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German Pages 128 [134] Year 2015
Franz J. Felten (Hg.)
Erinnerungsorte in Rheinland-Pfalz
Landesgeschichte
Mainzer Vorträge 19
Franz Steiner Verlag
Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V.
Erinnerungsorte in Rheinland-Pfalz
mainzer vortr äge Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. Band 19
Franz J. Felten (Hg.)
Erinnerungsorte in Rheinland-Pfalz
Franz Steiner Verlag
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Inhalt Vorwort......................................................................................................7 Stefan Weinfurter ......................................................................................9 Der Dom zu Speyer. Funktion, Memoria und Mythos Gabriele B. Clemens ..............................................................................25 Nationaler Staatskult: Das Deutsche Eck in Koblenz Stefan Krolle ...........................................................................................39 Die „Jugendburg“ Burg Waldeck Markwart Herzog ....................................................................................61 Der Betzenberg in Kaiserslautern: ein Stadion als Erinnerungsort Wolfgang Schieder ..................................................................................85 Der „Heilige Rock“ in Trier als Erinnerungsort Peter Krawietz ......................................................................................103 Anna Seghers und Carl Zuckmayer in der Erinnerung der Mainzer Autorinnen und Autoren .......................................................................127 Bildnachweis .........................................................................................128
Vorwort Der von Pierre Nora für Frankreich entwickelte Begriff und das Konzept der „lieux de mémoire“ haben in den letzten Jahren viel Beachtung auch in anderen europäischen Ländern gefunden, vor allem in Deutschland. Hier erschienen nicht nur drei starke Bände über deutsche Erinnerungsorte sowie über Erinnerungsorte des Christentums und des Mittelalters, sondern es gab auch intensive theoretische Diskussionen, bis hin zu Doktorarbeiten, zum Konzept von Erinnerungsorten, seiner historischen Verankerung und Umsetzung. „Erinnerungsorte“ umfassen nicht nur Orte oder Bauwerke im engeren Sinne, sondern auch Ereignisse, Symbole, Begriffe, Materielles und Immaterielles, womit eine kollektive historische Erinnerung verknüpft sein kann. Diese Erinnerung kann eine lange Dauer haben, ist in politische, soziale und kulturelle Gemeinschaften eingebettet, wandelt sich aber, je nachdem, wie sie wahrgenommen, angenommen, abgelehnt („vergessen“), übertragen oder neu konstruiert wird. Der vorliegende Band des Instituts für Geschichtliche Landeskunde stellt eine Auswahl sehr unterschiedlicher Erinnerungsorte im Lande vor. Während sich Prof. Dr. Stefan Weinfurter dem Dom zu Speyer widmet und Funktion, Memoria und Mythos dieses prächtigen Bauwerks, der Grablege der Salier, untersucht, setzt sich Prof. Dr. Wolfgang Schieder mit der Frage auseinander, wie der im Trierer Dom aufbewahrte „Heilige Rock“ zum Erinnerungsort wurde. Hierbei spielten vor allem die von der katholischen Kirche durchgeführten Wallfahrten eine entscheidende Rolle. Um einen völlig anderen Erinnerungsort handelt es sich, wie Dr. Stefan Krolle darlegt, bei der „Jugendburg“ Waldeck im Baybachtal im Hunsrück, Heimstätte des Nerother Wandervogels, die zum Symbol des Aufbruchs der Jugend in Europa und ihres Strebens nach Freiheit vor 100 Jahren wurde und darüber hinaus seit den 1960er Jahren als exklusiver Ort von jährlich stattfindenden europäischen Chansonfestivals, geprägt von „absoluter Meinungsfreiheit und Toleranz“, internationale Bedeutung erlangte. Am Beispiel des Betzenbergs in Kaiserslautern, einer unbedeutenden Anhöhe von 286,5 Metern, arbeitet Dr. Markwart Herzog anschaulich heraus, wie ein Fußballstadion zu einem Erinnerungsort werden kann. Hier bündeln sich individuelle und kollektive Erinnerungen an unzählige Stadionbesuche und Sportereignisse zu einem „kulturellen Gedächtnis“ – „die-
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Vorwort
ses Gedächtnis wird durch Kommunikation hergestellt und konstituiert die Erinnerungsgemeinschaften des Sports“. Anders, so Dr. Gabriele Clemens, stellt sich die Geschichte des Deutschen Ecks in Koblenz mit seiner Reiterstatue für Kaiser Wilhelm I. dar. Die Schaffung des Denkmals entsprang zunächst einmal patriotischen Gefühlen und der „Aufladung des Rheins als nationales Symbol“. Dieser Ort wurde daher auch von den Nationalsozialisten gerne für Propagandainszenierungen genutzt. Nach Kriegsende und Zerstörung des Denkmals zunächst als Mahnmal für die deutsche Einheit genutzt, erhielt der leere Sockel, nach jahrelangem Streit, 1993 unter großer Zustimmung der Bevölkerung sein Reiterstandbild zurück. Als Beispiel für immaterielle Erinnerungsorte widmet sich Peter Krawietz in seinem Beitrag dem Thema „Anna Seghers und Carl Zuckmayer in der Erinnerung der Mainzer“. Er stellt gegenüber, wie unterschiedlich die beiden Literaten lange Zeit, bedingt durch ihre Persönlichkeit und ihre jeweilige Lebensgeschichte, in der Erinnerung der Mainzer verankert waren. Er kann jedoch aufzeigen, dass beiden heute ein würdiger Platz im kulturellen Gedächtnis der Stadt sicher ist. Ich danke allen Referentinnen und Referenten, dass sie ihre Vortragstexte für diesen Band zur Verfügung gestellt und für den Druck bearbeitet haben. Der Dank gilt ebenso Prof. Dr. Peter Reifenberg, Direktor der Akademie des Bistums Mainz, und deren Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern für die Fortführung der jahrelangen guten Zusammenarbeit und für die uns gewährte Gastfreundschaft im Ketteler-Saal des Erbacher Hofs und im Haus am Dom. Herzlich zu danken ist nicht zuletzt Dr. Elmar Rettinger und den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern unseres Instituts, insbesondere auch den studentischen, für die hervorragende Organisation, Vorbereitung und Durchführung der Vorträge sowie Dr. Hedwig Brüchert für die Redaktion der Beiträge und die Vorbereitung für den Druck. Mainz, im Juni 2015
Franz J. Felten
Stefan Weinfurter
Der Dom zu Speyer. Funktion, Memoria und Mythos1 Im Jahre 1106, nicht lange nach dem Tod Kaiser Heinrichs IV., schrieb sein Biograph folgende Worte aufs Pergament: „Ach Mainz, du hast deine Zierde verloren, weil du den Baumeister, der den Dom aus den Trümmern hätte wieder herstellen lassen, verloren hast. Hätte er so lange gelebt, bis er an den Bau deines Domes, den er schon begonnen hatte, letzte Hand hätte anlegen können, wahrhaftig, du könntest wetteifern mit jenem berühmten Dom zu Speyer, der zwar schon gegründet war, den er aber durch einen ans Wunderbare grenzenden Bau und durch die Steinmetzarbeiten vollenden ließ, so dass dieses Werk mehr als alle Werke der alten Könige gelobt und bewundert werden muss. Wer es nicht selbst sehen konnte, kann sich kaum vorstellen, welche Schätze aus Gold, Silber, Edelsteinen und seidenen Gewändern er diesem Dom hat zukommen lassen.“ (Vita Heinrici, cap. 1). Soweit der Biograph Heinrichs IV. Wir sehen: Mainz und Speyer lagen um 1100 im Wettbewerb miteinander. Der Mainzer Dom war 1079 durch einen Sturm und dann 1081 mitsamt den Kirchen St. Johannes, St. Moritz und Mariengreden durch eine Brandkatastrophe in großen Teilen zerstört worden. Der Wiederaufbau ging schleppend voran. Mainz, „der großen und mächtigen Stadt am Rhein“, wie der Chronist Otto von Freising sie beschrieb (Otto von Freising, Gesta, Buch 1, cap. 13), fehlte in diesen Jahren gewissermaßen das Herz. Ganz anders in Speyer. Dort war ein Dom entstanden, der alle Werke der alten Könige übertraf. Er wirkte wie ein Weltwunder, so klingt es im Überschwang der Lobeshymnen an. Dieser „herrlich emporsteigende Dom“ (Vita Bennonis, cap. 21, Freiherr vom Stein Gedächtnisausgabe 22, S. 420) war freilich auch ungeheuer kostspielig. Kaiser Heinrich IV. habe, um die vielen Baukünstler, Zimmermeister, Maurer und Werkleute bezahlen zu können, jedes Jahr gewaltige Mengen an Gold, Silber, Geld und sonstigem Aufwand bereitstellen müssen (Herbord, Vita Ottonis ep. Bambergensis MGH Scriptores 20, S. 765), ja oft sei ihm das Geld zum Weiterbau ausgegangen (Ebbo, Vita Ottonis, MGH Scriptores 12, S. 825). Solche Nachrichten stellen uns vor Augen, dass selbst ein Kaiser nicht 1
Die Gestaltung des Vortrags, am 8. Januar 2013 im Erbacher Hof in Mainz gehalten, wurde vollständig beibehalten.
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einfach einen solchen Bau befehlen konnte, sondern dass auch er die nötigen Mittel dafür erst einmal aufbringen musste – und der Dom zu Speyer war ein Millionenprojekt, wenn man nicht sogar noch höher greifen muss. Dass die Baukosten explodierten, ist nicht erst eine Erscheinung unserer Zeit. Begonnen wurde der Bau in Speyer schon bald nach 1024, wahrscheinlich im folgenden Jahr, 1025. Der erste Herrscher aus dem Salierhaus wählte Speyer als ideell-geistliches Zentrum seines Königtums. Das ist sehr bemerkenswert, denn wir werden darauf aufmerksam gemacht, dass im frühen 11. Jahrhundert der König seinen wichtigsten Repräsentationsbau nicht in einem Palast oder einer Kaiserpfalz suchte, sondern in Gestalt einer Kirche errichten ließ. In der Forschung wird immer wieder betont, dass die Könige und Kaiser dieser Epoche keine Residenz und keine Hauptstadt hatten. Das ist aber nur richtig, wenn man von modernen Vorstellungen eines Regierungszentrums ausgeht. In Wirklichkeit besaßen die Salier sehr wohl einen Mittelpunkt ihres Königtums, eben in ihrem Dom in Speyer. Zu diesem Zweck ließ Konrad nicht nur mit dem Dombau beginnen, sondern richtete auch die ganze Stadt auf diesen Dom aus. Sternförmig liefen die Straßen auf den Dom zu, und noch heute wirkt die Maximilianstraße in Speyer wie eine Prachtstraße zum Dom. Die ganze Stadt wurde umgebaut. Man weiß heute gar nicht mehr, wie der Vorgängerdom ausgesehen hat, ja noch nicht einmal, wo er sich befunden hat. Die gesamte Stadt mit ihren damals ungefähr 500 bis 1.000 Einwohnern wurde neu konzipiert, und das Projekt spiegelt einen regelrechten Aufbruch wider, der vom neuen salischen König, Konrad II., eingeleitet wurde. Der von ihm begonnene Dom war noch nicht so groß geplant wie derjenige, den wir heute sehen können. Das Langschiff war erheblich kürzer. Besonderer Wert wurde aber auf die Ausgestaltung des Ostteils der Kirche gelegt. Hier war von Beginn an der Platz für die Grablege Konrads II. vorgesehen. Die Grablege eines Herrschers sagt viel über dessen Vorstellung von der Ordnung der Welt und vom Wesen seiner Herrschaft aus. Konrads Vorgänger, Kaiser Heinrich II., hatte seine Grablege im Dom zu Bamberg vorbereiten lassen, in media ecclesia, was soviel heißt wie: auf der Mittelachse im Mittelschiff. In Bamberg waren alle Heiligen des Reiches versammelt, und vor seinem Grab hatte Heinrich II. einen Altar zu Ehren des heiligen Stephan errichten lassen. Stephan ist der erste Heilige, der erste Märtyrer, der – wie es in der Apostelgeschichte heißt – bei seiner Steinigung direkt in den Himmel auffuhr: „Ich sehe die Himmel offen!“, so sollen Stephans letzte Worte gelautet haben. Wenn man sich in seinem Schutz begraben ließ, dann hoffte man auf seine Hilfe beim Jüngsten Ge-
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richt. Und das Jüngste Gericht wurde im Mittelalter immer erwartet, ganz besonders in den Jahrzehnten um das Jahr 1000. Wem es möglich war, der rückte in die Nähe des heiligen Stephan. Auch Erzbischof Willigis von Mainz baute damals das Stift St. Stephan, in dem er sich begraben ließ. Ebenso hatte der Dom zu Speyer den hl. Stephan neben der hl. Maria als Hauptpatron. In dieser Hinsicht hatte der Salierherrscher bestens vorgesorgt. Im Unterschied zu seinen Vorgängern ließ Konrad II. aber nicht nur eine Grablege für sich, sondern für mindestens drei Grabstellen vor der Vierung seines neuen Domes anlegen. Der Platz umfasste etwa 4 x 5 Meter und befand sich auf der Mittelachse der Kirche, das heißt, auf der Linie, die auf den Altar zuführte. Das gibt uns den Hinweis, dass der Bau des Speyerer Domes von Beginn an achsendynamisch konzipiert war. Das war sonst durchaus nicht üblich. Die Dome von Mainz oder Worms betrat man von der Seite. Noch heute kommt man in Mainz in einen Raum, der im Osten und im Westen jeweils mit einem Chor ausgestattet ist, der einen wie ein Himmel umfängt und in den man gewissermaßen eintaucht, um die Gewalt und den Glanz der göttlichen Macht aufzunehmen. Ganz anders in Speyer. Man betritt den Dom vom Westen her und wird – wie an einer Schnur gezogen – zum Allerheiligsten, dem Chor, geleitet. Davor war freilich die salische Kaisergrablege errichtet. Bevor man den Chor erreichen konnte, wurde man zur Saliergrablege geführt, die in der Anfangszeit keineswegs unter dem Boden lag, sondern ebenerdig errichtet war. Die Sarkophage der salischen Kaiser waren frei sichtbar aufgestellt. Unmittelbar an die Grablege schloss sich eine außerordentlich eindrucksvolle Krypta an, eine der schönsten Krypten, die es überhaupt gibt. Sie ist bis heute weitestgehend im Originalzustand erhalten. Noch heute ist man fasziniert von der Schönheit und der Aura dieses Raumes, der zwischen 1025 und 1030 gebaut wurde. In einer unglaublichen Ausgewogenheit und Harmonie der Proportionen, der Gestaltung der Pfeiler, Kapitelle, Bögen und Räume entstand eine eigene Kirche, in der, wie man annehmen darf, von Anfang an die memoria des salischen Kaiserhauses in speziellen Gottesdiensten gepflegt werden sollte. Diese Krypta ist nicht nur ein Raum, sondern vermittelt sinnlich und atmosphärisch das innerste Wesen der Salierherrschaft. Wer sich hierhin begibt, hat heute noch das Gefühl, sogleich mit dem Königtum vor 1.000 Jahren in Verbindung zu treten. Dass die Zeitgenossen den Sinn dieses Raumes sehr wohl verstanden haben, zeigt sich an den Bauten der Ezzonen. Dieses mächtige Adelsgeschlecht am Niederrhein, das um die Mitte des 11. Jahrhunderts als Konkurrent um die Königswürde auftrat, hat die Speyerer Krypta in
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ihren Kirchen nachgeahmt. Dies erkennt man im Stift Maria im Kapitol in Köln und in der Krypta des Hausklosters Brauweiler westlich von Köln. Die Ezzonen wollten ebenfalls eine königliche Krypta vorweisen. Diese gehörte offenbar zum Nachweis des königsähnlichen Ranges. Blicken wir nochmals auf die Grablege, die unter Konrad II. vor der Krypta angelegt wur-de. Das Feld für die Gräber reichte, wie gesagt, für mindestens drei Sarkophage aus und sollte zumindest auch schon Konrads II. Nachfolger, Heinrich III., zur Verfügung stehen. Diese Beobachtung ist von auKonrad II. und seine Gemahlin Gisela, vor der Majestas Christi niederkniend ßerordentlicher Bedeutung, denn sie liefert uns den Hinweis, dass hier nicht, wie bei den vorangehenden Herrschern, ein Einzelgrab geschaffen wurde, sondern eine Grablege für eine Königsdynastie, für die Dynastie der Salier. Das ist für das römisch-deutsche Reich ein sensationell neuer Vorgang. Denn damit wurde signalisiert, dass das Königtum auf dem Weg zu einer transpersonalen Größe war und dass damit auch das Reich sich zu einer eigenen Größe entwickelte. Wie ein Schiff weiterbesteht, auch wenn der Steuermann stirbt, so existierte – dieser Idee nach – auch das Königtum und mit ihm das Reich weiter, wenn ein König starb. So ähnlich soll Konrad II. selbst das neue Modell seiner Herrschaftskonzeption auf einem Hoftag in Konstanz 1025 erläutert haben (Wipo cap. 7). Der Dom zu Speyer wurde demzufolge ein Symbol für die Dauerhaftigkeit der politischen Ordnung. Heute würde man vielleicht sagen: Reich und Königtum erlangten eine Nachhaltigkeit, die im Speyerer Dom verankert wurde. Das Besondere an dieser Entwicklung ist, dass bei der neuen Dynastiebildung nicht in erster Linie vom biologischen Anspruch her, sondern von einem transzendenten Ansatz her argumentiert wurde. Das bedeutet,
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dass sich die Salier als Nachfolger des alttestamentarischen Königshauses sahen. Sie waren die Stellvertreter des himmlischen Königs und setzten in übertragenem Sinne die Genealogie Jesu Christi auf Erden fort. Dynastisches Denken wurde – und das halte ich für einen wesentlichen Hinweis – aus der himmlischen Verankerung heraus definiert. Bei Heinrich III., der 1039 die Herrschaft übernahm, kommt dieses Denken ganz besonders zum Tragen. Er sah sich als Postfiguration Christi im Königtum, so wie David die Präfiguration war. Heinrich III. und seine Gemahlin Agnes, Alle gehörten sie zu der die Gnade der heiligen Maria erbittend einen, gottgewollten Königsdynastie, die im Alten Testament ihren Anfang hat. Dieses transzendente dynastische Denken hat sich besonders gut in den berühmten Herrscherbildern niedergeschlagen, die sich im Codex Aureus befinden. Es handelt sich um ein ungemein prächtiges, mit Goldtinte geschriebenes Evangeliar, das um 1045 im Kloster Echternach hergestellt wurde. Das erste Bild zeigt Konrad II. und seine Gemahlin Gisela, die vor der Majestas Christi niederknien und seine Verzeihung erflehen. Christus selbst, so wird hier zum Ausdruck gebracht, möge seine Stellvertreter auf Erden schützen. Auf dem anderen Bild sind Heinrich III. und seine Gemahlin Agnes zu sehen. Im Hintergrund erscheint der Dom von Speyer. Heinrich erbittet die Gnade der heiligen Maria und überreicht ihr das prächtige goldene Buch als Geschenk. Dabei erfleht er Marias Segen, damit seine Gemahlin, die ganz offensichtlich schwanger ist, einen Nachfolger zur Welt bringen möge. Nur so konnte ja die gottgewollte salische Dynastie fortgesetzt werden – und bis dahin hatte er noch keinen Sohn. Damit berühren wir einen überaus wichtigen Punkt: Die Patronin, neben dem Märtyrer Stephan die erste Schutzherrin des Speyerer Domes, ist
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die heilige Maria. Sie hat Christus, den König der Könige geboren, und sie ist daher auch die Schutzmutter des irdischen Stellvertreters ihres Sohnes. Am 8. September 1024, dem Tag von Mariä Geburt, hat sich Konrad II. in Mainz daher zum König salben und krönen lassen. Maria sollte über das Wohlergehen des Königshauses wachen. Das ist auch der Grund, weshalb sich Heinrich III. in dem Bild im Codex Aureus an sie wendet und darum bittet, für den Weiterbestand der himmlisch-irdischen Königsdynastie zu sorgen. Maria wird in dieser Epoche zur transzendenten Mutter der Königsdynastie. Heute würde man vielleicht sagen: Sie wurde zu einem zentralen Verfassungselement der damaligen politischen Ordnung. In der Folgezeit der salischen Epoche wurden diese Ansätze weiter gesteigert. Heinrich III. ließ den Dom erheblich vergrößern, vor allem wurde er auf 134 Meter verlängert, womit er damals zum größten Gotteshaus nördlich der Alpen aufstieg. Archäologische Befunde legen die Annahme nahe, dass damit auch ein regelrechtes Gräberfeld für das Königtum geschaffen werden sollte, das bis zur vierten Säule in das Hauptschiff ausgegriffen hat. Auch Bischöfe fanden hier ihre letzte Ruhe, und das heutige Bild der Grablege von Königen und Bischöfen vermittelt vielleicht einen ganz guten Eindruck davon, dass von nun an ein Gedächtnisort von besonderen Ausmaßen geschaffen wurde. Jedenfalls sollten im Dom zu Speyer die Könige und Kaiser kollektiv als Führungselite des Reichs vergegenwärtigt werden, und so wurde der Dom in dieser Phase zu einem Erinnerungsort des römisch-deutschen Königtums und Kaisertums. Dann folgte Heinrich IV., der König, der im Investiturstreit den Kampf gegen den neuen Anspruch der Reformkirche aufnahm. Als ihm durch den Papst die Stellvertreterschaft des himmlischen Königs auf Erden abgesprochen werden sollte, war das gesamte System der theokratischen Legitimation seines Königtums bedroht. Auch der Dom zu Speyer geriet im Hinblick auf seine bisherige Funktion in Gefahr. Heinrich IV. wehrte sich dagegen, indem er von 1080 an der heiligen Maria in Speyer – der „Königin des Himmels“ und „Königin aller Heiligen“ – nicht nur umfangreiche Geschenke machte, sondern den Dom noch größer und noch prächtiger bauen ließ. Damit versuchte er, seine Königs- und Kaiserkirche demonstrativ gegen das Konzept der Reformpäpste zu stellen. Der Dom zu Speyer wurde jetzt gleichsam zu einem Kampfsymbol. Die neue Kirche, die nun entstand, nennt man in der Forschung den Bau II. Es ist der Dom, der dann die Jahrhunderte überdauert hat und den wir heute noch bewundern. Die Ausgestaltung dieses Domes gilt bis heute als unübertroffen. Der Bau Heinrichs III. hatte noch eine Flachdecke. Jetzt, im Bau II, wurden die Wände des Mittelschiffs in bemerkenswerter Weise verändert: Von den
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Pfeilern steigen Blendarkaden hoch. Sie beziehen die Fenster des Obergadens mit ein und verleihen in doppelter Stufung dem Langhaus eine einzigartige rhythmische Strukturierung. Jeweils zwei Joche wurden zum sogenannten gebundenen System zusammengefasst und mit einem Kreuzgratgewölbe überhöht. Die komplette Einwölbung der Kirchenschiffe – und zwar auch der Seitenschiffe – in dieser Dimension war neu und sensationell. Von außen gesehen entstand ein harmonisch wirkender Bau mit zwei Dreiturmgruppen. Zum ersten Mal kam außerdem eine Zwerggalerie zur Anwendung, die den gesamten Bau umläuft und den gewaltigen Maßen des Domes den Eindruck einer gewissen Leichtigkeit verleiht. Um 1106, beim Tod Heinrichs IV., war dieser Wunderbau weitgehend vollendet. Um 1090 schrieb der Autor der Vita Bischof Bennos von Osnabrück: „Damals war die Zeit, da die Stadt Speyer am Rhein durch den frommen Eifer der Kaiser, die dort ruhen, zu neuem kraftvollem Leben erblühte (…). Dorthin strömten die Kleriker aus allen Teilen des Reiches in Scharen zusammen, denn die eifrige Sorge des Kaisers (... ) hatte hier auch dem Studium der Wissenschaften zur höchsten Blüte verholfen.“ Vom Kaiserhof in Byzanz wurde noch eine goldene Altartafel gestiftet, „neuartig in ihrer künstlerischen Ausführung und durch ihr Goldgewicht bestaunenswert“, wie die Vita Heinrichs IV. (S. 12) betont. Kunst, Gold und Wissenschaft wurden
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im Dom zu Speyer zusammengeführt, der zur Stätte des Andenkens der salischen Kaiser wurde. Sie haben sich, so könnte man hinzufügen, dieses Andenken geradezu erzwungen. Erinnerung und kollektives Gedächtnis entstehen in der Regel, so lautet meine These, aus den Impulsen und in der Weiterentwicklung einer außergewöhnlichen Zielsetzung, die schon zu Beginn einem Ort Einzigartigkeit, Dauerhaftigkeit und ungewöhnliche Bedeutung verschafft. Genau das trifft jedenfalls auf den Speyerer Dom zu. Das schließt freilich nicht aus, dass sich die Funktion eines Erinnerungsortes verändern konnte, ja verändern musste. Auch der Dom zu Speyer musste sich neuen Zeiten anpassen. Schon der letzte Salierherrscher, Heinrich V., der 1106 die Regierung übernahm, reduzierte die Investitionen in die salische Kirche ganz erheblich. Dies ging sogar so weit, dass die Domkanoniker von Speyer ihn vorwurfsvoll daran erinnern mussten, wie es früher war, und dass er doch nicht vergessen dürfe, dass seine Väter und Vorväter im Dom bestattet seien (Philipp Jaffé, Monumenta Bambergensia [Bibl. rer. Germ. 5], Berlin 1869, Nr. 176, S. 308–310). Aber Heinrich V. musste sich mit neuen Entwicklungen in seinem Reich beschäftigen. In den aufsteigenden Kommunen und ihren Bürgern sah er einen immer wichtigeren Partner für das Königtum. Zwar spielte die Kirche auch weiterhin eine wichtige Rolle, aber sein eigenes Königtum führte er auf die Wahl durch die Fürsten zurück. Damit akzeptierte er auch, dass er nicht mehr der Stellvertreter des himmlischen Königs auf Erden sei, sondern nur mehr im Hinblick auf die weltliche Regierung einen Vorrang beanspruchen könne. Im Übrigen forderten die Fürsten, vor allem die geistlichen Fürsten, von ihm, dass er dem Papst Gehorsam zu leisten habe. Auch ein Kaiserdom, in dem die heilige Maria die Verbindung zum himmlischen König herstellte, half da nichts mehr. Wie sich die Dinge veränderten, zeigt sich gut an der Urkunde, die Heinrich V. im Jahre 1111 für die Bürger von Speyer ausstellte (MGH D H V. Nr. 90). Darin werden den Speyerern außerordentliche Rechte zugesichert, vor allem erhebliche Erleichterungen für den Handel durch die Befreiung von Zöllen und Abgaben an wichtigen Handelsorten. Noch angenehmer dürfte für die Bürger die Bestimmung gewesen sein, dass für sie fortan der Buteil wegfallen würde, denn das war nichts anderes als die Erbschaftssteuer. Die Bürger ihrerseits sollten dafür die Erinnerung an die Salier, also das Gedenken an die Salierkaiser, hochhalten und durch bestimmte Handlungen und fromme Gaben an die Armen pflegen. Die Erinnerungshoheit – so könnte man sagen – ging vom Klerus an die Bürger über, zumindest bis zu einem gewissen Grad, denn den Domklerus konnte man natürlich nicht ausschalten.
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Um diese besonderen Rechte für die Speyerer Bürger auf ewige Zeiten festzuschreiben und dauerhaft zu machen, wurde die gesamte Urkunde von 1111 in eine Bronzetafel eingeritzt und diese wiederum über dem Domportal an der Domkirche angebracht. Als Sicherheit und Beglaubigung wurde das Bildnis Heinrichs V. in die Mitte gesetzt. Auch dieser Vorgang ist als sensationell zu bezeichnen, denn niemals zuvor hatte es einen solchen Vorgang gegeben. Der Dom wurde zum Garanten der Bürgerfreiheit, und die Freiheitsurkunde sollte im Schutz des Kaiserdomes niemals mehr verloren gehen und jedermann zu jeder Zeit zugänglich sein. Die alte Bronzeplatte wurde dann aber in der frühen Neuzeit doch zerstört, nur eine Abschrift ist erhalten. Erst vor kurzem hat man eine moderne Nachahmung hergestellt und diese wieder über dem Portal des Domes angebracht. Mit dem päpstlichen Vorrang in Kirche und Welt, der sich im 12. und 13. Jahrhundert weiter ausformte, und mit der sich entwickelnden Königswahl durch Reichsfürsten und Kurfürsten verlor der Dom zu Speyer dann doch viel von seiner Legitimationskraft. Aber er blieb Symbol für eine starke Königsherrschaft – und das gerade in Zeiten, in denen man Krisen im Königtum zu überwinden suchte. Andererseits war der Dom die Grabesstätte der Salier, des Geschlechts also, das von der Reformkirche als Verfolger der Kirche gebrandmarkt wurde. Die mit den Saliern verwandten Staufer wurden in dieses Verdikt mit einbezogen. Dieser kirchlichen Auffassung nach waren im Dom zu Speyer die „Bösen“ begraben, die die Deutungshoheit für die Ordnung der Welt verloren hatten oder denen sie zumindest von der römischen Kirche abgesprochen wurde. Es war also eine zweischneidige Sache für einen König, den alten Kaiserdom zu Speyer mit neuem Inhalt zu füllen. Einer der ersten, die sich dieser Aufgabe mit großem Eifer widmeten, war König Rudolf von Habsburg. Mit seiner Regierung von 1273 bis 1291 beendete er das sogenannte Interregnum, das später von Friedrich Schiller in seinem Gedicht „Der Graf von Habsburg“ (1803) als „die kaiserlose, die schreckliche Zeit“ bezeichnet wurde. Rudolf war schon in jungen Jahren ein treuer Anhänger des Stauferkaisers Friedrich II. gewesen, zog mit diesem nach Italien und blieb auf dessen Seite auch in den Jahren, als der Staufer 1245 auf dem Konzil von Lyon vom Papst gebannt und abgesetzt worden war. Die Staufer und mit ihnen Speyer, wohin 1213 König Philipp von Bamberg überführt worden war, blieben feste Bezugsgrößen in Rudolfs Königsherrschaft. In Speyer hielt er 1273 seinen ersten Hoftag ab, auf dem er das Programm der Erneuerung des Reiches und seiner Besitzungen verkündete. Es ging um die Wiederherstellung und die Ehre des Reiches,
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wie Rudolf immer wieder verkündete (honor et reformatio collapsi status imperii). Als er seinen Tod nahen fühlte, begab er sich zum Sterben nach Speyer, dem Ort seiner Vorfahren, der salischen und staufischen Könige, wie er selbst diesen Akt nach dem Zeugnis der „Österreichischen Reimchronik“ kommentiert haben soll (Wolauf hinz Speier, da mehr meiner Vorfahren sind, die auch Könige waren! Die Regesten des Kaiserreichs unter Rudolf, Adolf, Albrecht, Heinrich VII. 1273-1313, hg. von Oswald Redlich, Innsbruck 1898, S. 155). Die Kraft des Speyerer Kaiserdomes war also noch keineswegs erloschen, wenn es darum ging, neue Zeichen des Friedens, der Einigung und der eindeutigen Regeln für die Ordnung des Reiches symbolisch anzuzeigen. Auch Rudolf wurde in der Saliergrablege bestattet. In der Forschung gibt es die Vermutung, dass sein Grab ursprünglich für Friedrich I. Barbarossa vorgesehen war. Die berühmte Grabplatte zeigt das Porträt des ersten Habsburger Herrschers, wenn auch im 19. Jahrhundert an mehreren Stellen restauriert. In seiner Rechten hält er das Szepter, in der Linken eine Salbbüchse. Sein Gewand zeigt das Adlerwappen des Reiches, das auch die Staufernähe symbolisiert. Hinzu kommt das Löwenwappen der Habsburger. Die Bestattungen der Könige Adolf von Nassau und Albrecht I. von Habsburg im Dom zu Speyer im Jahre 1309 erfolgten dann aber eher aus Verlegenheit, so könnte man vielleicht sagen. Die beiden wurden einfach in die schon vorhandenen Sarkophage der Kaiserin Beatrix (Albrecht II.) und der Prinzessin Agnes (Adolf) gelegt. Dann sank der Dom für einige Zeit in weitgehende Bedeutungslosigkeit ab. Erst zwei Jahrhunderte später hat sich ähnlich wie Rudolf ein späterer Verwandter und Nachfolger um die Kaiserkirche bemüht. Es war Kaiser Maximilian I., der um 1500 (1486/1493 bis 1519) herrschte. Er griff damit eine Entwicklung der Zeit auf, die sich in einer neuen Zuwendung zum Dom in Speyer als Symbol für das Kaisertum und auch für frühnationale Ideen niederschlug. Dieses Interesse hatte sich erstmals 1459 in Berichten von Papst Pius II. angekündigt (besser bekannt unter seinem Namen Enea Silvio Piccolomini). Wegen der Liebe, die er zum Dom mit seinen Kaisergräbern hegte (summam ad eandem ecclesiam, que et antiquitus invictissimorum Romanorum regum et imperatorum sepulture locus peculiaris exstitit, habuerimus affectionem, Der Dom zu Speyer, Textband, S. 59f.), gewährte er allen Christen, die die Kirche am Fest Christi Himmelfahrt besuchen, einen vollkommenen Ablass. Auch die Humanisten entdeckten den Dom, und Jakob Wimpfeling verfasste 1486 auf ihn ein glanzvolles Loblied „Laudes ecclesiae Spirensis et cerimoniarum“ (Düchting/Kohnle, S. 66–99).
