand zentral angeordneten Jahreszahl 1511 entstanden, gehört es zu den frühesten Fürstenbildnissen, die im Medium der Druckgraphik ausgeführt wurden.18
16 Siehe hierzu zuletzt Müller (wie Anm. 1). 17 Hans Baldung Grien: Markgraf Christoph I. von Baden (1511, Holzschnitt, 18,1 × 11 cm, Staatliche Graphische Sammlungen München, Inv.-Nr.: 1926:49 D). 18 Holzschnitt, 18,1 × 11 cm, Staatliche Graphische Sammlungen München, Inv.-Nr.: 1926:49 D. Zum Holzschnitt siehe Hans Baldung Grien, Ausst.-Kat. Staatliche Kunsthalle Karlsruhe, Karlsruhe 1959, Kat.-Nr. II H 81; Matthias Mende: Hans Baldung Grien. Das graphische Werk, Unterschneidheim 1978, S. 46, Nr. 28;. James Marrow u. a. (Hg.): The Illustrated Bartsch, Bd. 12, New York/Florenz 1981, S. 63; Spätmittelalter am Oberrhein, Ausst.-Kat. Kunsthalle Karlsruhe, Bd. 1: Maler und Werkstätten 1450–1525, Stuttgart 2001, Kat. Nr. 276, S. 450; Matthias Müller, in: Apelles am Fürstenhof. Facetten der Hofkunst um 1500 im Alten Reich, hg. v. Matthias Müller, Klaus Weschenfelder, Beate Böckem u. Ruth Hansmann, Berlin 2010, Kat. Nr. 1.1.05, S. 136 f.
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Abb. 6: Hans Baldung Grien: Markgraf Christoph I. von Baden (1511, Holzschnitt, 18,1 × 11 cm)
Frühere druckgraphische Bildnisse deutscher Herrscher sind diejenigen Kaiser Friedrichs III., der im übrigen ein Onkel Christophs I. war, von 1472/8019 sowie Lucas Cranachs Kupferstich des sächsischen Kurfürsten Friedrichs des Weisen (1509) und das 1510 ebenfalls in Kupfer gestochene Doppelbildnis Friedrichs des Weisen und seines Bruders Johann des Beständigen. Für Christoph I. von Baden dürfte bei dieser druckgraphischen Umsetzung seines Konterfeis der mediale Nutzen des in hoher Stückzahl zu verbreitenden Holzschnitts ausschlaggebend gewesen sein, der bezeichnenderweise in jenem Jahr 1511 hergestellt wurde, in dem der badische Markgraf um sein politisches Erbe und Überleben kämpfte. Den Anlass hierzu gaben die prekären politischen Umständen, unter denen der mit hohen kaiserlichen Privi19 Der Kupferstich wurde eingeklebt in: Livius, »Historiae Romanae Decades« (aus der Bibliothek des Hartmann Schedel), auf fol. 4v; um 1472/80 (Rom); Kupferstich, leicht koloriert, 60 × 70 cm (aufgeschlagen), Plattenmaß: 15,2 × 11,4 cm; Bayerische Staatsbibliothek München, Inv.-Nr.: 2°L.impr.c.n.mss. 39. Zum Kupferstich siehe zuletzt (mit weiterer Literatur) Beate Böckem, in: Matthias Müller / Klaus Weschenfelder / Beate Böckem / Ruth Hansmann (wie Anm. 17), Kat. Nr. 1.1.01., S. 131.
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legien versehene Markgraf in den Jahren um 1511 mit allen Mitteln versuchte, den Verlust der Einheit der Markgrafschaft und ihre Aufteilung in mehrere Linien zu verhindern.20 Bis zum endgültigen Scheitern Markgraf Christophs im Jahre 1515, das in seiner Entmündigung gipfelte, sollte dieser innerdynastische Konflikt nicht nur die badische Dynastie, sondern auch die mit ihr verbundenen Reichsfürstenfamilien und Städte sowie den Kaiser beschäftigen. Selbst ein Krieg war nicht ausgeschlossen. In dieser angespannten Situation unternahm Markgraf Christoph 1511 auch zwei Wallfahrten nach Rufach und Einsiedeln, auf denen er möglicherweise, wie der Historiker Konrad Krimm vermutet, ein Gelübde ablegte,21 mit dem wiederum ein anderer Auftrag an Hans Baldung Grien, die Ausführung der Karlsruher Votivtafel (Kunsthalle Karlsruhe), zusammengehangen haben könnte.22 Auf dieser gegen 1511 entstandenen Tafel verehrt die Markgrafenfamilie in scheinbarer Einträchtigkeit, die ausgerechnet den zweitgeborenen Sohn Philipp als alleinigen Erbfolger herausstellt und von den erbitterten Kämpfen des ältesten und des jüngsten Sohnes um ihr Erbe nichts zeigt, die Heilige Anna, Maria und das Christuskind und präsentiert Christoph I. zusammen mit seinem Wappen in vorderster Reihe als Regenten eines ungeteilten Landes und scheinbar unumstrittenes Oberhaupt des badischen Markgrafenhauses.23 In dieser Funktion und Würde wird Christoph I. auch in Baldung Griens zeitgleichem Holzschnitt (vgl. Abb. 6) präsentiert, der damit die politische Aussage der singulären, ursprünglich in einem Kirchenraum angebrachten gemalten Votivtafel im Medium des Holzschnitts, fokussiert auf die Person des Markgrafen, in den öffentlichen Raum der als Rezipienten in Frage kommenden kulturellen Eliten projiziert. Der Holzschnitt zeigt uns den Fürsten als Halbfigur und damit in der Tradition des antiken Büstenporträts. Den humanistisch inspirierten Antikenbezug verstärkt zusätzlich am unteren Bildrand der schwarze Streifen mit der Namensinschrift Christophs I., die hierdurch ansatzweise wie auf einer Inschriftentafel erscheint und damit zugleich wieder auf den Typus der antiken Bildnisbüste zurückverweist. Auf20 Konrad Krimm, Zur Deutung der Karlsruher Votivtafel von Hans Baldung Grien, in: Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins 138 (1990), S. 199–215, hier: S. 210–215. 21 Krimm (wie Anm.20), S. 215. 22 Eine ausführliche Analyse und Diskussion des genealogischen und dynastisch-politischen Programms sowie der Rezeptionsgeschichte der Votivtafel findet sich bei Krimm (wie Anm. 20) S. 199–215. 23 Siehe hierzu neben Krimm (wie Anm.20) auch Matthias Müller, Die Heilige Sippe als dynastisches Rollenspiel. Familiäre Repräsentation in Bildkonzepten des späten Mittelalters. In: Die Familie in der Gesellschaft des Mittelalters, hg. v. Karl-Heinz Spieß (Vorträge und Forschungen, Bd. 71, hg. vom Konstanzer Arbeitskreis für mittelalterliche Geschichte), Ostfildern 2009, S. 17–49, hier: S. 23–26.
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fällig ist die auf den ersten Blick unentschieden zwischen Profil- und Dreiviertelansicht verharrende Position des Kopfes. Sie dürfte dem künstlerisch schwierigen Bemühen geschuldet sein, den badischen Markgrafen einerseits mit der Würde des im Profil gezeigten antiken Medaillenporträts auszustatten und andererseits durch die Rezeption des in der Malerei etablierten Dreiviertelporträts zugleich den rigiden Schematismus der Medaillenbildnisse zu vermeiden. Damit ähnelt das Markgrafenbildnis in dieser Hinsicht auffallend dem wenig älteren Bildniskonzept für König bzw. Kaiser Maximilian I., so wie es in den 1490er Jahren Bernhard Strigel als offiziellen Porträttypus Maximilians I. entworfen hatte (Abb. 7).24 Insgesamt erweist sich Baldung Griens Holzschnittbildnis Christophs I. damit als sehr früher und ambitionierter druckgraphischer Versuch, die charakteristischen Darstellungsmodi von gleich drei traditionellen Porträtmedien – dem Gemälde, der Büste und der Medaille – in einer einzigen Bildform miteinander zu kombinieren und allesamt auf einer einzigen, gemeinsamen Bildoberfläche in Erscheinung treten zu lassen.
Abb. 7: Bernhard Strigel: Bildnis Kaiser Maximilians I. (1507) 24 Siehe hierzu Thomas Schauerte, in: Müller/Weschenfelder/Böckem/Hansmann (wie Anm. 18), Kat.-Nr. 1.1.03, S. 133 f.
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Dieser Versuch ist umso bemerkenswerter, wenn man bedenkt, dass ein ähnliches druckgraphisches Konzept erst acht Jahre später, 1519, von Albrecht Dürer in seinem Kupferstichbildnis Kardinal Albrechts von Brandenburg (»Kleiner Kardinal«) (vgl. Abb. 3) realisiert wurde, dann allerdings mit noch höheren künstlerischen und konzeptionellen Ansprüchen. Diese waren – wie zuletzt Ruth Hansmann dargelegt hat25 – in besonderer Weise darauf ausgerichtet, mit der Ergänzung des Porträts durch Wappen, Titeln und Devise die charakteristischen Gestaltungsmittel und Informationen einer Bildnismedaille zu imitieren und mit dieser neuartigen Darstellungsform das Kupferstichbildnis in einen Paragone mit dem Medaillenbildnis treten zu lassen. Damit unterscheidet sich dieses Porträtkonzept auch wesentlich von den tradierten gemalten Bildnistafeln, die – wie das Bildnis des burgundischen Herzogs Karls des Kühnen von Rogier van der Weyden (1444–64, Berlin, Gemäldegalerie) oder das Bildnis des sächsischen Herzogs Johann des Beständigen von Lucas Cranach (1509, London, National Gallery) – auf der Rückseite der Porträttafel das Wappen des Porträtierten tragen.26 Die These vom Wettstreit zwischen dem tradierten Medium der Medaille und dem neuen, innovativen Medium des druckgraphischen Bildnisses erscheint auch deshalb plausibel, da erst ein Jahr zuvor, 1518, auf dem Augsburger Reichstag die anwesenden Fürsten und ihre Berater in einer für das Alte Reich vollkommen neuen Größenordnung bei dem Medailleur Hans Schwarz Bildnismedaillen in Auftrag gegeben hatten, auf die nun Dürer seinerseits mit seinen beiden an der Medaille orientierten Kupferstichbildnissen Kardinal Albrechts (auf den »Kleinen Kardinal« von 1519, vgl. Abb. 3, folgte 1523 noch der modifizierte »Große Kardinal«) reagierte.27 Im Falle von Dü25 Hansmann (wie Anm. 7). Siehe hierzu auch Jeffrey Chipps Smith: Medals and the Rise of German Portrait Sculpture (wie Anm. 7). 26 Zur Verbindung von Porträt und Wappen siehe Hans Belting, Wappen und Porträt. Zwei Medien des Körpers. In: Ders., Bild-Anthropologie. Entwürfe für eine Bildwissenschaft, München 2001, S. 115–142; Ders., Wappen und Porträt: zwei Medien des Körpers. In: Das Porträt vor der Erfindung des Porträts, hg. v. Martin Büchsel u. Peter Schmidt, Mainz 2003, S. 89–100. Erste Überlegungen hierzu finden sich bereits in Hans Belting / Christiane Kruse: Die Erfindung des Gemäldes. Das erste Jahrhundert der niederländischen Malerei, München 1994, S. 46. 27 Siehe hierzu Peter Volz: Conrad Peutinger und das Entstehen der deutschen Medaillensitte zu Augsburg 1518, Diss. Heidelberg 1972; Rosemarie Aulinger: Das Bild des Reichstages im 16. Jahrhundert. Beiträge zu einer typologischen Analyse schriftlicher und bildlicher Quellen (Schriftenreihe der Historischen Kommission bei der Bayerischen Akademie der Wissenschaften, Bd. 18), Göttingen 1980. Zu den Voraussetzungen dieses expansiven Medaillengebrauchs auf dem Augsburger Reichstag von 1518 siehe Annette Kranz: Zur Portraitmedaille in Augsburg im 16. Jahrhundert, in: Satzinger (wie Anm. 25), S. 301–342. Zu den Kardinalsbildnissen siehe darüber hinaus Horst Reber: Die Bildnisse des Kardinals Albrecht von Brandenburg. In: Albrecht von Bran-
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rers »Kleinem Kardinal« (vgl. Abb. 3) wird die Verbindung zwischen dem Kupferstichbildnis und der Bildnismedaille auch dadurch evident, dass Dürer sich offensichtlich direkt auf die 1518 von Hans Schwarz für Albrecht von Brandenburg angefertigte Bildnismedaille bezog. Von dieser übernahm er nicht nur die heraldischen Elemente und die Titulatur, sondern auch das abgewandelte, die Authentizität des Bildnisses proklamierende Vergil-Zitat, das Hans Schwarz in Ergänzung zum Bildnis des Kardinals auf die Vorderseite der Medaille gesetzt hatte.28 Diese wichtigen Beobachtungen der jüngeren Forschung möchte ich um zwei Aspekte ergänzen: Zum einen dürfte neben der Medaille und dem Gemälde ebenso die plastische Bildnisbüste ein wichtiges Referenzmedium sowohl für Baldung Griens Holzschnittbildnis Christophs I. als auch für Dürers Kupferstichbildnisse Albrechts von Brandenburg und Friedrichs des Weisen gewesen sein, worauf neben dem Halbfigurentypus nicht zuletzt die Inschriftentafel am unteren Bildrand hindeutet. Und zum anderen muss noch präziser als bisher geklärt werden, weshalb ausgerechnet die Druckgraphik und nicht auch die Malerei als Medium für die neuartige, synthetisierende Darstellung der drei wichtigsten Typen des Herrscherbildnisses in einem einzigen Bild ausgewählt wurde, möchte man nicht ausschließlich die mit der Medaille vergleichbare Multiplizierbarkeit und Mobilität der Druckgraphik als Begründung anführen. Für die angemessene Bewertung der Rezeption der Bildnisbüste erscheint mir über eine allgemeine Anleihe an vergleichbaren antiken oder renaissancezeitlichen italienischen Bildnisbüsten, wie z. B. Adriano Fiorentinos Büste des Giovanni Gioviano Pontano,29 hinaus in besonderer Weise die berühmte, 1498 ebenfalls von Fiorentino entworfene denburg. Kurfürst – Erzkanzler – Kardinal 1490–1545. Zum 500. Geburtstag eines deutschen Renaissancefürsten, hg. v. Berthold Roland, Mainz 1990, S. 83–98; Berthold Hinz, Des Kardinals Bildnisse – vor allem Dürers und Cranachs. In: Der Kardinal. Albrecht von Brandenburg. Renaissancefürst und Mäzen, hg. v. Andreas Tacke, Bd. 2, Regensburg 2006, S. 19–25. 28 Während das originale Vergil-Zitat lautete: »sic oculos, sic ille manus, sic ora ferebat« (Augen und Hände und Mund genauso trug auch er einst), werden bei den Bildnissen Albrechts von Brandenburg die »Hände« durch »Wangen« (GENAS) ersetzt, da die Hände nicht gezeigt werden: SIC ILLE GENES, OCVLOS, SIC ORA FEREBAT (Maué, wie Anm. 7, S. 351). 29 Zur Büste Pontanos siehe zuletzt Andrea Bayer, in: Gesichter der Renaissance. Meisterwerke italienischer Portrait-Kunst, hg. v. Keith Christiansen u. Stefan Weppelmann, München 2011, Kat.-Nr. 135, S. 314–317. Adriano Fiorentino und sein Auftraggeber, Giovanni Gioviano Pontano, haben diese Büste ihrerseits zum Gegenstand eines multimedialen Konzepts erhoben, bei dem das Büstenporträt Pontanos – ins Profil gewendet – sowohl in ein Münzbildnis (National Gallery of Art, Washington, D. C., Inv. 1957.14.699 a, b) als auch ein tafelbildartiges Porträtrelief (The Metropolitan Museum of Art, New York, Inv. 1991.21) transformiert wurde.
Als Ritter wie ein Fürst 133
Bronzebüste Kurfürst Friedrichs des Weisen (Abb. 8) ein wichtiges Vorbild zu sein.30 Wie auch Baldung Griens Holzschnitt des badischen Markgrafen Christophs I. oder Dürers Kupferstichbildnisse Kardinal Albrechts von Brandenburg (vgl. Abb. 3) oder Friedrichs des Weisen besitzt sie an ihrer Vorderseite unten, im Bereich der Basis, eine Inschriftentafel mit Namen und Rang des Dargestellten, die stärker als beispielsweise die erst nachträglich angebrachte Inschriftenleiste auf der Basis der Büste Pontanos als eigenständiges Objekt herausgearbeitet wurde.
Abb. 8: Adriano Fiorentino: Bronzebüste des sächsischen Kurfürsten Friedrich der Weise (1498, Höhe 62,4 cm)
An dieser Stelle ist ein erneuter Blick auf die bekannte Eisenradierung von Hieronymus Hopfer mit dem Bildnis Franz von Sickingens (vgl. Abb. 1) aufschlussreich.31 Denn vor dem Hintergrund des soeben Dargelegten wird mit einem Mal in aller Deutlichkeit der enorme Anspruch erkennbar, den diese Darstellung kennzeichnet. So besitzt das Bildnis alle Merkmale des von Hans Baldung Grien entworfenen Bildnisses für den Markgrafen Christoph I. von Baden (vgl. Abb. 6) oder des von Dürer 1523 für Kardinal Albrecht von Brandenburg entwickelten Kupferstichbildnisses (Abb. 9). Wie bei diesen Bild30 Zur Büste Friedrichs des Weisen siehe zuletzt Sven Hauschke, in: Matthias Müller / Klaus Weschenfelder / Beate Böckem / Ruth Hansmann (wie Anm. 18), Kat.-Nr. 1.1.02, S. 131–133; Andrea Bayer, in: Christiansen/Weppelmann (wie Anm. 29), Kat.Nr. 108, S. 267 f. 31 Zur Provenienz dieses druckgraphischen Bildnisses siehe die Angaben in Anm. 2.
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nissen werden auch im Bildnis Franz von Sickingens die Profildarstellung der Porträtmedaille mit der körperbetonenden Dreivierteldarstellung des Büstenporträts verbunden bzw. synthetisiert, woraus sich auch die merkwürdige Disproportionalität des Oberkörpers erklärt.
Abb. 9: Albrecht Dürer: Kardinal Albrecht von Brandenburg (»Der große Kardinal«, 1523, Kupferstich)
Abb. 10: Bildnismedaille auf Franz von Sickingen (1518, Umzeichnung)
Als Ritter wie ein Fürst 135
Für den Typus des profilsichtigen Medaillenporträts gibt es sogar ein direktes Vorbild einer Medaille auf Franz von Sickingen aus dem Jahr 1518, die hier in einer Umzeichnung abgebildet wird (Abb. 10). Auf ihr wird der Ritter mit recht ungezähmter, die ritterliche Kampfkraft anzeigender Lockenmähne präsentiert, wie sie auch Hieronymus Hopfer für seine Eisenradierung übernimmt. Angesichts dieser betont herrschaftlichen Inszenierung Franz von Sickingens durch Hieronymus Hopfer stellt sich einmal mehr die Frage nach dem konkreten historischen bzw. politischen Anlass der Eisenradierung und ihrer Datierung. Hier kann die Forschung bislang keine abschließende Antwort geben.32 Während die auf 1518 datierte Medaille mit großer Wahrscheinlichkeit nach der Aufhebung der gegen Franz von Sickingen wegen seiner Fehdezüge im Jahr 1515 verhängten Reichsacht und seines neuerlichen Bündnisses mit Kaiser Maximilian I. ausgegeben wurde (vgl. hierzu auch die Medaille, auf der Franz von Sickingen im Kniefall vor dem Kaiser dargestellt wird, Abb. 11),33 ist bei der Eisenradierung nicht mit Sicherheit zu sagen, ob sie noch zu Lebzeiten Franz von Sickingens oder posthum, nach seinem gewaltsamen Tod 1523, angefertigt worden ist.
Abb. 11: Meister des Triumphwagens Maximilians I.: Prunkmedaille auf die Versöhnung Kaiser Maximilians I. mit Franz von Sickingen (um 1518/19)
Beides ist möglich, wobei doch einiges dafür spricht, dass Hieronymus Hopfer das Bildnis bereits vor 1523 entwarf. Dann aber könnte der Anlass nicht nur die Aufhebung der kaiserlichen Acht und die Indienstnahme durch Kaiser Maximilian I. für dessen Krieg gegen Herzog Ulrich von Württemberg, der seinerseits wegen eines Mordes geächtet war, gewesen sein, sondern 32 Siehe hierzu Heinz (wie Anm. 2), mit Hinweisen auf die ältere Literatur. 33 Siehe hierzu Ritter! Tod! Teufel? (wie Anm. 2), S. 141 f., Kat. Nr. 2.16a.
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genauso gut eine für Franz von Sickingen enorm prestigeträchtige Aufwertung seines politischen und gesellschaftlichen Status’: die Ernennung zum kaiserlichen Rat, Kämmerling und Diener von Kaiser Karl V., die am 19. Oktober 1520 in Brüssel erfolgte.34 Ganz sicher war diese Auszeichnung Anlass für die auch materiell sehr kostbare Goldmedaille auf Franz von Sickingen, die der Nürnberger Goldschmied Joachim Deschler 1521 auf den damals noch mächtigsten, aber bald schon seine Machtansprüche überdehnenden und daher bis zum Tod bekämpften Ritter im Reich prägte und die hier in einer um 1550 nachgeprägten Version abgebildet wird (Abb. 12).35 Auf der Randumschrift der Reversseite sind die bereits erwähnten Funktionen Franz von Sickingens am kaiserlichen Hof aufgezählt: »FRANCISCVS . VON . SICKINGEN . KAISER KARL . DES . V . RATH . CHAMERER . VND . HAVBTMAN .«. Diese Funktionen wiederum dürften für das gegenüber der
ersten, 1518 geschaffenen Medaille deutlich veränderte Aussehen Franz von Sickingens verantwortlich sein. Denn während der Ritter seine Löwenmähne 1518 noch unverhüllt präsentierte, wird diese auf der Medaille von 1521 von einer Haube bedeckt, wie sie auch für die Bildnisse anderer fürstlicher Räte charakteristisch ist.36 Von Franz von Sickingen soll abschließend nochmals der Blick zurück auf die Bildnisse der Fürsten, Könige und Kardinäle und auf das Phänomen der Synthese der verschiedenen tradierten Bildnisformen von Büste, Gemälde und Medaille im neuen Medium der Druckgraphik gerichtet werden. Dass die Synthese aus Büste, Gemälde und Medaille ausgerechnet im Medium der Druckgraphik erprobt wurde und – zumindest bei Dürers Kupferstichbildnissen – offensichtlich eine Reaktion auf die seit dem Augsburger Reichstag von 1518 deutlich gewachsene Popularität der Medaillenbildnisse im Alten Reich darstellt, ist auch als künstlerischer Wettstreit der Medien im Sinne des Paragone zu begreifen, durch den die konzeptionelle und gestalterische Überlegenheit der zweidimensionalen Porträtform gegenüber dem dreidimensionalen Medaillenbildnis demonstriert werden sollte. Anders als ein gemaltes Bildnis konnte das druckgraphische Bildnis darüber hinaus einen ähnlich hohen Grad an Vervielfältigungsmöglichkeit und Mobilität für sich beanspruchen, wie er traditionellerweise als Vorzug der Medaille galt. Doch gewinnt das Argument eines künstlerischen Paragone erst dann die nötige gedankliche Schärfe, wenn wir uns zugleich vor Augen führen, dass 34 Siehe hierzu Wolfgang Breul, Sickingens Fehden, in: Ritter! Tod! Teufel? (wie Anm. 2), S. 59–66, hier: S. 61–64. 35 Siehe hierzu und zur Datierung Hans-Joachim Bechtoldt in: Ritter! Tod! Teufel? (wie Anm. 2), Kat. Nr. 2.16 b, S. 142–143. 36 Mit dieser Beobachtung dürfte das auf der Medaille von 1521 so untypische Aussehen Franz von Sickingens eine sinnvolle Erklärung finden.
Als Ritter wie ein Fürst 137
Abb. 12: Joachim Deschler: Porträtmedaille auf Franz von Sickingen (»Sickingen Medaille«, 1521/1550)
überhaupt erst der mediale Sonderstatus des druckgraphischen Herrscherbildnisses solche künstlerischen Experimente zuließ. Der Sonderstatus ergab sich einerseits durch die besondere Materialität und Ästhetik des druckgraphischen Bildnisses, das sich dadurch nicht nahtlos in die tradierten und dadurch auch legitimierten Medien des Herrscherporträts – wie Gemälde, Büste oder Medaille – integrierte, und andererseits durch die neuartige Verwendung als illustrative Beigabe zu gedruckten Büchern.37 Dieser von tradierten Funktionen und protokollarischen Rücksichten relativ unabhängige Status bildete, so mein Eindruck, eine Grundvoraussetzung, um die vorhandenen älteren Bildnistypen und -medien in einer einzigen, druckgraphisch reproduzierbaren Bildnisform zu synthetisieren und damit gleichzeitig auch ihre medienspezifischen Grenzen aufzuheben bzw. neu zu definieren.
