Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa: Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff 9783050093437, 9783050056586

The handbook regards religion as a “cultural system” in two dimensions: both in terms of a point of depature that can ad

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German Pages 1071 [1072] Year 2013

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Table of contents :
Vorwort
Einleitung: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa
I. Stätten: Die geographische Dimension der Erinnerung
Chersones
Alba Iulia
Neutra
Devín
Gran – Erzbistum und Dom
Kiew – das „Neue Jerusalem“
Mariazell
Pannonhalma
Kloster Počajiv
Lemberg
Die Marienburg
Der Fürstenhof in Argeş
Mariaberg in Leutschau
Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz
Heiligelinde
Tschenstochau
Tyrnau
Preßburg
Debrecen, das „Calvinistische Rom“
Oberschlesische Wallfahrtsorte
Der Patriarchatshügel in Bukarest
Metropolie (Patriarchat) von Karlowitz
Máriapócs
Der Wallfahrtsort Schossberg
Nicula
Der Berg der Kreuze
Der Wallfahrtsort Međugorje
II. Artefakte: Die gegenständliche Dimension der Erinnerung
Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica)
Der Prager Veitsdom
Das Rila-Kloster in Bulgarien
Der Wawel – Dom und Königsgräber
Die Kaloža-Kirche
Die Bogurodzica
Der Elisabethdom in Kaschau
Die „Schwarze Kirche“ in Kronstadt
Die Prager Betlehemskapelle
Ungarische Kirchenschätze
Siebenbürgische Kirchenburgen
Der Croy-Teppich
Die Kralitzer Bibel
Die Bibel von Vizsoly
Das Bild der Muttergottes in Wilna
Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien
Marien- und Dreifaltigkeitssäulen
Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna
Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“
Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad
Das Mariensanktuarium von Licheń
III. Menschen: Die personale Dimension der Erinnerung
Der heilige Demetrios
Anastasia, Chrysogonus und Donatus in Zadar
Split, Salona und der heilige Domnius
Kyrill und Method
Kliment von Ohrid
Wenzel
Adalbert
Brun von Querfurt
Der heilige Stephan, König von Ungarn
Der heilige Gerhard, Bischof von Tschanad
Stanislaus von Krakau
Otto von Bamberg
Eŭfrasinnja von Polack, Patronin Weißrußlands
Die heiligen Nemanjiden
Sava
Hedwig (von Schlesien)
Dorothea von Montau
Hedwig von Anjou
Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina
Jan Hus
Johannes der Neue von Suceava
Stefan der Große
Johannes von Dukla
Johannes Bugenhagen
Johannes Honterus
Johann Amos Comenius
Stephan Bocskai
Jan Sarkander
Josafat Kuncevyč
Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa
Israel Friedman (Israel der Ružyner)
Bischof Josip Juraj Strossmayer
Nikolaj Velimirović
Kardinal Alojzije Stepinac
Papst Johannes Paul II
IV. Kommunikate: Die ideelle Dimension der Erinnerung
Die Taufe Polens – das Jahr 966
Antemurale Christianitatis
Der serbische Kosovomythos
Die Schlacht bei Warna 1444
Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485
Die Schlacht bei Mohács 1526
Szigetvár 1566
Das Religionsedikt von Thorenburg (1568)
Die Warschauer Konföderation von 1573
Die Union von Brest
Die Union von Marča
Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620
Die ungarischen Galeerensklaven
Hungaria eliberata
Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia
Die Altranstädter Konvention
Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus
Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau
Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter
Personenregister
Ortsregister (mit Konkordanz)
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Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa: Konstitution und Konkurrenz im nationen- und epochenübergreifenden Zugriff
 9783050093437, 9783050056586

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Bahlcke, Rohdewald, Wünsch (Hg.) Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa

Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa Konstitution und Konkurrenz im nationenund epochenübergreifenden Zugriff

Herausgegeben von Joachim Bahlcke, Stefan Rohdewald, Thomas Wünsch In Verbindung mit Meinolf Arens, Katrin Boeckh, Márta Fata, Norbert Kersken, Stefan Samerski, Daniel Ursprung und Evelin Wetter

Akademie Verlag

Titelbild: Museum Narodowe w Krakowie, nr. inw. MNK II-a-8. Einbandkonzept: hauser lacour Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar. Library of Congress Cataloging-in-Publication Data A CIP catalog record for this book has been applied for at the Library of Congress. Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt. Die dadurch begründeten Rechte, insbesondere die der Übersetzung, des Nachdrucks, des Vortrags, der Entnahme von Abbildungen und Tabellen, der Funksendung, der Mikroverfilmung oder der Vervielfältigung auf anderen Wegen und der Speicherung in Datenverarbeitungsanlagen, bleiben, auch bei nur auszugsweiser Verwertung, vorbehalten. Eine Vervielfältigung dieses Werkes oder von Teilen dieses Werkes ist auch im Einzelfall nur in den Grenzen der gesetzlichen Bestimmungen des Urheberrechtsgesetzes in der jeweils geltenden Fassung zulässig. Sie ist grundsätzlich vergütungspflichtig. Zuwiderhandlungen unterliegen den Strafbestimmungen des Urheberrechts. © 2013 Akademie Verlag GmbH www.degruyter.de/akademie Ein Unternehmen von De Gruyter Gedruckt in Deutschland Dieses Papier ist alterungsbeständig nach DIN/ISO 9706. ISBN 978-3-05-005658-6

Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XIII

Einleitung: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa . . . . . . . . . . . . . . . . . .

XV

I. Stätten: Die geographische Dimension der Erinnerung Kerstin S. Jobst Chersones . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

3

Florian Kührer-Wielach Alba Iulia . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

13

Peter Šoltés Neutra . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

20

Markus Peter Beham Devín . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

27

Dániel Bagi Gran – Erzbistum und Dom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

33

Liliya Berezhnaya Kiew – das „Neue Jerusalem“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

37

Robert Born Mariazell . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

52

Géza Érszegi Pannonhalma . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

66

Liliya Berezhnaya Kloster Počajiv . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

74

Christophe von Werdt Lemberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

81

Tomasz Torbus Die Marienburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

91 V

Inhalt

Krista Zach Der Fürstenhof in Argeş . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

99

Peter Šoltés Mariaberg in Leutschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

110

Maria Kłańska Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

117

Andrzej Kopiczko Heiligelinde . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

126

Agnieszka Gąsior Tschenstochau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

136

István Bitskey Tyrnau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

149

Dušan Buran Preßburg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

158

János L. Győri Debrecen, das „Calvinistische Rom“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

166

Juliane Haubold-Stolle Oberschlesische Wallfahrtsorte . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

174

Cornelius R. Zach Der Patriarchatshügel in Bukarest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

181

Bojan Aleksov Metropolie (Patriarchat) von Karlowitz . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

187

Márta Fata Máriapócs . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

195

Peter Šoltés Der Wallfahrtsort Schossberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

202

Robert Born Nicula . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

209

VI

Inhalt

Arūnas Streikus Der Berg der Kreuze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

223

Stefan Kube Der Wallfahrtsort Međugorje . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

232

II. Artefakte: Die gegenständliche Dimension der Erinnerung Elisabeth von Erdmann Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

241

Milena Bartlová Der Prager Veitsdom . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

251

Daniel Ziemann Das Rila-Kloster in Bulgarien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

260

Wojciech Bałus Der Wawel – Dom und Königsgräber . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

271

Urszula Anna Pawluczuk Die Kaloža-Kirche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

279

Izabela Skierska Die Bogurodzica . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

285

Ingrid Kušniráková Der Elisabethdom in Kaschau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

294

Albert Weber Die „Schwarze Kirche“ in Kronstadt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

302

Milena Bartlová Die Prager Betlehemskapelle . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

313

Evelin Wetter Ungarische Kirchenschätze . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

319

Robert Born Siebenbürgische Kirchenburgen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

333 VII

Inhalt

Marcin Wisłocki Der Croy-Teppich . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

350

Jiří Just Die Kralitzer Bibel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

360

András Szabó Die Bibel von Vizsoly . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

372

Giedrė Mickūnaitė Das Bild der Muttergottes in Wilna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

377

Roland Gehrke Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

384

Robert Born Marien- und Dreifaltigkeitssäulen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

396

Paulius V. Subačius Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

410

Paulius V. Subačius Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

420

Anna Maria Grünfelder/Daniel Lalić Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad . . . . . . . . . . . . . . . . . .

430

Agnieszka Gąsior Das Mariensanktuarium von Licheń . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

439

III. Menschen: Die personale Dimension der Erinnerung Peter Soustal Der heilige Demetrios . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

451

Marija Vulesica Anastasia, Chrysogonus und Donatus in Zadar . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

459

Ivan Brčić Split, Salona und der heilige Domnius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

464

VIII

Inhalt

Markus Peter Beham/Stefan Rohdewald Kyrill und Method . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

473

Mihajlo St. Popović Kliment von Ohrid . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

494

Stefan Samerski Wenzel . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

501

Eligiusz Janus Adalbert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

512

Grzegorz Białuński Brun von Querfurt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

524

Zoltán Magyar Der heilige Stephan, König von Ungarn . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

534

Edit Madas Der heilige Gerhard, Bischof von Tschanad . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

544

Stefan Samerski Stanislaus von Krakau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

554

Norbert Kersken Otto von Bamberg . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

561

Kerstin S. Jobst Eŭfrasinnja von Polack, Patronin Weißrußlands . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

574

Konrad Petrovszky Die heiligen Nemanjiden . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

583

Stefan Rohdewald Sava . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

592

Winfried Irgang Hedwig (von Schlesien) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

599

Stefan Samerski Dorothea von Montau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

609 IX

Inhalt

Stephan Flemmig Hedwig von Anjou . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

618

Daniel Lalić Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

626

Jiří Just Jan Hus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

637

Krista Zach Johannes der Neue von Suceava . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

649

Krista Zach Stefan der Große . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

661

Thomas Wünsch Johannes von Dukla . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

669

Irmfried Garbe Johannes Bugenhagen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

678

Harald Roth Johannes Honterus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

686

Joachim Bahlcke/Lenka Řezníková Johann Amos Comenius . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

693

Nóra Etényi Stephan Bocskai . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

709

Stefan Samerski Jan Sarkander . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

717

Kerstin S. Jobst/Stefan Rohdewald Josafat Kuncevyč . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

726

Alfons Brüning Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

736

Andrei Corbea-Hoisie Israel Friedman (Israel der Ružyner) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

749

X

Inhalt

Stefan Kube Bischof Josip Juraj Strossmayer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

757

Bojan Aleksov Nikolaj Velimirović . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

765

Katrin Boeckh Kardinal Alojzije Stepinac . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

771

Stefan Samerski Papst Johannes Paul II. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

781

IV. Kommunikate: Die ideelle Dimension der Erinnerung Andrzej Pleszczyński Die Taufe Polens – das Jahr 966 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

795

Paul Srodecki Antemurale Christianitatis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

804

Radmila Radić Der serbische Kosovomythos . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

823

Dániel Bagi Die Schlacht bei Warna 1444 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

833

Jiří Just Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

838

Zsolt K. Lengyel Die Schlacht bei Mohács 1526 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

851

Márta Fata Szigetvár 1566 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

865

Julia Dücker Das Religionsedikt von Thorenburg (1568) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

874

Tomasz Kempa Die Warschauer Konföderation von 1573 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

883 XI

Inhalt

Christoph Augustynowicz Die Union von Brest . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

897

Bojan Aleksov/Zlatko Kudelić Die Union von Marča . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

905

Jiří Mikulec Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

913

Péter Kónya Die ungarischen Galeerensklaven . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

924

János Barta Hungaria eliberata . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

931

Albert Weber Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia . . . . . . . . . . . . . . . . . .

939

Susanne Mall Die Altranstädter Konvention . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

954

Rudolf Leeb Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

965

Maximilian Eiden Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

978

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

990

Personenregister . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . .

996

Ortsregister (mit Konkordanz) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 1020

XII

Vorwort Die Idee für das Projekt, dessen Ertrag hiermit vorgelegt wird, wurde im April 2004 geboren. Sie war motiviert von dem Anliegen, innerhalb der „Fachkommission Kirchenund Religionsgeschichte“ des Johann Gottfried Herder-Forschungsrats ein Verbundprojekt in Angriff zu nehmen, das möglichst viele Kommissionsmitglieder und extra angeworbene Beiträger versammelt und die übliche Kurzatmigkeit von Tagungsbänden vermeidet. Daß angesichts eines Publikationsdatums von 2013 ein derart langer Atem nötig sein würde, war den Initiatoren, Joachim Bahlcke und Thomas Wünsch, nicht von Anfang an klar. Die Entwicklung zum Langfristprojekt zeichnete sich ab, als es daran ging, einen Kanon von religiösen Erinnerungsorten zu erstellen, der die verschiedenen Teilregionen Ostmitteleuropas wenigstens in groben Zügen repräsentiert: ein nördliches Ostmitteleuropa mit Blickrichtung Baltikum, ein mittlerer Teil mit Polen, Böhmen und Ungarn im Zentrum sowie ein südlicher Teil, der in den Balkan hineinreicht. Auch wenn vergleichsweise rasch Einigkeit erzielt wurde, sowohl den eigentlich islamischen als auch den mehrheitlich orthodoxen Großraum in Süd- und Osteuropa – mithin das Osmanische Reich beziehungsweise die Türkei und Rußland beziehungsweise die Sowjetunion – auszuklammern, so bereitete doch die Erstellung einer „Top 100“-Liste selbst für ein Dutzend Fachvertreter keine geringe Herausforderung. Sie wurde bewältigt in zwei programmatischen Tagungen, die in den Jahren 2006 und 2010 in der Akademie Mitteleuropa in Bad Kissingen stattfanden. Parallel zur Debatte um die aufzunehmenden Orte verlief die Diskussion des methodischen Kerns des Gesamtprojekts; jeder Einzelbeitrag sollte – auch wenn Gegenstand und Autorenpersönlichkeit eine gewisse Variationsbreite verlangten – das allgemeine Anliegen widerspiegeln. Dabei erwies es sich als hilfreich, die genannten Tagungen als Workshops anzulegen, um dem Ensemble von Herausgebern, Koordinatoren und einzelnen Autoren ein gleiches Set an methodischer Vorbildung zu vermitteln. Die Anlage einer Website (seit 2007) flankierte das Bestreben einer weiterführenden Informationsvermittlung, gepaart mit Werbung für weitere Autoren. Neben der Definition des Kanons an Erinnerungsorten standen von Anfang an praktische Orientierungsnöte, hier besonders die Regelung der Schreibweise von Namen, im Raum. Da die Kombination von wissenschaftlicher Vollständigkeit und politischer Korrektheit bei den historischen Varianten der Orts- und Personennamen jede Lesbarkeit verhindert hätte, wurde eine pragmatische Lösung gewählt. Die Texte enthalten, abgesehen von weiterführenden Erklärungen etwa zu antiken Ortsnamensformen oder Pseudonymen, jeweils nur eine Variante eines Orts- oder Personennamens. Die Register führen diese Form als Haupteintrag an sowie Verweise von den fremdsprachigen Fassungen auf diesen Haupteintrag (Ortsnamen) oder die Auflistung der weiteren Varianten von Personennamen unmittelbar in der Zeile des Haupteintrags (Personennamen und Ortsnamen). Wo gebräuchliche deutsche Ortsnamen bekannt sind, wurden diese für den Haupteintrag und die Hauptform in den Texten gegenüber den Namensvarianten in den XIII

Vorwort

heutigen Staatssprachen bevorzugt. Im Register werden nur Varianten aufgeführt, die heutigen und früheren Staatssprachen entsprechen. Minderheitssprachliche Formen, die nicht mit einer staatlichen Tradition in Verbindung stehen, bleiben mit wenigen Ausnahmen ausgeklammert. Regierende Herrscher sind in den Texten oft mit eingedeutschten Vornamen genannt, wenn entsprechende Namensformen gebräuchlich sind. Das Register enthält alle relevanten fremdsprachigen Formen. Wo deutsche Namen nicht fest etabliert sind, bevorzugen wir die Version in der wichtigsten oder nominalen Staatssprache des heutigen Staates, der das Gebiet umfaßt, in dem der Akteur geboren wurde oder sich überwiegend bewegte. Die kyrillischen Alphabete werden in wissenschaftlicher Transliteration und nicht in Transkription wiedergegeben. Ausnahmen bestätigen diese Regeln. Nach fast einer Dekade des gemeinsamen Arbeitens ist es Zeit, Dank abzustatten. Allen voran ist den Autoren zu danken; ohne ihren Einsatz und ihre Bereitschaft, Form und Inhalt der Texte zu diskutieren und das Erreichte oft mehrfach zu ändern, wäre dieses Projekt nicht abschließbar gewesen. Zu danken ist daneben denjenigen Institutionen, die langjährige Unterstützung gewährten: sei es für das Gesamtprojekt, was für den HerderForschungsrat zutrifft; sei es für Teile daraus, was im Fall der Historischen Kommission für Schlesien gilt. Aber auch die Heimatuniversitäten der beiden Initiatoren, Stuttgart und Passau, haben fördernd gewirkt, indem sie den entsprechenden Forschungsspielraum bereitstellten. Ganz besonderer Dank gilt schließlich dem Akademie-Verlag, dessen Geschäftsleitung bereits frühzeitig Interesse an der Drucklegung des noch im Projektstadium befindlichen Werks anmeldete. Die Freiheit der inhaltlichen und äußeren Gestaltung in einem solchen Maße eingeräumt zu bekommen, wie es in dieser Zusammenarbeit mit dem Akademie-Verlag der Fall war, ist ein besonderes Privileg. Herzlicher Dank gilt schließlich Oliver Rösch, der sich mit gewohnter Umsicht der Vorbereitung der Beiträge zum Druck angenommen hat. Stuttgart/Gießen/Passau, im August 2013 Joachim Bahlcke – Stefan Rohdewald – Thomas Wünsch

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Einleitung: Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa I. Erinnerung: Epochenübergreifende Merkmale des sozialen Gedächtnisses. – II. Orte: Die Konstitution von Erinnerungsorten als intentionaler Akt. – III. Religion: Multikonfessionalität im Spannungsfeld der Konkurrenz. – IV. Ostmitteleuropa: Die nationsübergreifende Konstante religiöser Erinnerung.

I. Erinnerung: Epochenübergreifende Merkmale des sozialen Gedächtnisses Theoretischer Ausgangspunkt für alle jüngeren Forschungen zu „Erinnerungsorten“, „Erinnerungskulturen“ oder „Erinnerungsfiguren“ ist die klassische Abhandlung des französischen Soziologen Maurice Halbwachs von 1925.1 Dort wird richtungweisend dargelegt, daß es neben dem je eigenen Gedächtnis des Einzelmenschen auch ein „Gruppengedächtnis“ (mémoire collective) gibt, das sozial und kulturell determiniert ist und eine übergreifende Dauer aufweist. Diese Einsicht ist beziehungsweise war insofern revolutionär, als Gruppen schon von den anatomisch-physiologischen Grundkonstanten her eine andere Art von Erinnerung aufweisen müssen als Individuen – und von daher die Übertragbarkeit von Erkenntnissen aus der Individualpsychologie auf gesellschaftliche Phänomene immer (wieder) mit einem Fragezeichen zu versehen ist.2 Ist man also geneigt, auch einer über die Individuen hinausgehenden Einheit die Fähigkeit zur Erinnerung zuschreiben zu wollen, muß man zwangsläufig mit anderen Kategorien der Produktion, Festigung und Strukturierung des Erinnerten arbeiten. Diese Differenz droht in der Adaption, sprich: in der der wissenschaftlichen Anwendung, leicht verlorenzugehen – was schon dadurch unterstützt wird, daß wir rein sprachlich keine Alternative besitzen. Genauso wenig wie Gruppen oder „Massen“ ein eigenes Gehirn haben, genauso wenig haben sie ein Gedächtnis im biologischen Sinn. Halbwachs selbst lieferte immerhin eine Gebrauchsanweisung für den Umgang mit diesem Problem, indem er die Rekonstruktivität des Kollektivgedächtnisses betonte. Das bedeutet, Vergangenheit wird nicht „als solche“ bewahrt, sondern nur das, was einer Gesellschaft in einer bestimmten Epoche als bewahrungswürdig erscheint und zugänglich ist. Das kollektive Gedächtnis besteht, wie Lutz Niethammer in seinen Ausführungen zu Halbwachs anmerkt, „aus kulturellen Repräsentationen einer Gruppe im Raum“.3 Das freilich trifft mutatis mutandis auf das individuelle Gedächtnis ebenfalls zu, wie be-

1 HalbwacHs, Maurice: Les cadres sociaux de la mémoire. Paris 1925 [dt. Berlin 1966]. 2 Zuletzt von ReinHaRdt, Dirk: „Kollektive Erinnerung“ und „kollektives Gedächtnis“? Zur Frage der Übertragbarkeit individualpsychologischer Begriffe auf gesellschaftliche Phänomene. In: wiscHeRmann, Clemens (Hg.): Die Legitimität der Erinnerung und die Geschichtswissenschaft. Stuttgart 1996, 87–100. 3 nietHammeR, Lutz: Kollektive Identität. Heimliche Quellen einer unheimlichen Konjunktur. Hamburg 2000, 347.

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reits die (historisch relevanten) Zeugnisse zum „erinnerten Ich“4 in überreichem Maße zeigen. Erst recht gilt das für die näher an Psychologie und Biologie angelagerte kulturwissenschaftlich-interdisziplinäre Forschung: Gedächtnis erscheint hier, ausgehend von den Überlegungen des Biologen und Philosophen Humberto Maturana, gar nicht als System der Bewahrung, sondern als System der Ermöglichung eines bestimmten Verhaltens. Aufgrund seiner autopoietischen Qualitäten verbindet sich mit Gedächtnis viel eher „Wahrnehmung“ als „Erinnerung“ im Sinn eines Speichers für die Aufbewahrung von Vergangenem.5 Bindet man diese Ergebnisse zurück an die soziale Ebene, so ist die Analogie unübersehbar: Auch hier, im Kontext von Gesellschaften, ist ein produktives Verfahren erkennbar, kein konservatives. Das führt Peter M. Hejl dazu,6 Gesellschaften einen „Wissensspeicher im Sinne des Speichermodells von Gedächtnis“ überhaupt abzusprechen – was, nota bene, nichts anderes bedeutet als eine implizite Rehabilitation von Halbwachs gegen Niethammer: Halbwachs „schüttet das Kind“ eben doch nicht „mit dem Bade aus“, wenn er mit den Mitteln „seine[r] aufklärerische[n] Soziologie“ die religiösen Traditionen mit ihren mythischen Bestandteilen konfrontiert und damit eine Reihung („Kette“) in kulturellen Manifestationen allgemein ausmacht.7 Es geht immer um „Definitionsmerkmale einer Gruppe“,8 und die Aufgabe künftiger Forschung könnte sein, diese Setzungen möglichst präzise und im zeitlichen Längsschnitt herauszuarbeiten.9 In erheblichem Umfang haben die Geschichtswissenschaften einen Teil des Theorieangebots eines „Gruppengedächtnisses“ bereits aufgegriffen. Vorbildgebend ist der dreibändige Anlauf von Etienne François und Hagen Schulze zu Beginn dieses Jahrtausends geworden, „Deutsche Erinnerungsorte“ zu sammeln. Hier wird, in direktem Anschluß an Halbwachs, die Tragweite der Hypothese von „Kollektiverinnerungen“10 ausgelotet. Solche kollektiven Erinnerungen sind nach Meinung der Autoren eng an Gruppenbildungen beziehungsweise bestimmte soziale Milieus geknüpft; je nach deren spezifischer Gestalt würden sich dann auch Besonderheiten in den Formen und Objekten der Erinnerung zeigen. Hinzuzufügen wäre, daß zur Konstante der „Erinnerung“ auch das Komplementär des Vergessens gehört, das heißt: Relevant sind nicht nur Tatsache und Umfang von Er4 GReyeRz, Kaspar von u. a. (Hg.): Von der dargestellten Person zum erinnerten Ich. Europäische Selbstzeugnisse als historische Quellen (1500–1850). Köln/Weimar/Wien 2001. 5 scHmidt, Siegfried J.: Gedächtnisforschungen: Positionen, Probleme, Perspektiven. In: deRs. (Hg.): Gedächtnis. Probleme und Perspektiven der interdisziplinären Gedächtnisforschung. Frankfurt/M. 1991, 9–55, hier 24. 6 HeJl, Peter m.: Wie Gesellschaften Erfahrungen machen oder: Was Gesellschaftstheorie zum Verständnis des Gedächtnisproblems beitragen kann. In: scHmidt (Hg.): Gedächtnis, 293–336, hier 324. 7 nietHammeR: Kollektive Identität, 348, 355. 8 Ebd., 360. 9 Als Beispiel RotH, Klaus: „... Wenn unvorsichtige Hände unsere Heiligtümer anfassen“. Vom Umgang mit historischen Mythen in Bulgarien. In: Südosteuropa Mitteilungen 49/6 (2009) 16–29. 10 FRançois, Etienne/scHulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1–3. München 2001, hier Bd. 1, 13.