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Dieser neuen Speyer-Euphorie schloss sich Kaiser Maximilian I. an. Er selbst, wie man in der Forschung annimmt, entwickelte 1512 den Plan, für einen neuen Königschor im Speyerer Dom ein Kaiser-Monument herstellen zu lassen. 1514 erteilte er dem österreichischen Bildhauer Hans Valkenauer den Auftrag dazu. Vorgesehen waren 12 im Kreis angeordnete, achteckige Säulen von knapp viereinhalb Metern Höhe und 30 Zentimetern Durchmesser, daran 12 Figuren von Kaisern, Kaiserinnen und Königen, nämlich sämtlicher in Speyer bestatteten Mitglieder der verschiedenen Königshäuser, jeweils mit 178 Zentimeter Höhe. Darüber sollte ein Kronreif von 6 Metern Durchmesser und 19 Metern Umfang angebracht werden. Alles sollte in rotem Marmor ausgeführt werden. Das Monument wurde allerdings nicht fertiggestellt, und alle erhaltenen Teile befinden sich heute im Museum Carolino Augusteum in Salzburg. Die Speyerer Domherren waren Maximilian aber für seine Aufmerksamkeit, die er ihrem Dom widmete, so dankbar, dass sie ihm 1513 den einzigartigen Codex Aureus schenkten – dessen Herrscherbilder schon Erwähnung fanden. Gott sei Dank – so möchte man sagen – kam der Codex in das Haus der Habsburger, denn auf diese Weise gelangte er nach Spanien, blieb dort erhalten und liegt heute im Escorial bei Madrid. Dass Kaiser Maximilian I. die Speyerer Symbolkraft wiederbelebte, hängt mit seiner Idee von einer deutschen Nation zusammen. Heute sagt man dazu: „Nationsdiskurs der kaiserlichen Politik“ (Hirschi, S. 160). Der Schweizer Historiker Caspar Hirschi hat sich damit intensiv beschäftigt und gezeigt, wie zielstrebig Maximilian die deutsche Nation als Monarch zu verkörpern suchte. Dazu gehörte, dass er auch die Germanische Frau mit offenem blondem Haar und den Reichsinsignien in den Händen als Symbol für das „Reich Germanie“ einsetzte (ebd. S. 168f.). Überdies warnte er die Vertreter der Reichsstände davor, dass die Franzosen das Kaisertum in ihre Gewalt bringen wollten (ebd. S. 171). Um dagegen etwas zu unternehmen, war die Kaisergrablege im Dom zu Speyer bestens geeignet. Hier konnte man zeigen, dass das Kaisertum zum Besitz der deutschen Nation zählte. Der Dom mit seiner Grablege wurde zu einem deutschen nationalen Erinnerungsmonument, wurde – so könnte man sagen – ein „deutscher“ Kaiserdom und sollte so auch in Europa wahrgenommen werden. In diesem Sinne entwickelte „das Kaisergrabmal in Speyer auch eine ‚außenpolitische‘ Relevanz“ (Köster, S. 408). Die folgenden Jahrhunderte waren im Reich von der Reformation und der Gegenreformation sowie vom 30jährigen Krieg gekennzeichnet. Aus diesen Jahrhunderten haben sich einige Zeichnungen und Stiche erhalten, die den Dom weitgehend unverändert zeigen. Es hatten sich in diesen Zeiten in Speyer immer wieder unterschiedliche Truppen einquartiert –
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Schweden, Spanier, Franzosen und Kaiserliche –, aber im Windschatten der großen Geschichte blieb der Dom bestehen. Dies änderte sich erst 1689. Damals, im pfälzischen Erbfolgekrieg, erlebte Speyer die größte und folgenreichste Zerstörung seiner gesamten Geschichte durch die französischen Truppen Ludwigs XIV. Die Einwohner wurden vertrieben, der Dom und die anderen Kirchen gingen in Flammen auf und wurden vielfach bis auf die Grundmauern niedergebrannt, fast alle Bürgerhäuser versanken in Asche. Der Königschor im Dom wurde völlig vernichtet. Mit Minenbohrern versuchten die französischen Soldaten, die Gräber bis in das tiefste Innere hinein zu zerstören. Vom Dom stand schließlich noch eine Ruine, nur der östliche Teil hatte sich noch einigermaßen erhalten. Zwar stand auch der Westbau noch, doch er war stark einsturzgefährdet. Das Wüten der französischen Truppen gerade am Dom zu Speyer dürfte als Hinweis darauf zu werten sein, dass man ganz speziell den Erinnerungsort der einstigen Kaiserherrlichkeit im Reich der sich formierenden deutschen Nation auszulöschen suchte. Im 18. Jahrhundert gab es dann immer wieder Ansätze zur Erneuerung des Domes. Verschiedene Entwürfe kamen zur Anwendung. Der Wiederaufbau zog sich bis 1778 hin. 1755 wurde der baufällige Westbau endlich abgebrochen und im späten 18. Jahrhundert durch einen gedrungenen Vorbau ersetzt. Dieser Vorgang wird in der Forschung als „der schwerste Verlust der gesamten bisherigen Geschichte des Domes“ gewertet (Kubach/ Haas 1972, Textband, S. 820). Die Wiederherstellung wurde freilich jäh abgebrochen durch die französische Revolution und die napoleonischen Kriege zwischen 1793 und 1814. Fast die gesamte barocke Ausstattung ging verloren, der Dom wurde verwüstet, geplündert und profaniert. Doch dann kam die Pfalz an Bayern. König Ludwig I. von Bayern, der 1825 die Regierung übernahm, wurde zum großen Förderer des Domes zu Speyer. Am 13. Juni 1843 verkündete er in der Vorhalle der Kirche: „Ich habe mich entschlossen, den Dom malen zu lassen“ (Fromme Einfalt, S. 28). Drei Tage später (16. Juni 1843) fasste der Speyerer Bischof Nikolaus von Weis, der mit dem König in einem vertrauten Verhältnis stand, das Hauptmotiv für diese Entscheidung in die Worte: „Deutschland aber wird nicht nur eine die Religion und Kunst gleichmäßig erhöhende großartige Ruhestätte seiner Kaiser in frommem Geiste anstaunen, sondern es wird in ihr auch die Beruhigung finden, dass künftighin keine Fremdherrschaft mehr mit Eroberungs- und Zerstörungsplänen dem vaterländischen Stamme nahen dürfe“ (ebd. S. 29). Die Adresse war an Frankreich gerichtet. Von dort war 1840 wieder einmal die Forderung nach der Rheingrenze erhoben worden. So wurde Ludwig I. nicht nur der Neubegründer der kirchlichen Ordnung in seinem Königreich, sondern auch der Hüter für
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die Zugehörigkeit der linksrheinischen Gebiete zum „vaterländischen Stamm“ der Deutschen. Die Vermutung, er sei dabei auch vom Preußenkönig Friedrich Wilhelm IV. beeinflusst worden, der am 14. August 1842 die Entscheidung zum Weiterbau des Kölner Domes getroffen hatte, ist naheliegend. Den Auftrag erhielt Johann Baptist Schraudolph (1808–1879) aus München, der mit seiner gesamten Werkstatt und einer Vielzahl von Malern 1846 an die Arbeit ging. In dem Contract zwischen dem König und Schraudolph von 1844 heißt es: „Der Historienmaler Johann Schraudolph übernimmt die Ausmalung a buon fresco des Speyerer Domes mit Gegenständen aus dem neuen Testamente, sowie aus der späteren Kirchengeschichte, und zwar im Langschiffe vierundzwanzig Bilder aus dem Leben der Gottesmutter Maria, in der Kuppel die vier Propheten auf Goldgrund, in dem Kreuzschiffe auf der Nordseite eine Nische aus dem Leben des h. Bernhard auf Goldgrund und zwei große Bilder mit Hintergrund. Auf der Südseite eine Nische aus dem Leben des h. Papstes Stephan auf Goldgrund, und zwei große Bilder mit Hintergrund.“ (Fromme Einfalt, S. 97) Und so geht es weiter. Was dann zwischen 1846 und 1853 im Stile der Jung-Nazarener geschaffen wurde, gilt als „eines der größten, spektakulärsten und bedeutendsten Kunstprojekte des 19. Jahrhunderts“ (ebd. S. 27). Aber es gab von Anfang an bis zum heutigen Tag auch heftige Kritik an diesem Kunststil, der als süßlich, kitschig, frömmlerisch und kraftlos empfunden wurde. „Das allzu Fromme schadet im Leben wie in der Kunst“, diese Beurteilung der neuen Speyerer Fresken stammt bereits aus dem Jahre 1868 (ebd. S. 277). Im nördlichen Querschiff wurde nun der heilige Bernhard von Clairvaux dargestellt, wie er 1146 im Dom zu Speyer durch seine Predigt den Stauferkönig Konrad III. zum Kreuzzug bewegt. Das war in der Tat schon in der Geschichte ein wichtiges historisches Ereignis gewesen. Dass das Motiv nun in der Mitte des 19. Jahrhunderts wieder aufgegriffen wurde, zeigt, dass König und Kirche Impulse für die Verbreitung und Durchsetzung des Christentums setzen wollten. In gewisser Weise konnte sich König Ludwig I. selbst mit Konrad III. identifzieren, denn auch der Bayernkönig wollte das Christentum verbreiten und übernahm 1838 aus diesem Grund das Protektorat des Ludwigs-Missionsvereins, der sich die Ausbreitung des Glaubens unter den Heiden in Asien und Nordamerika zum Ziel setzte. In beiden Fällen gehorchte der König dem Aufruf der Kirche. Die Beschneidung Jesu war als achtes Bild an der Nordwand des Mittelschiffs zu sehen. Dieses Fest am 1. Januar spielte im 19. Jahrhundert eine wichtige Rolle im Kirchenjahr. Theologisch sollte damit zum Aus-
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druck gebracht werden, dass sich Jesus durch die Beschneidung dem Gesetz Mose unterstellt und damit Gehorsam bewiesen hat. Gemäß dem Buch Genesis 17,10–14 war jedes männliche Mitglied zur Beschneidung verpflichtet, und zwar als Zeichen der Zugehörigkeit zum ewigen Bund Gottes mit seinem Volk. Noch zwei weitere Fresken seien zum Schluss kurz angesprochen: In der Vierung befand sich eine Darstellung vom Lamm Gottes, und in der Apsis, der zentralen Stelle im Dom, war die Krönung Marias im Himmel durch Christus dargestellt, unter ihr die zwölf Apostel. Das Bild darf auch als Krönung des gesamten Marienzyklus’ angesehen werden. Maria erscheint erneut als die Himmelskönigin, so wie sie schon vom Salierherrscher Heinrich IV. verehrt worden war. So war nun ein bunter Dom entstanden. Mit seinen Bildern sollte er die Gläubigen zur Frömmigkeit anregen. Als dann noch zwischen 1854 und 1858 durch Heinrich Hübsch ein neuer Westbau errichtet worden war, war der Dom im Grunde fertiggestellt. Zwar sollte er nach dem Willen Ludwigs I. auch ein nationales Denkmal sein, aber im Ergebnis setzte sich die neue Frömmigkeit durch. Der Dom erschien als Zentrum der Verkündigung des Lebens Marias und als Zeichen für den Gehorsam vor den Geboten Christi. Fortan war der Dom vor allem ein kirchlicher Erinnerungsort. Aber die Kritik an der Gestaltung riss nicht ab. 1919 schrieb Rudolf Kautzsch, einer der führenden Kunst- und Architekturhistoriker seiner Zeit, in einem Artikel über den Dom zu Speyer: „So unterstützt die Malerei eigentlich nirgends den Eindruck der Raumgröße und der Raumgliederung, sondern arbeitet ihm mit kleinlichen Musterchen und akzentloser Süßigkeit der Farbe entgegen. Man denke sich diese Malerei einmal ganz weg und versuche, sich den Raum nur so vorzustellen, wie ihn der Baumeister geschaffen“ (ebd. S. 290). Damit war eigentlich schon das Signal gesetzt für eine Bewegung, die nun nicht mehr versiegte. Es ging um die Wiederherstellung der romanischen Architektur und der reinen architektonischen Wirkung des Domes. In der Tat begann im Jahr 1957 die Restaurierung des Domes, die dann 15 Jahre dauern sollte und die man wohl ebenfalls als einen sensationellen Vorgang bezeichnen muss. Von nun an bemächtigte sich die Denkmalpflege der Kirche. Alles sollte in einen möglichst ursprünglichen Zustand zurückverwandelt werden. Die Schraudolph-Fresken wurden mit wenigen Ausnahmen abgenommen, die zugemauerten Fenster im Obergaden wieder geöffnet, um die ursprüngliche Lichtwirkung wieder zur Geltung zu bringen, die Dächer und Giebel romanisch umgestaltet. 1972 war alles so abgeschlossen, wie es heute zu sehen ist: Der Dom zu Speyer war entstan-
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den, wie ihn die Denkmalpflege wollte und wie wir uns heute das romanische Mittelalter vorstellen. Und dennoch: Der Speyerer Dom hat trotz dieser vielfachen Eingriffe seine Kraft behalten. Das ist das eigentlich Erstaunliche an der ganzen Entwicklung. Dies liegt meines Erachtens daran, dass diese prachtvolle Kirche schon zu Beginn mit einer außergewöhnlichen Idee verbunden war und dass mit ihr die Symbolkraft für ein umfassendes Ordnungsmodell der christlichen Gesellschaft und der christlichen Werteordnung verbunden war. Daraus konnten sich immer wieder neue Interpretationen und Funktionszuschreibungen entwickeln. Sie reichten von einem deutschen Kaisertum über die nationale Symbolik bis zu einem Dom, der wieder von der Kirche selbst her definiert wurde, und schließlich bis zu einem einzigartigen baugeschichtlich-künstlerischen Zeugnis der Vergangenheit, in dem sich die überragende europäische Leistungsfähigkeit früherer Zeiten widerspiegeln soll. Diesen Dom konnte Bundeskanzler Helmut Kohl seinen hohen Staatsgästen vorführen. Der Dom unserer Zeit wird auch weiterhin von der Denkmalpflege gestaltet, gehütet und bewacht. Aber eigentlich gehört er als Welterbe der Menschheit und bleibt ein in jeglicher Hinsicht ganz ungewöhnlicher Erinnerungsort, mit dem kaum ein anderer Kirchenbau konkurrieren kann. Literatur Ammerich, Hans: Das Bistum Speyer von der Römerzeit bis zur Gegenwart (Schriften des Diözesan-Archivs Speyer 42), Speyer 2011. Domkapitel Speyer (Hg.): Fromme Einfalt, hehre Kunst? Die Speyerer Domfresken von Johann Baptist Schraudolph. Red. Bettina Schüpke, Annweiler/Speyer 2012. Düchting, R./Kohnle, A.: Jakob Wimpfeling. Lob des Speyerer Doms – Laudes ecclesiae Spirensis. Faksimile der Inkunabel von 1486. Pfälzische Landesbibliothek Speyer, Inc. 141, Wiesbaden 1999, S. 66–99. Ehlers, Joachim: Heinrich der Löwe. Eine Biographie, Berlin 2008. Falck, Ludwig: Mainz im frühen und hohen Mittelalter. Mitte 5. Jahrhundert bis 1244 (Geschichte der Stadt Mainz 2), Düsseldorf 1972. Günther, Hubertus: Kaiser Maximilian I. zeichnet den Plan für sein Mausoleum. In: Il Principe architetto. Atti del Convegno internazionale Mantova 21–23 ottobre 1999, hg. von A. Calzona u. F. P. Fiore, Florenz 2002, S. 493–516. Hehl, Ernst-Dieter: Maria und das ottonisch-salische Königtum. In: Historisches Jahrbuch 117, 1997, S. 271–310. Hirschi, Caspar: Wettkampf der Nationen. Konstruktionen einer deutschen Ehrgemeinschaft an der Wende vom Mittelalter zur Neuzeit, Göttingen 2005. Köster, Gabriele: Zwischen Grabmal und Denkmal. Das Kaiserdenkmal für Speyer und andere Grabmonumente für mittelalterliche Könige und Kaiser im 15. und 16. Jahrhundert. In: Heiliges Römisches Reich Deutscher Nation. 962 bis 1806, hg. von Matthias Puhle u. Claus-Peter Hasse, Dresden 2006, S. 399–409.
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Nationaler Staatskult: Das Deutsche Eck in Koblenz Die kulturgeschichtliche Historiographie wendet sich seit den ausgehenden 1980er Jahren verstärkt Phänomenen der Identitätskonstruktion zu. In diesem Kontext setzen die Publikationen zu den sogenannten Erinnerungsorten neue Impulse, weil Historiker mit ihrer Erforschung unter anderem das kulturelle Gedächtnis von Nationen analysieren möchten. Im Fokus steht dabei die „Erfindung“ der Nation als Werk intellektueller und/ oder staatstragender Eliten. Die Funktionsweisen kollektiven Erinnerns, dessen Bedeutung für die Konstruktion von Gruppenidentitäten sowie die kulturellen Formen des Bewahrens und Tradierens von Erinnerung gewinnen dabei in den historisch arbeitenden Wissenschaften als neue oder besser wiederentdeckte Fragestellungen mehr und mehr an Bedeutung. Kollektives Gedächtnis bildet sich im sozialen Raum. Dabei stellt die Schaffung einer nationalen Identität einen äußerst komplexen Vorgang dar. Er bedarf der Vermittlung und beständigen Vergewisserung durch nationale Leitbilder, Zielvorstellungen, Ideale und Mythen. Fokussiert werden von der Forschung die vielfältigen Versuche, Loyalitäten gegenüber dem Staat zu schaffen, zum Beispiel die Vermittlung nationaler Werte in Schule und Militär. Auch durch Lieder, Gedenktafeln, Denkmäler, Bilder sowie Straßennamen lassen und ließen sich Geschichtsbilder und Mythen verbreiten. Die Historiographie konzentriert sich daher in letzter Zeit auf die vielfältigen Formen der Staatssymbolik, wobei die Denkmalkultur, politische Feste und politische Architektur sowie die Ikonographie im Mittelpunkt des Interesses stehen. Einen der bekanntesten Erinnerungsorte im Westen der Republik stellt zweifelsfrei das Deutsche Eck in Koblenz dar. Den Namen erhielt es von der dort im Jahr 1216 angesiedelten Ordensballei des Deutschritterordens. Der Zufluss der Mosel in den Rhein wurde in der Literatur der Rheinromantik vielfach thematisiert. Seine Bekanntheit ist in der Neueren Geschichte in einem besonderen Maße mit der Entstehung des Kaiser-Wilhelm-Denkmals verbunden, das 1897 mit großem, damals üblichem Pomp eingeweiht wurde. Dieses Denkmal ist eigentlich nichts Besonderes, sondern eines von einigen Dutzenden seiner Art, die im Wilhelminischen Kaiserreich errichtet wurden. Die Geschichte des Deutschen Ecks ist dann doch eine vergleichsweise besondere, weil dieser Ort in der jungen Repu-
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blik nach 1945 als Mahnmal für die deutsche Einheit genutzt wurde und weil die partiell eingeschmolzene Figur 1993 durch eine neue ersetzt wurde. Dieser Akt war äußerst umstritten und einzigartig in der Zeit nach der Wiedervereinigung. Nun waren Denkmäler beileibe keine „Erfindung“ des 19. Jahrhunderts. Wir kennen sie aus dem alten Griechenland, sie schmückten in großer Zahl das antike Rom, und seit dem Mittelalter gab es auch die Herrscherdenkmäler für die Könige. In der Renaissance und im Barock ist der Typus des Fürsten- und Ruhmesdenkmals ausgebildet worden. Ein solches Denkmal repräsentiert das Prestige und die Macht des Herrschers, dessen Ruhm es tradieren soll. Im 19. Jahrhundert wird das Fürstendenkmal mit der Nation und in Preußen vor allem mit dem Aufstieg des Hauses Hohenzollern verbunden, das gemäß der borussischen Historiographie prädestiniert war, das Deutsche Reich zu gründen. Die Denkmäler für den Monarchen sollten zu staatstragenden Tugenden erziehen und den Patriotismus festigen. Im Deutschen Kaiserreich nahm die Zahl der monarchischen Denkmäler in einem inflationären Maße zu. Man kann auch von einer regelrechten Denkmalwut sprechen, und dies ist keineswegs ein preußisches oder deutsches Phänomen. Vergleichbare Erscheinungen lassen sich auch in den europäischen Nachbarländern beobachten. Neben den zahllosen Bismarckdenkmälern und -türmen stellen die eigentlichen monarchischen Nationaldenkmäler im 19. Jahrhundert den Kaiser der Reichsgründung, Wilhelm I., dar. Sein Enkel, Wilhelm II., trieb den Denkmalkult für seinen verehrten Großvater mit Verve voran. Wilhelm I. war im Grunde ein patriarchalischer Monarch, fern von plebiszitären Tendenzen. Dass sein Enkel ihn zu „Wilhelm dem Großen“ zu stilisieren versuchte, mit den zahllosen partiell gigantesken Denkmälern, die uns heute noch oder wieder umgeben, entsprach überhaupt nicht seinem Stil. Wilhelm II. wollte seinen Großvater und damit die gesamte preußische Monarchie mit einem mystischen Nimbus umgeben. Das kann man schon dahingehend interpretieren, dass diese Bemühungen darauf hinausliefen, eine vom Zweifel am Gottesgnadentum bereits unterhöhlte Monarchie mit neuer Legitimation auszustatten. Die nach 1888 entstandenen Denkmäler für den Kaiser sind immer weniger individuelle Darstellungen des Monarchen, sie sind vielmehr Denkmäler für die Monarchie als Regierungsform und dann auch Denkmäler der Nation. Zumindest waren sie als solche intendiert. Sie reichen von mehreren Beispielen in Berlin über die Denkmäler in den elf preußischen Provinzen, wie am Deutschen Eck oder an der Porta Westfalica. Innerhalb Preußens fällt auf, dass ihre Zahl in den katholischen Gebieten der Westprovinzen geringer ausfiel – hier hinterließ der Kulturkampf seine Spuren. Die Denkmäler wurden in diesem Kampf ganz
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bewusst eingesetzt. In Trier, wo die Auseinandersetzungen zwischen katholischer Kirche und protestantischen preußischen Beamten besonders erbittert geführt wurde, reichten die Gelder anscheinend nicht für das geplante Reiterstandbild, aber ein kleineres Standdenkmal des Kaisers wurde provokativ auf dem Domfreihof gegenüber der Kathedrale platziert. Auffallend ist weiterhin die geringe Anzahl von Reiterdenkmälern in jenen Regionen, die Preußen erst 1866 annektiert hatte. Auch in München oder überhaupt in Bayern sucht man sie vergebens. Einige der insgesamt 59 errichteten Reiterdenkmäler wurden jedoch in größeren Städten Mittelund Südwestdeutschlands errichtet, unter anderem in Stuttgart. Die Mehrzahl entstand jedoch im protestantischen Preußen. Doch Denkmäler und vor allem mehrere Meter hohe Reiterstatuen waren immens teuer, und einzelne Kaisertreue wären völlig überfordert gewesen, diese Summen aufzubringen. Wilhelm II. war also zur Durchsetzung seines nationalen Bildprogramms auf die Hilfe der staatstragenden Eliten angewiesen, und die ließen sich nicht lange bitten. So kam es vielerorts zu Komitee- oder Vereinsgründungen, um mit vereinten Kräften die Denkmalprojekte zu realisieren. Überhaupt herrschte im 19. Jahrhundert die Überzeugung, dass das Assoziationswesen in einem hervorragenden Maße geeignet sei, Probleme aller Art zu lösen, an denen der Einzelne zwangsläufig scheitern musste. Die Eliten des Kaiserreichs sammelten mit großem Eifer die entsprechenden Summen ein. Hohe Beamte, Militärs, vermögende Unternehmer und der regionale Adel konnten sich derartigen Sammelaktionen gar nicht entziehen. Es galt, mit den Spenden öffentlichkeitswirksam seine patriotische Gesinnung zu demonstrieren. Regionale und überregionale Verwandten- und Kollegennetzwerke wurden mobilisiert, um den Spendenaufrufen die benötigte Aufmerksamkeit zu verschaffen. Zu den potentesten Mäzenen zählten zweifellos viele der in der Gründerzeit reich gewordenen Fabrikanten. Dennoch konnten manchmal 20 Jahre vergehen, bis die entsprechenden Summen gesammelt worden waren und ein weiterer Wilhelm I. hoch zu Ross Richtung Rhein ritt, über der Saar thronte oder andernorts die Denkmaltopographie einer Stadt oder einer Landschaft bereicherte. In Saarbrücken verhielt es sich im Übrigen so, dass das Projekt, welches lange in der Planungsphase verblieb, letztendlich nur durch überaus großzügige Spenden von einem hohen Beamten und dem Stahlwerkbesitzer Karl Röchling finanziert werden konnte. Erst sieben Jahre nach Koblenz wurde über der Saar 1904 ein weiteres Kaiserdenkmal errichtet. Natürlich nahmen die jeweiligen städtischen Honoratioren aufmerksam wahr, welche Zeugnisse vaterländischer Treue in den Städten der Region in Stein gemeißelt oder in Bronze gegossen wurden. In Köln fand die fei-
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erliche Enthüllung des Reiterstandbilds Wilhelms I. am Rhein bereits 1868 statt, in Metz 1892 und in Koblenz 1897. Da fiel es irgendwann unangenehm auf, wenn die Industriellen im Saargebiet Unsummen am kaiserlichen Prestigeobjekt, dem Flottenbau, verdienten, aber kein Kaiserdenkmal vorweisen konnten. Umstritten blieb auch der Platz für das Denkmal. Als es geplant wurde, bestanden St. Johann und Saarbrücken noch als selbstständige Städte, die Großstadt Saarbrücken wurde erst 1909 durch den Zusammenschluss der beiden Kommunen unter Einschluss von Malstatt-Burbach gegründet. Da jede der beiden Kommunen das Denkmal gerne für sich gehabt hätte, fand man die salomonische, aber immens teure Lösung, das Reiterstandbild mitten auf der alten Brücke über der Saar zu errichten, welche die beiden Städte verband. Allein die Kosten für das Fundament wurden auf 140.000 Mark veranschlagt. Kam man in Koblenz Saarbrücken auch um einige Jahre zuvor, so verstrich doch auch hier fast ein Jahrzehnt zwischen der Idee und der Realisierung des Denkmalprojektes. Direkt nach der Beerdigung Kaiser Wilhelms I. am 16. März 1888 gab es in zahlreichen Provinzen und Städten Initiativen zum Bau von Denkmälern, um den Kaiser der Einheit zu ehren. Auch in Koblenz wurden die lokalen Politiker und Beamten der Rheinprovinz aktiv. In dieser Stadt hatten die Notabeln ein besonders enges Verhältnis zur königlichen Familie. Wilhelm I. und seine Brüder kauften, nachdem ihnen das Rheinland auf dem Wiener Kongress 1815 zugeteilt worden war, alle Burgen oder Burgruinen am Rhein unweit von Koblenz, um so der Hohenzollerndynastie eine mittelalterliche Aura zu verleihen. Sie nutzten sie als Sommersitze und zur Jagd. Friedrich Wilhelm IV. ließ etwa seine Burgruine Stolzenfels anlässlich eines Besuches der englischen Königin Viktoria aufwändig wieder aufbauen. Wilhelm I. wiederum residierte 1850–1858 als Militärgouverneur der Rheinlande im Koblenzer Schloss. In den Jahren nach der Revolution hielt man es für politisch opportun, ihn aus der Hauptstadt Berlin zu entfernen, hatte er sich doch einen zweifelhaften Ruf als Kartätschenprinz erworben, der sowohl auf die Demonstranten vor dem Berliner Schloss im März 1848 hatte schießen lassen als auch im Juni 1849 die letzten Revolutionäre in der Pfalz militärisch niedergerungen hatte. In Koblenz jedoch war man stolz, den Prinzen bei sich zu wissen. Ein gewisser fürstlicher Glanz kehrte ein, das Prinzenpaar hielt Hof, und der regionale Adel und die bürgerlichen Eliten eilten gerne zu den gesellschaftlichen Anlässen in das Schloss. Auch nach 1858 kehrte das Kaiserpaar regelmäßig nach Koblenz zurück. So wandte sich auch der Oberbürgermeister Emil Schüller bald nach dem Tod Wilhelms I. an den Oberpräsidenten der Rheinprovinz, Moritz von Bardeleben, und regte die Errichtung eines Denkmals in Koblenz an.
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Gleichzeitig wurde – wie damals üblich – ein städtisches Komitee, bestehend aus 14 Adligen, Industriellen und kirchlichen Würdenträgern, ins Leben gerufen, das es sich zur Aufgabe setzte, das Denkmalprojekt zu fördern. Begründet wurde der Plan von Schüller wie folgt: „Es dürfte indess die Ehrenpflicht der Rheinprovinz, derjenigen Provinz, in welcher der verstorbene Held vor Besteigung des Thrones lange Zeit gewohnt und welcher er seine besondere Fürsorge zugewendet hatte, zu bezeichnen sein, dass auch die Provinz als solche dem Andenken des verewigten Wohltäters ein würdiges größeres Standbild an geeigneter Stelle errichtet.“ Im Juni 1888 wurde ein Antrag beim Provinziallandtag für die Kostenübernahme eingereicht, aber auch andere rheinische Städte erbaten Gelder für das rheinische Provinzialdenkmal. Wie bei öffentlichen Bauaufträgen üblich, wurde ein Wettbewerb ausgeschrieben, und 25 Architekten und Bildhauer reichten Vorschläge ein. Es entbrannte nun ein heftiger Streit darüber, wo das Provinzialdenkmal des Rheinlandes denn überhaupt zu errichten sei. Zahlreiche Städte zwischen Koblenz und Düsseldorf entwickelten eigene Pläne und Standortideen. Der Koblenzer Oberbürgermeister Schüller publizierte unter Pseudonym eine Denkschrift, in der er postulierte, dass das Deutsche Eck wie geschaffen sei zur Aufstellung einer Ruhmeshalle, die für alle Rheinpilger stromauf- und -abwärts weithin sichtbar sein würde. Mit dem Deutschen Eck konkurrierten als Alternativstandorte: die Humboldthöhe bei Vallendar, der Hardtberg bei Königswinter, der Kranenberg in Andernach, der Hammerstein bei Hammerstein, die Erpeler Lay bei Linz, die südliche Felswand des Drachenfels im Siebengebirge sowie die Insel Grafenwerth. Die Aufladung des Rheins als nationales Symbol dürfte bei diesen Ideen eine große Rolle gespielt haben, galt er doch als der deutsche Fluss, Deutschlands Fluss, nicht Deutschlands Grenze, deutsch-französischer Zankapfel, den man immer wieder siegreich behauptet hatte. Weitgehender Konsens bestand hingegen über den zu errichtenden Denkmaltyp. Die Mehrheit wollte kein „kleines“, preiswerteres Stadtdenkmal, sondern ein Landschaftsdenkmal wie das Niederwalddenkmal oberhalb von Rüdesheim, die aufgrund ihrer weiten Sichtbarkeit auch entsprechend groß ausfallen müssen, da sie ansonsten mickerig wirken. Den Ausschlag in diesem Streit gab letztendlich die kaiserliche Familie. Kaiserin Augusta sprach sich bei ihrem letzten Besuch in Koblenz für das Deutsche Eck als Standort aus. Der sie in der Stadt begleitende Festungsingenieur Oberst Tschudi teilte dies auch umgehend dem Provinzialausschuss mit. Im Provinziallandtag wurde weiter heftig debattiert, und bei der abschließenden Abstimmung im Dezember 1890 votierten 53 Abgeordnete für das Siebengebirge, 53 für den Schlossplatz in Koblenz und 32 für das Deutsche Eck. Letztendlich wusste man sich nicht weiter zu helfen, und
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der Provinziallandtag bat den Kaiser zu entscheiden. Ein Problem war, dass das Deutsche Eck, so wie wir es heute kennen, noch gar nicht bestand. Der Platz für das Reiterdenkmal musste erst aufgeschüttet werden. Nachdem im Januar und Februar 1891 ein größeres Terrain befestigt worden war, entschied sich Wilhelm II. am 16. März 1891 für das Deutsche Eck. 1892 wurde erneut ein Wettbewerb ausgeschrieben, und diesmal gewannen ihn der Bildhauer Professor Hundrieser und der Architekt Bruno Schmitz zu Berlin. Beide hatten zuvor schon das Kyffhäuser-Denkmal erfolgreich realisiert. Veranschlagt wurde rund eine Million Mark, gekostet hat das Werk schließlich zwei Millionen. Vor allem die Statik brachte viele Probleme mit sich. Massive Kiesaufschüttungen und Befestigungsmaßnahmen waren erforderlich, damit das Denkmal des Kaisers an diesem symbolträchtigen Ort nicht in eine peinliche Schieflage geriet oder gar umgefallen oder versunken wäre. Die Statikprobleme hingen mit den enormen Ausmaßen des Reiterdenkmals zusammen. Es steht auf einer Hochterrasse mit Treppenanlage, den Sockel bildet eine Pfeilerhalle, zur Stadt hin wird das Denkmal mit einer Pergola abgeschlossen. In der Gedenkschrift zur Denkmaleinweihung wird auf die hohe Materialwertigkeit hingewiesen, bester Granit für den Sockel wurde eigens aus dem Schwarzwald bei Achern herangeschafft. Im ersten Entwurf sollten Pferd und Reiter zwölf Meter hoch sein. Aufgrund der Größe und Wucht des Sockels (16 Meter) musste man jedoch die Figuren um zwei Meter vergrößern, um die Proportionen zu wahren. Alles in allem erreichte man mit dem Doppelsockel eine Höhe von 37 Metern und schuf das größte Kaiser-WilhelmDenkmal überhaupt. Da die Kosten explodierten, musste der eigentliche Plan, die Figuren in Bronze auszuführen, aufgegeben werden. Stattdessen wich man auf Kupfertreibarbeiten aus, das war billiger, und so wurden die Figuren auch erheblich leichter. Die Inschriften auf dem Sockel verwiesen auf den Dargestellten und auf die edlen Stifter. Auf der Seite, die der Flussmündung zugewandt ist, wurden prominente Lyrikzeilen aus der Zeit der „Befreiungskriege“ eingemeißelt: „Nimmer wird das Reich zerstört, wenn ihr einig seid und treu“. Es handelt sich dabei um die Schlussreime des Gedichtes „Frühlingsgruß an das Vaterland“ von Max von Schenkendorf. Letzterer war einer der bekanntesten Lyriker der antinapoleonischen Kriege. Seit 1815 hatte er als Regierungsrat in Koblenz gelebt, wo er jung verstorben war. Als Tag der Denkmalseinweihung einigte man sich auf den 30. und 31. August 1897. Selbstverständlich wurde diese öffentliche Feier genutzt zur politischen Präsentation, zu Patriotismusbekundungen und zur Autorepräsentation der Eliten; dem Volk kam die Rolle des Zuschauers zu.
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Auch bei der Denkmalenthüllung war man in Koblenz nicht sonderlich kreativ oder originell, sondern feierte so, wie auch andernorts im Wilhelminischen Reich gefeiert wurde. Da das Kaiserpaar seine Teilnahme zugesagt hatte, wurde das Berliner Hofmarschallamt Seiner Majestät in die Festvorbereitungen eingeschaltet. Darum seien zunächst allgemeine Tendenzen der kaiserzeitlichen Festkultur skizziert, um vor diesem Hintergrund das Einweihungsfest in Koblenz einzuordnen. Öffentliche Feste waren und sind ein traditionelles Mittel, um Fürsten oder Staatsformen zu feiern und dabei kulturelle Normen zu vermitteln. Wurden im ausgehenden Ancien Régime noch Geburt und Hochzeit des Fürsten pompös begangen, so setzte die Französische Revolution mit ihren Volks- und Nationalfesten neue Normen. Mit Napoleon änderte sich die Feierkultur wieder. Die staatlichen Feiertage beschränkten sich erneut auf den Geburtstag, Hochzeiten des Monarchen oder die Taufe des präsumtiven Thronfolgers. Festorganisation und -ablauf blieben im Napoleonischen Kaiserreich und später in Preußen bis zum Ersten Weltkrieg bei offiziellen Anlässen weitgehend unverändert. Die üblichen Bestandteile waren: Glockengeläut, Gottesdienste beider Konfessionen, Umzüge, festliches Mittagessen der Honoratioren, abends folgte ein Ball. In der Schule wurden die Kinder über wichtige militärische Erfolge Preußens und über das Königshaus unterrichtet. Eine Beteiligung breiterer Bevölkerungsschichten war nicht geplant, da der Geburtstag des Königs kein arbeitsfreier Tag war; sie ließ sich ohnehin nur mittels Vergnügungsveranstaltungen erzielen. Nach der Reichsgründung 1871 änderte sich an Ablauf und Intention der Feste wenig, aber nun prägten andere Gruppen die Inhalte, und der Ton wurde militärischer. Vor allem spielten die zahllosen Krieger- und Veteranenvereine fortan eine größere Rolle. Während des gesamten Kaiserreichs gab es zwar keinen Festtag, der offiziell zum Nationalfeiertag erklärt wurde, aber einige staatliche Feste wurden regelmäßig zelebriert, die vom Anlass her an den neuen Nationalstaat und seinen Monarchen gebunden waren und von ranghohen Beamten und Militärs organisiert wurden. Die wichtigsten waren zweifellos der Geburtstag des Kaisers und der Sedanstag. Gleich nach seinem Regierungsantritt erklärte der junge Kaiser, dass die Geburtstage seines Vaters und Großvaters als vaterländische Gedenk- und Erinnerungstage künftig in allen Schulen zu begehen seien. Obwohl auch Wilhelm II. nicht in die bestehenden Verfügungen zu den kaiserlichen Geburtstagsfeierlichkeiten eingriff, veränderte sich der Charakter der Festivitäten in seiner Regierungszeit ganz erheblich. Im Selbstverständnis der damaligen Akteure repräsentierten die staatstragenden Feste die deutsche Nation. Deshalb musste sich jeder, der sich an ei-
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nem solchen Fest beteiligen wollte, den kulturellen Standards der Nationsbilder anpassen. So blieben denn auch Sozialdemokraten und vom Kulturkampf erbitterte Katholiken Sedansfeiern und anderen patriotischen Kundgebungen demonstrativ fern. Wenn die Töne auch deutlich martialischer wurden, so blieb der bewährte stereotype Festablauf des 19. Jahrhunderts doch gleich. Den Auftakt bildete meist ein vorabendlicher Fackelzug. Der eigentliche Festtag begann in den Städten mit zeitlich versetzten Gottesdiensten beider Konfessionen, wobei im Rheinland katholische Priester diese Gelegenheit nicht ausließen, um im Kulturkampf Gesinnung zu zeigen und etwa das erwartete Glockengeläut verweigerten. Oft schloss sich dem Gottesdienst ein gemeinsamer Umzug der Kriegervereine und anderer Vereine durch die beflaggte Stadt oder Ortschaft an; gelegentlich zogen sie bereits morgens unter Musikbegleitung zu den Kirchen. Anschließend trafen sich die Mitglieder der zahllosen Krieger-, Veteranen-, Flottenvereine oder Kasinogesellschaften in verschiedenen Lokalen zu Festdiners. Diese sogenannten Festkommerse waren eine Domäne der Männer, die Frauen blieben ausgeschlossen. Erst bei den abendlichen Bällen, die viele Vereine ausschließlich für ihre Mitglieder veranstalteten, war ihre Teilnahme notwendigerweise erwünscht. Die Männer nutzten die Festdiners zum Kommunizieren und Politisieren, und nicht selten entstanden bei dieser Gelegenheit neue patriotische Initiativen, die die Errichtung eines weiteren nationalen Denkmals anregten oder sogar vor Ort und Stelle neue Vereine gründeten, wie eine weitere Filiale des Flottenvereins. Nicht immer verliefen die Festdiners in der gewünschten Harmonie. Vielfach kam es bereits bei den Vorbereitungen zu Kompetenzrangeleien der involvierten Beamten. Einen heiklen Konfliktpunkt stellte die Sitzordnung dar, weil mit dem Vorsitz bei Tisch der Kaisertoast verbunden war, den aber jeder höhere Beamte für sich beanspruchte. Alle diese Feierlichkeiten waren genauestens geplant und inszeniert, und dies gilt auch für die pompöse Denkmaleinweihung in Koblenz. Christian Dommershausen hat 1897 gleich eine Festschrift vorgelegt, die uns genauestens über den Festverlauf und die Festanordnung informiert. Das Fest begann am 30. August und wurde auf zwei Tage ausgedehnt. Zunächst traf der Kaiser mit einem Sonderzug ein, um sogleich eine Truppenparade abzunehmen, die zwischen Andernach und Koblenz auf dem freien Feld stattfand. Dafür war extra ein Paradeplatz mit einer Tribüne hergerichtet worden, wo man zu Preisen zwischen vier und sieben Mark einen Platz erwerben konnte. Detailliert führt Dommershausen aus, welche Truppenteile anwesend waren und in welchem der umliegenden Dörfer die Offiziere und Soldaten sowie die 200 Pferde untergebracht wurden.