37 Zu dieser Verwendung siehe Peter Schmidt: Gedruckte Bilder in handgeschriebenen Büchern. Zum Gebrauch von Druckgraphik im 15. Jahrhundert (pictura et poesis 16), Köln/Weimar/Wien 2003.
andreas tacKe
Zwei Seiten einer Medaille Verlierer und Gewinner auf dem Kunstmarkt der Reformationszeit
I
mmer wieder haben im Laufe der europäischen Geschichte radikale gesellschaftliche Umbruchprozesse auch die Künste vereinnahmt. Welche Auswirkungen hatte nun die Reformation auf den Kunstmarkt? Alleine der vielerorts aufflammende Bildersturm böte reichlich Material, das Thema auszuloten. Ebenso könnten einzelne Künstlerschicksale im Bauernkrieg wichtige Erkenntnisse liefern, wie jenes von Tilmann Riemenschneider (um 1460–1531), der im Sommer 1525 in den Strudel des Würzburger Bauernaufstandes hineingerissen wurde, fortan von kirchlicher und kommunaler Seite keine nennenswerten Aufträge mehr in der Bischofsstadt erhielt und damit seine (vermeintliche?) Parteinahme für die Bauern in seinen letzten Lebensjahren mit dem ökonomischen Niedergang seines zuvor florierenden Großbetriebes bezahlte, oder jenes des Malers Jörg Ratgeb (1470/80–1526), der seine wiederum quellenmäßig belegte aktive Teilnahme an dem Bauernaufstand mit dem Leben büßte. Er wurde des Hochverrats angeklagt und 1526 hingerichtet. Doch diese Einzelschicksale wie auch der Bildersturm selbst sind trotz ihrer Dramatik nicht vergleichbar mit den langanhaltenden strukturellen Veränderungen, die folgen sollten. Am Ende der Entwicklung findet man beispielsweise in der calvinistischen Schweiz eine bilderarme, um nicht zu sagen bilderfeindliche Kirche vor, vergleichbar jener in den nördlichen Provinzen der Niederlande. Aus der Perspektive derjenigen, die diese Entwicklung beförderten, ist das jedoch bei der Kunstbilanz nicht in der Spalte des Solls, sondern auf der Haben-Seite zu verbuchen. Es kommt auch aus der kunstwissenschaftlichen Perspektive darauf an, wer Buchhalter bei der Aufstellung der Bilanz ist. Denn in Holland formiert sich der Kunstmarkt unter antikatholischen Vorzeichen neu, und am Ende steht eine Blüte der Bildenden Künste, so dass man vom 17. Jahrhundert als dem »Goldenen Jahrhundert«
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spricht. In den katholischen südlichen Provinzen der Niederlande, etwa dem heutigen Belgien, wie in den katholisch gebliebenen deutschen Gebieten entwickelten die Künste in der Zeit der sogenannten »Gegenreformation« eine Pracht, die alles zuvor Gekannte in den Schatten stellt. Man muss also aus der Perspektive der Kunst und des Künstlers bei der Frage nach möglichen Implikationen der Reformation sowohl zeitlich wie räumlich differenzieren; hier soll eine Konzentration auf die ersten Reformationsjahrzehnte sowie weitgehend auf den deutschen Raum erfolgen. Die Antwort fällt für diese Zeit und für dieses Gebiet unterschiedlich aus, denn sie ist abhängig davon, ob ich einen Künstler beleuchte, der auf der Verlierer- oder aber auf der Gewinnerseite stand. Der Nürnberger Bildhauer Veit Stoß (um 1447–1533) hätte einen vermutlich 1525 bei der Frage, wie denn die Geschäfte so stehen, der Werkstatt verwiesen – denn sie standen für ihn schlecht –, während Lucas Cranach der Ältere (1472–1553) bei der gleichen Frage Zufriedenheit ausgestrahlt hätte, denn es lief bei ihm in Wittenberg besser als je zuvor. Bevor dies zu belegen ist, muss allgemein festgestellt werden, dass es zu den Klagen der Künstler wenig Forschung gibt; wie ja auch allgemein die Frage nach den negativen Implikationen der Reformation – von der polarisierenden Darstellung im Nationalstaatenbildungsprozess einmal abgesehen – eine erstaunlich wenig beantwortete ist. Dabei ist bei den Künstlerklagen die individuelle bzw. topische (wie »Klagen gehört zum Geschäft«) zu unterscheiden von jener, die durch tiefgreifende Ereignisse – wie die Reformation –, also durch Wendezeiten bedingt ist. Der Nürnberger Bildhauer Veit Stoß hatte nämlich objektive Gründe zu klagen, denn ein großformatiger Schnitzaltar blieb beim Übergang von der alten zur neuen Lehre weitgehend unbezahlt: Am 13. Juli 1520 hatte er mit dem Nürnberger Karmeliterkloster einen Vertrag geschlossen, der die Herstellung eines großen Schnitzaltares für dessen Kirche beinhaltete. Er wird nach seinem heutigen Aufstellungsort »Bamberger Altar« genannt. Noch 1520 begann der Bildschnitzer mit den Arbeiten an dem bestellten Marienretabel. Der vereinbarte Lohn sollte 400 rheinische Gulden betragen, und die Auszahlung sollte in jährlichen Raten zu 50 Gulden erfolgen, bis die ganze Summe beglichen war. Nach drei Jahren waren die Arbeiten 1523 termingerecht abgeschlossen und das Retabel in der Karmeliterkirche aufgestellt. Zwei Jahre später änderte sich die Situation in Nürnberg durch die Ausbreitung der Reformation; auf die Einzelheiten kann hier nicht eingegangen werden. Wichtig ist, dass das Karmeliterkloster am 19. Mai 1525 vom Nürnberger Rat aufgelöst wurde. Zu diesem Zeitpunkt fehlten aber von dem vertraglich ausgehandelten Preis noch 242 Gulden. Es folgten langwierige Auseinandersetzungen, bei denen Veit Stoß versuchte, an sein Geld zu kommen. Er
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wandte sich hilfesuchend an den Rat der Stadt Nürnberg, der ihm jedoch erstaunlicherweise vorschlug, auf den bereits gezahlten Betrag zu verzichten, ihn also zurückzuzahlen, das Werk zurückzunehmen und es anderweitig zu veräußern. Ein Ansinnen, welches der Künstler ablehnte. Selbstredend, waren doch die Verkaufschancen für einen großformatigen Marienaltar mit einer Höhe von dreieinhalb Metern und im geöffneten Zustand einer Gesamtbreite von über fünf Metern in den angebrochenen Zeiten gleich Null gewesen. Als der Bildhauer 1533 starb, war noch immer keine Einigung über den ausstehenden Betrag erreicht. Erst seine Erben konnten 1543 eine Lösung herbeiführen und den Altar nach Bamberg verkaufen; im dortigen Dom ist er heute zu bewundern. Der Altar wechselte also von einer lutherisch gewordenen in eine katholisch gebliebene Stadt. Welchen Erlös die Erben aus dem Verkauf noch erzielen konnten, verraten die Quellen nicht. Der berühmte Nürnberger Bildhauer Veit Stoß hatte also allen Grund zu klagen, die Auswirkungen der Reformation hatten ihm finanziell massiv geschadet. Er stand damit nicht allein. Die Klagen der Künstler sind belegt durch Eingaben an die Obrigkeit und verbreiteten sich über das moderne Massenmedium des Flugblattes: Der Nürnberger Maler Hans Sebald Beham (1500–1550) und Hans Sachs (1494–1576) verfertigten um 1524 das Flugblatt »Ein neuwer Spruch, wie die Geystlichkeit und etlich handwerker über den Luther clagen«. In Bild und Wort wird darin den negativen Implikationen der Reformation Ausdruck verliehen: Die Verlierer der Reformation – Kleriker, Künstler und Handwerker – klagen vor dem Gericht Christi Luther an. Nach ihrer Meinung schmälere seine neue Lehre ihre Einkünfte. Es beschweren sich unter der Leitung eines Prälaten mit Schriftrolle ein Messpfaffe mit Kelch, ein Maler mit Malstock und Malerwappen, ein Glockengießer usw. sowie – im Text erwähnt – die Organisten, Goldschläger, Illuminatoren, Goldschmiede, Bildschnitzer, Glasmaler, Paramentensticker, Paternoster- und Kerzenmacher. Luther tritt mit einem Gelehrten sowie mit Karsthans auf. Dieser, hier mit Dreschflegel dargestellt, ist die Verkörperung des »Gemeinen Mannes« und der einfachen Leute. Der Reformator wirft den Beschwerdeführern »Gleisserei«, also Heuchelei vor. Christus fällt sein Urteil zugunsten Luthers und will, dass das Evangelium »rain und pur« verkündet werde. Im selben Jahr, wo in Nürnberg Veit Stoß die Auswirkungen der Reformation in existenzbedrohender Art und Weise zu spüren bekam, klagten aus dem gleichen Grund auch in Straßburg die Künstler. Am 3. Februar 1525 wandten sich Maler und Bildhauer mit einer gemeinsamen Petitionsschrift an den Rat. Infolge des Bilderverbotes sei es zu einem Rückgang an Aufträgen gekommen. Die Künstler begrüßen in der Supplikation grundsätzlich die Einführung der Reformation, äußern aber gleichzeitig
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Abb. 1: Hans Sebald Beham und Hans Sachs (Flugblatt): »Ein neuwer Spruch, wie die Geystlichkeit und etlich handwerker über den Luther clagen«, um 1524; Holzschnitt, 26,1 × 15 cm
Zwei Seiten einer Medaille 143
Abb. 2: Georg Pencz und Hans Sachs (Flugblatt): »Clagred der Neün Muse oder künst vber Teütschlandt«, 1535; Holzschnitt, 28,4 × 17,2 cm
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Abb. 3: Peter Flötner (Flugblatt): Klage auf den verarmten Kunsthandwerker; Holzschnitt, 27,4 × 19 cm
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die Befürchtung, dass sie nun wegen der ausbleibenden Aufträge kein Einkommen mehr hätten und zu Bettlern würden. Da sie kein anderes Handwerk gelernt hätten, bitten sie den Rat, er möge sie mit Stellen versehen. Hans Sachs, diesmal zusammen mit dem Nürnberger Maler Georg Pencz (um 1500–1550), abstrahiert die Situation mit dem Flugblatt »Clagred der Neün Muse oder künst vber Teütschlandt« von 1535. Sachs hat sich – so erzählt er in seinem unten abgedruckten Gedicht – in kalter Winterzeit während einer Hirschjagd im reifüberzogenen Wald verirrt. Dort begegnet er neun adeligen Frauengestalten von bleichem Antlitz, die nach heidnischer Art – also antikisch – gekleidet waren. Sie waren ganz abgemagert, und ihre Seidengewänder waren beschmutzt und zerrissen. Er erfährt von den Angesprochenen, dass sie die »Neun Musen« seien. Sie wollen Deutschland verlassen, da dort die Künste nicht mehr geschätzt, sondern vielmehr verachtet seien. Um nicht an Hunger zu sterben, wollen sich die »Neun Musen« wieder in ihre griechische Heimat begeben. Nach einigem Hin und Her entschwinden die »Neun Musen« und lassen den Dichterjäger mit seinen trüben Betrachtungen über die so in Unwert geratene Kunst zurück. Auch Peter Flötner (1490–1546), ebenfalls ein Nürnberger Künstler, visualisiert die Klage der Künstler. Sprichwörtlich steht bei ihm der Künstler als armes Schwein da; unten sieht man Gerätschaften, die zur Ausübung der Künste gebraucht werden bzw. wurden. Der Text verrät, dass der Künstler gehofft hatte, mit seinen Fertigkeiten reich zu werden, doch nun sei sein Schicksal als Bettler besiegelt.
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Abb. 4: Peter Flötner (Flugblatt): »Steffan Goldschmidt«; Holzschnitt, 31,9 × 18 cm
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Um nicht an den Bettelstab zu kommen, wechseln viele Künstler den Beruf. Auch das thematisiert die zeitgenössische Druckgraphik. Der uns schon bekannte Peter Flötner bringt ein mit 31 × 20 cm großformatiges Flugblatt »Veyt Pildhawer« bzw. als Variante »Steffan Goldschmidt« in Umlauf. Thema ist die berufliche Neuorientierung der Künstler in der Reformationszeit. Das Blatt zeigt den Bildhauer / den Goldschmied als Landsknecht. Sein bisheriges Werkzeug – Klöpfel und Meissel – ist rechts unten zur Seite gelegt. Dieses hat er nunmehr gegen die Waffen – Dolch, Schwert und Hellebarde – getauscht. In wörtlicher Rede verkündet »Veyt Pildhawer«, dass er schöne Werke im italienischen Stil, also im neuen Renaissancestil sowie nach deutscher, also gotischer Manier geschaffen habe. Da er aber keinen Absatz mehr für seine Kunstwerke fände, hätte er den Beruf gewechselt und würde nun als Landsknecht einem Fürsten dienen. Zweifelsfrei kann man hier von negativen Auswirkungen der Reformation sprechen, wenn Künstler auf unbezahlten Aufträgen sitzen blieben – wie Veit Stoß –, wenn Aufträge ausblieben und deshalb die städtische Obrigkeit gebeten wurde, man möge ihnen städtische Versorgungsstellen geben – wie in Straßburg –, oder wenn sie den Beruf wechseln mussten, um den Unterhalt zu verdienen, wie es Veit der Bildhauer tat. Neben Einzelschicksalen sind es aber vor allem auch kollektive Künstlerklagen, die in Petitionen oder auf Flugblättern vorgetragen wurden. Wer vor Ort sein Auskommen nicht mehr fand und seinen Künstlerberuf nicht – wie beispielsweise »Veyt Pildhawer« – an den Nagel hängen wollte, der musste die Stadt verlassen und auf anderen Kunstmärkten sein Glück suchen, um den negativen Auswirkungen der Reformation zu entkommen. So verließ der uns schon bekannte Hans Sebald Beham 1525 seine Heimatstadt Nürnberg und arbeitete zuerst für Albrecht von Brandenburg (1490–1545); anschließend ging er nach Frankfurt am Main. Sebald gehört wie sein Bruder Barthel (um 1502–1540) zu den sogenannten »Gottlosen Malern« von Nürnberg, die aufgrund ihrer radikalen Einstellung die Stadt verlassen mussten. Bemerkenswert ist, dass dieser radikale Anhänger der neuen Lehre zu Kardinal Albrecht ging. Für diesen malte er eine Platte für einen Prunktisch, die sich heute im Louvre befindet, bzw. illuminierte eine liturgische Handschrift. Dass der Künstler unabhängig von seiner eigenen Glaubenseinstellung für die unterschiedlichsten Auftraggeber in der Umbruchszeit arbeiten konnte, ist kein Einzelfall – es werden weitere Beispiele folgen. In Frankfurt schuf Hans Sebald Beham dann sehr kleinformatige Graphiken, die immer wieder die Obrigkeit auf den Plan riefen. Wenn man so will, hat der Künstler sich mit seinen kleinformatigen Graphikblättchen eine Marktlücke erobert. Bei nahsichtiger Betrachtung sind nämlich seine mythologischen, biblischen oder genrehaften Szenen erotisch, wenn nicht
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gar pornographisch aufgeladen. Hier wird schon vor mehr als 500 Jahren der Grenzbereich zwischen Kunst und Pornographie ausgelotet. Hans Sebald Beham ist ein Paradebeispiel für einen konfessionell unabhängig arbeitenden Künstler, zum anderen für einen Maler, der nach dem Wegfall kirchlicher Aufträge neue Absatzmärkte zu erobern suchte. Sein Bruder Barthel Beham musste ebenfalls 1525 wegen seiner radikalen Glaubensüberzeugungen die Reichsstadt Nürnberg verlassen. Er wechselte nach München, um bemerkenswerterweise dort überwiegend für Herzog Wilhelm IV. von Bayern (1493–1550) zu arbeiten. Und dieser stand in dem Ruf, reformatorischen Bewegungen in seinem Land Paroli zu bieten. Die Brüder Beham arbeiteten also beide für exponierte Vertreter des alten Glaubens. Und bei Barthel sollte es nicht bei höfischen Porträts bleiben. Wilhelm IV. der Standhafte beauftragte ihn vielmehr auch mit einem großformatigen Gemälde, bei dem die Legende der Auffindung des Heiligen Kreuzes thematisiert ist (Alte Pinakothek, München). Genauer ist jener Moment dargestellt, wo in Anwesenheit der Kaiserin Helena das aufgefundene Kreuz auf seine Echtheit hin erprobt wird. Anlässlich zahlreicher Kreuzesreliquiare ging es bei der Darstellung auch um die Legitimierung des Heiligen- und Reliquienkultes. Und Wilhelm IV. war ein Anhänger von beiden und ließ seine Frau, Jacobäa von Baden (1507–1580), auf dem Gemälde in die Rolle der heiligen Helena schlüpfen. Rechts von ihr ist als heiliger Makarios, Bischof von Jerusalem, der uns schon bekannte Kardinal Albrecht von Brandenburg dargestellt, auch er ein großer Anhänger des Heiligen- und Reliquienkultes. Der Künstler der Reformationszeit arbeitete also unabhängig von seiner eigenen Glaubenseinstellung für Anhänger des alten wie für die des neuen Glaubens. Subsumieren kann man das mit der modernen Umschreibung von »Flexibilität am Arbeitsmarkt«, und es sind Projektionen der Neuzeit, die hierbei für den frühneuzeitlichen Künstler konfessionell begründete Probleme sehen wollen. Die Reformation beeinflusste erstaunlich schnell den Kunstmarkt, hatte Auswirkungen auf einzelne Künstlerschicksale und auf einzelne Werke, ja auf ganze Berufsgruppen, wie die der Bildhauer oder die der Maler. Die bisherigen Beispiele haben schon aufzeigen können, dass das Bild so bunt ist wie die Landkarte des Alten Reiches. Nur mikrohistorisch kann man Aussagen treffen, denn die Auftragslage für die Künstler hing von der konfessionellen Ausrichtung der Stadt bzw. der konfessionellen Einstellung des Landesherrn ab oder davon, ob es bei der einen wie anderen Konstellation »Nischen« gab, in denen eine künstlerische Betätigung im einträglichen Umfang möglich war. Hatte Nikolaus Hagenauer, der 1493 Straßburger Bürger wurde und vor 1538 dort verstarb, noch die Bildhauerarbeiten für den sogenannten Isenheimer Altar Matthias Grünewalds (um 1475/80–1528) schaffen können, war
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dies seinem Sohn Friedrich (um 1499 – nach 1546) verwehrt. Friedrich hatte bei seinem Vater das Bildhauerhandwerk gelernt, doch da es keine Nachfragen nach Altären mehr gab, spezialisierte er sich auf geschnitzte und gegossene kleinformatige Bildnismedaillen. Diese kamen seit dem Augsburger Reichstag von 1518 bei Fürsten und Patriziern sowie reichen Bürgern und Kaufleuten in Mode. Friedrich Hagenauer verließ Straßburg und reiste zuerst nach Nürnberg, dann nach Passau, Regensburg, Salzburg, Augsburg, Baden und anschließend nach Köln. Warum die vielen Ortswechsel? Sie erklären sich durch seine Spezialisierung auf diese Bildnismedaillen. War nach einigen Jahren seiner Tätigkeit in einer Stadt eine – modern ausgedrückt – Marktsättigung erreicht, dann wanderte er in eine andere Stadt, wo er wieder an neue Aufträge kommen konnte. Er musste also für seinen Broterwerb mit der gewählten Spezialisierung eine große Mobilität in Kauf nehmen. Diese wurde auch dem berühmten Hans Holbein dem Jüngeren (1497/98–1543) abverlangt. Als die Aufträge in Basel immer weniger wurden, versuchte es der Maler zuerst 1523/24 am Hofe Franz I. (1494–1547), König von Frankreich. Als das nicht glücken wollte, wechselte er 1526 bis 1528 und ab 1532 endgültig von Basel nach London, um in die Dienste des englischen Königs Heinrich VIII. (1491–1547) zu treten. Er war dort so erfolgreich, dass die englische Kunstgeschichtsschreibung die Malerei der Frühen Neuzeit mit ihm beginnen lässt. Holbein der Jüngere hatte seine Frau und die Kinder in Basel zurückgelassen. Anders die Entscheidung des bis dahin erfolgsverwöhnten Bildhauers Daniel Mauch (um 1477–1540), der zusammen mit seiner Frau emigrierte. Nachdem die Aufträge in Ulm reformationsbedingt zurückgegangen waren, orientierte er sich ab 1529 hin zu katholisch gebliebenen Städten bzw. Residenzen und zog letztendlich mit seiner Frau nach Lüttich. Hier zählte er zu den sehr erfolgreichen Bildhauern, der zudem einen gewichtigen Teil zum Stilwandel von der Spätgotik zur Renaissance in Lüttich beitrug. Die Stadt war, auch dank des Fürstbischofs Erhard von der Mark (1472–1538), ein Kunstzentrum, und Daniel Mauch wurde zu einem seiner herausragenden Vertreter. Die Eheleute Mauch verstarben in einem nur geringen Abstand voneinander im Jahre 1540, und die lateinische Epitaphinschrift würdigt deshalb beide. Der Wortlaut ist nur noch schriftlich überliefert, da von der Originalplatte lediglich wenige Fragmente erhalten geblieben sind. Man erfährt, dass die Eheleute Mauch durch die Partei der Ungläubigen (d. h., der Reformationsanhänger) aus ihrer väterlichen Heimat Ulm vertrieben worden waren und danach in der Stadt Lüttich den Sitz ihres freiwilligen Exils errichtet hatten. Der bei katholischen Fürsten in Dienst stehende Sohn hatte diese nicht nur in unserem Zusammenhang bemerkenswerten Zeilen verfasst, die
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deutlich von der Vertreibung des Künstlers Daniel Mauch durch die Einführung der neuen Lehre in Ulm sprechen. Eine Zwischenbilanz: Zweifelsfrei hatte die Reformation gravierende Auswirkungen auf den Kunstmarkt und auf einzelne Künstlerschicksale. Die Bandbreite der möglichen Implikationen war groß, individuelle wie kollektive Künstlerklagen können in Schriftform nachgewiesen werden, die Klage der Künstler über zurückgehende Aufträge wurde selbst bildwürdig und fand Verbreitung im Medium des Flugblattes. Man kann zahlreiche Migranten am Arbeitsmarkt nachweisen, als drastischste Form der negativen Implikationen durch die Reformation sogar den Berufswechsel, wie im gezeigten Fall vom Bildhauer zum Landsknecht. Dies alles ist räumlich und zeitlich nur sehr differenziert zu betrachten, vor eiligen Pauschalierungen kann in dem von der Kunstwissenschaft bisher noch nicht intensiv erforschten Gebiet nur gewarnt werden. Zweifelsfrei war aber Anpassungsfähigkeit des Künstlers gefragt, neue Bildthemen oder Kunsttechniken mussten erprobt werden oder die früher sesshaften Künstler mussten nunmehr den Aufträgen hinterherreisen. Und dies länderübergreifend, was nicht nur den Erwerb einer Fremdsprache voraussetzte, sondern es waren auch kulturelle und mentale Unterschiede in Kauf zu nehmen. Wie sah es nun bei Lucas Cranach dem Älteren (1472–1553) aus? Im fränkischen Kronach geboren, ist er erst als Dreißigjähriger für die Kunstgeschichte greifbar. Wie aus dem Off taucht er um 1500 in Wien auf. Seine Ausbildung sowie seine frühen Arbeiten liegen im Dunkel der Geschichte. Seine von der Kunstgeschichte als »Frühwerk« bezeichneten und in Wien entstandenen Arbeiten, Gemälde und Graphiken zählen zu dem Besten, was die deutsche Kunst in der Zeit zu bieten hat, einem Albrecht Dürer (1471–1528) gleichrangig. 1504/05 siedelt er von Wien nach Wittenberg, um dort als kursächsischer Hofmaler tätig zu sein. Er wird bis zu seinem Tod drei Landesherren dienen: Friedrich dem Weisen (1463–1525), Johann dem Beständigen (1468–1532) und Johann Friedrich dem Großmütigen (1503–1554). Er lebte und arbeitete also 1517 im Zentrum der reformatorischen Bewegung. Welche Auswirkungen der Reformation sind nun bei ihm festzustellen? Wie sieht es mit Cranachs Auftragslage ab 1517, genauer ab den 1520er Jahren aus? Grundstücks- und Immobilienbesitz sowie sein Steueraufkommen belegen, dass es wirtschaftlich stetig bergauf ging. Lucas Cranach der Ältere machte demnach mit vielen Dingen Geschäfte. Unsere Frage ist, welchen Anteil nun die Kunst dabei hatte, genauer seine Malerei. Um diese Frage beantworten zu können, wird die Statistik bemüht. Gefragt werden soll, wie sich quantitativ die Gemäldeproduktion ab den ersten Gemälden der Wiener Jahre entwickelte. Dabei interessiert hier nicht die stilistische Entwicklung, die zwischen dem sogenannten Wiener Frühwerk und dem Alterswerk liegt.