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innerung, sondern auch mögliche Lücken, abgerissene Erinnerungsstränge, bis hin zum scheinbar völligen Vergessen beziehungsweise dessen Überwindung durch eine Neubelebung. Peter Burke hat den Vorschlag gemacht, von „Erinnerungsgemeinschaften“ zu sprechen,11 was den Vorzug besitzt, damit dieser zentralen Kategorie beziehungsweise Funktion des Gedächtnisses – dem Vergessen – Rechnung tragen zu können. Denn insofern solche innergesellschaftlichen Trägergruppen von Erinnerung am Werk sind, ist auch der Weg hin zur „sozialen Amnesie“ nicht weit, wie Burke es betont hat. Solche „Erinnerungsgemeinschaften“ können als das systematische Korrelat zum Langzeitgedächtnis im Individualgehirn verstanden werden12 – was nichts anderes bedeutet, als daß im kulturellen Haushalt des Kollektivums eine dauerhafte („anatomische“, nicht nur „funktionelle“) Veränderung stattgefunden hat, die auch für spätere Zeiten noch eine Erinnerung an einmal stattgehabte Vorgänge und Erfahrungen gewährleisten kann. Auch die am historischen Material gewonnenen Einsichten zur kollektiven Memoria gehen in eine ähnliche Richtung. Es scheint sachdienlich anzunehmen, daß einmal verankerte Gedächtnisinhalte in Abhängigkeit von der jeweiligen Situation reproduziert werden. Schon die aktive Erinnerung – also die Teilhabe an dem von Eric Kandel identifizierten „expliziten“ oder „deklaratorischen“ Gedächtnis13 – an sich ist bemerkenswert, und dazu kommt noch die Art, in der sie geschieht. Erinnerung (in einer nach außen sichtbaren Form) ist also immer mit Konstruktion oder Kreation verbunden, unabhängig davon, wie weit entfernt der Ausgangspunkt gerückt ist. Das Interesse der kulturwissenschaftlichen Forschung, so die Folgerung aus dieser Hypothese, muß dementsprechend den Formen und Funktionen dieser kreativen Prozesse gelten. Ist man sich über diesen Punkt einig, empfiehlt sich eine zwar nur partielle, aber dennoch deutliche Distanzierung von Pierre Nora als dem geistigen Ahnherrn des Konzepts der Erinnerungsorte. Grundannahme Noras ist, daß die lieux der Erinnerung nichts anderes seien als die Überreste der milieux der Erinnerung.14 Dahinter steht die Hypothese, daß es eine gestaffelte Rezeption von Geschehenem gebe: zu Beginn eine spontane Bindung, mit persönlicher Anteilnahme (= mémoire); sodann die Form der bewußten Rekonstruktion (= histoire), die auf Dauer das Verhältnis zum Geschehenen bestimme.15 Nora bewertet die mémoire deutlich positiver als die histoire – wobei deutlich wird, daß er kein Interesse an „Geschichte als Wissenschaft“ hat und in großem Umfang von ideologischen Vorannahmen geprägt ist. Es gibt für ihn ein „echtes, unberührtes Gedächtnis“ und dann, als Kontrast, die „Geschichte“, also das, was „unsere Gesellschaften [...] aus der Vergan11 buRke, Peter: Geschichte als soziales Gedächtnis. In: assmann, Aleida/HaRtH, Dietrich (Hg.): Mnemosyne. Formen und Funktionen der kulturellen Erinnerung. Frankfurt/M. 1991, 289–304, hier 298f. 12 kandel, Eric: Auf der Suche nach dem Gedächtnis. Die Entstehung einer neuen Wissenschaft des Geistes. München 22009 [12006], 263–270. 13 Ebd., 150. 14 noRa, Pierre: Les lieux de mémoire, Bd. 1–7. Paris 1984–1992, hier Bd. 1, XVII. 15 Ebd., XVIIIf.

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genheit gemacht haben“.16 Geschichte und Gedächtnis sind auseinandergetreten, und vom Gedächtnis, das zur Geschichte herabgesunken ist, bleiben „bloß Spur und Auswahl“.17 Das erste Problem ergibt sich daraus, daß Nora hier Freudsche Schlüsselbegriffe verwendet, die gerade nicht auf den von Halbwachs und später Burke und Jan Assmann18 betonten „sozialen Rahmen“ (cadres sociaux) im Erinnerungsgeschehen Bezug nehmen, sondern auf verborgene, aber nicht vergessene Eindrücke der Einzelpsyche.19 Nun ist diese Form der „Spurensicherung“,20 mit ihrer Suche nach Symptomen, Indizien und Details, ein legitimes Verfahren, den Raum zwischen Geschichte und Gedächtnis auszuloten. Doch die dabei unvermeidliche Fixierung auf eine ontologische Ebene, die sich treffend in der Begriffskoppelung „Gedächtnis und Andersheit“21 unterbringen läßt, führt für das gesellschaftswissenschaftliche Anliegen bei den Erinnerungsorten in die Irre. Denn dabei geht es letztlich um eine Abstrahierung von Erinnerung – über den individuellen wie nationalen Rahmen hinaus. Fluchtpunkt ist der Weg zu einer Territorialisierung von Erinnerung, wobei letztere darin das Agens ist und die Hypothese verfolgt wird, daß Erinnerung ein Territorium erst als solches konstituiert. Je nach Dichte der lebendigen Erinnerungsorte wäre sogar von der „Konstituierung eines heiligen Raumes“ zu sprechen.22 Die mitunter beklagte „Entortung der Erinnerung“23 bei der Darstellung von Erinnerungsorten kann gerade mit einem Blick durch das „historische Mikroskop“24 ins Positive gewendet werden. Voraussetzung ist dafür freilich, eine Topographie jenseits der Reihe der Topoi zuzulassen – und das muß keine geographische sein. Sie kann gut und gern auf einem Assimilationsmodell von Religion beruhen, dessen Reichweite – wie im Fall von Ostmitteleuropa – transnational und transkulturell ausgelotet wird. Mit den sozialen Konstanten der Trägerschaft, der Repräsentationen und der Produktionsmechanismen kollektiver Identität ist dabei der gesellschaftswissenschaftliche Fokus abgesteckt. 16 deRs.: Zwischen Geschichte und Gedächtnis. Berlin 1990 [frz. 1984], 12. 17 deRs.: Les lieux de mémoire, Bd. 1, XVIII. 18 assmann, Jan: Die Katastrophe des Vergessens. Das Deuteronomium als Paradigma kultureller Mnemotechnik. In: assmann/HaRtH (Hg.): Mnemosyne, 337–355; uHl, Heidemarie: Gedächtnis – Konstruktion kollektiver Vergangenheit im sozialen Raum. In: coRbea-Hoisie, Andrei/Rubel, Alexander (Hg.): „Czernowitz bei Sadagora“. Identitäten und kulturelles Gedächtnis im mitteleuropäischen Raum. Iaşi/Konstanz 2006, 15–32, hier 22. 19 FReud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens. Frankfurt/M. 1901 [ND 1954], 45–52. 20 GinzbuRG, Carlo: Spurensicherung. In: deRs.: Spurensicherung. Die Wissenschaft auf der Suche nach sich selbst. Berlin 1983 [ital. 1979], 7–57. 21 Gawoll, Hans-Jürgen: Spur: Gedächtnis und Andersheit. In: Archiv für Begriffsgeschichte 30 (1986/87) 44–69, 32 (1989) 269–296. 22 elčinova, Magdalena: Konstituirane na sveščenoto prostranstvo [Die Konstitution des heiligen Raums]. In: Sveti mesta na Balkanite. Blagoevgrad 1996, 51–59. 23 GRosse-kRacHt, Klaus: Erinnerung à la carte. Rezension zu: FRançois, Etienne/scHulze, Hagen (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1–3. München 2001. In: IASL online (2002). 24 noRa, Pierre: Das Abenteuer der „Lieux de mémoire“. In: FRançois, Etienne/sieGRist, Hannes/ vogel, Jakob (Hg.): Nation und Emotion. Deutschland und Frankreich im Vergleich. 19. und 20. Jahrhundert. Göttingen 1995, 83–92, hier 85.

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Im Umkehrschluß bedeutet dies: „Versehrtheiten“ zu rekonstruieren und schießlich zu therapieren, wie es Sigmund Freud in der Psychoanalyse und Nora in der Nationalgeschichte mit Hilfe des Begriffs der „Spur“ vorschwebte, dient einem anderen Telos. Zum anderen liegt Noras Konzeption ein hohes Maß an fundamentaler Modernisierungs- und Zivilisationskritik zugrunde. Moderne Gesellschaften wie Frankreich kontrastiert er mit nicht näher erläuterten primitiven und archaischen Gesellschaften; und während diese noch das Gedächtnis als Geheimnis bewahrten, hätten jene das Vergangene entzaubert und entsakralisiert. Es klingt wie eine (kollektive) Vertreibung aus einem kognitiven Paradies: „Hausten wir noch in unserem Gedächtnis, brauchten wir ihm keine Orte zu widmen.“25 Die „Orte“ sind also für Nora gewissermaßen nur noch die Nachlaßverwalter der „Milieus“, sie sind Defizitresultate und Kompensationswerk. Als solches bezeichnen sie eine Schwundstufe und markieren insgesamt die Mediatisierung des Vergangenen und die immer weitergehende Distanzierung davon. Man kann diese apriorischen theoretischen Annahmen unschwer korrigieren. So ist bei vielen Heiligenkulten seit dem Mittelalter festzustellen, daß es dort nie die Phase eines „unberührten Gedächtnisses“ gab; was wir statt dessen vor uns haben, ist eine Gestaltung von Anfang an, die alle Bereiche der historischen Persönlichkeit erfaßte und dafür sorgte, daß das Nachleben zum konstitutiven Bestandteil der „Biographie“ wurde. Gerade solche Heilige, die eine deutliche Asymmetrie von spärlicher biographischer Überlieferung und hypertrophem Nachleben aufweisen (zum Beispiel Johannes von Dukla, ca. 1414–1484), sind dafür beispielhaft. Dasselbe gilt für historische Ereignisse, die – wie das Wunder von Tschenstochau im Jahr 1655 – einen schmalen historisch nachprüfbaren Ereignisanteil besitzen, in ihrer Wirkung jedoch förmliche Sinnexplosionen aufweisen. Sofern man nicht, wie Nora, einem historischen Essentialismus anhängt und hinter die von Friedrich Schleiermacher und Wilhelm Dilthey eingeleitete hermeneutische Wende in den historischen Wissenschaften zurückfällt, dabei auch einer latenten Wissenschaftsfeindlichkeit frönt, muß man die Entfernung vom Ursprungsereignis nicht bedauern. Man kann den Befund, daß Personen erst post mortem, Geschehnisse post factum greifbar werden und ihre Bedeutung somit als Resultat retrograd vermittelt wird, auch ins Positive wenden: indem man den Blick auf die Karriere jenseits der historischen Echtzeit lenkt und deren Profil als Spiegel der gesellschaftlichen Verfaßtheit in bestimmten Räumen zu bestimmten Zeiten sieht. Damit spätestens trägt die von Nora noch so niedrig angesetzte histoire den Sieg davon. Denn selten ist eine Verminderung des Bedeutungsspektrums mit fortschreitender Zeit zu beobachten, viel häufiger ein deutliches Anwachsen. Das muß nicht zwangsläufig in linear aufsteigender Tendenz geschehen, sondern kann immer wieder durchsetzt sein mit „reduzierten“ Phasen, in denen nur einzelne Teile aus dem Gesamthaushalt des jeweiligen „Erinnerungsortes“ reproduziert wurden. Das „kollektiv geteilte Wissen“ über diese „Orte“ reicherte sich also einerseits an, konnte andererseits aber auch ganz selektiv 25

deRs.:

Zwischen Geschichte und Gedächtnis, 12.

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Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa

abgerufen werden. Man sieht das beispielsweise daran, daß Heilige oder andere herausgehobene Persönlichkeiten in ihrer oft langen Verehrungskarriere funktionsgebunden auftauchen. Religiöse, politische, genealogische oder ideologische Aspekte können sich ablösen, unterstützt von je unterschiedlicher medialer Repräsentation. Zeit kann so „übersprungen“ werden,26 und die Erzeugung jeweils gegenwartsbezogener Orientierung verselbständigt sich. Wie das individuelle Gedächtnis dient auch das soziale Gedächtnis letztlich der Zukunftsfähigkeit seiner Träger. An diesem Punkt kommt – wenigstens für die historischen Wissenschaften – die Unterscheidung von „Geschichte“ und „Gedächtnis“ ins Spiel. François und Schulze plädieren letztlich für eine klare Trennung.27 Sie räumen zwar ein, daß beide Weisen des „Festhaltens“ von Vergangenem „keine Opposition“ bilden, behaupten aber dann doch sehr dezidiert „zwei […] Zugänge zum Vergangenen“ – in dem Sinn, daß „Geschichte als Wissenschaft“ eine „Sache der Experten“ sei, „Gedächtnis dagegen“ den „existentiellen Bedürfnissen von Gemeinschaften“ diene. Auch wenn es Berufshistorikern schmeicheln mag, daß sie als Wissenschaftler nichts mit den basalen Bedürfnissen ihrer Gesellschaft zu tun haben, scheint hier eher ein Mythos gepflegt zu werden. Entgegenzuhalten ist, daß gerade „Geschichte als Wissenschaft“ in vielfältiger Art und Weise für den Aufbau eben jenes Gedächtnisses verantwortlich ist, das kollektiv besteht und gepflegt wird. Natürlich hat Geschichtswissenschaft eine eigene Systematik und ist mit dem Objektivitätsgebot und den allbekannten heuristischen und hermeneutischen Operationen ein eigener Bereich, dem herkömmlichen Erinnern vielfach überlegen. Aber wahr ist auch, daß (Geschichts-)Wissenschaft über den Prozeß der Forschung und Aufklärung daran beteiligt ist, daß zu Erinnerndes im „Gedächtnis“ bleibt, daß es eine bestimmte Form erhält und daß es auf bestimmte Weise abrufbar und operationalisierbar wird; dies alles nie nur auf den Einzelmenschen beschränkt, sondern über den medialen beziehungsweise Publikationsaspekt immer auf eine wie auch immer geartete „Öffentlichkeit“ gerichtet und in ihr agierend. Es ist nicht von der Hand zu weisen, daß „Sinnstiftung“ in gesellschaftlichem Ausmaß sich in diesen Bahnen bewegt und die von Theodor Lessing so brillant formulierte Funktion von „Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen“28 auch hier zu ihrem Recht kommt. Gerade bei der Beschäftigung mit religiöser Erinnerung – und umso mehr in multikonfessionellen Regionen wie Ostmitteleuropa – stellt dies eine besondere Herausforderung dar. „Gedächtnis“ arbeitet nicht ohne Stützen, und die werden in großer Zahl gerade von den „Experten“, sprich: den Wissenschaftlern, geliefert. Wenn also kollektive Erinnerung über die Zeiten hinweg nicht unveränderlich ist, sondern eine historische Dimension besitzt, dann sind Inhalte und Inszenierungen des kollektiven Gedächtnisses zeit(geist)abhängig und folgen veränderten Anforderungen, die es auf dem Weg der Forschung zu ermitteln gilt. Daraus ergibt sich kein kruder Pragmatismus oder Funktionalismus, wohl aber die Anforderung, „Erinnerung“ als eine prozessuale 26 PöPPel, Ernst: Grenzen des Bewußtseins. Über Wirklichkeit und Welterfahrung. München 1987, 87. 27 FRançois/scHulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, 14. 28 lessinG, Theodor: Geschichte als Sinngebung des Sinnlosen. München 1919 [ND 1983].

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(und das heißt auch: generierbare, formbare, lenkbare, benutzbare, manipulierbare) Kategorie zu begreifen. Alle Formen kollektiver Erinnerung („Memoria“) sind abhängig von gesellschaftlichen Triebkräften und medialer Vermittlung. Politik, Kirche, Wissenschaft, Publizistik, Literatur und andere wirkmächtige Teile der Gesellschaft sind daran beteiligt, kollektive Erinnerung herzustellen, zu pflegen und möglicherweise für eigene Interessen in Dienst zu nehmen. Der Einwand von Miroslav Hroch, daß die Vergangenheit in den sich herausbildenden Nationen nicht nur als „kollektives Gedächtnis“ wahrgenommen worden sei, sondern daß es auch institutionell und objektiv existierende Relikte gegeben habe, Vergangenheit also mitnichten gänzlich „erfunden“ worden sei29 – dieser Einwand ist berechtigt, geht aber am Kern der Sache vorbei. Denn der Erinnerungsforschung ist es nicht um die Wahrheitsfrage im philosophischen Sinn zu tun (nach dem Motto: „Stimmt das auch, was hier erinnert wird?“), sondern um die Modi der Wirksamkeit von Vergangenheit. Und dafür können sehr wohl auch aktive Parameter angegeben werden, die den „objektiv existierenden Relikten“ erst den Platz zukommen ließen, den sie am Ende einnahmen. Dabei sind Abstufungen in der Wirksamkeitsförderung durchaus vorstellbar – nicht aber das Wirken der besagten Relikte aus sich selbst heraus. Das „Revisions-Syndrom“ etwa, dem Burke beispielhaft im absolutistischen Frankreich und im sowjetischen Rußland begegnet ist30 und das sicherlich ein kulturkreisübergreifendes Phänomen ist, gehört dazu und bildet eine Variante am äußeren Rand eines Spektrums der Intentionalität. Aber auch die Verwandlung komplexer Symbolik mit historischem Inhalt in nationale Stereotypen setzt, wie Hroch selbst bemerkt hat,31 einen aktiven Vorgang voraus. Denn dabei muß wenigstens ein Grundwissen von Nationalgeschichte vorhanden und verfügbar sein. Die Negation der Annahme, daß Vergangenes nicht aus sich selbst heraus wirkt, sondern einer spezifischen Promotion bedarf, um – individual wie gesellschaftlich – virulent zu werden, ist selbst Teil des Prozesses. In vielen Fällen – man denke nur an den Serbischen Kosovomythos – läßt sich demonstrieren, daß Vergangenheit erst aus ihrem Dornröschenschlaf erweckt werden muß, um als solche, in bestimmter Weise, wahrgenommen zu werden. Daß Erinnerungsorte zum politischen Instrumentarium gehören und man stellenweise sogar eine regelrechte „Gegenerinnerung“ inszenieren kann,32 ist sicherlich nicht auf das östliche Europa beschränkt. Aber insofern die hier versammelten autoritären Regime im 20. Jahrhundert vielerlei Versuche einer Homogenisierung des (nationalen) Gedächtnisses unternommen haben, wird der Kampf um die Erinnerung hier besonders deutlich. Spezielle Arten einer „Soziotechnik“33 sind zu beobachten, die für bestimmte Vorhaben gesellschaftliche Unterstützung einbringen sollten. 29 30 31 32

HRocH, Miroslav: Das Europa der Nationen. Göttingen 2005, 49. buRke: Geschichte als soziales Gedächtnis, 300. HRocH: Das Europa der Nationen, 208. altRicHteR, Helmut: Einführung. In: deRs. (Hg.): GegenErinnerung. Geschichte als politisches Argument im Transformationsprozeß Ost-, Ostmittel- und Südosteuropas. München 2006, VII–XXI. 33 Pomian, Krzysztof: Geteiltes Gedächtnis – Europas Erinnerungsorte als politisches und kulturelles Phänomen. In: Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa. Erfahrungen der Vergangenheit und Perspektiven. Oldenburg 2009, 12–26.

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II. Orte: Die Konstitution von Erinnerungsorten als intentionaler Akt Gleichviel, ob die Rede von (Erinnerungs- beziehungsweise Gedächtnis-)„Orten“ oder „Figuren“34 ist – alle im Umlauf befindlichen Begriffe und Begriffskombinationen besitzen ihre Nachteile. Sie bestehen im erstgenannten Fall darin, daß nur eine geographisch faßbare Kategorie assoziiert wird, während der letztere Begriff zu einer Vermengung mit dem literaturwissenschaftlichen Fachterminus zur Kennzeichnung fiktiver Personen einlädt. Da jeweils beides gemeint ist und mehr, der Begriffsinhalt also sowohl eine realgegenständliche als auch eine fiktiv-imaginierte Komponente besitzt, führt eine Umprägung des schon standardisierten Begriffs der „Erinnerungsorte“ nicht weiter. Selbst wenn man sich auf einen neuen, weniger abgenutzten Begriff einigen könnte: Von der Notwendigkeit, den gebrauchten Begriff aufgrund seiner sonstigen sprachlichen Konnotationen „übersetzen“ zu müssen, befreit wohl keine Wendung. Dies gilt für die Fügung „Erinnerungsräume“35 genauso wie für den Vorschlag, „Erinnerungsorte“ durch „Topoi der Erinnerung“ beziehungsweise, bei Personen, durch „Figuren der Erinnerung“ zu ersetzen.36 So gut der Wechsel im Begriffszentrum gemeint sein mag – er bringt Konfusion an anderer Stelle mit sich: hauptsächlich in der Weise, daß der spezifische Akzent der neueren Erinnerungsforschung verwischt wird. Denn gleichgültig, ob von geographischen Orten oder von Personen die Rede ist – zu schweigen von Ideologemen und anderen nicht-gegenständlichen Kristallisationspunkten kollektiver Erinnerung: Allen gemeinsam ist, daß es sich um „soziale Artefakte“37 handelt, sie also ontologisch auf derselben Ebene gelegen sind, insofern sie einen Konstrukt-Charakter aufweisen. Er bildet die semantische Klammer, und es ist die Vorstellung, daß in einem übertragenen, immateriellen Sinn von Orten und ganzen Landschaften, Personen, Bauwerken, Schriftstücken etc. gesprochen wird, die den Kern und das Novum des Begriffs ausmachen. Die Metaphorik ist die Botschaft, nicht die Konkretisierung, es geht vorrangig um das (kulturelle) Signifiant, nicht das Signifié. Im Folgenden soll, um das Maß an Begriffsverwirrung nicht zu steigern, dem Begriff der „Erinnerungsorte“ der Vorzug gegeben und kein eigener Neuprägungsversuch unternommen werden. Nützlicher erscheint ein inhaltlicher Bestimmungsversuch. Was auch immer es sein soll (Figuren oder Orte): sie wären zu definieren „nicht dank ihrer

34 Zum Begriff der Erinnerungsfigur vgl. scHenk, Frithjof Benjamin: Aleksandr Nevskij. Heiliger, Fürst, Nationalheld. Eine Erinnerungsfigur im russischen kulturellen Gedächtnis (1263–2000). Köln/Weimar/Wien 2004, 20f. 35 GutH, Klaus (Hg.): Deutsche – Juden – Polen zwischen Aufklärung und Drittem Reich. Erinnerungsorte und Erinnerungsräume. Petersberg 2005. 36 Hein-kiRcHeR, Heidi: Überlegungen zum Verhältnis von „Erinnerungsorten“ und politischen Mythen. Eine Annäherung an zwei Modebegriffe. In: dies./sucHoPles, Jarosław/HaHn, Hans Henning (Hg.): Erinnerungsorte, Mythen und Stereotypen in Europa/Miejsca pamięci, mity i stereotypy w Europie. Wrocław 2008, 11–25, hier 19. 37 nietHammeR: Kollektive Identität, 343.

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Einleitung

materiellen Gegenständlichkeit, sondern wegen ihrer symbolischen Funktion“.38 Erinnerungsorte sind demnach zu verstehen als „langlebige, Generationen überdauernde Kristallisationspunkte“, die auch einem historischen Wandel unterliegen. Von zentraler Bedeutung ist dabei die Verknüpfung von physisch-materieller Dimension des „Ortes“ und der symbolischen Dimension des Erinnerns.39 Beides soll nicht gegeneinander ausgespielt werden, sondern im diachronen Zugriff auf seine Funktionalität hin untersucht werden. Dabei ergeben sich mehrere Kategorien: materiell, geistig, imaginär, öffentlich, privat etc. Da sie alle Realität entweder spiegeln oder generieren, hat es keinen Sinn, etwa die gegenständlichen Kategorien in einem abgrenzenden Sinn als „real“ zu bezeichnen; gerade die vorrangig imaginierten Erinnerungsorte (wie zum Beispiel das Antemurale Christianitatis) können prinzipiell genauso viel Realität vorweisen wie geographisch oder gegenständlich faßbare Orte. Allen „Orten“ gemeinsam ist, daß sie die spezifische Qualität der jeweils damit verknüpften Erinnerung zum Ausdruck bringen; man könnte auch sagen, die betreffenden Orte sind Zeichen der „emotionalen Intelligenz“ der Erinnerung als einem sozialen Phänomen und gewissermaßen dessen subjektivster Ausdruck. Eine erste Konsequenz daraus ist, daß diese „Orte“ ein weites Spektrum abdecken. Allein für den religiösen Bereich kommen in Frage: Gedenkstätten wie Kirchen, Kapellen oder Friedhöfe (zum Beispiel die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien); Orte des Martyriums (Der Berg der Kreuze); symbolische Akte wie Staats- oder Nationstaufen (Die Taufe Polens – das Jahr 966); Kunstwerke (Die „Schwarze Kirche“ in Kronstadt); Heilige mit einer komplexen und über Jahrhunderte anhaltenden, nicht selten transnationalen Kultgeschichte (Der heilige Stephan, König von Ungarn); religiöse Vordenker (Jan Amos Comenius); Pilgerziele (Der Wallfahrtsort Schossberg); Ideologeme, wie die Doktrin von Polen (respektive Ungarn, Rumänien und Ukraine) als „Vormauer“ und „Bollwerk“ der Christenheit (Antemurale Christianitatis) oder Entwürfe von religiöser Liberalität (Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus); Jubiläen, Feste, Patroziniumsfeiern und Prozessionen (das Gedenken an Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620); Schlüsseltexte für das Selbstverständnis einer Glaubensgemeinschaft (Die Kralitzer Bibel); Kirchenunionen (Die Union von Brest) und Religionsfrieden (Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1485); schließlich ganze Räume, seien es Städte (Lemberg) oder historische Regionen als „Mnemotope“40 wie das Verbreitungsgebiet der Siebenbürgischen Kirchenburgen. Eine zweite Konsequenz ist, daß diese „Orte“ keine hierarchische Abstufung bilden, sondern auf ein und derselben Ebene (der wissenschaftlichen Betrachtung) liegen. Dem wurde im vorliegenden Band mit der Bildung von vier gleichwertigen Kategorien Rech38 FRançois/scHulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, 18. 39 Hausmann, Guido: Mütterchen Wolga. Ein Fluß als Erinnerungsort vom 16. bis ins frühe 20. Jahrhundert. Frankfurt/M. 2009, 15. 40 assmann, Jan: Das kulturelle Gedächtnis. Schrift, Erinnerung und politische Identität in frühen Hochkulturen. München 1992, 59.