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Natürlich kam der Kavallerie als ranghöchster Waffengattung der Landstreitkräfte immer eine besondere Rolle zu. Danach erfolgten Ankunft und Unterbringung des Kaiserpaares im Koblenzer Schloss, Diner von 18.00 bis 21.00 Uhr, woran sich der große Zapfenstreich auf dem Schlossplatz anschloss. Auch hier ist im Programm aufgeführt, welche Musikcorps beteiligt waren und was geboten wurde – unter anderem „Wotans Abschied von Brünnhilde“ und „Feuerzauber“ aus dem Musikdrama „Die Walküre“ von Richard Wagner. Den eigentlichen Höhepunkt stellte die feierliche Denkmaleinweihung am 31. August 1897 dar. Das Programm war minutiös ausgearbeitet und sah folgenden Ablauf vor: Um 11 Uhr postieren sich die Truppen und die Kriegervereine um das Denkmal. Kaiser und Kaiserin werden trotz einer geringen Entfernung von nur 1,5 Kilometern mit einem Dampfer vom Schloss zum Deutschen Eck gebracht. Natürlich ging es hierbei um die optische Wirkung des Denkmals vom Wasser aus. Es folgen zwei weitere Dampfer, einer mit den Abgeordneten des Rheinischen Provinziallandtages und einer mit den Stadtverordneten und Honoratioren der Stadt Koblenz. Beide Dampfer sollten sich in gebührendem Abstand halten. Die hohen Herrschaften begeben sich dann – nach Plan – in den eigens aufgebauten Pavillon, direkt gegenüber dem Denkmal. Die geladenen Notabeln
Einweihung des Denkmals für Kaiser Wilhelm I. am Deutschen Eck in Koblenz am 31. August 1897
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befinden sich auf zwei Tribünen auf der Mosel- und der Rheinseite des Denkmals. Dann waren folgende Programmpunkte geplant: Militärkapellen spielen, Gesangsvereine singen das Deutsche Lied. Dann hält der Präsident des Provinziallandtages, Fürst zu Wied, die Festrede. Wieder folgt Gesang, diesmal die Nationalhymne, darauf Böllerschüsse und Glockengeläut. Danach fährt das Kaiserpaar mit dem Schiff zurück zum Schloss. Für den Abend ab neun war die Illuminierung der Stadt Koblenz, Feuerwerk, Feuerregen und bengalische Beleuchtung vorgesehen sowie daran anschließend die Abreise des Kaiserpaars mit dem Zug nach Homburg. Des Weiteren enthält das Festprogramm eine Polizei-Ordnung, mit der die Schifffahrt auf dem Rhein für zwei Tage lahmgelegt wurde, und eine Ordnung für die Spalierbildung bei dem Einzug ihrer Majestäten in Koblenz. Hier ist exakt festgelegt, wo die Kinder einer jeden Schule zu stehen haben, wo die Kaufmanns- und Lehrlingsvereine sowie viele andere Vereine mehr. Mobilisiert wird, wen immer die Festverantwortlichen nur irgendwie erfassen können. Soweit das penibel ausgearbeitete offizielle Festprogramm. Doch ein Faktor war nicht zu programmieren: das Wetter. Es goss am 31. August 1897 in Strömen, und man konnte erst am Nachmittag mit dem Programm beginnen. Was sich dann überhaupt noch realisieren ließ, gilt es noch zu überprüfen. Heinrich Mann hat in seinem Roman „Der Untertan“ eine wunderbare satirische Szene einer Feier für den Kaiser skizziert, die ziemlich genau das abbildet, was auch in Koblenz stattfand. Auch in seinem sehr lesenwerten Roman fegt ein Sommergewitter das Fest durcheinander. Festzuhalten bleibt: Was hier für Koblenz geplant war, entsprach dem absolut typischen Festverlauf anlässlich einer Denkmaleinweihung, wie sie sich bereits an zahlreichen anderen Orten abgespielt hatte oder wie sie noch geplant war. Diese Feste waren nationalistisch, patriotisch, statisch und elitär; immer wieder findet sich im Festprogramm das Wort „Ordnung“. Dem „Volk“ kam die Rolle des Statisten zu, es sollte Spalier stehen und Begeisterung zeigen. Die beteiligten Honoratioren ergriffen die mehr als willkommene Gelegenheit, sich als staatstragende Eliten in Uniformen mit möglichst reichem Ordensschmuck zu präsentieren. In ihren Egodokumenten wird deutlich, wie wichtig ihnen derartige Kontaktmöglichkeiten zu Königen und Fürsten waren und wie nachhaltig sie sich von persönlichen Begegnungen und wohlwollenden Auszeichnungen durch gekrönte Häupter beeindrucken ließen. Wilhelm II. entfesselte in Tateinheit mit anderen europäischen Monarchen, Militärs und Diplomaten 17 Jahre später den Ersten Weltkrieg. Die bürgerlichen und adligen Eliten hatten in den Jahren zuvor entschieden daran mitgewirkt, nationalistische, partiell schon chauvinistische und mi-
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litärische Werte zu kultivieren, und hatten so zur Verbreitung der Kriegsbereitschaft wesentlich beigetragen. Historiker interpretieren diesen Krieg als Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts: Andere und größere Katastrophen sollten noch folgen, doch hatten manche von ihnen ihre Wurzeln im Ersten Weltkrieg. Zwischen 1914 und 1918 bekämpften sich Armeen weltweit. Vor allem an der Westfront in Frankreich und Belgien starben die meist jungen Soldaten in einem schrecklichen Stellungskrieg; mehr als sieben Millionen ließen ihr Leben allein auf den Schlachtfeldern Europas. 1918 war der alte Kontinent am Ende. Die nun folgenden Jahre der Weimarer Republik erwiesen sich für die Menschen als wirtschaftlich äußerst problematisch, im Linksrheinischen kam die militärische Besatzung durch den „Erbfeind“ bis 1930 hinzu. Die Demokraten befanden sich in der Minderzahl; viele Menschen erinnerten sich nostalgisch an die „goldene“ Zeit des Kaiserreichs. Das Deutsche Eck mit seiner Reiterstatue bot sich nun weniger als Ort für den offiziellen Staatskult an, sondern mehr als Ort für Manifestationen der Nationalkonservativen. So besuchte etwa Reichspräsident Paul von Hindenburg anlässlich des Endes der alliierten Besatzung des Rheinlandes das Deutsche Eck am 22. Juli 1930. Zahlreiche Touristengruppen reisten per Bahn oder per Schiff an und nutzten es spontan für politische Demonstrationen. Zahllose Gruppenfotografien belegen die große Beliebtheit des Deutschen Ecks als Ausflugsort. Hinzu kamen organisierte Kundgebungen, Feste und politische Inszenierungen. So suchten saarländische Delegationen diesen Ort sehr gerne auf, um ihre Zugehörigkeit zum Reich zu untermauern. Von 1920 bis 1935 war das Saargebiet aufgrund der Bestimmungen des Versailler Vertrages als Mandatsgebiet unter die Verwaltung des Völkerbundes gestellt worden. Französische Truppen blieben an der Saar, und die wertvollen Kohlegruben wurden von Frankreich als Reparationsleistung ausgebeutet. Die patriotische Gesinnung ließ sich am Deutschen Eck von den Saarländern besonders effizient demonstrieren. Nach 1933 nutzten diesen symbolträchtigen Erinnerungsort die Nationalsozialisten gerne und häufig für Fackelzüge, Aufmärsche und andere Formen von Propagandainszenierungen. Im Zweiten Weltkrieg wurden zahlreiche Kaiser-Wilhelm-Reiterdenkmäler zerstört, verbrannten im Bombenhagel, wurden demontiert und als Metallspende eingeschmolzen, so in Mülheim, Münster, Osnabrück, Potsdam, Siegen und anderen Orten mehr. Das Denkmal auf dem Deutschen Eck überlebte bis in das Frühjahr 1945 unversehrt, dann geriet es unter amerikanischen Artilleriebeschuss und wurde schließlich auf Veranlassung der französischen Militärverwaltung abmontiert. Das wertvolle
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Material wurde sicherlich wiederverwendet. Fortan stand der Sockel funktionslos auf der Landzunge. Der erste Ministerpräsident von Rheinland-Pfalz, Peter Altmeier, kam schließlich auf die Idee, diesen Platz mit einer neuen identitätsstiftenden Aufgabe zu versehen. Vom kaiserlichen Denkmal für den jungen geeinten Nationalstaat sollte er nun zum Mahnmal für die wieder zu gewinnende Einheit werden. Am 18. Mai 1953 wurde in Anwesenheit des Bundespräsidenten Heuss die deutsche Fahne gehisst, und es wurde die deutsche Einheit beschworen. Nun sang man die dritte Strophe des Deutschlandliedes, wieder ertönten Böllerschüsse von der Festung Ehrenbreitstein. Diesmal war das Volk aber durchaus erwünscht und auch zahlreich herbeigeströmt. Der Wettergott war gnädig gestimmt, die Sonne strahlte. Doch bereits ab 1958 wurde diskutiert, ob man das Reiterstandbild nicht doch wieder auf den Sockel stellen sollte. Ministerpräsident Altmeier lehnte entsprechende Vorschläge des Koblenzer Oberbürgermeisters Josef Schnorbach kategorisch ab: „Die am 18.5.1953 aufgezogene Bundesflagge soll daher solange auf dem Denkmalsockel wehen, bis die deutsche Einheit vollendet ist. Dann sollte der Zeitpunkt gekommen sein, eine dem Gedanken entsprechende endgültige Gestaltung für dieses Deutsche Eck zu wählen.“ Zu Beginn der 1990er Jahre war es dann so weit. Die Diskussion entbrannte erneut und heftig. Der vermögende ehemalige Verleger der Mittelrhein-Zeitung, Werner Theisen (*1927 Rittersdorf in der Eifel), ließ für immerhin drei Millionen Mark eine 14 Meter hohe und 40 Tonnen schwere Kopie des reitenden Wilhelm nachgießen und wünschte die Wiedererrichtung der Denkmalgruppe auf dem Sockel am Deutschen Eck. Jahrelang lehnten es die regierenden Christdemokraten ab, doch 1990, nach der Wiedervereinigung, ließen sie sich umstimmen. Rudolf Scharping, ab 1991 Ministerpräsident, wollte das Geschenk noch verhindern, doch sein Vorgänger, Carl-Ludwig Wagner, hatte zuvor mit Theisen einen entsprechenden Vertrag abgeschlossen. Hinzu kam, dass die Mehrheit der Koblenzer ihren alten Kaiser Wilhelm wieder haben wollte. Und so wurde das neue Reiterstandbild am 2. September 1993 am Deutschen Eck auf den Sockel gestellt.
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Die „Jugendburg“ Burg Waldeck Dieser befremdliche Terminus technicus konnte vor 90 Jahren Jugendliche im Rheinland, in Koblenz und im Hunsrück förmlich elektrisieren. Über 100 Jahre Geschichte in Deutschland in der Auseinandersetzung mit dem Zeitgeist und der jeweiligen jugendlichen Befindlichkeit können wir an diesem „magischen Ort“ fest verankern. Der singuläre Aufbruch in Europa begann mit dem „Fest der Jugend“ auf dem Hohen Meißner, einem Treffen der Jugendbewegung am 11. und 12. Oktober 1913 mit rund 2.000 bis 3.000 Teilnehmern. Diese Veranstaltung stand dem Ansinnen der Organisatoren der Feier zur 100. Wiederkehr der Völkerschlacht bei Leipzig im Jahre 1813 diametral entgegen. In einer Formel fassten die Meißner-Fahrer ihren Impetus zusammen: „Die Freideutsche Jugend will nach eigener Bestimmung, vor eigener Verantwortung, in innerer Wahrhaftigkeit ihr Leben gestalten. Für diese innere Freiheit tritt sie unter allen Umständen geschlossen ein. Zur gegenseitigen Verständigung werden Freideutsche Jugendtage abgehalten. Alle gemeinsamen Veranstaltungen der Freideutschen Jugend sind alkoholund nikotinfrei.“ Den letzten Passus konnten diese Jugendlichen allerdings kaum einhalten. Mit der Gründung der Wandervogel-Bewegung um 1900 waren zunehmend junge Menschen aus Schulen mit dem Motto „Hinaus in die Natur“ ausgezogen, sich eigene Freiräume zu schaffen, die nicht unter der Kontrolle von Elternhaus und Schule standen. Mädchen und Jungen organisierten sich unabhängig voneinander. In „Klotzmärschen“ auf der Landstraße ziehend oder in den Wäldern am Feuer liegend sangen diese jungen Menschen die Lieder ihrer Zeit. Darin fanden jedoch die eigenen Erfahrungen jener Generation, die den Ersten Weltkrieg erlebte, kaum Ausdruck. So begannen die Jugendlichen, selbst Gedichte und Lieder zu schreiben. In den Gruppen vertonten sie die Texte dann häufig gemeinsam. Die Liedersammlung „Der Zupfgeigenhansl“ mit einer enormen Reichweite und einer für ein Liederbuch gigantischen Auflage von 303.000 Exemplaren im Jahre 1917 erreichte diese erlebnishungrige Generation fast vollständig. Diese Lieder gehörten nun zu ihrem Repertoire, ihre Verbreitung nahm ständig zu, da sie, mit der
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Gitarre oder Laute geübt, gesungen, zersungen oder verballhornt, in den Gruppen auf den wöchentlichen Heimabenden gemeinsam gesungen und somit tradiert wurden. Viele Jugendliche konnten alle 263 Lieder aus dem „Zupfgeigenhansl“ auswendig singen. Einer der charismatischen Köpfe des Altwandervogels, Robert Oelbermann, gilt als der Gründer der Jugendburg Burg Waldeck im 20. Jahrhundert. Die Burg Waldeck, eine Schlossruine und mittelalterliche Burgruine oberhalb des Schlosses im Robert Oelbermann Baybachtal, entwickelte sich zu ei(1896–1941 KZ Dachau) nem der erfolgreichsten Siedlungsprojekte der deutschen Jugendbewegung. Die Burg Waldeck liegt ca. 46 Kilometer von Koblenz entfernt in einem noch heute sehr einsamen Tal im Hunsrück. Robert Oelbermann, ebenso wie sein Zwillingsbruder Karl (1896– 1974) Kriegsfreiwilliger im Ersten Weltkrieg, schrieb 1919 in der Zeitschrift „Wandervogel“, Heft 6, mit einer Auflage von 22.000 Exemplaren: „Man erlebt Naturstimmungen und wilde Romantik, liegt ums Lagerfeuer und träumt in die Glut, begeistert sich an Sonnenwendfeiern.“ Dies war ein Rückblick auf die Erlebniswelt des Wandervogels vor dem Ersten Weltkrieg. Im Krieg nahmen Robert und Karl Oelbermann an zahlreichen Schlachten teil. Robert erlitt schwerste Verwundungen und bleibende Schäden an der Somme, der verlustreichsten Schlacht mit einer Million Toten, Verwundeten und Vermissten. Kaiser Wilhelm II. zeichnete Karl Oelbermann persönlich als Helden von Passendale aus – insgesamt hatte die Offensive bei Ypern 585.000 Tote gefordert. Robert Oelbermann schrieb nach dem Krieg sehr kritisch in einer weiteren Ausgabe der Wandervogel-Zeitschrift: „Und da glaubte jeder, es nun endlich gefunden zu haben, wonach man sich sehnte, wovon man träumte, wofür man sich begeisterte. Der Krieg (...). Und wir stellten uns freiwillig und zogen begeistert in die Schlacht (...). Mord! Nichts als Mord... Und ein Grausen packte uns (...). Vielen aber war das Erlebnis des Wandervogels zu gewaltig. Sie hatten sich ihre Jugendlichkeit bewahrt. Sie kehrten heim, um da weiterzuarbeiten, wo sie vor dem Kriege aufgehört hatten.“
Die „Jugendburg“ Burg Waldeck
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Dieses Kriegserlebnis sollte Verarbeitung und Ausdruck in einem Denkmal und einem Siedlungsort für die Jugend finden. Robert Oelbermann schrieb in Heft 12/1922 selbst aus dem Lazarett heraus und rüttelte junge Menschen im Rheinland auf: „Aus der chirurgischen Klinik Bonn: Eine rheinische Jugendburg. Der Krieg ist nun zu Ende, und da ist es Zeit auch unserer gefallenen Brüder zu gedenken, wie wir dieses während des Krieges oft gelobten (…). Wir, die Jugend, sind die Träger dieser neuen Welt (…). Wir rheinischen Wandervögel wollen unseren Brüdern im Reich zeigen, daß wir trotz der feindlichen Besetzung deutsch bleiben, und die Burg soll das zum Ausdruck bringen.“ In einer Mühlsteinbruch-Höhle auf dem Nerother Kopf, einer Eiszeithöhle über der Ortschaft Neroth, gründeten sie 1919 die „Nerommen“ und später den „Nerother Wandervogel“ (NWV). Dieser Ort war aber aus der Sicht von Robert Oelbermann ungeeignet für eine Siedlungsgemeinschaft. Die Nerother wählten daher die Schlossruine Waldeck aus, in den 1920er Jahren nur mit Strapazen erreichbar, und kauften Ländereien rund um das historische Gelände auf. Von der Moselstadt Burgen aus mussten die Gruppen mehrere Stunden durch das damals noch verwilderte Baybachtal bis zur Schlossruine laufen. Robert Oelbermann setzte sich ab von den jugendbewegten „Siedlungen“, die bereits existierten, denn die „Hochburg der Jugend“ sollte wohl als „Tempel“ aus allen Siedlungsbestrebungen herausragen. Die Umsetzung dieser Idee und die planerische Gestaltung übernahm der Architekt Karl Buschhüter (1872–1956), der die Kosten mit ca. 150.000 bis 200.000 Mark bezifferte.
Gestaltungsidee für die Jugendburg von Karl Buschhüter
Planung für den Ausbau der Jugendburg von Karl Buschhüter
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Wirtschaftlich sollte sich die Siedlung selbst tragen, und eine Anhäufung von Kapital war nicht erwünscht. Die Gruppe der Handwerker sollte aus Zimmerleuten, Maurern, Dekorationsmalern, Bildhauern, Schneidern, Lautenbauern, Drechslern, Kunstschlossern, Rohrflechtern und Möbelschreinern bestehen. Neben den Landwirten sollten Tondichter, Schriftsteller, Maler und Dichter die Siedlung künstlerisch befruchten. Die Jugend wurde aufgerufen, „neue Kraft“ auf der Burg zu sammeln und ihre „Liebe zum Heimatland“ im Geländespiel, in der Pflege des Volkstums und bei Wanderungen zu entwickeln. Die Aufenthalte auf der Waldeck an den Wochenenden sollten den Teilnehmern neue Kraft geben für ihren „jugendfrischen Kampf gegen Großstadtgetriebe und Alltagslasten“ während der Woche. In einem Steinbruch vor Ort konnte jeder an der Idee mitwirken und den Bau verwirklichen helfen. Diese Grundidee wurde umgesetzt und wirkt bis auf den heutigen Tag fort. Die handwerklichen, landwirtschaftlichen und kulturellen Erzeugnisse sollten verkauft werden, die Jugendburgschänke sollte alkoholfrei im Sinne der Meißner-Formel arbeiten (dies wurde nicht erreicht), und die Künstler sollten „unter möglichst günstigen Lebensbedingungen“ Kunstwerke schaffen. In einem Schreiben aus dem Jahre 1921 verzeichnen wir die Erweiterung des Kanons der Ideen, denn nun wird von der Schaffung eines „Reiches der Jugend“ gesprochen, von der „Gralsburg“ und von einem „Lebenswerk“. Die Verwaltungsratssitzung des „Bundes zur Errichtung einer rheinischen Jugendburg“ auf der Burg Waldeck weist im Kassenabschlussbericht des Jahres 1921 einen Umsatz von 89.444,- Mark aus. Im Jahr 1925 wies der Grundbesitz bereits rund 7,7 Hektar Ackerland und Wiesen sowie rund 5,7 Hektar Holzung und Hänge aus. Hinzu kamen ein Gebäude mit Einrichtung, zwei Pferde, 17 Ziegen, 10 Ziegenlämmer und ein Schaf. Die eigene Ernte von 150 Zentnern Kartoffeln und 35 Zentnern Heu zeugen von landwirtschaftlichen Aktivitäten, die die dort lebenden Nerother entfalteten. „Als Männer wollen wir gestalten, was wir als Jugendtraum geschaut.“ Mit diesem Impetus gingen die Nerother an das Werk und versuchten, ihre Ideen vollständig umzusetzen. Chronischer Geldmangel führte nicht zur Aufgabe. Die Gruppen, in Orden und Fähnlein unterteilt, an ihrer Kluft erkennbar und immer sofort für alle identifizierbar, wuchsen ständig an. Sie schufen sich eigene Lieder. Liedertreffen auf Burg Waldeck boten das Fundament für eine musikalische Grundbildung, und Singewettstreite formten den typisch nerothanen Gesang. Die individuell erstellten Liederbücher der einzelnen Orden und Fähnlein sind Ausdruck der Befindlichkeit der damaligen Jugend und wirkten identitätsstiftend. Fahrten in die Schweiz, nach Italien, Nordafrika, Spanien, Frankreich, Skandinavien,
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Griechenland, in die UdSSR und die USA, nach Bolivien, Peru, Brasilien, Mexiko, Chile, China, Tibet, Indien, Japan, England, Island, Kenia, Südafrika, in die Türkei und auf den Balkan folgten. Einmal im Jahr trafen sich dann fast alle Gruppen auf der Burg Waldeck und tauschten ihre Erlebnisse mit Gesang aus. Mit Filmberichten über ihre Fahrten in Die Finanzierung der viele Länder der Welt sammelten die Burg sollte durch Spenden, Nerother Geld für den Bau ihrer den Verkauf von Losen, Jugendburg. Postkarten, Erlebnisberichten und eigenen Liederbüchern erfolgen. Auch Konzerte gaben die Nerother sehr erfolgreich im Inland wie auch im Ausland. Im Jahre 1930 spielten sie vor 1.000 Besuchern in der Krefelder Stadthalle und 1931 vor 3.000 Gästen in Moskau. Des Weiteren gab es erfolgreiche Filmemacher unter ihnen, die wie Karl Mohri (1906-1978) Fahrten filmten, welche später bei der UFA in den großen Kinos als Kultur-Vorfilme liefen. Auch Theaterstücke führten Gruppen sehr erfolgreich auf und spielten damit erhebliche Gelder zur Finanzierung der Burg ein. Schriftsteller, Musiker, Philosophen und Künstler, aber auch Landwirte gaben Anregungen und formten, besonders nach den Jahren des Ersten Weltkriegs, viele der jungen Menschen. Die Schriftsteller Werner Helwig (1905–1985), Romain Rolland (1866–1944), der 1915 den Nobelpreis für Literatur erhalten hatte, Rabindranath Thakur (oder Tagore, 1861– 1941), Nobelpreisträger für Literatur von 1913, der 1930 die Burg Waldeck besuchte, und Stefan Andres (1906–1970) übten einen nachhaltigen Einfluss aus. Herausragend waren vor allem Helwigs Vertonungen der Lieder von Bertolt Brecht aus der „Hauspostille“, die sich wie ein Donnerhall in den bündischen Jugendgruppen verbreiteten. Werner Helwig schrieb in seinen Erinnerungen „Auf der Knabenfährte“ 1951: „Und wie wünschst du die Burg? Als ein Reich, in dem die Jungen uns Ältere überwinden.“ Die häufig unpolitisch agierenden Jugendbewegten lebten während ihrer aktiven Zeit und auch später oft in der Angst, verkannt oder bespöttelt zu werden. So schreibt Hans Joachim Schoeps (1909–1980) aus der Sicht eines Dabeigewesenen: „Wer wirklich davon ergriffen wurde, ist nie mehr
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davon losgekommen, und wer die Jugendbewegung nicht selbst erlebt hat, sondern von ihr nur hörte (...), dem ist das Wesen verborgen geblieben.“ Kritik äußerten vor allem die politisch Organisierten in der Endphase der Weimarer Republik. Ein typisches Beispiel dieser Spöttelei finden wir bei Siegfried Sommer, der in seiner Kurzgeschichte „Die Rheuma-Farm“ über die „Erbswurstjünger“ auf einem Campingplatz schreibt: „In einer ziemlich schäbigen Stoffmansarde weiter oben liegt steif ein unbekannter Pfadfinder. Nur die bloßen Füße schauen heraus, schwarz wie Briketts. Vielleicht gehört der junge Mann zur Wandergruppe Ruhrgebiet. Als abends der Mond den Zeltplatz inspiziert, sitzen ein Dutzend Wanderer um einen Gitarrespieler herum. Der spätgärige Jüngling spielt ‚Ich tanze mit dir in den Himmel hinein‘ und ein mittelprächtiges Pärchen tut es auch, kommt jedoch nur tief in die nahen Brennesseln. Wie der Gast schon im Gehen, tönt ihm noch ein besonders hartnäckiges Campinglied nach: ‚Im Feldquartier auf hartem Stein‘ (...).“ Die Nerother ließen sich davon nicht irritieren. Im Rheinland, im Saarland, in Hessen-Nassau, aber auch im Ruhrgebiet, sogar in Hamburg und München existierten Gruppen, die mit abenteuerlichen Fahrtberichten, Filmen und Lichtbildervorträgen Säle füllten. Mit Pferdewagen über die Alpen, mit über 100 Jungen nach Schweden, auf dem Floß die Mosel hinunter oder Fahrten nach Ägypten zeigten einen Erlebnishorizont auf, den die Zuschauer nicht für möglich hielten. Die führenden Köpfe der deutschen Jugendbewegung kamen am 1./2. August 1930 zur Jugendburgtagung auf Burg Waldeck in dem neu gebauten Säulenhaus zusammen. Karl Oelbermann, Karl Fischer (Begründer der Wandervogelbewegung, 1881–1941), Gustav Wyneken (Reformpädagoge und Redner auf dem Hohen Meißner 1913, 1875–1964), Robert Oelbermann und Karl Buschhüter weihten diese neue Bauhütte auf der Burg ein und demonstrierten damit ihr Konzept der Siedlungsgemeinschaft als neuen Weg der deutschen Jugendbewegung. Im Ehrenhain der Deutschen Jugendbewegung am Hang oberhalb der Burg sind 33 Steine aufgestellt, die aus der Sicht des Nerother Wandervogels an die innovativsten Köpfe dieser Bewegung erinnern. Diese Granitsteine erinnern an die nicht umgesetzte Tempelidee von Buschhüter. Die gelebte Freiheit von Jugendlichen auf der Burg Waldeck und ihre Erlebniswelt, verbunden mit Musik und dem Übernachten in der freien Natur oder auf der Bastion des Schlosses, waren identitätsfördernd. Die Auswahl der Jungen für die Gruppen fasste der Nerother Willi Jahn in einem Zeitzeugeninterview treffend zusammen: „Der Nerother Wandervogel hat sich dadurch ausgezeichnet, dass er Jungen nach seinen Prinzipien sogenannter Elite ausgesucht hat. Die Elite
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Nerother auf großer Fahrt
bestand nicht darin, dass sie Schüler einer Höheren Schule gewesen sein mussten. Einmal tüchtig für die Fahrt zu sein, zweitens auch geistig sehr rege, das war eines der großen Kriterien, und dann kam das Wichtigste hinzu, und in der Kameradschaft verpflichtet“ zu werden. Auf den Fahrten gingen die Jugendlichen oft an ihre Grenzen. Die Strapazen der Wanderungen, die Aufbauten der Lager und der Zelte und das gemeinsame Kochen auf dem offenen Feuer forderten sie vollständig. Wir finden in einem Tagebuch den folgenden Auszug: „Wir aßen rohe Haferflocken mit Zucker und Wasser. Das ist ein gutes Essen.“ In dem IV. „Weistum“ des NWV beschrieb Robert Oelbermann selbst das „Jugendleben“ als eine sich im Fluss befindliche Orientierung. Dies entsprach dem Lebensgefühl der Nerother, denn diese ordneten sich nicht wie z.B. später die Nationalsozialisten dem Gedankengut einer Bewegung unter, sondern gestalteten diese mit sehr unterschiedlich orientierten Fähnlein und Orden aktiv mit. Aus diesem Grunde kann dem NWV auch keine Vorläuferfunktion des Nationalsozialismus vorgeworfen werden. „Jugendleben heißt: „Suchen, Ringen, Wachsen, Erkennen, Erkämpfen. Die Form und Gestaltung ändert sich daher ständig und schreitet vorwärts; sie ist Bewegung. Forderung: der Bund darf sich nie in eine Form so fest einpressen lassen, daß er sich nicht mehr bewegen kann.“
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Gegen Ende der Weimarer Republik hatte der Nerother Wandervogel 1.500 bis 3.000 Mitglieder. Er war einer der größten Bünde in der Bündischen Jugend. Insgesamt waren damals ca. 60.000 Jugendliche in rund 200 Bünden und Gruppen organisiert. In einem Aufruf vom 24. März 1933 forderte Karl Oelbermann, in Abwesenheit seines Bruders Robert, die Nerother offiziell auf, ihr „Jugendreich“ zu schützen und selbst in dem neuen Staat zuvörderst die „Eigenart“ des Bundes aufrechtzuerhalten. Die Kontakte der Gebrüder Oelbermann zur „Leibstandarte Adolf Hitler“ sowie verschiedene Nerother in
Bundestag des Nerother Wandervogels von 1931
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führenden Stellungen in der NSDAP, der SA und der SS belegen das ambivalente Verhältnis Vieler zum nationalsozialistischen Regime. Karl Oelbermann schrieb: „Unser heutiger Kanzler Adolf Hitler gab auf Anfrage einiger Führer des Saargebiets, ob sie den Nerother Bund bekämpfen sollten, der ihnen eine große Konkurrenz sei, folgende Antwort: ‚Der Nerother Bund ist nicht anzugreifen. Durch ihn erhalte ich meine besten S.A. und S.S. Führer‘. (...) So wie damals Robert unser Führer wurde, hat heute unser geliebtes Deutschland in Adolf Hitler seinen Führer gefunden. Wir bekennen uns zu ihm und seinen Fahnen. Wir werden in der Zukunft nichts von unserer Eigenart verlieren. Ihr Führer, die Ihr als Ritter im Nerother Bunde steht, denkt daran, daß Ihr zuerst Euren Jungens dieses Reich erhalten müsst. (…) Hitler wird unseren Führergedanken stets respektieren.“ (Krolle, Musisch-kulturelle Etappen, S. 177) Diese für die Öffentlichkeit bestimmte Position stand im diametralen Gegensatz zu der sehr ausführlichen internen Analyse Paul Lesers (1899– 1984), der sehr differenziert über die Verhaftungen der politischen Gegner der Nationalsozialisten und auch speziell über die gefährdete Zukunft des NWV in einem nationalsozialistischen Staat schrieb. Den Bundestag der Nerother zu Pfingsten 1933 skizzierte er für Robert Oelbermann, der sich noch mit einer Nerothergruppe auf Weltfahrt befand, die Atmosphäre einfangend, die eine Konfrontation mit dem neuen Staat in sich barg, da Nerother Gruppen bewaffnet erschienen und sich bei Übergriffen seitens der HJ gegebenenfalls wehren wollten: „Der Bannführer wollte mit 3.000 HJ-Mitgliedern diesen Bundestag stürmen und mit dieser Drohung die Auflösung des NWV erzwingen. Der Bannführer Valvey hielt vor den ca. 1.200 Jungen eine Rede, die das Verbot der Bündischen Jugend thematisierte. Die Rede wurde schweigend aufgenommen, umso stärker war der Jubel, als Karl danach lediglich sagte: ‚Wir bleiben Nerother!‘ Dann wurde das Horst-Wessel-Lied gesungen, und die Leute zogen ab. (...) Der ganze Bund war da geschlossen beisammen. Vorn brannten zwei Riesenfeuer zur Beleuchtung der Bühne. [Nun] trat Karl zwischen die Feuer und verkündete, daß er nun ein Begrüßungstelegramm an Hitler gerichtet habe, und ließ das Telegramm verlesen. [Einschub des Verfassers: Das Telegramm lautete etwa so: ‚1.200 Buben des Nerother Wandervogels grüßen nach 12- jährigem Kampf um den Helden im deutschen Jungen von ihrem ersten Bundestag im neuen Reich in tiefster Verbundenheit, in größter Verehrung und Liebe den Führer des heiligen Deutschland.‘]. (...) Aber es geschah nichts. Überhaupt nichts. Das Telegramm wurde schweigend angehört, alles blieb still, eisiges Schweigen. (...) Der Bund stand auf und ging schlafen. Ich habe in meinem Leben nie eine stärkere und eindrucksvollere politische Demonstration erlebt als dieses Schweigen.“
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Angesichts der zunehmenden Bedrohung des NWV durch die staatlichen Behörden und die nationalsozialistischen Organisationen löste Karl Oelbermann den Bund auf, nachdem SA- und HJ-Formationen die Burg Waldeck am 18. Juni 1933 gestürmt hatten. Er bat die Führer, mit ihren Nerothergruppen geschlossen in das Jungvolk und in die HJ einzutreten, die Tradierung des eigenen Liedguts in diesen Organisationen fortzuführen und die Gruppen so zu erhalten: „Aufgrund des Beschlusses vom 22. Juni 1933 bitte ich meine Führer nach Möglichkeit geschlossen mit ihren Jungens dem Jungvolk oder der Hitlerjugend beizutreten und dort echten Wandervogelgeist und Wandervogelbetrieb im Sinne des alten Nerother Bundes zu pflegen. Da wir Nerother besonders auf kulturellem Gebiet unsere Fähigkeiten haben, lassen sich wohl innerhalb des Jungvolkes und der Hitlerjugend die Freundesgemeinschaften in Form von Sing- und Spielscharen zusammenhalten. Wir haben so die Möglichkeit, unsere kulturellen Nerother Gedanken im neuen Staat zu verwerten. (...) Allen Nerothern danke ich für das feste Zusammenhalten unter dem Nerother Schwan und hoffe, dass die treue Freundschaft und innere Verbundenheit auch unter dem Hakenkreuz bestehen bleibt.“ Dies war eine Fehleinschätzung! Nach 1933 gab es im nationalsozialistischen Staat Unterstützung für die Burg Waldeck durch einige Behörden. Es gab aber auch schon Hausdurchsuchungen bei Nerothern, ohne konkrete Verdächtigungen. Dr. Harald Turner (1891–1947), NSDAP-Mitglied seit 1930, SS-Mitglied seit 1932, war von 1933 bis 1936 der Regierungspräsident in Koblenz und unterstützte von dort die Gebrüder Oelbermann. Während des Krieges wurde Turner nach Belgrad versetzt. Dort schrieb er am 29. August 1942: „Serbien einziges Land, in dem Judenfrage und Zigeunerfrage gelöst“. Im Jahr 1945 lieferte ihn die britische Regierung gemäß dem Londoner Statut an Jugoslawien aus. Zwei Jahre später verurteilte ihn ein Belgrader Gericht „wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ zum Tode und richtete ihn hin. Die Verhaltensweisen der bisherigen Mitglieder der Bündischen Jugend reichten im nationalsozialistischen Staat von Konformität und dem Anstreben einer Parteikarriere über Resistenz bis hin zu Verbindungen zu Widerstandsgruppen, wie der „Weißen Rose“, der „Roten Kapelle“, dem „Kreisauer Kreis“ und der französischen Résistance. Im Jahr 1933 durchsuchten HJ und Behörden Heime der Nerother, in denen sich die Jungen in der Woche trafen, um dort den Heimabend mit Singen zu verbringen. Viele Gruppen lösten sich auf, aber ein Kern von fast 1.000 Nerothern blieb noch bis zum Jahr 1936 erhalten.