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Vernachlässigt wird bei der angewandten quantitativen Methode auch der unterschiedliche Zeitaufwand Cranachs, den er beim Malen eines kleinen Gemäldes und eines großformatigen Flügelaltars aufwenden musste. Vernachlässigt wird zudem der Unterschied zwischen einem routiniert gemalten Porträt und einer anspruchsvollen Bildneuerfindung, wie einer lebensgroßen Venusdarstellung, mit der Cranach in Künstlerwettstreit zu Dürer trat. Vernachlässigt wird auch die Frage der Eigenhändigkeit bzw. des Anteils der Werkstatt. Denn alle Gemälde sollen einfließen in eine Statistik, die nicht für einen Kassenprüfer wasserdicht gemacht werden kann, sondern danach fragt, ob mit ihrer Hilfe das Auftragsvolumen für Lucas Cranach den Älteren so nachgewiesen werden kann, dass die Frage zu beantworten ist, welchen Einfluss die Reformation auf seinen Gemälde-Output hatte. Als Untersuchungszeitraum sind die Jahre um 1500 bis 1537 gewählt worden. Dazu wurden mit dem Stichmonat April 2014 aus einem Bestand mit exakt 2.347 Gemälden, die bei dem Internet-basierten Forschungsprojekt »cranach.net« eingestellt sind, jene herausgefiltert, die vom Künstler bzw. seiner Werkstatt durch Beschriftung datiert wurden. Von den 2.347 Gemälden waren das 649 Gemälde. Sie tragen alle eine aufgemalte Jahreszahl. Die Gemälde sind dem Entstehungsjahr zugeordnet. 80
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Abb. 5: 649 von der Cranach-Werkstatt datierte Gemälde, welche nach cranach.net (Stand: IV/2014) einem Entstehungsjahr um 1500 bis 1537 zuzuordnen sind (durchgehende Linie)
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Abb. 6: 588 von der Cranach-Werkstatt signierte bzw. zugeschriebene Gemälde, welche nach Friedländer / Rosenberg (1932) im Zeitraum um 1500 bis 1537 entstanden sind (gepunktete Linie)
Zu dieser Linie sind in einem zweiten Schritt jene Gemälde ausgewiesen, die man nach der Standardmonographie nachweisen kann. 1932 haben die beiden deutschen Kunsthistoriker Max Jakob Friedländer und Jakob Rosenberg das Œuvreverzeichnis der Gemälde von Lucas Cranach dem Älteren und seiner Werkstatt vorgelegt. Aufgenommen sind in der Statistik 588 Gemälde, die Friedländer/Rosenberg einem bestimmten Schaffensjahr zuordnen. Die Friedländer-Rosenberg-Linie bestätigt den Gesamtverlauf, den die cranach. net-Linie beschreibt. Abschließend noch eine dritte Linie: Sie erfasst jene Gemälde, die durch Schriftquellen verbürgt sind, die aber nicht mehr vorhanden sind. Diese Linie zeigt, dass wir trotz der ca. 2.400 erhaltenen Cranach-Gemälde es mit einem nicht unerheblichen Verlust an Cranach-Werken zu tun haben. Die Strich-Punkt-Linie visualisiert drei Mal einen Anstieg der Cranach’schen Gemäldeproduktion. Einmal von ca. 1520 bis 1525. Dann einen sehr hohen für die beiden Jahre 1532/33 und den dritten Anstieg von ca. 1533 bis 1538 (in der Statistik nicht so signifikant abgebildet, da der Untersuchungszeitraum 1537 endet).
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Abb. 7: 376 durch Schriftquellen verbürgte (und nur zum Teil erhaltene) Gemälde der Cranach-Werkstatt, die einem Entstehungsjahr um 1500 bis 1537 zuzuordnen sind (Strich-Punkt-Linie) 120
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Abb. 8: Summarische Statistik der Cranach’schen Gesamtgemäldeproduktion zwischen den Jahren um 1500 bis 1537
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Legt man alle drei Befunde übereinander, ergibt sich ein klareres Bild. Deutlich wird, wie spät wir Cranach als Künstler ab 1500 greifen können. In den Jahren davor ist kein Gemälde, ja überhaupt kein Kunstwerk ihm zuzuordnen. Ab etwa 1500 sehen wir – wenn auch mit einigen Schwankungen – einen kontinuierlichen Produktionsanstieg bis zum Ende des hier gewählten Untersuchungszeitraumes 1537. Welche Gemälde haben nun diesen deutlichen Umsatzanstieg in den ersten beiden Reformationsjahrzehnten verursacht? Immerhin gleitet die Kurve ebenso über das »Schicksalsjahr« 1517 hinweg wie über das Jahr 1522 – dem Jahr der Wittenberger Unruhen also, wo die Frage nach der Rolle der Bilder radikal gestellt wurde. Keinem geringeren als Albrecht von Brandenburg verdankt Cranach diesen signifikanten Anstieg durch einen Großauftrag, den Cranach mit seiner Werkstatt von ca. 1520 bis ca. 1525 ausführte. In jenen Jahren also, wo andere Künstler auf fertiggestellten religiösen Werken sitzen blieben bzw. diese nicht bezahlt bekamen sowie neue Kirchenaufträge ausblieben, konnte sich Cranach über den Auftrag zur kompletten Altarausstattung der Hallenser Stiftskirche Albrechts von Brandenburg freuen. Die heute umgangssprachlich als Dom bezeichnete Stiftskirche erhielt von ca. 1520 bis 1525 auf einen Schlag 16 neue Altäre, für die allesamt Cranach verantwortlich zeichnete. Genau 142 Gemälde mit z. T. überlebensgroßen Darstellungen waren zu fertigen – eine künstlerische wie logistische Meisterleistung, die im Alten Reich ihresgleichen suchte. Mit diesem Großauftrag kompensiert Cranach den Rückgang an anderen kirchlichen Aufträgen in den ersten stürmischen Reformationsjahren. Dieser Großauftrag war flankiert von weiteren Aufträgen Kardinal Albrechts an Lucas Cranach. Wir vernachlässigen hier nach wie vor die Druckgraphik sowie den Buchdruck und konzentrieren uns auch weiterhin auf die Gemälde. Neben Porträts waren das vor allem Rollenporträts, die Albrecht als Heiligen Hieronymus oder Albrecht als Heiligen Erasmus bzw. als Heiligen Martin zeigen. Katholischer, um es einmal platt zu formulieren, geht es in den 1520er Jahren nicht. Als anderenorts der Bildersturm tobte, wurde in den Wittenberger Werkstatträumen Cranachs d e m deutschen Vertreter der Papstkirche zugearbeitet. Der zweite große Ausschlag nach oben ist bei dem Cranach’schen Umsatz in den Jahren 1532/33 zu verbuchen. Eine schmale, auf zwei Jahre konzentrierte Säule ragt steil nach oben. Verdankt wird sie dem Auftrag von 120 Gemälden für den Wittenberger Hof. Cranach hatte, wie eine Quittung verbürgt, 60 Bildnispaare zu malen, die Friedrich den Weisen auf der linken und seinen Bruder Johann den Beständigen auf einer rechten Tafel zeigen. Jeweils unter dem gemalten Bild befindet sich ein aufgeklebter, auf Papier gedruck-
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ter Text. Von diesen einstmals 120 Gemälden haben sich etliche erhalten, der Rest ist durch die genannte Quelle verbürgt. Mitunter haben Sammler den unteren Teil mit dem Text absägen lassen. In zwei Jahren 120 Gemälde zu malen, setzt selbstredend eine eingespielte Werkstatt voraus. Denn dieser Porträtgroßauftrag wurde ja neben dem normalen Geschäft erledigt. Den dritten, vor allem durch Quellen, aber auch durch eine erhaltene Zeichnung und Gemälde verbürgten Umsatzanstieg haben wir in den Jahren 1533 bis 1538 zu verzeichnen. Albrechts Neffe, Kurfürst Joachim II. von Brandenburg (1505–1571), bestellte für seine Berlin-Cöllner Stiftskirche ebenfalls – wie der Onkel zuvor für Halle an der Saale – einen Heiligen- und Passionszyklus. Die Beschreibung der Berliner Reformationsverhältnisse wird hier beiseitegelassen, denn äußerlich bekannte sich der Auftraggeber durch die Einnahme des Abendmahls in beiderlei Gestalt zu Luther. Fakt ist aber, dass in Berlin ein (altkirchlicher) Heiligen- und Passionszyklus zu sehen war, für den Cranach 117 Gemälde von Wittenberg nach Berlin lieferte. Um es deutlich hervorzuheben, es handelt sich hier nicht wie bei dem vorhin aufgeführten Beispiel um relativ kleinformatige Bilder, sondern erneut um großformatige Altartafeln. Wie beim Cranach’schen Großauftrag für Halle an der Saale ist der größte Teil dieser Gemälde im Laufe der Jahrhunderte untergegangen. Ironie der Geschichte ist, dass zwei der drei hier vorgestellten deutlichen Umsatzsteigerungen durch katholische Auftraggeber in den 1520er und 1530er Jahren verursacht worden sind. Dabei dürfte der erste Großauftrag der wichtigere gewesen sein. Er trotzte nicht nur der Bilderkrise, sondern stellte alles bis dahin Gekannte in den Schatten. Als der Hallenser Auftrag 1525 abgeschlossen war, brach der Umsatz auch bei Cranach bei den Gemälden massiv ein. Im selben Jahr verstarb zudem Friedrich der Weise; stillschweigend wurde Cranach als Hofkünstler von Johann dem Beständigen weiterbeschäftigt. Als Realist musste Cranach davon ausgehen, dass es keinen weiteren katholischen Gemäldeauftrag dieser Größenordnung mehr geben würde. Dass es dann mit dem Berliner Großauftrag noch einmal anders kommen würde, konnte damals keiner ahnen. Die neue Lehre hatte noch kein Bildprogramm für Altäre entwickelt, die wenigen späteren Aufträge – wie der Wittenberger Abendmahl-Altar – kommen aber nicht mehr an das Auftragsvolumen der vorreformatorischen Retabelproduktion heran. Um 1525 stellte sich für Cranach – wie für seine vielen von der Reformation betroffenen Künstlerkollegen – die Frage, wie es weiter gehen sollte, wenn zum einen die Kirche, zum anderen aber auch die privaten Kunden mit ihren Aufträgen an religiöser Kunst, wie Andachtsbildern oder Hausaltärchen, wegfielen. Existenzbedrohend war die Situation für Cranach zwar
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nicht, da er durch die höfischen Aufträge abgesichert war, aber Gedanken über eine Neuausrichtung seines Repertoires musste er sich dennoch machen, um auf dem Kunstmarkt außerhalb Wittenbergs seinen Rang halten zu können. Die Porträtmalerei wird für Cranach ein wichtiges Standbein. Und: Cranach beginnt in der zweiten Hälfte der 1520er Jahr mit dem Erproben neuer Bildthemen und Bildformate. Schlag auf Schlag bringt er neue Ideen hervor und macht diese – modern ausgedrückt – marktfähig. So platziert er 1525 erstmalig ein neues Bildformat auf dem Markt, nämlich das kleine Rundbild. Es nimmt die Mode der Porträtmedaille auf, wie wir sie bereits durch Friedrich Hagenauer kennengelernt haben. Das geschnitzte bzw. gegossene Rundbild war auf dem Augsburger Reichstag von 1518 in Mode gekommen. Cranach greift den Trend instinktsicher auf und bringt seine kleinen Rundbilder wenige Jahre später auf den Markt. Diese Rundbilder haben etwas Artifizielles und orientieren sich bereits an einem sich neu ausrichtenden Kunstmarkt, von dem man als Faustformel sagen kann, dass er nun anderen Kriterien folgt als bei der religiösen Kunst zuvor. Wir haben es zunehmend mit Sammlerstücken zu tun. Für diesen sich neu formierenden Kunstmarkt, der unter anderem nunmehr nach profanen Themen fragt oder bei religiösen Themen nach Bildern, die auch in einer Kunstsammlung rezipiert werden können, entwickelte Cranach neue Bildformeln. Auffallend ist, dass er damit vereinzelt bereits in der ersten Hälfte der 1520er Jahre beginnt, als seine Werkstatt den Großauftrag für Albrecht von Brandenburg realisiert. Er nutzt also die jahrelange Auslastung der Werkstatt dazu, sich selbst Gedanken über eine künstlerische Neuorientierung zu machen. Als Cranach für die neuen Themen Zuspruch erntet, bringt er sie vermehrt bzw. »in Massen« ab der zweiten Hälfte der 1520er Jahre auf den Markt. Mit diesen Bildern wird er dann – neben der gesteigerten Produktion an Porträts – die rückläufigen kirchlichen bzw. religiösen Aufträge kompensieren, ja seinen Umsatz steigern. Die neuen Bilder kamen zumeist in zahlreichen Varianten, eine Praxis, die zuvor unbekannt war. Assistiert wurde die neue Thematik von einem gewandelten Figurenstil, der ebenso gefällig wie frei vom Natur- und Antikenstudium war. Das Ringen um eine Proportionslehre überließ er Albrecht Dürer. Neben der Beaufsichtigung der Arbeiten am Hallenser Großauftrag mit seinen zahlreichen Heiligen- und Passionsdarstellungen beschäftigte sich der Werkstattleiter offensichtlich mit der Erprobung des »nackten« Figurenstils. Aller klassischen Reminiszenzen entblößt, ist letzterer zum unverwechselbaren Kennzeichen der Cranach’schen Akte aller Art geworden, die nun in großer Zahl die Werkstatt verließen (»sex sells«). Er hatte den Weg gefunden, mit dem er in einer für die Malerei (wie für die Kunst überhaupt) zuneh-
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mend schwierigen Zeit bestehen konnte – und zwar durch die Entwicklung einer unverwechselbar an seine Werkstatt gebundenen und mit auffälliger Schnelligkeit zu meisternden »Konfektionsmalerei«. Die Figuren sind im Laufe der 1520er Jahre so konditioniert worden, dass sie in Gänze oder Teilen schablonierbar erscheinen. Auch wenn einzelne Bildsujets, wie die Venusund die thematisch verwandten Paris-Urteil-Darstellungen, in die vorreformatorische Zeit zurückreichen, kam das Gros der nunmehr von der Cranach d. Ä-Werkstatt »angebotenen« profan-mythologischen Themen nicht nur mit dem Abschluss des Hallenser Großauftrages neu auf, sondern sogleich fix und fertig daher. Zahlreiche Varianten malt Cranach mit dem Thema »Herkules und Omphale«. In der Werkstatt entstanden seit den dreißiger Jahren des 16. Jahrhunderts mindestens 26 meist großformatige Gemälde, die Herkules am Hof der Omphale zeigen. Dabei handelt es sich nicht um Repliken einer einmal gefundenen Komposition, sondern, gemäß der Cranach`schen Werkstattpraxis, um Varianten eines erfolgreichen ikonographischen Typs. Die Sklavenzeit des Herkules bei Omphale gehört ebenso wie der rasende oder trunkene Herkules zu den ambivalenten Seiten des Helden, die sich nur schwer mit der Vorstellung von seiner ungebrochenen Tugend, seiner unbesiegbaren Stärke und seinem Aufstieg in den Olymp in Einklang bringen lassen. Trotzdem wurde gerade diese Episode seiner Unterwerfung über Jahrhunderte zu einem außerordentlich beliebten Gegenstand in der bildenden Kunst. Nur selten weiß man bei den Cranach’schen Gemälden, wer die Erstbesitzer waren. Das heute sich in Kopenhagen befindende Herkules-undOmphale-Gemälde aus dem Jahr 1535 gehörte einst Kardinal Albrecht von Brandenburg – sein Wappen ist links oben zu sehen. Die dritte Zeile der lateinischen Inschrift lautet zu deutsch: »So beherrscht verderbliche Wollust mächtige Geister«. Die Frage, ob es sich um ein von Albrecht in der CranachWerkstatt bestelltes Gemälde handelt oder um eines auf dem Kunstmarkt gekauftes, kann nicht entschieden werden. Albrechts Wappen jedenfalls wirkt wie später aufgetragen, so dass es nach einem zeitnahen Kauf, nicht aber nach einer Bestellung aussieht. Dies gilt für die meisten der Gemälde, die hier als Beleg für eine sich verändernde Themenpalette der Cranach-Werkstatt angeführt werden. So für 22 Gemälde mit dem »Paris-Urteil«. Paris hatte die Aufgabe, zwischen drei Göttinnen zu wählen, welche die schönste sei. Sein Fehlurteil löst den trojanischen Krieg aus. Oder für 76 Exemplare der Liebesgöttin »Venus«, mal mit, mal ohne den kleinen Amor. Diese Darstellungen haben, wie beispielsweise auch die der »Quellnymphe«, als Subthemen das der Nacktheit bzw. das der Sexualität. Die Kunst wird, wenn man so will, erotischer. Lateinische Aufschriften warnen bei Cranach vor den Verführungskünsten der Venus
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und dass sie nur auf fleischliche Lust abziele. Auf 24 Gemälden malt die Cranach-Werkstatt das Thema der »Quellnymphe«. Es ist in dieser Form eine ikonographische Neuschöpfung Cranachs. Auch bei diesen Bildern spielt die lateinische Inschrift mit dem Betrachter, genauer dem männlichen Betrachter, der schlafenden nackten schönen Frau und warnt davor, den Schlaf der Nymphe der heiligen Quelle zu stören. 80 Gemälde finden sich aus dem Bereich der »Genremalerei« mit dem Thema »Ungleiche Paare«, bei dem meist eine schöne junge Frau mit einem hässlichen alten Mann kombiniert wird oder umgekehrt – aber seltener –, ein schöner junger Mann mit einer hässlichen alten Frau. Diese beiden Themen finden sich auf Bildern mit sehr unterschiedlichen Bildformaten. Neben diesen Darstellungen mit profanem Inhalt kreiert Cranach aber auch religiöse Themen, die unabhängig von kirchlichen Kontexten gehängt werden können. Quasi das religiöse Gemälde als »Kabinettstück«. Unter Kabinettmalerei versteht man in der Kunstwissenschaft Gemälde, die unabhängig vom Thema für eine Sammlung geschaffen wurden. Das kann auch allgemeiner bedeuten, dass sie zum Schmuck von Räumen dienten. Meistens ist der Definition der Kabinettmalerei implizit, dass sie vom Auftraggeber unabhängig gemalt wird. So wird es beispielsweise für den holländischen Kunstmarkt des 17. Jahrhunderts üblich, dass Künstler die Gemälde auf Vorrat schufen, um sie später an Interessenten zu veräußern. Das hatte oftmals zur Folge, dass Experimentelles dabei wenig gewagt wurde; man setzte auf bewährte Bildthemen und Kompositionen. An die »Mechanismen« des ausdifferenzierten Kunstmarktes des »Goldenden Jahrhunderts« muss man denken, wenn man den Gemälde-Output der Cranach-Werkstatt in den ersten Reformationsjahrzehnten quantitativ betrachtet. Herausgegriffen seien als Beispiel 36 ähnlich aussehende Gemälde der »Salome« mit dem Haupt des Johannes, 36 Gemälde »Christus segnet die Kinder« oder 25 Gemälde »Christus und die Ehebrecherin«. Während der Konsolidierung der lutherischen Reformation nahm die Cranach-Werkstatt anstelle der diskreditierten Altarbilder alter Art eine eigene »religiöse Genremalerei« in ihr Programm auf. Man ist erstaunt, wie viele dieser durchaus großformatigen Gemälde die Werkstatt verließen. Und: die Komposition muss im mitteldeutschen Raum als hochmodern angesehen worden sein, denn sie rezipiert das Halbfigurenbild, welches in Venedig am Ende des 15. Jahrhundert entstanden ist und die italienische Renaissancemalerei mitprägt. Eine Fähigkeit des Künstlers Cranach bestand aber darin, dass – gleich welche Anregungen er von anderen übernahm – in seiner Umsetzung immer ein Cranach’sches Werk daraus wurde. Sein Stil wurde zu einem Markenzeichen, in das er – im Sinne einer handwerklich geprägten Manufaktur –
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im Laufe der Jahrzehnte viele Lehrlinge, Gesellen und Mitarbeiter, darunter seine Söhne Hans und vor allem Lucas, einbinden konnte. Sie alle haben unter seiner künstlerischen Leitung Werke hervorgebracht, die zum kunsthistorischen Kanon gehören. Lucas Cranach der Ältere hat es außerdem vermocht, für viele dieser Bildthemen neue Bildformulare zu kreieren, die sich mit seinem Namen verbinden. Greifen wir als Beispiel seine Porträtmalerei heraus: So ist das Bild des Reformators unlöslich mit seinem Künstlernamen eins geworden, denn Cranach hat – wie auch für Friedrich den Weisen – eine die Jahrhunderte überdauernde Bildformel gefunden. Auch bei diesen in hoher Stückzahl gefertigten Porträts kann jedes einzelne für sich in Anspruch nehmen, ein Original-Cranach-Gemälde zu sein. Cranachs Luther-Bildformel war derart durchsetzungsfähig, dass Kopien und Reproduktionen bis heute massenhaft Verbreitung finden. Neben der Qualität der Werke ist vor allem auch die Quantität beeindruckend. Dabei erfolgte hier nur eine Konzentration auf die Gemälde; hinzu kamen ja die Druckgraphik bzw. der Buchdruck, die Miniaturmalerei für Handschriften sowie ganz allgemein die Arbeiten für den kursächsischen Hof. Sie würden zu einer Verdichtung des statistischen Materials beitragen und vielleicht den einen oder anderen Umsatzeinbruch in der Gemäldeproduktion erklären. So war er mit seiner Werkstatt – genannt werden in der Abrechnung 10 (!) Gesellen – 1513 für vier Wochen in Schloss Torgau beschäftigt, um die zweite Hochzeit von Johann dem Beständigen vorzubereiten. Auch als er im Jahre 1541 zur Kennzeichnung der kursächsischen Feldausrüstung 590 Wappen auf Papier druckte und kolorierte, war die Werkstatt sicherlich eine Weile damit ausgelastet. Überhaupt haben seine Außen- und Innenraummalereien für die kursächsischen Schlösser oder seine ephemeren Arbeiten für höfische Feste jeglicher Art ihn, seine Gesellen und Lehrlinge über Wochen, gar Monate in Beschlag genommen. All dies konnte in der Statistik nicht berücksichtigt werden. Cranach musste nicht in »Das verdorben schiff der handwercksleut« einsteigen und sich nicht wie der Maler auf dem Künstlerklage-Flugblatt auf der rechten Seite auf dem hervorgehobenen Platz am Schiffsheck niederlassen. Für Lucas Cranach den Älteren bedeutete die Reformation eine Win-WinSituation: Anders als viele seiner Künstlerkollegen hatte er keinen Grund zu klagen, musste auch nicht den Ort wechseln, um seinen Künstlerberuf auch nach 1517 weiterhin ausüben zu können. Denn in seiner Werkstatt gingen die Anhänger der alten und neuen Kirche ein und aus, er belieferte beide Seiten mit Bildern. Überhaupt hat man den Eindruck, dass ganz allgemein gesprochen ein richtiger Bildhunger einsetzte, den Cranach mit anheizte und ab der zweiten Hälfte der 1520er Jahre mit neuen Bildthemen zu befriedigen
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Abb. 9: Meister des Hederlein (Flugblatt): »Das verdorben schiff der handwercksleut«; Holzschnitt, 44,8 × 32,1 cm
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suchte. Die Bildformate werden dafür vereinheitlicht und die zahlreichen Werkstattmitarbeiter auf einen einheitlichen Malstil eingeschworen, so dass jeder einzelne Käufer ein Originalgemälde Cranachs in den Händen halten konnte. Die Frage nach negativen Implikationen der Reformation ist aus solch einer Perspektive für Lucas Cranach den Älteren mit einem klaren Nein zu beantworten. Literatur Der Beitrag basiert auf meinen Aufsätzen: Querela Artificis. Formen der Künstlerklage in der Reformationszeit. In: Die Klage des Künstlers. Krise und Umbruch von der Reformation bis um 1800, hg. v. Birgit Ulrike Münch, Andreas Tacke, Markwart Herzog, Sylvia Heudecker (Kunsthistorisches Forum Irsee, 2), Petersberg 2015, S. 60–69. Verlierer und Gewinner. Zu den Auswirkungen der Reformation auf den Kunstmarkt. In: Negative Implikationen der Reformation? Gesellschaftliche Transformationsprozesse 1470–1620, hg. v. Werner Greiling, Armin Kohnle und Uwe Schirmer, Köln u. a. 2015, S. 283–315. Aus einem Stamm. Zum Ende einer Kontroverse über die konfessionelle Ausrichtung der Cranach-Werkstatt nach 1517. In: Der Altar von Lucas Cranach d. Ä. in Neustadt an der Orla und die Zeit der Kirchenverhältnisse im Zeitalter der Reformation, hg. v. Werner Greiling, Uwe Schirmer und Ronny Schwalbe, Köln u. a. 2014, S. 417–425. Marketing Frederick. Friedrich der Weise in der Bildenden Kunst seiner Zeit. In: Kurfürst Friedrich der Weise von Sachsen, 1463–1525, im Auftrag der Staatlichen Kunstsammlungen Dresden hg. von Dirk Syndram, Yvonne Fritz und Doreen Zerbe, Dresden 2014, S. 104–114.
christoph resKe
Buchdruck und Reformation Eine buchwissenschaftliche Betrachtung mit Blick auf die Auflagen sowie die Drucker in Mainz, Speyer und Worms
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enn man sich dem Thema »Buchdruck und Reformation« nähert, stößt man schnell auf griffige Schlagworte, wie »ohne Buchdruck keine Reformation« oder die Reformation war Teil der neuzeitlichen »Medienrevolution« und brachte mit der Flugschrift eine neue Mediengattung hervor. Diese Postulate sollen im Folgenden aus der Sicht eines Buch- und Druckhistorikers betrachtet werden. Dabei erhalten die Auflagen und Auflagenhöhen sowie die Rheinstädte Mainz, Speyer und Worms ein besonderes Augenmerk. Sehr gängig ist das von dem Kirchenhistoriker Bernd Moeller stammende Diktum: »ohne Buchdruck keine Reformation«, das im Jahr 1979 als bewusst provozierendes Statement gegenüber der damaligen kirchenhistorischen Debatte verwendet wurde und meinte, dass »ohne den rechtfertigungstheologischen Sachgehalt, der in dem neuartigen Kommunikationsmittel der Flugschrift verbreitet wurde und die ›Massen‹ erreichte, […] die Reformation nicht erfolgreich gewesen [wäre]« (Kaufmann 2015, 17). Schon im Jahr 1900 hatte der Bibliothekar Gustav Milchsack die enge kausale Verbindung von Buchdruck und Reformation beschrieben, wonach Luthers Reformation »überhaupt erst durch Gutenbergs Erfindung möglich geworden« sei (Widmann 1973, 22). Unbestritten war der Buchdruck ein wichtiger Kommunikationsträger, der zum Erfolg der Reformation beitrug, doch der Historiker Heinz Schilling mahnt weitere gleich wichtige Faktoren an, wie den sich für die Sache begeisternden Klerus und die Humanisten.