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nung getragen: Stätten, Artefakte, Menschen und Kommunikate. Mit „Stätten“ sind physisch und geographisch einordnungsfähige Orte und Landschaften gemeint, dazu Bezirke, die sich durch kirchliches oder weltliches Recht eingrenzen lassen. Hinter „Artefakten“ verbergen sich Kunstwerke allgemein, eingeschlossen Bauwerke und Schriftstücke, denen neben dem symbolischen auch ein materieller Wert anhaftet. Die Kategorie „Menschen“ versammelt Heilige und andere Persönlichkeiten, die im weltlichen oder kirchlichen Raum eine prominente Stellung einnehmen. „Kommunikate“ schließlich steht für nicht-gegenständliche Kristallisationspunkte einer sozialgeschichtlich relevanten Verständigung von anhaltender Dauer; dies können Konventionen sein, mit denen Frieden oder wenigstens Übereinkunft hergestellt wurde, genauso wie ideologische Konstrukte. Die Repräsentativität der mit diesen Kategorien eingefangenen Erinnerungsorte dürfte auf der Hand liegen; wie repräsentativ die Gesamtheit für den Raum ist, wird erst die Benutzung des Bandes zeigen. Zwar läßt sich die Auswahl fast immer vermehren, was aber nicht bedeutet, daß sie beliebig wäre. Bestehen bleibt die Notwendigkeit, die Auswahlkriterien offenzulegen. Prinzipiell ist mit François und Schulze das Leitkriterium für die Auswahl ein „Überschuß an symbolischer Bedeutung“.41 Das heißt: Die Bedeutung eines Ortes, einer Figur muß über den engen Primärkreis des Ursprungszeitraums räumlich und sozial hinausgehen und soziologisch faßbare Wirksamkeit entfalten. Dabei gilt es, zwischen der Scylla eines inflationären Gebrauchs bei der Definition von Erinnerungsorten und der Charybdis einer wünschbaren Vielfalt bei der Auswahl derselben hindurchzusteuern. Das Forschungsfeld ist, ungeachtet einer ganzen Reihe von Publikationen zu „Erinnerungsorten“,42 immer noch relativ neu; das Testen verschiedener Modelle erscheint legitim. Immer wieder irritierend ist, daß es primär nicht um den historischen Kern der Erinnerung geht, auch wenn er zunächst freigelegt werden muß. Dieser Kern oder Kristallisationspunkt ist nur die „narrative Abbreviatur“.43 Aufzuzeigen ist dann aber die „Karriere“ eines Ortes als Erinnerungsort, sein „Nachleben“ über die Ursprungszeit hinaus. Und nur dort, wo dieses Nachleben einen vorgegebenen engen Radius an Wirksamkeit überschreitet, empfiehlt sich die Aufnahme des Ortes in den Kanon der Erinnerungsorte. Von Interesse ist nicht der historische Ausgangspunkt, sondern das, was aus ihm geworden ist. Natürlich stellen sich sofort Probleme ein, und der momentane Forschungsstand ist weit davon entfernt, befriedigende Lösungen zu bieten. So dürfte die von François und Schulze44 übernommene Behauptung von Assmann, das „kulturelle Gedächtnis“ würde 41 FRançois/scHulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, 16. 42 Zuletzt HaHn, Hans Henning/tRaba, Robert (Hg.): Deutsch-Polnische Erinnerungsorte, Bd. 3: Parallelen. Paderborn u. a. 2012; den boeR, Pim u. a. (Hg.): Europäische Erinnerungsorte. Mythen und Grundbegriffe des europäischen Selbstverständnisses, Bd. 1–3. München 2012. 43 Rüsen, Jörn: Was ist Geschichtsbewußtsein? Theoretische Überlegungen und heuristische Hinweise. In: deRs.: Historische Orientierung. Über die Arbeit des Geschichtsbewußtseins, sich in der Zeit zurechtzufinden. Köln 1994, 3–24, hier 11. 44 FRançois/scHulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1, 17.

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sich auf „Fixpunkte in der Vergangenheit“ richten, die zu „symbolischen Figuren“ gerinnen, „an die sich die Erinnerung heftet“,45 der Komplexität des Untersuchungsgegenstands nicht gerecht werden. Suggeriert wird damit eine Art „Wertneutralität“ des sogenannten kulturellen Gedächtnisses, ein „voraussetzungsloses“ Agieren – und das trifft für weite Bereiche der historischen Realität einfach nicht zu. Denn wie oft wird nicht ganz intentional und zweck- beziehungsweise interessegebunden dieses kulturelle Gedächtnis auf Fixpunkte in der Vergangenheit gerichtet? Unabhängig davon, ob von großen Kommunitäten oder nur von einzelnen Trendsettern die Rede ist? Und ist der von Assmann zugrunde gelegte Mechanismus, der sich in Form einer undurchsichtigen Naturgewalt zu vollziehen scheint, nicht eigentlich ein ganz gut handhabbares kognitives Problem? Die Schranken zwischen kommunikativem (das heißt auf die jüngste Vergangenheit bezogenem) und kulturellem Gedächtnis scheinen nicht so unüberwindlich, wie dargestellt.46 Schließlich gibt es Austauschprozesse zwischen beiden Modi, es gibt den Faktor des Gemachtseins auch beim kulturellen Gedächtnis, und es erhebt sich insgesamt die Frage, ob die Reproduktion beziehungsweise jeweilige Neuschöpfung von Erinnernswertem nicht wichtiger ist als chronologische Unterschiede. Für den Raum des östlichen Europa, der als ein Raum besonders häufiger ethnischer, sprachlicher und religiöser Vermischungen gelten darf, sind zudem „multiple Erinnerungsorte“ im Auge zu behalten. Damit sind Orte gemeint, die mehrere und nicht selten konkurrierende, das heißt um gesellschaftliche Anerkennung wetteifernde, Erinnerungen auf sich ziehen. Das betrifft schon ganz einfach Kirchen, die in die Hände einer anderen Religionsgemeinschaft gelangt sind, generell aber alle Orte oder Figuren, die mit einem Konflikt (religiös, national, politisch oder sozial) verbunden sind. Das gilt auch für den Übergang vom sogenannten Heidentum zum Christentum, selbst wenn er in den Quellen nur mit Mühe faßbar ist. Es wäre voreilig, solche Phänomene nur im Frühmittelalter als der klassischen Epoche der Christianisierung zu vermuten; auch viele spätere Expansions- und Missionsparadigmen haben Erinnerungskonkurrenzen verursacht, und der Doppel- oder Mehrfachglaube – sei er hussitisch, jesuitisch oder kommunistisch-atheistisch motiviert – bietet gerade im östlichen Europa zahlreiche Anschauungsbeispiele. Ein verwandtes Phänomen sind die fragmentierten Erinnerungsorte. Damit sind territorial und epochal gebrochene Kontinuitäten der Erinnerung gemeint; und auch hierfür erweist sich das östliche Europa mit seinen multikonfessionellen und imperialen Traditionen als besonders fruchtbares Forschungsareal. Man kann das Phänomen mit einem Blick auf die Wirkung von Kyrill und Method deutlich machen: Sie entfaltet sich sprachlich über die Glagolica im Kiewer Reich, kirchlich über die slawische Liturgie in Bulgarien, Serbien, Rußland vor allem, abgeschwächt in Böhmen, Polen und Kroatien. Das jedoch reichte aus, um Bischof Josip Strossmayer im 19. Jahrhundert im Bistum Đakovo, Bosnien und Syrmien genügend Material für die Entwicklung seiner „kyrillomethodianischen Idee“ zu liefern, das heißt den Annäherungsversuch zwischen slawischen Katho45 assmann: Das kulturelle Gedächtnis, 52. 46 Ebd., 50–52.

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Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa

liken und Orthodoxen. Schaut man auf den Kult, dann bemerkt man eine durchgehende Verehrung nur in Rußland, bezeugt seit dem 11. Jahrhundert. In allen anderen Ländern gibt es längere Durststrecken, verbunden mit zum Teil sehr punktuellen Wiederbelebungen: In Serbien gerät der Kult der beiden Heiligen langsam in Vergessenheit, wird aber 1688 durch Unionskontakte mit Rom erneuert; in Makedonien und Bulgarien erwacht der Kult erst wieder zusammen mit dem nationalen Erwachen seit dem 18. Jahrhundert; in Böhmen ist er nach der Latinisierung der Landeskirche so gut wie vergessen und wird erst wieder von Karl IV. im Prager Emauskloster entfacht; in Mähren schließlich kann eine Kontinuität nur vermutet werden – und das Jubiläumsjahr 1863 zur tausendjährigen Aussendung der Brüder war als Anstoß nötig, um der Erinnerung wieder auf die Beine zu helfen. Mag die Verehrungsgeschichte von Kyrill und Method wegen ihrer hypertrophen Ausformung möglicherweise untypisch erscheinen, so lenkt sie doch den Blick auf das allgemeine Problem fragmentierter Verehrungs- und Erinnerungsverläufe. Auswahl und Intention als konstituierende Kriterien in der Erinnerungskultur werden dabei deutlich – und rücken auf den oberen Platz im historischen Frageprozeß. III. Religion: Multikonfessionalität im Spannungsfeld der Konkurrenz Legt man die „Überschuß“-Theorie als Kriterium für die Wahl der Erinnerungsorte zugrunde, richtet sich der Blick im Bereich der Religion zwangsläufig auf deren kommunikativen Aspekt.47 Prinzipiell läßt sich mit einer Definition arbeiten, die Religion als Herstellung, Durchsetzung und Erhaltung von Gruppenidentität versteht, was wiederum auf bestimmten Riten, einer eigens ausgebildeten Priesterschaft, Gotteshäusern, spezifischem Schrifttum, gemeinsamen Feiern etc. basiert. Das alles sind Faktoren, die nach außen wirken, das heißt „Kommunikation“ nicht nur innerhalb der eigenen Gruppe, sondern auch mit der andersgläubigen Umwelt anstoßen. Insofern Religion über „Bedeutungssysteme“ verfügt, die sich in Symbolen materialisieren,48 steht sie immer wieder vor dem Problem, die eigenen Bedeutungen mit sprachlichen oder nichtsprachlichen Mitteln plausibel zu machen. Religion muß, und das war sichtlich ein Movens für die Ausbildung der überaus starken rhetorischen Traditionen im Christentum, die Eigenen und die Anderen umwerben, überzeugen und dauerhaft an sich zu binden suchen.49 Das, 47 eicHeR, Peter: „Offenbarungsreligion“. Zum sozio-kulturellen Stellenwert eines theologischen Grundkonzepts. In: deRs. (Hg.): Gottesvorstellung und Gesellschaftsentwicklung. München 1979, 109–129; möRtH, Ingo: Kommunikation. In: cancik, Hubert u. a. (Hg.): Handbuch religionswissenschaftlicher Grundbegriffe, Bd. 3. Stuttgart 1993, 392–414; eHlicH, Konrad: Religion als kommunikative Praxis. In: deRs./bindeR, Gerhard (Hg.): Religiöse Kommunikation – Formen und Praxis vor der Neuzeit. Trier 1997, 337–355. 48 GeeRtz, Clifford: Dichte Beschreibung. Beiträge zum Verstehen kultureller Systeme. Frankfurt/M. 1987, 94. 49 meyeR, Holt/uFFelmann, Dirk: Religion und Rhetorik in Ost- und Westkirche. In: dies. (Hg.): Religion und Rhetorik. Stuttgart 2007, 7–20, hier 7.

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was sich in Erinnerungsorten oder -figuren konkretisiert, ist also in gewisser Weise nichts anderes als die Manifestation dieser multimedial agierenden Rhetorik. Dabei erweist es sich als Glücksfall für die Forschung, daß das östliche Europa eine im gesamteuropäischen Maßstab außergewöhnliche Vielzahl von Religionen und Konfessionen aufweist, bei einem leidlichen Auskommen derselben, teilweise sogar auf engstem Raum – als Beispiel bietet sich das Krakauer Stadtviertel Kazimierz an. Das bedeutet, daß es ein hohes Maß an Assimilation gegeben haben muß, also Synkretismen, Annäherungen, Bereitschaft zur Kohabitation und anderes mehr. Das betrifft die Religionen untereinander (vor allem Christentum und Orthodoxie, in geringerem Maße auch Christentum und Islam beziehungsweise Christentum und Judentum beziehungsweise Christentum und Monophysitismus), genauso wie die Konfessionen (Katholiken – Protestanten, in gewissem Umfang auch Katholiken – Hussiten – Brüdergemeinden etc.). Es genügt nicht, nur diejenigen „Orte“ oder „Figuren“ ins Auge zu fassen, die für das jeweilige Selbstverständnis der einzelnen religiösen Gruppierung relevant sind; vielmehr verdienen gerade jene „Orte“ besondere Beachtung, die das Verhältnis der Religionen oder Konfessionen zueinander spiegeln – sei es in Form von Integration oder von Segregation. Damit ist die „Sinnstiftung“ von kollektiver Erinnerung in doppelter Weise evident: als identitäts- und als kontinuitätsproduzierender Vorgang im gruppenimmanenten Bezugsfeld, und als konfliktvermeidender oder -regulierender Vorgang im gruppenübergreifenden Bezugsfeld. Ein Modell von Religion, das diese als ein flexibles System vorstellt, in dem nur wenige Komponenten fest gesetzt sind,50 ebnet den Weg für neue Theorien in soziologischer und politikwissenschaftlicher Richtung. So öffnet sich beispielsweise ein Zugang für die These, Religion nicht etwa als trennende Kraft in multireligiösen und multiethnischen Staatswesen zu begreifen, wie das Jagiellonenreich eines war, sondern geradezu als belastungsfähige Kohäsionskraft. Man gewahrt, daß Religion nicht nur ein vinculum societatis bilden konnte, wie es die frühneuzeitlichen Staatswissenschaftler formuliert haben, sondern sogar ein promotor societatis war, das heißt Grundlage des politischen Zusammenlebens schlechthin. Für den neuzeitlichen Verfassungsstaat ist dies jüngst von politikwissenschaftlicher Seite durchexerziert worden,51 und es gibt keinen Grund für die Annahme, daß das nicht auch für frühere Jahrhunderte gelingen könnte. Gerade in kompetitiven Situationen kann es, bestimmte Rahmenbedingungen vorausgesetzt, über Akkulturationsprozesse zu Integration in einem gesamtgesellschaftlichen Ausmaß kommen. Die „Innensicht“ von Erinnerungsorten, die solche gruppenübergreifend integrativen Funktionen spiegeln – etwa gemischtreligiöse Wallfahrten –, erlaubt Einblicke in die Strukturprinzipien der jeweiligen Gesellschaften und antwortet damit sowohl auf die

50 wünscH, Thomas (Hg.): Religion und Magie in Ostmitteleuropa. Spielräume theologischer Normierungsprozesse in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Münster 2006. 51 stein, Tine: Himmlische Quellen und irdisches Recht. Religiöse Voraussetzungen des freiheitlichen Verfassungsstaates. Frankfurt/M. 2007.

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Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa

Postulate der „Gesellschaftsgeschichte“,52 wie auf die von Niklas Luhmann vorgetragenen Anstöße,53 Religion als einen „Teilbereich der Kultur“ zu begreifen.54 Ein eigenes Thema in diesem Gesamtkomplex ist das Verhältnis von Erinnerungsorten religiöser Natur zur politischen Sphäre und somit auch zum Komplex der politischen Erinnerungsorte. Dieses Verhältnis zeigt sich als ambivalent: Auf der einen Seite geht die territoriale Reichweite des Erinnerungskontextes bei den religiös angebundenen Orten immer wieder über (heutige) Staatsgrenzen hinaus; Beispiele dafür sind Ideologeme wie die Josephinische Toleranz oder Personen wie Johann Amos Comenius. Auf der anderen Seite sind religiöse Erinnerungsorte auch Konstituenten von Nation, insofern die Grundlage von „Nation“ – im Sinn von Ernest Renan55 – die Erinnerung an ein gemeinsames Erbe ist, das es in der Gegenwart zu bewahren und für die Zukunft fortzusetzen gilt. Idealtypisch ist dies zu sehen am Phänomen der Nationalpatrone und ihrer Renaissance56 – wie Kyrill und Method, Wenzel, Adalbert, Der heilige Stephan, König von Ungarn oder Sava. Die historischen Potentiale religiöser Gemeinschaften sind nuclei, die, im Zusammenspiel mit anderen Faktoren, eine Nation als imagined community bilden helfen.57 Es geht dabei nicht um die beliebige „Erfindung“ von Nationen, was auch von Benedict Anderson nicht gemeint war, sondern um die Konstituierung von Gemeinschaften, deren Mitglieder sich nicht persönlich kennen und dennoch untereinander verpflichtet fühlen. Religiöse Substrate scheinen gerade an dieser Stelle eine wichtige Rolle zu spielen. Besonderes Gewicht besitzen deshalb jene Orte oder Figuren, die sowohl als religiöse als auch als politische Erinnerungsträger fungieren; die Schlacht bei Mohács 1526, das Kloster Počajiv oder die Warschauer Konföderation von 1573 sind Beispiele dafür, die auch die kategoriale Spannweite dieses Paradigmas spiegeln. Dabei ist die Tendenz zu einer „Säkularisierung“ von Objekten religiöser Sinnstiftung und Gruppenbildung offenkundig. Doch ist das nicht allein eine Folge der Interpretation, also ein hermeneutisches Problem. Den meisten Objekten ist diese „Sakularisierung“ inhärent und macht den wohl gewichtigeren Teil ihres „Nachlebens“ aus. Dabei ist höchstens in einem zeitlichen, nicht aber in einem qualitativen Sinn von „primärer“ und „sekundärer“ Säkularisierung zu sprechen. Denn daß Transformationen, Funktionswandel58 und Instrumentalisierungen beziehungsweise Aneignungen durch Politik und Gesell-

52 HettlinG, Manfred u. a. (Hg.): Was ist Gesellschaftsgeschichte? Positionen, Themen, Analysen. München 1991. 53 luHmann, Niklas: Die Religion der Gesellschaft. Hg. v. André KieseRlinG. Frankfurt/M. 2000, 312. 54 GReyeRz, Kaspar von: Religion und Kultur. Europa 1500–1800. Darmstadt 2000, 21–28. 55 Renan, Ernest: Qu’est-ce qu’une nation? Wien 1995 [frz. 1882]. 56 sameRski, Stefan (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2007. 57 andeRson, Benedict: Imagined Communities. London 2006 [11983]. 58 PeteRsoHn, Jürgen (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Sigmaringen 1994, 598.

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schaft59 gerade auch für die Heiligenverehrung charakteristisch sind, bestimmt den Reiz der religiösen Orte oder Figuren in der Erinnerungskultur. Es ist dies wohl ein Konstituens europäischer Religionsgeschichte schlechthin, wenngleich in unterschiedlichen Zeitphasen verschieden stark ausgeprägt. Schon von der mittelalterlichen Zeitstufe her, also der „Primärphase“ für viele religiös konnotierten Orte, sind in der Heiligenverehrung alle denkbaren Kategorien politischer (weltlicher) Vereinnahmung vertreten; sichtbar wird dies an den Funktionen der Regionalpatrone wie Hedwig (von Schlesien), der Landespatrone wie Adalbert für Polen und der dynastischen Heiligen als „Schrittmacher der Nationsbildung“,60 wie sie in Gestalt der Heiligen Nemanjiden vorliegen. Die scheinbare Aufhebung der Grenzen zwischen Sacrum und Profanum, in Form einer „Sakralisierung der Nation“ und „Nationalisierung der Religion“,61 ist kein Privileg des 19. Jahrhunderts, sondern ein Strukturproblem des historischen Erscheinungsbildes von Religion selbst. IV. Ostmitteleuropa: Die nationsübergreifende Konstante religiöser Erinnerung Das bisher Gesagte besitzt keinen exklusiven regionalen Bezug. Jedoch wurde die hier vertretene Auffassung von Religion als einem „kulturellen System“62 in doppelter Hinsicht fruchtbar zu machen versucht: als Zugang, der dem Forschungsanliegen einer neu verstandenen Erinnerungsgeschichte zu mehr Stringenz verhelfen kann. Und als Anstoß, die religiöse Vielfalt Ostmitteleuropas als Charakteristikum dieser Großregion herauszuarbeiten. Die Voraussetzungen dafür scheinen gegeben – in der Gegenwartsforschung, wie in epochenübergreifenden Anläufen. Was für „Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa vor und nach 1989“63 gilt, besitzt eine über die Zeitgeschichte hinausgehende Wertigkeit: die Prägung von Erinnerungskultur(en) durch „politische Veränderungen“, „staatliche Geschichtspolitik“ und eine „Langzeitwirkung“.64 Politische Manipulationen im Haushalt kollektiver Erinnerung scheinen im östlichen Europa häufiger und tiefgehender erfolgt zu sein als anderswo, und die Beharrlichkeit besonderer Formen der Erinnerung überrascht nicht selten. Daß religiöse Grundeinstellungen als Teil des kulturellen Selbstverständnisses in den Rang von gesellschaftlichen Distinktionsmerkmalen („cleavages“) gelangen, die, aus ferner Zeit kommend, bis in die politische Ausrich59 niedeRmülleR, Peter: Der Mythos der Gemeinschaft. Geschichte, Gedächtnis und Politik im heutigen Osteuropa. In: coRbea-Hoisie, Andrei (Hg.): Umbruch im östlichen Europa. Die nationale Wende und das kollektive Gedächtnis. Innsbruck 2004, 11–26. 60 PeteRsoHn (Hg.): Politik und Heiligenverehrung, 603. 61 scHulze wessel, Martin (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006. 62 GeeRtz: Dichte Beschreibung, 44–95. 63 kenneweG, Anne Cornelia/tRoebst, Stefan: Marienkult, Cyrillo-Methodiana und Antemurale. Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa vor und nach 1989. In: Zeitschrift für OstmitteleuropaForschung 57 (2008) 287–291. 64 Ebd., 287.

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Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa

tung und Parteibildung der Gegenwart hinein reichen, scheint ein Spezifikum gerade des östlichen Europa zu sein; erste Studien dazu sind vorhanden,65 wobei gerade die Verschränkung von Religion und Politik noch der Bearbeitung harrt. Sinnvoll erscheint deshalb, Ostmitteleuropa insgesamt als „Perspektive“ in einem forschungsstrategischen Sinn auszugeben – auch wenn sich dabei herausstellen sollte, daß damit ein Ende der von dem rumänischen Essayisten Mircea Cărtărescu zurecht kritisierten „Unterteilung der Unterteilung“66 beim Europabegriff angebracht wäre, und die von vielen Wissenschaftlern und Intellektuellen wie ein Selbstwert gepflegte Suffigierung des Europabegriffs (Ost-, Ostmittel-, Südost-, Nordost- und Mittel-Europa) in den Rang einer bloßen Arbeitsteilung zurückträte. Dabei geht es nicht nur darum, daß mit dem methodischen Ansatz der Erinnerungsgeschichte noch viel Neues in diesem östlichen Teil Europas zu ermitteln ist. Es geht auch um die Bereicherung der Systematik durch Theoriebildung, die von der Geschichte einschließlich der Kirchengeschichte, aber auch von der Soziologie oder Ethnologie geleistet werden kann; dies auf der Basis, daß viele synergetische Phänomene im religiösen Bezugsfeld ein ostmitteleuropäisches Spezifikum darstellen. Ein sinnvolles Ziel könnte deshalb sein, den von Nora67 eingeforderten „typischen Stil der Beziehung zur Vergangenheit“ nicht an nationalen Rastern herauszupräparieren,68 sondern an Regionen, Grenzräumen oder Großreichen und dort wieder systematisch an Themenfeldern wie eben der Religion. Die unweigerlichen Probleme bei der „Expatriierung“ Noras,69 die sich aus dessen nicht nur nationalem, sondern auch national-euphemistischem Ansatz ergeben,70 können damit vermieden werden. Und auch die Gefahr, statt einer kritischen Revision alter Identifikationsangebote mit den „Erinnerungsorten“ neue derartige Angebote im Sinne eines „kulturellen Erbes“ (heritage) zu schaffen und dabei neue „Schweigestellen“71 zu 65 Pickel, Susanne: Cleavages in Osteuropa. In: bacH, Maurizio/steRblinG, Anton (Hg.): Soziale Ungleichheit in der erweiterten Europäischen Union. Hamburg 2008, 65–90, hier 65. 66 CărtăresCu, Mircea: Europa hat die Form meines Gehirns. Texte zu Kultur und Literatur. Stuttgart 2007, 10. 67 noRa, Pierre: La notion de „lieu de mémoire“ est-elle exportable? In: den boeR, Pim/FRiJHoFF, Willem (Hg.): Lieux de mémoire et identités nationales. Amsterdam 1993, 9. 68 Auswahl: noRa: Les lieux de mémoire, Bd. 1–7, zu Frankreich; Feldbaek, Ole (Hg.): Dansk identitatshistorie. Kopenhagen 1991–1992, zu Dänemark; den boeR/FRiJHoFF (Hg.): Lieux de mémoire, zu den Niederlanden; isnenGHi, Mario (Hg.): I luoghi della memoria, Bd. 1–3. Rom/Bari 1997–1998, zu Italien; csáky, Moritz (Hg.): Ambivalenz des kulturellen Erbes. Vielfachcodierung des historischen Gedächtnisses. Paradigma: Österreich. Innsbruck 2000, zu Österreich; FRançois/ scHulze (Hg.): Deutsche Erinnerungsorte, Bd. 1–3, zu Deutschland; kmec, Sonja u. a. (Hg.): Lieux de mémoire au Luxembourg/Erinnerungsorte in Luxemburg. Luxemburg 2007, zu Luxemburg. 69 FRançois, Etienne (Hg.): Lieux de mémoire, Erinnerungsorte. D’un modèle français à un projet allemand. Berlin 1996. 70 lottes, Günther: Europäische Erinnerung und europäische Erinnerungsorte? In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 3 (2002) 81–92, hier 82. 71 uHl: Gedächtnis, 17.