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Nach der Auflösung unterwanderten Nerother gezielt die HJ. Die Gebietsspielschar der HJ Hessen-Nassau bestand aus einer vollständigen Nerother-Gruppe. Der 1920 geborene Jude Hai Frankl verblieb in dieser Gruppe bis zu seiner Flucht nach Schweden im Jahr 1939. Manche Nerother verweigerten sich dem neuen Staat und gründeten nach Auflösung heimlich eine neue Gruppe. Die Ordensfahne der Pachanten in Frankfurt am Main sorgte für Furore in manchen Städten. Robert Oelbermann gründete die Tarnorganisation Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V., die 1935 aufgelöst wurde, aber bei der Behörde nicht zur vollständigen Auflösung gelangte. Man setzte Robert Oelbermann als Liquidator ein. Im Grundbuch wurde jedoch die endgültige Auflösung nicht vermerkt. Aus diesem Grunde verblieb die Burg Waldeck im Besitz der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e. V., und die nationalsozi-
Ordenslied der Pachanten, Oktober 1933
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alistischen Behörden konnten sie nicht in den Staatsbesitz des Deutschen Reiches überführen. Wenden wir uns dem Erlebnisbericht einer Gruppe um Julla Schäfer (geb. 1908) aus Düsseldorf zu, die 1934 mit 21 Jungen illegal während der Sommerferien nach Lappland aufbrach: „Also geschah es im zweiten Jahr des Dritten Reiches, als wir, der hohen Obrigkeit zuwider über die Grenze nach Holland schlichen und somit fortan aus Deutschland gingen, wie der gefangene Waldvogel, durch Zwang bedrückt, mit List dem gräulichen Käfig entfleuchte, um hungrig zurückzufliegen in die goldene Freiheit. (…) endlich Deutschland, HJ und Baldur von Schirach (…) sind hinter uns.“ (Illegales Fahrtenbuch ‚Lapplandfahrt 1934‘, S. 9, 13, in: Krolle, Musisch-kulturelle Etappen, S. 208) Die nationalsozialistischen Behörden versuchten, die unterwanderten Spielscharen der HJ auszuheben, und wandten sich an die Geheime Staatspolizei (Gestapo). Die Gestapo Düsseldorf und der SD im Rheinland verteilten das Verbot der Bündischen Jugend durch den Reichs- und Preußischen Minister des Innern vom 4. Februar 1936 an alle Dienststellen und ließ es in allen Regionalzeitungen abdrucken (III.P.3701/24 Archiv der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck). Dieses Verbot, auch den Nerother Wandervogel betreffend, machte die neue Stoßrichtung der Behörden deutlich. Die Gestapo Düsseldorf formulierte die Bedrohung der HJ durch die Nerother in einem abschließenden Bericht noch im Jahre 1936 wie folgt: „Es ist gefährlich, Burg Waldeck der HJ. oder dem Deutschen Jungvolk zur Verfügung zu stellen, da zunächst einmal große Kreise der Bündischen Jugend sich noch in der HJ. und in dem Jungvolk befinden und ihre Zersetzungsarbeit dort fortführen. Für diese Kreise wird die Burg stets in ihrer Bedeutung die Nerother Burg bleiben und sie würde im Laufe der Zeit unter irgendeinem Deckmantel, sei es HJ.-Schulungslager oder Erholungsheim des Jungvolks oder Landschullager wieder zu einer Stätte bündischer Umtriebe werden, denn dafür hat die Burg Waldeck im Kampf um die Deutsche Jugend, gegen die Hitlerjugend zu große Bedeutung erhalten, da sie die einzigste Stätte in Deutschland noch ist, wo das bündische Leben und die bündischen Ideen sich in einem derartigen Umfange bis heute erhalten konnten.“ (Hauptstaatsarchiv Düsseldorf, RW-58 14605 Band I. o. D., S. 33, Blatt 76, Nummerierung mehrfach geändert, in: Krolle, Musisch-kulturelle Etappen, S. 176, 177) Im Jahr 1936 erfolgte eine Verhaftungswelle gegen die Nerother in Düsseldorf, Frankfurt, Wiesbaden, dem Rheinland, dem Ruhrgebiet und dem Bergischen Land. Rund 150 Jugendliche saßen in der „Ulmer Höhe“ in Düsseldorf in Gestapohaft und wurden geschlagen, erpresst und zum
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Teil gefoltert. Es gab Verurteilungen wegen Vergehen gegen den § 175 auf der Basis erpresster Geständnisse. Einige Führer wurden in die Konzentrationslager Oranienburg, Sachsenhausen, Esterwegen, Dachau und Neuengamme verbracht. Der zweiundzwanzigjährige Nerother Willi Knoob (1914–1984) zeichnete sich 1936 während seiner Haft durch bemerkenswerten Mut aus. Trotz Einzelhaft, Käfighaft, Essensentzug und Androhungen von anderen polizeilichen Maßnahmen weigerte er sich, der Gestapo auch nur einen Namen zu nennen. So heißt es im Protokoll der Gestapo Düsseldorf (HStA Dü, Bestand RW-58): „In einer Vernehmung gab K. an, dass er keine Namen nennen würde, damit die Betreffenden ihre Stellungen nicht verlören. Im Polizeigefängnis versuchte K., im Waschraum dem in gleicher Sache einsitzenden W. einen Kas[s]iber zuzuschieben, in welchem er u. a. schrieb, dass er (W.) keine Angaben machen und insbesondere keine Namen nennen sollte. (…) Schutzhaft auf längere Zeit und Überführung in ein Konzentrationslager wird beantragt.“ Die Gestapo überwies Willi Knoob, ohne Anklage und Urteil, aus seiner Schutzhaft heraus in das KZ Esterwegen. Nach weiteren Überführungen in andere Konzentrationslager entließ man ihn nach neun Monaten. Die Gestapo hatte inzwischen ihre Strategie geändert und versuchte, den NWV als einen Bund von Homosexuellen zu diffamieren. Die erpressten Geständnisse dienten dabei als Matrix für weitere Verfolgungen gegen andere Bünde. Am 9. April 1937 ordnete der Reichsführer der SS Heinrich Himmler die Beschlagnahme der Burg Waldeck an, weil sie ein „Seuchenherd widerlicher Unzucht“ sei. Die Düsseldorfer Große Strafkammer verurteilte acht führende Köpfe des NWV zu langjährigen Haftstrafen wegen Vergehen gegen den § 175 und § 176,3. Robert Oelbermann überwiesen die Behörden aus seiner Schutzhaft heraus in das KZ Sachsenhausen und dann in das KZ Dachau. Die Presse in Düsseldorf berichtete mehrfach und titelte: „Irregeleitete ‚bündische‘ Jugend“ und „Jugendverderber verurteilt“(„Rheinische Landeszeitung“, Düsseldorf Nr. 183 v. 4.7.1936; Nr. 189 v. 10.7.1936 und „Der Mittag“, Düsseldorf Nr. 158 v. 10.7.1936). In einem Schreiben des Kriminalsekretärs Hirtschulz (geb. 1895, NSDAP-Mitgliedsnummer 5389656) der Gestapoleitstelle Düsseldorf an das Reichssicherheitshauptamt IV in Berlin vom 11. Juli 1940 bezüglich einer möglichen Entlassung, die von einigen Behördenmitarbeitern befürwortet worden war, finden wir den handschriftlichen Kommentar, der letztendlich dokumentiert, dass die Sorge der Behörden sehr groß war, dass Robert Oelbermann als charismatischer „Märtyrer“, mit einem im Rheinland gro-
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ßen Bekanntheitsgrad, Einfluss auf die Jugendlichen oder das Ausland nehmen könnte, wenn er in Freiheit wäre: „Ich kann die Entlassung des O. in keiner Weise befürworten. (...) Gerade dadurch, daß er seine Ideen unter Jugendlichen zu verbreiten wusste und sie in dem Nerotherbund zusammenfasste, hat er bewiesen, daß er durch seine zweifellos organisatorischen Fähigkeiten eine große Gefahr für die heranwachsende Jugend bildet. (…) Die Überprüfung der wandernden Jugend zu Ostern 1940 im hiesigen Bezirk [hat] ergeben, daß zahlreiche wilde Jugendgruppen sich auf den Nerotherbund bzw. dessen Ableger zurückführen lassen. Falls man O. heute freilassen würde, besteht die Gefahr, daß er diese versprengten Gruppen wieder sammeln wird, zumal die Erfahrung lehrt, daß wegen der sexuellen Veranlagung starke Bindungen bestehen. O. ist meines Erachtens ein Mensch, der überhaupt nicht wieder in Freiheit gehört.“ Dieser Kommentar verhinderte endgültig die Freilassung Robert Oelbermanns. Er starb am 29. März 1941 im Konzentrationslager Dachau an „Versagen von Herz und Kreislauf bei Asthma und Oedemen“. Trotz der Verfolgungen fanden sich immer wieder junge Menschen zusammen, die sich den Nerother Wandervogel zum Vorbild nahmen und sich der nationalsozialistischen Sozialisation widersetzten. Ausgehend von diesen Erkenntnissen fasste der Gestapobeamte Wilhelm Schaefer zusammen: „Durch diese Kreise wird auch infolge der sich immer wiederbildenden Gruppen der Kampf in der Jugend gegen die heutige Staatsform und Regierung aufs Schärfste geführt“ (HStA Dü, RW-58 29179 Bd. II. o. D., Blatt 77, in: Krolle, Musisch-kulturelle Etappen, S. 190). In Wiesbaden und Düsseldorf gab es Gruppen, die sich mit Mädchen trafen, auch mit Jüdinnen, die sie schützten. Die Jüdin Irmgard Levy und die „Halbjüdin“ Hedwig Pickert standen in engem Kontakt zu einer illegalen Nerother Gruppe in Wiesbaden. Der Nerother Aloys Gresser organisierte Konzerte vor zum Teil 300 Zuschauern. Diese Gruppen sangen auch hebräische Lieder, die ihnen Irmgard Levy beibrachte. Nach dem Verbot dieser Konzerte fuhren die Nerother mit Faltbooten auf Inseln im Rhein und sangen dort ihre Lieder. Die Flucht der Nerother Dr. Paul Leser 1938 und Heinrich (Hai) Frankl 1939 nach Dänemark und Schweden wurde durch Nerother mit der Hilfe von Quäkern organisiert, damit die beiden Männer nicht aus rassischen Gründen verhaftet werden konnten. Auch die Flucht von Enno Lähnemann in die USA wurde von Nerothern vorbereitet. Das Bindeglied für all diese Gruppen in der Illegalität boten die Lieder, die auch auf andere ausstrahlten. Sie sangen auch die mittlerweile verbotenen Lieder aus der Bündischen Jugend. Die individuell gestalteten Liederbücher wurden regelmäßig von den Behörden beschlagnahmt und
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Liederbücher des Nerother Wandervogels, rechts ein illegales Liederbuch von 1937 mit der Burg Waldeck auf dem Einband
vernichtet. Auch das Lied „Wenn die bunten Fahnen wehen“, geschrieben und vertont von dem Nerother Alf Zschiesche (1908–1992), durfte nicht gesungen werden. Vor allem die dritte Strophe sollte auf keinen Fall weiterverbreitet werden, da sie an die Fahrten des Nerother Wandervogels erinnerte. Dieses Verbot konnten die Behörden aber nicht vollständig durchsetzen. Das ebenfalls sehr beliebte Lied „Wir traben in die Weite“ erfuhr eine Umdichtung. Es wurde unerschrocken auch nach 1936 noch in kleineren illegalen Gruppen von vielen Jugendlichen, auch gemeinsam mit Mädchen, gesungen. Die Burg Waldeck allerdings zerfiel; nur noch selten fanden dort Zusammenkünfte statt. Die illegalen Aktivitäten dürfen nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Behörden den Nerother Wandervogel „ausmerzen“ wollten. Die umseitig abgebildete von der Gestapo erstellte Fotocollage diente als nationalsozialistische Matrix zur Verfolgung der Nerother. Mit dieser Denunziation wegen angeblicher sexueller Vergehen, auf der Basis erpresster Geständnisse, diffamierten die Behörden die Nerother Georg Wassmann (geb. 1913) und Fritz Sellwig (geb. 1923). Der abgebildete Fritz Sellwig widerrief als 13jähriger im Gerichtssaal während des Düsseldorfer Prozesses im Jahr 1936 das erpresste Geständnis. Trotz dieser Verfolgung bildeten sich unentwegt neue kleinere Gruppen, die ihre Freiräume erhalten wollten. Nach dem Zweiten Weltkrieg beauftragte der Rechtsanwalt Dr. Walli Plessner, der Robert Oelbermann im Dritten Reich kostenfrei vertreten
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hatte, einen Privatdetektiv, um die Verantwortlichen der Aktion gegen die Nerother (Hirtschulz, Heinemann und Schaefer) zu finden und sie zur Verantwortung zu ziehen. Diese drei Gestapobeamten hatten 1936 Dr. Walli Plessner massiv bedrängt, sein Mandat niederzulegen. Der Jurist hatte sich aber nicht beeindrucken lassen und sich unentwegt um seinen Mandanten bemüht. Der Privatdetektiv ermittelte die Aufenthaltsorte von Hirtschulz und Wilhelm Schaefer, und es kam zur Anzeige. Den Gestapobeamten Hirtschulz verurteilte daraufhin die 2. Strafkammer in Düsseldorf am 16. September 1948 zu drei Jahren Zuchthaus „wegen fortgesetzter Geständniserpressung und wegen fortgesetzter Verbrechen gegen die Menschlichkeit“. Ein Gericht in den Niederlanden hatte den Gestapobeamten Heinemann bereits 1947 „wegen Verbrechen gegen die Menschlichkeit“ verurteilt und hinrichten lassen. (Brief Dr. jur. Plessner, Köln-Rath, v. 18.9.1948 an Karl Mohri, Archiv der ABW) Der Organisator und strategische Kopf der Düsseldorfer Gestapo Wilhelm Schaefer (geb. 1900, SS-Nr. 290220, NSDAP-Mitgliedsnummer 2034410) war 1945 mit einem falschen Pass untergetaucht, den er sich von seiner letzten Amtsstelle in Königsberg hatte ausstellen lassen. In einem Entnazifizierungsverfahren stufte ihn die Behörde als „Entlasteten“ ein. Nach dem Soforthilfegesetz erhielt er von 1949 bis 1953 Unterhaltshilfe. Im Jahr 1953 gab Schaefer seine richtigen Personalien an, und die Hauptkammer München stufte ihn am 24. Februar 1954 als „Hauptschuldigen/ Gruppe I“ ein. Ihm wurden verschiedene Sühnemaßnahmen auferlegt. Die V. Große Strafkammer des Landgerichts in Düsseldorf wies 1955 nach, dass Schaefer, der schon „im Jahre 1935 bei Aktionen gegen die Bündische Jugend“ eingesetzt war, die Leitung der von der Gestapo 1936 durchgeführten „Grossaktion gegen den „Nerother Bund“ innehatte. Die Staatsanwaltschaft ging bei dem Nerother Wandervogel von „ca. 10.000“ Mitgliedern aus. Diese Angabe überschätzte die Stärke des NWV, der durchschnittlich nicht mehr als 3.000 Mitglieder hatte, allerdings bei weitem. Die V. Große Strafkammer des Landgerichts Düsseldorf belegte in der Sitzung vom 12. Juli 1955 seine Positionen durch viele Zeugenaussagen und kam zu einer unmissverständlichen Ausführung, die über das geforderte Strafmaß der Staatsanwaltschaft von drei Jahren Zuchthaus und Ehrverlust hinausging und den Angeklagten Wilhelm Schaefer zu vier Jahren verurteilte. In der Begründung heißt es: „Aus diesem Bericht des Angeklagten geht zunächst unmissverständlich hervor, daß den Anstoß zur Verfolgung des Nerother Bundes der SD, also die politische Polizei der NSDAP, gegeben hat und auch die Durchführung der Aktion unter intensiver Beteiligung des SD erfolgt ist. (...)
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Damit wird klar zum Ausdruck gebracht, dass es der Gestapo nicht um eine gerechte Bestrafung etwaiger homosexueller Vergehen, sondern um die Liquidierung der tragenden Kräfte des Nerother Bundes gegangen ist. (...) Mit Rücksicht auf den politischen Charakter der Aktion ist der Angeklagte damals auch nicht wegen der von ihm begangenen Aussageerpressungen bestraft worden. Denn, wie die Kammer auf Grund der Beweisaufnahme festgestellt hat, sind die betroffenen Zeugen durch die unmenschliche Behandlung während ihrer Schutzhaftzeit bei der Gestapo so eingeschüchtert und nervlich zermürbt worden, dass keiner der Zeugen oder ihrer Verteidiger es gewagt hat, sich durch eine Anzeige bei der Staatsanwaltschaft der Gefahr neuer Drangsalierungen durch die Gestapo, insbesondere einer Überführung in ein Konzentrationslager, auszusetzen. (...) Ausserdem ist es auf sein Verhalten zurückzuführen, dass seine Untergebenen insbesondere H[Hirtschulz, im Original geschwärzt]. und H.[Heinemann, im Original geschwärzt], hemmungslos ihre niedrigen Instinkte an den Häftlingen auslassen konnten. (...) Der Angeklagte zeigt auch keine Spur von Reue oder Einsicht“ (Staatsanwaltschaft Düsseldorf V78/55 8 KLs 1/54, S. 3, 4, 13, 14, 19, in: Krolle, Musisch-kulturelle Etappen, S. 292). Die Rheinische Post berichtete am 13. Juli 1955 in ihrem kritischen Artikel „Rohe Vernehmungen – spät gesühnt“ über diesen Prozess und schilderte die Vernehmungen durch die Gestapo, die ein Zeuge, Pfarrer Clemens, als „satanisch“ beschrieben hatte. Einzelne frühere Nerother bauten nach dem Krieg die Gebäude auf Burg Waldeck wieder auf. Langsam bildeten sich wieder Gruppen, die den „Freiraum Waldeck“ nutzten. Viele Jungen ohne Väter fanden Orientierung auf der Burg bei Seminaren, Musikveranstaltungen, Theateraufführungen oder beim gemeinsamen Singen auf Fahrten. Hans Harald von Rappard (1943–2006) schrieb Anfang der 1960er Jahre an Robert Oelbermanns Bruder Karl: „Oelb, wir brauchen nicht nur Mauern und Brücken, sondern eine geistige Substanz. Unsere Jugendburg soll nicht eine Behausung für Ritterspielchen, schöne Worte und leere Phrasen sein. Sie soll der geistige Mittelpunkt der Jugendbewegung werden. Hier wollen wir Vorträge hören und diskutieren. Wo könnte man besser und ungestörter musizieren. Hier müsste ein neuer Geist entstehen, der uns neue Impulse gibt.“ Die Burg Waldeck war nun die Keimzelle zweier verschiedener Bewegungen. Einmal führte die Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck (ABW) die 1935 begonnene Richtung kontinuierlich weiter und versuchte, sich mit kulturellen Angeboten attraktiv dem Zeitgeist zu stellen. Auf der anderen Seite sorgte der wieder gegründete Nerother Wandervogel (NWV) für die Anknüpfung an seine Tradition aus der Zeit vor 1936.
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Die Idee, sich einem „unbündischen und Waldeck-fremden“ Kreis zu öffnen, kam von Diethart Kerbs (1937–2013). Rückblickend schreibt der ehemalige Präsident der ABW, Erich Wenzel: „Aber es gab ein Vakuum. In dieser Phase wurde – glückliche Eingebung – der Gedanke geboren, die Jugend der Welt zu einem Fest ihrer Lieder einzuladen. Er wurde akzeptiert, weil er dem Geist der Waldeck entsprach, weil die ausländische Lied-Folklore hier schon immer beheimatet war. Zugleich beschloß man, den internationalen Volksliedern das Chanson hinzuzugesellen.“ Sein Vorschlag war ein „Erstes Europäisches Chansonfestival“, eine „Gesangsolympiade, zu der die besten Singegruppen und Chansonsänger aus ganz Europa, sowie Israel und USA eingeladen werden.“ Dieser europäische Gedanke schloss explizit die Musikanten aus dem Ostblock ein. Die vorwärtsweisende Idee fixierte Kerbs formelhaft: „Nur so wird die Waldeck aus einer Stätte der Erinnerung (...) zu einer Stätte der Begegnung.“ Die Bedeutung für die Geschichte der deutschen Musikkultur scheint evident. Die Burg Waldeck bot sich an als ein „exklusiver Ort“, wo die „absolute Meinungsfreiheit und Toleranz“ herrschte, um „Ostermarschlieder“ ebenso wie „Bundeswehrlieder“ anzuhören, wenn diese von „vergleichbarer Eindringlichkeit“ und Überzeugungskraft waren. Die zunehmende Politisierung der Festivals von 1964 bis hin zu der Leitaussage einiger im Jahre 1969: „Stellt die Gitarren in die Ecke, diskutiert lieber!“ hat im Rückblick die zentrale Bedeutung der Waldeck für die Musikfestivals in Deutschland überdeckt. Die Festivals auf Burg Waldeck haben durch ihre „Vorreiterrolle“ auf die musikalische Landschaft in Deutschland in den 1960er Jahren maßgeblich ausgestrahlt. Die hohe Medienpräsenz von bis zu 60 Zeitungen, Fernseh- und Rundfunksendern stellte die Burg Waldeck dem nationalen Publikum mit einer enormen Reichweite vor. Der Waldecker Rolf Gekeler brachte mit der Zeitschrift „song“ ein völlig neues zeitkritisches Journal heraus. Dieses erfasste den sich verändernden Zeitgeist und beförderte die Auseinandersetzung zwischen Musik und Politik. Der Liedermacher Franz-Josef Degenhardt (1931–2011) erinnerte während der Festivals an die Geschichte der Liedbewegungen in Deutschland: „Tot sind unsere Lieder, unsre alten Lieder. Lehrer haben sie zerbissen, Kurzbehoste sie zerklampft, braune Horden totgeschrien, Stiefel in den Dreck gestampft.“ Namhafte Künstler, wie Peter Rohland, Hein & Oss Kröher, Reinhard Mey, Hannes Wader, Katja Epstein, Hedy West, Odetta, Phil Ochs, Dieter
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Süverkrüp, Hanns Dieter Hüsch, Schnuckenack Reinhardt, aber auch bündische Gruppen, wie die Pontocs oder Hai & Topsy, wiesen neue Wege des Gesanges auf. Seit dem Jahr 2000 organisiert die ABW unter der Federführung von Peer Krolle und Günther Seifert den jährlich stattfindenden Peter Rohland-Singewettstreit. Es traten aber auch die Musiker Richie Havens, Wolfgang Niedecken und die Conrads aus Düsseldorf auf. Heute gibt es zwei Vereine, die auf dem riesigen Gelände aktiv sind. Die Burg Waldeck ist derzeit ein musisch-kulturelles Zentrum mit Musikauftritten, Festivals, Workshops, Vorträgen zu zeitgeschichtlichen Themen, Theaterseminaren, Tanz-Wochenenden sowie Schreib- und Liedwerkstätten. Sie bietet auch Raum für andere Aktivitäten, z.B. von Theatergruppen: So kommt es vor, dass Hunderte verkleideter Jugendlicher eine Schlacht aus Tolkiens Werken nachspielen. Der Jugend wird somit unverändert ein Freiraum für den eigenen Ausdruck gegeben. Die Jugendburg Waldeck stellt damit ein singuläres Phänomen in der deutschen Geschichte dar. Die ungeheure Kreativität bezüglich der Liedsuche, Liedpflege, Liedtradierung und der Erstellung von eigenen Texten und Kompositionen sowie der Erlebnishunger und die Erlebnisfähigkeit fanden stets Ausdruck im korrespondierenden Liedgut, welches in der deutschen Kultur seinen nachhaltigen Einfluss hinterlassen hat. Die Hinführung zum Erlernen eines Instrumentes, wie der Gitarre, des Banjo und der Balalaika, war richtungsweisend in der Jugendbewegung und hat zu einer musikalischen Grundbildung bei Tausenden von Jugendlichen geführt, die die Schule nicht leisten und die die nationalsozialistische Erziehung nicht zerstören konnte. Die Musikalität der Jugendbewegung hat sich im separierten Raum ihre Attraktivität bewahren können und wurde auch während des „Dritten Reiches“ von Jugendlichen tradiert, die sich der NS-Sozialisation entzogen.
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Die Gründung des Archivs der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck erfolgte im Jahr 1984 durch Dr. Stefan Krolle und Peer Krolle. Robert Oelbermann wurde bis heute nicht rehabilitiert. Die Stolpersteinverlegung auf Burg Waldeck am 19. Januar 2009 war ein Ausdruck für die kritische Auseinandersetzung der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck e.V. mit ihrer eigenen Geschichte. Dieser Stolperstein und ein Mahnmal in Koblenz zeugen von dem Respekt, der dem Gründer der Jugendburg entgegengebracht wird. Zusammenfassend möchte ich mich der Formulierung Werner Helwigs anschließen, der 1935 dem Nerother Willi Jahn, einem Kurier in der Illegalität in Hamburg, mitteilte, „dass die Deutsche Jugendbewegung und insbesondere der Nerother Wandervogel ein rauschendes Fest gewesen sei, welches nie wieder kommen wird.“ (Krolle, Musisch-kulturelle Etappen, S. 416) Die Jugendburg Waldeck ist als Burg Waldeck heute ein lebendiger Erinnerungsort, der mitunter dem Zeitgeist trotzte oder dem Zeitgeist kühn voranschritt, ein Ort der musisch-kulturellen Begegnung, der sein Kraftfeld bis zum heutigen Tage erhalten konnte und weiterhin kann. Quellen und Literatur Archiv der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck 56290 Dorweiler , Waldecker Weg Krolle, Stefan: Bündische Umtriebe: Geschichte des Nerother Wandervogels vor und unter dem NS-Staat; ein Jugendbund zwischen Konformität und Widerstand, 2. Aufl. Münster 1986. Krolle, Stefan: Musisch-kulturelle Etappen der deutschen Jugendbewegung von 1919– 1964, Münster 2004. Schwarte, Norbert/Krolle, Stefan (Hg.): „Wer Nerother war, war vogelfrei.“ Dokumente zur Besetzung der Burg Waldeck und zur Auflösung des Nerother Wandervogels im Juni 1933 (Puls 20), 2. überarb. u. erweit. Aufl. Stuttgart 2002.
Markwart Herzog
Der Betzenberg in Kaiserslautern: ein Stadion als Erinnerungsort Die Geschichte des 1. FC Kaiserslautern ist undenkbar ohne jene geographische Erhebung, die „Betzenberg“ genannt wird. Dieser „Berg“ ist nicht viel mehr als eine Anhöhe von 286,50 Metern Höhe, die aus Buntsandstein besteht. Das Bauunternehmen Adam Sommerrock & Söhne hatte bereits im 19. Jahrhundert einen Steinbruch am Betzenberg betrieben. Aus den dort gebrochenen Steinen wurde, neben zahlreichen öffentlichen Gebäuden und Wohnhäusern, auch die Kaiserslauterer Synagoge gebaut, die dem Vandalismus der Nazis zum Opfer fiel. Das Steinmetz- und Steinbruchgewerbe war damals ein wichtiger Faktor in der Lauterer Kulturund Wirtschaftsgeschichte. Der Bauunternehmer Sommerrock schenkte dem Fußballclub ein Grundstück auf dem Betzenberg, sodass der Verein, der damals noch Fußballverein Kaiserslautern (FVK) hieß, im Jahr 1920 dort eine Heimat finden konnte. Sechseinhalb Jahrzehnte lang trug die Sportplatzanlage den Namen „Stadion Betzenberg“. Um die Verdienste Fritz Walters, des ersten aus Kaiserslautern stammenden Fußballnationalspielers, in Erinnerung zu halten und ihn zu ehren, wurde das Stadion im Jahr 1985 in „Fritz-Walter-Stadion“ umbenannt. Walter hat übrigens in demselben Jahr das Licht der Welt erblickt, in dem das Stadion Betzenberg eingeweiht wurde. In den Jahren bis 1920 spielte der FCK ebenso wie alle anderen Fußballclubs in Kaiserslautern auf dem Fußballplatz in der Radrennbahn Barbarossapark, die nur wenige Kilometer außerhalb von Kaiserslautern angesiedelt und leicht über die Bahnstation Eselsfürth erreichbar war. Der Radsport war in Kaiserslautern zur Jahrhundertwende noch sehr viel populärer als das Spiel mit dem runden Leder. Am Ausbau dieser Radrennbahn waren Gastwirte und Bierbrauer ebenso beteiligt wie an der Entwicklung der Infrastruktur des Sports in Kaiserslautern insgesamt. Ohne den Fußballsport und den FCK würde niemand außerhalb Kaiserslauterns mit dem Namen Betzenberg irgendeine besondere Bedeutung verbinden. In der Tat ist der Berg durch den Fußballsport in Deutschland weithin bekannt geworden. Im Volksmund wurde der Name Betzenberg zu „Betze“ verkürzt. Dabei ist „Betze“ sprachgeschichtlich abzuleiten von dem alten Rufnamen „Betzo“. „Betzo“ wiederum wurde als Verkleine-
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rungs- und Koseform für Bernhard oder Berthold verwendet. „Betzenberg“ ist demzufolge der „Berg des Betzo“. Die Quellen zur Stadtgeschichte Kaiserslauterns dokumentieren den Namen „Betzenberg“ bereits in den Jahren 1611 und 1656. Zu einem Erinnerungsort, auch im übertragenen Sinn, wurde der „Betze“ bekanntlich durch den Fußball, obwohl der FCK auch andere Sportarten, beispielsweise Leichtathletik, pflegt. Das gilt auch für die Stadt Kaiserslautern, die sich vor allem als Fußballbastion einen dauerhaften Platz im öffentlichen Bewusstsein gesichert hat. Alle anderen Faktoren, die die Stadt an der Lauter zu einem Erinnerungsort gemacht hatten, wie beispielsweise die ehedem weltberühmte Nähmaschinenfabrik Pfaff oder die Kammgarnspinnerei, bestehen heute nicht mehr. Bereits nach dem Gewinn der ersten Deutschen Meisterschaft des FCK im Jahr 1951 schrieb die überregionale Sportfachpresse, dass die Walter-Elf den Namen der Stadt „bis weit über die Landesgrenze bekannter“ gemacht habe „als jedes Geschichts- und Geographiebuch“ (Sportbeobachter: Die führende Westdeutsche Sportzeitung, 27.6.1951). 1. Lieu de mémoire – soccer topophilia – Transgenerationalität An diesem Ort, dem Betzenberg, bündeln sich individuelle und kollektive Erinnerungen zu einem kulturellen Gedächtnis. Dieses Gedächtnis hat seine Basis in den Erlebnissen von unzählig vielen Stadionbesuchern und
Der Sportplatz des Fußball-Vereins Kaiserslautern in Eselsfürth um 1912
Der Betzenberg in Kaiserslautern
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deren Erinnerungen an die flüchtigen Sportereignisse, an denen sie selbst entweder als Aktive oder als Zuschauer teilgenommen haben. Aber diese Ereignisse stehen nicht isoliert für sich wie Freundschafts- oder Straßenfußballspiele, die mehr oder weniger spontan vereinbart und ausgetragen werden. Vielmehr bilden die Wettkämpfe des Fußballsports in aller Regel jene aufeinanderfolgenden Spieltage, die sich wie Punkte auf der Zeitachse einer Saison oder eines Spieljahrs darstellen lassen. Spieltage und Spieljahre werden koordiniert von jenen Verbänden, in denen die jeweiligen Vereine organisiert sind. Der Sport konstituiert eigene kulturelle Ordnungen und bringt Erinnerungskulturen hervor, die sich aus den Quellen des individuellen und kollektiven Gedächtnisses von Anhängern und Fangemeinschaften speisen. Dieses Gedächtnis wird durch Kommunikation hergestellt und konstituiert die Erinnerungsgemeinschaften des Sports. Vor allem die Statistiken der Fußballclubs und -verbände machen deutlich, wie die Spieltage einer Saison und die aufeinanderfolgenden Spieljahre eine eigene Zeitordnung begründen. Anders als das Kalenderjahr beginnt das Spieljahr nicht am ersten Januar oder wie das Kirchenjahr am ersten Advent, sondern meistens an einem Tag im Sommer. Bei den großen deutschen Traditionsvereinen erstreckt sich diese Zeitordnung auf bis zu vier geschichtliche Epochen und politische Systeme, von der Kaiserzeit bis in die Bundesrepublik Deutschland. Die räumlichen Bezugspunkte des Sports sind die Turnhallen, Spielplätze und Fußballstadien. Diese Orte werden im Lauf der Zeit zu Kristallisationspunkten sowohl von Erinnerung als auch von sozialer Identität. Ebenso wie beispielsweise die Olympiastadien in München und Berlin oder das Stadion Bökelberg in Mönchengladbach ist auch der Betzenberg, ganz im Sinn des von Pierre Nora geprägten Neologismus, ein Erinnerungsort (lieu de mémoire) par excellence. Wurde das Stadion von Anfang an, also seit seiner Eröffnung an Christi Himmelfahrt 1920, nach dem Betzenberg benannt („Stadion Betzenberg“), so wurde der Verein in der Umgangssprache erst relativ spät mit dem Betzenberg identifiziert. Jedenfalls lässt sich das Substantiv „Betzenberger“ als Bezeichnung der Spieler des FVK in der Weimarer Republik noch nicht nachweisen. Erst eineinhalb Jahrzehnte nach der Eröffnung des Stadions wurde der Club auch sprachlich mit dem Betzenberg identifiziert. Der FCK ist seit Mitte der 1930er Jahre „der Betze“, die Spieler sind „die Betzenberger“, die Mannschaft ist „der Betzenberg“. Aufgrund einer Analyse der Mitgliederzeitschriften des FCK, der Presse und anderer Quellen lässt sich zeigen, dass diese Bezeichnungen des FCK und der FCK-Spieler Neologismen, also sprachliche Neuschöpfungen der NS-Zeit sind. Damit bekam die Ortsbezeichnung Betzenberg zugleich einen meta-
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phorischen Sinn, der sich auf die Fußballmannschaft des FCK bezieht. Der Betzenberg ist seitdem überall dort, wo der FCK spielt. Ganz im Sinn des Verständnisses von lieu de mémoire bei Pierre Nora ist der Betzenberg ein materieller und immaterieller Erinnerungsort.
Stadion Betzenberg mit „Ehrenmal“ für die im Ersten Weltkrieg gefallenen Clubmitglieder, Foto um 1927
Die Erinnerungen an die Ereignisse, die Fußballanhänger in den Stadien erleben, haben einen hohen emotionalen und Sinn stiftenden Stellenwert. Die britische Kultur- und Sozialgeschichte des Fußballs hat für diesen Sachverhalt die Kategorie soccer topophilia (Fußballplatzliebe) geprägt. Dieser Terminus versucht, einerseits dem emotionalen Gewicht der Erinnerungen an Sportwettkämpfe, andererseits der räumlichen Vermittlung dieser Erinnerungen Rechnung zu tragen. Bekanntlich waren es John Bale und Mike Cronin, die den von Wystan Hugh Auden eingeführten und von Gaston Bachelard für die Kulturwissenschaften elaborierten Begriff topophilia auf die Fußballfankultur angewendet haben. Auch der Betzenberg ist gemäß dieser Betrachtung ein lieu de mémoire, an dem soccer topophilia emotional gelebt wird. Und auf diese Weise werden transgenerationale Identitäten gestiftet. „Transgenerationale Identitäten“ – was bedeutet das? Der FCK versteht sich ebenso wie zahllose andere Fußballclubs als eine „Wahlfamilie“, deren Generationen nicht durch biologische Abstammung aufeinander folgen, sondern dadurch, dass die Flamme der Begeisterung für den Club in den bürgerlichen Familien oder in den Fan-Clubs weitergegeben wird. In Kaiserslautern verstehen sich viele bürgerliche Familien als „FCK-Familien“. In diesen Familien wurden das Bekenntnis zum Betzenberg und die aktive Ausübung des Sports von den Eltern an die
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Kinder und die Kindeskinder weitergegeben. Auf diese Weise entstand die Wahlfamilie des 1. FC Kaiserslautern, die mittlerweile etliche Generationen von Angehörigen umfasst. 2. Passion und Emotion, Identifikation und Fanatismus Vor allem in früheren Jahren war das Stadion ein von den Einheimischen gefeierter, von auswärtigen Mannschaften jedoch gefürchteter Spielgrund. Hier konnten die Leidenschaften der Fans jederzeit überkochen. Die Kaiserslauterer und Pfälzer, die der Volksmund „Krischer“ (Schreihälse) nennt, verschaffen sich im Stadion stimmgewaltig Gehör. Nicht von ungefähr hat der musikwissenschaftliche Dokumentarfilm von Harold Woetzel über „Die letzten Schlachtgesänge: Von Meistersingern und Stammesritualen im Stadion“ (Baden-Baden, SWR 1997), neben den kurpfälzischen Eishockeyfans der Adler Mannheim, immer wieder auf die Fangesänge der „Krischer“ auf dem Betzenberg Bezug genommen. Aber beim lautstarken Krakeelen blieb es oftmals nicht. Auch Ausschreitungen der Zuschauer gehören zu den Erinnerungsbeständen der deutschen Sportgeschichte. Immerhin wurde auf dem „Betze“ am 27. November 1976 zum ersten Mal in der Geschichte der Bundesliga eine laufende Begegnung abgebrochen, nachdem der Schiedsrichter durch ein Kräuterlikörfläschchen getroffen worden war. Aber das ist nur eine Episode von vielen, die vom ausgeprägten Vereinsfanatismus der FCK-Anhänger Zeugnis geben. Im Jahr 1967 titelte die Presse „Schüsse auf dem Betzenberg“ oder „Liegt Kaiserslautern in Südamerika?“ (Pfälzische Volkszeitung, 4.9.1967, 9.9.1967; Die Rheinpfalz, 4.9.1967, 8.9.1967). Was war geschehen? Ein Fan hatte sich mit einem Schuss aus einer selbstgebastelten Pistole verletzt, ein anderer hatte in einem Handgemenge einen Schädelbasisbruch erlitten. Dennoch verwahrte sich der damalige Oberbürgermeister Dr. Hans Jung entschieden gegen solche „Sensationsreportagen“ (Pfälzische Volkszeitung, 11.9.1967). Auch aus der Zeit der Weimarer Republik und des „Dritten Reiches“ sind derartige Nachrichten zu finden. Vor allem Lokalderbys, unter ihnen die vielen Skandalspiele zwischen den Ortsrivalen FCK und VfR, waren von groben Unsportlichkeiten sowohl der Spieler als auch der Fans geprägt. Gleiches gilt für Regionalfeindschaften wie die früheren Derbys gegen Pirmasenser Mannschaften. Schiedsrichter wurden bei Lokalderbys ebenso wie bei Regionalderbys tätlich angegriffen und mussten unter Polizeischutz gestellt werden, um die Hölle auf dem Betzenberg lebend und unversehrt wieder verlassen zu können.
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Nicht von ungefähr war es im Herbst 1959 ein Match gegen den FK Pirmasens, nach dessen Abpfiff Fritz Walter die Schiedsrichterkabine stürmte und den Pfeifenmann attackierte. Walter wurde wegen Beleidigung und Bedrohung des Schiedsrichters und eines Linienrichters mit einer Sperre von einem Monat bestraft. Dieses Ereignis ruft man sich in Kaiserslautern nur ungern in Erinnerung. Rudi Michel, den bekannten Sportjournalisten und gebürtigen Kaiserslauterer, kostete es viel Überwindung, bis er sich dazu durchgerungen hatte zuzugeben, dass diese Bestrafung Walters, von der ich ihm berichtete und die ich mit Quellen belegen konnte, kein Aprilscherz war. Sie ist ein Störfaktor gegen den Trend, Walter als Inbegriff moralischer Integrität oder sogar als Adressaten volksreligiöser Verehrung zu stilisieren. Aber gerade solche Rivalitäten mit Lokaloder Regionalkonkurrenten sind es, die den Betzenberg zu einem Erinnerungsort gemacht haben, der Identität nicht nur nach innen, sondern eben auch durch Abgrenzung nach außen stiftet. Für viele Fans hat der Betzenberg zahllose Geschichten geliefert, die Jahrzehnte lang in der Erinnerung haften blieben, die weitererzählt wurden und ein die Zeit übergreifendes kollektives Gedächtnis konstituierten. Auf der einen Seite sind das vor allem die teils grandiosen Erfolge des Vereins, wie beispielsweise am 20. Oktober 1973 das sensationelle 7:4 gegen den FC Bayern München nach 1:4-Rückstand eine halbe Stunde vor Spielende, aber auch die tragischen Matches, wie beispielsweise der 3:1Sieg gegen den CF Barcelona, in dem der FCK am 6. November 1991 ein sehr spätes Tor in der 90. Minute einfing, das zum Ausscheiden aus dem Europapokal der Landesmeister geführt hatte. Diese großen Geschichten, die sich auf dem Platz ereignen, sind immer auch mit unzähligen kleinen Episoden verwoben, die die Fans erleben, an die sie sich erinnern und die sie bis an ihr Lebensende nicht vergessen können. Lassen Sie mich aus meinem Leben einige wenige Daten nennen. Aufgewachsen bin ich in der in Baden-Württemberg gelegenen Kulturregion Hohenlohe-Franken, also in der tiefsten FCK-Diaspora. Meine Schulkameraden waren allesamt Anhänger des VfB Stuttgart. Da mein Vater das Fußballspiel ebenso hasste wie Comics und Coca-Cola, hatte ich lange Zeit keine Chance, auf den Betzenberg zu kommen, und war auf Radioübertragungen und Fernsehzusammenfassungen angewiesen. Das erste Spiel überhaupt, das ich als damals noch 17-jähriger Schüler besuchen konnte, war ein Auswärtsspiel, das der FCK am 31. Mai 1975 im Neckarstadion gegen den VfB Stuttgart durch einen von Willi Entenmann verschuldeten Handelfmeter, ausgeführt von Hannes Riedl, mit 1:0 für sich entschied. Ein Arbeitskollege meiner Mutter hatte sich damals meiner erbarmt und mich in einer Isetta zum Spiel in der Schwabenmetropole
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mitgenommen. Und dann erinnere ich mich noch sehr gut daran, dass ich das genannte 3:1 des FCK gegen den CF Barcelona mit meiner Frau unter so großer Anteilnahme und Anspannung in einem kleinen Schwarz-WeißFernseher angesehen habe, dass unser Kätzchen Klara verängstigt in Deckung gegangen ist. Meine Frau war es auch, die mir meinen ersten Besuch im Stadion Betzenberg geschenkt hat, es war der fulminante 4:2-Erfolg gegen Borussia Mönchengladbach am 28. September 1991. Ebenfalls nicht aus meiner Erinnerung zu löschen sind zwei weitere Spiele auf dem Betzenberg, die ich gemeinsam mit meinem Sohn Anselm besuchte. Beide Siege waren für mich sehr schmerzhaft, weil mein Sohn es jeweils geschafft hat, mir eine Rippe anzubrechen, als er mich vor lauter Begeisterung über ein Tor so heftig umarmte, den Brustkorb zusammenquetschte und mich in die Luft wuchtete, gleichsam wie ein Fähnchen schwenkte, sodass ich mich noch Wochen danach an seine überschäumende Freude körperlich erinnern konnte. Bei diesen beiden Spielen handelt es sich um das 4:1 am 12. September 2008 gegen den FC St. Pauli und das 2:0 am 27. August 2010 gegen den FC Bayern München. So lässt sich das bürgerliche Lebenslaufschema (Kindheit, Jugend, Ehe, Vaterschaft) am Leitfaden einer Chronologie von Fußballerinnerungen darstellen. Schon an diesen wenigen Daten aus dem Leben eines Fans können Sie eine der ganz großen Stärken des Fußballs ablesen: Er bietet Erlebnisse, die sich tief ins Gedächtnis der Menschen eingravieren, die sich untrennbar mit Stadien wie dem Betzenberg verbinden und in eine eigene Zeitordnung, die Spieljahre, einschreiben. 3. Kriegerdenkmal und Totengedenken auf dem Betzenberg Der Betzenberg ist demzufolge ein Erinnerungsort in dem Sinn, dass er Schauplatz von Ereignissen ist, die im individuellen und kollektiven Gedächtnis haften bleiben, an die man sich mehr oder weniger gern erinnert. Darüber hinaus ist das Stadion zur Stätte eines außersportlichen, institutionalisierten Totengedenkens geworden. Am 21. Juni 1925 errichtete der FVK inmitten des Zuschauerbereichs ein Kriegerdenkmal. Hier pflegte der Club seit dieser Zeit ein schlichtes und zumeist vollkommen apolitisches Gefallenengedenken. Als das Denkmal noch in die Zuschauerterrassen integriert war, bot es einen sehr auffälligen Blickpunkt und galt deshalb als „Wahrzeichen“ des Betzenbergs. Damit kommen wir zu einer weiteren Facette der Sozialstruktur des FCK. Indem sich der Club, ebenso wie zahllose andere Traditionsvereine, als eine viele Generationen umfassende „Wahlfamilie“ versteht, sieht er sich als eine Gemeinschaft von lebenden und toten Clubmit-
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gliedern. Das zeigt sich besonders eindringlich auf alten offiziellen Mannschaftsfotos, für die sich Spieler und Funktionäre bewusst vor dem Denkmal versammelten. Auch Jugendliche verabredeten sich für private Erinnerungsfotos beim Kriegerdenkmal. An die verstorbenen Mitglieder erinnert der FCK mit unterschiedlichen Medien und in unterschiedlicher Intensität. Vor allem ist der FCK stolz auf seine „Ahnen“, auf die „Gründungsväter“, die den Club aus der Taufe gehoben haben, und auf die Leistungsträger früherer Jahrzehnte. Bis in die 1950er Jahre hatten die Weltkriegsgefallenen einen besonderen Stellenwert in den Erinnerungspraktiken des Vereins, was selbstverständlich nicht nur für diesen Fußballclub, sondern für die bundesrepublikanische Erinnerungskultur insgesamt gilt. Ihnen sind das Denkmal auf dem Betzenberg und Gedenkseiten in früheren Festschriften gewidmet. Im Zweiten Weltkrieg nutzte der FCK Spielpausen und Spielunterbrechungen für Gedenkminuten und Kranzniederlegungen, Spieler traten mit Trauerflor an, um gefallener Vereinsmitglieder zu gedenken. Aller verstorbenen Mitglieder gedenkt der Club bei den Jahreshauptversammlungen mit einer Schweigeminute, zu der sich die Mitglieder erheben, und mit einem besonderen Zeremoniell am Totensonntag. Nach 1945 entfernte der FCK den Sockel und die Namenstafel des für die Gefallenen des Ersten Weltkriegs errichteten Ehrenmals. Die Gründe für diesen Eingriff lassen sich nicht mehr rekonstruieren. Geblieben ist die Figur des Trauernden, die keine militärischen Insignien oder politischen Botschaften aufweist. Bereits 1925 wurde sie als Personifikation des Sports gedeutet: „Es trauert der Sport um seine toten Jünger,“ interpretierte ein FCK-Mitglied das Denkmal bei dessen feierlichen Enthüllung und Einweihung (Pfälzer Volksbote: Beilage Sport am Sonntag, 22.6.1925).