164 Christoph Reske
Klerus, Humanisten und die Obrigkeit Beim Klerus spielten insbesondere die Mönche und die weltlichen Kleriker eine tragende Rolle bei der Durchsetzung der Reformation. Während die Dominikaner, wie etwa der Ablassprediger Johann Tetzel, beim alten Glauben verharrten, waren vor allem die Mönche aus den anderen Bettelorden dem Neuen aufgeschlossen. Die Augustinereremiten stellten sich hinter ihren Bruder Martin Luther, als er in die altkirchliche Kritik geriet. Nachdem ihr Generalvikar Wenzeslaus Linck sein Amt 1523 niedergelegt hatte, rekrutierte sich aus ihren Reihen ein Teil der protestantischen Pfarrerschaft. Den anderen Teil bildeten die städtischen Prädikanten, ein akademisch ausgebildeter weltlicher Klerus, der den Leseunkundigen in den Städten und auf dem Land die reformatorische Botschaft in deutscher Sprache nahebrachte. Diese verbale Verbreitung reformatorischen Gedankenguts spielte eine entscheidende Rolle für die Breitenwirkung der Bewegung, also auch bei den ungebildeten Bevölkerungsschichten. Doch zeigt sich hier ein methodisches Problem: Im Gegensatz zu den materiell überlieferten Drucken lässt sich von dieser verbalen Art der Verbreitung aus der quellenkundlichen Überlieferung nur ein sehr fragmentarisches Bild zeichnen. Auch die Humanisten im Deutschen Reich spielten eine Rolle für die Durchsetzung der Reformation. Bei ihnen handelte es sich um gebildete Personen, die mit Blick auf die Antike die Bildungsfähigkeit, Würde und den Wert des Menschen propagierten. Sie sorgten sich um die Erneuerung von Kunst und Wissenschaft, dabei aus dem unverfälschten Geist der Antike schöpfend: Nicht die über Jahrhunderte tradierten Gedanken der Antike, sondern die antiken Originalquellen selbst waren zu rezipieren. Die aus Italien stammende humanistische Bewegung hatte im Reich bereits im 15. Jahrhundert viele Bürger, etwa Juristen, Lehrer, Mediziner und auch Geistliche, begeistert und Intellektuellenzirkel entstehen lassen, in denen ein intensiver Gedankenaustausch betrieben wurde: In Nürnberg etwa um den Generalvikar der Augustinereremiten Johannes von Staupitz, Amtsvorgänger des bereits erwähnten Linck. Staupitz war auch Gründungsdekan der Wittenberger Universität, Luthers Beichtvater und dessen Vorgänger auf der Wittenberger Professur. Solche Kreise gab es auch in Basel, Erfurt und Mainz. Mitglied der in Mainz gegründeten »Sodalitas litteraria Rhenana« war beispielsweise der Oppenheimer Stadtschreiber und Drucker Jakob Köbel, der in seiner fast 30-jährigen Tätigkeit über 90 Titel produzierte, darunter viele eigene Werke, aber nur zwei von Luther. Mitglied der »Sodalitas« war auch Johannes Reuchlin, der mit seinen hebraistischen Studien zu den Ursprüngen des Christentums zurückging, weshalb er von Kölner Dominikanern angefeindet wurde. In diese Auseinandersetzung schaltete sich unter anderem der Huma-
Buchdruck und Reformation 165
nist Ulrich von Hutten ein, mit einigen der anonym publizierten »Epistolae obscurorum virorum«. In diesen von 1515 bis 1517 erschienenen Dunkelmännerbriefen wurde den Kölner Dominikanern mit beißendem Spott geantwortet. Der Buchhistoriker Helmut Claus konnte aufgrund von Typenuntersuchungen nachweisen, dass die Dunkelmännerbriefe nicht, wie bisher angenommen, von dem Speyerer Drucker Jakob Schmidt, sondern von Peter Schöffer d. J. in Mainz gedruckt worden sind. Luther folgte bei seiner Bibelübersetzung der humanistischen Einstellung, ad fontes, an die Quellen zu gehen. Als Basis seiner deutschen Übersetzung des »Neuen Testaments« diente nicht die lateinische Vulgata des Kirchenvaters Hieronymus, sondern der griechische Originaltext. Dieser war 1516 erstmals in Basel von dem bedeutendsten Humanisten nördlich der Alpen, Erasmus von Rotterdam, in den Druck gebracht worden. Luther nutzte die 1519 erschienene zweite Auflage (VD16 B4197). Doch Luthers Menschenbild entsprach nicht dem der Humanisten. Er hielt den Menschen für schlecht, die Humanisten hielten ihn für gut – zumindest für erziehbar. Als Erasmus Luthers Vorstellung vom geknechteten Willen 1524 in seinem Traktat über den freien Willen widersprach, wandten sich viele Humanisten von Luthers Lehre ab. Dieses »De libero arbitrio« erschien erstmals in Basel (VD16 E3146) und wurde noch im selben Jahr sieben weitere Male gedruckt, unter anderem bei Johann Schöffer in Mainz (VD16 E3150). Neben den konstatierten drei wesentlichen Kommunikationsträgern für die reformatorische Bewegung: Buchdruck, Kleriker und Humanisten muss mit Blick auf den Erfolg der Bewegung auch der politische Kontext berücksichtigt werden. Hier stellte sich die Aufteilung des Deutschen Reiches in viele kleine Herrschaftsgebiete als Vorteil heraus. Was wäre aus Luther geworden, wenn ihn der sächsische Kurfürst Friedrich der Weise nicht protegiert hätte – ausgerechnet jemand, der eine der umfangreichsten Reliquiensammlungen besaß und hierzu 1509 eigens ein Verzeichnis, das sogenannte »Heiltumsbuch«, von Symphorian Reinhard in Wittenberg hatte drucken lassen (VD16 Z250)? Dass Luther dieser obrigkeitliche Schutz wichtig war, zeigte sich später in seinem Verhalten im Bauernkrieg. Zunächst wohlwollend das Aufbegehren der Bauern unterstützend, trat Luther, als die Sache in Ausschreitungen eskalierte, vehement für die Wiederherstellung der Ordnung durch die Niederschlagung der Aufstände ein, wie beispielsweise seine »Ermannunge zum Friede / auff die zwölff Artickel der Paüwerschafft in Schwaben« belegt, die 1525 unter anderem in Speyer von Jakob Schmidt gedruckt wurde (VD16 L4686). Man kann festhalten, dass sich eine Fülle von Faktoren für Luthers Sache positiv auswirkten – Luther war zur richtigen Zeit am richtigen Ort.
166 Christoph Reske
Buchmarkt Doch wie sah der Buchmarkt der Zeit aus? Um dies zu beantworten, muss man unter anderem wissen, was von den Druckern produziert wurde. Die einschlägige Bibliographie für den hier betrachteten Zeitraum ist das »Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts« (VD16). Es umfasst derzeit etwa 100.000 autoptisch, also tatsächlich vorliegende Titel, weitere etwa 20.000 Titel dürften Schätzungen zufolge noch fehlen. Allerdings werden Flugblätter und Notendrucke nicht berücksichtigt. Doch gerade sie spielten für die reformatorische Bewegung eine wichtige Rolle, denkt man etwa an textorientierte Flugblätter wie Luthers »95 Thesen« oder illustrierte Flugblätter mit Blick auf die Leseunkundigen sowie an Notendrucke, etwa in Form von Kirchenliedern. Den VD16-Datenbestand nutzt auch der europäisch angelegte »Union Short Title Catalogue« (USTC), dessen weitere Informationsbasis jedoch unklar ist. Möglicherweise fließen in ihn auch Daten des ebenfalls europäisch angelegten, nicht abgeschlossenen, nur auf Bücherverzeichnissen basierenden »Index Aureliensis« ein. Auf das grundlegende Problem der Überlieferung von gedruckten Werken und Quellen hat vor einigen Jahren eindringlich der Historiker Arnold Esch hingewiesen. So stellt sich etwa die Frage, ob Luther seine »95 Thesen« gegen die Ablasspraxis als Flugblatt hat drucken lassen, was beispielsweise der Kirchenhistoriker Thomas Kaufmann annimmt (Kaufmann 2012, 176). Überliefert haben sich nur die durch Humanisten vermittelten Einblattdrucke der »95 Thesen«, hergestellt in Straßburg, Basel und Nürnberg. Kaufmanns Annahme ist zwar naheliegend, denn Luther hatte auch für seine Vorlesungen der Jahre 1513 bis 1515 die »Psalmen« für Studenten bei Johannes Rhau-Grunenberg in Wittenberg drucken lassen (Schmitz 1999, 258). Doch wenn sich Exemplare der drei »Nachdrucke« erhalten haben, warum dann keines des vermuteten Originaldrucks? Wirft man einen Blick auf Abbildung 1 mit der im VD16 verzeichneten jährlichen Titelproduktion im Deutschen Reich des 16. Jahrhunderts, ist analog zum Beginn der reformatorischen Bewegung ab 1517 eine sprunghaft ansteigende Titelzahl zu erkennen. Wie aber ist das niedrige Niveau vor diesem Ereignis zu bewerten? 1504 klagte der Nürnberger Drucker und Verleger Anton Koberger in einem Brief an seinen Basler Geschäftsfreund Johann Amerbach über den schleppenden Absatz einer aufwendigen Bibelausgabe: »Es ist warlich ein vnkewfflich werck. Ich hett mich versechen [!], er [!] solt anders von statt gangen sein. Aber der handel der bucher ist so gancz nichtz mer, das ich nicht weiß, waß man machen möchte […]« (Hartmann, Nr. 219). Der Buchmarkt im deutschen Reich lag darnieder. Seit Einführung des Buchdrucks in der Mitte des 15. Jahrhunderts hatte man vor allem die Standardwerke der
Buchdruck und Reformation 167
Handschriftenzeit aufgelegt, der Markt war nunmehr gesättigt. Und Koberger resümierte 1503 wiederum in einem Brief an Amerbach: »[…] man hatt die pfaffen So ganncz außgelertt mitt den buchern so vil gelcz von in czogen Das [sie; CR] nicht mer dar an wollen […]« (Hase, Nr. 68). 2500
2000
1500
1000
500
0
Abb. 1: Anzahl der Titel im deutschen Sprachgebiet (VD 16)
Der Buchdruck wurde mit dem Einsetzen der reformatorischen Bewegung wiederbelebt. Luther selbst bezeichnete den Buchdruck im November 1532 bei einer seiner auf Latein gehaltenen Tischreden als Gottesgeschenk, welches das Wort Gottes im Sinne der Reformation zu verbreiten half (WA TR 1, 523, Nr. 1038). Doch hatte der Reformator schnell bemerkt, dass es den Druckern und Verlegern weniger um die Verbreitung von wichtigen Inhalten ging, als vielmehr ums Geldverdienen. 1518 beauftragte er RhauGrunenberg, seine Appellation an ein allgemeines Konzil zu drucken. Die Exemplare dieser »Appellatio Fratris Martin Luther ad Concilium« sollte der Drucker zur Einlagerung an Luther übergeben, damit er sie nach Eintreffen der päpstlichen Bulle verteilen konnte. Doch dazu kam es nicht, denn RhauGrunenberg hatte fast die gesamte Auflage bereits verkauft, und zwar aus Gewinnsucht, wie Luther in einem lateinischsprachigen Brief desselben Jahres an den Humanisten und Theologen Georg Spalatin bemerkte, der auch engster Vertrauter und Beichtvater Friedrich des Weisen war (WA BR 1, 280, Nr. 124). Die von Rhau-Grunenberg gedruckte »Appellatio« ist im VD16 nicht nachgewiesen, wurde aber schon im selben Jahr von Johann Froben in Basel nachgedruckt (VD16 L3842). Außerdem hatte Froben ohne das Wissen des Reformators eine Ausgabe von Luthers gesammelten lateinischen Schriften herausgebracht (»Ad Leonem X. […] Resolutiones disputationum de
168 Christoph Reske
uirtute indulgentiarum […]«, VD16 L3407) und nach Frankreich, Brabant, England, Spanien und Italien vertrieben, wie er Luther am 14. Februar 1519 freudig auf Latein mitteilte – einen Schutz von geistigem Eigentum eines Autors gab es noch nicht – und dabei konstatierte: »Unsere Exemplare« – alleine 600 hatte er nach Frankreich und Spanien gesandt – »haben wir alle bis auf 10 verkauft; noch bei keinem Buch haben wir einen günstigeren Absatz zu verzeichnen gehabt« (WA BR 1, 331–335, Nr. 146; dt. nach Widmann 1965, I, 346). Ganz glücklich scheint Luther über diese Machenschaften der Verleger und Drucker nicht gewesen zu sein. 1521 klagte er auf Latein in einem Brief an Spalatin: »Daß diese abscheulichen Scharrhänse beim Buchdrucken doch weniger um ihren Gewinn, als um den Vorteil der Leser sorgten! Denn was scheint ein solcher Drucker anders zu denken als: Es ist genug, daß ich Geld verdiene, die Leser mögen sehen, was und wie sie lesen« (WA BR 2, 379–382, Nr. 427; dt. nach Kapp I, S. 418). Diese ernüchternde Feststellung über das Buchgewerbe machte auch der ehemalige Franziskaner Johann Eberlin von Günzburg in seiner 1524, u. a. bei Jakob Schmidt in Speyer, erschienenen Schrift »Mich wundert, daß kein Geld im Land ist«: »Es ist die ganze Welt vff kauffen und verkeuffen ge//richt/ darin doch weder trew nach glaub gehaltenn wiirrdt [!]. […] Sihe zu / wie vnbedacht fallenn die Drucker vff die bücher // oder exemplar / vngeacht ob ein ding bo[e]ß oder gut sei / gutt // oder besser / zimlich oder ergerlich / […] Jtzt sein sie gefallen vff die Lutthe=//rische büchlein / vff heylige gschrifft / auch allein vmb genies / // so mus auch gottes wort irem abgo[e]ttischenn geitz dienenn / […] vn[d] wan d[er] evangelisch han=//del inen nit mehr wil gelten / so falle[n] sie so vast vff den Pa[e]bst//tische[n][…]« (VD16 E136). Druckbetriebe und deren Leistungsfähigkeit Die Buchproduzenten wurden von ihren Zeitgenossen kritisch beurteilt. Unbestritten hatte die Reformation für eine Art Goldgräberstimmung im Buchgewerbe gesorgt. Existierten im deutschen Sprachgebiet im 15. Jahrhundert 62 Druckorte, waren es im 16. Jahrhundert bereits 202. Bezogen auf die etwa 3.500 Städte des Reiches besaßen nur 6 Prozent mindestens eine Druckerei (Reske 2014, 279–281). Die Tabelle in Abbildung 2 zeigt den Anteil von Druckbetrieben in einigen Orten im Laufe des 16. Jahrhunderts. Deutlich dominiert die Reichs- und Universitätsstadt Köln, die zumindest bis 1525 auch Sitz des gleichnamigen Erzbistums war: Im gesamten 16. Jahrhundert hat es in Köln 102 verschiedene Druckbetriebe gegeben, im Jahr 1520 arbeiteten davon 12 gleichzeitig. In der Residenzstadt des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen in Wittenberg hatte es 38 verschiedene Offizine (= Druckereien) gegeben; zunächst arbeiteten nur zwei parallel, 1530 dann fünf und
Buchdruck und Reformation 169
1560 sogar acht verschiedene Betriebe. Mainz, ebenfalls Universitätsstadt und Hauptresidenz des gleichnamigen Erzbistums, hatte im gesamten 16. Jahrhundert nur 12 verschiedene Offizine, von denen höchstens zwei gleichzeitig arbeiteten. Auch der Bistumssitz Speyer, Suffragan des Erzbistums Mainz, hatte 12 unterschiedliche Betriebe im 16. Jahrhundert, im Jahr 1530 arbeiteten davon drei sogar gleichzeitig. Der Bistumssitz Worms, ebenfalls Suffragan von Mainz, kam auf acht unterschiedliche Druckereien, doch gab es im Laufe des Jahrhunderts zeitweise auch gar keine Offizin. Natürlich spiegelt diese Auflistung nicht wider, wie leistungsfähig der jeweilige Betrieb war. Es gab große Druckereien mit zehn und mehr Druckpressen, es überwogen aber kleine Offizine mit teilweise nur einer Druckpresse, die gar nicht in der Lage waren, umfangreiche Bibeln herzustellen, wohl aber kleinere Werke, wie die Flugschriften.
Σ 16. Jh.
1500
1510
1520
1530
1540
1550
1560
Augsburg
38
5
8
12
8
11
8
7
Basel
60
5
8
6
6
14
8
10
Emden
13
-
-
-
1
-
-
2
Erfurt
31
2
3
4
6
3
4
Frankfurt/Main
44
-
-
-
1
3
Heidelberg
18
1
1
-
-
-
Köln
102
8
6
12
11
Leipzig
31
5
5
5
Magdeburg
24
2
1
Mainz
12
1
2
Nürnberg
79
5
7
4
1570
1580
1590
1600
4
3
2
3
11
10
9
6
3
1
1
1
4
4
4
6
6
4
7
14
11
9
10
1
2
2
1
2
4
12
12
12
17
17
19
18
4
4
6
6
5
6
6?
6?