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produzieren, scheint gebannt. Hinzu kommt ein weiterer Positiveffekt, verläßt man die erinnerungsgeschichtlich rezente Kategorie des Nationalstaats: Ohne Fixierung auf die „Nation“ – in einem dem 19. Jahrhundert eigenen essentialistischen Sinn, der jedoch Auswirkungen bis in die jüngste Geschichtsforschung zeigt – erübrigt sich die Scheu vor einem „negativen Gedächtnis“, das Nora so geschreckt hat, weil es eben die Schattenseiten der Nationsbildung reflektiert. Daß freilich auch supranationale Einheiten nicht vor Euphemismen gefeit sind, steht auf einem anderen Blatt. Ein Beispiel ist die hin und wieder anzutreffende Etikettierung Ostmitteleuropas als paradisus haereticorum, was freilich nur für gewisse Regionen zu gewissen Zeiten stimmt (in Polen-Litauen und Mähren während des Spätmittelalters und der Frühen Neuzeit) und als Gesamtcharakteristikum eher irreleitet. Dennoch birgt der transnationale gesellschaftsgeschichtliche Ansatz72 gerade in der kollektiven Erinnerungsforschung ein Potential, das längst noch nicht ausgeschöpft ist. Das trifft auch auf die Untersuchung von historisch gewachsenen Regionen oder Kontakträumen zu,73 wie sie in diesem Band etwa mit den von der Union von Brest oder der Idee des Antemurale Christianitatis eingeschlossenen Ländern, mit Schlesien (Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien), Bosnien und der Herzegowina (Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina), Ungarn (Hungaria eliberata), dem Kosovo (Der serbische Kosovomythos) oder Siebenbürgen (Siebenbürgische Kirchenburgen) repräsentiert sind. Sie spiegeln im Kleinen die Gesamtproblematik und ergeben als Ensemble ein höchst komplexes Gebilde, das Ostmitteleuropa in einem neuen Licht erscheinen läßt. Die Frage ist also nicht, ob ein regionaler Rahmen der „Gedächtnisforschung“ angemessen ist,74 sondern wie er aussehen soll. Schon für die Ermittlung dessen, was ein „Erinnerungsort“ sein soll, also zur Bestimmung des symbolischen Überschusses, muß über die Region hinausgegangen und auf allgemeine Paradigmen zurückgegriffen werden. Hinzu kommt der ganze Komplex der Rezeptionsgeschichte historischer Kristallisationspunkte von kollektiver Erinnerung: Sie ist – infolge Migration, Peregrination oder vielerlei Arten von Transfer – nicht auf die eine Region beschränkt, in der sich die Orte als geographisch faßbare Orte lokalisieren lassen. Der Sankt Annaberg beispielsweise, um ein Beispiel aus der Gruppe der Oberschlesischen Wallfahrtsorte zu geben, existiert im Gedächtnis der nach 1945 vertriebenen Deutschen genauso wie im Gedächtnis der heute in Polen lebenden Menschen – und man braucht nicht viel Phantasie, um sich auszumalen, daß diese Erinnerungen nicht deckungsgleich sind. Damit wird aber der regionale Begriff

72 osteRHammel, Jürgen: Transnationale Gesellschaftsgeschichte: Erweiterung oder Alternative? In: Geschichte und Gesellschaft 27 (2001) 464–479. 73 dyRoFF, Stefan: Erinnerungskultur im deutsch-polnischen Kontaktbereich. Bromberg und der Nordosten der Provinz Posen (Wojewodschaft Poznań) 1871–1939. Osnabrück 2007. 74 eiden, Maximilian: Gedächtnisgeschichte. In: baHlcke, Joachim (Hg.): Historische Schlesienforschung. Methoden, Themen und Perspektiven zwischen traditioneller Landesgeschichtsschreibung und moderner Kulturwissenschaft. Köln/Weimar/Wien 2005, 477–510, hier 486.

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Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa

obsolet; „schlesische Erinnerungsorte“75 werden in Polen, Deutschland und Tschechien gepflegt, dazu im Rest der Welt, soweit die Füße der Emigranten trugen. Dasselbe Problem betrifft mutatis mutandis auch Ethnien oder Nationen. Es macht den Reiz des Modells von Erinnerungsorten aus, daß es das transnationale Repertoire an kollektiver Erinnerung in bestimmten Räumen einzufangen versteht. Diese Transzendenz über eine Ethnie oder Nation hinaus mit einzubeziehen heißt, den Wettstreit nationaler Identitäten wie auch die Interdependenz von Erinnerung (und letztlich „Kultur“) als Forschungs- und Erkenntnismöglichkeit hervorzuheben; Erinnerungsfiguren bei den orthodoxen Südslawen, in denen ein Sava eine prominente Rolle spielt, zeigen die Möglichkeiten dieses Ansatzes. Aus diesem Grund wurde hier eine Fragerichtung favorisiert, die auf komplette kulturelle Formationen (Subsysteme) abzielt; die kollektive Gedächtnisleistung erscheint dabei in ihrer Konstruktivität am besten faßbar zu sein. Der Anschluß an die naturwissenschaftliche Forschung zum Gedächtnis ergibt sich über diese Brücke der Konstruktion – wobei eben noch zu klären wäre, wie tief der Graben zwischen individuell und sozial dabei wirklich ist. Daß Halbwachs’ Theorie „sozial-konstruktivistisch“ sei, so Assmann,76 wird man dabei kaum als Vorwurf auffassen können. Die Forschungsfragen der Zukunft gehen somit in drei Richtungen: Erstens auf die rückwärts gewandte Konstruktion von Erinnerungsorten durch sprachliche, religiöse und andere Trägergruppen, wie sie vor allem, aber längst nicht ausschließlich im 19. Jahrhundert gepflegt wurde. Wie für alle anderen europäischen Teileinheiten war auch für Ostmitteleuropa und seine im Entstehen begriffenen Nationen gerade dieses Jahrhundert prägend. Doch kann die zeitliche Breite der Erinnerungsgeschichte in den Artikeln dieses Bandes zeigen, daß in jeder Epoche mit den jeweils zeitüblichen Mitteln solche Konstruktionen vorgenommen wurden. Die Schlacht bei Warna 1444 erhielt dank der humanistischen Deutung Callimachs bereits im Mittelalter ihre maßgebliche Erinnerungsgestalt; während die Schlacht bei Mohács 1526 gerade in der Zwischenkriegszeit und dann unter kommunistischer Herrschaft im 20. Jahrhundert als Erinnerungsort geprägt wurde. Ein zweiter Forschungsstrang zielt auf die weitere Wirkung dieser Konstrukte, insofern sie richtungweisend für soziales respektive politisches Handeln geworden sind. Damit ist das weite Feld der Aneignung, Indienstnahme und Re-Kontextualisierung gemeint. Es erschließt sich über die Darstellung der Erinnerungsgeschichte nicht als ein linearer diachroner Prozess, sondern als Abfolge verschiedener Phasen der Erinnerungsgestaltung. Dahinter stehen Akteuere und Medien, aber auch Ortswechsel beziehungsweise Filiationen als entscheidende Promotoren. Die Implementierung eines Heiligen wie Johannes von Dukla als Patron Polen-Litauens zeigt dies beispielhaft: in der Abfolge von Akteuren (Ordensgemeinschaft, städtische Führung, Königtum), in der medialen 75 Czapliński, Marek/HaHn, Hans-Joachim/weGeR, Tobias (Hg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005. 76 GRosse-kRacHt, Klaus: Gedächtnis und Geschichte: Maurice Halbwachs – Pierre Nora. In: Geschichte in Wissenschaft und Unterricht 47 (1996) 21–31, hier 23.

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Einleitung

Varianz (Schriftwerke, Kirchen- und Altarbauten, Statuten, Bildwerke), in der lokalen Streuung (Krakau, Lemberg). Als dritte Dimension schält sich heraus, die Intentionalität selbst zu thematisieren. Die „Übergänge“ von Ereignissen zu Erinnerungen, versehen mit dem Katalysator der zeitgebundenen Erfahrung, halten genügend Material bereit. Sie erklären, warum ein Ort wie Kiew, der über seine profane und sakrale Geschichte bereits als Erinnerungsort konstituiert war, noch eine symbolische Dimension annehmen konnte: Kiew – das „Neue Jerusalem“ fungierte als Metapher in den Schriften der religiösen Polemik des 17. Jahrhunderts genauso wie in den Deutungen der sowjetischen und emigrierten Geschichtswissenschaftler des 20. Jahrhunderts. Die Suche erstreckt sich, wie Rudolf Jaworski an der Phase seit dem Sturz des Kommunismus erläutert hat,77 in der Tat auf „alte und neue Gedächtnisorte“. Das Erklärungspotential von „Religiösen Erinnerungsorten“, auch und gerade in Ostmitteleuropa, umfaßt nicht nur die Vergangenheit. Thomas Wünsch

77 JawoRski, Rudolf: Alte und neue Gedächtnisorte in Osteuropa nach dem Sturz des Kommunismus. In: deRs./kusbeR, Jan/steindoRFF, Ludwig (Hg.): Gedächtnisorte in Osteuropa. Frankfurt/M. 2003, 11–25.

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I. Stätten: Die geographische Dimension der Erinnerung

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Chersones I. Zusammenfassung. – II. Die vorrussische Zeit im Überblick. – III. Frühchristentum. – IV. Die Entstehung eines orthodoxen und russischen Erinnerungsortes in der Zarenzeit. – V. Die Glocke von Chersones. – VI. Chersones in sowjetischer Zeit. – VII. Chersones seit der Auflösung der Sowjetunion. – VIII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Chersones ist eine im Südwesten der Halbinsel Krim gelegene Ruinenstadt, die heute zum Stadtgebiet von Sewastopol gehört. Sie wurde im 5. Jahrhundert vor Christus auf einem bereits zuvor besiedelten Gebiet von griechischen Kolonisten gegründet. In der Folge geriet die Stadt unter den Einfluß verschiedener Roms, später des Chazarenreichs, dann von Byzanz und Genua. 1399 wurde sie im Verlauf der Auseinandersetzungen mit Splittergruppen der Goldenen Horde zerstört und nicht wieder aufgebaut. Um das Jahr 1440 gründeten Nachfolger der Horde das islamische Khanat der Krim, das bereits ein halbes Jahrhundert später unter die Suzeränität des Osmanischen Reiches geriet. Nach der Annexion der Halbinsel Krim durch das Rußländische Reich 1783 erfolgte in unmittelbarer Nachbarschaft der Ruinenstadt die Neugründung des Kriegshafens von Sewastopol. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts und besonders nach dem Krimkrieg generierte Chersones zu einem zunehmend auch national aufgeladenen russisch-orthodoxen Erinnerungsort. Dessen Bedeutung im russischen, aber auch im ukrainischen kollektiven Gedächtnis speist sich aus mehreren Elementen: den Verbindungen von Chersones beziehungsweise der Halbinsel zu den klassischen Mythen, vor allem dem Iphigenie-Mythos, und zur Antike, als Ort des Frühchristentums und der angeblichen Taufe des Kiewer Großfürsten, dem später als heilig verehrten Vladimir, sowie der Nähe zur sogenannten Heldenstadt Sewastopol, welche Chersones auch in einem heroisch-militärischen Kontext eine gewisse Bedeutung verleiht.

II. Die vorrussische Zeit im Überblick Die Krim war bereits in vorrussischer Zeit durch eine große ethnische und kulturelle Vielfalt gekennzeichnet. Vor der Ankunft der griechischen Gründer von Chersones (griechisch für „Halbinsel“) und anderer Kolonien besiedelten unter anderem etwa seit dem 8. Jahrhundert vor Christus Kimmerier und Taurier die Halbinsel. Im 7. Jahrhundert folgten die von Herodot in seinen Historien beschriebenen Skythen, deren Nachkommen vermutlich bis ins 3. nachchristliche Jahrhundert auf der Krim lebten. Sie stellten immer wieder gemeinsam mit anderen teilweise oder gänzlich nomadisch siedelnden Völkern eine Bedrohung für die griechischen Städte dar. In etwa zeitgleich zum Auftau3

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chen der Skythen auf der Krim war an den Küsten des nördlichen Schwarzmeergebietes bis hin zum Asowschen Meer eine Reihe griechischer Siedlungen entstanden. Alsbald entwickelte sich Chersones, eine dieser Gründungen, zu einem Zentrum hellenistischer Kultur. Wirtschaftlich florierte es und nahm auch am zeittypischen Sklavenhandel teil. Schließlich wurde es Teil des Bosporanischen Reiches, dessen Hauptstadt Pantikapaion, das heutige Kerč, wurde. Dieses Königreich trieb regen Handel mit seinen nomadisch wirtschaftenden Nachbarn, war aber zugleich auch immer wieder militärischen Bedrohungen durch diese ausgesetzt. Als im zweiten vorchristlichen Jahrhundert die kriegerischen Einfälle der Skythen besonders massiv wurden, unterstellte es sich und damit auch Chersones dem Schutz des Königreiches von Pontus. Dessen Herrscher, Mithridates VI., versuchte seinen Einflußbereich auf Gebiete in Kleinasien auszuweiten und geriet so in Konflikt mit Rom. Auch Chersones wurde in die sogenannten Mithridatischen Kriege hineingezogen. Nach dem endgültigen Sieg Roms unter Pompeius im Jahr 63 vor Christus wurde Pontus ein von Rom abhängiger Klientelstaat. In Chersones entwickelte sich eine von Unterstützern Roms getragene oligarchische Republik, die die Hauptbasis römischer Herrschaft auf der Halbinsel wurde. In den 60er Jahren nach Christus wurde die Stadt wiederholt in die militärischen Pazifizierungsaktionen Roms gegen skythische Verbände verwickelt, konnte aber wegen seiner effektiven Befestigungen den Angriffen zumeist standhalten. Im Zuge der Teilung des Römischen Reiches wurde Chersones Teil Ostroms. Unstrittig ist, daß die Krim und vor allen Dingen Chersones ab dem 3. Jahrhundert nach Christus ein Ort des Frühchristentums wurde. Vordem soll, einigen hagiographischen Legenden zufolge, der Bischof von Rom, Clemens I., dort den Märtyrertod gefunden haben. Das an der Peripherie der römischen Imperien gelegene Chersones wurde auch in späterer Zeit wiederholt Verbannungsort von Kirchenmännern, die in Konflikt mit der kaiserlichen Macht geraten waren, wie zum Beispiel der 655 dort verstorbene Papst Martin I. Seit dem Ende des 7. Jahrhunderts weiteten die Chasaren ihre Herrschaft auf weite Teile der Halbinsel Krim aus, Chersones verblieb aber unter der Herrschaft Ostroms und wurde Ausgangspunkt christlicher Missionstätigkeit. Reitervölker aus dem eurasischen Raum versuchten weiterhin, meistens erfolglos, die gut befestigte Stadt einzunehmen; 1299 belagerten beispielsweise die Nogaier die Stadt. Während mit dem 13. Jahrhundert weite Teile der Halbinsel Krim immer mehr unter den Einfluß der Goldenen Horde gerieten, fiel Chersones selbst unter die Kontrolle Genuas, das wie sein Konkurrent, die Republik Venedig, einige florierende Handelsniederlassungen an der Küste der Krim unterhielt. Das Verhältnis der italienischen Niederlassungen mit der Horde schwankte zwischen wirtschaftlicher Kooperation und militärischen Konflikten. 1399 wurde die Stadt schließlich von Truppen der Goldenen Horde unter dem Emir Edigü dem Erdboden gleichgemacht und – anders als nach der Zerstörung durch litauische Truppen einige Jahre zuvor unter dem Großfürsten Vytautas – nicht wieder aufgebaut.

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III. Frühchristentum Die große Bedeutung der Halbinsel Krim und vor allem Chersones’ im kollektiven ostslawischen (das heißt russischen, ukrainischen und – mit Abstrichen – auch weißrussischen) Gedächtnis beruht unter anderem auf den Verbindungen der hier behandelten Region mit der mythischen und klassischen Antike. Die zentralrussischen Zentren waren von dieser Epoche zwar unberührt geblieben, durch die Wertschätzung, welche diese seit der Renaissance und der Aufklärung bei den europäischen Oberschichten genoß, waren aber auch die intellektuellen Eliten im Zarenreich Ende des 18. Jahrhunderts stolz darauf, nunmehr ebenfalls über klassische Territorien Herrschaft auszuüben. Das Bewußtsein, mit dem Erwerb der Krim quasi einen russischen Anteil an der Antike erhalten zu haben, hatte sich bereits unmittelbar nach der Annexion 1783 im Zarenreich ausgebildet. Die „Entdeckung“ der russisch-orthodoxen Schichten der so wechselvollen und keinesfalls linear christlichen Geschichte der Krim und Chersones’ erfolgte hingegen erst einige Jahrzehnte später. Die Entstehung des religiös aufgeladenen Erinnerungsortes Chersones ist im wesentlichen mit drei Momenten verbunden, welche zum Teil einen historisch fundierten Kern aufweisen, zum Teil aber in das Reich der Legende zu verweisen sind. Das zeitlich frühste Ereignis ist die angebliche Skythenmission des Apostels Andreas. Danach soll Andreas über das Nordufer des Schwarzen Meeres Richtung Norden den Dnjepr entlang gezogen sein und in den Gebieten der späteren Kiewer Rus’ das Wort Gottes verkündet haben. Auf dem Gebiet des späteren Kiew – der sogenannten Mutter der russischen Städte – soll er zudem die Gründung der Stadt geweissagt und ein Kreuz errichtet haben. Die Halbinsel und Chersones soll er ebenfalls besucht haben. Die apokryphe Schrift fand als Legende der Reise des Heiligen Andreas nach Rußland Eingang in die Nestorchronik. Dort heißt es eher schlicht: „Als Andreas in Sinopē lehrte und als er nach Korsun’ gekommen war, sah er, daß von Korsun’ aus die Mündung des Dnjepr nahe ist.“ Gleichwohl konnte so eine Verbindung zwischen der Geschichte der Krim und der Rußlands hergestellt werden. Die übergeordnete Funktion dieser Narration liegt aber in der Konstruktion einer unmittelbaren, das heißt nicht über Byzanz erfolgten, Beziehung zwischen den ostslawischen Territorien und dem Heiligen Land. Allerdings äußerten Wissenschaftler immer wieder Zweifel an dieser Lesart; auch der einflußreiche russische Gelehrte und Schriftsteller Nikolaj Karamzin glaubte nicht an die Reise des Apostels in den Norden. Im Kern unstrittig, wenngleich über die Zeitläufte immer wieder verändert und den opportun scheinenden Umständen angepaßt, ist die zweite Erzählung, die Korsun’, also Chersones, mit der slawisch-orthodoxen Welt verbindet: die Chazaren-Mission der Slawenapostel Kyrill und Method um das Jahr 860, die durch die ihnen zugesprochene Kodifizierung eines altrussischen Alphabets und die Schaffung einer kirchenslawischen Liturgie eine Grundlage für die spätere Verbreitung des Christentums unter den Altostslawen schufen. Auch wenn die chazarischen Oberschichten sich von den beiden Missionaren nicht zum Christenrum bekehren ließen und statt dessen eine Form des jüdischen 5

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Glaubens annahmen, so konnte in der Rückschau doch eine Verbindung zwischen Chersones oder der Krim und einem christlich-orthodoxen Slawentum hergestellt werden. In hagiographischen Schriften wird erzählt, daß Konstantin während seiner Anwesenheit in dem damals noch nicht zerstörten Chersones eine in slawischer Schrift verfaßte Bibel gefunden habe. Im 19. Jahrhundert erfreute sich diese Anekdote in russischen Debatten großer Beliebtheit, schien sie doch geeignet, die Präsenz slawischer Bewohner im griechischen Chersones seit dem frühen Mittelalter zu belegen. Die Annexion der Krim 1783 konnte im Licht dieser vermeintlichen Siedlungskontinuität als Rückführung eines ursprünglich slawischen Territoriums interpretiert werden. Die neuere mediävistische Forschung geht allerdings davon aus, daß die von Konstantin in Chersones entdeckten ruskie bukvy (etwa: altostlawische Buchstaben) in Wahrheit surskie bukvy (syrische Buchstaben) waren. Die Verwechslung sei durch einen Fehler beim Abschreiben entstanden. Unstrittig ist im übrigen, daß vor der Annexion der Krim Ende des 18. Jahrhunderts und der Kolonisierung der Halbinsel vorwiegend mit Russen und Ukrainern bei gleichzeitigem Exodus von Krimtataren slawische Bewohner in Chersones und Umgebung die Ausnahme und nicht die Regel waren. Am nachhaltigsten wurde Chersones aber durch ein drittes Moment zu einem religiösen Erinnerungsort: durch die angebliche Taufe des bis dahin heidnischen Großfürsten der Rus’, Vladimir. Diese wird zumeist auf das Jahr 988 datiert und soll die Christianisierung der Rus’ durch die berühmte Massentaufe zu Kiew nach sich gezogen haben. Die Anwesenheit des Heerführers Vladimir mit seinen Truppen im byzantinischen Chersones wird von mehreren Quellen unterschiedlicher Herkunft bestätigt. Hinsichtlich der Hintergründe der Taufe und des Aufenthaltes Vladimirs in Chersones existieren allerdings mehrere Varianten. Nach einer Version soll Vladimir von den byzantinischen Kaisern Konstantin VIII. und Basileios II. um Waffenhilfe gegen Aufständische gebeten worden und deshalb Richtung Schwarzes Meer aufgebrochen sein. Als Belohnung dafür wurde ihm die Ehe mit ihrer Schwester, der „purpurgeborenen“ Anna, versprochen, wofür die Taufe die Voraussetzung war. Einer anderen Lesart zufolge wollten die kaiserlichen Brüder sich nicht mehr an dieses Versprechen halten, nachdem Vladimirs Truppen die Rebellion niedergeschlagen hatten, da sie den Großfürsten nicht als ebenbürtigen Partner für die kaiserliche Schwester erachteten. Dieser wiederum verlieh seiner Forderung durch die Belagerung Chersones Nachdruck und erzwang so schließlich die Vermählung mit Anna. Ob er zu diesem Zeitpunkt schon getauft war oder ob die Taufe erst in Chersones erfolgte, wird unterschiedlich beurteilt. Nach einer weiteren Interpretation hatte die Einnahme dieser Stadt durch Vladimir weder etwas mit der Taufe noch mit der Vermählung mit Anna zu tun, sondern erfolgte nach beiden Ereignissen als eine Art Strafexpedition gegen Gegner der byzantinischen Kaiser, die in Chersones Zuflucht gesucht haben sollen. Folgt man allerdings der im russisch-orthodoxen Kontext wohl bedeutendsten Quelle, der Nestorchronik, dann erfolgte die Taufe in Chersones selbst durch den Bischof der Stadt sowie der „Priester der Zarin“ Anna. Der in Chersones plötzlich erblindete Vladimir folgte demnach dem Rat Annas, daß er allein durch die Taufe seine Sehkraft wiedererlangen könne. Und tatsächlich: Als 6

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der Bischof Vladimir „die Hand auflegte, wurde er alsbald sehend“. Wie dem auch sei, dieser Schritt ist als politisch motivierter, taktischer Schachzug Vladimirs zur Stabilisierung seiner Herrschaft nach Innen und Außen zu interpretieren. Und ungeachtet der nicht mehr im einzelnen rekonstruierbaren Umstände der Taufe des Großfürsten und der Christianisierung der Kiewer Rus’, ist eine Verbindung zwischen der Geschichte von Chersones und der nördlichen slawischen Territorien unstrittig. Daraus wurde in zaristischer Zeit vielfach das legitime Recht zur Herrschaft über die Krim abgeleitet. IV. Die Entstehung eines orthodoxen und russischen Erinnerungsortes in der Zarenzeit Als Ort des Christentums spielte das bald zur Ruinenstadt gewordene Chersones während der Herrschaft der Krim-Khane von der Mitte des 15. Jahrhunderts bis 1783 keine Rolle. Allerdings wurde die Halbinsel als ganze in dieser Zeit keineswegs ein Territorium, von dem die christliche Religion völlig verschwand. Vielmehr blieb die Krim dank der alles in allem wenig repressiven Glaubenspolitik der muslimischen Khane ein multiethnischer und multireligiöser Raum, auch wenn sich viele Nachfahren der griechischen und italienischen Kolonisten an die krimtatarische Kultur akkulturierten. Ein entscheidender Schlag gegen das orthodoxe Christentum auf der Krim erfolgte dann erst wenige Jahre vor der russischen Annexion: 1778 verließen zahlreiche orthodoxe KrimGriechen auf Geheiß der Zarin das seit dem Frieden von Kü�ük �ük Kaynarca 177� scheinselbständige, tatsächlich unter starkem russischem Einfluß stehende Khanat in Richtung Norden. Aus diesem Grund befanden sich bei der Machtübernahme 1783 in der Tat nur verhältnismäßig wenig Christen auf der Halbinsel. Deshalb, aber auch weil dem damals vorherrschenden Geschmack entsprechend die europäischen Oberschichten die Antike für sich wiederentdeckten, erfreuten sich die russischen imperialen Eliten vorwiegend an den altertümlichen Überresten, die sie auf der Krim und vor allen Dingen in Chersones entdeckten. Dies hielt jedoch die Erbauer des nahen Sewastopol nicht davon ab, sich großzügig und ohne Plan der antiken Ruinen zu bedienen. Diese wurden nun vielfach zu Baumaterial für die neue Stadt Sewastopol, die wegen ihres natürlichen Hafens zur künftige Basis der russischen Marine im Süden auserkoren worden war. Viele Besucher, wie zum Beispiel der im Auftrag der Zarin reisende deutsche Naturforscher Peter Simon Pallas, der eine wichtige zeitgenössische Quelle für die Geschichte von Chersones im ausgehenden 18. Jahrhundert verfaßte, ereiferten sich in den 1790er Jahren bitterlich über diese Ignoranz gegenüber dem antiken Erbe. In den ersten Jahrzehnten nach der Annexion lenkten nur wenige Krim-Besucher ihr Augenmerk auf die Bedeutung des neueroberten locus für die Geschichte des orthodoxen Christentums; so beispielsweise der von Katharina II. für die Eroberung der Krim zum „Fürsten von Taurien“ erhobene Grigorij A. Potemkin: Er pries der Zarin gegenüber das taurische Chersones als den „Ursprung unseres Christentums und damit auch der Humanität“. Insgesamt erfreuten sich jedoch die christlichen Elemente der Geschichte der Halbinsel und von Chersones bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts keiner herausgehobenen 7