Ausverkauftes Stadion Betzenberg, Foto um 1930
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Mannschaftsfoto vor dem Kriegerdenkmal auf dem Betzenberg mit Spielern des Fußballvereins Kaiserslautern (in weißen Trikots) und des Kölner Ballspiel-Clubs, Postkarte 1927
Durch die Beseitigung der Tafel mit den Namen der im Ersten Weltkrieg umgekommenen Mitglieder wurde dem Ehrenmal sein ursprünglicher Sinn genommen. Die Figur des trauernden Sports wurde zum symbolischen Träger eines allgemeinen, vereinsinternen Totengedenkens, ihre „soziale Reichweite“ somit auf alle verstorbenen Vereinsmitglieder ausgedehnt. Die Personifikation des trauernden Sports wurde in den 1950er Jahren aus dem Stadion verbannt. Sie steht heute am Rand eines Nebenplatzes auf einem niedrigen Fundament mit der Inschrift „Unseren Toten“. 4. Der Betzenberg als Schauplatz politischen und religiösen Zeremoniells Nach 1933 änderten sich die politischen Rahmenbedingungen des Sports, der Hitlergruß wurde eingeführt, und die Funktionen des Stadions Betzenberg als Erinnerungsort wurden erweitert. Sehr gern ließen sich NS-Politiker, die 1938 die Vereinsführung übernommen hatten, mit der Walter-Elf fotografieren. Nun war der „Betze“ nicht nur ein Ort für die Spiele des FCK, sondern auch Schauplatz für die verschiedensten Veranstaltungen der NSDAP. Dazu gehörten zunächst die Sportwettbewerbe der Hitlerjugend, einschließlich des BDM und des Jungvolks. Diese Veranstaltungen sollten die rassische Auslese fördern und die „Volksgenossen“ für den Weltkrieg trainieren. Die Überlassung des Stadions Betzenberg durch den
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Oberbürgermeister und NSDAP-Kreisleiter Richard Imbt inmitten der „Walter-Elf“, Meister der Gruppe Saarpfalz, Gauliga Südwest, 1940
FCK an die Hitlerjugend wurde von der Stadtverwaltung geregelt und vergütet. Über die Sportveranstaltungen der Parteijugend hinaus fanden auch die Wehrsport- und Geländeübungen der Sturm-Abteilung der NSDAP (SA) auf dem Betzenberg statt. Auch einige Spiele der Fußballauswahl des Militärstandorts Kaiserslautern wurden auf dem Betzenberg ausgetragen. Und nicht zuletzt wurden religiöse Spektakel aufgeführt: völkisches Thingspiel und antichristliche Sonnwendfeiern. Für solche Zwecke bot der Betzenberg mit seiner herrlichen Aussicht auf die Stadt und den Pfälzer Wald einen ungemein stimmungsvollen Rahmen, den die NSDAP für die Inszenierungen ihres neuheidnischen Märtyrerkultes zu nutzen wusste. Die Sonnwendfeiern riefen die Fronterfahrungen des Ersten Weltkriegs in Erinnerung, glorifizierten sie und zogen alle psychologischen Register, um die Bevölkerung auf einen neuen Weltkrieg einzustimmen, der „Revanche“ für Versailles nehmen sollte. Dabei wurde
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das Kriegerdenkmal auf dem Betzenberg zum Ausgangspunkt eines totenkultischen Blut-und-Boden-Mystizismus, der die arische Rasse religiös verbrämte und sakralisierte. So geschehen beispielsweise bei der Sonnwendfeier 1937. Ein Pressebericht über dieses von der Hitlerjugend veranstaltete und von der Schutzstaffel der NSDAP (SS) szenisch ausgeschmückte Spektakel schwadronierte über den arischen Menschen. Er müsse „sich einfügen in den atmenden Rhythmus des ewig Lebendigen“. Es sei eine „heilige Gemeinschaft deutscher Menschen, Menschen gleichen Blutes“, die „droben über der Stadt auf dem Betzenberg“ stehe, um dabei zu sein, wenn an solchen weihevollen Abenden „die toten Soldaten [...] zum Heldenmal“ (NSZ Rheinfront, 21.6.1937) des Betzenbergs zurückkehren. Ein politisches Gruselstück ersten Ranges wurde hier aufgeführt. Mit pseudoarchaischem Pomp setzten die Kaiserslauterer Nazis die neuheidnisch-rassistische „Prinzipienlehre“ des NS-Chefideologen Alfred
Szenen vom Bannsportfest 1934 der Hitlerjugend auf dem Betzenberg
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Impressionen vom Bannsportfest 1943 der Hitlerjugend auf dem Betzenberg
Rosenberg ebenso in Szene wie den revanchistischen Totenkult, der das Gedenken an die Gefallenen des Ersten Weltkriegs für neues Unheil missbrauchte. Auch die von der Hitlerjugend auf dem Betzenberg aufgeführten Sonnwendfeiern zelebrierten mit antichristlichem Pathos die NS-Rassenideologie. Dabei wurde die Sonnwendfeier mit Feuerwerk und Massenchor („Flamme empor“) begangen. Die Gaupresse berichtete 1934 über den Abschluss der Sonnwendfeier: „Das Deutschland- und Horst-Wessel-Lied
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durchbrausen die Nacht und langsam fällt das Feuer zusammen. Mit einem dreifachen Sieg-Heil auf das Volk und den Führer schließt Kreisleiter [Ernst] Dürrfeld die Feier“ (NSZ Rheinfront, 25.6.1934). Auch die Sportveranstaltungen der Hitlerjugend, die auf dem Betzenberg stattfanden, beschworen beispielsweise 1941 mit totenkultischen Tönen den bereits tobenden Zweiten Weltkrieg. Die NS-Volksgemeinschaft wollte sich mit solchen Spektakeln ihrer Identität vergewissern, sich ins kommunale Gedächtnis eingravieren. Heute erinnert nichts mehr an diese Schauspiele. Anders die „Wahlfamilie“ der FCK-Fans, die sogenannte „FCK-Familie“: Sie hat die drei großen politischen Epochenumbrüche überdauert und die unpolitische Flamme der Begeisterung für den Sport und für den Berg von Generation zu Generation weitergegeben. Schon lang vor der NS-Zeit war der Betzenberg eine Stätte religiösen Empfindens und Feierns. Wie prähistorische Funde von Menhiren bzw. Hinkelsteinen belegen, war der Betzenberg trotz seiner relativen geographischen Bedeutungslosigkeit bereits in vorgermanischer Zeit eine Kultstätte. Was sich dort genau abgespielt hat, wissen wir jedoch nicht. Eine Straße am Betzenberg („Am Hinkelstein“) und der Name einer Waldabteilung („Hinkelstein“) weisen heute noch auf diese religionshistorische Tatsache hin. Im September 1946, nach der Beseitigung der schlimmsten Kriegsschäden im Stadion Betzenberg und der notdürftigen Wiederherstellung der Platzanlage, verkündete ein Programmblatt des FCK zum Spiel gegen den S.V. Waldhof in unverblümt religiöser Terminologie: „Fußballfreunde, der Hunger wird gestillt[!] Der Wallfahrtsort aller Fußballgläubigen, der Betzenberg[,] öffnet am 8.9.[1946] wieder seine Pforten.“ Aber auch unter den Bedingungen der heutigen Popkultur bietet der Betzenberg als Ziel des samstäglichen „pfälzischen Passionswegs“ genügend Nahrung für „Anbetung, Verheißung, Erlösung“, wie die Wochenzeitschrift „Die Zeit“ es einmal formuliert hat (Die Zeit, 19.3.1998). 5. Arbeitseinsätze, wirtschaftliche Bedeutung und finanzielle Last Nun aber herunter vom Höhenkamm religiöser Weihen in die Niederungen der Ökonomie und der Finanzwirtschaft. Neben den Erinnerungen an sportliche, volksreligiöse und politische Ereignisse, die auf dem Betzenberg stattfanden, ist das Stadion bis heute von beachtlicher arbeitsmarktpolitischer und ökonomischer Bedeutung. Bereits in der späten Weimarer Zeit spielte das Stadion Betzenberg bei Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen eine Rolle. Deutschland litt damals an einer gigantischen Arbeitslosigkeit. Die Reichsregierung wollte die außerordentliche Not der Arbeitswilligen
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lindern und gründete zu diesem Zweck im Jahr 1931 mit einer Notverordnung den „Freiwilligen Arbeitsdienst“. Damit bot sich den Turn- und Sportvereinen eine Möglichkeit, ihre Wettkampf- und Trainingsanlagen zu verbessern und zu erweitern. Sie konnten ihre arbeitslosen Mitglieder gegen geringes Entgelt für diese Arbeiten einsetzen und damit von der allgemeinen Notlage profitieren. Etwa 140 FCK-Mitglieder arbeiteten 1932/33 monatelang auf dem Betzenberg an der Erneuerung und Erweiterung des Stadionovals, der Tribüne und der Zuschauerterrassen, des Hockeyfeldes und des Kassenhauses. Auf anderen Sportplatzanlagen waren in Kaiserslautern darüber hinaus bis zu 800 arbeitslose Kaiserslauterer im Arbeitseinsatz. Ganz anders organisiert und motiviert waren die nach 1945 auf dem Betzenberg durchgeführten Arbeitseinsätze. In der Saisonpause 1977 initiierte Geschäftsführer Norbert Thines die Maßnahme „Freiwilliger Arbeitseinsatz beim 1. FCK“ zur „Stadionverschönerung“. Im Einsatz waren, wie Thines in der Mitgliederzeitschrift schrieb, „über 50 Helfer einschließlich des gesamten FCK-Präsidiums, angeführt von ‚Atze‘ Friedrich. Pensionisten, Mitglieder, Anhänger aus Fan-Clubs, – alle langten kräftig zu“ (Rund um den Betzenberg, Nr. 2, 1977, S. 80). Auch beim Umbau des Stadions 1978 schufteten etliche Dutzend Kaiserslauterer „während der Saisonpause auf ‚Ihrem‘ Betzenberg“ in über 5.000 freiwilligen Arbeitsstunden. Durch die schweißtreibende, physische Arbeit im Stadion wurden Stadt und Verein zusammengeschweißt. Dazu noch einmal Thines: „Für ‚Ihren‘ FCK auf ‚Ihrem‘ Betzenberg“ waren freiwillige Helfer und Mäzene im Einsatz – ein „Identifizierungseffekt, der sich dann überträgt in die Saison, in ein treues Engagement, in eine kameradschaftliche, familiäre FCK-Atmosphäre“ (Rund um den Betzenberg, Nr. 2, 1978, S. 100). Anders als beim „Freiwilligen Arbeitsdienst“ 1932/33 arbeiteten die FCK-Mitglieder unentgeltlich in ihrer Freizeit; ihr Einsatz war keine Reaktion auf Massenarbeitslosigkeit wie in der Zeit des Umbruchs von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus. Die Bedeutung des Betzenbergs für die Infrastruktur Kaiserslauterns war den Kommunalpolitikern bereits in den 1930er Jahren bewusst. Als die Stadtsparkasse im Geschäftsjahr 1934 dem FCK ein Darlehen in Höhe von RM 18.000 bewilligte, wies Rechtsrat und Stadtkämmerer Rudolf Reeber als Mitglied des Verwaltungsrats der Stadtsparkasse befürwortend auf die wirtschaftliche Bedeutung des Vereins unter anderem im Hinblick auf den Fremdenverkehr hin. Ähnlich argumentierten die Stadtväter auch in anderen Kommunen, die im Sport einen wichtigen Wirtschaftsfaktor erkannten und den Vereinen und Spielern geldwerte Vorteile gewährten. Daran hat sich bis heute nichts geändert.
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Bildkarte, deren Verkaufserlös in einen Fonds floss, aus dessen Mitteln der Neubau der im November 1930 durch einen Orkan zerstörten Tribüne finanziert wurde.
Die Identifikations- und Integrationsfunktion des Betzenbergs für Stadt und Bewohner liegt auf der Hand. Was jedoch spätestens Ende der 1990er Jahre besonders deutlich wurde: Das Stadion Betzenberg ist trotz seiner immensen symbolischen Bedeutung immer auch eine enorme Last für den Verein gewesen. Schon in der ersten Hälfte der 1930er Jahre haben die Mittel, die für Unterhalt und Erweiterung des Stadions erforderlich waren, in Verbindung mit den Kosten für den damaligen Semiprofessionalismus bzw. Scheinamateurismus, den Club weit überfordert. Die Vereinsführung verstieß bei der Finanzierung des Stadionausbaus und der verdeckten Bezahlung des Spielerkaders gegen die Bestimmungen des DFB, teils auch gegen die des BGB. Das Ringen mit den finanziellen Belastungen der vereinseigenen Immobilie zieht sich wie ein roter Faden durch die Geschichte des FCK. Vor diesem Hintergrund waren die so genannten „Privatspiele“ in den späten 1940er und in den 1950er Jahren wirtschaftlich ähnlich wichtig wie die Verbandsspiele. In dieser Zeit musste die Walter-Elf kräftezehrende, aber finanziell einträgliche Tourneen unternehmen, wenn sie sich in einer Saison einmal nicht für die Spiele um die Deutsche Meisterschaft qualifiziert hatte. Aber eben diese Spiele sind am allerwenigsten im kulturellen Gedächtnis des Fußballs haften geblieben, obwohl sie existentiell wichtig, zumeist gut besucht und damit finanziell lukrativ waren.
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Als die Oberligazeit zu Ende gegangen war und der FCK sich für die Bundesliga qualifiziert hatte, musste der Club drückende Auflagen des DFB erfüllen und das Stadion für eine Kapazität von 35.000 Zuschauern ausbauen, um es bundesligatauglich zu machen. Um die Finanzierung zu stemmen, veräußerte der Club das Vereinsheim „Löwenburg“. Die fehlenden Mittel wurden von der Stadt Kaiserslautern und der Landesregierung aufgebracht. Sogar die in Kaiserslautern stationierten amerikanischen Streitkräfte beteiligten sich mit Pioniereinheiten an den Bauarbeiten. Als Eigentümer der Sportplatzanlage Betzenberg konnte der FCK die für Ausbau und Erhalt des Stadions aufzubringenden Mittel nicht in die Spieler investieren. Die Mannschaft war eine Graue Maus der Bundesliga, spielte in den 1960er Jahren einen glanzlosen Fußball, die Zuschauerzahlen gingen gegen Ende der 1960er Jahre dramatisch zurück, sodass befürchtet wurde, der FCK müsse die Konzession aus wirtschaftlichen Erwägungen zurückziehen. Doch Helmut Kohl, der damalige rheinlandpfälzische Ministerpräsident (CDU), sprang ein und unterstützte Anfang der 1970er Jahre die Teilfinanzierung eines Tribünenausbaus aus Landesmitteln. Zu Beginn der 1970er Jahre trat Norbert Thines in die Führung des FCK, was sich als ein außerordentlicher Glücksfall erweisen sollte. Mit überschaubaren finanziellen Investitionen in den Mannschaftskader generierte der Club einen hohen sportlichen und wirtschaftlichen Mehrwert. Zahlreiche Teilnahmen an europäischen Wettbewerben, zwei DFB-Pokalsiege (1990 und 1996) und eine Deutsche Meisterschaft (1991) sind die Bilanz einer überaus klugen wirtschaftlichen Vereinsführung. Thines war darüber hinaus ein entschiedener Förderer des Damenfußballs auf dem Betzenberg. Ein wichtiger und unverzichtbarer Mitstreiter von Thines war Günter Klingkowski, der langjährige Vizepräsident und Schatzmeister des FCK, der als Leiter des Amtes für Wirtschaftsförderung und Liegenschaftswesen bei der Stadt Kaiserslautern angestellt war. Klingkowski brachte den ökonomischen Sachverstand auf den Betzenberg, Rainer Geye als sportlicher Leiter zeichnete für eine kluge Linie bei den Spielertransfers verantwortlich. Nach dem überraschenden Abstieg in der Saison 1995/96 wurde die Vereinsführung entlassen. Bekanntlich stieg der FCK sogleich wieder auf und wurde, bisher einmalig in der Geschichte der Bundesliga, als Aufsteiger Deutscher Meister und spielte in der Champions League. Das neue Vereinsmanagement indes berauschte sich an diesem Erfolg und setzte die seit Mitte der 1990er Jahre laufende Bewerbung für die Austragung von Spielen bei der Fußball-WM 2006 technisch und finanziell höchst unprofessionell um. Mit dem hohen Eigenanteil an den Kosten des Stadionausbaus überforderte sich der Club heillos.
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Die Finanzprobleme eskalierten. Wie in der ersten Hälfte der 1930er Jahre ging es um Baukosten, aber auch um Spielergehälter, die der Club unter Umgehung der Steuer an mehrere ausländische Profis zahlte. Wieder mussten Kommunal- und Regionalpolitiker – allen voran Ministerpräsident Kurt Beck (SPD), Innenminister Walter Zuber (SPD) und Oberbürgermeister Bernhard Deubig (CDU) – eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Das Projekt Stadionausbau wurde aus eigen- und fremdfinanzierten Mitteln des FCK, der Stadt Kaiserslautern und des Bundeslandes Rheinland-Pfalz gesichert. Die Lösung dieser jüngsten wirtschaftlichen Krise des FCK kam einem schweren Traditionsbruch gleich. Sie bedeutete das Ende des vereinseigenen Fritz-Walter-Stadions auf dem Betzenberg. Die Anlage wurde an eine Immobiliengesellschaft veräußert, deren einziger Anteilseigner letztlich die Stadt Kaiserslautern ist. Damit konnten die Überschuldung des FCK reduziert, die drohende Illiquidität und der Zwangsabstieg ins Amateurlager abgewendet werden. Aber bereits im Jahr 2006, dem Jahr der Fußballweltmeisterschaft, stieg der FCK ab. Sportlich hat sich der Club von dem finanziellen Desaster bis heute nicht wirklich erholt. Auf den Wiederaufstieg vier Jahre später folgten ein nur zwei Spielzeiten währender Aufenthalt in der Bundesliga, dann ein erneuter Abstieg in die Zweitklassigkeit. 6. Mit dem FCK-Museum in die Phase der Selbstreflexion In ein neues Stadium ist der Betzenberg nach der Jahrtausendwende eingetreten. Auf verschiedenen Ebenen wurde die Geschichte des Erinnerungsorts Betzenberg explizit thematisiert. Die ersten mit wissenschaftlicher Methode erarbeiteten Studien über die Geschichte des Clubs wurden veröffentlicht. Ein besonderer Höhepunkt war im Jahr 2006 die Publikation eines Buchs über den FCK in der Zeit des Nationalsozialismus: „Der ‚Betze‘ unterm Hakenkreuz: Der 1. FC Kaiserslautern in der Zeit des Nationalsozialismus“, 2009 in zweiter Auflage erschienen. Ein wichtiges Kapitel in diesem Forschungsprojekt war den ehemaligen jüdischen Mitgliedern des FCK gewidmet, die dem Vergessen, der damnatio memoriae der Nazis, zumindest teilweise entrissen werden konnten. Einen weiteren Meilenstein stellte die auf Betreiben von Horst Eckel, Norbert Thines und Ottmar Walter erfolgte Gründung der „Initiative Leidenschaft FCK“ am 9. Dezember 2007 dar. Sie hatte sich zunächst als Solidaritätsaktion zur Rettung des Clubs verstanden, sollte Mitglieder werben, das „Ehrendenkmal am Stadion“ pflegen und, später unter dem Namen „Initiative Leidenschaft FCK – Fritz Walter Museum Kaiserslautern e.V.“, ein Vereinsmuseum auf den Weg bringen. Bekanntlich wurde im Juli 2011 die Fritz-
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Walter-Museums-Ebene eröffnet, die von der Kulturwissenschaftlerin Astrid Wegner als Kuratorin vorbildlich betreut wird. Wegner hatte sich bereits mit einer Ausstellung über die Fußballlegende Helmut Schön in Sportkreisen einen Namen gemacht. Einige weitere wichtige Initiativen gingen von Fans aus. So veröffentlichte Markus Röder im Jahr 2010, dem Jahr des Aufstiegs des FCK in die Bundesliga, eine nahezu komplette Statistik des Clubs und seiner Vorgängervereine. Ebenfalls in der Aufstiegssaison 2009/10 beauftragte die FCK-Pressestelle einen Sporthistoriker mit der Aufgabe, zu Themen der Clubgeschichte verschiedene Artikelserien in der Mitglieder- und Stadionzeitschrift „In Teufels Namen“ zu verfassen. Dabei wurden die Frühgeschichte des FCK und seiner Vorgängervereine, die internationalen Spiele in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts, die Geschichte der Damen-Fußballabteilung und die der jüdischen Mitglieder des FCK dargestellt. Besonders verdienstvoll sind ebenso die intensiven und akribischen Recherchen des bereits genannten Markus Röder und von Eric Lindon, einem pensionierten US-amerikanischen Soldaten, die sich der Frühgeschichte des Fußballsports in Kaiserslautern annehmen. Seit Jahren schon erforschen Lindon und Röder darüber hinaus die Logos und Embleme sowie die Frühgeschichte und die Spielplätze nicht nur des FCK, sondern auch der anderen Sportvereine Kaiserslauterns. Diese Grundlagenarbeit lässt eine unersetzliche Datenbasis entstehen, die Licht in ein Dunkel bringt, das bisher allenfalls in Ansätzen ausgeleuchtet worden war. Untergegangene Spielplätze und verstorbene Leistungsträger, die in Vergessenheit geraten sind, auch das sind Erinnerungsorte des Sports, die wie Schätze darauf warten, dass sie gehoben werden. Nicht nur im FCK, sondern auch in anderen deutschen und europäischen Fußballclubs sind es die Initiativen von Fans, die sich die Geschichte der Clubs, denen sie anhängen, zur Aufgabe machen, während die Manager vom nervenaufreibenden Alltagsgeschäft der Finanzierung und Organisation des Sports in Beschlag genommen sind. Dass sich die Führung des FCK nach der Jahrtausendwende für die Gründung eines Museums entschieden hat, ist ein sehr gutes und wegweisendes Zeichen in einer Zeit, in der viele die – zweifellos notwendige – Kommerzialisierung des Sports beklagen. 7. Zusammenfassung Der Beitrag hat die Geschichte des Betzenbergs als Erinnerungsort unter ganz verschiedenen, für die Sportgeschichte relevanten Gesichtspunkten dargestellt. Zuallererst ist das Stadion Betzenberg ein Ort sportlicher Siege und Niederlagen, die sich tief ins Gedächtnis eingegraben haben. Die Er-
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innerung an die Dramen und Tragödien des Fußballs in der Hölle der „Roten Teufel“ auf dem Betzenberg bindet zahllose einzelne Fans an den Club und den Berg – in vielen Fällen ein Leben lang, von der Wiege bis zur Bahre. Sie konstituieren das kommunikative Gedächtnis der „FCK-Familie“ als Erinnerungsgemeinschaft. Da die Anhänger ihre Erlebnisse an ihre Kinder und Kindeskinder weitergeben, entstehen generationenübergreifende bürgerliche „FCK-Familien“, die sich zur „Wahlfamilie“ des FCK bekennen und häufig in den seit 1970 bestehenden Fan-Clubs organisiert sind. Die Mitglieder der „FCK-Familie“ sind durch ihre Beziehung zum Betzenberg lokal verortet. Der Weg ins Stadion zum Spiel und vom Betzenberg zurück in den Alltag ist für sie ein wahrer Passionsweg. Über diese sportliche und soziale Dimension hinaus ist der Betzenberg auch ein religionshistorisches Phänomen. Schon in prähistorischer Zeit erfüllte der Berg kultische Funktionen, wie mehrere Funde von Menhiren beweisen. In der NS-Zeit wurde das Stadion Betzenberg zum Veranstaltungsort für Parteisportveranstaltungen sowie zum Schauplatz antichristlicher, neuheidnischer Spektakel (Thingspiele, Sonnwendfeiern, Hitlerjugendfeste etc.), die eine andere Art von Gemeinschaft als die bürgerliche Vereinsfamilie stiften wollten. Darüber hinaus ist der Betzenberg ein Zeugnis der Wirtschaftsgeschichte. Früher wurde hier Sandstein gebrochen, aus dem beispielsweise die 1938 abgerissene Lauterer Synagoge erbaut wurde und viele Kaiserslauterer Häuser bis heute bestehen. Nicht zuletzt ist das Stadion Betzenberg eine jener Fußballadressen Deutschlands, an denen die fiskalischen Konflikte um den Scheinamateurismus des DFB in den 1920er und 1930er Jahren mit besonderer Intensität ausgetragen wurden. Stand das Vierteljahrhundert der Ära von Norbert Thines als Geschäftsführer und Vorsitzender noch im Zeichen klugen Wirtschaftens und erstaunlichen sportlichen Erfolgs, so führten waghalsige Finanzplanungen beim Ausbau des Stadions im Vorfeld der WM 2006 den FCK an den Rand des Bankrotts, mit bis heute andauernden, einschneidenden Folgen für die sportliche Stärke des Clubs. Der Betzenberg ist aber nicht nur ein Ort, der sich einen dauerhaften Platz im deutschen Fußballgedächtnis gesichert hat. Vielmehr bietet er überdies einen Rahmen für Erinnerungsrituale, die nicht dem Sport, sondern den Weltkriegsgefallenen gelten. Ein „Wahrzeichen“ für diese Zeremonien wurde 1925 mit einem „Ehrenmal“ im Stadion Betzenberg geschaffen, an dem bis heute am Totensonntag der gefallenen und verstorbenen Vereinsmitglieder gedacht wird. Ihnen wird auf diese Weise ein Platz im Vereinsgedächtnis gesichert, und der FCK konstituiert sich damit als eine Gemeinschaft der Lebenden und Toten.
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Seit der Jahrtausendwende ist der Betzenberg schließlich ins Stadium der Selbstreflexion eingetreten. Wissenschaftliche Untersuchungen, eine eigene Rubrik im Mitgliedermagazin des FCK, das FCK-Museum und intensive Recherchen von Hobbyhistorikern widmen sich der Geschichte des FCK und des Betzenbergs sowie der anderen Sportvereine und Spielplätze als Erinnerungsorten der barbarossastädtischen Kulturgeschichte. Literatur Bachelard, Gaston: La poétique de l’espace, Paris 1957. Bale, John: Playing at home. British football and a sense of place. In: British Football and Social Change: Getting into Europe, hg. v. John Williams u. Steven Wagg, Leicester, London u. New York 1991, S. 130–144. Bauerkämper, Arnd: Das umstrittene Gedächtnis. Die Erinnerung an Nationalsozialismus, Faschismus und Krieg in Europa seit 1945, Paderborn u.a. 2012. Bernett, Hajo: Der Weg des Sports in die nationalsozialistische Diktatur. Die Entstehung des Deutschen (Nationalsozialistischen) Reichsbundes für Leibesübungen, Schorndorf 1983. Bärsch, Claus-Ekkehard: Die politische Religion des Nationalsozialismus. Die religiösen Dimensionen der NS-Ideologie in den Schriften von Dietrich Eckart, Joseph Goebbels, Alfred Rosenberg und Adolf Hitler, 2. Auflage, München 2002. Christmann, Ernst: Menhire und Hinkelsteine in der Pfalz, Speyer [ca. 1949]. ders. (Begr.): Pfälzisches Wörterbuch, Bd. 4, Wiesbaden 1987–1993. ders./Friedel, Heinz: Kaiserslautern einst und jetzt. Beiträge zur Geschichte der Großstadt Kaiserslautern, 2. Auflage, Otterbach u. Kaiserslautern 1976. Cronin, Mike: Enshrined in blood. The naming of Gaelic Athletic Association grounds and clubs. In: The Sports Historian 18 (1998), Nr. 1, S. 90–104. Eggers, Erik: Fußball in der Weimarer Republik, Kassel 2001. Friedel, Heinz: Kaiserslautern. Von der Kaiserzeit bis zur Universitätsgründung, Kaiserslautern 1998. ders.: Einflüsse des Nationalsozialismus auf die Geschäftsführung der Stadtsparkasse Kaiserslautern und das geschichtliche Umfeld, Kaiserslautern 1993 (Typoskript), Stadtarchiv Kaiserslautern, Bibliothek, 4° S 1006. Hasenfratz, Hans-Peter: Die Religion Alfred Rosenbergs. In: Numen. International review for the history of religions 36 (1989), S. 113–126. Havemann, Nils: Fußball unterm Hakenkreuz. Der DFB zwischen Sport, Politik und Kommerz, Frankfurt am Main u. New York 2005. Herzog, Markwart: „Vereins-Zeitung des Fußballvereins Kaiserslautern e.V.“ Eine Quelle zur Geschichte des 1. FC Kaiserslautern und der Barbarossastadt in der Zeit der Weimarer Republik (1927–1931). In: Kaiserslauterer Jahrbuch für Pfälzische Geschichte und Volkskunde 1 (2001), S. 391–462. ders.: Totengedenken und Interpretation. In: Totengedenken und Trauerkultur. Geschichte und Zukunft des Umgangs mit Verstorbenen, hg. v. Markwart Herzog, Stuttgart 2001, S. 9–18. ders.: „Die Hölle – auf dem Berg“. Fußballkultur als Faktor regionaler Identität in der Pfalz. In: Eine Welt – Eine Geschichte? 43. Deutscher Historikertag in Aachen 26.
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Christmeier, hg. v. Dokumentationszentrum Reichsparteitagsgelände Nürnberg, S. 34–38. ders.: Der „Betze“ unterm Hakenkreuz. Der 1. FC Kaiserslautern in der Zeit des Nationalsozialismus, 2., verbesserte Auflage, Göttingen 2009. ders.: Fußball in der NS-Zeit. Im Zeichen des Hakenkreuzes. In: 100 Jahre deutsche Länderspiele – Faszinierende Geschichten, bewegende Momente (Kicker Sportmagazin Edition 2008), hg. v. Karl-Heinz Heimann, S. 34f. ders.: „Eigenwelt“ Fußball. Unterhaltung für die Massen. In: Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars, hg. v. Markwart Herzog, Stuttgart 2008, S. 11–35. ders.: „Sportliche Soldatenkämpfer im großen Kriege“ 1939–1945. Fußball im Militär – Kameradschaftsentwürfe repräsentativer Männlichkeit. In: Fußball zur Zeit des Nationalsozialismus. Alltag – Medien – Künste – Stars, hg. v. Markwart Herzog, Stuttgart 2008, S. 67–148. ders.: Ruhm der Städte – Erfolg der Vereine – Image der Politiker. Nationalsozialistische Sportkommunalpolitik in Kaiserslautern und anderen Städten und Gemeinden der Westpfalz. In: Sport als städtisches Ereignis (Stadt in der Geschichte 33), hg. v. Christian Koller, Ostfildern 2008, S. 115–129. ders.: 1. FC Kaiserslautern: Sport, Politik und Ideologie auf dem Betzenberg. In: Hakenkreuz und rundes Leder. Fußball im Nationalsozialismus, hg. v. Lorenz Peiffer u. Dietrich Schulze-Marmeling, Göttingen 2008, S. 396–403. ders.: Fritz Walter im Zweiten Weltkrieg. Zankapfel zwischen Militär, Nationalelf, Vereinen und Gaupolitik. In: Sportwissenschaft. The German Journal of Sports Science 38 (2008), S. 392–403. ders.: Fußballsport in der Zeit des Nationalsozialismus. Quellen – Methoden – Erkenntnisinteressen. In: Sportgeschichte erforschen und vermitteln. Jahrestagung der dvs Sektion Sportgeschichte vom 19.–21. Juni 2008 in Göttingen, hg. v. Andrea Bruns u. Wolfgang Buss, Hamburg 2009 (online: http://www.schwabenakademie.de/cms/uploads/media/Fussballsport_in_der_Zeit_des_Nationalsozialismus_01.pdf), S. 51–64. ders.: Der Königliche Hofrat Dr. Theodor Orth – Bürgermeister, Arzt, Bierbrauer und Sportdienstleister (An der Wiege des Fußballspiels in Kaiserslautern – IV. Teil). In: In Teufels Namen. Stadionmagazin 1. FC Kaiserslautern, Saison 2009/10, Nr. 4, 26.9.2009, S. 52f. ders.: „Barbarossapark“. Der Fußballplatz in der Radrennbahn (An der Wiege des Fußballspiels in Kaiserslautern – V. Teil). In: In Teufels Namen. Stadionmagazin 1. FC Kaiserslautern, Saison 2009/10, Nr. 5, 23.10.2009, S. 52f. ders.: Theodor Orth und Georg Flockerzie. Gastwirte an der Wiege des Radfahr- und Fußballsports in Kaiserslautern. In: In Teufels Namen. Mitgliedermagazin 1. FC Kaiserslautern, Dezember 2009/Januar 2010, S. 59–61. ders.: Der Triumphzug der „Helden von Bern“ von 1954. Bahnhöfe als Orte kollektiver Festivität in Schwaben, Oberbayern und der Pfalz. In: Der Bahnhof. Basilika der Mobilität – Erlebniswelt der Moderne, hg. v. Markwart Herzog u. Mario Leis, Stuttgart 2010, S. 93–126. ders.: Die Kriegsjahre 1939 bis 1945. Kriegsmeisterschaften, Länderspiele und Soldatenfußball. In: Fritz Walter. Kapitän für Deutschland, Redaktion v. Peter Jochen Degen, Michael Desch und Hans-Peter Schössler, hg. v. Deutschen Fußball-
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Der „Heilige Rock“ in Trier als Erinnerungsort I. Sogenannte Erinnerungsorte sind erst seit einigen Jahren Gegenstand der historischen Forschung. Das bedeutet nicht, dass sie, wenn auch nicht unter diesem Begriff, nicht schon längst existierten. Man denke nur an den staatlichen Totenkult mit Kriegerdenkmälern, Soldatenfriedhöfen und Volkstrauertagen. Hinzuweisen ist auch auf die Jubiläumsmanie von Firmen, Vereinen oder auch Universitäten. Auch die politische Erinnerungskultur mit Nationalfahnen, Nationalhymnen und Nationalfeiertagen kann hier genannt werden. Der Begriff ist allerdings erheblich erweitert worden. Als Erinnerungsorte gelten nicht mehr nur topographisch fixierbare Orte, sondern auch bestimmte Ereignisse, Feste, Symbole, Bücher oder Mythen. Erinnert wird entweder permanent, periodisch oder nur zu bestimmten, meist dem Dezimalsystem geschuldeten Gelegenheiten, also nach dem Vergehen von Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden. Vor allem aber sucht man häufig in der Vergangenheit nach Halt, wenn der Bestand von Institutionen in Frage gestellt wird. Der französische Historiker Pierre Nora, dem wir die gezielte Erinnerungsforschung verdanken, stellte in Frankreich solche Erinnerungsorte zusammen, weil er um den Bestand des Landes fürchtete. Es handelt sich also bei der Suche nach historischen Erinnerungsorten häufig um konservative Unternehmungen. Progressive, die allein an die Zukunft denken, brauchen meist keine Erinnerungsorte oder glauben dies zumindest. Erst 2010 sind auch für die christlichen Kirchen Erinnerungsorte in einem von einem evangelischen und einem katholischen Theologen (Christoph Markschies und Hubert Wolf) herausgegebenen, allerdings ziemlich willkürlich konzipierten Band zusammengestellt worden. Diese Verspätung ist deshalb erstaunlich, weil sich die christlichen Kirchen fast ausschließlich über ihre Erinnerungskultur legitimieren. Allein schon das Alte und das Neue Testament, durch die sich die christlichen Kirchen mit der jüdischen Tradition zugleich identifizieren und von dieser absetzen, können so interpretiert werden. Jedes Kirchengebäude dient im Grunde als christlicher Erinnerungsort mit einer festgelegten Ausstattung, zu der etwa Altar und Kanzel, Kreuz und Leuchter gehören.
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Auch die konfessionellen Feste im Kirchenjahr mit Weihnachten und Ostern bzw. Karfreitag oder Fronleichnam können als Orte der christlichen Erinnerung angesehen werden. Sogar der mehr oder weniger ausgeprägte historische Personenkult um die katholischen Kirchenväter oder die evangelischen Reformatoren kann so interpretiert werden. Und schließlich sind auch die sogenannten Selig- und Heiligsprechungen in der katholischen Kirche mit ihren merkwürdigen Verfahrensregeln nichts anderes als der Versuch, durch die personelle Erinnerung an große religiöse Vorbilder den Zusammenhalt der Gläubigen zu stärken. Kurzum, die Kirchen des Christentums leben von der Erinnerung an ihre Geschichte und suchen diese durch die Schaffung und Erhaltung von Erinnerungsorten wachzuhalten. Auch der im Trierer Dom aufbewahrte sogenannte Heilige Rock kann als ein solcher kirchlicher Erinnerungsort angesehen werden, sogar als einer, der geographisch genau fassbar ist und nicht nur symbolisch vermittelt wird. Selbstverständlich ist er auch ein Erinnerungsort von RheinlandPfalz, wenn man an seine lange Geschichte vor der Gründung des Landes denkt, aber doch wohl erst in zweiter Linie. Ich will deshalb im Folgenden auch versuchen, seine Bedeutung als Erinnerungsort für die katholische Kirche zu diskutieren, nicht so sehr für die von Rheinland-Pfalz. Dabei geht es mir weniger um den Erinnerungsort als solchen, als vielmehr um die Wallfahrten zu diesem, also die Frage, wie der „Heilige Rock“ zum Erinnerungsort wurde und in welcher Weise er von der katholischen Kirche als solcher genutzt wurde. Dabei ist zum ersten zu untersuchen, wie autonom die Kirche bei ihren Entscheidungen, eine Wallfahrt durchzuführen, jeweils gehandelt hat, zu welchem Zeitpunkt die Wallfahrten angesetzt wurden und wie die Gläubigen dazu motiviert wurden, sich zum „Heiligen Rock“ nach Trier zu begeben. Vorab ist jedoch auf drei Probleme zu verweisen, welche den „Heiligen Rock“ aus wissenschaftlicher Sicht als historischen Erinnerungsort problematisch erscheinen lassen. Das gilt zunächst für die heute eigenartige Bezeichnung „Heiliger Rock“. Sie hat sich im Laufe der Jahrhunderte eingebürgert, ohne dass bisher begriffsgeschichtlich untersucht worden wäre, seit wann dadurch ältere Bezeichnungen abgelöst wurden. Die früher für Männerjacken gebräuchliche Bezeichnung „Rock“ ist für die Trierer Reliquie jedoch eigentlich sehr viel weniger zutreffend als die früher ebenfalls üblichen „Gewand“ oder „Tunika“, die jeweils ein den ganzen Körper einhüllendes Kleidungsstück bezeichnen. Das ist deshalb für den Erinnerungscharakter von Bedeutung, weil die Kleidung, die der historische Jesus bei seinem Kreuzestod getragen haben soll, als „ungenäht“ verehrt wurde, eine Beschaffenheit, welche ein „Rock“ gar nicht haben kann.