-
4
3
4
4
5
3
3
5
2
1
2
2
1
2
2
1
2
12
10
10
13
11
6
6
8 3
Speyer
12
2
2
2
3
1
1
-
1
2
2
Straßburg
67
7
10
8
13
10
6
8
5
7
7
5
Wien
30
1
2
1
2
1
3
4
1
5
5
2
Wittenberg
38
-
2
2
5
6
6
8
7
7
6
6
Worms
8
-
-
1
1
2
1
1
-
-
-
-
Abb. 2: Anzahl der gleichzeitig betriebenen Druckereien in Städten des deutschen Sprachgebiets
Unter einer Flugschrift versteht man ein aufgrund eines Anlasses bzw. Ereignisses publiziertes ungebundenes Druckwerk von geringem Umfang (Bellingradt 2015, 169–170). Noch in jüngerer Zeit hat der Historiker Johannes Burkhardt konstatiert, dass sich die Flugschrift mit dem Aufkommen der
170 Christoph Reske
Reformation als neue typographische Gattung gebildet habe, und auch der Buchhistoriker Reinhard Wittmann spricht von einer neuen Mediengattung. Doch diese vermeintliche neue Gattung hat es seit Beginn des typographischen Drucks gegeben. Auch die Johannes Gutenberg zugeschriebene, auf Deutsch verfasste »Mahnung wider die Türken« wurde wegen eines Anlasses im Folioformat mit sechs Blättern Umfang hergestellt und genügt der genannten Definition einer Flugschrift (GW M19909). Ebenso waren die um das Jahr 1500 beliebten »Passien«, wie beispielsweise die Vita der Heiligen Katharina im Quartformat mit nur zwölf Blättern Umfang (GW M17500), günstig und schnell herzustellende kleine Druckwerke. Die nur wenige Seiten umfassenden Flugschriften erhalten in der Übersicht zur Titelproduktion des 16. Jahrhunderts in Abbildung 1 genauso viel Gewicht wie eine mehrere hundert Seiten umfassende Bibel. Will man die Leistungsfähigkeit verschiedener Offizine miteinander vergleichen, muss neben dem Umfang eines Buches auch sein Format berücksichtigt werden, also seine Größe. Im 15. Jahrhundert dominierte das einmal gefalzte (= gefaltete) Folioformat. Das heißt, ein Druckbogen bestand aus zwei Blättern und damit vier Seiten. Im 16. Jahrhundert ging man weitgehend auf das halb so große Quartformat über. Der Druckbogen wurde zweimal gefalzt, was vier Blätter beziehungsweise acht Seiten ergab. In einem Druckgang wurden in der Druckpresse zu dieser Zeit beim Foliobogen zwei Seiten, beim Quartbogen dagegen vier Seiten gedruckt. Man muss die Umfangsangaben von Titeln also immer in Relation zum Buchformat setzen, um eine Vergleichbarkeit der Produktion zu gewährleisten. Doch bleibt trotz dieses Aufwands eine wesentliche quantitative Unsicherheit, denn nur selten ist auch die Auflagenhöhe bekannt. Hier ist man weitgehend auf schriftliche Quellen angewiesen, etwa auf Abrechnungen oder Briefe, die jeweils quellenkritisch hinterfragt werden müssen. So wissen wir aus einem Brief von Luther an den Humanisten und Theologen Johann Lang vom 18. August 1520, dass Luthers Flugschrift »An den Christlichenn Adel deutscher Nation« (VD16 L3759) im Jahr 1520 bei Melchior Lotter d. J. in Wittenberg in einer Auflage von 4.000 Exemplaren gedruckt worden war (WA BR 2, 167, Nr. 327). Doch gab es solche Auflagenhöhen vereinzelt auch schon vorher. 1487 wurde der Ablassbrief zugunsten des Xantener St. Viktorstifts in 3.000 Exemplaren gedruckt (Schmitz 1979, 61–62), wobei es hier unbedeutend war, ob der Käufer auch lesen konnte. Lesefähigkeit Die Festlegung der richtigen Auflagenhöhe durch den Drucker oder Verleger ist ein schwieriges Unterfangen. Man hofft, dass die kalkulierten Exemplare auch abgesetzt werden können. Andere Drucker, die den Titel produzieren,
Buchdruck und Reformation 171
denken jedoch dasselbe, und jeder hofft, als erster mit seinem Produkt auf dem Markt zu sein. Es ist eine Illusion zu glauben, dass die produzierten Drucke auch alle abgesetzt wurden. Mitunter wird von diesen Auflagenhöhen auf die Zahl der Leserschaft geschlossen, also: viele Drucke gleich viele Lesefähige. Dieser unterstellte Kausalzusammenhang ist hoch problematisch. Der Flugschriftenforscher Hans-Joachim Köhler hat, ausgehend von einer geschätzten Auflagenhöhe von 1.000 Exemplaren pro Druckwerk, bezogen auf die vermuteten Lesefähigen, berechnet, dass in der Hochphase der reformatorischen Bewegung, also in den Jahren 1521 bis 1525, jeder Lesefähige des Reichsgebietes zehn Flugschriftenexemplare besessen haben müsste. Diese Schätzungen basieren auf einer vermuteten Bevölkerung im Reich von etwa zwölf Millionen, von denen wohl etwa 90 bis 95 Prozent Analphabeten waren, wobei man in den Städten davon ausgeht, dass etwa 30 Prozent der Männer lesen konnten (Köhler 1981, 337–338). Doch sind das nur Schätzungen, keine Gewissheit. Dass der Leseunfähige die Regel war, zeigt 1521 der Vorschlag des bereits erwähnten Eberlin von Günzburg an die Analphabeten in seinem bei Johann Eckart in Speyer gedruckten »Der XV. bundgenoß«: »Kanstu nit selbs lesen / bestel ein armen schuler / // der lißt dir vmb ein stück brot als vyl du ein tag bedarfst« (VD16 E97). Mit Blick auf die große Zahl von Illiteraten im Reich dürfte deutlich werden, dass die Verbreitung des reformatorischen Gedankenguts an die meisten Menschen verbal stattgefunden haben muss. Dies erfolgte natürlich vorrangig auf Deutsch. Für Prädikanten, aber auch des Lesens mächtige Laien, war es einfacher, sich dazu deutschsprachiger Publikationen zu bedienen. Die hierbei innewohnenden Gefahren hatte der Mainzer Erzbischof Berthold von Henneberg bereits 1485 erkannt und ein entsprechendes lateinischsprachiges Zensuredikt erlassen: »Denn wir mußten sehen, daß Bücher, die die Ordnung der heiligen Messe enthalten, und außerdem solche, die über göttliche Dinge und die Hauptfragen unserer Religion verfaßt worden sind, aus der lateinischen in die deutsche Sprache übersetzt wurden und nicht ohne Schande für die Religion durch die Hand des Volkes wandern« (Pallmann 1884, 238–241; dt. nach Widmann 1973, 44–45). Leider erlaubt das VD16 keine Auswertung der Titel nach Sprachen. Um dennoch zumindest einen Eindruck zu erhalten, wurde in Abbildung 3 der Datenbestand des, wie erwähnt, problematischen USTC mit Blick auf die lateinische und deutsche Sprache ausgewertet (jeweils auf volle Zahlen aufgerundet, die Differenzen zu 100 % füllen die anderen Sprachen, wie Griechisch, Niederländisch, Französisch, Dänisch, Englisch, Italienisch und Hebräisch): Demnach lag bis 1517 der Anteil der lateinischsprachigen Titel an der gesamten Buchproduktion im Deutschen Reich bei 73 %, der deutschsprachigen bei 26 %. Dagegen dominierte in den für die Ausbreitung der
172 Christoph Reske
Reformation wichtigen Jahren von 1518 bis 1525 Deutsch mit einem Anteil von 64 % zu 35 %. Und auch bei den Titeln von 1526 bis zur Jahrhundertmitte führte Deutsch mit 61 % zu 37 %. Dagegen überwog bei den Drucken der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts wieder das Lateinische mit einem Anteil von 55 % zu 41 %. Auch wenn man die im USTC verzeichneten Titel des gesamten 16. Jahrhunderts vergleicht, erreichte das Lateinische 51 % gegenüber Deutsch mit 46 %. 100 90 80
26 41
70
64
60
61
46
deutsch
50 40 30
latein
73
20
35
37
1518‐1525
1526‐1550
55
51
1551‐1600
1501‐1600
10 0
1501‐1517
Abb. 3: Anteil lateinischer und deutscher Titel im Deutschen Reich in Prozent (USTC)
Auflage und Auflagenhöhe Ist die Höhe der Auflagen ein großer Unsicherheitsfaktor, so lässt sich zumindest die Zahl der Auflagen aus den Bibliographien ermitteln. Zweifelsfrei zeugt ein häufig abgedrucktes Buch von seiner Beliebtheit. Doch wenn ein Werk mit geringem Umfang von demselben Drucker wieder aufgelegt wurde, ist bei der Interpretation der Nachdrucke Vorsicht geboten. Die erwähnte Lutherschrift »An den christlichen Adel deutscher Nation« hat einen Umfang von 100 Seiten, das entspricht im Quartformat 12,5 Bogen (VD16 L3759). Sie wurde insgesamt 15-mal nachgedruckt, elfmal davon noch im Jahr 1520, wovon zwei Ausgaben von dem Erstdrucker Melchior Lotter d. J. selbst stammen. Das ist ein Indikator für den nicht richtig eingeschätzten Markt. Doch bei einem so geringen Umfang ist das nicht so problematisch, da man die Bogen bei Bedarf schnell neu gesetzt hatte. Dies war in jedem Fall günstiger, als wenn man eine zu hoch angesetzte Auflage nicht hätte verkaufen können.
Buchdruck und Reformation 173
Anders ist diese Kalkulation bei einem umfangreicheren Werk: Das 1522 von Melchior Lotter d. J. gedruckte und von Christian Döring und dem Maler Lucas Cranach d. Ä. verlegte »Neue Testament« von Martin Luther, wegen seiner Publikationszeit »Septembertestament« genannt, hat einem Umfang von 428 Seiten, was im Folioformat 107 Bogen entspricht, die überwiegend als Ternionen, also drei Bogen pro Lage, gebunden wurden (VD16 B4318). Die in der Literatur stets genannte Angabe der Auflagenhöhe von 3.000 Exemplaren stammt wohl von dem Görlitzer Diakon Gottlieb Christian Giese, der sie 1771 aus einer brieflichen Mitteilung Luthers vom 26. Juli 1522 an Spalatin erschlossen hat: »Ante Michaelis non absoluetur, quamquam singulis diebus decies milia Chartarum sub tribus prelis excudant ingenti labore & studio«. Danach befürchtete Luther, dass der Druck des »Neuen Testaments« nicht bis zur Michaelis-Messe abgeschlossen würde, obwohl man mit gewaltiger Arbeit und Mühe jeden Tag 10.000 »chartae« mit drei Druckpressen produzierte (WA BR 2, 580–581, Nr. 523). Giese stellte fest, dass »diese erste Ausgabe vom September wenigstens 3000 Exemplarien stark gewesen seyn muß, weil täglich auf 3 Pressen 10000 Bogen abgedruckt worden sind« (Giese 1771, 198). In der Weimarer Luther-Gesamtausgabe von 1931 wird Gieses Auflagenhöhe von 3.000 Exemplaren durch eine nicht nachvollziehbare Berechnung bestätigt (WA BR 2, 581, Fn. 9). Eine Pressenleistung von über 3.000 beidseitig bedruckten Druckbogen pro Tag ist mit Blick auf Quellen aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die 1.200 bis 1.300 Druckbogen als Tagesleistung einer Druckpresse nennen, höchst unwahrscheinlich (Reske 2017, 25–26). Legt man »chartae« mit der üblichen deutschen Bedeutung »Blätter« zu Grunde, so entsprächen 10.000 Blätter bei dem verwendeten Folioformat 5.000 beidseitig bedruckten Foliobogen, da ein Druckbogen im Folioformat, wie schon beschrieben, aus zwei Blättern besteht. Jede der drei Pressen hätte somit 1.667 Bogen täglich herzustellen gehabt. Aus dem 17. Jahrhundert ist eine Stundenleistung von 120 Druckbogen pro Druckpresse belegt. In Wittenberg hätte man für diese Menge pro Tag danach 14 Stunden drucken müssen, so dass alle 7,5 Sekunden der Pressbengel zu betätigen gewesen wäre, wobei die Rüstzeiten, also das Einrichten der Druckform, hier noch unberücksichtigt sind. Am 20. August 1522 schrieb Luther in einem Brief an Spalatin, dass die Lagen O und f des »Septembertestaments« fertiggestellt waren (WA BR 2, 588–590, Nr. 531) und noch 18 Lagen (= 104 Blätter) bis zur Vollendung am 21. September 1522 fehlten (Schellmann 2018, 9–10). Für deren Druck standen somit noch 32 Tage zur Verfügung, minus der arbeitsfreien Sonntage, also 28 Tage. Bei einer Tagesproduktion von 10.000 Blättern hätte man in diesem Zeitraum 280.000 Blätter herstellen können. Dividiert man diese Zahl durch die 104 noch ausstehenden Blätter pro Exemplar, ergeben sich 2.692 Exemplare, eine Auflagenhöhe, die, wie zu sehen war, höchstens
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als Gewaltakt möglich war. Interessanterweise druckte man lagenweise, jede der drei Pressen übernahm einen der drei Bogen der Lage (Ternio), denn für die im Dezember folgende zweite Auflage konnte man fast den gesamten Satz der ersten Lage des »Septembertestaments« übernehmen. Viel geringer war dagegen die von Luther überlieferte Auflagenhöhe für seine »Vollbibel« aus dem Jahr 1541 (VD16 B2712 u. a.), Luther nannte in einem Brief an Linck vom 29. Dezember 1541 »MD exemplaria«, also 1.500 Exemplare (WA BR 9, 564–566, Nr. 3696). Dem »Septembertestament« von 1522, dessen Auflagenhöhe den Bedarf anscheinend nicht deckte, folgte bereits am 19. Dezember eine zweite, überarbeitete Auflage, die nun auch von Lotter firmiert wurde (VD16 B4319). Bei den Holzschnitten, die aus der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. stammten, mussten in diesem sogenannten »Dezembertestament« auf Drängen des antilutherisch eingestellten Herzogs Georg des Bärtigen von der sächsisch-albertinischen Linie Änderungen vorgenommen werden. In der ersten Auflage besaß die »Babylonische Hure« noch die Tiara, als Symbol des Papstes; in der zweiten Auflage war das provokative Element in eine Krone korrigiert worden, was 1534 in der »Vollbibel« (VD16 B2694) wieder rückgängig gemacht wurde. Bei letztgenannter wissen wir durch den Korrektor des Druckers Hans Lufft, dass Luther bei der Festlegung des Bildprogramms mitgewirkt hatte (Volz 1978, 8). Hier zeigt sich, welch wichtige Bedeutung auch dem Bild bei der Verbreitung der lutherischen Ideen zukam, nicht nur mit Blick auf die Leseunkundigen. Wegen Herzog Georg konnte Leipzig als eine der dominierenden Städte des Buchwesens im Reich nicht offen in den Druck reformatorischer Werke einsteigen, weshalb Wittenberg, als Residenzstadt des sächsischen Kurfürsten Friedrich des Weisen von der ernestinischen Linie, eine so herausragende Stellung als Druckmetropole bekam. Erst nach dem Tod des albertinischen Herzogs im Jahr 1539 wechselte auch Leipzig zum Luthertum und druckte nun ebenfalls offen reformatorische Werke. Das »Neue Testament« wurde ein riesiger Erfolg: 1523 kamen zwölf Nachdrucke in Augsburg, Basel, Grimma und Leipzig auf den Markt, und bis 1524 erschienen 14 autorisierte Ausgaben und 66 Nachdrucke. Luther hatte grundsätzlich nichts gegen den Nachdruck, wurde seine Botschaft so noch mehr verbreitet. Er sorgte sich aber um die Texttreue. In Luthers »Vorrhede und Vermahnung an die Drucker zur Fastenpostille« vom September 1525 führte er zum Nachdruck aus: »Nu were der schaden dennoch zu Leyden, wenn sie [= die Drucker; CR] doch meyne bu[e]cher nicht so falsch und schendlich zu richten. Nu aber drucken sie die selbigen und eylen also, das, wenn sie zu myr widder komen, ich meyne eygene bu[e]cher nicht kenne« (WA 17–2, 3–4). Bereits 1524 ließ er deshalb dem von Döring und Cranach in Wittenberg gedruckten »Ander teyl des alten testaments« ein Wappen-
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schild mit dem Lamm Gottes mit Kreuzesfahne und der Lutherrose hinzufügen: »Dis zeichen sey zeuge / das solche bucher durch // meine hand gangen sind / den[n] des falsche[n] drucke[n]s // vnd bucher verderbens vleyssigen sich ytzt viel« (VD16 L2909). Tatsächlich wurde dieses Zeichen von den anderen Druckern respektiert. Als 1525 Bogen einer Postille in Wittenberg gestohlen und zum Druck nach Nürnberg verbracht worden waren, wendete sich Luther an den dortigen Rat, dass mit diesem Diebstahl die Wittenberger Drucker um ihr Brot gebracht würden. Überhaupt sollten die Nürnberger doch sieben oder acht Wochen mit dem Nachdruck warten, denn deren Bücher würden auch in Wittenberg vertrieben, im Gegensatz zu den am Rhein gedruckten Nachdrucken (WA BR 3, 577–579, Nr. 924). Die Reformation und die Drucker in Mainz, Worms und Speyer Für Luther stellten die Drucker im Westen also kein Problem dar, wie etwa Johann Eckhart aus Speyer, der 1521 mit dem fast ausschließlichen Druck von reformatorischen Flugschriften begann, unter anderem mit Luthers »Rede vom geistlichen Leben der Klöster« (VD16 L5013). Er druckte nur vier Jahre, stellte aber 72 Drucke her, die jedoch bis auf drei unfirmiert waren. Die Pflicht der Firmierung, also Name und Druckort in den Drucken anzugeben, wurde erst mit dem Augsburger Reichstagsabschied von 1530 vorgeschrieben. Nicht selten umging man dies mit fingierten Angaben. So erschien um 1545 »Ein Christlichs vnd trosthafftiges Gesprächbüchlin / so mit etlichen der Widertauffer öbristen Rabonen oder Vorsteher gehalten« von Jobst Kinthis aus dem pfälzischen Freinsheim. Die dem Kurfürsten Friedrich von der Pfalz gewidmete Schrift betrachtet das Täufertum aus Lutheraner Sicht. Der Name des Autors, von dem sich lediglich zwei weitere Schriften in Frankfurt am Main belegen lassen, taucht auch im Impressum auf: »Getrückt zu Freinßheim / durch Jodocum Kinthisium« (VD16 K917). Jobst Kinthis ist als Drucker und Freinsheim als Druckort unbekannt. Es gelang, den vermeintlichen Freinsheimer Druck von Jobst Kinthis anhand des Druckmaterials dem Wormser Drucker Gregor Hofmann zuzuweisen. Auch Hofmann gehörte zu den Kleindruckern, für den sich in elf Jahren Tätigkeit nur 32 Titel belegen lassen, keiner von Luther. Fingierte oder nicht firmierte Drucke sind ein Problem der Buchforschung. Bei ihnen muss man aus dem Druckmaterial, also den Drucktypen und dem Buchschmuck, auf den Drucker schließen. Im Gegensatz zu den Drucken des 15. Jahrhunderts, wo sich diese Methode bewährt hat und Drucker mit großer Sicherheit aufgrund ihres Druckmaterials identifiziert werden können, war das Druckmaterial im 16. Jahrhundert durch den einsetzenden gewerbsmäßigen Handel weniger vielfältig und wurde gerne ver-
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liehen oder weiterverkauft, weshalb eine Zuordnung schwieriger ist. Doch auch die Zeitgenossen waren anscheinend in der Lage, den Drucker einer Schrift zu ermitteln, wenn auch im folgenden Beispiel mit viel Aufwand: 1528 konnte man für Christoph Freislebens wiedertäuferische Schrift »Vom warhafftigen Tauff Joannis, Christi vnd der Aposteln« (VD16 F2630) als Drucker den Speyerer Schreiber des städtischen Kammergerichts Jakob Schmidt feststellen. Für ihn lassen sich in 16 Jahren Drucktätigkeit immerhin 101 Titel nachweisen, fast alle deutschsprachig, 15 davon von Luther. Schmidt wurde verhaftet, doch der Speyerer Rat maß der Sache keine große Bedeutung bei, denn Schmidt kam bald frei und durfte auch wieder als Gerichtsschreiber arbeiten. Dies führte zu heftigen Auseinandersetzungen mit dem Speyerer Bischof, worauf Schmidt noch im selben Jahr sein Amt aus Altersgründen niederlegte, er müsste etwa Ende 50 gewesen sein. Schmidt stand, wie sein Druckmaterial nahelegt, in einem Abhängigkeitsverhältnis zu Peter Drach d. J. (= III.), dem letzten Spross der berühmten Speyerer Drucker-Verleger-Buchhändler-Dynastie. Drachs Drucke lassen auf eine katholische Gesinnung schließen, die ihm aber nichts nützte, als er in der Dombibliothek die »Metaphysica« des Albertus Magnus ausleihen wollte, denn man verweigerte die Herausgabe der prächtigen Pergamenthandschrift aus Furcht vor einer Verschmutzung (Mäkeler 2005, 45). Drachs geringe Druckaktivität – in 22 Jahren können lediglich 23 Titel belegt werden, darunter keiner von Luther – lässt annehmen, dass er vor allem von seiner Tätigkeit als Gerichtsschultheiß und nicht von der als Drucker lebte. Auch die »Trias Rhomana« von Ulrich von Hutten (VD16 T1913), in der die üblen Zustände in Rom angeprangert wurden, erschien 1535 ohne Firmierung. Als Drucker konnte aufgrund des Typenmaterials der Wormser Sebastian Wagner ermittelt werden, bei dem es sich ebenfalls um einen Kleindrucker handelte, der in sieben Jahren Tätigkeit 38 Titel produzierte, darunter keinen lutherischen. Das Typenmaterial war nicht sein eigenes, sondern stammte von dem Mainzer Drucker Johann Schöffer, weshalb der Buchhistoriker Josef Benzing einen von Wagner geführten Wormser Filialbetrieb Schöffers vermutete. Johann Schöffer betrieb als Nachfolger seines Vaters Peter Schöffer d. Ä., der Geselle von Gutenberg gewesen war, seit 1503 eine Offizin im väterlichen Druckhaus, dem Hof zum Humbrecht in der heutigen Schusterstraße. Er war Drucker des Reiches, des Mainzer Domkapitels, des Mainzer Erzbischofs und der Universität. Unter seinen über 300 im VD16 verzeichneten Titeln, die er im Laufe seiner 30-jährigen Tätigkeit herstellte, waren viele Klassikerausgaben, humanistische Werke, etwa von Erasmus von Rotterdam oder Ulrich von Hutten, diverse Gesetzeswerke und Liturgica. Aus diesen Eckdaten geht bereits hervor, dass er vor allem der katholischen Seite verpflichtet und
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dienstbar war. Neun Werke des Mainzer Dompredigers Friedrich Nausea lassen sich nachweisen und für das Jahr 1515 Schriften gegen den Reichsritter und Reformationsbefürworter Franz von Sickingen. Er druckte aber auch vier Werke des Wittenberger Humanisten und Mitreformators Philipp Melanchthon und sieben Titel von Luther. Handelt es sich bei den beiden Luther-Drucken von 1519 noch um Rechtfertigungen Luthers, also eher im Sinne des Reformators, so wandelt sich dies in den Drucken von 1524 bis 1526, nach einem Verbot der Lutherschriften 1521 durch das Wormser Edikt. Die von Schöffer gedruckten Luthertitel waren nun allgemeiner Art, beschworen die alte Ordnung, wie »Widder die Mordischen vnnd Reubischen Rotten der Bawrnn« (VD16 L7492), oder dienten der gelehrten Auseinandersetzung, wie etwa Luthers reformatorisches Schlüsselwerk, der »Römerbrief des Paulus«, aus dem er die Erkenntnis der Gnade für alle Menschen durch Gott abgeleitet hatte (VD16 L5669), oder sein Hauptwerk, die Übersetzung des »Neuen Testaments« (VD16 B4343), denn für Luther galt die sola scriptura, die Alleingültigkeit der Heiligen Schrift in Glaubensfragen. Peter Schöffer d. J. unterlag nicht wie sein Bruder Johann den engen Bindungen zur Obrigkeit und fiel in Mainz vor allem durch die Herstellung diverser Musikdrucke auf. Peter war ein begeisterter Anhänger der reformatorischen Ideen und konnte bereits als Drucker der humanistischen »Dunkelmännerbriefe« nachgewiesen werden. In Mainz war er mit seiner Einstellung gefährdet, weshalb er 1518 in Worms eine Filialdruckerei einrichtete und 1520 ganz dorthin übersiedelte. Seine reformatorische Einstellung sorgte wohl dafür, dass nicht er mit den Drucken des 1520 in Worms stattfindenden Reichstages beauftragt wurde, sondern man eigens Hans von Erfurt aus Augsburg holte. Hans von Erfurt druckte in Worms bis 1522 33 Titel, auch Werke von Luther, vor allem aber die offiziellen Schriften des Reichstages, so die »Verhörung Rede vnd widerrede Doctor Martini Luthers« (VD16 R2792–R2794) und das bereits erwähnte Wormser Edikt: »Der Römischen Kaiserlichen Maiestat Edict wider Martin Luther Bücher vnd lere seyne anhenger Enthalter vnd nachuolger vnnd Etlich annder schmeliche schrifften. Auch Gesetz der Druckerey« (VD16 D924), das 1521 nicht nur die Schriften Luthers, sondern sämtliche Schriften gegen den Papst und die Kirche verbot. Peter Schöffer d. J. druckte hingegen in Worms unbeirrt reformatorische Werke, insgesamt lassen sich dort 81 Titel belegen, fast ausschließlich religiöser Natur. 1529 stellte er sogar die erste protestantische deutschsprachige Vollbibel her, noch vor Luther, die er auch vollständig firmierte. Für diese sogenannte »kombinierte Vollbibel« (VD16 B2681) verwendete er Luthers Übersetzung der drei Teile des »Alten Testaments« und das »Neue Testament«
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in Form des Zürcher Nachdrucks von 1527, die Übersetzung der »Prophetenbücher« aus dem Hebräischen in einer auf den Täufern Ludwig Hätzer und Hans Denck fußenden Übertragung Zürcher Prädikanten und die »Apokryphen« in der Übersetzung des Reformators Leo Jud, der mit seinem Freund, dem Reformator Ulrich Zwingli, auch an der Zürcher Bibelübersetzung beteiligt war (Reinitzer 1983, 160–164). Doch noch im selben Jahr wurden die Täufer auf dem Speyerer Reichstag verboten und Schöffers Tun in Worms nicht mehr geduldet. Er ließ seine guten Verbindungen spielen und konnte auf Vermittlung des ehemaligen Mainzer Domprädikanten Wolfgang Faber Capito zu ihm ins protestantische Straßburg übersiedeln. Aber nicht nur Peter Schöffer d. J. war mit seiner protestantischen Vollbibel schneller als Luther, sondern auch auf katholischer Seite schaffte es der Mainzer Drucker Peter Jordan am 27. Juni 1534, eine von dem Dominikaner und Mainzer Theologieprofessor Johannes Dietenberger neu ins Deutsche übersetzte katholische »Vollbibel« mit 109 Holzschnitten von Sebald Beham und Anton Woensam fertigzustellen. Allerdings gelang das nur mit finanzieller Hilfe des Kölner Verlegers Peter Quentel, wie der Kolophon belegt: »Getruckt inn der Ertz//bischofflichenn Stadt Meintz / bey Peter // Jordan/Jnn kosten vnd verlegung / des […] // […] Herren Peter Qentels/Bur=//ger vnd Bůchtruckher zů Ko[e]llen. Vnd selig=//lich volendet / am siben vnd zwentzigsten // tag des Brachmonats. Nach Christi // […] // […] Jm // Fünfftzehenhun//dertsten vnd // vier // vnnd dreyssigsten Jare« (VD16 B2693). Die Herstellung in Mainz ermöglichte Dietenberger eine Kontrolle des Druckprozesses. Luthers »Vollbibel« vollendete man erst im September 1534 in Wittenberg bei Hans Lufft (VD16 B2694), gerade rechtzeitig für die am 4. Oktober in Leipzig beginnende Herbstmesse. Die Bibel wurde mit 117 Holzschnitten aus der Werkstatt von Lucas Cranach d. Ä. ausgestattet und erschien im Verlag von Moritz Goltz, Christoph Schramm und Bartholomäus Vogel. Der Mainzer Drucker Peter Jordan ist aber vor allem für sein Werk zum Elementarleseunterricht »Leyenschul« bekannt, das auch für die Unterrichtung von geistig behinderten Kindern gedacht war. Er firmierte sehr präzise: »Getruckt zů Meyntz bey Peter // Jordan / wone[n]d zur Gülden Led//derhosen / vff dem graben.« (VD16 ZV22178). Durch diese genaue Angabe wusste man, dass das Buch im »Haus zur goldenen Lederhose« auf dem Graben, also in der heutigen Holzstraße, erworben werden konnte, ein übliches Marketingelement des Buchvertriebs. Jordans antilutherische Haltung belegt unter anderem sein 1531 gedrucktes namentlich firmierte »Bockspiel Martin Luthers« (VD16 ZV20425). Jordan druckte nur vier Jahre und stellte dabei immerhin 35 Titel her, darunter keinen Lutherdruck. Er fand sich stets in einer finanziell prekären Lage, die noch schlimmer wurde, als sein Unterstützer, der Mainzer Domprediger Friedrich Nausea, nach Wien ging.