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Aufmerksamkeit. In dieser Phase wurden vielmehr die verschieden historischen Schichten in ihrer Vielfältigkeit geschätzt. Ein Beispiel dafür ist die euphorische Beschreibung der Krim durch einen Zeitgenossen Puškins, den Gelehrten Nikolaj I. Nadeždin, für den das christliche Element nur eines von mehreren war, welches das Andenken lohnte. Er beschwor die „Erinnerungen an so viele Jahrhunderte und Völker, so viele Ereignisse und Ideen – von den unterirdischen Gräbern der namenlosen Skythen in den Grabhügeln von Kerč’ bis zu den unterirdischen Zufluchtsorten der ersten Christen in den Felsen Inkermans […], zu dem Platz, der dem Blut des ersten Märtyrers Kliment [Clemens von Rom] geweiht ist, dem Zeitgenossen und Schüler der [neutestamentarischen] Apostel, vom Tempel der Diana von Taurien, wo so viele Poeten für sich Eingebungen schöpften, bis zu der Kirchenruine, in der das Taufbecken war, aus dem in Gestalt des Apostelgleichen Vladimirs für unser aller Leben der Segen geschöpft wurde“. Die in den 1820er Jahren in Chersones einsetzende Grabungstätigkeit unter der Ägide des archäologischen Laien Admiral Aleksej S. Grejg spiegelt dieses Interesse an christlichen und antiken Spuren wider. Der Kommandeur der Schwarzmeer-Flotte hatte den Ingenieur Karl Kruse mit Grabungen beauftragt, die 1827 mit der Freilegung der Ruinen dreier Kirchen endete. Eine von diesen wurde fortan als Ort der Taufe des Großfürsten bezeichnet, obgleich Zeitgenossen immer Zweifel daran äußerten. Vor dem Ersten Weltkrieg wurde Chersones schließlich die größte Grabungsstätte auf dem Territorium des Rußländischen Reiches. Nicht zuletzt durch den Einsatz des seit den 1880er Jahren mit systematischen Ausgrabungen in Chersones befaßten Wissenschaftlers und Museumsbegründers Nikolaj K. Koscjuško-Valjužinič erhielt die Archäologie im Zarenreich einen bedeutenden Professionalisierungsschub. Durch diese auch materiell greifbare Sichtbarmachung der christlichen Spuren wurde die Bedeutung Chersones als religiöser Erinnerungsort nachhaltig befördert. Dem vorausgegangen waren seit den 1830er Jahren die Bemühungen der Erzbischöfe von Chersones und Tauriens, Gavriil (Rozanov) und Innocentijs (Borisov), auf der Krim eine Art russisches Athos zu schaffen. Dies war ein Projekt, bei dem Chersones naturgemäß als angenommener Ort der Taufe des heiligen Vladimirs eine zentrale Rolle einnehmen mußte. Beide bemühten sich um den Aufbau einer christlich-orthodoxen Infrastruktur, etwa durch die Neugründung von Kirchen und Klöstern, auf der zu ihren Lebzeiten immer noch mehrheitlich von muslimischen Krimtataren bewohnten Halbinsel sowie die Missionierung nichtorthodoxer Bewohner. Da sich auch die Nachfolger Katharinas II. grundsätzlich an das bei der Annexion verfügte orthodoxe Missionsverbot unter den muslimischen Krimbewohnern hielten, waren diesen Bemühungen allerdings enge Grenzen gesetzt. Somit mußte sich die Mission im wesentlichen auf die auf der Krim beheimateten Altgläubigen (Katholiken, beispielsweise polnisch-stämmige Grundbesitzer) oder Protestanten (etwa deutsche Kolonisten) beschränken. Insgesamt verhielten sich die weltlichen Vertreter der zaristischen Macht bei der Stilisierung der Krim zu einem christlich-orthodoxen Erinnerungsort lange eher passiv. Häufig bremsten sie gar den Übereifer der hohen orthodoxen Würdenträger vor Ort. Dies änderte sich im Grunde erst in der Folge des Krimkriegs, der von vielen Russen als 8

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Das um 1885 entstandene Gemälde von Viktor M. Vasnecov mit dem Titel Die Taufe des heiligen Vladimir steht für die historistische Erinnerungskultur des 19. Jahrhunderts. Mit dem Verweis auf die Taufe des Großfürsten sollte dem Imperium ein gebührender Platz unter den christlichen Reichen Europas zukommen. Bildnachweis: Privatarchiv Kerstin S. Jobst.

eine Art Religionskrieg gegen den Islam und Rom gedeutet wurde. Vor allen Dingen im Zusammenhang mit der „Orientalischen Frage“ wurde die Krim in den russischen Debatten der Zeit zunehmend zu einem christlich-orthodoxen Vorposten am Nordufer des Schwarzen Meeres. Hinzu kam der in den 1860er Jahren einen Höhepunkt erreichende Bevölkerungsaustausch zwischen Rußland und dem Osmanischen Reich, in dessen Folge viele Krimtataren durch orthodoxe Bulgaren aus dem Herrschaftsbereich der Hohen Pforte ersetzt wurden. Dies machte die Krim faktisch zu einem überwiegend orthodoxen Gebiet. In jedem Fall generierte Chersones im gesamtrussischen Krim-Diskurs zur allgegenwärtigen Wiege des russisch-orthodoxen Christentums. Damit wurde zugleich die Aneignung eines religiös fremden kolonialen Gebiets legitimiert. Während der Regierungszeit Alexanders III., die im ganzen Imperium eine neue Qualität von Russifizierung und dem Umgang mit dem „Fremden“ mit sich brachte, wurde die mentale Einvernahme von Chersones besonders deutlich markiert: So etwa anläßlich der Neunhundertjahrfeier der Christianisierung der Rus’, als in Kiew eine staatlich sank9

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tionierte Massenfeier stattfand. Bereits in den 1850er Jahren, also noch unter Alexander II., war mit den Planungen und dem Bau der im byzantinischen Stil gehaltenen Vladimir-Kathedrale sowie eines daran angeschlossenen Klosters in Chersones selbst begonnen worden. Die Kathedrale konnte erst 189� endgültig fertiggestellt werden – sie wurde eine der größten Sakralbauten im Zarenreich. V. Die Glocke von Chersones Die Brücke zwischen dem christlichen Mythos von Chersones und der vor allen Dingen mit der Belagerung Sewastopols während des Krimkrieges verbundenen national-militärischen Erinnerungskultur bildet schließlich die sogenannte Glocke von Chersones. Diese war nach dem Russisch-Osmanischen Krieg von 1768 bis 177� aus erbeuteten osmanischen Kanonen gegossen worden und diente als akustisches Warnsignal bei Nebel in der Schiffahrt. Vor der Gründung Sewastopols hatte sie sich im Hafen von Taganrog im Asowschen Meer befunden und wurde später in die Neugründung am Schwarzen Meer gebracht. Während des Krimkriegs erbeuteten französische Truppen die Glocke, welche 1913 dann auch als Zeichen der russisch-französischen Annäherung nach Chersones überführt wurde. Als die Sowjets Mitte der 1920er Jahre dann während ihrer unionsweit durchgeführten antireligiösen Kampagne religiöse Symbole entfernten, verschwand auch die Glocke von Chersones. Später wurde sie in die Ruinenstadt gebracht, wo sie sich auch heute noch befindet und eines der beliebtesten Motive für die zahlreichen Besucher ist. VI. Chersones in sowjetischer Zeit In sowjetischer Zeit waren die in Chersones existierenden orthodoxen Einrichtungen den zeittypischen Bedrückungen ausgesetzt. In Anbetracht der phasenweise militant antireligiösen Kampagnen insbesondere Ende der 1920er Jahre wurden Kirchen und Klöster geschlossen und Priester verfolgt. Auch wenn davon auszugehen ist, daß unter orthodoxen Gläubigen Chersones als präsumtiver Ort der Christianisierung Rußlands weiterhin durchaus präsent war, wurde das religiös-christliche Motiv im offiziellen Diskurs wenig betont. Hingegen spielte Chersones als antiker locus durchaus eine Rolle, inklusive des Frühchristentums. Chersones wurde in sowjetischer Zeit eine der größten und wichtigen Ausgrabungsstätten auf dem Gebiet der UdSSR, in der besonders in den 1930er Jahren versucht wurde, eine „sowjetische Archäologie“ von einer „bourgeoisen“ abzugrenzen. Ein nicht unerheblicher Teil der Grabungsfunde wurde in die hauptstädtischen Museen nach Leningrad, zum Beispiel in die Eremitage, und Moskau verbracht, wo sie sich zum Teil noch heute befinden. Gleichwohl wurde auch das Museum, das sich in Chersones selbst befand, kontinuierlich ausgebaut. Zu den bedeutendsten Ausgrabungen dieser Zeit gehört ohne 10

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Zweifel die „Basilika 1935“, deren ursprünglicher Name unbekannt ist und die nach dem Jahr der Ausgrabung benannt wurde. Vermutlich stammt sie aus dem 6. Jahrhundert nach Christus. Während des Zweiten Weltkriegs und der Belagerung Sewastopols durch die deutsche Wehrmacht wurde die Vladimir-Kathedrale zerstört.

VII. Chersones seit der Auflösung der Sowjetunion Nach der Auflösung der Sowjetunion und der Unabhängigkeit der Ukraine implementierte sich Chersones als religiöser Erinnerungsort neu. Er spielt auch in der Erinnerungskonkurrenz zwischen russischen und ukrainischen Interpretationen der altostslawischen Geschichte (die Kiewer Rus’ als „ukrainischer“ oder „russischer“ Staat) eine Rolle, welche in nationalen Diskursen vielfach als exklusiv einer Nation gehörend beansprucht wird. Die ukrainische Seite unterstrich dieses beispielsweise durch die Motivwahl für den 1-Hryvna-Schein, der auf der Vorderseite den heiligen Vladimir (beziehungsweise ukrainisch „Volodymyr“) und auf der Rückseite die Ruinen von Chersones abbildet. Bei einer im Sommer 2007 in der Ukraine abgehaltenen Abstimmung über die „Sieben Wunder der Ukraine“ (Sim čudes Ukrajiny) kam Chersones auf Platz fünf und lag damit in der Wertschätzung der Bevölkerung und einer ausgewählten Jury noch einen Platz vor der Kiewer Sophienkathedrale. Sowohl in der Ukraine (2008) als auch in der Rußländischen Föderation (2010) wurde ein allerdings nicht arbeitsfreier „Tag der Taufe der Rus’“ eingeführt. Mit dem Wiederaufbau der Vladimir-Kathedrale wurde Ende der 1990er Jahre begonnen; im April 2004 wurde sie geweiht. Sie gehört seither zur ukrainisch-orthodoxen Kirche (Moskauer Patriarchat). Die Ausgrabungsstätte ist heute eines der beliebtesten touristischen Ziele auf der Krim.

VIII. Auswahlbiographie Pallas, Peter Simon: Bemerkungen auf einer Reise in die südlichen Statthalterschaften des Russischen Reiches in den Jahren 1793 und 179�, Bd. 1–2. Leipzig 1803; Gavril Archiepiskop Chersonskij i Tavričeskij: Ostatki christianskich drevnostej v Krymu. Uezd feodosijskij [Die Überreste des christlichen Altertums auf der Krim. Der Bezirk Feodosija]. In: Zapiski Imperatorskogo odesskogo obščestva istorii i drevnosti 1 (18��) 320–328; ders.: Pereselenie grekov iz Kryma v azovskuju guberniju i osnovanie Gotfijskoj i Kafijskoj eparchii [Die Umsiedlung der Griechen aus dem Gouvernement Azov und die Gründung des Bistums Gotfija und Kaffa]. In: Zapiski Imperatorskogo odesskogo obščestva istorii i drevnosti 1 (18��) 197–20�; Pis’mo N. I. Nadeždina k Ju. N. Bartenevu [Brief N. I. Nadeždins an Ju. N. Bartenev]. In: Russkij Archiv 2/12 (186�) �2–�7; KirpičniKov, Aleksandr: Očerk istorii Chersonesa i ego učastie v kreščenii Rusi [Abriß der Geschichte von Chersones und dessen Anteil an der Taufe der Rus’]. In: Istoričeskij Vestnik 9 (1888) 602–61�; ivanov, Evgenij: Chersones Tavričeskij. Istorikoarchelogičeskij očerk [Das taurische Chersones. Ein historisch-archäologischer Abriß]. In: Izvestija Tavričeskoj učennoj archivnoj komissii 26 (1912) 1–375; JaKobson, Anatolij: Srednevekovyj Chersones XII–XIV vv. [Das mittelalterliche Chersones vom 12.–14. Jahrhundert]. Moskva 1950; buJnoch, Josef (Hg.): Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kryrillos und Methodios

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Kerstin S. Jobst nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita. Bericht von der Taufe Rußlands nach der Laurentiuschronik. Graz/Wien/Köln 1958; poppe, Andrzej: The Political Background of the Baptism of Rus’. Byzantine-Russian Relations between 986–989. In: ders.: The Rise of Christian Russia. London 1982, 197–2��; sapryKin, Sergej J.: Gerakleja pontijskaja i Chersones tavričeskij. Vzaimootnošenija metropolii i kolonii v VI–I vv do n. ė. [Das heraklische Pontus und das taurische Chersones. Die Beziehungen zwischen Metropole und Kolonie vom 6.–1. Jahrhundert vor Christus]. Moskva 1986; poppe, Andrzej: Politik und Heiligenverehrung in der Kiever Rus’. Der apostelgleiche Herrscher und seine Märtyrersöhne. In: petersohn, Jürgen (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Sigmaringen 1994, 410–430; ascherson, Neal: Schwarzes Meer. Berlin 1996; Kadeev, Vladimir: Chersones Tavričeskij. Byt i kultura (I–III vv. n. ė.) [Das taurische Chersones. Alltag und Kultur (1.–3. Jahrhundert nach Christus)]. Char’kov 1996; antonova, Irina: Bogi Tavridy. Istorija religii narodov Kryma [Götter Tauriens. Die religiöse Geschichte der Völker der Krim]. Sevastopoľ 1997; Lopatin, Vjačeslav (Hg.): Ekaterina II i G. A. Potemkin. Ličnaja perepiska 1769–1791 [Katherina II. und G. A. Potemkin. Der persönliche Briefwechsel 1769–1791]. Hg. v. V. S. Lopatin. Moskva 1997; herodot: Historien, Bücher 1–9. Hg. v. Josef Feixe. Düsseldorf 2001; Müller, Ludolf (Hg.): Die Nestorchronik. Die altrussische Chronik, zugeschrieben dem Mönch des Kiever Höhlenklosters Nestor, in der Redaktion des Abtes Siľvestr aus dem Jahre 1116, rekonstruiert nach den Handschriften Lavrenťevskaja, Radzivilovskaja, Akademičeskaja, Troickaja, Ipaťevskaja und Chlebnikovskaja. München 2001; Crimean Chersonesos. City, Chora, Museum, and Environs. Austin, Texas 2003; GavriLenKo, Oleksandr: Antyčni deržavy Pivničnogo Pričorno mor’ja. Bilja vitokiv vitčiznjanogo prava (kinec’ VII st. do n. e.–perša polovina VI st. n. e.) [Die antiken Staaten an der nördlichen Schwarzmeerküste. Die Ursprünge des ukrainischen/vaterländischen Rechts (7. Jahrhundert vor Christus bis 550 nach Christus)]. Charkiv 2006; Jobst, Kerstin S.: Die Perle des Imperiums. Der russische Krim-Diskurs im Zarenreich. Konstanz 2007; KozeLsKy, Mara: Christianizing Crimea. Shaping Sacred Space in the Russian Empire and Beyond. DeKalb, Illinois 2010; Jobst, Kerstin S.: Das Krimchanat in der Frühen Neuzeit. Eine historische Einführung, In: aLbrecht, Stefan/herdicK, Michael (Hg.): Im Auftrag des Königs. Ein Gesandtenbericht aus dem Land der Krimtataren. Die Tartariae descriptio des Martinus Bronovius. Mainz 2011, 17–2�.

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Alba Iulia I. Zusammenfassung. – II. Zu den Namen der Stadt. – III. Alba Iulia als religiöser und politischer Erinnerungsort. – IV. Von der Zwischenkriegszeit bis zur Revolution. – V. Die Phase nach 1989. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die siebenbürgische Stadt Alba Iulia stellt mit ihrem Ensemble an historischen Bauten und Denkmälern einen sakralen und weltlichen, nationalen und regionalen Erinnerungsund Wallfahrtsort dar, der besonders für die rumänische, aber auch für die ungarische Geschichte von größter Bedeutung ist. Innerhalb der aus dem 18. Jahrhundert stammenden Festungsmauern wird das dichotomische Verhältnis zweier christlicher Konfessionen, der orthodoxen und der katholischen, und zweier Nationen, der rumänischen und der ungarischen, sichtbar. II. Zu den Namen der Stadt Der älteste überlieferte Name, der sich auf eine Siedlung in der Nähe des heutigen Alba Iulia bezieht, ist der der dakischen Befestigung Apulum, die sich auf einem vom heutigen Zentrum rund zwanzig Kilometer entfernten, heute „Piatra Craivii“ genannten Berg befunden haben soll. Nach der Eroberung der Region durch die Römer wurde ein Castrum für die XIII. Legion Gemina errichtet, wo der Statthalter der Provinz Dacia Superior (Zentralsiebenbürgen und östliches Banat), der zugleich Oberbefehlshaber der Legion war, seinen Sitz hatte. Die zugehörige Zivilsiedlung Apulum wurde von Kaiser Marc Aurel zum Municipium und spätestens unter Kaiser Commodus zur Colonia erhoben. Nach dem Rückzug der Römer aus dem Norden der unteren Donau um 271/27� schrumpfte Apulum auf die Größe eines Dorfes. Im modernen Bewußtsein der Rumänen, die ihre ethnische Herkunft als eine Mischung aus Dakern und Römern definieren, nimmt diese Siedlung eine bedeutende Stellung ein: Die rechtwinkelig angeordneten Grundmauern der römischen Verteidigungsanlagen, auf die die Siedlungsmauern des 10. und 11. Jahrhunderts aufbauten (sie waren bis zur Neubefestigung der Anlage im 18. Jahrhundert erhalten), fungieren in historischen Texten symbolisch als steinerne Kontinuität aus der Römerzeit. Die Reste der römischen Anlage scheinen zum Zeitpunkt der slawischen Besiedlung der Region im 6. Jahrhundert noch sichtbar gewesen zu sein, so daß der Ort wegen seiner weißen Mauern, aber auch wegen seiner erneuten Vorrangstellung in der Region, nun auch Belgrad (Bălgrad) genannt wurde. Der Name sollte von Dauer sein. Aus dem 10. Jahrhundert ist die Herrschaftsbildung des ungarischen Heerführers Gyula und dessen gleichnamigen Nachfolgers in diesem Gebiet bekannt. Gyulas Titel, der im ungarischen 13

Florian Kührer-Wielach

Sprachraum bald als Vorname üblich werden sollte, gab der Siedlung – in Kombination mit der Übersetzung des Wortes Belgrad – den ungarischen Namen Gyulafehérvár (sinngemäß: „die weiße Burg des Gyula“). In den mittelalterlichen ungarischen Quellen wurde die Stadt dennoch lange Zeit als „Alba Ultrasilvana“ beziehungsweise „Alba Transilvana“ bezeichnet. In siebenbürgischen Quellen findet sich der an die ungarische Benennung angelehnte Name „Civitas Alba Iule“. Erst die humanistische Literatur sollte daraus die klassizistische Bezeichnung Alba Iulia formen. Aus dem Jahr 1277 ist die erste deutschsprachige Übersetzung des Namens überliefert: „Wizzenburg“ – Weißenburg. Nach der Eingliederung Siebenbürgens in das Habsburgerreich zu Ende des 17. Jahrhunderts und dem Ausbau der Stadt durch Kaiser Karl VI. von Habsburg trug die Stadt den Namen „Karlsburg“ (ungarisch: Károlyfehérvár). Seit dem Anschluß Siebenbürgens an Rumänien 1918/1920 lautet die offizielle Bezeichnung Alba Iulia. III. Alba Iulia als religiöser und politischer Erinnerungsort Gyulas Sohn oder Enkel verlor das Gebiet um 1003 an König Stephan I., der die Stadt zum politischen Zentrum Siebenbürgens ausbaute. Der Woiwode von Siebenbürgen hatte dort seinen Sitz und war in der Regel zugleich Gespan des Komitats Weißenburg. Er war der Heerführer des siebenbürgischen Aufgebots, oberster Verwaltungsbeamter und Richter für den Adel. Das zugehörige Komitat genoß als ältestes belegbares in der Region ebenfalls eine Vorrangstellung. Im Weißenburger Landtag wurden auch Vertreter genannt, die aufgrund ihrer sozialen und religiösen Stellung heute der Gruppe der Rumänen zugeordnet werden. Die wachsende Bedeutung der strategisch vorteilhaft gelegenen Siedlung zeigte sich besonders mit der Gründung des katholischen Bistums mit Sitz in Weißenburg (wahrscheinlich im 11. Jahrhundert), das sich bald über weite Teile Siebenbürgens erstreckte. Dem örtlichen Domkapitel fiel die Aufgabe zu, die Landesurkunden aufzubewahren. Kapitel mitsamt Archiv und Regesten wurden jedoch im 13. Jahrhundert durch die Mongolen und wenige Jahrzehnte später durch die Sachsen aus der Region um Salzburg zerstört. Besonders aus dem 13. Jahrhundert ist eine Reihe von klösterlichen Niederlassungen überliefert: Dominikaner, Augustinereremiten, Benediktinerinnen, Franziskaner und Pauliner fanden ihren Platz um den Bischofs- und Woiwodensitz. Mit der Etablierung Siebenbürgens als Fürstentum nach der Dreiteilung Ungarns wurde die Stadt 1546 fürstliche Residenz und hatte bis 1690 die Stellung einer Hauptstadt inne. Die Bedeutung dieses Ortes für das ungarische Selbstverständnis und für die religiöse, ungarische römisch-katholische Erinnerungskultur liegt vor allem in dieser Periode begründet, für die die St. Michaels-Kathedrale bis heute steinernes Zeugnis ablegt. Innerhalb des Doms finden sich mehrere Grabstätten weltlicher und geistlicher Persönlichkeiten, darunter das Grab von Johann II. Sigismund Zápolya, dem König von Ungarn und ersten Fürsten des relativ selbständigen Fürstentums Siebenbürgen, sowie von des14

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Das 1927 von Dumitrescu Stoica erstellte historische Gemälde veranschaulicht die zentrale Rolle Alba Iulias im nationalrumänischen Erinnerungsgefüge. Die Miteinbeziehung religiöser Elemente in die Abbildung steht für die Überlagerung der nationalen Erzählung mit konfessionellen Bezügen. 1968 wurde eine umgearbeitete Fassung des Bildes als Sujet einer Briefmarke der rumänischen Volksrepublik auch zum Medium der nationalkommunistischen Erinnerungskultur. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

sen Mutter, Regentin Isabella. Hervorzuheben ist zudem die Grabstätte des ungarischen Reichsverwesers Johann von Hunyadi, der sowohl für die rumänische als auch für die ungarische Nationalhistoriographie und die lateinische Kirche eine wichtige Rolle spielt. So wurde auf päpstlichen Erlaß nach dem Sieg Hunyadis bei Belgrad 1�56 beispielsweise das tägliche Mittagsläuten eingeführt. Er selbst ist wohl der rumänischen Ethnie zuzuordnen, bekannte sich jedoch zum ungarisch konnotierten katholischen Glauben. Nach einer calvinistischen und einer kurzen unitarischen Phase wurde der Dom 1596 den Katholiken zurückgegeben. Im Jahr 1605 kam er erneut an die Calvinisten und wurde erst 1716 mit der Neugründung des Bistums wieder katholisch. Obwohl sich fast die Hälfte der Ungarn Siebenbürgens bis heute zum Calvinismus bekennt, bleibt die Kathedrale in Alba Iulia ein für alle Ungarn symbolträchtiger religiöser und nationaler Erinnerungsort, der ihre historische Verwurzelung im siebenbürgischen Boden symbolisiert. Für die griechisch-orthodoxe Konfession, der fast ausschließlich Rumänen angehören, ist Alba Iulia gleichfalls ein zentraler kirchlicher Vorort. 157� wurde die Stadt Sitz eines orthodoxen Bischofs, dessen Einfluß sich im Laufe des 17. Jahrhunderts über weite Teile 15