Der „Heilige Rock“ in Trier
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Zum anderen kann ein Kleidungsstück eigentlich nicht als „heilig“ angesehen werden, auch wenn der Begriff in der katholischen Kirchenpraxis weit gedehnt worden ist, man denke nur an „Heiliger Vater“, „Heilige Stadt“ oder „Heiliges Jahr“. Es handelt sich beim „Heiligen Rock“ um eine ganz normale Reliquie, der nur als sogenannter Herrenreliquie eine höhere Validität zugeschrieben wird als anderen. Auch als solche kann diese jedoch nach katholischer Lehre kein Gegenstand der Anbetung sein, sie kann vielmehr nur verehrt werden, weil sie auf etwas „Heiliges“ verweist, dieses aber nicht repräsentiert. Aus moderner Sicht scheint schließlich von Bedeutung zu sein, ob der „Heilige Rock“ tatsächlich vom historischen Jesus getragen worden ist, ob er also „echt“ ist oder nicht. Nach katholischem Kirchenrecht ist es jedoch bis heute eigentlich völlig irrelevant, ob und wie „echt“ der „Heilige Rock“ ist. Gemäß Can. 1284 des Kanonischen Rechtes stellt er keine Körperreliquie dar, also eine Reliquie, bei der es sich um die vermeintlich authentischen Gebeine eines Apostels oder Heiligen handelt. Nur bei Jesus, dessen körperliche Gestalt nicht durch Reliquien repräsentiert werden kann, werden schon Splitter vom Kreuz als personale Reliquien anerkannt, die es deshalb auch in unüberschaubarer Menge gibt. Der „Heilige Rock“ wird vielmehr als Tuchreliquie verstanden, also als eine gegenständliche, keine körperliche Reliquie. Auch als solche kann er nur an etwas erinnern, nicht aber etwas darstellen, wobei gleichgültig ist, ob er nun „echt“ ist oder nicht. Wie wir seit den bahnbrechenden Forschungen von Horst Fuhrmann wissen, ist es im hohen Mittelalter Mode geworden, Kirchen, Klöster oder Kathedralen mit möglichst vielen Erinnerungsstücken zu versehen, die man als Reliquien verehren konnte. Zweck der Übung war es in erster Linie, auf diese Weise die religiöse Bedeutung der Aufbewahrungsorte von Reliquien zu erhöhen. Je mehr und je bedeutendere Reliquien eine Kirche oder ein Kloster besaß, desto höher war das öffentliche Ansehen. Vor allem in Italien entwickelte sich ein schwunghafter Handel mit Reliquien aller Art, durch den ganz Europa versorgt wurde. Auch der „Heilige Rock“ von Trier wird irgendwo auf diesem Reliquienmarkt erstanden worden sein, ohne dass wir wissen, wann oder wo. In historischen Quellen taucht er erstmals im 12. Jahrhundert auf. Um seinen religiösen Wert zu erhöhen und die Primatsansprüche des Trierer Bischofs gegenüber konkurrierenden Ansprüchen zu steigern, wurde der Erwerb mit der Legende ausgeschmückt, die Kaiserin Helena, Gemahlin von Kaiser Konstantin, habe das Stück nach Trier gebracht. Dass dabei mehr oder weniger ein Jahrtausend übersprungen wurde, störte im Mittelalter niemanden. Es genügte der kirchlichen Propaganda, auf eine so wertvolle Reliquie zu ver-
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weisen. Die Echtheitsfrage wurde erstmals bei der Wallfahrt von 1844 aufgeworfen, also nicht zufällig in der Zeit des aufkommenden Historismus. Historiker wollten sich seit dieser Zeit nicht mehr mit „glauben“ begnügen, sie wollten es „wissen“. Als Standardwerk der Überlieferungskritik an der Heilig-Rock-Legende hat die quellenkritische Untersuchung der Bonner Geschichtsprofessoren Johann Gildemeister und Heinrich Sybel von 1845 zu gelten, deren provozierender Titel „Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern Heiligen Ungenähten Röcke“ allein schon den Erinnerungscharakter des „Trierer Rockes“ relativierte. Eine neuere historische Untersuchung von Bernhard Schmitt kommt sogar auf 50 Heilige Röcke bzw. Partikel davon, die an den verschiedensten Orten verehrt wurden. Da nicht die Echtheit im modernen Sinn diesen Reliquien ihren Erinnerungswert gab, konnten sie alle ohne weiteres nebeneinander, wenn auch in deutlicher Konkurrenz zueinander, existieren. Neben dem Trierer Rock konnte sich vor allem die in Argenteuil bei Paris aufbewahrte Tunika hoher Anerkennung erfreuen. Wenn es sich nur um vorgebliche Stücke davon handelte, reichte es dagegen meist nicht dazu. Das gilt z.B. für die „Partikel von der ungenähten Tunika des Herrn“, die der Deutschland bereisende päpstliche Legat Kardinal Richard angeblich 1114 dem Kloster der Benediktiner auf dem Jakobsberg bei Mainz geschenkt hat. Wir wissen nicht genau, weshalb diese Reliquie keine höheren Weihen erhalten hat. Jedoch bestand in diesem wie auch in anderen Fällen offenbar die Schwierigkeit darin, dass die Tunika Christi als Symbol der Einheit der Kirche galt. Wenn davon ein Stück abgeschnitten worden sein sollte, wurde damit der Einheitscharakter in Frage gestellt. Auch wenn es für die kirchliche Erinnerungskultur gleichgültig ist, ob der „Heilige Rock“ tatsächlich „echt“ ist, konnte die Trierer Kirchenführung die wissenschaftliche Kritik an der Überlieferungsgeschichte auf die Dauer nicht ignorieren. Bischof Spital gab deshalb vor der Wallfahrt von 1996 eine „wissenschaftliche Auseinandersetzung um die Tunika Christi“ in Auftrag, deren Ergebnis der voluminöse Band „Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi“ (Trier 1996) ist. Nach der Vorstellung des Bischofs sollte dadurch allerdings nicht „mit wissenschaftlicher Genauigkeit“ untersucht werden, ob es „sich wirklich um den Leibrock Christi“ handele, sondern es sollte nur „mit sachlicher Redlichkeit“ zusammengetragen werden, „was zum Gewand selbst, zur Geschichte seiner Verehrung und zu den zurückliegenden Wallfahrten zu sagen“ sei. Die Wissenschaft sollte also nicht die Frage stellen, ob der „Heilige Rock“ als Erinnerungssymbol authentisch ist, sondern nur die Geschichte seiner Verehrung kritisch durchleuchten. Die Echtheitsfrage wurde dadurch bewusst in der Schwebe gehalten.
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Wenn der „Heilige Rock“ nicht „echt“ war, warum konnte er dann zum kirchlichen Erinnerungsort werden? Auszuschließen ist zunächst einmal, dass es fromme Wünsche der Trierer Bevölkerung waren, die im 12. Jahrhundert den Reliquienkult um den Heiligen Rock hervorriefen. Wie die legendäre Wiederentdeckung der Reliquie unter dem Domaltar eindeutig erkennen lässt, war es der kurfürstliche Trierer Bischof, der den Reliquienkult begründete. Es war von Anfang an Erinnerungspolitik „von oben“, die den „Heiligen Rock“ zum religiösen Erinnerungsort machte, nicht das kommunikative Gedächtnis der Gläubigen. Lässt man die mittelalterliche Legendenbildung beiseite, begann die kirchenpolitische Inszenierung des Trierer „Rockes“ im Jahre 1512. Anlässlich des Besuches von Kaiser Maximilian I. auf dem Trierer Reichstag inszenierte der Erzbischof Richard von Greiffenklau am 14. April 1512 im Trierer Dom die „Wiederauffindung“ des „Heiligen Rockes“. Es scheint so, als ob er mit dieser spektakulären Inzenierung den Kaiser beeindrucken wollte, um auf diese Weise seine Unterstützung gegen die aufmüpfige Stadt Trier zu erhalten. Wer eine solch prestigeträchtige Reliquie vorzeigen konnte, erhöhte aber auch sein politisches Prestige als Reichsfürst. Von 1513 bis 1516 wurde die Reliquie dann jährlich einen Monat lang im Dom ausgestellt. Dabei trat noch ein anderer Erinnerungszweck in den Vordergrund. Papst Leo X. gewährte allen Wallfahrern nach Trier am 1. Januar 1515 mit einer Bulle den zeitüblichen Ablass für ihr Sündenkonto. Die Wallfahrt zum „Heiligen Rock“ erhielt damit einen kommerziellen Charakter, der die bischöfliche Erinnerungspolitik in den Hintergrund treten ließ. Kein geringerer als Martin Luther forderte deshalb 1520 dazu auf, die Wallfahrten zum Trierer Rock einzustellen. 1531 fragte er in seiner drastischen Ausdrucksweise: „Was thet allein die newe bescheisserey zu Trier mit Christus rock? Was hat hie der Teufel großen jarmarkt gehalten inn aller welt und so unzeliche falsche wunderzeichen verkauft.“ Es scheint, als ob der Erfolg der reformatorischen Bewegung schließlich auch dem jährlichen Wallfahrtsrhythmus ein Ende bereitet hätte. Von 1524 bis 1552 fand nur noch alle sieben Jahre eine öffentliche Ausstellung des „Heiligen Rockes“ statt. Dann trat, freilich auch aufgrund der unruhigen Zeitläufte, für lange Jahre eine Pause ein. Zu einem periodischen Wallfahrtsrhythmus ist es seitdem nie mehr gekommen, auch wenn häufig angenommen wird, dass die Wallfahrten nach Trier früher ursprünglich mit periodischer Regelmäßigkeit stattgefunden hätten. Zwischen dem 16. und dem 19. Jahrhundert wurde der „Heilige Rock“ nur 1655 einmal für kurze Zeit öffentlich ausgestellt, danach wurde er in einer eigens an den Chor des Trierer Doms angebauten sogenannten Heiltumskapelle verschlossen aufbewahrt., ehe er Ende des 18. Jahrhunderts wegen des drohenden Über-
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greifens der Französischen Revolution an wechselnden Orten in Süddeutschland versteckt wurde. Zu einem kirchenpolitischen Erinnerungsort wurde die Trierer Reliquie deshalb eigentlich erst Anfang des 19. Jahrhunderts. Historischer Ausgangspunkt dafür war die Annexion des linksrheinischen Deutschlands durch Napoleon, durch welche die weltliche Herrschaft der Priesterstaaten des Alten Reiches beseitigt und die bis dahin souveränen geistlichen Reichsfürsten zu Staatsbürgern des französischen Kaiserreiches gemacht wurden. Durch das Konkordat Napoleons mit dem „Heiligen Stuhl“ von 1801 wurden sie gleichzeitig der kirchlichen Jurisdiktion des Papstes unterstellt. An die Stelle der katholischen Bischofskirche des Alten Reiches trat auch im Rheinland eine zentralistische Papstkirche. Nach dem Sturz Napoleons und der Eingliederung des Rheinlandes in den neugeschaffenen Deutschen Bund blieb die doppelte Abhängigkeit des rheinischen Episkopats bestehen. Die Unterwerfung unter den Primat des Papstes wurde im sogenannten Ultramontanismus nicht nur bestätigt, sondern durch die Verkündung des Unfehlbarkeitsdogmas von 1871 auf den Höhepunkt gebracht. Die neuen staatlichen Gewalten im Rheinland, Preußen im Norden, Hessen und Bayern im Süden, pochten auf ihre staatlichen Hoheitsrechte und ließen den katholischen Bischöfen wenig Spielraum zu öffentlicher Entfaltung. Das führte während des 19. Jahrhunderts zu erheblichen Konflikten zwischen Staat und Kirche. Die Massenwallfahrten nach Trier von 1810, 1844 und 1891 müssen in diesem Zusammenhang gesehen werden. Sie sollten jedoch nicht, wie das häufig geschieht, als katholische Machtdemonstrationen gegenüber dem Staat interpretiert werden. Sie fanden nicht in der Zeit krisenhafter Auseinandersetzungen, sondern vielmehr erst nach fundamentalen Konflikten mit dem Staat statt. Die Trierer Bischöfe des 19. Jahrhunderts inszenierten die Wallfahrten jeweils „von oben“, um dem Staat die Beendigung der Konfrontation und die Wiederherstellung der Gemeinsamkeit von Kirche und Staat zu signalisieren. Der Trierer Rock wurde damit zum Symbol der Kooperation, nicht der Konfrontation der katholischen Kirche mit dem Staat. Dafür spricht, dass die drei Wallfahrten des 19. Jahrhunderts nicht in bestimmten kirchlichen Jubiläumsjahren der Trierer Kirchengeschichte oder aufgrund der Ausrufung von „heiligen Jahren“ durch den Papst stattfanden. Bischof Mannay veranstaltete 1810 die erste große Massenwallfahrt nach Trier zweifellos auch aus dem Grund, sich als Franzose in der ihm fremden deutschen Umgebung beliebt zu machen. Wichtiger aber war seine Botschaft, dass die Zeit des revolutionären Umbruchs vorbei sei, welche die Trierer Kirche massiv getroffen hatte. 1844 suchte Bischof
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Arnoldi die sogenannten Kölner Wirren von 1837 – denen, was weitgehend unbekannt ist, 1836 Trierer Wirren vorausgegangen waren, bei denen es ebenfalls um die Besetzung des Bischofsstuhls ging – vergessen zu machen und eine neue Übereinstimmung mit dem konservativen preußischen Staat zu demonstrieren. 1891 schließlich veranstaltete Bischof Korum eine Wallfahrt, nachdem die Jahre des erbitterten „Kulturkampfes“ vorüber waren, welche die Trierer Diözese in Preußen neben der von Posen am härtesten getroffen hatte (über 700 Pfarrstellen waren am Ende unbesetzt). Auch im 20. Jahrhundert ist der Zusammenhang von kirchlichen Fundamentalkrisen mit der Veranstaltung von Wallfahrten nach Trier durchaus noch zu erkennen, wenngleich mit sich abschwächender Tendenz. Anlass für die Wallfahrt von 1933 war zwar das von Papst Pius XI. für 1933 ausgerufene „Heilige Jahr“, das an den – allerdings willkürlich berechneten – Kreuzestod von Jesus vor 1900 Jahren erinnern sollte. In Trier war man aber besonders begeistert über die päpstliche Anregung, weil man darauf mit einer Wallfahrt reagieren konnte, welche die katholische Kirche mit der lange Zeit ungeliebten Weimarer Republik versöhnen konnte. In der hagiographischen Schrift des Trierer Domherrn Nikolaus Irsch von 1934 hieß es dazu: „Wie ein Echo aus allen Himmelsrichtungen her antworteten die Stimmen der Christenheit. Das lauteste Echo kam aus einer stillen deutschen Stadt, aus Trier.“ In der Ankündigung der Ausstellung durch den Bischof Bornewasser vom 30. Januar 1933 (!) war dann bezeichnenderweise davon die Rede, dass die Wallfahrt „zum Troste der Gläubigen in notvoller Zeit“ veranstaltet werden solle. Die rasche Entfaltung der Diktatur Hitlers änderte nichts an dieser Intention, obwohl sie den Ablauf der Wallfahrt, wie ich noch zeigen werde, erheblich beeinflussen sollte. Ganz deutlich lässt sich auch die Wallfahrt von 1959 als Versuch der Katastrophenbewältigung interpretieren. Nach den Konflikten und Verfolgungen in der NS-Zeit wollte Bischof Wehr 1959 die Wiedererstarkung der katholischen Kirche und ihre Zuwendung zur Demokratie der Bundesrepublik Deutschland demonstrieren. In einer späteren Darstellung wurde das folgendermaßen kommentiert: „Ohne Zweifel war die katholische Kirche in der Bundesrepublik wieder „wer“, und zwar eine große und starke, gesellschaftlich relevante Gruppierung, die das Risiko einer breit angelegten religiösen Wallfahrt zu der Herrenreliquie im Trierer Dom getrost auf sich nehmen konnte. Ob eine solche Ausstellung opportun, sinnvoll, notwendig, nützlich, angemessen war – solche Fragen sind zumindest öffentlich nicht gestellt worden.“ Dem Bischof sei es darum gegangen, „ein religiöses Fanal“ zu setzen.
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Die seitdem veranstalteten Wallfahrten zum „Heiligen Rock“ lassen sich nicht mehr unbedingt in dieser Weise interpretieren. Den Trierer Bischöfen ging es offensichtlich nur noch um die kirchliche Mobilisierung von Gläubigen in einer Zeit abnehmender Kirchlichkeit. Der „Heilige Rock“ wurde, ähnlich wie Kirchentage oder Papstbesuche, zu dem vorwiegend seelsorgerlichen Zweck benutzt, Bevölkerungsgruppen anzusprechen, die sonst von der Kirche nicht mehr zu erreichen waren. Als Anlass wurden jeweils Ereignisse der Trierer Kirchengeschichte gewählt, die mit dem Trierer Rock zusammenhingen. Der Bischof Spital glaubte so 1996, an den „achthundertsten Jahrestag der Errichtung des Ostchors unserer Domkirche, in dessen Altar am 1. Mai 1196 der heilige Rock eingemauert worden“ sei, erinnern zu können. Das war nicht nur an den Haaren herbeigezogen, sondern auch historisch fragwürdig. Anders als zuvor sollten damit jedoch nicht mehr politisch bedingte Umbrüche vergessen gemacht werden. Bischof Spital ging es vielmehr um die Zukunft, er wollte den „Christen mit Zuversicht den Weg in das dritte christliche Jahrtausend“ weisen. Als „Symbol“ für „Christus und die Kirche“ sollte der Heilige Rock dabei als Wegweiser dienen. Aus dem Erinnerungsort wurde auf diese Weise gewissermaßen ein Zukunftsort. Schließlich knüpfte auch Bischof Ackermann 2012 wieder an ein – dieses Mal besser überliefertes – historisches Datum an, nämlich die erste Ausstellung des „Heiligen Rockes“ 500 Jahre zuvor im Jahre 1512. Das war deshalb bemerkenswert, weil die Erinnerung der Trierpilger damit auf die Kirchenspaltung der Reformationszeit gelenkt wurde. Das Motto der bisher letzten Wallfahrt hieß denn auch „Und führe zusammen, was getrennt ist“. Das waren in der langen Trierer Wallfahrtsgeschichte ganz neue Töne, die dazu führten, dass sich, fast schon sensationell, auch die evangelische Landeskirche des Rheinlandes offiziell an der Wallfahrt beteiligte. Wenn die Zeit der Kirchentrennung der Anlass für die Wallfahrt war, wurde diese damit durch die gemeinsame Erinnerung an den Tod von Jesus Christus symbolisch aufgehoben. II. Dass die Wallfahrten zum „Heiligen Rock“ seit dem 19. Jahrhundert als Friedensangebote der Trierer Kirche an den Staat interpretiert werden müssen, ergibt sich auch daraus, dass sie ohne behördliche Genehmigung gar nicht hätten stattfinden können. Den Wallfahrten gingen stets administrative und politische Aushandlungsprozesse voraus. Bischof Mannay musste 1810 die von ihm geplante Wallfahrt schon deshalb behördlich genehmigen lassen, weil eine religiöse Veranstaltung
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dieser Größenordnung eigentlich den französischen Bestimmungen über die religiöse Kultusausübung widersprach. Die Wallfahrt wurde denn auch vom Präfekten des Saar-Departements ausdrücklich genehmigt, was freilich mehr oder weniger eine Formsache war, da Mannay das Vertrauen Napoleons besaß. Mannay konnte daraufhin den „Heiligen Rock“ aus Augsburg, wo er zuletzt versteckt worden war, zurückholen lassen. Die Ankunft der Reliquie wurde am 8. Juli 1810 in Trier bezeichnenderweise gemeinsam von kirchlichen und weltlichen Amtsträgern unter Glockengeläut begrüßt. Für den 9.-17. September verkündete Mannay auch erst bei dieser Gelegenheit die Ausstellung des „Heiligen Rockes“ im Trierer Dom. Nach dem Ende der Wallfahrt beeilte er sich, der Regierung zu versichern, dass alles in „Ruhe und Ordnung“ abgelaufen sei. Der Präfekt des Saar-Departements schloss sich dieser Einschätzung an, wobei er bezeichnenderweise dieselbe Formel benutzte. “Ruhe und Ordnung“ sollte denn auch die Sprachregelung sein, mit der die Bischöfe Arnoldi 1844 und Korum 1891 sich mit den staatlichen Behörden über die Zulassung einer Wallfahrt verständigten. Lassen Sie mich das am Beispiel Bischof Arnoldis erläutern. Schon in seinem Anschreiben an den Oberpräsidenten der preußischen Rheinprovinz vom 19. April 1844, in dem er seine Wallfahrtspläne vortrug, betonte er die staatstreue Ausrichtung des Unternehmens: „Die religiöse Stimmung“, schrieb er, „welche in den Wallfahrten herrscht, ist die sicherste Bürgschaft gegen alle Unordnung.“ Um dieser Versicherung Nachdruck zu verleihen, wies er darauf hin, dass bei der Trierer Wallfahrt von 1810 „auch nicht die geringste Unordnung vorgefallen“ sei und dass die alle sieben Jahre stattfindende Aachener Wallfahrt „stets ohne mindeste Störung der öffentlichen Ruhe und Sicherheit“ vor sich gehe. Schließlich bat er den Oberpräsidenten um „gefällige Mitwirkung“, um alles zu tun, „was irgend zur Fernhaltung von Unordnung dienen könnte“. Nicht weniger als viermal verwies er damit in dem relativ kurzen Schreiben darauf, dass die Wallfahrt in „Ruhe und Ordnung“ ablaufen solle. Wie die offiziöse bischöfliche Auswertungsschrift der Wallfahrt des Trierer Domherrn Jakob Marx über „Die Ausstellung des h. Rockes in der Domkirche zu Trier im Herbste des Jahres 1844“ (Trier 1845) erkennen lässt, kann das nicht als bloß taktisches Manöver angesehen werden. Der geordnete Verlauf der Wallfahrt war vielmehr auch das genuine Anliegen des Bischofs Arnoldi. Als zentral gelenkte Wallfahrt sollte sich die Heilig-Rock-Wallfahrt von den von der Kirche nicht kontrollierten örtlichen Prozessionen von Laien, die für das 18. Jahrhundert charakteristisch waren, unterscheiden. Es handelte sich bei der Formel „Ruhe und Ordnung“ um eine konservative Parole, die gegen die revolutionäre Trias von „Freiheit, Gleichheit,
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Brüderlichkeit“ gesetzt wurde. Indem sie diese aufnahmen, verständigten sich die Trierer Bischöfe jeweils mit den staatlichen Behörden darüber, dass sie die Heranführung der Pilgermassen nicht zur Demonstration staatsfeindlicher Gesinnung, sondern allein zu religiöser Erinnerungspolitik veranlassen würden. Entgegen mancher späterer Annahme unterstellten sie die Wallfahrt damit bewusst der Aufsicht des französischen bzw. des preußischen Staates. Der Staat anerkannte andererseits die Massenwallfahrt nach Trier als genuin religiöses Ereignis. Die Bischöfe verpflichteten sich, die Wallfahrten in geordneten Bahnen abzuwickeln, das verschaffte ihnen den Freiraum für ihre religiöse Erinnerungspolitik. Im 20. Jahrhundert erhielt die Wallfahrt nach Trier eine neue Dimension. Bischof Bornewasser bekam unter den rechtsstaatlichen Bedingungen der Weimarer Republik von der preußischen Regierung ohne weiteres die Genehmigung für eine Wallfahrt zum „Heiligen Rock“. Dass sie im Herbst 1933 unter den Bedingungen der NS-Herrschaft stattfinden sollte, war selbstverständlich nicht abzusehen, führte jedoch auch nicht zum Verbot durch die NS-Regierung. Im Gegenteil: Hochgestellte Politiker des sich etablierenden NS-Regimes waren bei der Eröffnung der Wallfahrt demonstrativ präsent. Wenn der Staat im 19. Jahrhundert zwar auf seine polizeilichen Exekutivrechte gepocht, den Wallfahrten jedoch strikt ihren religiösen Charakter gelassen hatte, verhielt sich das 1933 umgekehrt. Das NS-Regime legte der Wallfahrt polizeilich keine Steine in den Weg, suchte sie aber kirchenpolitisch zu vereinnahmen. Bischof Bornewasser hätte sich, wenn er denn gewollt hätte, gegen diese unerwünschte Umarmungsstrategie kaum wehren können, er stand freilich dem neuen Regime anfangs auch durchaus positiv gegenüber, so dass er die Präsenz der Politiker kaum als störend empfinden konnte. Die Wallfahrt wurde außerdem am 23. Juli nur drei Tage nach der Unterzeichnung des Konkordates zwischen dem Deutschen Reich und dem Vatikan eröffnet. Es herrschte deshalb im katholischen Deutschland eine geradezu euphorische Stimmung, die auch das Trierer Wallfahrtsgeschehen überlagerte. Mit dem Koblenzer Oberpräsidenten von Lüninck, dem Staatssekretär im Reichsinnenministerium SS-Gruppenführer Ludwig Grauert und dem Gauleiter des nationalsozialistischen Gaus Koblenz-Trier Gustav Simon nahmen drei höhere NS-Funktionäre an der Eröffnungsveranstaltung der Wallfahrt teil. Noch wichtiger war, dass auch Vizekanzler Franz von Papen, aus Rom kommend, nach Trier kam. Der ehemalige Reichskanzler repräsentierte bekanntlich in der „nationalen“ Reichsregierung den politischen Katholizismus. Bornewasser hofierte ihn bezeichnenderweise in besonderem Maße, sich damit von den anwesenden NS-Funktionären, nicht aber von der Regierung absetzend.
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Papen bezeichnete es als „glückliche Fügung der Vorsehung“, dass das Reichskonkordat drei Tage zuvor unterzeichnet worden sei. Er sah das als ein Zeichen dafür an, dass auf der „gemeinsamen Grundlage des christlichen Glaubens“ ein „Ausgleich der politischen Interessen“ erfolgt sei. Und er versprach in seiner notorischen politischen Kurzsichtigkeit, dass die Reichsregierung „unter der Führung des Kanzlers Adolf Hitler“ die Ausgleichspolitik zwischen Staat und Kirche weiterführen werde. Hitler wurde durch Papen damit geradezu zum Schirmherr der Wallfahrt erhoben. Es passte dazu, dass SA-Leute in Uniform im Umfeld des Trierer Doms und bei den Prozessionen der Pilger durch die Stadt Ordnungsdienste leisteten, wie auf zeitgenössischen Fotos und Filmen dokumentiert wird. Die politische Vereinnahmung durch das NS-Regime trat damit während der Wallfahrt auch optisch hervor. Von kirchlicher Eigenständigkeit und genuin religiöser Erinnerungspolitik konnte unter diesen Umständen kaum noch die Rede sein. Fast scheint es so, als ob sich katholischer und nationalsozialistischer Erinnerungskult in Trier vereinigt hätten. Ich zitiere aus der mit dem Imprimatur des Bischofs versehenen Auswertungsschrift „Die Wallfahrt zum Hl.Rock in Trier im Hl. Jahr 1933“, welche der Domkapitular Nikolaus Irsch 1934 veröffentlichte: „Da nun ein wirkliches Berühren für die große Menge der Pilger nicht gestattet werden kann, so sucht und findet jenes Streben Ersatz durch eine indirekte Berührung; Andachtsgegenstände werden an den Hl. Rock angerührt ... Eine Sitte, die im Leben der Vorzeit zahlreiche Anklänge hat und in ganz neuzeitlicher Symbolik auf anderem Gebiete wiederauflebt. Den Fahnen der SS- und SA-Formationen wird die Weihe dadurch gegeben, dass sie an andere Banner angerührt werden, welch letztere wieder die Blutfahne vom 9. November 1923 berührt haben.“ Es kann kein Zweifel daran bestehen, dass die Trierer Wallfahrt von 1933 als ein Tiefpunkt religiöser Erinnerungspolitik angesehen werden muss, der es nahegelegt hätte, sie künftig nicht mehr zu veranstalten. Vierzehn Jahre nach dem Ende des von Hitler angezettelten Krieges fand jedoch 1959 in Trier wieder eine Wallfahrt statt. Man kann sie als Antwort auf die misslungene Wallfahrt von 1933 verstehen. Im wiedergewonnenen demokratischen Geist der Bundesrepublik sollte die Wallfahrt von 1959 durch den Rückgriff auf die Geschichte zur religiösen Sammlung des deutschen Katholizismus führen. Bischof Wehr bemühte sich in seiner Silvesterpredigt von 1957, in der er für 1959 eine Wallfahrt ankündigte, zwar nachdrücklich darum, deren ausschließlich religiösen Zweck hervorzuheben. In seiner Schlussansprache betonte er jedoch nur noch, dass der Ablauf der Wallfahrt „durchaus den Absichten und Wünschen“ der Kirche entsprochen habe, „durchaus“, aber nicht „vollkommen“ oder „gänzlich“.
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Tatsächlich war der Bischof bei der Eröffnung der Wallfahrt am 19. Juli 1959 von hochrangigen Politikern förmlich überrannt worden. Nicht weniger als 59 Politiker, darunter Bundesminister, luxemburgische und belgische Minister, Landesminister aus Rheinland-Pfalz und dem Saarland gaben sich in Trier ein Stelldichein. Später kamen auch noch Außenminister von Brentano und zahlreiche Botschafter aus katholischen Ländern nach Trier. Nur Bundeskanzler Adenauer war klug genug, sich dem politischen Run zum Heiligen Rock nicht anzuschließen. Die keineswegs wenigen geistlichen Würdenträger (u.a. Kardinal Frings aus Köln, Bischof Kempf aus Limburg und Bischof Lommel aus Luxemburg) gingen in der Menge der Politiker unter. Auch wenn wir natürlich die persönlichen Motivationen der politischen Trierbesucher nicht im Einzelnen kennen, dürfte feststehen, dass ihr massierter Auftritt die Intentionen des Bischofs, die Gläubigen nach der Katastrophe des Zweiten Weltkriegs zum Nachdenken zu bringen, weitgehend scheitern ließ. In dem historisch verständlichen Bemühen, die nationalsozialistische Vereinnahmung der Wallfahrt von 1933 durch ihre politische Präsenz vergessen zum machen, erreichten die katholischen Politiker daher eher das Gegenteil. III. Damit stellt sich abschließend die Frage, ob die seit dem frühen 19. Jahrhundert erkennbare kirchenpolitische Strategie der Trierer Bischöfe, den „Heiligen Rock“ zum religiösen Erinnerungsort der Gläubigen zu machen, überhaupt gelungen ist. Die Zahl der Wallfahrer, die nach Trier pilgerten, kann dabei nicht allein ausschlaggebend sein, obwohl sie durchaus interessante Hinweise gibt. Nur 1844 suchten die Wallfahrtsstrategen nachträglich damit Propaganda zu machen, dass sie behaupteten, es sei eine Million Pilger nach Trier gekommen. Diese Zahl hat sich in der kollektiven Erinnerung festgesetzt, obwohl von der historischen Forschung inzwischen nachgewiesen werden konnte, dass es nur knapp die Hälfte war. 1891 waren es mit etwa 2 Millionen schon deutlich mehr Pilger, der zahlenmäßige Höhepunkt wurde wohl jedoch ausgerechnet 1933 erreicht. Bei der Wallfahrt von 1959 blieb die Zahl der Pilger dagegen weit hinter den Erwartungen der Wallfahrtsstrategen zurück, auch wenn der Zustrom der Politiker seinen Höhepunkt erreichte. Zu berücksichtigen ist jedoch, dass das Pilgerverhalten sich vom 19. zum 20. Jahrhundert stark verändert hat. Nur 1810 und 1844 handelte es sich um reine Fußwallfahrten, bei denen die Pilger im wesentlichen auch nur aus der Trierer Diözese und den Nachbarbistümern heranwanderten. Seit 1891 konnte Trier jedoch mit der Eisenbahn erreicht werden, bei den
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Wallfahrten von 1996 und 2012 ist schließlich zu berücksichtigen, dass es in Trier inzwischen von Koblenz, Landau, Saarbrücken, Köln und Luxemburg her fast durchgehende Autobahnanschlüsse gab, auf denen auch die meisten Pilger im Bus oder im eigenen Auto angereist sind. Unabhängig von der sich verändernden Mobilität der Pilger war ihr Zustrom von der kirchlichen Werbung und der Propaganda in den Medien abhängig, die wiederum nur jeweils im historischen Kontext interpretiert werden können. Waren die Wallfahrten von 1844 und 1891 noch spektakuläre Ereignisse, welche jeweils zu einer ganzen Flut von Broschüren und Zeitungsberichten führten, in denen über ihr Pro und Kontra gestritten wurde, so fand die Wallfahrt von 1933 schon unter den Zensurbedingungen des „Dritten Reiches“ statt. 1959 wurde der „Heilige Rock“ im Trierer Dom zwar von ungewöhnlich vielen katholischen Politikern frequentiert, unter denen jedoch Konrad Adenauer, der genau in diesem Jahr seinen größten Triumph bei Bundestagswahlen erzielte, fehlte. 1996 und 2012 schließlich standen die Wallfahrten ganz im Zeichen der katholischen Eventkulturen, wie sie Kirchentage, Papstbesuche oder die öffentliche Verkündung von Heiligsprechungen darstellen. Den Wallfahrten zum „Heiligen Rock“ fehlte damit das Alleinstellungsmerkmal, das zuvor die Gläubigen der katholischen Kirche besonders mobilisiert hatte. Gleichwohl ist zu fragen, wie es den Trierer Bischöfen gelungen ist, den „Heiligen Rock“ zu einem herausgehobenen religiösen Erinnerungsort zu machen und mit diesem zwei Jahrhunderte lang bei sieben Wallfahrten gezielt Pilger anzuziehen. Die diffuse Idee „kollektiver Erinnerung“ soll damit an diesem Beispiel einmal historisch verifiziert werden. Wallfahrten wurden seit dem späten Mittelalter in erster Linie von religiösen Bruderschaften getragen. d.h. von Korporationen kirchlicher Laien, nicht von der Kirche selbst und ihrem Priesterpersonal. Ursprünglich war die Kirchenaufsicht über das korporative Wallfahrtswesen dadurch gesichert, dass nur solche Wallfahrten mit einem kirchlichen Segen rechnen konnten, an denen Kleriker zumindest beteiligt waren, wenn sie schon nicht die Oberaufsicht hatten. Die Wallfahrtsbruderschaften neigten jedoch zur Entfaltung einer eigenen kultischen Dynamik. Im 18. Jahrhundert nahm das Wallfahren im Rheinland, aber auch anderswo, so zu, dass nahezu jedes katholische Dorf seine eigenen Nahwallfahrten zu sogenannten Gnadenkapellen, vermeintlichen Wunderorten oder zu als heilig angesehenen Wasserquellen hatte. Die aufgeklärten katholischen Kirchenfürsten des 18. Jahrhunderts standen dem Wallfahren dagegen aus theologischen, aber vor allem auch herrschaftspolitischen Gründen ablehnend gegenüber. Das diffuse Pilgerwesen war ihnen suspekt, weil sie dies als Unbotmäßigkeit des „gemeinen
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Mannes“ verstanden. Der letzte Trierer Kurfürst, Bischof Clemens Wenzeslaus, suchte deshalb bezeichnenderweise der ausufernden religiösen Bewegung an der Basis durch harte Verbote Herr zu werden. Seine Anordnungen sollten nicht nur die jahrmarkthafte Ausgestaltung der Wallfahrten eindämmen, sie richteten sich vielmehr vor allem gegen die unkontrollierte Volksbewegung als solche. Die landesfürstlichen Maßnahmen gingen so weit, dass größere Wallfahrtsorte, wie auch und gerade die Stadt Trier mit ihren zahlreichen Reliquien, durch die Wallfahrtsverbote wirtschaftlich geschädigt wurden. Clemens Wenzeslaus musste deshalb 1790 dem Magistrat der Stadt nachgeben und der Rückführung des in der Revolutionszeit ausgelagerten „Heiligen Rockes“ zustimmen. Eine öffentliche Ausstellung kam allerdings infolge der weiteren Revolutionsereignisse nicht zustande. Die von Bischof Mannay 1810 in Trier organisierte Wallfahrt zum „Heiligen Rock“ hatte einen völlig anderen Charakter. Im Unterschied zu allen vorherigen Ausstellungen der Trierer Domreliquie handelte es sich um eine „Wallfahrt von oben“ , die zentral gelenkt wurde und straff organisiert war. Die Pilger durften nicht einzeln nach Trier kommen, sich schon gar nicht spontan zur Wallfahrt entschließen, sie hatten vielmehr in von der Wallfahrtsleitung genau ausgearbeiteten Prozessionsplänen jeweils an einem bestimmten Tag in kollektiver Gemeinschaft mit anderen Pilgern nach Trier zu kommen. In Trier angekommen, mussten die Pilgerkollektive in einer der städtischen Kirchen warten, bis sie an die Reihe kamen, in die Domkirche eingelassen zu werden. Die französische Gendarmerie sorgte dafür, dass die Pilgerströme sich in der Stadt nicht überkreuzten und die öffentliche Ordnung aufrechterhalten wurde. Diese zentralistische Organisation wurde von Mannay nicht nur aus logistischen Gründen eingeführt, dahinter stand vielmehr die Absicht, die der kirchlichen Lenkung weitgehend entwöhnten Gläubigen über die Verehrung des „Heiligen Rockes“ zu einem einheitlichen katholischen Kirchenbewusstsein zu bringen. Der Erinnerungskult erhielt dadurch einen im Sinne der Kirche pastoralen Sinn. Eigens für die Wallfahrt verfasste Gebete und fromme Lieder, die während der Wallfahrt von allen Dorfgruppen gesungen wurden, ließen dies besonders erkennen. Bischof Arnoldi übernahm 1844 nicht nur Mannays Organisationsprinzip, sondern erweiterte dies über die Trierer Diözese hinaus. Die Zahl der organisierten Wallfahrer wurde dadurch auf mindestens 500.000 gesteigert, eine für das 19. Jahrhundert einzigartige Zahl, zumal wenn man bedenkt, dass diese Menge von Pilgern innerhalb von nur 50 Tagen in eine Kleinstadt von knapp 25.000 Einwohnern gekommen ist. 1891 wiederholte sich das religiöse Massenspektakel unter der Leitung von Bischof
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Korum nach demselben Schema. Wichtiger als die bloße Zahl der Pilger war freilich die von Mannay begonnene und von Arnoldi und Korum fortgesetzte Unterordnung der örtlichen Pilgergruppen unter geistliche Führung. Diese zeigte, dass im Zuge der institutionellen Erneuerung der katholischen Kirche die Priesterschaft im 19. Jahrhundert zwar dem disziplinierenden Zugriff der Bischöfe unterworfen, ihr aber die Vormundschaft gegenüber den Laien zugebilligt worden war. Dieselben Priester, die sich durch die Bischöfe von oben gegängelt fühlen mussten, konnten im Laufe des 19. Jahrhunderts in ihren Pfarreien, in katholischen Vereinen, Kongregationen und neu entstehenden Sodalitäten gegenüber den Laien ihren klerikalen Führungsanspruch durchsetzen. Das galt nun in besonderer Weise auch für die Großwallfahrten zum „Heiligen Rock“, welche die Trierer Bischöfe ohne die Basisarbeit der Pfarrgeistlichen überhaupt nicht hätten steuern können. Es waren die Priester, welche die wallfahrenden Gruppen in religiöse Aufbruchsstimmung versetzten und den „Heiligen Rock“ auf diese Weise auf breiter Basis zu einem kirchlichen Erinnerungsort machten, zu dem die Gläubigen strömten. Im 20. Jahrhundert war es mit den pilgernden Ortsgruppen vorbei, da fast alle Pilger ohne geistliche Führung auf eigene Initiative nach Trier anreisen konnten. An die Stelle des Ortsprinzips trat erstmals das Berufsprinzip: Es gab jetzt Wallfahrtstage für die Bauern, die Arbeiter, die Soldaten, das Landvolk, die Ärzte, usw. Die Trierer Wallfahrtsstrategen hofften, auf diese Weise über die professionellen Gemeinsamkeiten religiöse Gemeinschaft herstellen zu können. Sie bedienten sich dabei des katholischen Verbandswesens, über dessen Kanäle sie weit über die Trierer Diözese hinaus Wallfahrtswillige erreichten. 2012 spielte dann aber auch schon die Werbung im Internet eine wichtige Rolle. So wie Bischof Korum sich bei der Wallfahrt von 1891 zur Beleuchtung des im Dom ausgestellten „Heiligen Rockes“ spektakulär elektrischer Beleuchtung bediente, wusste Bischof Ackermann 2012 mit dem Internet auch wieder modernste Technik zu nutzen. Religiöse Erinnerungskultur zu schaffen, bedeutete in Trier nicht, sich aus der Moderne zurückzuziehen, im Gegenteil: Je moderner die Mittel waren, mit denen man auf den „Heiligen Rock“ verweisen konnte, desto glaubwürdiger schien der Mythos zu sein, der damit evoziert werden sollte. Gleichwohl ist offensichtlich, dass der katholische Kirchenaufbruch, den die Wallfahrten des 19. Jahrhunderts zweifellos bewirkt haben, im 20. Jahrhundert letzten Endes ausgeblieben ist. Es lag nicht nur an der politischen Überformung, durch welche die Wallfahrten von 1933 und 1959 aus völlig gegensätzlichen Gründen charakterisiert wurden, dass die erhoffte religiöse Aufbruchsstimmung ausblieb. Sehr viel wichtiger war zweifel-
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los, dass der Einfluss der Priester auf die Pilger im 20. Jahrhundert zurückging. Hatten sie im 19. Jahrhundert die Gläubigen in ihren Pfarreien sammeln und auf den tagelangen Fußmärschen nach Trier begleiten können, so beschränkten sich ihre Einflussmöglichkeiten im 20. Jahrhundert letzten Endes auf die Prozessionswege durch die Stadt und auf die vorbereitenden Gottesdienste in den Stadtkirchen Triers. Die religiöse Ergriffenheit bei der Berührung des „Heiligen Rockes“, die von den Pilgern des 19. Jahrhunderts vielfach überliefert ist, scheint denen des 20. Jahrhunderts weitgehend abhanden gekommen zu sein. Wenn man die Pilger 1996 oder 2012 beobachtete, wenn sie im Trierer Dom nach langem Warten in der Schlange endlich am „Heiligen Rock“ angekommen waren, konnte man nur allgemeine Ratlosigkeit, ja Verlegenheit feststellen. Man bekreuzigte sich, verneigte sich oder sprach ein Gebet, wusste aber mangels entsprechender Vorbereitung eigentlich nicht, wie man sich verhalten sollte. Da der „Heilige Rock“ aus konservatorischen Gründen unter Glas geborgen war, konnte man ihn auch nicht mehr wie bei den Wallfahrten des 19. Jahrhunderts berühren, womit ein wesentlicher Teil der emotionalen Ergriffenheit verloren ging, mit der man sich der Reliquie früher genähert hatte. Wenn man den Blick über die Trierer Wallfahrten hinauslenkt, wird man aber auch die zeitgenössische Eventkultur als eine Ursache für den ausbleibenden religiösen Effekt ansehen müssen. Für viele Besucher, so ist zu erkennen, führte die Begegnung mit dem „Heiligen Rock“ nicht zu einem religiösen Aufbruch, sondern sie entsprach eher einem touristischen Gemeinschaftserlebnis unter vielen anderen. Die massenhafte Teilnahme an den Wallfahrten zum „Heiligen Rock“ konnte im ausgehenden zwanzigsten Jahrhundert jedenfalls nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Zahl der kirchentreuen Gläubigen dadurch nicht erhöht wurde, sondern weiter kontinuierlich schrumpfte. Ob der „Heilige Rock“ in Trier künftig noch als religiöser Erinnerungsort wirksam sein kann, dürfte deshalb offen sein.