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Ein Förderer stand auch hinter dem letzten Beispiel eines Mainzer Druckers, dem aus Sachsen stammenden Franz Behem. Er hatte 1535 die Nichte des katholischen Theologen, Luthergegners und Humanisten Johannes Cochläus geheiratet, der mit dem Übertritt Dresdens zum Luthertum seinen dortigen Drucker Nikolaus Wolrab verloren hatte. Cochläus vermittelte daraufhin den bisherigen Buchbinder und Buchhändler Franz Behem als Drucker ins katholische Mainz, wobei er erfolgreich um finanzielle Hilfe bei den Kardinälen Contarini und Farnese anfragte. Man richtete die Offizin im Viktorstift vor dem heutigen Volkspark ein und kooperierte wiederum mit dem katholischen Köln, wobei Cochläus behilflich war. 1549 schlossen sich der Kölner Drucker Johann Quentel, der Mainzer Verleger Theobald Spengel und Franz Behem zur »Großen Kompagnie« zusammen, die nicht nur Geld verdienen, sondern vor allem katholische Literatur verbreiten wollte. Dies schrieb Cochläus im selben Jahr an Kardinal Cervino, den späteren Papst Marcellus II., um an ein päpstliches Privileg für in Deutschland gedruckte und nach Italien gelieferte Bücher zu gelangen, allerdings vergebens. 1552 wurde für Behem ein Schicksalsjahr, denn erst starb sein Förderer Cochläus und dann wurde das Viktorstift von marodierenden Söldnertruppen des Markgrafen Albrecht Alcibiades von Brandenburg-Kulmbach zerstört. Behem findet sich 1555 als Hausmeister des Mainzer Kaufhauses, druckte aber auch weiter, denn 1557 firmierte er in dem »Gleichnis vom verlorenen Sohn« des Mainzer Dompredigers Johannes Wild: »Gedruckt inn der Chůrfůrstlichen // Statt Meyntz durch Franciscum // Behem zům Maulbaum. // Jm Jar // M. D. LVII.« (VD16 W2981). Das »Haus zum Maulbaum« befand sich in der heutigen Birnbaumgasse. Doch das Druckgeschäft war mühsam, denn 1567 arbeitete Behem wieder als Hausmeister, nun aber im Kronberger Hof. Behem ist exemplarisch für viele Drucker, die mehr schlecht als recht von ihrer Tätigkeit leben konnten – und das, obwohl in seiner 42-jährigen Drucktätigkeit 347 Titel für ihn nachzuweisen sind, davon fast ein Drittel (105 Titel) vom Domprediger Wild, 55 von dem ehemals mit Luther sympathisierenden, dann aber beim alten Glauben verbleibenden Theologen Georg Witzel und 19 Titel seines Gönners Cochläus. Exkurs in das konfessionelle Zeitalter Von der Reformation haben die Drucker im Mainzer Raum nicht profitieren können, und zwar nicht nur wegen des Druckverbots lutherischer Werke, auch die altkirchlichen Gegenschriften waren zu wenig gefragt. Nur wenige Drucker konnten von ihrer Drucktätigkeit leben. Wenn wir die bereits gezeigte Grafik in Abbildung 1 mit der Titelzahl nach dem VD16 bis in die zweite Hälfte des 16. Jahrhunderts, also bis in das sogenannte konfessionelle
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Zeitalter, verfolgen, stellen wir einen kontinuierlichen Anstieg der Titelproduktion fest. Doch handelt es sich hier um keinen weiter steigenden Bedarf. Vielmehr spiegelt dies die veränderten Bedingungen im Buchhandel wider: Man war aufgrund der umständlichen, durch die vielen Territorialstaaten des Reichs bedingten Währungsumrechnungen vom bisherigen Nettohandel auf einen Naturalhandel umgestiegen. Bei diesem sogenannten Tauschhandel wurde Bogen gegen Bogen getauscht, der Inhalt spielte nur noch eine untergeordnete Rolle. Die Folge war, dass man zunehmend am Markt vorbei produzierte und wohl auch nicht immer wusste, was man da tauschte. So rechtfertigten sich 1557 die Leipziger Buchhändler vor dem Rat wegen des Vertriebs von Basilius Monners Schrift über den Schmalkaldischen Krieg, dass sie »solch buch zu Frangkfurt nicht gelesen, sondern wie es pflegt inn Messen in gedreng vnd eil zuzugehen, nicht mehr dann den Titel gesehen […]« (Kirchhoff 1879, 38). Hier muss man sich hüten, von Produktionszahlen auf einen tatsächlichen Bedarf zu schließen. So verfügte etwa der Leipziger Buchhändler Heinrich Simon noch im 17. Jahrhundert über diverse Bücher aus der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts, die er vergeblich feilbot: Im Jahr 1677 hatte er noch 74 Exemplare eines »Luther-Katechismus« von 1570, der nun unverkäuflich geworden war (Fuchs 2014, 19). Reformation als Teil einer »Medienrevolution«? Johannes Burkhard sieht die Reformation als ersten Anwendungsfall der neuzeitlichen »Medienrevolution« (Burkhardt 2002, 15). In der Tat bewirkte die Reformation eine quantitative Veränderung bei gedruckten Medien. Doch war das Teil einer Revolution der Medien? Der Begriff »Medienrevolution« wurde von den Kommunikationswissenschaftlern für die Phasen eingeführt, in denen grundlegende mediale Veränderungen stattgefunden haben. Theoretisch kommt eine Veränderung des Trägers von Information oder aber von Ausmaß und Nutzung seiner Verwendung in Betracht. Die Durchsetzung des Buchdrucks in der Frühen Neuzeit, gemeint sind die etwa 100 Jahre seit der Erfindung bis Mitte des 16. Jahrhunderts, bezeichnet der Kommunikationswissenschaftler Michael Giesecke als die dritte »Medienrevolution« (Giesecke 1990, 1–2). Zu den komplexen Erörterungen dieser Frage siehe beispielsweise die Ausführungen des Germanisten Frieder Schanze (Schanze 1999), doch seien einige Anmerkungen erlaubt. Das lateinische revolutio bedeutet »Zurückwälzen« und kann als »grundlegende Umwälzung« verstanden werden. In diesem Fall hier hätte der Buchdruck also eine grundlegende Umwälzung bei den Medien bewirkt. In der Tat erlaubte der Buchdruck eine bisher nicht gekannte Vervielfältigung von Text- und Bildinhalten, die äußere Form etwa des Buches blieb jedoch gleich. Die Vervielfältigungsmög-
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lichkeit sorgte innerhalb weniger Jahre für eine Sättigung des Buchmarktes, und der Buchdruck erhielt erst durch die Reformation mit ihren neuen interessanten Inhalten eine Wiederbelebung. In welcher Menge tatsächlich gedruckt wurde, ist nur teilweise überliefert, überwiegend bleiben diese Angaben Vermutungen. Zudem fällt es meines Erachtens mit Blick auf die anders gelagerte Kommunikation der vielen Illiteraten im Deutschen Reich des 15. und 16. Jahrhunderts schwer, hier von einer grundlegenden medialen Umwälzung zu sprechen. Bei den Titelzahlen bis zum Ende der Frühen Neuzeit ist allerdings ein kontinuierlicher Anstieg erkennbar: Sind für das 15. Jahrhundert europaweit etwa 30.000 Titel (GW) verzeichnet, so sind es, nur auf den deutschen Sprachraum bezogen, im 16. Jahrhundert bereits über 120.000 Titel (VD16), im 17. Jahrhundert etwa 270.000 Titel (VD17) und im 18. Jahrhundert wird von fast 600.000 Titeln (einschließlich Zeitschriften) ausgegangen (VD18). Es liegt auf der Hand, dass der Anstieg dieser Produktion nur Sinn ergibt, wenn auch die Zahl der Rezipienten stieg, also der Lesefähigen, was erst mit der Einführung der allgemeinen Schulpflicht ab dem 18. Jahrhundert (z. B. in Preußen) Realität wurde. Zweifellos bewirkte der Buchdruck eine mediale Veränderung, die aber mit Blick auf die allmählich steigenden Produktionszahlen im Laufe der gesamten Frühen Neuzeit nicht abrupt, sondern langsam erfolgte – statt einer »Medienrevolution« scheint vielmehr eine »Medienevolution« stattgefunden zu haben, zumal die Medien selbst sich nicht verändert haben. Fazit Wenn wir das Gesagte rekapitulieren, wird deutlich, dass das Diktum »ohne Buchdruck keine Reformation« zu kurz greift. Luther war zum richtigen Zeitpunkt am richtigen Ort, er hatte wichtige Fürsprecher, vor allem aber fiel seine Botschaft auf reges Interesse seiner Zeitgenossen, vermittelt durch den Klerus, die Humanisten und den Buchdruck. Der Buchdruck ermöglichte eine schnelle Vervielfältigung und Verbreitung der reformatorischen Schriften, was zu Beginn der Reformation zu einer nie dagewesenen Titelzahl führte. Die hierfür primär eingesetzte Flugschrift war jedoch keine mediale Neuschöpfung der Reformation, sondern gehörte bereits zu den ersten Druckprodukten Gutenbergs. Mit der Reformation wurde medial nichts Neues eingeführt, aber bereits Vorhandenes konsequent angewendet. Bei all der Euphorie gegenüber dem Buchdruck und den vielen reformatorischen Druckprodukten sollte nicht vergessen werden, dass die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung im Deutschen Reich illiterat und auf Vorlesen oder Bildbetrachtung angewiesen war. Der Begriff der »Medienrevolution« scheint den Entwicklungen zu Beginn der Frühen Neuzeit nicht gerecht zu
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werden, bei den sich langsam vollziehenden medialen Entwicklungen lag wohl eher eine »Medienevolution« vor. Ein weiteres oft zitiertes Detail zur Reformationsforschung betrifft die Auflagenhöhe des »Septembertestaments«, das nicht in 3.000 Exemplaren gedruckt worden sein kann, sondern höchstens in 2.700 Exemplaren. Die Drucker im streng katholischen Mainz konnten von den gefragten reformatorischen Inhalten nicht profitieren: Johann Schöffer hatte mit seinem Programm dennoch sein Auskommen, Franz Behem anscheinend weniger. Großzügiger ging es in Speyer zu, wo im reformatorischen Sinne Johann Eckhart und Jakob Schmidt agierten, wenn auch nur kurz. Tatsächliche Akzente für die reformatorische Bewegung konnte lediglich Peter Schöffer d. J. in Worms setzen. Abkürzungen, Quellen GW = Gesamtkatalog der Wiegendrucke (online). Index Aureliensis. Catalogus librorum sedecimo saeculo impressorum, Teil 1-, Aurelia Aquensis (= Baden-Baden) 1965– (derzeit bei Teil 17, F–FER, 2014). USTC = Union Short Title Catalogue (online). VD16 = Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 16. Jahrhunderts (online). VD17 = Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 17. Jahrhunderts (online). VD18 = Verzeichnis der im deutschen Sprachraum erschienenen Drucke des 18. Jahrhunderts (online) WA = D. Martin Luthers Werke. Kritische Gesamtausgabe. Weimar 1883– 2009: WA Briefe, Bd. 1, 1930, S. 280, Nr. 124 (Luther an Spalatin, 20.12.1518) WA Briefe, Bd. 1, 1930, S. 331–335, Nr. 146 (J. Froben an Luther, 14.2.1519) WA Briefe, Bd. 2, 1931, S. 167–168, Nr. 327 (Luther an Lang, 18.8.1520) WA Briefe, Bd. 2, 1931, S. 379–382, Nr. 427 (Luther an Spalatin, 15.8.1521) WA Briefe, Bd. 2, 1931, S. 580–581, Nr. 523 (Luther an Spalatin, 26.7.1522), Kom. in Fn. 9 WA Briefe, Bd. 2, 1931, S. 588-590, Nr. 531 (Luther an Spalatin, 20.8.1522) WA Briefe, Bd. 3, 1933, S. 577–579, Nr. 924 (Luther an den Rat zu Nürnberg, 26.9.1525) WA Briefe, Bd. 9, 1941, S. 564–566, Nr. 3696 (Luther an Linck, 29.12.1541) WA Tischreden, Bd. 1, 1912, S. 523, Nr. 1038 WA Schriften, Bd. 17, Abt. 2, 1927, S. 3–4 (Fastenpostille, wohl VD16 L3949).
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rudolf steffens
Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben Martin Luthers Bibelübersetzung und die Entstehung unserer Schriftsprache
1. Vorbemerkungen
M
ehrfach hat sich Martin Luther (1483–1546) darüber geäußert, wie mühevoll für ihn und seine Helfer die Übersetzung der Bibel war. Dabei spart er nicht mit Eigenlob: »Aber die biblia – das ich mich zwar nicht lob, sondern das werck lobt sich selber – ist so gutt vnd köstlich, das sie besser ist als alle versiones Greckisch vnd Lateinisch, vnd man findt mehr drinnen als in allen commentariis, den wir thun die stöck und plöck aus dem weg, das ander leutt ohne hindernus drinnen lesen mögen« (a. 1540, WA TR 5, Nr. 5324). Den zeitgenössischen katholischen Kritikern seiner Bibelübersetzung – gemeint sind vor allem Hieronymus Emser (1478–1527) und Johannes Cochläus (1479–1552) (zu beiden weiter unten) – schleudert er im »Sendbrief vom Dolmetschen« entgegen: »Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben« […]. »Und was sol ich vil und lange sagen vom dolmetzschenn?« […] »Was dolmetschen fur kunst und erbeit sey, das hab ich wol erfaren, darumb will ich keinen papstesel und maulesel, die nichts versucht haben, hierinn zum richter oder thadeller leiden« (a. 1530, WA 30, 2. Abt., S. 627–631: Vorbemerkungen, S. 632–646: Text, hier S. 639). Kaum überschaubar sind die Äußerungen über Luthers Sprache, insbesondere die der Bibelübersetzung. Etwas mehr als hundert Jahre nach seinem Tod schreibt der Marburger Theologe und Historiker Johann Balthasar Schupp (1610–1661): »Lutherus ist ein rechter Teutscher Cicero gewesen. Und wer recht gut Teutsch lernen will, der lese fleissig die Teutsche Bibel« […] (Josten, Sprachvorbild, S. 120). Und auch Jacob Grimm (1785–1863) äußert sich: »Man darf das neuhochdeutsche in der that als den protestantischen dialect bezeichnen« […]. »Was aber ihren geist und leib« [gemeint ist die deutsche Spra-
188 Rudolf Steffens
che R. St.] »genährt, verjüngt, was endlich blüthen neuer poesie getrieben hat, verdanken wir keinem mehr, als Luthern« (Besch, Die Rolle Luthers, S. 1715). Eine kompetente Zusammenschau von Luthers sprachlicher Leistung verdanken wir Werner Besch. Hier sind seine Studie »Die Rolle Luthers für die deutsche Sprachgeschichte« (2000) und die Monographie »Luther und die deutsche Sprache. 500 Jahre deutsche Sprachgeschichte im Lichte der neueren Forschung« (2014) zu nennen. Hierauf aufbauend will dieser Beitrag einige Aspekte von Luthers Sprache behandeln. 2. Luthers Sprache 2.1 Der Kampf- und Agitationswortschatz Die Katholiken und der Papst Hier kann nur folgendes angedeutet werden: Luthers Wortwahl wird im Laufe der Zeit immer radikaler. Am 31. Oktober 1517 schickt Luther aus Wittenberg seine Ablassthesen an Bischof Hieronymus Schulz (1460–1522) in Brandenburg, in dessen Diözese Wittenberg lag, und an den diesem übergeordneten Erzbischof von Magdeburg (und Erzbischof von Mainz) Albrecht von Brandenburg (1490–1545). Das lateinische Begleitschreiben an Albrecht (WA BR 1, Nr. 108 ff.) ist geradezu servil (in Übersetzung): »Verzeiht mir, ehrwürdiger Vater in Christo, durchlauchtigster Kurfürst, dass ich, der geringste unter den Menschen, so unbesonnen und vermessen bin und es wage, an Eure höchste Erhabenheit einen Brief zu richten.« Schon vor dem Reichstag zu Worms im Jahre 1521 wird Luthers Sprache kämpferisch, ja radikal. Bald machen seine Verunglimpfungen vor niemandem mehr Halt. Der Reformator zeigt großes Talent bei der Schaffung neuer Wörter (Neologismen). »Seine Dämonomanie, die ihn hinter jedem Busch und im Grunde hinter jeder anderslautenden Lehrmeinung einen Teufel sehen ließ […]« (Christian Geyer, FAZ 18.11.2014, S. 11), findet ihren sprachlichen Niederschlag. Renate Bebermeyer hat in ihrer Studie über Luthers »Teufel«-Komposita in knapp 40 Fällen den »Teufel« in Zweitgliedern von Komposita ermittelt, z. B. »Ablaßteufel« [der Papst], »Bullenteufel« [der Papst, der die päpstlichen Bullen / Urkunden herausgibt], »Erzteufel«, »Papstteufel«, »Pfaffenteufel« usw. In rund 80 Fällen steht der »Teufel« im Erstglied. Fast alle Wörter referieren auf den Papst, die Papstkirche und das gesamte Umfeld: »Teufelsapostel«, »Teufelsbande«, »Teufelsdiener«, »Teufelskirche« usw. Zu Bezeichnungen für den Papst siehe auch weiter unten. Seinen Gegenspieler, den oben schon erwähnten katholischen Theologen Hieronymus Emser, Sekretär und Kaplan Herzog Georgs des Bärtigen von Sachsen (1471–1539), der im Jahre 1527 eine Übersetzung des neuen Tes-
Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben 189
taments als sogenannte Korrekturbibel vorlegt, beschimpft Luther im »Sendbrief vom Dolmetschen« (a. 1530, WA 30, 2. Abt., S. 634) als »den Sudler zu Dresden«, da dieser vielfach einfach Luthers Übersetzung übernommen habe: »verkaufft also mein New Testament unter seinem namen« (ebd.). Im Jahre 1538 nennt Luther Kardinal Albrecht von Brandenburg einen »Scheisbischoff« und einen »schendlichen Scheispfaffen« (»Erklärung gegen Simon Lemnius«, WA 50, S. 351). In seinen deutschsprachigen Reformschriften »An den christlichen Adel deutscher Nation« (a. 1520, WA 6, S. 381–403: Vorbemerkungen, S. 404– 469: Text) und »Von der Freiheit eines Christenmenschen« (a. 1520, WA 7, S. 12–19: Vorbemerkungen, S. 20–38: Text) zeigt Luther den Weg zur Neubegründung von Religion und Kirche auf. In der Adelsschrift ist eine markante sprachliche Radikalisierung zu beobachten. Der Reformator Johann Lang (1487–1548) spricht von einem »Stoß in die Kriegsposaune« (WA 6, S. 396), der Katholik Johannes Cochläus (1479–1552) nennt sie »ein barbarisches und aufrührerisches Buch« (WA 6, S. 397). Einige wenige Beispiele mögen genügen. Im päpstlichen Rom sei »kauffen, vorkeuffen, wechszelin, tauschen, liegen, triegen, rauben, stelenn, prachten, hurerey, buberey« (WA 6, S. 425) an der Tagesordnung. Die in der neutestamentlichen Apokalypse zu findenden Aussagen über den Antichristen bezieht Luther auf den Papst. Bezeichnete Luther den amtierenden Papst zunächst in lateinischen Privatbriefen der Jahre 1518 und 1520 als den Antichristen (»Antichristum illum verum« […] »in Romana curia regnare«, a. 1518, WA BR 1, Nr. 121; ähnlich a. 1520, WA BR 2, Nr. 257 und ebenfalls a. 1520, Nr. 327), so wird dieser Vorwurf jetzt durch die Adelsschrift öffentlich: Der Papst »solt schier der widderchrist sein, den die schrifft heyssit Antichrist, geht doch alle sein weszen, werck unnd furnehmen widder Christum, nur Christum weszen unnd werck zuvortilgen und vorstoren« (WA 6, S. 434). Der Papst sei ein »stinckender sunder« (S. 436). »Wider das Papsttum zu Rom, vom Teufel gestiftet« (a. 1545, WA 54, S. 195–205: Vorbemerkungen, S. 206–299: Text) ist Luthers letzte Kampfschrift, die an sprachlicher Wucht alles bisher von ihm Geäußerte übertrifft. Das Pamphlet richtet sich an Papst Paul III. (1468–1549), der in der ersten Zeile genannt wird. Luther redet ihn mit »Aller Hellischter vater« und mit »Ewer Hellischeit« (S. 207) an. Dies ist ein Sprachspiel. Das Adjektiv »höllisch« hatte zu Beginn des 16. Jahrhunderts noch die Form »hellisch«, die »Hölle« war die »helle« (erst später wird in Wörtern wie »lewe«, »mewe« oder »scheffe« die Vokalrundung »e« > »ö« durchgeführt: »Löwe«, »Möwe«, »Schöffe«). Vor der Rundung »e« > »ö« hat »hellisch« eine gewisse lautliche Nähe zu »heilig«. Luther redet den Papst aber nicht mit »Eure Heiligkeit«, sondern mit »Eure Höllischheit« an.