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Siebenbürgens erstrecken und zu einer zentralen geistlichen und kulturellen Institution für die rumänischsprachige Bevölkerung werden sollte. Am Ende des 16. Jahrhunderts kam es zu einem kurzen politisch-militärischen Intermezzo, das von der rumänischen Historiographie als eine der markantesten Zäsuren der Nationalgeschichte beschrieben wurde. 1599 eroberte der walachische Fürst Michael, später „der Tapfere“ (rumänisch Viteazul) genannt, Siebenbürgen. Im Jahr darauf nahm er zudem die Moldau ein und konnte sich für mehrere Monate Landesherr über die Walachei, die Moldau und Siebenbürgen nennen, bis Siebenbürgen wieder an die Habsburger und die Moldau an Polen-Litauen fiel. Die offizielle rumänische Geschichtsschreibung interpretiert diese über mehrere Monate andauernde Regierung Michaels über die Walachei, die Moldau und Siebenbürgen als die erste Vereinigung zu einem rumänischen Staat; Fürst Michael wird entsprechend als Nationalheld verehrt. Die Episode vom triumphalen Einzug Michaels in Alba Iulia nach der Eroberung Siebenbürgens, wo er, so will es der nationalrumänische Mythos, zum Fürsten Siebenbürgens proklamiert wurde, dient bis heute als geographische, historische und ideologische Referenz für die von den rumänischen Historikern seit dem 19. Jahrhundert beschriebene Teleologie einer Vereinigung der sogenannten drei rumänischen Länder. Das heutige orthodoxe Erzbistum beruft sich in seinem Selbstverständnis (neben der, allerdings vagen, Nennung eines orthodoxen Bischofs im 14. Jahrhundert) auch auf die Einrichtung einer Metropolie und auf die ebenfalls nicht belegbare Stiftung einer Kirche in der Stadt durch Michael. Im Zuge der Zurückdrängung der Osmanen nahm die habsburgische Armee auch Siebenbürgen ein. Es wurde begonnen, das Gebiet in das Habsburgerreich zu integrieren. Mit diesen Bestrebungen verbunden war die Hinwendung eines Großteils der dem östlichen Ritus angehörigen Christen zur katholischen Kirche, die die Gründung einer unierten (griechisch-katholischen) Kirche in Siebenbürgen nach sich zog. Mit der Kirchenunion von Alba Iulia von 1700 und der Ausstellung zweier kaiserlicher Diplome 1699 und 1701 kam es zur Vereinigung von Teilen der siebenbürgischen Orthodoxie mit der katholischen Kirche – und damit zur prinzipiellen rechtlichen Gleichstellung der vorwiegend rumänischsprachigen, orthodoxen und nunmehr unierten Bevölkerung. Mit der Union wurde der orthodoxe Metropolit Athanasius Anghel zum griechisch-katholischen Bischof mit Sitz in Alba Iulia, der jedoch bald nach Fogarasch und dann nach Blasendorf verlegt wurde. Die Eparchie unterstellte man vorerst dem ungarischen Erzbistum Gran. 1853 richtete man die Metropolie „Alba Iulia und Fogarasch“ ein, wobei Fogarasch zum Erzbistum erhoben wurde. Blasendorf ist bis heute Sitz des Erzbischofs, der seit 2005 den Titel eines Großerzbischofs trägt. Die unierte Kirche findet ihre Verbindung mit Alba Iulia demnach aus einer historischen Perspektive bei ihrer Entstehung und im Titel der Kirchenprovinz. Für die siebenbürgische Orthodoxie bedeutete diese Kirchenunion eine erhebliche Schwächung. Erst mit dem Toleranzpatent Kaiser Josephs II. 1781 sollte das orthodoxe Bistum mit seinem alten Sitz in Alba Iulia wiedererrichtet werden. Mit der Eingliederung der Region in das Habsburgerreich erhielt Alba Iulia im Gefüge der siebenbürgischen Städte auch im profanen Bereich eine neue Rolle. Während sich der politische Schwerpunkt nach Hermannstadt und später nach Klausenburg ver16

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lagerte, erfuhr Alba Iulia im strategischen Sektor eine Aufwertung. Kaiser Karl VI. ließ die nunmehr Karlsburg („Alba Carolina“) genannte Stadt zur sternförmigen Festung im Vauban-Stil ausbauen. Als 178� im Westen Siebenbürgens ein Aufstand von großteils rumänischen Leibeigenen ausbrach, wurden die Anführer Vasile Ursu Nicola, genannt Horea, Ion Oargă, genannt Cloşca, und Marcu Giurgiu, genannt Crişan, in Alba Iulia festgehalten. Während Crişan Selbstmord beging, wurden Horia und Cloşca dort hingerichtet. Militärischen Bedrohungen mußte die Anlage erst im Zuge der revolutionären Ereignisse von 18�8/�9 trotzen, als die dort stationierten Soldaten der habsburgischen Armee mehrere Wochen lang von ungarischen Truppen belagert wurden. Seit 1921 hat die orthodoxe Militärdiözese ihren Sitz in Alba Iulia. Noch heute ist innerhalb der Festungsmauern eine Garnison der rumänischen Armee untergebracht, deren symbolische Bedeutung die militärischen Zwecke wohl übertrifft. IV. Von der Zwischenkriegszeit bis zur Revolution Am 1. Dezember 1918 versammelten sich laut zeitgenössischen Schätzungen rund 100.000 Rumänen in Alba Iulia, um die Vereinigung Siebenbürgens sowie weiter Teile des Banats, der Marmarosch und des Partiums mit dem Königreich Rumänien zu proklamieren. Das in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts aus der Vereinigung der Donaufürstentümer Walachei und Moldau entstandene „Altreich“ war nun zu „Großrumänien“ geworden, wie der bis heute gängige Begriff für den rumänischen Staat der Zwischenkriegszeit lautet. Die „große Vereinigung“ wurde in den Pariser Vorortverträgen auch von internationaler Seite bestätigt. Der Anschluß Transsilvaniens – unter dieser Bezeichnung werden Siebenbürgen sowie die seit dem Ende des Ersten Weltkriegs zu Rumänien gehörenden Teile der Marmarosch, des Partiums und des Banats subsumiert – wird als Befreiung der dort lebenden Rumänen von der ungarischen Unterdrückung empfunden und nimmt eine entsprechend bedeutende Stellung im nationalen Geschichtsnarrativ ein. Der in Arad tagende Rumänische Nationalrat wählte Alba Iulia aus mehreren Gründen als Ort für die „große Versammlung“ vom 1. Dezember 1918. Einerseits empfahl sich diese Stadt aufgrund ihrer historischen Anknüpfungspunkte: Michael der Tapfere, die „nationalen Märtyrer“ Horea, Cloşca und Crişan. Andererseits boten sich andere Städte kaum als Alternative an: Klausenburg war überwiegend von Ungarn bewohnt, Hermannstadt und Kronstadt waren tief in der siebenbürgisch-sächsischen Geschichte verwurzelt und nur partiell von Rumänen bewohnt, auch wenn das Kronstädter Stadtviertel Schei als ein Zentrum der nationalen rumänischen Emanzipation gilt. Das im Zuge der Revolution von 18�8/18�9 für Versammlungen genutzte „Freiheitsfeld“ in Blasendorf hätte wohl eine erwägenswerte Alternative dargestellt, stünde die Stadt und ihre berühmte Schule nicht zu sehr in einer griechisch-katholischen Tradition. Obwohl unierte Rumänen Wesentliches zur rumänischen Nationsbildung beitrugen – der Bischof von Armenierstadt, Iuliu Hossu, war einer der Hauptakteure bei der „Großen Versammlung“ –, sollte das künftige Großrumänien eine von der orthodoxen Konfession dominierte Nation werden. 17

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Als König Ferdinand und seine Frau Marie 1922 zu König und Königin „Großrumäniens“ gekrönt wurden, erfolgte die Zeremonie in der zu diesem Zweck erbauten, architektonisch von der im byzantinischen Stil errichteten Kathedrale in Târgovişte (Walachei) inspirierten Krönungskirche von Alba Iulia. Weitere Institutionen des nationalen Gedächtnisses im Ensemble von Alba Iulia wurden in ihrer unmittelbaren Nähe eingerichtet. In dem als Militärkasino erbauten „Einheitssaal“ tagte die Versammlung der 1.228 Abgeordneten, die für die „Große Vereinigung“ gestimmt hatten; das „Museum der Einheit“ beherbergt die einschlägigen Dokumente. Ab 1930 trug der rumänische Thronfolger den Titel eines „Großwoiwoden von Alba Iulia“. Daß Alba Iulia auch zur regionalen Identität der Rumänen einen Beitrag leistete, belegen die zahlreichen Bezugnahmen siebenbürgischer Politiker der Zwischenkriegszeit auf den Ort und die mit ihm verbundenen historischen Zäsuren, die in einem Kongreß der stark in Siebenbürgen verwurzelten, von Iuliu Maniu geführten Nationalen Bauernpartei im Jahr 1928 gipfelten. Während des Kongresses forderten angeblich 100.000 Menschen die Einsetzung Karls von Hohenzollern als König und die Absetzung der liberalen Regierung Vintila Brătianus. Das Ensemble nationaler Helden rund um Alba Iulia wurde 1937 durch einen Obelisken, der den Aufständischen Horia, Cloşca und Crişan gewidmet war, erweitert. Auch das kommunistische Regime funktionalisierte Alba Iulia als nationalen Erinnerungsort. 1968, fünfzig Jahre nach der „Großen Vereinigung“, wurde neben der katholischen Kathedrale eine bronzene Reiterstatue Michaels des Tapferen aufgestellt. 1975 brachte man in unmittelbarer Nähe ein Basaltrelief an, das Fürst Michael dabei zeigt, wie er die „Würdigung der drei vereinigten Fürstentümer“ entgegennimmt. Trotz des der kommunistischen Ideologie geschuldeten Bedeutungsverlusts der sakralen Komponenten des Gedächtnisortes erfolgte im selben Jahr die Wiedergründung der Diözese Alba Iulia als Teil der orthodoxen Kirchenprovinz „Klausenburg, Alba, Kreischgebiet und Marmarosch“. Am Haupteingang der nunmehr als Kathedrale fungierenden Kirche wurden Gedenktafeln angebracht, mit denen vier bedeutenden Ereignissen der rumänischen Nationalgeschichte gedacht wird, die mit diesem Ort in Zusammenhang stehen: der erste Druck des Neuen Testaments in rumänischer Sprache (16�8), die Vereinigung der „drei rumänischen Länder“ durch Michael den Tapferen, das Martyrium der drei Aufständischen Horea, Cloşca und Crişan sowie die „Wiedererrichtung der spirituellen und kirchlichen Einheit der Rumänen 19�8“, womit die Zwangseingliederung der unierten in die orthodoxe Kirche gemeint ist. Die Bezeichnung „Kathedrale der Wiedervervollständigung“ kann somit sowohl auf das Jahr 1918 als auch auf das Jahr 19�8 bezogen werden. V. Die Phase nach 1989 Nach dem politischen Systemwechsel von 1989/90 wurde der 1. Dezember in der neuen Verfassung (1991) zum rumänischen Nationalfeiertag erklärt. In jener Phase gründete man zudem die „Universität 1. Dezember 1989“ in Alba Iulia. Seither war die ebenfalls innerhalb der Mauern befindliche Bibliothek Batthyaneum, 1780 vom römisch-katholi18

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schen Bischof Ignác Bátthyany eingerichtet, nicht mehr die einzige Bildungseinrichtung innerhalb des Ensembles. Im Batthyaneum befinden sich nicht nur Teile des Lorscher Evangeliars (Codex Aureus Laureshamensis), sondern auch wichtige Denkmäler der rumänischen Schriftkultur wie die sogenannte Belgrader Bibel, die erste vollständig gedruckte Übersetzung des Neuen Testaments ins Rumänische. 199� erklärte das Parlament die Stadt zur „Symbolburg der Großen Vereinigung aller Rumänen“. Alba Iulia konnte mit dem Ende des kommunistischen Regimes seine Funktion als nationaler Erinnerungsort zudem wieder auf eine sakrale Dimension ausdehnen. Im Jahr 1991 wurde die katholische, sieben Jahre später dann auch die orthodoxe Diözese zum Erzbistum erhoben. Das katholische Erzbistum dient als sakrales Zentrum der katholischen ungarischen Minderheit Rumäniens und steht damit in Konkurrenz zu den rumänischen Einrichtungen. In den letzten zehn Jahren finden vermehrt gut besuchte, modern gestaltete Festivals zum 1. Dezember in Alba Iulia statt, in die – eher in touristischer Form – die religiösen Einrichtungen der orthodoxen Kirchen einbezogen werden. VI. Auswahlbibliographie Istoria Romîniei [Geschichte Rumäniens], Bd. 2. Bucureşti 1962; GheorGhiu, Ion/nuţu, Constantin: Adunarea naţională de la Alba Iulia. 1 decembrie 1918 [Die Nationalversammlung von Alba Iulia. 1. Dezember 1918]. Bucureşti 1968; branişte, Valeriu: De la Blaj la Alba Iulia. Articole politice [Von Blasendorf nach Alba Iulia. Politische Artikel]. Timişoara 1980; illyés, Elemér: Nationale Minderheiten in Rumänien. Siebenbürgen im Wandel. Wien 1981; Kutschera, Rolf: Landtag und Gubernium in Siebenbürgen. 1688–1869. Wien/Köln 1985; Köpeczi, Béla (Hg.): Kurze Geschichte Siebenbürgens. Budapest 1990; Mârza, Eva: Tipografia de la Alba Iulia 1577–1702. Din istoria tiparului românesc [Die Druckerei von Karlsburg 1577–1702. Aus der Geschichte des rumänischen Buchdrucks]. Sibiu 1998; Gündisch, Konrad: „Hauptstädte“ in Siebenbürgen. In: heppner, Harald (Hg.): Hauptstädte zwischen Save, Bosporus und Dnjepr. Geschichte, Funktion, Nationale Symbolkraft. Wien/Köln/Weimar 1998, 51–83; Josan, Nicolae/popa, Liliana: Cetatea Alba Iulia în timpul revoluţiei din anii 18�8–18�9. Documente vieneze [Die Festung Alba Iulia in der Revolutionszeit der Jahre 18�8–18�9. Wiener Dokumente]. Alba Iulia 2001; boia, Lucian: Geschichte und Mythos. Über die Gegenwart des Vergangenen in der rumänischen Gesellschaft. Köln/Weimar/Wien 2003; roth, Harald (Hg.): Siebenbürgen. Handbuch der historischen Stätten. Stuttgart 2003; pop Ioan-Aurel/näGLer Thomas/MaGyari, Andras (Hg.): Istoria Transilvaniei [Geschichte Siebenbürgens], Bd. 1–3. Cluj-Napoca 2003–2008; adriányi, Gabriel: Die Geschichte der katholischen Kirche in Ungarn. Wien/Köln/Weimar 2004; bahLcKe, Joachim: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005; toth, Istvan György (Hg.): Geschichte Ungarns. Budapest 2005; bahLcKe, Joachim/zach, Krista (Hg.): Kirche – Staat – Nation. Eine Geschichte der katholischen Kirche in Siebenbürgen vom Mittelalter bis zum frühen 20. Jahrhundert. Az Erdély Katholicizmus múltja és jelene. München 2007; Maner, Hans-Christian/spannenberGer, Norbert (Hg.): Konfessionelle Identität und Nationsbildung. Die griechisch-katholischen Kirchen in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2007; Marton, Jószsef/JaKabffy, Tamás: Die Jahrhunderte des siebenbürgischen Katholizismus. Klausenburg 2007; strobeL, Karl: Kaiser Traian. Eine Epoche der Weltgeschichte. Regensburg 2010.

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Neutra I. Zusammenfassung. – II. Motive der Verehrung. – III. Nationalisierung des religiösen Lebens. – a) Neutra in der slowakischen Nationalbewegung. – b) Neutra in der Ideologie des slowakischen Katholizismus und Autonomismus. – IV. Neutra im Kommunismus und postkommunistische Erneuerung der Erinnerung. – V. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Die Stadt Neutra gehört zusammen mit Devín und Preßburg zu den drei bedeutendsten historischen und national-religiösen Erinnerungsorten der heutigen Slowakei, die sich auf das sogenannte goldene Zeitalter der slowakischen nationalen Geschichte beziehen, nämlich das Neutraer Fürstentum des 9. und 10. Jahrhunderts und Großmähren. Neutra nimmt auch unter den religiösen Erinnerungsorten eine zentrale Stellung ein. Es wirkten dabei mehrere religiöse Erinnerungselemente zusammen. Zunächst waren dies die mittelalterliche Tradition der heiligen Zoerard-Andreas und Benedikt und des dem heiligen Hippolyt geweihten Benediktinerklosters auf dem naheliegenden Berg Zobor sowie der Kult um das Gnadenbild der „Schmerzhaften Gottesmutter“, der im Barock einsetzte. Die Nationalisierung der ungarländischen Ethnien im 19. Jahrhundert führten zur Revitalisierung vieler Einzelelemente der kyrillomethodianischen Tradition und zur Etablierung Neutras als religiöser Erinnerungsort. Zur Unterstützung des slowakischen Autonomismus in der Tschechoslowakei wurden in der Zwischenkriegszeit die vorhandenen altslawischen historischen Elemente und vor allem die Tradition von Neutra als der Stadt, wo um 830 die erste christliche Kirche im Siedlungsbereich der mitteleuropäischen Slawen geweiht worden sein soll, ausgebaut und in zahlreichen Gedenkveranstaltungen mit religiöser oder säkularer Bedeutungsaufladung begangen. Die teilweise bis heute verbreiteten Bezeichnungen Neutras als „Stadt Methods, „slowakisches Bethlehem“, „slowakisches Zion“ oder „Wiege des Christentums der Slowaken“ bezeugen die herausragende Stellung des Orts auf der religiösen Landkarte der Slowakei. II. Motive der Verehrung Neutra war spätestens am Ende des 8. Jahrhunderts ein wichtiges Machtzentrum westslawischer Stämme nördlich der Donau. Die Christianisierungsbemühungen der Benediktiner aus dem Fränkischen Reich verzeichneten Ende der 820er Jahre einen ersten Erfolg. Damals weihte der Salzburger Erzbischof Adalram auf der Neutraer Burg des Fürsten Pribina die in De Conversio Bagoarorum et Corantanorum erste, schriftlich belegte Kirche im Siedlungsraum der mitteleuropäischen Slawen. Nach der Vertreibung Pribinas und der Eingliederung seines Fürstentums in den mährischen Reichsverband um 8�0 blieb Neutra ein wichtiges Zentrum der entstehenden Kirchenstruktur. 20

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Das Benediktinerkloster auf dem Hügel Zobor wurde um das Jahr 880 gegründet, in der gleichen Zeit wie das Neutraer Bistum. Nach der vom Prager Chronisten Kosmas am Ende des 12. Jahrhunderts aufgezeichneten Legende in der Chronica Boemorum hat hier an der Neige seines Lebens der mächtigste großmährische Herrscher Svjatopluk I. Zuflucht genommen. Diese mittelalterliche Tradition wurde in der frühen Phase der slowakischen Nationalbewegung in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eines der Grundelemente des kollektiven Erinnerns an Neutra als Stadt Svjatopluks und Methods. Das Benediktinerkloster und die Abtei des heiligen Hippolyt auf dem Berg Zobor haben nach dem Entstehen des ungarischen Königreichs eine wichtige Rolle bei der Festigung des Christentums im historischen Oberungarn gespielt. An der Wende des 10. und 11. Jahrhunderts lebten hier die Eremiten Zoerard-Andreas und Benedikt, die aufgrund ihrer strengen Askese bald nach ihrem Tod (1030 und 1033) verehrt wurden. Auf Initiative des Königs Ladislaus I. wurden sie im Jahre 1083, unter dem Pontifikat von Papst Gregor VII., zusammen mit König Stephan I., seinem Sohn Emmerich sowie dem Tschanader Bischof Gerhard als die ersten ungarländischen Heiligen kanonisiert, mit dem gemeinsamen liturgischen Gedenktag am 17. Juli. Die Verehrung der beiden Eremiten verbreitete sich schnell auch in Böhmen und Polen. Sie wurden zu Hauptpatronen der Neutraer Diözese. Zoerard wurde sieben Jahrhunderte später, im Jahr 1739, auch Patron der Stadt. Die Reformation hat in seiner Diözese und gleichzeitig in der dem Bischof untertänigen Stadt nur schwache Wurzeln geschlagen. Der Kult der Neutraer Eremiten konnte in der Welle der aufkommenden barocken Frömmigkeitsformen für die Rekatholisierungszwecke in ganz Oberungarn genutzt werden. Im Barock entstand ein weiteres Objekt der Verehrung, das Gnadenbild der „Schmerzhaften Gottesmutter“. Zum ersten Mal erwähnt wurde es in der kanonischen Visitation des Bischofs János Telegdy zur Mitte des 17. Jahrhunderts. Die Wallfahrten auf dem Mariaberg finden seit dem Jahre 1766 am Fest Mariä Himmelfahrt statt und haben bis in die Gegenwart großen Zuspruch. III. Nationalisierung des religiösen Lebens a) Neutra in der slowakischen Nationalbewegung Bei der Formgebung der slowakischen nationalen Ideologie und der Herstellung einer selbständigen, von der ungarländischen unterschiedlichen historischen Tradition stand Großmähren für das „goldene Zeitalter“ und das sogenannte erste Königreich der Slowaken. Gleichzeitig wurden auch die religiösen Erinnerungselemente aus der großmährischen Zeit akzentuiert. Bereits in der ersten Generation der national aktiven slowakischen Intelligenz kam Neutra mit dem Berg Zobor die Stellung des Sitzes der großmährischen Herrscher und des Zentrums der kyrillomethodianischen Kirchenorganisation zu. Der intellektuelle, konfessionell vorwiegend innerkatholische Diskurs entfaltete sich und verwuchs allmählich mit der modernen nationalslowakischen My21

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thologie und Symbolik. Im ersten national konnotierten hymnischen Lied Nitra milá Nitra (Neutra, schönes Neutra) von der Wende des 18. zum 19. Jahrhundert, das in einer Handschrift von Ján Vojtech Šimko, einem Mitglied der katholischen Linie der Nationalbewegung, überliefert ist, wird Neutra als „Svjatopluks Sitz“ und „heilige Stadt Methods“ gepriesen. Ján Kollár hat in Slávy dcéra (Tochter der Slawa 182�) eine Liste der slowakischen topographischen Erinnerungsorte festgehalten, die unverändert das ganze 19. und 20. Jahrhundert überdauert hat. Lediglich die Stadt Preßburg und besonders die in seiner Nähe liegende Ruine der Burg in Devín haben Neutra in den Schatten gestellt. Die historischen Epen Swatopluk (1833) und Cyrillo-Methodiada (1835) des katholischen Priesters Ján Holl� � setzten in den 1830er Jahren den Prozeß der Übertragung des mythologischen Zentrums des „slowakischen Königreichs“ nach Devín fort, das gleichzeitig auch die Rolle der kirchlichen Metropole der großmährischen Kirche übernehmen sollte. Die Millenniumsfeier der Ankunft von Kyrill und Method im Jahre 1863 wurde in der slowakischen und in der tschechischen Nationalbewegung zur intensiveren Propagierung der kyrillomethodianischen Tradition und der damit verknüpften wichtigsten Erinnerungsorte verwendet. Die Wortführer der slowakischen Katholiken Andrej Radlinsk�, Jozef Viktorin und Ján Palárik haben bereits im Jahre 1858 eine gesamtnationale Feier in Neutra geplant. Die nationalen und religiösen Elemente schmolzen zusammen, und die nationale Einheit der Slowaken sollte durch die Erweiterung des Kultes der slawischen Apostel gefestigt werden. Negative Stellungnahmen der ungarländischen kirchlichen Hierarchie, besonders des Neutraer Bischofs Augustin Roskoványi und des Graner Erzbischof János Scitovszky, gegenüber der geplanten Feier in Neutra haben sie verhindert. Die großen Feierlichkeiten fanden zuletzt in Devín und im mährischen Velehrad statt und haben die exklusive Stellung dieser beiden Orte im regionalen Gedenken der kyrillomethodianischen Tradition gestärkt. Ungarische Wortführer versuchten mit zielbewußten Bemühungen, diese religiösen Erinnerungsorte, die mit der slowakischen historischen Tradition verknüpft waren, zu entkräften. Ihr Ziel war es, nichtungarische ethnische Gruppen kulturell und national der ungarischen Identität nahezubringen. Bei diesem Vorgang wurde Neutra im Jahre 1883 Sitz des „Oberungarischen Kulturverbandes“ (FEMKE). Seine Aktivitäten zielten auf die Festigung der Loyalität der slowakischen Bevölkerung gegenüber der ungarischen Krone und sollten so unter anderem auch die Ausbreitung der slowakischen national motivierten religiösen Traditionen einschränken. Die Bedeutung von Neutra als religiöser Erinnerungsort wurde von ungarischer Seite auf die Verehrung der heiligen Zoerard-Andreas und Benedikt und der traditionellen und nationsübergreifend populären marianischen Wallfahrtsstätten reduziert. Im Jahre 1896 wurde bei der Feier des 1000-jährigen Jubiläums der magyarischen Landnahme auf dem Berg Zobor eine der sieben Millennium-Gedenkstätten des Landes errichtet, die an historisch bedeutsamen Stellen ungefähr entlang der Grenzen des Königreichs Ungarn erbaut wurden. Die Orte auf dem Gebiet der heutigen Slowakei für diese Denkmäler 22