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Quellen Beissel, Stephan: Geschichte des Heiligen Rockes. Verkürzte Ausgabe, Trier 1891. Gildemeister, J(ohann)/Sybel, H(einrich) von: Der Heilige Rock zu Trier und die zwanzig andern Heiligen Ungenähten Röcke. Eine historische Untersuchung, Düsseldorf 1845. Heil(ig)-Rock-Album. Eine Zusammenstellung der wichtigsten Aktenstücke über die Ausstellung des hl. Rockes in Trier, Leipzig 1844. Irsch, Nikolaus: Die Wallfahrt zum Hl. Rock im Dome zu Trier 1933. Erinnerungsblätter der Wallfahrtsleitung für die Pilger, Trier 1934. Marx, J(akob): Die Ausstellung des h(eiligen) Rockes in der Domkirche zu Trier im Herbste des Jahres1844, Trier 1845. Willems, Christoph: Der hl. Rock zu Trier, Trier 1891. Zschaebitz, Gerhard: Der heilige Rock von Trier, Leipzig 1959.
Literatur Aretz, Erich/Embach, Michael/Persch, Martin/Ronig, Franz (Hg.): Der Heilige Rock zu Trier. Studien zur Geschichte und Verehrung der Tunika Christi, Trier 1996. Krämer, Helmut: Tunica Domini. Eine Literaturdokumentation zur Geschichte der Trierer Heilig-Rock-Verehrung, Trier 1991. Schieder, Wolfgang: Religion und Revolution. Die Trierer Wallfahrt von 1844, Vierow bei Greifswald 1996. Zwischen Andacht und Andenken. Kleinodien religiöser Kunst und Wallfahrtsandenken aus Trierer Sammlungen, Trier 1992.
Peter Krawietz
Anna Seghers und Carl Zuckmayer in der Erinnerung der Mainzer Es wird niemanden in großes Erstaunen versetzen, wenn ich diesen Beitrag einleite mit der Feststellung, dass trotz gleicher oder zumindest ähnlicher Schicksale beziehungsweise Schicksalsschläge – wie zum Beispiel Opfer des nationalsozialistischen Rassismus, Berufsverbot, Entehrung, Exil und Heimatverlust – Anna Seghers und Carl Zuckmayer sehr unterschiedliche Naturen und Persönlichkeiten sind. Und ich will versuchen darzustellen, wie und warum sie unterschiedliche Behandlung, Bewertung und Zuneigung oder Ablehnung in ihrer Heimatregion in und um Mainz herum erfahren haben. Dabei ist es auch wichtig zu erwähnen, dass die Einstellung und die Empfindungen der Leute gegenüber Zuckmayer, vor allem aber gegenüber Anna Seghers nicht durchgehend gleich gewesen sind, sondern gewissen Wandlungen unterlagen. Euphorie bzw. skeptische Ablehnung kommen unterschiedlich stark zum Ausdruck, nicht nur aufgrund unterschiedlicher Ideologie und politischer Gesinnung innerhalb des Publikums, sondern auch im Bezug auf das jeweilige Jahrzehnt, das man näher betrachtet und in dem sich Menschen zu den beiden äußerten. Zunächst also ein Blick auf die jeweilige Schriftstellerpersönlichkeit. Was haben wir Mainzer in Erinnerung? Oder sollte man besser fragen: Was sollten wir in Erinnerung behalten? Ich beginne mit Carl Zuckmayer: „Er konnte trinken, ja saufen, ja besoffen sein, ohne je einen Zug vom Säufer, vom Verfallenen, vom Abhängigen zu bekommen. Er konnte sich grenzenlos verlieben, ohne hörig zu werden, und sein mächtiger Appetit nach allem Lebendigen, Irdischen, Verbrennlichen und Vergänglichen, auch nach Erfolg in jedem Sinne und nach echtem Genuss, ging nie so weit, dass er sich überfraß.“ Diese Charakterisierung ist nicht von irgendjemandem auf Zuckmayer gemünzt, sondern Zuckmayer sprach so in einer Rede über seinen Freund Carlo Mierendorff, den Widerstandskämpfer, den eine britische Fliegerbombe getötet hatte. Der Zuckmayer-Experte Richard Albrecht allerdings vermutet wohl mit Recht, dass man diese Zeilen als „idealistisch gezeichnetes Selbstportrait“ verstehen kann. Mancher erkennt darin auch den Fliegergeneral Ernst Udet, der auf der Bühne als des „Teufels General“ literarische Gestalt annimmt. Dazu passt denn auch fast klischeehaft das
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Bild vom trinkfesten Naturburschen Zuckmayer, der den „Fröhlichen Weinberg“ geschrieben hat. Erwin Rotermund hat in dem 2012 erschienen Buch „Carl Zuckmayer – Vitalist, kritischer Humanist, gesellschaftlicher Repräsentant“ Zuckmayers „Weg vom Vitalismus zum Humanismus“ beschrieben und nimmt die Formulierung des Zuckmayer-Biographen Albrecht Joseph von der „bisweilen orgiastischen, ja dionysischen Naturliebe“ auf. Wenige Leute kennen wahrscheinlich den Jugendlyrik schreibenden, von Carl Zuckmayer in den 1930er Jahren in Weltschmerz und MelanHenndorf im Salzburger Land cholie gezeichneten Zuckmayer. Wer die frühen Erzählungen der 1920er Jahre gelesen hat, z.B. die „Geschichte von einer Geburt“ oder „Die Geschichte von einer Entenjagd“ oder „Die Geschichte eines Bauern aus dem Taunus“ oder „Die Geschichte vom Tümpel“ und die vom „Engele von Loewen“, der weiß, dass man Zuckmayer völlig verkennt, wenn man nur den vitalen Draufgänger in den Fokus nimmt und vergisst, wie sehr die genaue Beobachtung der Natur und das Erleben des Ersten Weltkriegs den noch nicht Dreißigjährigen geprägt haben. Und vor allem gibt es den ehemaligen Schüler des Humanistischen Gymnasiums, der in seiner Festrede anlässlich des vierhundertjährigen Bestehens des Gymnasium Moguntinum am 27. Mai 1962 den „Geist des Humanismus als die Grundlage unserer Wertsetzungen“ beschreibt. Das war sicherlich eine Sternstunde für das Rabanus-Maurus-Gymnasium, es sollte aber uns allen, die den Wert gründlicher Bildung zu schätzen wissen, wie ein Vermächtnis in Erinnerung bleiben. Marcel Reich-Ranicki sagte in seiner Laudatio auf Hans Sahl anlässlich der Verleihung der Zuckmayer-Medaille 1993, Zuckmayer gehöre zu jenen Schriftstellern, die in Deutschland unterschätzt werden, während der Schriftsteller Fritz Usinger in seiner Laudatio an Zuckmayers 80. Ge-
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burtstag am 27. Dezember 1977 dessen allgemeine Beliebtheit damit begründet, dass Zuckmayer als zurückgekehrter Emigrant in der Nachkriegszeit nach Aufführungen von „Des Teufels General“ mit den Leuten über die Nazizeit und über sein Stück diskutierte, ohne je eine pauschale Schuldzuweisung an das deutsche Volk zu richten. „Das Vertrauen, das sich hier entspann, war die Grundlage für die spätere Liebe zu dem Dichter.“ Zu bedenken gilt natürlich auch, dass der Autor, der zugleich Romanautor, Dramatiker und Lyriker ist, einen wirkmächtigeren Zugang zum Publikum hat als die Nur-Erzählerin. Ähnlich sieht es Ernst Haeusermann: „Zuckmayer liebt das Leben und er liebt die Menschen. Das Leben und die Menschen lieben ihn.“ Als Hanns Dieter Hüsch im Januar 1989 die Zuckmayer-Medaille verliehen wurde, erzählte Rudolf Jürgen Bartsch in seiner Laudatio auf Hüsch von seiner ersten Begegnung mit Zuckmayer 1949 an der 1946 wieder begründeten Mainzer Universität. Über diese „Lehrstunde in Demokratie“ sagte Bartsch: „Da saß ein verjagter Schriftsteller und ließ sich geduldig in rüdester Weise attackieren, ging auf jede noch so krude Frage ein, als wüsste er – vielleicht eingedenk seiner eigenen Studentenerfahrung nach dem Ersten Weltkrieg in Heidelberg – genau zu unterscheiden: Was ist selbstgerecht, was noch oder wieder gestrig, was nur ratlos.“ Zuckmayer selbst resümierte später: „Dass dieser Abend doch einen verhältnismäßig harmonischen Ausklang fand, war der überwältigenden Mehrheit jener deutschen Nachkriegsjugend zu verdanken, die guten Willens war.“ Insgesamt kann man festhalten, dass Zuckmayer in Rheinhessen als großer Sohn verehrt, sein Andenken liebevoll gepflegt wird. Jedoch sei es eine „Aneignung nach eigenem Gusto“, schreibt Erika Dieterich 1996: „Man nimmt den gesamten, freundlichen, vitalen, liebenswerten Carl – aber bei seinem Werk wird das Sperrige, Unhandliche gern ausgeblendet.“ Als Beispiel erwähnt Frau Dieterich, dass alles, was das Mainzer Theater damals gewagt habe, eine Inszenierung des „Hauptmann von Köpenick“ sei. – Hier muss man ergänzen, dass es nach 2000 immerhin noch einmal eine Köpenick-Inszenierung und danach eine viel beachtete Inszenierung von „Des Teufels General“ im Mainzer Staatstheater gab. Günther Rühle stellt zur Resonanz auf Zuckmayer fest, die Intellektuellen heutzutage begegneten ihm „mit achtungsvoller Verachtung, und das Theater habe nicht den Mut, es mit ihm neu zu probieren“. Es stelle sich das Problem, dass Zuckmayers Personen zu positiv seien. Das heutige Theater könne Menschen nur noch in der Reduktion, nicht mehr als Ganzheit begreifen. Bei nüchterner Betrachtung reicht die Antwort auf die Frage nach Zuckmayers Bedeutung für die Literatur des 20. Jahrhunderts von „über-
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haupt keine“ bis zu „er war der wichtigste deutsche Dramatiker dieser Zeit!“ Unabhängig von allen Aussagen der Fachleute ist Carl Zuckmayer in unserer Gegend sehr geachtet und genießt die Art von Popularität, wie sie etwa Jockel Fuchs genießen konnte. Während Zuckmayer – so kann man sagen – den Konservativen zu links ist und den Linken zu konservativ, er mithin als Autor ins LinksRechts-Schema genau so wenig passt wie in literaturwissenschaftliche Schubladen, er also für uns lieb und nett und scheinbar unpolitisch ist, steht für Anna Seghers zumindest die politische Einordnung fest. Wer war eigentlich Anna Seghers? Ich wage zu behaupten, dass viele Menschen nicht wissen, wer Anna Seghers wirklich war. Ja – man weiß, dass sie als Netty Reiling 1900 in Mainz als einzige Tochter des jüdisch-orthodoxen Kunsthändlers Isidor Reiling und seiner Frau in ein bildungsbürgerliches Milieu hinein geboren worden und dass sie eine gute Schülerin war, die sich irgendwann während der Studienzeit in Heidelberg von der bürgerlichen Lebens- und Denkungsart abwandte hin zu Sozialismus und Kommunismus, was letztlich erklärt, dass sie nach dem Krieg in der DDR lebte und arbeitete und dort – so wird behauptet – die Augen vor den Untaten des Regimes verschloss. – Bei einer so gearteten Kurzvita darf man es natürlich nicht belassen! Als Kind war sie kränklich, dennoch lebensfroh, neugierig und lernbegierig. Sie lernte nach eigenem Bekunden sehr früh lesen und schreiben und hob sich dadurch schon von den anderen Kindern ab. Später als ganz junge Erwachsene kommen entscheidende Wesensmerkmale hinzu: In einem Interview mit dem Seghers-Biographen Wilhelm von Sternburg sagte der Schriftsteller Rolf Schneider: „Sie war im Tiefsten eine verstörte Person. Diese Verstörung (…) hängt damit zusammen, dass sie Jüdin war. Sie hatte die Urangst aller älteren deutschen JuNetty Reiling als Schülerin den, dass das große Pog-
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rom doch noch kommen wird, und sie versteckte sich. Zugleich war sie eine stolze Jüdin“ (Sternburg, Anm. 57). Aber auch der Katholizismus ihrer Heimatstadt und der Mainzer Dom zogen sie an. Und ihre unbändige Sehnsucht nach Gerechtigkeit öffnete ihr gerade in jener Phase ihres Lebens die Augen für das soziale Elend in ihrer Umgebung. Man müsse doch nicht, um etwas beschreiben zu können, es erst selbst erlebt haben. Und sie konnte von ihrem Elternhaus aus überall hingehen und sehen, was sie sehen wollte, erklärte sie (Sternburg, Anm. 73). Carl Zuckmayer, der ihr 1920 während seines Studiums in Heidelberg begegnete, beschrieb die junge Kommilitonin folgendermaßen: „Sie selbst war damals sehr still, von freundlicher Zurückhaltung, fast schüchtern und – wie lässt sich das sagen – in einer ganz unkonventionellen Weise ‚hübsch und schön’ (so sagt es Thomas Mann von dem jungen Joseph). Die Augen, achatbraun, verbargen ihre Klugheit hinter einem immer etwas kindlich-erstaunt wirkenden, manchmal auch etwas schläfrigen Ausdruck. ‚Sie hat den Ausdruck einer javanischen Tempeltänzerin’, sagte Fraenger (einer der Heidelberger Professoren), ‚welche sich ausruht.’ Vielleicht ruhte sie sich damals wirklich aus – für strengeres Beginnen“ (Sternburg, Anm. 95). Wenige Jahre später, nachdem sie den Ungarn Laszlo Radvany geheiratet hatte, einen intelligenten Theoretiker auf dem Gebiet Sozialismus, Kommunismus und Revolution, nachdem sie wegen eben dieses geliebten Ehemannes und Lehrmeisters mit dem Elternhaus in Konflikt geraten war, nachdem sie promoviert hatte mit einer Arbeit zum Thema „Jude und Judentum im Werke Rembrandts“, wird aus der gebildeten Bürgerstochter die engagierte Schriftstellerin Anna Seghers. Zu ihrer Entscheidung, von Beginn an als Schriftstellerin mit einem Pseudonym aufzutreten, schreibt Wilhelm von Sternburg: „Auch dies ist ein Hinweis auf ihre biographische Diskretion und darauf, wie ernst es ihr schon im frühesten Augenblick ihrer Künstlerkarriere mit dem Vorsatz ist, die eigene Person hinter dem Werk zurückstehen zu lassen“ (Sternburg, S. 74). Dieses Hinter-dem-Werk-Zurückstehen übrigens könnte all denen dienlich sein, die sich wegen des Lebensabschnitts in der DDR immer noch schwer damit tun, das literarische Werk von Anna Seghers gebührend zu würdigen. Anna Seghers selbst quält sich trotz akademischem Titel und trotz der Erfolge als Schriftstellerin Mitte der 1920er Jahre mit Selbstzweifeln herum: „Ich bin mit mir selbst unzufrieden. In allem, was ich tue und schreibe, ist eine vergiftende, falsche Traurigkeit“ (Sternburg, Anm. 126). Und weiter heißt es in ihrem Tagebuch: „Verwirrt, wenig gearbeitet, Furcht vor
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dem Gelingen“ (Sternburg, Anm. 128). Oder: „Ob der Bischof etwas wird, ob die Stelle wird, ob aller Glanz weg geht, ob die Zukunft zerbricht, dass ich schwach, elend, gering, untauglich zum Gutsein, Leben und Schreiben bin. Hilf!“ (Sternburg, Anm. 130). Dass sie als Mutter des 1926 geborenen Sohnes Peter (Pierre) und der 1928 geborenen Tochter Ruth, dass sie als 28jährige Kleist-Preisträgerin und danach als erfolgreiche Autorin diese Zweifel weiterhin gehegt hat, ist nicht unwahrscheinlich. Anna Seghers und Laszlo Radvanyi um 1925 Erhalten blieb ihr Drang, über Mut und Tapferkeit der Opfer, über Kälte und Unmenschlichkeit der Täter, über Versagen und Irrtum politischer Revolutionäre zu schreiben. Entscheidend für die weitere Entwicklung Anna Seghers’ ist ihr Eintritt in die Kommunistische Partei 1928 und in die entsprechenden intellektuellen Kreise weltweit. Eine Trennung zwischen Politik und Kunst gibt es für sie nicht und das begründet sie so: „Wir dürfen ja nicht in der Beschreibung stecken bleiben. Denn wir schreiben ja nicht, um zu beschreiben, sondern um beschreibend zu verändern“ (Sternburg, Anm. 143). Und – sich selbst in dieser Einstellung treu bleibend – schreibt sie 1973: „Es zeigte sich, dass das, was ich schrieb, eine Waffe war, die im Klassenkampf mitkämpfte. Kunst, also auch Literatur, kann das Leben auf besondere Weise erklären (…) kann die Menschen befähigen, standhaft zu sein, dadurch wirkt sie politisch“ (Stermburg, Anm. 144). Während nun Anna Seghers, aus dem Exil zurückgekehrt, in der DDR Ideale und Wirklichkeit zu verbinden suchte, lebte Carl Zuckmayer, der nie einer Partei beigetreten ist, in der Schweiz, weilte häufig in der Bundesrepublik, schloss Freundschaft mit bedeutenden Menschen, wie beispielsweise mit dem großen Liberalen und ersten Bundespräsidenten
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Theodor Heuss, und war auch in seiner Heimatstadt Mainz zu Gast und stets auch um Versöhnung bemüht. Ich glaube nicht, dass er seine Arbeit je als „Klassenkampf“ verstanden hat. Dennoch wäre es falsch anzunehmen, Zuckmayer sei ein unpolitischer Autor gewesen. Als ganz junger und radikaler Mitarbeiter der sozialistischen Zeitschrift „Der Schrey“ hatte er in einem „Aufruf an demokratische Schüler“ gefordert: „Lieber die Knute als die wohlwollend bremsende Redlichkeit der Demokraten!“ Allerdings kehrte er sehr bald zu den redlichen Demokraten Alice Herdan-Zuckmayer und Carl Zuckmayer zurück, ohne dadurch unpovor ihrem Haus in Saas-Fee, 1968 litisch zu werden. Zum andern ist anzunehmen, dass auch das Judentum aus verständlichen Gründen bei ihm und für ihn wohl eine weit weniger bedeutsame Rolle als für Anna Seghers spielte: seine Mutter war Jüdin, er war katholisch getauft, wuchs in einer vom Katholizismus geprägten Umgebung auf, jüdische Traditionen spielten in seinem Leben keine Rolle, und der Antisemitismus hat ihn in seiner Jugend nach eigenem Bekunden „überhaupt nicht berührt oder betroffen.“ Anna Seghers, laut Wilhelm von Sternburg ein „verschlossener und im Innersten scheuer Mensch“, liebte ihre Heimatstadt Mainz nach wie vor, sie konnte aber, wenn sie später an die Heimat dachte, wohl nie vergessen, dass man auch hier die Juden verfolgt und gedemütigt hat und dass ihre Mutter ermordet worden ist. Man sieht also, wie unterschiedlich die Personen und ihre jeweiligen schicksalhaft angelegten Charaktere und Lebensbedingungen waren. Und niemanden sollte es verwundern, dass ihr jeweiliges Verhältnis zu Mainz und den Mainzern und umgekehrt der Mainzer zu den beiden entsprechend große Unterschiedlichkeit zur Folge hatte.
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Jedenfalls ist die Einstellung der heutigen Mainzerinnen und Mainzer zu Seghers und Zuckmayer nicht so boshaft wie die – und weit entfernt von den – satirischen Frotzeleien eines Robert Neumann, der in seinen Parodien 1 und 2 (Verlag Kurt Desch) 1950 und 1955 unter dem Titel „Mit fremden Federn“ auf Zuckmayer gemünzt folgendes schrieb: „Aktschluss aus ‚Der fröhliche Schweinberg’ nach Carl Zuckmayer. Regieanweisung: Knutschius (…) und Hose zuknöpfen und Röcke glattstreichen! Und zum Schluss aus Zuckmayers Mund die Frage: ‚Is es nu gerettet, das deutsche Theater?’ -- ‚Es is!’ sagt Klärchen. Dann Zuckmayer: ‚Dampf! Kampf! Krampf! Kraft!’ Und er zwickt sie in den Po.“ Auch Anna Seghers knöpfte Robert Neumann sich vor in einem Kapitel, das er „Dialektisch völlig verfahren!“ überschrieb und wo er sie sagen lässt: „Der mir von gewissen Genossen angehängte Spitzname ‚Kleist mit roter Tunke’ oder ‚Kleist mit Soße’ usw. usw. Oder an anderer Stelle: (…) da rief ein Patient auf dem OP-Tisch: Genossen, ich kehre unlysenkot und ungearslockt, im Interesse der friedliebenden Volksdemokratien in den Käfig zurück, der gleich anderen sowjetischen Käfigen ein freiwilliger Käfig ist!“ In beiden Fällen hätte Neumann sich tatsächlich auch auf rheinhessische Kritiker berufen können: im Falle Zuckmayers auf die empörten Nackenheimer, die gegen die Uraufführung des Fröhlichen Weinbergs 1926 protestierend vor das Mainzer Theater zogen; im Falle Seghers auf alle diejenigen, die in Anna Seghers nichts anderes als eine Stalinistin sahen. – „Tempora mutantur et nos mutamur in illis!“, sagten die Römer und meinten damit: Die Zeiten ändern sich, und wir ändern uns mit ihnen! Carl-Zuckmayer-Gesellschaft und Anna-Seghers-Gesellschaft Die Begeisterung der Leute für die Schriftstellerin und den Schriftsteller aus Mainz hatte zur Folge, dass sich Gesellschaften gründeten, die den jeweiligen Namen tragen, um seinen Ruhm zu mehren. Das gereicht der Mainzer Bürgerschaft sicher zur Ehre. Die Tatsache, dass zwischen den beiden Gründungen fast zwei Jahrzehnte liegen, fordert wohl keine tiefschürfenden Interpretationen heraus, sondern erklärt sich ganz einfach aus der unterschiedlichen räumlichen, politischen und emotionalen Distanz der beiden zu den Mainzerinnen und Mainzern. Am 10. März 1972 wurde in Nackenheim die „Carl-Zuckmayer-Gesellschaft e. V. Mainz“ gegründet. Sie sieht ihre Aufgabe in der „Erforschung und Förderung rheinland-pfälzischer Lyrik und Prosa, insbesondere des Lebenswerks von Carl Zuckmayer.“ Zu den wichtigsten Aktivitäten der Gesellschaft gehören die Inszenierung vor allem der mundartlichen
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Bühnenstücke Zuckmayers wie zum Beispiel „Der fröhliche Weinberg“, „Katharina Knie“ und „Schinderhannes“ durch ein eigenes Spielensemble. Viele Mainzer pilgern alljährlich nach Nackenheim, um nach einer Weinprobe im Weingut Gunderloch das Lustspiel zu verfolgen. In den vergangenen Jahren hat dieses Ensemble aber auch den Mut und einen guten Regisseur gefunden, um „Des Teufels General“ erfolgreich aufzuführen. Die Literaturabteilung veranstaltet darüber hinaus Lesungen, Vorträge und literarische Weinproben, wobei dankbar zu vermelden ist, dass eine der großen Banken, die Mainz in ihrem Namen trägt, aber auch Weingüter und Gasthäuser in und um Mainz herum ihre sogenannten „locations“ für solche Veranstaltungen zu Verfügung stellen. Das hilft ungemein bei dem Versuch, breite Bevölkerungsschichten zu erreichen. Das zweite Aufgabenfeld ist die schrittweise wissenschaftliche Aufarbeitung des literarischen Nachlasses des Dichters. 1975 bis 1997 geschah das durch die Herausgabe der „Zuckmayer- Blätter“. 1998 wurden diese abgelöst von den weitaus umfangreicheren und von der Forschung und dem Lesepublikum hoch geschätzten „Zuckmayer-Jahrbüchern“, für deren editorische Arbeit Gunther Nickel, Erwin Rothermund und Hans Wagener verantwortlich zeichnen. In diesem Zusammenhang sei dankbar erwähnt, dass seit 1979 das Land Rheinland-Pfalz eine Carl-Zuckmayer-Medaille verleiht für „Verdienste um die deutsche Sprache“. Dieser renommierte Kulturpreis wird alljährlich – möglichst am 18. Januar, Zuckmayers Todestag – feierlich überreicht. Die Anna-Seghers-Gesellschaft Berlin und Mainz e.V. wurde am 5. Oktober 1991 in Berlin von Schriftstellern, interessierten Lesern, Literaturwissenschaftlern, Publizisten, Lehrern, Bibliothekaren und Archivaren aus beiden Teilen des 1989 wieder vereinigten Deutschlands gegründet. Im Zentrum ihrer Arbeit stehen Werk und Leben von Anna Seghers. Diese wahrhaft internationale, über Kontinente hinweg verbundene Gesellschaft will anregen, sich mit Seghers‘ Romanen und Erzählungen, theoretischen und publizistischen Schriften auseinanderzusetzen und die Biographie zu erforschen. Sie tut dies in der Hoffnung, das Werk lebendig zu erhalten und weiter zu verbreiten. Im November, dem Geburtsmonat der Anna Seghers, findet jedes Jahr – immer wieder auch in Mainz – eine Begegnung statt mit wissenschaftlicher Konferenz, Festvortrag, Exkursion und Mitgliederversammlung. Zudem erscheint im Auftrag der Gesellschaft und unterstützt von der AnnaSeghers-Stiftung, der Stadt Mainz, dem Land Rheinland-Pfalz und privaten Sponsoren das Jahrbuch „Argonautenschiff“. Es versteht sich als Forum internationaler Forschungsergebnisse und nimmt auch bislang nicht
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publizierte, vergessene oder erst jetzt aufgefundene Texte und Dokumente, Interviews mit Lebens- und Weggefährten auf. Da die beiden Gesellschaften im Grunde gleiche Ziele verfolgen, ist es in jüngster Vergangenheit auch zu gemeinsamen Aktivitäten gekommen, die hoffentlich weiter fortgesetzt werden, weil gemeinsame Anstrengungen natürlich auch Erfolg versprechender sind in einer Gesellschaft, die sich ihrer kulturellen Werte zunehmend weniger bewusst ist. Ehrenbürgerschaften Was auf die zeitliche Distanz zwischen den Gründungen der beiden Gesellschaften zutrifft, das gilt auch – und wesentlich auffallender – für die Ehrenbürgerschaften von Seghers und Zuckmayer. Mainz feierte im Jahre 1962 sein zweitausendjähriges Bestehen – zu früh, wie man in Trier behauptete. Neben vielen anderen symbolhaften Zeichen zu diesem Anlass, wie etwa die Herausgabe des Buches „Zweitausend Jahre Mainz“ von Heinz Leitermann, wollte der Stadtrat dem Jubiläum eine besondere Weihe verleihen, indem man Männer, die dem Geist der Stadt einen wirklich nachhaltigen Ausdruck verliehen hatten,
Carl Zuckmayer mit Prof. Dr. Peter Schneider, Rektor (ab 1974 Präsident) der Johannes Gutenberg-Universität Mainz, ca. 1969
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durch die Ehrenbürgerwürde auszeichnete. Wie selbstverständlich fiel die Wahl dabei auf Carl Zuckmayer. Von einer Diskussion über diese Entscheidung ist nichts bekannt. Und so wurde Zuckmayer zusammen mit dem Musikwissenschaftler Prälat Dr. Adam Gottron in einer Sondersitzung des Stadtrates im Kurfürstlichen Schloss am 23. Juni 1962 die Ehrenbürgerwürde verliehen. Immer wieder wurde betont, wie eng und herzlich die Beziehungen zwischen der Stadt und ihrem Ehrenbürger Zuckmayer stets waren, kein Mainzer Ereignis von Rang, zu dem nicht der Dichter geladen wurde und zu dem er nicht zumindest ein Grußwort entsandte. Es herrschte ein reger Briefwechsel zwischen Zuckmayer und den Vertretern der Stadtspitze. Heute würde man sagen, Zuckmayer war – im Gegensatz zu Anna Seghers – sehr präsent! Bevor im Jahre 1981 Anna Seghers als SED-Mitglied, als 26 Jahre lang amtierende Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes und Trägerin der höchsten Orden der DDR (Süddeutsche Zeitung 24.11.1981) die Ehrenbürgerwürde der Stadt angetragen wurde, erhielt sie die gleiche Auszeichnung durch die Johannes Gutenberg-Universität im Jahre 1977 anlässlich deren 500-Jahr-Feier. Die Reaktionen und Diskussionen, der Ärger und die Aufregungen von 1977 und 1981 waren sich inhaltlich gleich, nicht aber in der Heftigkeit der Auseinandersetzungen. Die Universität begründete 1977 ihre Entscheidung folgendermaßen: „Anna Seghers hat in ihrer Dichtung die Möglichkeiten realistischer Tradition und moderner Kunstgestaltung mit dem Engagement für eine sozialistische Gesellschaft vereinigt. Der Mensch im Widerstand und der Mensch auf der Flucht – diese erzählte Wirklichkeit ist zugleich ein Stück ihrer Biographie. Die gebürtige Mainzerin floh 1933 vor dem Hitler-Terror; ihre Bücher wurden verboten und verbrannt. Das Werk von Anna Seghers hat dennoch weltweite Anerkennung gefunden. Es zeichnet sich aus durch plastische Zeit- und Menschendarstellung, durch Unmittelbarkeit des Erzählens und Prägnanz der Sprache. Der rheinhessischen Herkunft der Dichterin ist ihr Werk in vielfacher Weise verbunden. Mainz, am 23. Juni 1977 gez. Peter Schneider Präsident“ Da mehrere Personen mit der Ehrenbürgerwürde der Universität ausgezeichnet wurden, gab es – laut Bericht der Allgemeinen Zeitung vom 23. Juni 1977 – auch im Entscheidungsgremium, dem Senat der Universität, Meinungsverschiedenheiten. Mindestens 28 der 62 Mitglieder des Gremiums haben an der Abstimmung nicht teilgenommen. Des Weiteren soll ein
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Antrag auf Einzelabstimmung über die Auszuzeichnenden unbeachtet geblieben und stattdessen eine En-bloc-Abstimmung durchgeführt worden sein. Einige der vorgesehenen Ehrenbürger wollten auf ihre persönliche Ehrung verzichten, nahmen sie aber schließlich doch an. Die heftigsten Klagen gegen die Entscheidung der Universität führten CDU-Politiker und Flüchtlinge aus der DDR. Jockel Fuchs wurde auch geehrt. Er nahm trotz kritischer Kommentare die Ehrung an, informierte aber in einer Erklärung an die AZ über seine Einstellung zu der – so wörtlich – kommunistischen Schriftstellerin und SED-Propagandistin und schrieb: „Wie ich den Vorgang der Auszeichnung für Anna Seghers politisch bewerte, ergibt sich allein schon daraus, dass die Stadt Mainz in den vergangenen Jahren trotz möglicher Anlässe und auch Versuchungen das Ehrenbürgerrecht der Stadt nicht an Anna Seghers verliehen hat.“ Das war deutlich! Weiter unten schreibt Fuchs: „Unabhängig davon habe ich Verständnis für die Kritiker dieser Entscheidung, die zum Teil aus eigenem Erleben Unfreiheit und Terror in der DDR kennengelernt haben und denen es deswegen schwerfällt, die politische Einstellung von der künstlerischen Leistung zu trennen.“ Die verbale Auseinandersetzung nahm in der Folgezeit schärfste Formen an. Nachdem die AZ am 22. Juni Anna Seghers als eine Schriftstellerin bezeichnet hatte, die „sich als konsequente Verfechterin des Prinzips der Unfreiheit und der Unterdrückung bekennt und Mauer und Stacheldraht lobpreist“, schoss der Spartakus-Bund mit den Worten zurück, die „Mainzer Monopolpresse“ habe eine „beispiellose Hetzkampagne“ begonnen. Getragen werde „diese Kampagne von einer unheiligen Allianz aus AZ, CDU und rechten Sozialdemokraten, [sog.] ‚Märtyrern’ der Konterrevolution des 17. Juni 1953, die immer dann aus der Versenkung hervorgeholt werden, wenn es gilt, gegen Linke vorzugehen und der Reaktion die dazu nötige Munition zu liefern.“ Als Ende Oktober 1981 der Stadtrat die Ehrenbürgerschaft für Marc Chagall beschloss, tat er dies einstimmig. Die gleichzeitige Auszeichnung für Anna Seghers befürwortete nur die SPD/FDP-Mehrheit. Die CDU wandte sich dagegen. Allerdings ist den Berichten zu entnehmen, dass die Redebeiträge stark entschärft waren, woraus man schließen konnte, dass nicht linke Ideologie gegen konservativen, kleingeistigen Provinzialismus stand, sondern gewissenhaft überprüfte und vorsichtiger formulierte Argumente im Raum standen. Das Pro formulierte für die SPD und zugleich für die FPD deren Fraktionsvorsitzender Dr. Günther Storch, der u.a. sagte, Anna Seghers sei ein deutsches Schicksal, ein schöpferischer Mensch, entstanden und nur verständlich aus der deutschen Geschichte. „Wir wollen Frieden machen mit
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dem Mädchen Netty Reiling aus Mainz, das nicht so leben will wie wir, aber das unsere Sprache spricht. Auch wenn sie uns kritisiert, so wie wir sie kritisieren.“ Man wolle nicht die kleinliche und beckmesserische Rolle spielen wie Düsseldorf, das heute immer noch nicht mit seinem größten Sohn Heinrich Heine zurechtkomme, oder wie Lübeck, das Thomas Mann sein literarisches Werk lange nicht habe verzeihen können. Das Contra formulierte der CDU-Fraktionsvorsitzende Herbert Heidel, der an die heftigen Auseinandersetzungen von 1977 erinnerte. Eingedenk der damaligen Diskussion, die teilweise in überzogene Polemik abgeglitten sei, habe die Unionsfraktion alle Bemühungen unterstützt, die jetzige Entscheidung in einer sachlichen Atmosphäre zu ermöglichen. Viele Werke von Anna Seghers gehörten unbestritten zur Weltliteratur. Wäre es möglich, dies durch einen Literaturpreis der Stadt Mainz zum Ausdruck zu bringen, so wäre die Zustimmung der Union gewiss. Allerdings habe Anna Seghers in vielen Reden und Schriften für den Unrechtsstaat, in dem täglich Menschenrechte verletzt würden, geworben, ihn verteidigt, ja teilweise dessen System verherrlicht. Sie habe ihre Reputation nicht, wie viele ihrer Kollegen in der DDR und den sozialistischen Ländern, nachdrücklich und öffentlich zugunsten der vielen bedrängten Literaten und Künstler zum Ausdruck gebracht. Sie habe nicht diese unmenschliche Grenzziehung durch unser Land verurteilt und habe es nie an Deutlichkeit fehlen lassen, dass sie unsere freiheitlich-demokratische Gesellschaftsordnung ablehnt, ja sie bekämpft. Daran könne ein frei gewählter Vertreter dieses Gemeinwesens nicht vorbeigehen. Man habe die Persönlichkeit als Ganzes zu bewerten. Man darf nicht vergessen, dass in jener Zeit auch die Terroraktionen der RAF die Gefühlswelt vieler Menschen beeinflussten. An dieser Stelle sei aber auch erwähnt, dass Carl Zuckmayer selbst scharf zwischen „Mensch“ und „Künstler“ unterschied, und zwar in seinem 1943/1944 für die amerikanische Regierung verfassten „Geheimreport“ über die deutsche Künstlerelite und die persönliche Einstellung der Portraitierten gegenüber dem Nationalsozialismus. Besonders deutlich wird das am Beispiel des Schauspielers Werner Krauß, dem Zuckmayer ein Porträt von überdurchschnittlicher Länge widmete. Dieser „Geheimreport“ wurde 2002 von Gunther Nickel veröffentlicht und kommentiert und in einer spannenden Veranstaltung im Mainzer Rathaus vorgestellt. Die 1977 noch schreiend kritisierende Allgemeine Zeitung gab sich in ihrem Kommentar zu der Stadtratsentscheidung weise, und Chefredakteur Hermann Dexheimer zeigte Verständnis für beide Seiten. Er endete seinen Kommentar mit den Worten: „In Anna Seghers dokumentieren sich Höhen und Tiefen, Größe und Niedergang eines deutschen Schicksals.“ – Ich
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Verleihung der Ehrenbürgerwürde der Stadt Mainz an Anna Seghers am 22. November 1981 in Berlin
habe das Gefühl, dass diese Einstellung in Mainz mittlerweile allgemein verbreitet ist. Im November 1981 fuhr eine siebenköpfige Delegation aus Mainz in Begleitung des damaligen Leiters der ständigen Vertretung der Bundesrepublik Deutschland bei der DDR, Klaus Bölling, zu Anna Seghers nach Ost-Berlin, um ihr die Ehrenbürger-Urkunde zu überreichen. Die Mainzer und ihr Verhältnis zu Carl Zuckmayer und Anna Seghers am Beispiel der 100-Jahr-Feiern Das kontroverse Abstimmungsverhalten bezüglich der Ehrenbürgerschaft für Anna Seghers im Mainzer Stadtrat muss man – wie gesagt – nicht unbedingt gleichsetzen mit dem Meinungsbild, das in der Bevölkerung heute vorherrscht. Nach beiden Ehrenbürgern wurden Schulen benannt, das Schulzentrum auf dem Lerchenberg nach Zuckmayer, die Integrierte Gesamtschule in der Oberstadt ebenso wie die Öffentliche Bücherei in Mainz nach Anna Seghers. Und wenn ich auch den höheren Popularitätsgrad bei Zuckmayer sehe, so ist mir doch niemals zu Ohren gekommen, dass wegen der Namensgeberin Anna Seghers irgendwelche Eltern ihr Kind nicht in diese IGS gegeben oder Bücherwürmer die Öffentliche Bücherei nicht mehr betreten hätten.