190 Rudolf Steffens
Weiter: »Jn des sehen und hoͤ ren wir, wie der Bapst so ein meisterlicher Geuckeler ist. Denn gleich wie ein Geuckler den albern leuten ins maul guͤ lden gauckelt, Aber wenn sie es auf thun, so haben sie pferds dreck drinnen« […] (S. 207). Luther nennt Rom »die heilige Bubenschule« (S. 211) [Schule der Büberei, Brutstätte allen Übels], der Papst wird als »der Roͤ mische schalck« (S. 215), als »Spitzbube« (S. 218) bezeichnet. In direkter Anrede wird zum Papst gesagt: »Du bist doch ein grober Esel, du Bapst Esel, und bleibst ein Esel!« (S. 221) Der Verdauungsapparat wird jetzt in die Verunglimpfung des Papstes mit einbezogen: »das der fartz Esel zu Rom« […] »aus seinem garstigen bauch fartzet« (S. 222). Der Papst sei »ein stathalter des Teufels, ein feind Gottes, ein widersacher Christi und verstoͤ rer der Kirchen Christi, Ein lerer aller luͤ gen, Gottslesterung und abgoͤ ttereien, Ein Ertzkirchendieb und Kirchenreuber« […], »Ein hurnwirt uber alle hurnwirte und aller unzucht« (S. 283 f.). Die Studien »Luther und die neuhochdeutsche Schriftsprache« von Johannes Erben und »Zur Personenabwertung« von Franzjosef Pensel tragen das Wortmaterial zusammen, das Luther zur Verunglimpfung seiner Gegner verwendet. Zum Teil handelt es sich um Neubildungen (Neologismen). Der Papst wird als »Papst Esel« (s. oben), »eselfarzbapst«, »der heubt teuffel«, »ein armer, stinkender sünder«, »blutseuffer«, »widderchrist«, »der romische reuber« bezeichnet. Für Anhänger des Papstes finden sich Wörter wie »Bullenkrämer«, »Götzenknecht«, »Papisten«, »Bepstische heuchler und lugner«, »bapstgesind«, »bäpstling«, »Romanisten«. Bezeichnungen für alt-katholische Geistliche: »bapstpfaffe«, »götzenpfaff«, »beichthengst«, »beichtyrann«, »winckelprediger«. Für Luthers Gegner: »blutverkäufer«, »buchstabilist«, »deutelmeister«, »doppelchristen«, »frömmchen«, »gottesdieb«, »maulchrist«, »sakramentierer«. Sein katholischer Gegenspieler Hieronymus Emser muss sich Benennungen, wie »du grober Eselskopff«, »grober bocks kopff«, »des teuffels Apostell und Endchrist«, »offentlicher lugner«, »lugner und boßwicht«, gefallen lassen (zu Emser s. weiter unten). Den Namen des Straßburger Franziskaners Thomas Murner (1475–1537), Verfasser der Schrift »Von dem grossen Lutherischen Narren« (1522), entstellt Luther als »Murnarr«. Die Bauern, Juden und Türken Luther hat im Bauernkrieg zunächst im Konflikt der streitenden Parteien zu schlichten versucht (»Ermahnung zum Frieden auf die zwölf Artikel der Bauernschaft in Schwaben«, a. 1525, WA 18, S. 279–290: Vorbemerkungen, S. 291–339: Text). Als die Aufstände auf Thüringen übergreifen, gerät der »Reformator in Weltuntergangsstimmung« (Schilling, Luther, S. 305) und stellt sich auf die Seite der Fürsten. In seiner Kampfschrift »Wider die räuberischen und mörderischen Rotten der Bauern« (a. 1525, WA 18, S. 344–356: Vorbemerkungen, S. 357–361: Text) greift Luther die Bauern scharf an: »Es
Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben 191
gillt auch nicht hier gedult odder barmherzickeyt. Es ist des schwerds und zorns hie und nicht der gnaden zeyt. So soll nu die oberkeit hier getrost fort bringen und mit gutem gewissen dreyn schlagen […]. Drumb, lieben herren loset hie, rettet hie, Erbarmet euch der armen leute, Steche, schlahe, wůrge hie, wer da kann, bleybstu drůber tod, wol dyr, seliglichern tod kanstu nymer mehr uberkomen, Denn du stirbst ynn gehorsam goͤ ttlichs worts« […] (S. 360 f.). Luthers Schmähungen der Juden sind vielfach kommentiert worden. Der Luther-Biograph Heinz Schilling macht zu Recht darauf aufmerksam, dass Luther einerseits nie persönliche Kontakte zu Juden hatte, und dass andererseits der spätmittelalterliche religiös bedingte Antijudaismus vom rassistischen Antisemitismus des 19. und 20. Jahrhunderts zu unterscheiden sei. Der Reformator war allerdings derjenige, der »erbarmungslos gegen die Juden predigte und die Obrigkeit unerbittlich aufforderte, sie zu vertreiben« (Schilling, Juden, S. 550). In der Schrift »Von den Juden und ihren Lügen« (a. 1543, WA 53, S. 412– 416: Vorbemerkungen, S. 417–552: Text) finden sich zahlreiche Beispiele für Luthers Judenhass: »Darumb huͤ tt dich fur den Juͤ den und wisse, Wo sie ir Schulen haben, das daselbs nichts anders ist, denn ein Teufels nest« […] (S. 446). »Was wollen wir Christen nu thun mit diesem verworffen, verdampten Volck der Juden?« […] »Erstlich, das man jre Synagoga oder Schule mit feur anstecke und, was nicht verbrennen will, mit erden uber heuffe und beschuͤ tte, das kein Mensch ein stein oder schlacke davon sehe ewiglich.« […] »Moses schreibt Deutero xiij, das, wo eine Stad Abgoͤ tterey triebe, solt man sie mit feur gantz verstoͤ ren und nichts davon behalten. Und wenn er itzt lebete, So wuͤ rde er der erste sein, der die Juͤ den Schulen und Heuser anstecket« (S. 522 f.). »So rauben sie und saugen uns aus, liggen uns auff dem halse, die faulen schelmen und muͤ ssigen wenste, sauffen, fressen« […], »fluchen zu lohn unserm HErrn Christo« […] (S. 529). Auch die Türken bleiben nicht verschont. In »Vom Kriege wider die Türken« (a. 1530, WA 30, 2. Abt., S. 81–106: Vorbemerkungen, S. 107–148: Text) heißt es bei Luther: »Denn der Tuͤ rcke« […] »ist ein Diener des Teuffels, der nicht allein land und leute verderbet mit dem schwerd« […] »sondern auch den Christlichen glauben und unseren lieben Herrn Jhesu Christi verwuͤ stet« (S. 120). »Aber wie der Papst der Endechrist« [= Antichrist], »so ist der Tuͤ rck der leibhafftige Teuffel« (S. 126). Anlass der Schrift wird die (vergebliche) Belagerung Wiens durch die Osmanen im Jahre 1529 gewesen sein. In seiner Agenda gegen das Papsttum setzt Luther auch die bildende Kunst ein. Hier sei auf das zusammen mit Melanchthon 1523 verfertigte Pamphlet »Von dem Papst Esel zu Rom vnd Münch Kalbs zů Freyberg« verwiesen. Die Zeichnung des Papstesels stammt vielleicht von Lucas Cranach dem Älteren. Zu beachten sind auch Cranachs »Papstspottbilder«, die als unpaginierte Tafel-Anlage Bd. 45 von Luthers Werkausgabe beigegeben sind.
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Abb. 1: Bildnis des Papstesels (Lucas Cranach der Ältere?) aus der Schrift »Von dem Papst Esel zu Rom« (Luther/Melanchthon 1523)
2.2 Luther und die Bibelübersetzung In einem Brief an seinen Freund und reformatorischen Theologen Johann Lang (1487–1548) kündigt Luther am 18. Dezember 1521 an, dass er das Neue Testament übersetzen wolle (WA BR 2, Nr. 445). Die Anregung dazu ging offenbar von Melanchthon aus (WA TR 1, Nr. 961). Luthers Vorlagen bestanden in der lateinischen Vulgata. Ob er das »Novum instrumentum omne« (die griechisch-lateinische Paralleledition des Neuen Testaments) des Erasmus von Rotterdam in der 2. Auflage des Jahres 1519 (1. Auflage 1516) auf der Wartburg zur Verfügung hatte, ist nicht sicher. Wohl aber dürfte er einen Nachdruck dieses Werks von Nikolaus Gerbel aus dem Jahre 1521 zur Verfügung gehabt haben. Am 14. Mai 1521 schreibt er nämlich in einem Brief: »Bibliam Graecam et Hebraeam lego« (WA BR 2, Nr. 410). Luther übersetzt auf der Wartburg, wo er als Junker Jörg von Kurfürst Friedrich dem Weisen (1463–1525) in Sicherheit gebracht worden war, nachdem Kaiser Karl V. anlässlich des Reichtags von Worms 1521 die Reichsacht über den Reformator verhängt hatte.
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Luthers Übersetzung des Neuen Testaments erscheint anonym und ohne Ortsangabe im September 1522 (Septembertestament) bei Melchior Lotter dem Jüngeren in Wittenberg; schon im Dezember erfolgt eine zweite Auflage. In den Jahren 1523 und 1524 wird das Alte Testament in drei Teilen publiziert. Die erste Vollbibel wird im Jahre 1534 bei Hans Lufft in Wittenberg produziert, bald folgen Nachdrucke. Die Vollbibel des Jahres 1545 (wieder bei Lufft) stellt die letzte von Luther selbst bearbeitete und autorisierte Fassung dar (Ausgabe letzter Hand).
Abb. 2: Luther als Junker Jörg auf der Wartburg 1521/1522. Holzschnitt von Lucas Cranach dem Älteren 1522
In der Officin des Baslers Adam Petri wird schon im Dezember 1522 Luthers Septembertestament nachgedruckt. Weitere Nachdrucke folgen in den Jahren 1523 und 1524. Auch in der Werkstatt des Baslers Thomas Wolff wird Luthers Neues Testament 1523 und 1524 gedruckt. Die drei Wittenberger Übersetzungen des Alten Testaments erscheinen als Basler Nachdrucke in den Jahren 1523 bis 1525. Die Basler Ausgaben (und nicht die Wittenberger Drucke) werden bald in Zürich als Vorlagen für die dortige Bibelarbeit dienen.
194 Rudolf Steffens
Petris Nachdruck vom Dezember 1522 greift in Luthers Orthographie ein, gibt ansonsten aber den Luther-Text weitgehend unverändert wieder. Schon März des Folgejahres 1523 legt Petri einen zweiten Nachdruck des Neuen Testaments vor. Was war geschehen? Petris Leserschaft beschwert sich, weil es offenbar Verständnisschwierigkeiten mit Luthers ostmitteldeutscher Sprache gab, insbesondere hinsichtlich des Wortschatzes. Die erweiterte Titelei kündigt Neuerungen an: »Die außlendige(n) woͤ rtter / auff vnser teutsch angezeygt«. Die »außlendige(n) woͤ rtter« werden in Basel offenbar nicht verstanden. Petri schafft Abhilfe, indem er unmittelbar nach der Vorrede (ohne Foliierung/Paginierung) ein Glossar (er nennt es »Register«) einfügt, das die Luther-Wörter mit alemannischen Entsprechungen erläutert/übersetzt/paraphrasiert. Das Glossar dürfte von dem in Basel als Guardian der Franziskaner wirkenden Konrad Pellikan (1478–1556), gebürtig in Rufach im Elsass, gefertigt worden sein. Auch der Basler Drucker Thomas Wolff gibt seinem Nachdruck des ersten Teils des Alten Testamants ein Glossar bei (Druck bei Volz, D. Martin Luther, S. 267*–269*). Darauf kann hier nicht eingegangen werden. Petris Glossar (Druck bei Volz, D. Martin Luther, S. 259*–266*) erfasst in der linken Spalte 199 Wörter Luthers, die in der rechten Spalte erläutert werden. Es wird mit den Worten eingeleitet: »Lieber Christlicher Leser / So ich gemerckt hab / das nicht yederman verston mag ettliche woͤ rtter im yetzt grűntlichen verteutschten neűwen Testament / doch die selbigen woͤ rtter nicht on schaden hetten moͤ gen verwandlet werden / hab ich lassen die selbigen auff vnser hoch teutsch außlegen / vn(d) ordenlich in ein klein Register / wie du hie sihest / fleißlich verordnet«. Abb. 3 bietet eine Seite des Petri-Glossars. Luthers »Getreyde« wird mit »korn/frucht« erläutert. Bei »Grentz« handelt es sich um ein Lehnwort aus den slawischen Sprachen (polnisch »granica«), das in Sachsen offenbar geläufig war. Für die Basler muss es mit »gegny/vmbkreyß« erklärt werden. »Heuchler« ist in Basel unbekannt. Petri erläutert mit »gleißner/trűgner«. Auch Luthers »Hügel« wird im alemannischen Sprachraum nicht verstanden. Das einst im Westen und Südwesten des deutschen Sprachraums heimische »bühel« ist – wohl vor allem unter dem Einfluss von Luthers Bibelübersetzung – völlig aus dem Wortschatz verdrängt worden. Es existiert nur noch in Orts- und Flurnamen. Einige weitere Bespiele aus dem Petri-Glossar (zuerst Luthers Wort, dann die ›Übersetzung‹ mit einem in Basel geläufigen Wort): »Besudlen – verunreinen«, »Darben – armůt leyden«, »Gedeyen – wachßen«, »Gerűcht – geschrey«, »Lippen – leffzen«, »Quall – pein«, »Schnůr – sunsfraw« [gemeint ist die Schwiegertochter], »Vfer – gestad«, »Zygenfell – geyßfell«. In Zürich wird Luthers Neues Testament seit dem Jahre 1524 nachgedruckt, wobei die Basler Ausgaben als Vorlagen dienen. (Die prophetischen
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Bücher des Alten Testaments sind eine eigenständige Zürcher Übersetzungsleistung, weil Luther diese Teile erst später in Angriff nimmt). Hatte Petri in Basel mehr oder weniger wörtlich und buchstabengetreu nachgedruckt, beginnt man in Zürich damit, den Bibeltext der Regionalsprache anzupassen, also zu alemannisieren. So werden z. B. die im alemannischen Sprachraum unbekannten Diphthonge ei, au und eu (aus mittelhochdeutsch î, û und ǖ), die sich in Luthers Übersetzung und auch im Basler Nachdruck finden, durch die alemannischen Monophthonge ersetzt. Luther 1522: »feurige kolen auff seyn hewbt samlen«; Basel 1522: »feurige kolen auff sein haupt samlen«; Zürich 1524: »fhürige kolen vf sin houpt samlen«. Alemannisierung erfolgt auch in Grammatik und Wortschatz (siehe unten). Bald merkt man in Zürich, dass man sich in eine Sackgasse manövriert hat. Die alemannisierte Bibel ist jetzt für Personen außerhalb des alemannischen Sprachraums nicht mehr verständlich. So beginnt dann mit dem Neuen Testament des Jahres 1527 die Ent-Alemannisierung, indem z. B. die Diphthonge wieder eingeführt werden Zürich 1527: »fheurig kolen auff sein haupt samlen«. Der Druck der Zürcher Vollbibel des Jahres 1531 (mit dem die Zürcher Bibelarbeit ihren Glanzpunkt erreicht) hat ebenfalls die nicht alemannischen Diphthonge: »fheurige kolen
Abb. 3: Nachdruck von Luthers Übersetzung des Neuen Testaments durch Adam Petri in Basel 1523. Eine Seite des Glossars mit Worterläuterungen
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auff sein haupt samlen« (Römerbrief 12, 20). Die Ent-Alemannisierung greift aber kaum im Wortschatz. Der Siegeszug von Luthers Sprache hat begonnen. Die dem Alemannischen bis heute unbekannten Diphthonge in »feurig« usw. stehen massenhaft in den Zürcher Bibeldrucken. 2.3 Luthers Bibelübersetzung im Vergleich zur Zürcher Bibel Nachfolgend sollen einige sprachliche Befunde anhand von Luthers Bibelübersetzung in der Ausgabe des Jahres 1545 mit der Zürcher Bibel des Jahres 1531 kontrastiert werden. Orthographie Pauschal ist zu sagen: nicht-funktionale Konsonantenhäufungen und -dopplungen werden in der Luther-Bibel des Jahres 1545 weitgehend vermieden, während sie in der Zürcher Bibel 1531 noch in großem Umfang vorhanden sind: Konsonantenhäufungen: »pundt«, »fheűr«, »gesandt«, »schwaͤ rdt«, »thůt« (Zürich) / »Bund«, »fewr«, »gesand«, »schwert«, »tut« (Luther). Konsonantendopplungen: »altenn«, »fannd«, »gantzenn«, »inn«, »mitt«, »sűndenn«, »vnnd«, »zornn« (Zürich) / »Alten«, »fand«, »gantzen«, »in«, »mit«, »suͤ nden«, »vnd«, »zorn« (Luther).
Im Bereich der Umlautschreibungen von »a« und »au« ist das Morphematische Prinzip (Prinzip der Stammkonstanz) in Luthers Werk in keinem einzigen(!) Falle realisiert. Beispiele aus Hesekiel (Ezechiel) 46: »das Lamb« ›Lamm‹, Plural immer »Lemmer« (nicht »Laͤ mmer«); »an den mauren« ›an den Mauern‹, »ein meurlin« (nicht »maͤ urlin«). In der Zürcher Bibel kommt das Stammkonstanzprinzip bereits in einem gewissen Umfang zur Anwendung, ebenfalls Hesekiel 46: »ein jaͤ rigs lamb«, »Sechs laͤ mmer«, »zů den laͤ mmeren«, »tag«, »taͤ glich«. Die satzinterne Großschreibung von Eigennamen und Substantiven ist in der Zürcher Bibel nicht annähernd so weit fortgeschritten wie bei Luther. Hesekiel 46, 4 f.: Zürich 1531: »Diß ist nun das brandopffer das der fuͤ rst am Sabbath dem HERRN bringen sol. Sechs laͤ mmer one praͤ sten / vnd einen wyder one praͤ sten / mit einem Epha / speyßopffer zů dem wyder«. Luther 1545: »DAs Brandopffer aber / so der Fuͤ rst fur dem HERRN opffern sol / am Sabbath tage / sol sein / sechs Lemmer / die on wandel sein / vnd ein Widder on wandel / vnd ja ein Epha Speisopffers zu einem Widder«.
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Die »e«-Apokope: das Lutherische »e« In der Sprachstufe des Frühneuhochdeutschen (14.–17. Jh.) konnte unbetontes »-e« in zweisilbigen Wörtern ausgestoßen (apokopiert) werden: »herre« > »Herr«. Das betrifft einerseits »-e« als Teil des Wortstamms wie in »Erde« > »Erd«, »müde« > »müd«, als auch flexivisches »-e« wie in »ich gebe« > »ich geb«, »dem Baume« > »dem Baum«, »die Bäume« > »die Bäum«. Diesen Vorgang nennt man »e«-Apokope. In oberdeutschen und westmitteldeutschen Texten des 16. Jahrhunderts kann »-e« in über 90 % der Fälle ausgestoßen sein. In ostmitteldeutscher Schriftlichkeit dieser Zeit ist die »e«-Apokope selten (Thüringen) oder fast überhaupt nicht (Sachsen) zu beobachten. So hat denn die Zürcher Bibel das nebentonige »-e« in zahlreichen Fällen abgeworfen, Luthers Bibel hat das »-e« in der Regel erhalten. Tabelle 1: »e«-Apokope in der Zürcher Bibel 1513 und in der Lutherbibel 1545 Zürcher Bibel 1531
Luther-Bibel 1545
Vn(d) die erd was wuͤ st und laͤ r
Vnd die Erde war wűst vnd leer
Vnd Gott nennet das trocken / Erd
Vnd Gott nennet das trocken / Erde
Vnd boͤ um / die da frucht trůgend
Vnd Bewme die da Frucht trugen
Da ward auß abend vn(d) morgen der viert tag
Da ward aus abend vnd morgen der vierde Tag
Da schůff Gott grosse wallfisch
Vnd Gott schuff grosse Walfische
Vnnd allerley fruchtbare boͤ um / vnd boͤ um die sich besoment zů eűwerer speyß
Vnd allerley fruchtbare Bewme / vnd Bewme die sich besamen / zu ewr Speise
vff de(m) vaͤ ld
auff dem felde
Bis ins 18. Jahrhundert tobte ein regelrechter Streit um das Lutherische »e«. Es handelt sich um einen sprachlichen (graphematischen) Konfessionalismus (Macha, Konfessioneller Faktor, S. 128 ff.). So konkurrierten mit der Funktion gegenseitiger sprachlicher Stigmatisierung bis in die erste Hälfte des 18. Jahrhunderts hinein die ›evangelischen‹ Formen »Hölle«, »Seele«, »Sünde« mit den ›altgläubig-katholischen‹ Varianten »Höll«, »Seel« und »Sünd«. Während Sprachtheoretiker und Grammatiker wie Martin Opitz (1597–1639) oder Johann Christoph Gottsched (1700–1766) in Fällen wie »Erde«, »Bäume« usw. die Beibehaltung des »-e« forderten, konnten sich katholische Autoren aus dem Süden des deutschen Sprachgebiets mit Luthers »-e« nicht anfreunden. »Es ist kein Buchstabe, welcher so viel Feind hat als dieser«, so der in Bayern geborene Augustiner Heinrich Braun (1732–1792) im Jahre 1765 (Habermann, Lutherisches »e«, S. 435). Der Badener Benediktiner Augustin
1500‐1550: Typus die Tag, die Stein in %
198 Rudolf Steffens
100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 0
Abb. 4: Apokope des Plural-e (die Steine > die Stein) im Frühneuhochdeutschen 1500– 1550 (nach Wegera, Flexion, S. 184)
Dornblüth (1691–1760) lehnt in seinen »Observationes« (Augsburg 1755) das »e Saxonum« (S. 265) ab. Es sei »affectirt und gekůnstlet« (ebd.). »Gleichwie die Sachsen in ihrer Rede- und Schreib=Art durchaus affectirt sein und etwas besonders auszukuͤ nstlen pflegen, also seind sie auch mit dem ungereimbten und unnutzlichen Zusatz des é in fine, nach und nach also weit gekomen, daß sie es nicht nur allen Substantivis, sondern sogar denen Adverbiis ohne Ursach und Vernunft anschmieren« (S. 265 f.). Man brauche das »-e« nicht: »Haben sich dan die Teutsche anderer Provinzen, bißhero nicht ohne solches e einander mit Worten und Schrifften genugsam zu verstehen geben koͤ nen?« (S. 269). Im Zuge der Herausbildung der neuhochdeutschen Schriftsprache wird – auch unter Einfluss von Luthers Bibelübersetzung – die Setzung des »-e« in Zweisilbern wie »Erde« oder »müde« und bei der Pluralbildung der Substantive in Fällen wie »die Fische« obligatorisch (nicht beim Dativ-»e«). In der Freiburger Monatsschrift »Der Freimütige« beklagt ein katholischer Autor im Jahre 1782 nicht ohne Bitterkeit: »Es klang doch ehemals so genuinkatholisch: die Seel, die Cron, die Sonn, die Blum u. s. w. – und nun schreiben die unsrigen fast durchgängig: die Seele, die Krone, die Sonne, die Blume – wie die leibhaftigen Ketzer auch schreiben« (Kluge, Von Luther bis Lessing, S. 207). Das »-e« der Ketzer wird standardsprachlich.
Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben 199
Verbflexion: Grammatischer Wechsel Die Zürcher Bibel kennt in der Präteritalflexion von »sein« noch den Grammatischen Wechsel »s« – »r«: 1. Mose 1, 2: »vn(d) die erd was wuͤ st vnd laͤ r« (vergl. engl. »I was – we were«). In Luthers Bibelsprache ist zugunsten von »r« ausgeglichen worden: »Vnd die Erde war wűst und leer«. Verbflexion: Rückumlaut Bei ursprünglich mehr als 200 schwachen Verben ist der sogenannte Rückumlaut zu beobachten: der Vokal des Präsens ist umgelautet, im einfachen Präteritum und im Partizip II hingegen ist kein Umlaut vorhanden: »blenden – blante – geblant«. Im Spätmittelalter und in der frühen Neuzeit (also in der Sprachperiode des Frühneuhochdeutschen) wird der Umlaut auch in den Präteritalformen eingeführt: »blenden – blendete – geblendet«. Heute gibt es in der Standardsprache nur noch sechs Verben mit erhaltenem Rückumlaut: »brennen«, »kennen«, »nennen«, »rennen«, »senden«, »wenden«. In den moselfränkischen Dialekten sind vereinzelt noch Verben mit Rückumlaut anzutreffen: »setzen – gesatzt«, »stellen – gestallt«. In den rheinfränkischen Mundarten Rheinhessens ist der Ausgleich des Rückumlauts sehr viel weiter gediehen als in der Standardsprache. Hier spricht man also: »Den hab ich auch gekennt« (nicht »gekannt«). Oder: »Dann is er losgerennt« (nicht: »gerannt«). In der Zürcher Bibel des Jahres 1531 sowie in Luthers Bibel von 1545 ist der Übergang zu den umlauthaltigen Präteritalformen in vollem Gange und noch nicht annähernd abgeschlossen. Einige Beispiele (ohne Stellennachweise) müssen genügen. Zunächst steht das Verb aus der Zürcher Übersetzung, dann die Form Luthers: »bedacktend – bedeckten«, »So bekarten sy sich – bekereten«, »bestaltend – bestelleten«, »entsatzt sich daz volck – Entsatzte sich«, »die erkanntend sy – Die erkenneten sie«, »erwackt – erweckt«, »erzaltend – erzeleten«, »genennt – genant«, »genennet – genennet«, »gesandt – gesand«, »gesendt – gesand«, »nennetend – nenneten«, »satzt er – satzte er«, »sy staltend – sie stelleten«. Wechselflexion bei starken Verben Im Standarddeutschen unterscheidet sich bei 55 starken Verben der Vokal der 2. und 3. Person Indikativ Präsens vom Restparadigma. Hier sind vor allem die Alternanzen »a« ~ »ä« (Umlaut) und »e« ~ »i« (Hebung) zu beobachten: »ich falle«, »du fällst«, »er fällt«, »wir fallen«; »ich gebe«, »du gibst«, »er gibt«, »wir geben«. Dieses Phänomen wird Wechselflexion genannt. Mit »ich falle«, »du fellest« usw. und »ich gebe«, »du gibest« usw. entspricht die Lutherbibel heutigem Sprachgebrauch (wenngleich der Umlaut noch mit »e« verschriftet wird). In der Zürcher Bibel fehlt der Umlaut weitestgehend. Im »e«-»i«Bereich tradiert die Zürcher Bibel die alte Numerusopposition Singular ≠
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Plural. Hier hat also auch die 1. Person ein »i«, z. B. Johannes 14, 27: »Den friden laß ich euch / meinen friden gib« [Luther: »gebe«] »ich euch«. Luthers Bibelübersetzung dürfte maßgebend für die Durchsetzung der Flexionsmuster »ich falle«, »du fällst«, »er fällt«, »wir fallen«; »ich gebe«, »du gibst«, »er gibt«, »wir geben« verantwortlich sein. Tabelle 2: Die Wechselflexion starker Verben in der Zürcher Bibel 1531, in der Lutherbibel 1545 und in der Gegenwartssprache Zürcher Bibel 1531
Lutherbibel 1545
Standardsprache
1. Sg.
fall / gib
falle / gebe
falle / gebe
2. Sg.
fallest / gibst
fellest / gibest
fällst / gibst
3. Sg.
falt / gibt
fellet / gibet
fällt / gibt
1. Pl.
fallen / geben
fallen / geben
fallen / geben
2. Pl.
falt / gebt
falt / gebt
fallt / gebt
3. Pl.
fallend / gebent
fallen / geben
fallen / geben
Verbflexion: Pluralbildung im Präsens Die Zürcher Bibel kennt noch den mittelhochdeutschen Dentalplural in der 1. und 3. Person (z. T. auch im Präteritum), z. B. Johannes 7, 25–27: »Do sprachend etlich von Jerusalem: Jst das nit der / den sy sůchtend zetoͤ den? Vnnd sich zů / er redt frey / vnd sy sagend jm nichts. Kennend jn vnsere obersten nun recht / das er der recht Christus sey?« Luther kennt den Dentalplural nicht. Verbflexion: »gehen« und »stehen« Im Mittelhochdeutschen treten die Typen »gân«/»gên« und »stân«/»stên« auf. Die Bildungen mit dem Vokal »a« sind alemannisch. Seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts bilden sich außerhalb des alemannischen Sprachraums zweisilbige Formen auf »ê«-Basis heraus. Luther verwendet ausschließlich »gehen« und »stehen«, während in der Zürcher Bibel im Zuge der Alemannisierung die Alttypen auf »â«-Basis (z. T. verdumpft zu »o«) wieder verwendet werden.
Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben 201 Tabelle 3: Flexion von »gehen« (im Präsens) in der Zürcher Bibel 1531, in der Lutherbibel 1545 und in der Gegenwartssprache Zürcher Bibel 1531
Lutherbibel 1545
Standardsprache
1. Sg.
gon, gan
gehe
gehe
2. Sg.
gaast
gehest
gehst
3. Sg.
gadt
gehet
geht
1. Pl.
gon
gehen
gehen
2. Pl.
gond
gehet
geht
3. Pl.
gond
gehen
geht
Nominalflexion: er-Plural Die Zürcher Bibel kennt noch Plural-Bildungen auf –»e«, bei denen dieses –»e« infolge der –»e« Apokope ausgestoßen ist: Matthäus 12, 45 »So gat er hin / vnd nimpt zů jm siben ander geyst«. Luther verwendet hier bereits den er-Plural: »sieben ander Geister«; Chronik 2, 14, 2 »vnnd zerbrach die seűlen vnd heűw die waͤ ld« (›Wälder‹) »ab«. Luther liefert hier das Wort »Hain«; Jesaja 30, 1 »WEe den abtrűnnige(n) kinden / spricht d(er) HERR«, Luther »WEh den abtrůnnigen Kindern«; Jesaja 42, 17 »Jr sind vnsere goͤ tt«, Luther »Jr seid vnser goͤ tter«. Nominalflexion: morphologischer Pluralumlaut Der Umlaut in Fällen wie »Bruder« – »Brüder« wird als morphologischer Pluralumlaut bezeichnet. Er breitet sich seit dem Hochmittelalter vom Süden des deutschen Sprachgebiets nach Norden aus. Im hochfrequent belegten Wort »Wagen« hat die Zürcher Bibel 1531 immer Umlaut (»an seinen waͤ gnen«, »Die waͤ ge(n) Pharaons«, »dreyssig tausent waͤ ge(n)«), die Lutherbibel 1545 nie. Wortschatz Im Zuge der Alemannisierung der Zürcher Bibel sind zahlreiche Wörter aus Luthers Bibelwerk durch oberdeutsch-alemannische Wörter ersetzt worden. Einige Beispiele, das Wort Luthers steht zuerst (ohne Stellennachweise): »Antlitz – Angesicht«, »sich erheben – aufwutschen«, »Gefäß – Geschirr«, »Geiß – Ziege«, »gichtbrüchig – parliessiech«, »Grenze – Landmarke«, »Heuchler – Gleißner«, »Hügel – Bühl«, »Hure – Dirne«, »Kelter – Trotte«, »Lampe – Ampel«, »lesen« (bei der Weinlese) – »wümmen«, »Lippe – Lefze«, »Maulwurf – Scher«, »Peitsche – Geißel«, »Pfleger – Ammenvater«, »Töpfen – Hafen«, »Seuche – Sucht«, »Sindflut – Sündfluss«, »Stufe – Staffel«, »Tal – Tobel«,
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»Teich – Wede«, »Ufer – Gestade«, »Weinernte – Wümmet«, »zeugen – gebären«, »Zinsgroschen – Schatzpfennig«. Mit »wiederkäuen« wird in der Zürcher Bibel 1531 ein Wort aus Luthers Übersetzung übernommen, das ursprünglich im ostmittel- und ostniederdeutschen Raum heimisch ist. In einigen Fällen werden sogar Neologismen Luthers in Zürich übernommen; dazu gehören »friedfertig«, »Menschenfischer«, »Morgenland«. Luthers »Weinberg« (Gleichnis von den Arbeitern im Weinberg, Matthäus-Evangelium) ist im Petri-Glossar nicht gebucht und wird anstandslos in die Zürcher Bibel übernommen. Es handelt sich um ein Wort des thüringisch-sächsischen Sprachraums. Das bodenständige Wort in den rheinischen Weinbaugebieten ist »Wingert« (althochdeutsch/mittelhochdeutsch wîngarto/wîngarte, ja schon gotisch »weinagards« in der Bibelübersetzung Wulfilas (ca. 311–383)). Der »Weinberg« Luthers – Jesus selbst gebraucht ja dieses Wort – wird schriftsprachlich, das rheinische »Wingert« wird auf die Ebene der Dialekte abgedrängt. »Durch Luther ist Weinberg zum Wort der neuhochdeutschen Umgangssprache geworden« (Götze, Weingarten, S. 284). Beim Wort »Weinberg« handelt es sich um einen »jungen Eindringling und Emporkömmling« (S. 285). Wörter der Luther-Bibel können Wörter in der Zürcher Bibel verdrängen. Für das Matthäus-Evangelium wurde z. B. gezeigt, dass in Luthers Neuem Testament 1522 und in der Zürcher Vollbibel des Jahres 1531 folgende Wörter in Konkurrenz standen: »Ufer« (Luther) – »Gestade« (Zürich), »quälen« – »peinigen«, »schmücken« – »zieren«, »Scheffel« – »Viertel«, »Motte« – »Schabe«, »Heuchler« – »Gleißner«, »Lippe« – »Lefze«. Nach und nach werden in späteren Ausgaben der Zürcher Bibel Luthers Wörter übernommen. Die Zürcher Bibel des Jahres 1996 hat alle die oben angeführten Wörter wie »Gestade« durch die Luther-Wörter »Ufer« usw. ersetzt (Besch, Lexikalischer Wandel). Einige Komposita haben im Laufe der Zeit den Status eines ›LutherWortes‹ erhalten, wenngleich sie so in der Bibel nicht vorkommen, sondern aus syntaktischen Fügungen gebildet sind (Lemmer, Lutherdeutsch): »Sündenbock« 3. Mose 16, 5: »Vnd sol von der Gemeine der kinder Jsrael zween Zigenboͤ ck nemen zum Suͤ ndopffer / vnd einen Wider zum Brandopffer«; »Feuertaufe« Matthäus 3, 11: »JCh teuffe euch mit Wasser zur busse / Der aber nach mir kompt / ist sterker denn ich« […] »Der wird euch mit dem heiligen Geist vnd mit Fewr teuffen«. Weitere: »Feuerprobe«, »Gewissensbiss«, »Hiobsbotschaft«, »Judaskuss«, »Judaslohn«, »Lückenbüßer«, »Kainszeichen«, »Nächstenliebe«, »Todsünde«. Eine Reihe von Wort-Neubildungen (Neologismen) haben wir Luthers Bibelübersetzung zu verdanken, z. B. »Blutgeld«, »Feuereifer«, »Flattergeister«,
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»friedfertig«, »gottselig«, »Hohepriester«, »kleingläubig«, »Kriegsknecht«, »Landpfleger«, »Lästermäuler«, »Linsengericht«, »plappern«, »Morgenland«, »wetterwendisch« (Erben, Luther, S. 538 ff. mit Stellennachweisen). 3. Die katholischen Korrekturbibeln Die Autoren der katholischen Korrekturbibeln (Hieronymus Emser 1478– 1527), Johann Dietenberger 1475–1537, Johann Eck 1486–1543) sehen in Luthers Übersetzung Verfälschungen des in der Kirche seit über tausend Jahren benutzten lateinischen Vulgata-Textes. Sie lassen kein gutes Haar an seinem Werk. Hier wird offensichtlich zum Teil übersehen, dass Luther nicht nur die Vulgata, sondern auch eine griechische Textedition des Neuen Testaments als Vorlage hatte. Dietenberger führt in seiner »Biblia« des Jahres 1534 (Widmung an Kardinal Albrecht von Brandenburg) aus: Es sei »mancherley Spaltung in teutscher natio(n) / den glaube(n) vn(d) vnsere heilige religio(n) betreffend« festzustellen. Schuld daran seien die »new getruckten teutschen Elimassiter Biblien in welchen der heiligen gemeinen Christlichen kirchen ware Bibel / vnser alter bewerter glaubwirdiger lateinisch text (deren sich die christlich Kirch vber die vierzehe(n) hundert jar / durch die ganze welt / in allen gezűngen vnd nationen gebraucht hat) nit allein vbel verteutschet wirt / sonder auch dick vn(d) vil felschlich außgelegt / gemartert / geradbrecht / zerrissen / zerschlissen / verruckt / zerstuckt / verendert / gemeret / gekűrzet / durch zůsatz vnd absatz / mit vnchristlichen glosen vnd annotationen besudelt / verwirret / verwicklet / vertunckelt / vnd in summa also auß der rechten bahn gezogen« werde (S. 2a). Auf die Korrekturbibeln kann hier nicht näher eingegangen werden. Sie sind keine freien Neuübersetzungen. Luther hat sprachliche Maßstäbe gesetzt, insbesondere im Bereich des Wortschatzes. Hier mögen zwei Beispiele genügen. Matthäus 4, 24 in Luthers Septembertestament des Jahres 1522: »vnnd seyn gerucht erschall yn das gantz Syrien land«. Gemeint ist, dass sich die Kunde vom Wirken Jesu in ganz Syrien verbreitete. In Matthäus 20, 1 beginnt Jesus das Gleichnis von den Arbeitern im »Weinberg« auszulegen. »Gerücht« ist ein Wort des niederländisch/niederdeutschen Sprachraums, vergl. Neuniederländisch »gerucht« ›Gerücht, Geräusch‹. Die hochdeutsche Entsprechung ist »Gerüft«. Sie hat das Verb »rufen« als Basis. In »Gerücht« liegt die niederländisch/niederdeutsche Lautentwicklung »-ft« > »-cht« vor (vergl. niederdeutsch »Nichte«, hochdeutsch »Nift(el)«). Luther war dieses Wort nicht fremd, weil er ja auch Kenntnisse des Niederdeutschen hatte. Im Petri-Glossar muss »Gerücht« für die Basler Leserschaft (ungenau) mit »Geschrei« erläutert werden. Was macht der Katholik und Schwabe Emser in seiner Korrekturbibel? Er übernimmt mit Luthers »Gerücht« ein Wort, das ihm völlig unbekannt sein musste. »Gerüft« ist schließlich bei der Heraus-
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bildung der Standardsprache von Luthers »Gerücht« verdrängt worden. Im »Sendbrief vom Dolmetschen« (1530, WA 30) wird Emser von Luther als »Sudler zu Dresden« (S. 634) bezeichnet. Emser »nam fur sich mein New Testament fast von wort zu wort, wie ichs gemacht hab […]« (ebd.). Der Schwabe Emser übernimmt auch Luthers »Weinberg« – ein Regionalismus des Ostmitteldeutschen, der einem Sprecher des Oberdeutschen völlig fremd sein musste. Leuten wie Emser wird von Luther vorgeworfen: »und stelen mir also meine sprache« (S. 633). Systematisch wäre auch der Frage nachzugehen, was die katholischen Korrekturbibeln mit Luthers Neologismen wie »friedfertig« oder »Menschenfischer« machen. Werden diese Bildungen übernommen oder treten Ersatzwörter an ihre Stelle? 4. Schluss Die Arbeit an der Luther-Bibel ist noch nicht zu Ende. Die aktuelle Revision (erschienen 2016, auf dem Titelblatt »Lutherbibel revidiert 2017«, Überarbeitungszeit 2010–2015) bietet eine Reihe von Veränderungen gegenüber der Ausgabe von 1984. Unter der Internet-Adresse www.die-bibel.de (Internetauftritt der Deutschen Bibelgesellschaft, evangelisch-kirchliche Stiftung des öffentlichen Rechts) wird Auskunft über die Überarbeitung gegeben. Im Bereich der Lexik wurden heute unverständliche Wörter wie »Wehmutter« durch »Hebamme« ersetzt. »Im Verlauf der letzten Überarbeitungen wurden vielfach ohne inhaltliche Notwendigkeit sprachliche Modernisierungen vorgenommen, die die kernige Sprache des Reformators verstellten.« So wird jetzt das Revisionswort »Schlangenbrut« durch Luthers »Otterngezücht« ersetzt, vergl. Matthäus 3, 7, Luthers Neues Testament vom September 1522: »Als er« [Johannes der Täufer] »nu viel phariseer vnnd saduceer sahe zu seyner tauff komen / sprach er zu yhnen / yhr otter gezichte« […]. Bei rund 12.000 Versen des Alten und Neuen Testaments wurden sprachliche Veränderungen vorgenommen. Manches hätte bei der Revisionsarbeit durchaus noch in Angriff genommen werden können. In Matthäus 1, 21 kongruiert das Possessivpronomen »ihren« nicht mit dem singularischen »Volk«: »Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden«. Besser wäre: »von seinen Sünden.« In der Bergpredigt (Matthäus 5, 6) stört die fehlende Numeruskongruenz beim Verb: »Selig sind, die da hungert und dürstet nach Gerechtigkeit«. Besser wäre: »die da hungern und dürsten nach Gerechtigkeit«.
Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben 205
Quellen und Literatur Quellen Luthers Bibelübersetzungen [luther, Martin:] Das Newe Testament Deůtzsch, Wittemberg [1522]. luther, Martin: Biblia / das ist / die gantze Heilige Schrifft Deudsch, Wittemberg 1534. luther, Martin: Biblia: Das ist : Die gantze Heilige Schrifft / Deudsch / Auffs new zugericht, Wittemberg 1545. Die Bibel. Nach Martin Luthers Übersetzung. Lutherbibel revidiert 2017. Mit Apokryphen, Stuttgart 2016. Die Schweizer Rezeption [Basel:] DAs new Testament / yetzund recht grüntlich teutscht. […] [nach der Offenbarung des Johannes:] Zů Basel / durch Adam Petri / im Christmond desz Jars 1522. [Basel:] DAs neuw / Testame(n)t recht / grüntlich teutscht. […] Die außlendige(n) woͤ rter / auff vnser / teutsch angezeygt. [nach der Offenbarung des Johannes:] Zů Basel / durch Adam Petri / im Mertzen / deß Jars 1523. [Zürich:] Das gantz Nűw Testament recht grűntlich vertűtscht, Getruckt durch Christophorum Froschauer zů Zűrich Anno 1524. [Zürich:] Die gantze Bibel der vrsprűngliche(n) Ebraischen vnd Griechischen waarheyt nach / auffs aller treűwlichest verteűtschet, Getruckt zů Zűrich bey Christoffel Froschauer / im Jar als man zalt 1531. Die katholischen Korrekturbibeln eMser, hieronyMus: Das naw testament nach lawt der Christlichen kirchen bewerten text / corrigirt / und widerumb zurecht gebracht, Dresden 1527. ecK, johann: Bibel, Alt vnd new Testament / nach dem Text in der hailigen Kirchen gebraucht / durch doctor Johan(n) Ecken / mit fleiß / auf hohteutsch / verdolmetscht, Ingolstat 1537. dietenBerGer, johann: Biblia, beider Allt vnnd Newen Testamenten / fleissig / treűlich vn(d) Christlich / nach alter / inn Christlicher kirchen gehabter Translation / mit außlegung etlicher dunckeler ort / vnnd besserung viler, verruͤ ckter wort vnd spruͤ ch […], Getruckt zů Meyntz […] 1534.
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Denn wer dolmetzschen wil, mus grosse vorrath von worten haben 207
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Bildnachweis
Beitrag Bönnen Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4, 5, 6, 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 10, 11 Abb. 12 Beitrag Scholzen Abb. 1 Abb. 2 Abb. 3 Abb. 4 Abb. 5 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Beitrag Müller Abb. 1 Abb. 2, 4, 5 Abb. 3 Abb. 6 Abb. 7 Abb. 8 Abb. 9 Abb. 11 Abb. 12 Beitrag Tacke Abb. 1–9 Beitrag Reske Abb. 1–3 Beitrag Steffens Abb. 1 Abb. 2
Stadtarchiv Worms Abt. 217 L 6 Nr. 23 d Stadtarchiv Worms Abt 1 B Nr. 1922 Nr. 7 Stadtarchiv Worms, Abt. 1 B 1911 Vorlage: Stadtbibliothek Worms Stadtarchiv Worms Collage, StadtAWo Abt. 1 B Nr. 1870 StadtAWo Abt. 1 B 48 StadtAWo Fotoabt. Neg.-Nr. 05355, Foto 1918 Germanisches Nationalmuseum Nürnberg Graphische Sammlung Staatsgalerie Stuttgart Fotoarchiv des Instituts für pfälzische Geschichte und Volkskunde, Kaiserslautern Statens Museum for Kunst, København Badisches Landesmuseum Karlsruhe Staatliches Museum Kassel: Kunsthandwerk und Plastik Landeshauptarchiv Koblenz Dr. Reinhard Scholzen Landesmuseum Mainz, Graphische Sammlung Gotha, Stiftung Schloss Friedenstein Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett Staatliche Graphische Sammlungen München Wien, Kunsthistorisches Museum Dresden, SKD, Skulpturensammlung Berlin, SMPK, Kupferstichkabinett Badisches Landesmuseum Karlsruhe München, Staatliche Münzsammlung Archiv des Autors Christoph Reske Stadtbibliothek Worms, Sign. LB 144, keine Foliierung/Paginierung Aus: Reinitzer, Biblia deutsch, S. 47
Die Autorinnen und Autoren
Prof. Dr. phil. Kurt Andermann, geb. 1950 in Speyer, Archivdirektor i. R. (Generallandesarchiv Karlsruhe), Honorarprofessor der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg im Breisgau, Mitglied des Konstanzer Arbeitskreises für mittelalterliche Geschichte und der Kommission für geschichtliche Landeskunde in Baden-Württemberg. Forschungen und Publikationen zur südwestdeutschen und vergleichenden Landesgeschichte sowie zur allgemeinen Verfassungs- und Sozialgeschichte des Mittelalters und der frühen Neuzeit. Prof. Dr. Gerold Bönnen, geb. 1964, Studium der Geschichte, Germanistik und Politikwissenschaft an der Universität Trier, 1989 Staatsexamen, 1993 Promotion (»Die Bischofsstadt Toul und ihr Umland während des hohen und späten Mittelalters«), 1994–1996 Ausbildung für den höheren Archivdienst, seit 1996 Leiter des Stadtarchivs Worms. Herausgeber und Autor mehrerer Beiträge der »Geschichte der Stadt Worms« (Stuttgart 2005) sowie zahlreicher Untersuchungen zur mittelalterlichen Stadtgeschichte, insbesondere von Worms. Prof. Dr. Wolfgang Breul, lehrt seit 2009 an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz Kirchengeschichte mit dem Schwerpunkt Frühe Neuzeit. Volker Gallé, M. A., geb. 1955 in Alzey, Studium der Germanistik, Philosophie, Ethnologie und Volkskunde in Mainz, Magisterarbeit über Franz Kafka, Journalist, Buchautor, Mundartliedermacher. Schwerpunkt historischer Forschung: Freiheitsbewegungen am Oberrhein, Rheinhessen in der NS-Zeit, Soziale Bewegungen nach 1968. Seit 2004 Kulturkoordinator der Stadt Worms. Prof. Dr. Matthias Müller, geb. 1963, Studium der Kunstgeschichte, Christlichen Archäologie, Byzantinischen Kunstgeschichte und Neueren deutschen Literatur in Marburg, Berlin und Hamburg, seit 2006 Professor für Kunstgeschichte (mit Schwerpunkten im Mittelalter und in der beginnenden Frühen Neuzeit) an der Universität Mainz. Vizepräsident des Mediävistenverbandes und Vorsitzender des Rudolstädter Arbeitskreises zur Residenzkultur. Forschungen und Publikationen zu Formen der Bildlichkeit und Repräsentation in der Architektur, Bildkonzepten in der höfischen Malerei, Kunst als Medium der Erinnerungs- und Residenzkultur, Kunst in Prozessen des Kulturtransfers und zur Politischen Ikonographie.
212 Die Autorinnen und Autoren PD Dr. Dipl.-Ing. Christoph Reske, Studium der Buchwissenschaft, Kunstgeschichte und Klassischen Archäologie sowie der Druckereitechnik. 1999 Promotion zum Thema: »Produktion der Schedelschen Weltchronik von 1493«. Lehrt und forscht seit 1999 am Institut für Buchwissenschaft der Universität Mainz, 2014 Habilitation in »Buchwissenschaft mit Schwerpunkt historische Druckforschung«. Forschungsschwerpunkte sind die Druckgeschichte sowie das gedruckte Buch des 15. bis 17. Jahrhunderts. Dr. Reinhard Scholzen, M. A., geb. 1959 in Essen. Studium der Geschichte und Politikwissenschaft, Magister Artium, Wissensch. Mitarbeiter im Sonderforschungsbereich 235 »Zwischen Maas und Rhein«, Promotion (1992) an der Universität Trier. Ausbildung zum Öffentlichkeitsarbeiter an der Deutschen Akademie für Public Relations (DAPR). Tätigkeit für eine Polizeigewerkschaft. Veröffentlichungen zur Inneren Sicherheit und Sicherheitspolitik. Seit März 2016 wissenschaftlicher Mitarbeiter eines rheinland-pfälzischen CDU-Landtagsabgeordneten. Prof. Silvana Seidel Menchi ist Historikerin und lehrte an der Universität Trient, an der École des Hautes Études en Sciences Sociales (EHESS) in Paris, der Università degli Studi di Pisa und war Forschungsassistentin an der Harvard University. In ihren Forschungen hat sie sich intensiv mit Erasmus und dem Humanismus, der Reformation in Italien und den Geschlechterbeziehungen in der Frühen Neuzeit befasst. Dr. Rudolf Steffens, geb. 1954, Studium der Mittleren und Neueren Geschichte und der Germanistik an der Johannes Gutenberg-Universität Mainz. Erstes Staatsexamen für das Lehramt an Gymnasien 1981. Promotion zum Dr. phil. über das Frühneuhochdeutsche in Mainz 1987. Seit 1981 Wissenschaftlicher Angestellter am Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e. V. Lehrbeauftragter am FB 05 Philosophie und Philologie der Johannes Gutenberg-Universität. Veröffentlichungen zum Frühneuhochdeutschen, zum Fachwortschatz des Weinbaus, zur Namenkunde (Familiennamen, Flurnamen, Weinlagenamen). Prof. Dr. Dr. Andreas Tacke, Promotion nach einem Doppelstudium in Architektur und Kunstgeschichte. Als Mitarbeiter des Germanischen Nationalmuseums in Nürnberg mit Bearbeitung und Publikation des Bestandskataloges der Barockgemälde betraut, danach als Hochschulassistent bzw. akademischer Rat an der Universität Augsburg, Habilitation in Kunstwissenschaften an der TU Berlin. Lehrstuhlinhaber für Kunstgeschichte an der Universität Trier, 2010 Verleihung des höchsten europäischen Wissenschaftspreises (»ERC Advanced Grant«) durch den Europäischen Forschungsrat der Europäischen Union im Bereich »Social Sciences and Humanities«, 2011 Gründung der »Trierer Arbeitsstelle für Künstlersozialgeschichte« (TAK). Gastkurator im In- und Ausland.
Mit dem 500-jährigen Jubiläum der Reformation 2017 rückte dieses historische Ereignis mit all seiner Aktualität für die Gegenwart erneut ins Bewusstsein der Öffentlichkeit. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes tragen dem mit ihren Beiträgen Rechnung: Der Fokus liegt dabei auf kulturhistorischen Themen der Reformationszeit und der rheinland-pfälzischen Reformationsgeschichte. Neben bedeutenden Städten wie Worms und Speyer
werden auch Einzelpersonen wie Franz von Sickingen und Ulrich von Hutten in den Blick genommen, die für die Reformationsgeschichte auf dem Gebiet des heutigen Rheinland-Pfalz eine wichtige Rolle gespielt haben. Auf diese Weise gelingt es, nicht nur den Verlauf und den Charakter der Reformation in Rheinland-Pfalz anschaulich darzustellen, sondern auch einen Einblick in die Erinnerungskultur vor Ort zu geben.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag Mainzer Vorträge Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V.
ISBN 978-3-515-12045-6
9
7835 1 5 1 20456