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wurden mit dem Ziel ausgewählt, mit ihrem symbolischen Wert die slawisch konnotierte kyrillomethodianische Erinnerungskultur zu entkräften. Neben Neutra stand das zweite Millenniumsdenkmal in Oberungarn auf der Devíner Burg. b) Neutra in der Ideologie des slowakischen Katholizismus und Autonomismus Nach dem Zusammenbruch Österreich-Ungarns 1918 kam der kyrillomethodianischen Tradition in der Tschechoslowakei eine zentrale Rolle bei der Ausgestaltung der slowakischen nationalen Ideologie und gleichzeitig auch der tschechoslowakischen staatlichen Tradition zu. Ähnlich wie die großmährische Tradition war sie also latent mit der politischen Konzeption des Tschechoslowakismus verknüpft, die nun staatstragend werden sollte. Die archäologischen und historischen Forschungen der Zwischenkriegszeit verorteten die politischen und kirchlichen großmährischen Zentren im Gebiet Mährens und damit auf dem Territorium der historischen Böhmischen Länder. Das führte unter Verfechtern der slowakischen Sache zum Bedürfnis, selbständige, ältere, vorgroßmährische historische Elemente hervorzuheben. Neutra mit der ersten Kirche im Gebiet der mitteleuropäischen Slawen trat wieder in den Vordergrund. Der Neutraer Bischof Karol Kmeťko hatte sich schon kurz nach der Einrichtung der Tschechoslowakei bemüht, durch seine Erhebung zum Erzbischof Neutras zentrale Stellung unter den religiösen Erinnerungsorten des Landes und als slowakische Metropolie zu untermauern. Dieses Vorhaben sollte die Gewinnung der Reliquien des heiligen Kyrill aus der römischen Basilika des heiligen Clemens unterstützen, die seit ihrer im Jahre 1926 erfolgten Überführung im romanischen Teil der dem heiligen Emmeram geweihten Kirche zu Neutra aufbewahrt sind. Die Kette von großen Feierlichkeiten zum 1100. Geburtstag des heiligen Kyrill verliefen parallel in beiden sogenannten Erbländern des Missionswerks, im mährischen Velehrad und in der Slowakei auf der Burg Devín. Beide Feiern haben die religiöse und kulturelle Bedeutung der Mission als gemeinsame Tradition der Vorfahren der tschechoslowakischen Nation ausgelegt und schwankten dabei zwischen der national-staatlichen und der national-identifizierenden Deutung der kyrillomethodianischen Tradition. Der politische Katholizismus der Zwischenkriegszeit, repräsentiert durch die „Volkspartei“ (Hlinkova slovenská ľudová strana) und die vorwiegend von ihren evangelischlutherischen Mitgliedern geprägte „Nationale Partei“ (Slovenská národná strana), setzten zur Legitimierung der Forderung nach einer slowakischen Autonomie das symbolische Kapital Neutras als vermeintliche erste slowakische Hauptstadt und die angebliche Führungsrolle des Neutraer Fürstentums bei der Christianisierung der mitteleuropäischen Slawen ein. Bei der Vorbereitung der Feier des 1100. Jubiläums der Weihe der Kirche in Neutra kam es zu Auseinandersetzungen zwischen der Prager Regierung und den Organisatoren. Die Regierungskommission bereitete ein Programm vor, in welchem die nationalslowakischen kirchlichen und auf Autonomie bedachten politischen Kräfte und Vereine 23

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Der Stich von Gaspar Bouttats von der Festung Neutra sowie der Stadt entstand für ein Sammelwerk um 1690. Der niederländische Graveur arbeitete für zahlreiche Verleger. Seine Tätigkeit wie die Darstellung von Neutra stehen für die Verbreitung und Zirkulation von Abbildungen auch aus Ostmitteleuropa in neuen Medien im frühneuzeitlichen Europa. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

nicht einbezogen worden waren. Im Begleitprogramm wurden die eigenständigen slowakischen historischen Erinnerungselemente hervorgehoben. Neutra wurde als Wiege des „christlichen und nationalen Lebens“ dargestellt, die den Boden für die spätere byzantinische Mission „vorbereitet“ hatte. Der Termin der Feier war auf den Tag des traditionellen Marienwallfahrtsfestes festgelegt, was zur Teilnahme von rund 300.000 Gläubigen wesentlich beigetragen hat. Die „Pribina“-Feiern vom 12. bis 15. August 1933 haben die Intensität der politischen und nationalen Spannungen offen enthüllt und gleichzeitig die vorherrschende Stellung von Neutra als eines erstrangigen historischen und religiösen Erinnerungsortes gefestigt. Beigetragen dazu hat der katholische Verein des heiligen Adalbert, der zur Propagierung Neutras als „slowakisches Zion“ und „slowakisches Bethlehem“ eine Reihe von Büchern und Broschüren herausgegeben hat. Während der ersten Slowakischen Republik im Zweiten Weltkrieg lag Neutra infolge des ersten Wiener Schiedsspruchs unmittelbar an der Grenze zu Ungarn. In der Situation des besorgniserregenden ungarischen Revisionismus hat sich Neutra in dieser Zeit weiter als religiöser und historischer Erinnerungsort der modernen slowakischen Nation festigen können. IV. Neutra im Kommunismus und postkommunistische Erneuerung der Erinnerung Nach der Machtergreifung des kommunistischen Systems in den Jahren nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wurden die vorgroßmährische Periode des Neutraer Fürstentums und das symbolische Kapital der Stadt als Wiege der Christianisierung der Slowakei marginalisiert. In den Milieus der katholischen Kirche, die zum Teil im Untergrund wirken mußten, kam es aber bereits im Rahmen der Jubiläen der byzantinischen Mission 24

Neutra

in den 1960er Jahren zu einer Wende. Die offizielle Erinnerungskultur des kommunistischen Regimes hat Neutra weiterhin nur als Symbol der kulturellen Blüte und der alten Wurzeln der slowakischen Nation und gleichzeitig auch „der Brüderlichkeit“ der slowakischen und der tschechischen Nation interpretiert. Die einschneidende Änderung trat nach dem Zusammenbruch des Kommunismus und die Gründung der unabhängigen Slowakei in den Jahren zwischen 1989 und 1993 ein. Neutra wurde nun in der nationalstaatlichen Ideologie ein integrativer nationaler Erinnerungsort. Dieselbe Rolle spielte es als ältestes Bistum auch im religiösen Kontext. Fürst Pribina und die Neutraer Burg gelangten auf die 20 Kronen Banknote. Seit 1993 findet alljährlich am 5. Juli in Neutra am Fest der heiligen Kyrill und Method die nationale Wallfahrt der Vertreter der offiziellen Slowakei zum Kalvarienberg statt. Während des zweiten Besuchs von Papst Johannes Paul II. in der Slowakei im Jahre 1995 besuchte er auch Neutra und bestätigte damit dessen vorrangige Stellung unter den slowakischen religiösen Erinnerungsorten. V. Auswahlbibliographie hoLLý, Ján: Swatopluk. Wíťazská Báseň we dwanástich Spewoch [Svatopluk. Siegeslied in zwölf Gesängen]. Trnava 1833; hoLLý, Ján: Cyrillo-Metodiada. Wíťazná Báseň [Cyrillo-Methodiada. Ein Siegeslied]. V Buďíne 1835; vuruM, Joseph: Episcopatus Nitriensis eiusque Praeslum memoriam. Posonii 1835; sasineK, Franko Víťazoslav: Nitra [Neutra]. In: černý, Emil (Hg.): Slovenská čítanka, Bd. 1. Banská Bystrica 1866, 295–297; KoMpáneK, Jozef. Nitra Nástin dejepisn�, miestopisn� a vzdelanostn� [Neutra: Skizzen aus der Geschichte, Topographie und Kultur]. Ružomberok 1895; WaGner, József: Adalékok a nyitrai székes-káptalan történetéhez [Beiträge zu der Geschichte der Pfarrgemeinden in Neutra]. Nyitra 1896; Lovcsányi, Július. Das Neutraer Comitat. In: Die osterreichisch-ungarische Monarchie in Wort und Bild. Ungarn, Bd. 5, Teil 1. Wien 1898, 253–29�; WaGner, József: Adatok a Nyitra-városi plébániák történetéhez [Daten zu der Geschichte der Pfarrhäuser in der Stadt Neutra]. Nyitra 1902; hodáL, Juraj: Prehľad dejín slovenského kniežatstva počas moravského nadpánstva 830– 905 [Geschichte des slowakischen Fürstentums während der großmährischen Herrschaft im Überblick 830–905]. Trnava 1926; boháč, Jozef: Dejiny staroslávnej Nitry [Geschichte des ehrwürdigen Neutra]. Nitra 1928; hodáL, Juraj: Kostol kniežaťa Pribinu v Nitre 830–1930 [Kirche des Fürsten Pribina in Neutra 830–1930]. Nitra 1930; hodáL, Juraj: Kostol Pribinov v Nitre v pravom svetle [Die Kirche Pribinas in Neutra im rechten Licht]. Nitra 1933; stránsKy, Albert/cserenyey, Štefan: Dejiny biskupstva Nitrianskeho od najstarších dôb až do konca stredoveku [Geschichte des Bistums Neutra von den ältesten Zeiten bis zum Ende des Mittelalters]. Trnava 1933; hoLinKa, Rudolf: Sv. Svorád a Benedikt, svĕtci Slovenska [Die heiligen Zoerard und Benedikt, die Heiligen der Slowakei]. In: Bratislava 8 (1934) 304–340; LaJoš, Jozef (Hg.): Nitra slovom i obrazom [Neutra in Schrift und Bild]. Nitra 1964; tibensKý, Ján: Chvály a obrany slovenského národa [Lob und Verteidigung des slowakischen Volkes]. Bratislava 1965; ratKoš, Peter: Vznik kultu Ondreja-Svorada a Benedikta vo svetle zagrebsk�ch pamiatok [Entstehung des Kultes der heiligen Zoerard-Andreas und Benedikt am Beispiel von Zagreber Denkmälern]. In: Historijski zbornik 29–30 (1976/1977) 77–86; avenarius, Alexander: Byzantská kultúra v slovanskom prostredí v VI.–XII. storočí. K problému recepcie a transformácie [Byzantinische Kultur in der slawischen Umgebung vom VI.–XII. Jahrhundert. Zum Problem der Rezeption und Transformation]. Bratislava 1992; tibensKý, Ján: Funkcia cyrilo-metodskej a veľkomoravskej tradície v ideológii slovenskej národnosti [Die Rolle der kyrillo-methodianischen und großmährischen Tradition in der Ideologie des slowakischen Volkstums]. In: Historick� časopis �0/5 (1992) 579–59�; Pápež

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Peter Šoltés Ján Pavol II. na Slovensku. Príhovory a homílie [Papst Johannes Paul II. in der Slowakei. Reden und Predigten]. Bratislava 1995; Marsina, Richard/ruttKay, Alexander: Svätopluk 89�–199�. Nitra 1997; zubácKa, Ida: Nitra za prvej Československej republiky [Neutra in der ersten Tschechoslowakischen Republik]. Nitra 1997; fuseK, Gabriel/zeMene, Marián (Hg.): Dejiny Nitry. Od najstarších čias po súčasnosť [Geschichte Neutras. Von der ältesten Zeit bis heute]. Nitra 1998; JudáK Viliam: Nitrianske biskupstvo v dejinách [Die Neutraer Diözese in der Geschichte]. Bratislava 1999; steinhübeL, Ján: Die Kirchenorganisation in Neutra um die Jahrtausendwende. In: Bohemia �0/1 (1999) 65–78; Marsina, Richard (Hg.): Nitra v slovensk�ch dejinách [Neutra in der slowakischen Geschichte]. Martin 2002; KoWaLsKá, Eva: Der konfessionell geprägte Patriotismus am Beginn der nationalen Bewegung der Slowaken. In: dann Otto/hroch, Miroslav/KoLL, Johannes (Hg.): Patriotismus und Nationsbildung am Ende des Heiligen Römischen Reiches. Köln 2003, 219–233; KružLiaK, Imrich: Cyrilo-metodsk� kult u Slovákov. Dlhá cesta k slovenskej cirkevnej provincii [Kult der Kyrill und Method in der Slowakei. Ein langer Weg zur slowakischen kirchlichen Provinz]. Prešov 2003; hrabovec, Emilia: Pribinove slávnosti v Nitre a vypovedanie nuncia Ciriaciho z Česko-Slovenska 1933 [Die Pribina Feier in Neutra und die Landesverweisung des Nuntius Ciriaci aus der Tschechoslowakei 1933]. In: Studia Historica Tyrnaviensia 5 (200�) 73–98; šKvarna, Dušan: Začiatky modern�ch slovensk�ch symbolov [Die Anfänge der modernen slowakischen Symbole]. Banská Bystrica 2004; steinhübeL, Ján: Nitrianske kniežatstvo [Das Neutraer Fürstentum]. Bratislava 200�; KiLiánová, Gabriela. Identita a pamāť. Devín/ Theben/Dévény ako pamätné miesto [Identität und Gedächtnis. Devín/Theben/Dévény als Gedächtnisstätte]. Bratislava 2005; zaJonc, Juraj: Prečo je Nitra staroslávne mesto [Warum Neutra ein ehrwürdiger Ort ist]. In: KreKovič, Eduard/Mannová, Elena/KreKovičová, Eva (Hg.): M�ty naše slovenské. Bratislava 2005, 134–149; vontorčíK, Emil (Hg.): Nitra v najstarších dokumentoch a písomnostiach (do konca 13. storočia) [Neutra in den ältesten Dokumenten und Schriften (bis zum Ende des 13. Jahrhunderts)]. Bratislava 2007; KiLiánová, Gabriela. Umiestnenie národného príbehu [Das Bestimmen der Volksgeschichte]. In: dies./KoWaLsKá, Eva/KreKovičová, Eva (Hg.): My a tí druhí v modernej spoločnosti [Wir und die anderen in der modernen Gesellschaft]. Bratislava 2009, 308–32�; zaJonc, Juraj: Spoločensk� život mesta Nitra po rozpade Rakúsko-uhorskej monarchie (1918–19�5) a jeho obraz v pamäti mesta [Soziales Leben in der Stadt Neutra nach dem Zerfall der Österreichisch-Ungarischen Monarchie (1918–19�5) und sein Bild im Gedächtnis der Stadt]. In: ferencová, Michaela/nosKová Jana (Hg.): Paměť města. Obraz města veřejné komemorace a historické zlomy v 19.–21. storočí. Brno 2009, 273–310.

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Devín I. Zusammenfassung. – II. Devín und Dowina – III. Die Bedeutung Devíns in den tschechischen, slowakischen und tschechoslowakischen Nationalbewegungen. – IV. Devín als religiöser und nationaler Erinnerungsort für weitere Volksgruppen. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der Ort Devín liegt um den Burgberg der Ruine Devín an der Mündung der March in die Donau zwischen Ausläufern der Kleinkarpaten und des Leithagebirges. Seit 1946 ist Devín Stadtteil von Preßburg. Die Burgruine Devín selbst spielt seit dem 19. Jahrhundert eine bedeutende Rolle im slowakischen Nationalmythos und wurde mit dem ersten Besuch Ľudovít Štúrs zum Ort von „nationalen Wallfahrten“. Die Burg wurde im 19. und im 20. Jahrhundert mit dem Großmährischen Reich des 9. Jahrhunderts und damit auch mit den zu dieser Zeit dort wirkenden Slawenaposteln Kyrill und Method in Verbindung gebracht. Aufgrund archäologischer Funde nach 1980 verortet man dort eine Festung aus der großmährischen Periode.

II. Devín und Dowina Die Besiedlung auf dem Burgberg reicht, wenn auch mit Unterbrechungen, bis in die Altsteinzeit zurück. Seit dem 10. Jahrhundert gehörte die Burg zum ungarischen Königreich. Devín erhielt 1568 königliche Stadtrechte, und die Burg wurde im selben Jahrhundert im Stil der Renaissance neuerrichtet. 1809 sprengten napoleonische Truppen die Anlage. Die tschechische und slowakische Historiographie versuchte seit dem 19. Jahrhundert, aufbauend auf der Darstellung von Stephanus Salagius aus dem 18. Jahrhundert, Devín mit dem Großmährischen Reich des 9. Jahrhunderts und Fürst Rastislavs damaliger Festung Dowina in Verbindung zu bringen. Dort hatte der ostfränkische König Ludwig der Deutsche 855 eine militärische Niederlage erlitten, dann aber wenig später einen Sieg errungen. Dowina wurde in den Fuldaer Annalen erwähnt, auch Hermann der Lahme verwies auf die Festung. Mithilfe verschiedener linguistischer und historisch-geographischer Ableitungsversuche spannten Historiker den etymologischen und phonetischen Bogen von Dowina nach Devín. Der im böhmischen Leitmeritz wirkende Professor für Kirchengeschichte und Kirchenrecht, Joseph Anton Ginzel, stellte 1857 in seinem Werk Geschichte der Slawenapostel Cyrill und Method in der slawischen Liturgie die These auf, daß der Ort der Bestattung Methods – und damit wohl auch dessen Hauptkirche – entweder in „Devina“ oder in Velehrad zu finden sei. In diesem Sinne wurde auch zeitweise die Schule des heiligen Kyrill in Devín lokalisiert, wo Kleriker und zukünftige weltliche Amtsträger ausgebildet wurden. Nach dem Tod Kyrills im Jahre 869 wurde 27

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sie von Method fortgeführt. In der älteren tschechischen und slowakischen Forschung wurde die Burg Devín auch mit dem castrum Wogastisburg des Reichs des Samo im 7. Jahrhundert in Verbindung gebracht, was von der Forschung, auch in der Slowakei und Tschechien, in den letzten zwei Jahrzehnten allerdings abgelehnt wird. Bei Ausgrabungen konnten bisher eine kleinere, in die zweite Hälfte des 9. Jahrhunderts datierte Kirche, Gräber sowie militärische Gegenstände aus der großmährischen Zeit aufgefunden werden. Die Grabungen um Devín gehen auf Josef Zavadil im 19. Jahrhundert zurück, die erste Grabung auf dem Burgberg selbst wurde 1913 durchgeführt. Im Jahr 1914 wurde eigens eine Kommission für die historisch-archäologische Erforschung des großmährischen Burgwalles Devín eingesetzt sowie ein entsprechendes Archiv gegründet. 1921 gelang es, eine Siedlungskontinuität vom 7. bis ins 11. Jahrhundert nachzuweisen. In der Zwischenkriegszeit hielten vor allem slowakisch orientierte Historiker Devín für den Hauptsitz Svatopluks I., was zu intensiven archäologischen Forschungen während der 1930er Jahre führte. Seit dem 15. Jahrhundert im Besitz ungarischer Adelsfamilien, sollte der Burgberg mit Verweis auf das kyrillo-methodianische Erbe Devíns 1926 als Eigentum des tschechoslowakischen Volkes deklariert werden. Aber erst nach der Enteignung der ungarischen Adelsfamilie Pálffy, den letzten Privatbesitzern der Anlage, konnte 1933 mit umfassenden Ausgrabungen begonnen werden. Durch Ausgrabungen nach dem Zweiten Weltkrieg erhielt die These, daß Dowina in Devín zu finden sei, erneut Auftrieb. Funde nach 1980 bestärkten nochmals die Vertreter dieser Annahme oder legten zumindest nahe, daß es sich dort um eine während der großmährischen Zeit angelegte Festung handeln könnte. III. Die Bedeutung Devíns in den tschechischen, slowakischen und tschechoslowakischen Nationalbewegungen Der Lutheraner, Panslawist und slowakische Erwecker Ľudovít Štúr begründete am Sonntag, den 2�. April 1836, den slowakischen Mythos um Devín durch einen gemeinsamen Ausflug der slowakischen und deutschen Mitglieder des Preßburger evangelischen Lyzeums auf die Anhöhe. Die Teilnehmer wurde von Štúr aufgefordert, soweit vonnöten, slawische Personennamen anzunehmen, worauf er eine „nationale Taufe“ an diesen Aktivisten durchführte. Nach 1750 hatte der oberungarische Gelehrte Stephanus Salagius die großmährische Epoche bereits ausschließlich den Slowaken zugeschrieben und bezeichnete zugleich erstmals Devín als Sitz Fürst Svatopluks I. Später begannen mehrere Schriftsteller der nationalromantischen Periode, darunter Baron Alois Medňyánszky, Ján Kollár sowie Ján Holl�, Devín als Erinnerungsort Großmährens und der kyrillo-methodianischen Tradition hervorzuheben. Ján Holl� zufolge nahm sogar die Mission Kyrills und Methods in Devín ihren Anfang. Die Gedenkjahre Kyrills und Methods nach 1850 fanden allerdings wenig Resonanz in Devín, es pilgerten nur einige wenige Jugendliche dorthin. Dies stand in großem Gegensatz zu der Situation in Velehrad. Auch in der Literatur dieser Zeit wurde Devín nicht als so bedeutend wie etwa Nitra oder Velehrad 28

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wahrgenommen, sondern nur als eine weitere großmährische Festung. In der Zwischenkriegszeit fanden Wallfahrten zu Ehren der „Slawenapostel“ Kyrill und Method statt. Die gesellschaftlichen Aktivitäten erreichten ihren Höhepunkt in der nationalen Wallfahrt vom 10. Juli 1927 zum 1100. Geburtstag Kyrills. Diese wurde vor allem von der slowakischen römisch-katholischen Kirche und der politischen Elite der ersten tschechoslowakischen Republik veranstaltet, um die Grundlage für weitere jährliche Gedenkfeiern im national-religiösen Gewand zu schaffen. Die Organisatoren der Štúr-Gedenktage veranstalteten 1936 eine Wanderung von Preßburg nach Devín. Die Bedeutung Devíns stieg auch in den Augen panslawistischer Vereinigungen zu dieser Zeit steil an. Seit 1918 versuchte man in der Slowakei durch die Vermittlung der Schriften nationaler Erwecker des 19. Jahrhunderts im Schulsystem ein modernes slowakisches Nationalbewußtsein in der Bevölkerung zu verankern. Zu Zeiten des ersten formal souveränen slowakischen Staates mit völkischer Ausrichtung während des Zweiten Weltkriegs gehörten die Feiern am 5. Juli in Nitra und Devín schließlich zu den staatstragenden öffentlichen Akten. Nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges war Devín wiederum Teil der Tschechoslowakei. Zu Beginn der kommunistischen Zeit fanden auch staatlich organisierte Wallfahrten nach Devín statt, so etwa der „Allslawische Tag“ 19�6. Die sozialistische Propaganda stilisierte Großmähren und das Wirken Kyrill und Methods zu einem Teil des Kampfes zwischen Slowaken und Deutschen im 9. Jahrhundert, wobei die Rote Armee Kyrill und Method als von außen kommende Erlöser symbolisieren sollte. Gleichzeitig versuchte die Kommunistische Partei, den Feierlichkeiten ihren slowakisch separatistischen Ton zu nehmen. Devín sollte die Bruderschaft der slawischen Völker symbolisieren und zugleich ein Zentrum kommunistischer Machtdemonstration sein. Nach 1951 wurde dieser Symbolwert des Ortes geringer. Devín war nun meist nur noch bewachte Grenzzone. Alle Aktivitäten erstarben nach dem Ende der jährlichen Opernaufführungen im nationalkommunistischen Sinne im Jahre 1959. Bis 198� fanden nur noch einzelne Feiern anläßlich der tschechisch-slowakischen oder tschechoslowakisch-sowjetischen Freundschaft statt, die sich Kyrills und Methods unter Weglassung aller christlichen Elemente der Personen als vermeintlicher Beiträger zum späteren Aufbau des Sozialismus bedienten. Im Jahr 1961 wurde beschlossen, die Ruine zu einem nationalen Kulturdenkmal zu erheben und zu einem Freilichtmuseum auszubauen. Dennoch wurden die Ausgrabungen erst 1985 im Rahmen einer Ausstellung zeitweise zugänglich gemacht. Anlaß der Ausstellung waren vier Jubiläen zugleich: 40 Jahre seit der Befreiung vom Faschismus, der 200. Todestag Ján Holl�s sowie der 1100. Todestag Methods. Im folgenden Jahr wurde auch noch der 150. Jahrestag der Wanderung Štúrs nach Devín begangen. In den daran anschließenden Jahren kamen zu diesen Gedenktagen bis zu 100.000 Besucher jährlich. Es begannen damals neuerlich Bemühungen, Devín als slowakisch nationalen, aber auch religiösen Erinnerungsort wieder ins Bewußtsein zu rücken. Auch im Rahmen der Ereignisse des Jahres 1989 gelangte Devín in den Mittelpunkt der Wahrnehmung. Zwischen der Burgruine und dem österreichischen Hainburg fanden sich im November 1989 Schiffe ein, auf beiden Seiten waren große Menschenmengen versammelt. Aufgrund seiner Lage wurde der Burgberg 1989 auch zum Symbol des Falls des Eisenern Vorhanges. 29

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Der handkolorierte Stahlstich von W. Mossmann nach einer Zeichnung von W. H. Bartlett aus dem Jahr 18�2 zeigt den sogenannten Turm der Nonnen: Dieser Teil der Burgruine von Devín wurde damals zu kommerziellen Zwecken als besonders romantisch hervorgehoben. Die Burg wurde so durch neue Medien als Landmarke und Erinnerungsort breiteren Kreisen nahegebracht. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

Die Verfassung der 1993 gegründeten Slowakischen Republik nahm in ihrer Präambel im Zusammenhang mit der nationalen Eigenstaatlichkeit Bezug auf das geistige Erbe Kyrills und Methods und das angebliche historische Vermächtnis des Großmährischen Reiches. Während sich die gesamtslowakischen Feiern in der neuen Republik zunehmend auf Nitra konzentrierten, wie etwa zum angenommenen 1130. Jahrestag der Ankunft von Kyrill und Method im Donauraum im 9. Jahrhundert, fanden in Devín nur kleinere national konnotierte Folkloreveranstaltungen statt. Die archäologischen Grabungen machten zunehmend die Nutzung als Veranstaltungsort schwierig. In Hinblick auf die kyrillo-methodianische Tradition hatte Devín somit zwar gegenüber Velehrad und Nitra das Nachsehen, doch ist es auch heute noch ein markantes Symbol der slowakischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts und seit 1989 auch der Schleifung der befestigten Grenze. 30

Devín

IV. Devín als religiöser und nationaler Erinnerungsort für weitere Volksgruppen Die im Jahr 1896 auf dem Burgfelsen errichtete Árpádsäule stellte den Versuch dar, die früher im ungarischen Königreich gelegene Festung für den modernen ungarischen Nationalmythos zu vereinnahmen. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde sie von unbekannten Tätern, wahrscheinlich tschechoslowakischen Legionären, gesprengt. Während Devín lange Zeit den westlichsten Punkt Ungarns darstellte, wurde der Ort spätestens nach 1945 als nationalungarischer Erinnerungsort bedeutungslos. Nach der Grenzziehung 1938, die dazu führte, daß Devín bis 19�5 zum Deutschen Reich gehörte, fand dort 1939 ein sogenanntes Deutsches Grenzlandtreffen statt. Devín wurde damit für kurze Zeit zu einem Erinnerungsort östlicher deutscher Besiedlung. Während des Kommunismus verlagerte sich der Erinnerungsort für die 19�5 aus Preßburg vertriebenen Deutschen schließlich über die Grenze in das auf der österreichischen Seite gelegene Hainburg.