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Über die jeweiligen Gesellschaften und ihre individuellen Schwerpunkte und Arbeitsweisen und Charakteristika als begeisterte Pfleger des Nachruhms ihrer Helden habe ich gesprochen. So ist es auch das Verdienst der Anna-Seghers-Gesellschaft und ihrer Unterstützer, dass die Beschäftigung mit Seghers’ Leben und Werk sehr viel sachlicher und ruhiger betrieben wird. Seghers und Zuckmayer in der Erinnerung der Mainzer – dazu gehört auch die Erwähnung dessen, was sich zum jeweiligen 100. Geburtstag 1996 und 1999 in Mainz ereignete. 1996 – ich war noch recht neu im Amt des Kulturdezernenten – stellte sich der junge Literaturwissenschaftler aus dem Deutschen Literaturarchiv in Marbach, Dr. Gunther Nickel, bei mir vor und teilte mit, er und seine Kollegin Ulrike Weiß hätten eine Ausstellung samt Katalog in Arbeit, die man natürlich im Sommer in Marbach und danach – wenn möglich – auch in Mainz zeigen wolle. Er sei nicht zuletzt auch aus finanziellen Gründen auf der Suche nach einem Kooperationspartner. Mir kam diese Anfrage wie ein Geschenk des Himmels! Und am 15. Dezember 1996 haben wir dann auch die Ausstellung mit dem Titel „Carl Zuckmayer 1896–1977 – ‚Ich wollte nur Theater machen‘“ im Mainzer Rathaus eröffnet. Oberbürgermeister Hermann Hartmut Weyel begrüßte unter den Gästen Zuckmayers Töchter Winnetou Maria Gutenbrunner-Zuckmayer, die damals noch das Haus Vogelweid in Saas Fee bewohnte, sowie Michaela Weston-Zuckmayer aus den USA und auch Monika Schoeller, die Chefin des S. Fischer Verlags in Frankfurt, der sich bei diesen Jubiläumsfeierlichkeiten sehr stark engagierte. Ich sagte bei der Ausstellungseröffnung, mir sei klar, in welcher Gefahr wir in Mainz uns befinden, wenn es darum geht, „unseren“ Zuckmayer zu feiern. Mainz ist die Heimat Zuckmayers! Und das große Wörterbuch der Deutschen Sprache definiert „Heimat“ so: „Heimat – Land, Landesteil oder Ort, in dem man geboren und aufgewachsen ist oder sich durch ständigen Aufenthalt zu Hause fühlt.“ Zuckmayer selbst hatte 1970 im Mainzer Theater ausgeführt: „Man sagt mir sehr häufig lobend und erfreulicherweise, dass ich in meinem Leben und in meiner Arbeit sehr viel Heimatverbundenheit gezeigt hätte. Tatsache ist, dass diese Heimatverbundenheit meiner Ansicht nach etwas ganz natürliches ist, die eigentlich jeder Mensch von selber hat: so wie er seinen Körper, (…) die Merkmale seines Familienstandes, seiner Eltern und Voreltern trägt, so trägt er auch die seiner Heimat. Ich halte das gar nicht für etwas besonders Betonenswertes, sondern für etwas ganz Selbstverständliches. Ich meinerseits bin im Jahre 1914 Soldat geworden und nach vier Jahren Weltkrieg eigentlich nie mehr in meiner hessischen,
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rheinhessischen, Mainzer Heimat sesshaft geworden. Ich war immer unterwegs und war anderswo daheim, und hier war ich ein Gast, in dem dann alles wieder aufgelebt ist, was nie vergehen kann (…), der aber doch nicht mehr Wurzel gefasst hat.“ Das waren seine Worte. Und so kommt es, dass Räumlichkeit, Erleben und bestimmte zeitliche Phasen eine enge Verbindung eingehen und Zuckmayer sagen muss: „Diese lokale Heimat (Rheinhessen) war doch nur ein Zeitabschnitt, ein Bruchteil meines Lebens, sie war nicht das Ganze.“ Wenn ich vorher von einer gewissen Gefahr gesprochen hatte, die aus der lokalpatriotischen Zuneigung erwachsen kann – schließlich war er einer der Unseren! „Halt die Ohr’n steif, bis se knorbelich wern!“, diese Empfehlung an Tochter Winnetou ist rheinhessisch! – dann meinte ich mit „Gefahr“ genau das: nämlich nicht zu begreifen, dass Rheinhessen und seine Hauptstadt Mainz nicht das Ganze waren. Anders ausgedrückt: Zuckmayer gehört uns nicht alleine! Günther Fleckenstein äußerte im Rahmen der Ausstellungseröffnung als ehemaliger Intendant Gedanken zu Zuckmayers Bekenntnis „Ich wollte nur Theater machen“. Fleckenstein machte in diesem Zusammenhang eine Aussage, die mir auch für unser heutiges Verstehen sehr wichtig erscheint, nämlich dass der „richtige“ Mensch bei Zuckmayer nicht der Trunkenbold sei, der aus Mangel an Vitalität, Mangel an Sinnlichkeit und kreativer Phantasie sich nach außen hin tugendhaft gebärdet, sondern das männliche oder weibliche Menschenkind, das aus der Fülle, aus dem Reichtum, der Echtheit der Gefühle handele. Wobei der „richtige“ Mensch beileibe nicht frei sei von Schwächen, Widersprüchen, Unzulänglichkeiten welcher Art auch immer. Aber er unterscheide sich von dem falschen Typ durch Ehrlichkeit, Aufrichtigkeit und einen guten Charakter, „während bei jenem selbst die schönen Tugenden säuerlich riechen und magersüchtig erscheinen.“ Gunther Nickel schließlich, der spätere Herausgeber der Jahrbücher unserer Carl-Zuckmayer-Gesellschaft, beschrieb, was die Marbacher so stark motiviert hatte, sich mit Zuckmayer zu beschäftigen. Ihm habe sich bei der Stoffsammlung zur Ausstellung ein so nicht erwartetes Bild geboten: „Obwohl Zuckmayer mehr als zwanzig Theaterstücke geschrieben hat, und die Uraufführungen von namhaften Regisseuren wie Gustav Gründgens, Heinz Hilpert oder Erwin Piscator inszeniert worden sind, gibt es neuere Darstellungen der deutschen Theatergeschichte, in denen sein Name nicht vorkommt. Und obwohl Zuckmayer nicht nur ein ungemein populärer Autor war, sondern auch im Laufe seines Lebens alle bedeutenden Literaturpreise erhalten hat – unter ihnen der Kleist-Preis, der
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Georg-Büchner-Preis und der Heinrich-Heine-Preis – ist die Zahl wissenschaftlicher Forschungsarbeiten verschwindend klein. Außer in Studien amerikanischer Germanisten (…) war Zuckmayer lediglich in seiner rheinhessischen Heimat Gegenstand anhaltender Beschäftigung. Hier dominierten allerdings häufig regionale Gesichtspunkte. (…)Unsere Aufgabe und unser Anspruch war es, eine Ausstellung zu konzipieren, die Zuckmayers nationale und internationale Bedeutung in der Kultur des 20. Jahrhunderts darstellt“, sagte Nickel damals. Die Ausstellung 1996 war in der Tat insofern ein Erfolg, als Zuckmayer wieder mehr als Dramatiker, Lyriker und Epiker ins öffentliche Bewusstsein rückte und nicht mehr nur als der dem Wein zusprechende Naturbursche, der das Stück Der Fröhliche Weinberg geschrieben hat. Auch an den 100. Geburtstag von Anna Seghers im November des Jahres 2000 habe ich persönliche und äußerst positive Erinnerungen. Es hatte zu diesem Anlass intensive Überlegungen in unserem Dezernat gegeben, wie man die Mainzer Gedenkfeierlichkeiten einleiten könnte. Da erschien es uns günstig und vernünftig, eine von Dr. Ruth Radvany, der Seghers-Tochter, zusammengestellte Ausstellung von Berlin nach Mainz zu holen. Diese schlichte und persönliche Schau auf das Leben der Schriftstellerin wurde dankenswerterweise von Frau Radvany mit eröffnet. Sie kam – genauso wie ihr Bruder, der häufig hier anzutreffen ist – aus diesem Anlass nach Mainz und sprach zu uns. Sie merkte unter anderem an, dass auch für sie, die Tochter, noch manche Fragen in Bezug auf die Vita ihrer Mutter offen seien. Ähnlich erging es dem Sohn, Dr. Pierre Radvany, als er die Biographie seiner Mutter in Bretzenheim in der Integrierten Gesamtschule vorstellte. Ich habe die Aussagen der Kinder jeweils mit Respekt vernommen und mich persönlich an die altrömische Weisung erinnert gefühlt: De mortuis nihil nisi bene! Deshalb erschien es mir damals auch erstrebenswert, Debatten um die Persönlichkeit Anna Seghers, für die ich im historischen Rückblick größtes Verständnis habe, nüchtern und sachlich zu führen und nichts zu verwischen, aber eben auch mit einer literaturhistorischen Betrachtung durch den Fachwissenschaftler den Hauptakzent für die Feierlichkeiten zu setzen – nach meinem Dafürhalten ohnehin die fairste, gültigste und unverfänglichste Form der Auseinandersetzung mit Schriftstellern. Damit wurden wir übrigens auch der Historie gerecht, denn kein Geringerer als Leo Löwenthal (1900–1993), der in Frankfurt geborene – wie er sich selbst ausdrückte – kritische deutsche Jude und Geburtshelfer der „Kritischen Theorie“, sagte einmal in einem Radiointerview sinngemäß, dass die Literatur eigentlich nichts weiter sei als die von Individuen durchlebte und wiedergegebene Geschichte.
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Welche Weitsicht Literaturkritiker zuweilen entwickeln, offenbarte sich mir bei der Lektüre eines Artikels im Mainzer Anzeiger vom 29. Dezember 1928, der mir bei der Vorbereitung untergekommen war. Dort steht unter der Überschrift „Anna Seghers, die Trägerin des Kleist-Preises“ folgendes zu lesen: „Zum zweiten Mal, nachdem er 1916 der Balladendichterin Agnes Miegel zugesprochen war, ist dieses Jahr der Kleist-Preis an eine Frau verliehen worden. Anna Seghers ist Mainzerin, aber sie empfing die Auszeichnung nicht unter ihrem richtigen Namen. Sie entstammt einer bekannten Mainzer Familie, ist eine Tochter des Altertums- und Kunsthändlers Isidor Reiling. Ihre Scheu, hervor zu treten und die Absicht, unbeeinflusst das Urteil der Öffentlichkeit abzuwarten, ließen sie ihren Decknamen wählen. Die Tatsache aber, dass eine 28-jährige Frau mit ihren dichterischen Erstlingen Aufsehen und Anerkennung der Kritik aller Schattierungen erregt, geben Veranlassung, bei ihrem Werk und ihrer Persönlichkeit kurz zu verweilen.“ So weit das damalige Mainzer Lokalblatt. Im Gespräch nach der Ausstellungseröffnung sagte mir Frau Radvanyi, ihre Mutter habe ihr erzählt, sie sei von dem Wohl-Behütet-Sein durch ihre Eltern gar nicht so begeistert gewesen und habe alles versucht, um nur schnell von daheim wegzukommen und zu studieren, wobei ihr völlig egal gewesen sei, wo und was sie studieren würde. Was aber äußere Vermutungen und Eindrücke, die aus dem Werk nicht abzuleiten sind, bedeuten, sieht man daran, wie alle Welt die Autorin für scheu hielt. Mitnichten war sie scheu! – sagte mir die Tochter, die das von der Mutter selbst gesagt bekommen hatte. Der Artikel von 1928 endete mit den Worten: „Wahrlich – ein reiches Frauenleben, in dem Künstler- und Menschentum Hand in Hand gehen und einander Richtung weisen.“ – Aus heutiger Sicht muss man feststellen, welch tragische Ironie in diesen Worten steckt. Am 23. November 2000 fand im Mainzer Dom die Eröffnung der 10. Jahrestagung der Anna-Seghers-Gesellschaft statt. Und sie stellte sich für mich als der eigentliche Höhepunkt der Gedenkfeiern heraus. Für das Mainzer Domkapitel sprachen Weihbischof Wolfgang Rolly und mein Freund Prälat Dr. Walter Seidel. Ich selbst äußerte meine Freude über die Zusammenarbeit so vieler Kooperationswilliger von den verschiedensten Seiten – man durfte sogar sagen – so vieler mit gegensätzlichen Standpunkten. Dann sagte ich im Dom: „Eine gewisse Zerrissenheit im Hinblick auf dieses außergewöhnliche Schriftstellerinnenleben ist noch immer existent. Alle mühen sich um die Antwort auf die Frage: Wie wird man dieser Frau gerecht? Wenn man positiv von der Schriftstellerin Seghers spricht, dann ist das keinesfalls zu
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verstehen als Ausfluss einer Idylle oder unreflektierter Folklore oder gar einer indifferenten, flatterhaft-oberflächlichen Mainzer Mentalität. Nein – das ist Ausdruck und Ergebnis einer über tausendjährigen, gemeinsamen Geschichte von Christentum und Judentum, die ihre Auswirkung hatte auf den Alltag und die Identitätsfindung. Kein Wunder also, wenn für alle in Mainz Geborenen, besonders für Schriftsteller und bildende Künstler, der Dom ein markanter Punkt ist. Von geradezu symbolischer Bedeutung scheint mir zu sein, dass der Dom für die berühmten Romanfiguren Zuckmayers und Seghers’ ein Zufluchtsort ist. Seine Dunkelheit und die Stille beängstigen und schützen zugleich. Der Mensch kommt zu sich!“ Ja, die doppelte Distanz der Jüdin und Kommunistin Seghers gegenüber Christentum, Religion und Kirche hat an jenem 23. November 2000 eine geringere Rolle gespielt als das Erkennen einer großen, einmaligen Chance: nämlich zum einen, viele Menschen den Dom als Schauplatz einer berühmten literarischen Szene erleben zu lassen, zum andern aber dieses Gotteshaus in seiner eigentlichen Funktion anzubieten, als einen Ort der Besinnung, des unaufgeregten und entspannten Nachdenkens, als einen Ort, der die Situation des Menschen nicht beurteilt, schon gar nicht verurteilt, sondern wo Verständnis und Vergebung die Atmosphäre bestimmen. Ich fand mich da auf einer Ebene mit Reich-Ranicki; der sagte einmal in einer Gesprächsrunde, in der auch die bekannten sogenannten „offenen Fragen“, das menschliche Fehlverhalten gegen Schriftstellerkollegen und das politische Credo und dessen literarische Verarbeitung bei Anna Seghers besprochen wurden, das Werk sei bestimmt von der Forderung: Gnade statt Gerechtigkeit. Der Schule, die seit 2005 Anna Seghers‘ Namen trägt, habe ich damals bescheinigt, keine einfache Namenswahl getroffen zu haben, denn mit ihr bekenne sie sich zu Toleranz, kritischer Beobachtung politischer Verhältnisse, zur ständigen Wahrhaftigkeit im Bezug auf Beurteilen und Entscheiden und natürlich zur Verehrung deutscher Literatur. Die Heimat Mainz Was sagen uns Seghers und Zuckmayer über ihr Gefühl in Bezug auf Mainz und Rheinhessen, was über den Verlust der Heimat? Was sollen wir unseren Kindern und Enkeln davon vermitteln? Nach der – so wörtlich – „Aberkennung der deutschen Staatsbürgerschaft des Mischlings ersten Grades“ war das Exil für Zuckmayer und seine Familie die einzige Lösung. Rückblickend schreibt er in „Als wär’s ein Stück von mir“: „Die Fahrt ins Exil ist ‚the journey of no return’. Wer
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sie antritt und von der Heimkehr träumt, ist verloren. Er mag wiederkehren – aber der Ort, den er dann findet, ist nicht mehr der gleiche, den er verlassen hat, und er ist selbst nicht mehr der gleiche, der fortgegangen ist.“ Anna Seghers fühlte ähnlich. Sie hatte 1946, noch in Mexiko lebend, in einem Brief an den damaligen Mainzer Kulturdezernenten Michel Oppenheim von der großen Sehnsucht nach ihrer Heimat geschrieben. 1947 schrieb sie weit differenzierter in einem Brief an eine Freundin: „Das tiefe Heimatgefühl, (…) das habe ich nicht mehr. Es gibt zu viele andere Strecken der Welt, die ich lieb gewonnen habe. Damit will ich keine Treulosigkeit ausdrücken. Nur ist die Landschaft nicht mehr an meine Jugend gebunden, sie ist auch zu sehr an Grausamkeit gebunden, an die Vernichtungen der liebsten Menschen meiner Jugend“ (Sternburg, Anm. 18). Eine vergleichbare Traurigkeit findet sich in Zuckmayers „Elegie von Abschied und Wiederkehr“, wo er im Exil vorausahnend schreibt: „Ich weiß, ich werde alles wiedersehen. Und es wird alles ganz verwandelt sein, Ich werde durch erloschne Städte gehen, Darin kein Stein mehr auf dem andern Stein – Und selbst wo noch die alten Steine stehen, Sind es nicht mehr die alten Gassen – Ich weiß, ich werde alles wiedersehen. Und nichts mehr finden, was ich einst verlassen. (...) Ich weiß, ich werde zögernd wiederkehren, Wenn kein Verlangen mehr die Schritte treibt. Entseelt ist unseres Herzens Heimbegehren, Und was wir brennend suchten, liegt entleibt. (...)“ Erstaunlich ist die prophetische Sicht in dieser Elegie, als habe er schon das zerstörte Mainz vor Augen. Tröstlich klingt dagegen Zuckmayers Aussage in einem Interview vom Dezember 1946: „Zwei Heimaten zu haben – das ist für mich mehr als Schicksal, es ist eine Mission. (…) Wer seine Geburtsheimat verließ, ohne sie zu verlieren, und eine zweite Heimat gewann, der er treu bleiben will, der gehört zu den ersten Weltbürgern.“ Er reiste unmittelbar nach dem Krieg zwei Jahre lang von Stadt zu Stadt, sprach vor allem mit der verstörten, weil zuvor verführten und getäuschten Jugend, wollte erklären und nach Ursachen forschen, ohne zu verurteilen. Das erkannte er nunmehr als seine Aufgabe, das bedeutete für ihn sein neues Leben, das brachte ihm – wie schon erwähnt – große Sympathien ein.
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Hier in der Heimat war Anna Seghers tatsächlich nicht mehr so zuhause. Erst 1954 kam sie zum ersten Mal zu Besuch, 1962 und 1965 zwei weitere Male. Damit allein schon begann vielleicht eine gewisse Entfremdung gegenüber der hiesigen Bevölkerung, von den Begleiterscheinungen des Kalten Krieges ganz zu schweigen. Auch das Gros der Mainzer sah sie wohl – auch im übertragenen Sinne – aus weiter Ferne, wenn überhaupt. Das aber, was unsere Heimat im Wesentlichen ausmacht, das haben beide in unnachahmlicher Art auch für künftige Generationen – sofern diese des Lesens noch kundig – festgehalten: Zuckmayer lässt in der berühmten Szene in „Des Teufels General“, die unter den Stichwörtern „Völkermühle“ und „Kelter Europas“ berühmt geworden ist, die Hauptfigur General Harras einem jüngeren Offizier namens Hartmann, der sich um seinen Ariernachweis bemüht, erklären, was unsere Gegend in ihrem Wesen ausmacht: „Und jetzt stellen Sie sich doch einmal ihre Ahnenreihe vor – seit Christi Geburt. Da war ein römischer Feldhauptmann, ein schwarzer Kerl, braun wie ne reife Olive, der hat einem blonden Mädchen Latein beigebracht. Und dann kam ein jüdischer Gewürzhändler in die Familie, das war ein ernster Mensch, der ist noch vor der Heirat Christ geworden und hat die katholische Haustradition begründet. – Und dann kam ein griechischer Arzt dazu, oder ein keltischer Legionär, ein Graubündner Landsknecht, ein schwedischer Reiter, ein Soldat Napoleons, ein desertierter Kosak, ein Schwarzwälder Flözer, ein wandernder Müllerbursch vom Elsaß, ein dicker Schiffer aus Holland, ein Magyar, ein Pandur, ein Offizier aus Wien, ein französischer Schauspieler, ein böhmischer Musikant – das alles hat am Rhein gelebt, gerauft, gesoffen und gesungen und Kinder gezeugt – und – und der Goethe, der kam aus demselben Topf, und der Beethoven, und der Gutenberg, und der Mathias Grünewald, und – ach was, schau im Lexikon nach. Es waren die Besten, mein Lieber! Die Besten der Welt! Und warum? Weil sich die Völker vermischt haben. Vermischt – wie die Wasser aus Quellen und Bächen und Flüssen, damit sie zu einem großen, lebendigen Strom zusammen rinnen. Vom Rhein – das heißt vom Abendland. Das ist natürlicher Adel. Das ist Rasse. Seien Sie stolz darauf, Hartmann – und hängen Sie die Papiere Ihrer Großmutter in den Abtritt. Prost!“ Man merke auf die ganz andere Grundstimmung in Anna Seghers’ Charakterisierung ihrer rheinhessischen Heimat, die sich in dem Roman „Das siebte Kreuz“ findet: „Hier lagerten die Legionen und mit ihnen die Götter der Welt, städtische und bäuerliche, Judengott und Christengott, Astarte und Isis, Mithras und Orpheus. (…) In der weichen verdunsteten Sonne sind die Völker gargekocht worden. Norden und Süden, Osten und
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Westen haben ineinander gebrodelt, aber das Land wurde nichts von alledem und behielt doch von allem etwas. (…) Den Wein brauchten alle für alles, die Bischöfe und Grundbesitzer, um ihren Kaiser zu wählen, die Mönche und Ritter, um ihre Orden zu gründen, die Kreuzfahrer, um Juden zu verbrennen, vierhundert auf einmal auf dem Platz in Mainz, der noch heute Brand heißt. (...)“ Auch in diesen Landschaftsbeschreibungen erkennen wir bei gleichem gedanklichem Ansatz die unterschiedlichen Nuancen im Empfinden und die verschiedenen Temperamente der Erzählenden ganz deutlich. Und wir – wie gehen wir mit dem zwiespältigen Gefühl für Anna Seghers um? Elisabeth Langgässer hat Anna Seghers 1947 getroffen und in einem Brief an ihren Kollegen Horst Lange berichtet: „Hier in Berlin wird zur Zeit die Seghers ganz groß gefeiert, und sie verdient es auch. Ihr ‚Siebtes Kreuz’, natürlich müsste es ‚siebentes Kreuz‘ heißen, aber sie sagte zu mir im Mainzer Dialekt: ’Och, des war mer doch ganz wurscht, ganz und gar wurscht!’ ist großartig in seiner Verhaltenheit, Echtheit und Menschlichkeit. ‚Awer ich bin en Bolschewik von owe bis unne’, äußerte sie zu Peter Huchel. Trotzdem: am ‚Tag des freien Buches’ bin ich, neben ihr sitzend, fast mit auf das Bild geraten, und sie meinte: Mir zwei könne doch zusammen drauf, un drunner sollten se schreiwe, dass wir aus Mainz sinn, das is wichtiger als alles.’ So ist sie also auch wieder. Hat ein wunderschönes, flächiges Barlach-Gesicht unter schneeweißen, glatten Haaren, unerhört schwarze Augen und einen trotzigen, gewölbten Kindermund. Ihr seht: ich habe mich verliebt. Natürlich werden und müssen wir, sozusagen zwangsläufig, furchtbar aufeinander platzen: weltanschaulich. Und wahrscheinlich werden wir beide dabei ordinär werden wie ‚zwei Fischweiber’, wie meine Mutter zu sagen pflegte. Trotzdem habe ich ein Faible für sie.“ Darum ist es keineswegs tragisch, dass Seghers und Zuckmayer bei den Mainzern heute noch unterschiedliche Reaktionen hervorrufen. Jeder darf als freier Mensch und als Mainzer seine Sympathien verteilen, wie er will, solange Vorurteile, geistige Verengung und ungerechte Schlussfolgerungen außen vor bleiben. Stolz dürfen und sollen wir auf beide sein, und zwar so sehr, dass wir nicht aufhören, sie immer noch näher kennenzulernen!
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Literatur zu Anna Seghers: Heist, Walter (Textred.): Anna Seghers aus Mainz (Kleine Mainzer Bücherei, Bd. 5), Mainz 1973. Radvanyi, Pierre: Jenseits des Stroms. Erinnerungen an meine Mutter Anna Seghers, Berlin 2005. Seghers, Anna: „Ich erwarte Eure Briefe wie den Besuch der besten Freunde.“ Briefe 1924–1952, Berlin 2008. Stadt Mainz: Verleihung der Ehrenbürgerwürde 1981 an Anna Seghers. Pressedokumentation, Amt für Öffentlichkeitsarbeit Mainz 1981. Sternburg, Wilhelm von: Anna Seghers. Ein biographischer Essay, Ingelheim 2010.
zu Carl Zuckmayer: Becker, Jochen: Carl Zuckmayer und seine Heimaten. Ein biographischer Essay, Mainz 1989. Heist, Walter (Textred.): Carl Zuckmayer in Mainz (Kleine Mainzer Bücherei, Bd. 1), Mainz (1970). Landeshauptstadt Mainz (Hg.): Festschrift für Carl Zuckmayer zu seinem 80. Geburtstag am 27. Dezember 1976, Mainz 1976. Rotermund, Erwin/Heidrun Ehrke-Rotermund: Carl Zuckmayer. Vitalist, kritischer Humanist, gesellschaftlicher Repräsentant. Gesammelte Reden und Aufsätze, Würzburg 2012. Strasser, Christian: Carl Zuckmayer. Deutsche Künstler im Salzburger Exil 1933– 1938, Wien, Köln, Weimar 1996.
zu beiden: Keim, Anton Maria (Hg.): Exil und Rückkehr, Emigration und Heimkehr. Ludwig Berger, Rudolf Frank, Anna Seghers und Carl Zuckmayer (Mainz-Edition Bd. 3), Mainz 1986.
Die Autorinnen und Autoren Prof. Dr. Gabriele B. Clemens, geb. 1961 in Langerwehe (NRW), Studium der Geschichte, Kunstgeschichte und Germanistik an der Universität Trier, Promotion 1993, Habilitation 2002, seit 2007 Professorin für Neuere Geschichte und Landesgeschichte an der Universität des Saarlandes, Vorsitzende des Wissenschaftlichen Beirates des Deutschen Historischen Instituts Rom und der Kommission für Saarländische Landesgeschichte. Publikationen zur europäischen Wirtschafts-, Kultur- und Gesellschaftsgeschichte im langen 19. Jahrhundert. Dr. Markwart Herzog, geb. 1958 in Heilbronn am Neckar, Studium der Philosophie, Theologie und Kommunikationswissenschaften in München, 1989–1997 Wissenschaftlicher Assistent an der Hochschule für Philosophie München, 1997–2009 Wissenschaftlicher Bildungsreferent und seit 2009 Direktor der Schwabenakademie Irsee, Publikationen über Themen der Sport-, Religions-, Theologie-, Medizin- und Strafrechtsgeschichte, Gründungsmitglied der Deutschen Akademie für Fußballkultur, seit Saison 2009/10 Mitglied der Redaktion von „In Teufels Namen“, Mitgliedermagazin des 1. FC Kaiserslautern. Peter Krawietz, geb.1946 in Bingen, Studium der Anglistik, Amerikanistik und Geschichte an der Johannes Gutenberg Universität in Mainz, Teaching Fellow an der University of Michigan in Ann Arbor, USA, Lehrer am Technischen Gymnasium der BBS1 in Mainz, Gastdozent und Ehrendoktor der Burdenko Universität in Voronesh, Mainzer Schul- und Kulturdezernent a.D., Veröffentlichungen zur Lokalgeschichte, Geschichte des karnevalistischen Brauchtums und zur Geschichte des Schulwesens. Dr. phil. Stefan Krolle (OStD), geb. 1957, Historiker, Schulleiter am Cato Bontjes van Beek-Gymnasium in Achim (Niedersachsen). Prof. Dr. Wolfgang Schieder, geb. 1935, Promotion in Heidelberg 1962, 1970 Professor für Neuere und Neueste Geschichte an der Universität Trier, 1991 bis zur Emeritierung im Jahr 2000 an der Universität zu Köln, 1996 Dr. h.c. der Universität Bologna. Prof. Dr. Stefan Weinfurter, geb. 1945, bis 2013 Ordinarius für Mittelalterliche Geschichte an der Universität Heidelberg, seither Seniorprofessor ebendort und Direktor der Forschungsstelle Geschichte und kulturelles Erbe, Mitglied der Heidelberger Akademie der Wissenschaften.
Bildnachweis Arbeitshilfen für die Schule, Jugend- und Erwachsenenbildung Nr. 11, Carl Zuckmayer in der Schule
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Archiv der Arbeitsgemeinschaft Burg Waldeck, Dorweiler
S. 40, 41, 43, 45, 46, 49, 53, 54, 58
Klaus Benz
S. 112
Codex Aureus, Escorial, Cod. Vitrinas 17, Sol. 2v u. 3r
S. 12, 13
1. FC Kaiserslautern, Museum
S. 64
NSZ Rheinfront, 28.8.1934
S. 71
NSZ Westmark, 10.4.1940 u. 4.6.1943
S. 70, 72
Privatarchiv Anne Radvanyi
S. 106, 108
Privatbesitz
S. 68, 69, 75
Stadtarchiv Kaiserslautern
S. 62
Stadtarchiv Koblenz
S. 33
Stadtarchiv Mainz
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Weinfurter
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Zeitschrift zur Veranstaltungsreihe in Henndorf und Köstendorf, 7.9.-27.10.1996
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m a i n z e r vo rt r äg e Herausgegeben vom Institut für Geschichtliche Landeskunde an der Universität Mainz e.V. Die Mainzer Vorträge des Instituts für Geschichtliche Landeskunde an der Johannes GutenbergUniversität Mainz e.V. verfolgen das Ziel, wichtige historische Themen und Ergebnisse der Forschung einem breiten, historisch interessierten Publikum zu präsentieren. Dank der seit Jahren vorzüglichen Kooperation mit der Akademie des Bistums Mainz – Erbacher Hof steht dafür mit dem Haus am Dom ein idealer Veranstaltungsort im Herzen der Stadt zur Verfügung. So trägt die jeweils im Januar/Februar veranstaltete Vortragsreihe ebenso wie die Präsentation der neuen Bände der wissenschaftlichen Reihe Geschichtliche Landeskunde im Rathaus und an anderen Orten dazu bei, die Verbindung zwischen der Universität und der Stadt zu vertiefen. Die Vortragsreihe steht jeweils unter einem Generalthema, das von Fachleuten vorwiegend, aber nicht ausschließlich mit regionalgeschichtlichem Bezug in verschiedenen historischen Epochen behandelt wird. Die wachsenden Zuhörerzahlen bestätigen, dass das Konzept angenommen wird. Die Drucklegung in einer preiswerten Reihe will vor allem den Hörerinnen und Hörern die Gelegenheit geben, den flüchtigen Eindruck des Vortrags zu vertiefen bzw. versäumte Vorträge nachzulesen. Die einzelnen Bände werden allen Mitgliedern des Instituts für Geschichtliche Landeskunde e.V. auf Anforderung als Jahresgabe überreicht. Die Vorträge wie die Publikation wenden sich also nicht primär an die Fachwissenschaftler, die gleichwohl willkommen sind (und in erfreulicher Zahl erscheinen). Die gedruckte Vortragsfassung bietet in der Regel weiterführende Literaturhinweise, aber nur ausnahmsweise Fußnoten und Register. Wenn die Mainzer Vorträge trotzdem wissenschaftlich anregend wirken, so ist das ein willkommener Nebeneffekt.
Franz Steiner Verlag
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ISSN 0949–4596
Michael Matheus (Hg.) Juden in Deutschland 1995. 144 S. mit 20 Abb. und 3 Ktn., kt. ISBN 978-3-515-06788-1 Michael Matheus (Hg.) Regionen und Föderalismus 50 Jahre Rheinland-Pfalz 1997. 120 S. mit 2 Abb. und 3 Ktn. (davon 1 fbg.), kt. ISBN 978-3-515-06879-6 Michael Matheus (Hg.) Fastnacht / Karneval im europäischen Vergleich 1999. 199 S. mit 42 Abb., 6 Tab. und 4 Diagr., kt. ISBN 978-3-515-07261-8 Michael Matheus (Hg.) Pilger und Wallfahrtsstätten in Mittelalter und Neuzeit 1999. 135 S. mit 33 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07431-5
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Michael Matheus (Hg.) Badeorte und Bäderreisen in Antike, Mittelalter und Neuzeit 2001. 131 S., kt. ISBN 978-3-515-07727-9 Sigrid Schmitt (Hg.) Frauen und Kirche 2002. 138 S. mit 10 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08060-6 Michael Matheus (Hg.) Stadt und Wehrbau im Mittelrheingebiet 2003. 132 S. mit 49 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08228-0 Sigrid Schmitt / Michael Matheus (Hg.) Kriminalität und Gesellschaft in Spätmittelalter und Neuzeit 2005. 137 S. mit 14 Abb., 3 Tab. und 1 fbg. Faltkte., kt. ISBN 978-3-515-08281-5
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Franz J. Felten (Hg.) Bonifatius – Apostel der Deutschen Mission und Christianisierung vom 8. bis ins 20. Jahrhundert 2004. 159 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08519-9 10. Michael Matheus (Hg.) Lebenswelten Johannes Gutenbergs 2005. 216 S. mit 23 Abb., kt. ISBN 978-3-515-07728-6 11. Franz J. Felten (Hg.) Städtebünde – Städtetage im Wandel der Geschichte 2006. 121 S. mit 9 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08703-2 12. Franz J. Felten (Hg.) Mainzer (Erz-)Bischöfe in ihrer Zeit 2008. 169 S. mit 19 Abb., kt. ISBN 978-3-515-08896-1 13. Franz J. Felten (Hg.) Frankreich am Rhein Vom Mittelalter bis heute 2009. 236 S. mit 43 Abb., kt. ISBN 978-3-515-09327-9
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Der von Pierre Nora für Frankreich entwickelte Begriff der „lieux de mémoire“ hat in den letzten Jahren europaweit viel Beachtung gefunden. „Erinnerungsorte“ umfassen nicht nur Orte oder Bauwerke im engeren Sinne, sondern auch Ereignisse, Symbole, Personen und Begriffe, mit denen eine kollektive Erinnerung verknüpft ist. Diese Erinnerung kann eine lange Dauer haben, ist in politische, soziale und kulturelle Gemeinschaften eingebettet und kann sich je nach Wahrnehmung, Akzeptanz, Ablehnung oder Neukonstruktion wandeln. Anknüpfend an dieses Konzept werden Erinnerungsorte in Rheinland-Pfalz vor-
gestellt, wie sie unterschiedlicher nicht sein könnten. So werden Funktion, Memoria und Mythos des Doms zu Speyer und der im Trierer Dom aufbewahrte „Heilige Rock“ ebenso auf ihre Bedeutung als „Erinnerungsorte“ abgeklopft wie die „Jugendburg“ Waldeck im Hunsrück als Aufbruchssymbol der Jugend und das Denkmal für Kaiser Wilhelm I. am Deutschen Eck in Koblenz. Der Beitrag „Anna Seghers und Carl Zuckmayer in der Erinnerung der Mainzer“ widmet sich „immateriellen Erinnerungsorten“. Mit dem Betzenberg in Kaiserslautern wird belegt, dass auch ein Fußballstadion zum Erinnerungsort werden kann.
www.steiner-verlag.de Franz Steiner Verlag
ISBN 978-3-515-11200-0
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