V. Auswahlbibliographie Zachar, Ludwig: Sv. Cyril a Metod na Devine. Devin hlavné a sidelné mesto Veľmoravskej ríše [Die heiligen Kyrill und Method in Devín. Devín, die Residenzstadt des Großmährischen Reiches]. Tranava 1928; SchWartz, Michael: Untersuchungen über das mährisch-slowakische Staatswesen des 9. Jahrhunderts. München 1942; LacKo, Michael: The Cyrilomethodian Mission and Slovakia. In: Slovak Studies 1 (1961) 23–49; BöhM, Jaroslav, Das Grossmährische Reich. Tausendjährige Staats- und Kulturtradition. Prag 1963; FiliP, Jan (Hg.): Ausstellung Grossmähren. 1100 Jahre Staats- und Kulturtradition. Prag 196�; Grébert, Arvéd: Die Slowaken und das Grossmährische Reich. Beitrag zum ethnischen Charakter Großmährens. München 1965; BosL, Karl: Das großmährische Reich in der politischen Welt des 9. Jahrhunderts. München 1966; ScheidL, Karl (Hg.): Großmähren und die christliche Mission bei den Slawen. Wien 1966; česKosLovensKá aKadeMie věd (Hg.): Grossmähren. Slawenreich zwischen Byzantinern und Franken. Mainz 1966; BosL, Karl (Hg.): Handbuch der Geschichte der böhmischen Länder, Bd. 1. Die Böhmischen Länder von der archaischen Zeit bis zum Ausgang der hussitischen Revolution. Stuttgart 1967; LacKo, Michael: Great-Moravian and Cyrillo-Methodian Era Researched. Synthesis of Studies from 1959–1970. In: Slovak Studies 10 (1970) 193–217; PüspöKi-naGy, Péter: On the Location of Great Moravia: A Reassessment. Pittsburgh 1982; PouLiK, Josef u. a. (Hg.): Grossmähren und die Anfänge der tschechoslowakischen Staatlichkeit. Prag 1986; Kučera, Matúš: Great Moravia and the Beginnings of the Slovak History. In: Studia historica slovaca 16 (1988) 65–119; RatKoš, Peter: The Territorial Development of Great Moravia. In: Studia historica slovaca 16 (1988) 121–155; EGGers, Martin: Das „Großmährische Reich“ – Realität oder Fiktion? Eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert. Stuttgart 1995; ders.: Das Erzbistum des Method. Lage, Wirkung und Nachleben der kyrillomethodianischen Mission. München 1996; Štefanovičová, Taťána: Probleme der Erforschung der slawischen Burgstätten Devín und Bratislava. In: Staňa, Čenĕk u. a. (Hg.): Frühmittelalterliche Machtzentren in Mitteleuropa. Mehrjährige Grabungen und ihre Auswertung. Brno 1996, 1�9–157; EGGers, Martin: „Moravia“ oder „Großmähren“? In: Bohemia 39 (1998) 351–370; Hadler, Frank: Der Magna-Moravia-Mythos zwischen Geschichtsschreibung und Politik. In: BehrinG, Eva u. a. (Hg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas. Stuttgart 1999; Mannová, Elena (Hg.): A Concise History of Slovakia. Bratislava 2000; RuttKay, Alexander: Die Ausbildung herrschaftlicher Strukturen bei den Westslawen auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. In: WieczoreK, Alfred u. a. (Hg.): Europas Mitte

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um 1000. Handbuch zur Ausstellung. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Bd. 1. Stuttgart 2000, 333–338; Štefanovičová, Tatiana: Devín und Preßburg (Bratislava) – zwei bedeutende Burgen des Frühmittelalters an der mittleren Donau. In: WieczoreK, Alfred u. a. (Hg.): Europas Mitte um 1000. Handbuch zur Ausstellung. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Archäologie, Bd. 1. Stuttgart 2000, 327–332; ALbrecht, Stefan: Geschichte der Großmährenforschung in den tschechischen Ländern und in der Slowakei. Prag 2003; KiLiánová, Gabriela: Ein Grenzmythos: Die Burg Devín. In: SteKl, Hannes u. a. (Hg.): Heroen, Mythen, Identitäten. Die Slowakei und Österreich im Vergleich. Wien 2003, �9–80; MachiLeK, Franz: „Velehrad ist unser Programm“. Zur Bedeutung der Kyrill-Method-Idee und der Velehradbewegung für den Katholizismus in Mähren im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bohemia. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der böhmischen Länder 45 (2004) 353–395; Froese, Paul: Secular Czechs and Devout Slovaks: Explaining Religious Differences. In: Review of Religious Research 46 (2005) 269–283; PLachá, Veronika u. a.: Die großmährische Kirche von Devín (Slowakei). In: PiPPal, Martina u. a. (Hg.): Die frühmittelalterlichen Wandmalereien Mährens und der Slowakei. Archäologischer Kontext und herstellungstechnologische Analyse. Innsbruck 2008, 97–10�.

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Gran – Erzbistum und Dom I. Zusammenfassung. – II. Entwicklung als religiöser Erinnerungsort. – III. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Gran ist eines der wichtigsten Kirchenzentren und einer der bedeutendsten dynastischen Sitze in Ungarn seit der Errichtung der Arpadenmonarchie. Seine Bedeutung als Kirchensitz ist bis zur Gegenwart unumstritten, wovon die anhaltende Präsenz in der ungarischen, aber auch in der slowakischen und polnischen Historiographie sowie im nationalen Bewußtsein der Bevölkerung dieser Länder zeugt. II. Entwicklung als religiöser Erinnerungsort Der hohe Stellenwert des Ortes im ungarischen Geschichtsbewußtsein ist in erster Linie mit der Gründung der selbständigen ungarischen Kirchenorganisation verbunden, der Gran bis heute vorsteht. Dies gilt auch jetzt noch, obwohl die Stadt in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihre politische Bedeutung und Verwaltungsfunktion eingebüßt hat und der erzbischöfliche Sitz nach Budapest verlegt wurde. Die Errichtung einer eigenen ungarischen Kirchenorganisation, die parallel zum Ausbau der polnischen Metropolie erfolgte, beruhte auf einer Übereinkunft zwischen Kaiser Otto III. und dem König Stephan um die erste Jahrtausendwende. Gran wurde das schon früher gegründete Bistum Wesprim unterstellt, ferner zwei weitere Diözesen in Raab und Siebenbürgen. Bei der Auswahl des Ortes dürfte entscheidend gewesen sein, daß Stephan I. von Ungarn in dieser Stadt geboren und getauft worden war. In der slowakischen Forschung wurde dagegen die Theorie aufgestellt, daß durch eine translatio sedis die Befugnisse des einstigen Bistums Neutra auf Gran übertragen worden seien. Die Vorstellungen über Grans Erstrangigkeit als Kirchenzentrum müssen schon gegen Ende des 11. Jahrhunderts diskutiert worden sein, da die von König Koloman dem Bücherfreund in Auftrag gegebene und von Bischof Hartvik von Raab verfaßte sogenannte Dritte Stephanslegende durch eine Gegenüberstellung von Gran und Kalocsa auf die Vorrangigkeit von Gran hinzuweisen versuchte. Bis heute ist in der Forschung ungeklärt, ob Stephan der Heilige nicht Kalocsa zum Sitz eines Erzbistums erhoben hat; aber gerade wenn dies so war, muß zu Beginn des 12. Jahrhunderts die Erinnerung an Gran eine zentralere Rolle gespielt haben. In der genannten Legende sind erste, mit Gran als Kirchenzentrum verbundene Überlegungen zu finden, die die Unabhängigkeit der ungarischen Kirchenorganisation vor dem Hintergrund des Investiturstreits im nachhinein nachzuweisen suchten. Die vergleichsweise tendenziöse Darstellung der Legende Hartviks weist darauf hin, daß als Träger der Erinnerung nicht nur die Kirche, sondern auch der Herrscherhof diente. 33

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Die Erinnerungswürdigkeit Grans als Zentrum der ungarischen Kirchenorganisation wurde besonders nach der Besetzung großer Teile Ungarns durch die Osmanen im 16. Jahrhundert bedeutsam. Der Sitz des Erzbistums in Gran, das ebenfalls von osmanischen Truppen eingenommen wurde, mußte damals ins oberungarische Tyrnau verlegt werden. Die dort residierenden Oberhirten behielten allerdings ihren Titel als Erzbischöfe von Gran, so daß sich trotz veränderter kirchlicher Raumstruktur an der hierarchia catholica innerhalb Ungarns nichts änderte, nicht einmal, als man in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts das Verwaltungszentrum des Erzbistums nach Budapest transferierte. Untrennbar verbunden mit der Rolle von Gran als kirchlicher Mittelpunkt ist die Bedeutung der Stadt als eines der frühesten Zentren des Herrschaftsgebiets der Arpaden. Der großfürstliche Palast auf der Burg wurde nach 970 erbaut, zusammen mit der ersten, an der Stelle des heutigen Doms errichteten Kirche. Noch zu Stephans Lebzeiten erweiterte man die Kirche zu einem Dom, der schon bald allerdings der Zerstörung anheim fiel und im Laufe des 12. Jahrhunderts neu errichtet wurde. Die Kontinuität des Graner Doms erfuhr nach der Besetzung der Stadt und der Burg durch die Osmanen allerdings eine Unterbrechung. Nach der Zurückdrängung der Osmanen Ende des 17. Jahrhunderts durch die Habsburger vergingen noch viele Jahrzehnte, bis ein Neubau des Doms in Angriff genommen werden konnte. Die auf der Graner Bischofsburg errichtete erste Kirche steht im Zusammenhang mit der im letzten Drittel des 10. Jahrhunderts neu aufgenommenen, aus Passau und Salzburg gesteuerten Christianisierung – auf diese Zusammenhänge weist nicht zuletzt die Tatsache hin, daß die Kirche ihr Patrozinium nach demjenigen von Passau erhalten hat. Mit der im Machtzentrum der Arpaden errichteten Kirche ist die Taufe sowohl von Fürst Géza als auch diejenige seines Sohnes, Vajk-Stephan, verbunden. Bei der Taufe muß die Wirkung von Passau und der in das Herrschaftsgebiet der Arpaden den entsandten Missionare eine wichtige Rolle gespielt haben, da beide, Fürst Géza wie sein Sohn, den Namen von Passaus Schutzpatron – dem Protomärtyrer Stephan – erhielten. Mit der angeblich noch von Fürst Géza gestifteten Kirche ist zudem die Königskrönung von Stephan dem Heiligen verbunden. Sehr viele Fragen wirft die Beziehung von Gran beziehungsweise des Graner Doms zum heiligen Adalbert von Prag auf. Nach allgemeiner Auffassung, die unmittelbar an die zweite, von Brun von Querfurt verfaßte Lebensbeschreibung des heiligen Adalbert anschließt, soll der Märtyrerbischof in Ungarn Stephan (oder sogar noch Géza) getauft haben. Es wird ferner angenommen, daß Adalbert – ebenfalls in Gran – bei der Eheschließung von Stephan und Gisela, der Schwester Kaiser Heinrichs II., mitgewirkt haben soll. Die Verehrung des heiligen Adalbert in Gran gewann im Laufe der Jahrhunderte immer größere Bedeutung – seine Rolle bei der Taufe des ersten ungarischen Königs und selbst der Ort seiner Anwesenheit in Ungarn sind freilich nach heutigem Forschungsstand nicht eindeutig zu klären. Adalbert avancierte auch zum Schutzpatron des Doms. Seine vermutete oder tatsächliche Rolle trug dazu bei, daß die mit Gran verbundenen Erinnerungsebenen erweitert werden konnten. Da der ehemalige Prager Bischof auch in 34

Gran – Erzbistum und Dom

Der um 1595 angefertigte Kupferstich von Franz Hogenberg zeigt den Kampf kaiserlicher und osmanischer Truppen um Gran. In der Bildlegende wird Gott für die militärischen Erfolge des kaiserlichen Heeres im Namen der ganzen Christenheit gedankt. Bildnachweis: Privatarchiv Dániel Bagi.

Polen, Böhmen und im römisch-deutschen Reich verehrt wurde, ist Gran bis heute durch dessen Pilgerfahrten und Missionen auch mit diesen Ländern verbunden. Die Rolle Grans und des Graner Doms als Krönungsort und Machtzentrum verloren allerdings allmählich, und dieser Prozeß läßt sich bereits zu Stephans Lebzeiten beobachten, an Bedeutung. Grund hierfür war vor allem die Eröffnung der Pilgerstraße nach Jerusalem, durch die das ungarische Stuhlweißenburg, mit dem Gran fortan in einem Konkurrenzverhältnis stand, erheblich an Gewicht gewann. Nach 1071 kam es in Stuhlweißenburg zu der politisch bedeutsamen Herrscherzusammenkunft zwischen König Salomon und dessen Cousins, dem künftigen König Géza I. sowie Ladislaus dem Heiligen, bei der die zwischen den beiden Linien der Arpaden den ausgebrochenen Machtkonflikte geschlichtet werden konnten. Im 1�. Jahrhundert fand die erste, allerdings nicht als rechtskräftig betrachtete Krönung Karls I. von Anjou in Gran statt, was sich aber mehr zeitpolitischen Notwendigkeiten als der Prominenz des Ortes verdankte. Schon vom 13. Jahrhundert an sah das ungarische Gewohnheitsrecht vor, daß legitime Königskrönungen im Stephansreich an drei Bedingungen geknüpft waren – sie mußten in Stuhlweißenburg, mit der Heiligen Krone und vom Erzbischof von Gran durchgeführt werden. Gran büßte seine ursprüngliche Bedeutung als Krönungsstadt daher schon im Spätmittelalter endgültig ein. Die strategische Bedeutung Grans blieb allerdings gewahrt und überlebte das Mittelalter. 1594 fand hier eine der bedeutendsten Schlachten des „Fünfzehnjährigen Krieges“ 35

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gegen die Osmanen statt, bei der Bálint Balassi, einer der wichtigsten ungarischen Dichter der Renaissancezeit, fiel. Ebenfalls ein Indiz für die strategische Bedeutung Grans ist die 1895 dem Verkehr übergebene Maria-Valeria-Brücke über die Donau, durch die eine Verbindung zwischen den oberungarischen und niederungarischen Regionen gewährleistet werden sollte. Die Brücke wurde unmittelbar nach dem Ersten Weltkrieg, im Umfeld der politisch-militärischen Auseinandersetzungen nach Auflösung Österreich-Ungarns, durch tschechoslowakische Legionäre gesprengt, in den 1920er Jahren wiederaufgebaut und 1944 durch die deutsche Wehrmacht neuerdings zerstört. Bis zum Jahr 2001, als die Brücke wiedererrichtet wurde, litt Gran unter den wirtschaftlichen Folgen der geschwächten Infrastruktur. Hinzu kam mit Blick auf Verwaltung und Poltik, daß der Sitz des Komitats Komárom-Esztergom schon 1950 nach Tatabánya verlegt worden war. Dennoch erfuhr Gran in der während des 19. Jahrhunderts entstehenden modernen und nationalen Erinnerungskultur eine beachtliche Aufwertung. In den Jahren 1838 bis 18�3 wurde in Gran anstelle der seit dem Mittelalter immer wieder erneuerten Kirche eine monumentale klassizistische Basilika errichtet, die man Mariä Himmelfahrt und, wie schon der ältere Bau, dem heiligen Adalbert widmete. Der Bau zählt zu den größten Gotteshäusern Europas und wird traditionell auch als caput, mater et magistra ecclesiarum hungariae bezeichnet. III. Auswahlbibliographie a) Quellen Waitz, Georg (Hg.): Ademari Historiarium libri III. In: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores. Hannoverae 1891, 106–1�8; KarWasińsKa, Jadwiga (Hg.): Adalberti Pragensis episcopi et martyris Vita Prior. Warszawa 1962; szentpétery, Imre (Hg.): Scriptores rerum Hungaricarum, Bd. 1. Budapest 1937 [ND 2000].

b) Darstellungen Kristó, Gyula: Die Arpaden-Dynastie. Die Geschichte Ungarns von 895 bis 1301. Budapest 1993; horváth, István: A középkori Esztergom [Gran im Mittelalter]. In: aLtMann, Júlia/biczó, Piroska: Medium Regni. Középkori Magyar királyi székhelyek [Medium Regni. Die mittelalterlichen ungarischen Königssitze]. Budapest 1996, 11–39; Koszta, László: A keresztény egyházszervezet kialakulása [Die Entstehung der ungarischen Kirchenorganisation]. In: Kristó, Gyula/MaKK, Ferenc (Hg.): Árpád előtt és után. Tanulmányok a magyarság és hazája korai történetéből. Szeged 1996, 105–117; horváth, István: Das mittelalterliche Esztergom (Gran) und seine Sakralbauten. In: Acta Archaeologiae Hungariae 49 (1997) 79–90; ders.: Az esztergomi királyi és érseki székhely az Árpádok korában [Gran als Herrschersitz und Erzbistum im Zeitalter der Arpaden]. In: ders. (Hg.): Lux Pannoniae. Esztergom 2001, 15–36; thoroczKay, Gábor: The Dioceses and Bishops of Saint Stephen. In: zsoLdos, Attila (Hg.): Saint Stephen and His Country. Budapest 2001, �9–68; Kristó, Gyula: Die ungarische Staatsgründung. In: GLatz, Ferenc (Hg.): Die ungarische Staatsbildung und Ostmitteleuropa. Budapest 2002, 39–�8.

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Kiew – das „Neue Jerusalem“ I. Zusammenfassung. – II. Zur Geschichte der Stadt. – III. Die Geschichte eines Mythos: Kiew – das „Zweite Jerusalem“. – IV. Instrumentalisierung des Mythos in der Frühen Neuzeit. – a) Petro Mohyla. – b) Ivan Mazepa. – V. Die Nationalisierung des Mythos. – VI. Erinnerungsorte in Verbindung mit Kiew als dem „Neuen Jerusalem“ nach 1991. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Idee von Kiew als „Neuem“ oder „Zweitem Jerusalem“ entstand in der Zeit der Kiewer Rus’ in Anlehnung an die entsprechende Idee von Konstantinopel, die als eine von Gott begnadete Stadt schon im 7. Jahrhundert mit der heiligen Stadt verglichen wurde. Die bekannte Metapher machten sich die Kiewer Chronisten zu Nutze, als sie auch Kiew zum „Neuen Jerusalem“ erklärten. Angefangen mit einer stark politisch und religiös aufgeladenen Bedeutung, diente der Mythos als Fundament für die gewünschte Entwicklung der Stadt als Herrschaftszentrum einer aufstrebenden Region. Als Quelle für ihren Ursprungsmythos wurden religiöse Bilder, Klosterarchitektur und Überlieferungen in das Konzept eingefügt, was beispielsweise in der Andreaslegende deutlich wird. Nach der Verwüstung im 13. Jahrhundert schwächte sich die Erinnerung an Kiew als „Zweitem Jerusalem“ ab. Ein neues Interesse entstand erst im 17. Jahrhundert in den Zeiten von Metropolit Petro Mohyla und Kosakenhetman Ivan Mazepa, als der Mythos eine identitätsstiftende Funktion für die Orthodoxe Kirche und das ruthenische Volk erfüllen sollte. Im 18. Jahrhundert änderte sich die Bedeutung, als die russischen Zaren versuchten, Kiew als Wiege nunmehr der russischen Orthodoxie und zugleich als geistliches Zentrum des Imperiums zu vermitteln. Die Umformulierung geschah, als die Elite des Zarenreiches den Mythos zum Bestandteil der großstaatlichen Erzählung machte, die klar anti-polnisch ausgerichtet war. Aber auch die Geistlichen und Literaten des habsburgischen Galizien setzten dieses historische Werkzeug ein, um ihre eigenen nationalen Ambitionen zu legitimieren. Diese zwei Hauptlager in der Interpretation der Idee von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“, die ,imperiozentrische‘ und die ,ukrainozentrische‘, bestanden durchgehend bis zur Revolution 1917/18. Die Wirkungsgeschichte dieses historischen Konstrukts ging auch im 20. und 21. Jahrhundert weiter, als der Mythos Teil der Diskussion über das historische Gedächtnis Rußlands und der Ukraine nach 1991 wurde. In diesem Kontext diente das Konzept erneut einer ethnischen, politischen, konfessionellen und kulturellen Abgrenzung nach innen und außen. Neu sind Versuche in der Ukraine, den Mythos zu entpolitisieren und ihn als Teil der Kulturgeschichte der Stadt zu präsentieren.

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II. Zur Geschichte der Stadt Die frühesten Zeugnisse über Siedlungen auf dem Gebiet der heutigen ukrainischen Hauptstadt stammen aus dem 5. und frühen 6. Jahrhundert. Die Stadt erfuhr unter Fürst Vladimir dem Großen eine bedeutende Ausweitung. Zunächst entstanden unter seiner Herrschaft neue Verteidigungsanlagen. Das wichtigste Ereignis war aber die Annahme des Christentums im ostchristlichen Ritus im Jahr 988. Kiew wurde so zum Zentrum einer Metropolie des Konstantinopeler Patriarchats, was im Bau der ersten christlichen Kirche, der sogenannten Zehntkirche, seinen Ausdruck fand. Später, im 10. und 11. Jahrhundert, verzierte die Hauptstadt der Kiewer Rus’ bereits ein einzigartiges architektonisches Ensemble: Die goldenen Pforten (erbaut nach einem Vorbild in Konstantinopel), die „Kathedrale der heiligen Sophia“ (ebenfalls in Analogie zur Hagia Sophia errichtet), das „Sankt Michaelskloster“ und das „Höhlenkloster“. Die vorteilhafte geographische Lage Kiews auf der Route „von den Warägern zu den Griechen“ trug zur Entwicklung des Handels und des lokalen Handwerks bei. Die Blüte der Stadt wurde schließlich erst durch den Einfall der Tataren und Mongolen unterbrochen. 1240 wurde Kiew nahezu vollständig verwüstet, nur einige wenige Kirchen blieben stehen. Im Jahr 1362 wurde Kiew Teil des Herrschaftsverbandes des Großfürstentums Litauen und 1440 zur neuen Residenz der lokalen litauischen Kiewer Fürsten. Ende des 15. Jahrhunderts erhielt die Stadt aber auch das Magdeburger Stadtrecht. Nach dem Abschluß der Union von Lublin 1569 zwischen dem Königreich Polen und dem Großfürstentum Litauen fiel Kiew unter die Jurisdiktion der polnischen Krone. Die ganze Zeit hindurch war die Stadt Sitz eines orthodoxen Metropoliten geblieben. Nicht lange nach der Lubliner Union wurde in Kiew dessen Residenz wiederhergestellt. In dieser Zeit, in die auch der bedeutsame Abschluß der Brester Kirchenunion von 1596 fiel, wurde Kiew, dessen orthodoxe Bevölkerung und Geistlichkeit die Union ablehnten, zu einem Zentrum der Aktivitäten der orthodoxen kirchlichen Bruderschaft. Sie gründete zusammen mit Metropolit Petro Mohyla das berühmte Kiewer Kollegium, das 1658 zur Akademie erhoben wurde. Anfang des 17. Jahrhunderts nahm die erste Druckerei in der Stadt ihre Arbeit auf, und die mittelalterlichen Kirchen wurden gezielt restauriert. Im Anschluß an die Kosakenkriege Mitte des 17. Jahrhunderts gelangte Kiew unter das Hetmanat der Kosaken, eine halbautonome politische Einheit unter dem Protektorat des Moskauer Staates. In der Stadt war eine moskowitische Garnison stationiert. Zu dieser Zeit wurden in Kiew zusätzliche Verteidigungsanlagen erbaut, um die Stadt weiter vor türkisch-tatarischen Einfällen zu schützen. Eine weitere Folge der Grenzveränderungen war die Unterstellung der Kiewer Metropolie unter die Jurisdiktion des Moskauer Patriarchats 1686. Eine neue Periode kultureller und ökonomischer Blüte der Stadt fiel mit der Herrschaft des Hetmans Ivan Mazepa zusammen, als neue barocke Kirchen entstanden. 1708 wurde Kiew Provinzhauptstadt. Allmählich ging die Macht in der Stadt vom Magistrat und dem Hetman in die Hände des Generalgouverneurs über, der in St. Petersburg eingesetzt wurde. 1797, im Anschluß an die Teilungen Polens (1772–1795), erhöhte sich der 38

Kiew – das „Neue Jerusalem“

Rang Kiews im Rahmen des Rußländischen Reiches zur Hauptstadt der südrussischen Region. Der neue Status führte zu einem Anwachsen des Handels und der militärischen Infrastruktur. Nach einem Brand im Jahr 1811 wurde ein Generalplan zum Neuausbau der Stadt verabschiedet, man legte neue Magistralen an und gemeindete die ehemaligen Vorstädte ein. Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden erste industrielle Produktionsanlagen und Fabriken. Zugleich wurden zwei neue Universitäten eröffnet: Die dem heiligen Vladimir geweihte Alma mater entstand 183�, aus ihr wurde die heutige Nationale Taras-ŠevčenkoUniversität. 1898 wurde das Polytechnische Institut eröffnet, die heutige Polytechnische Universität. Ferner begründete man ein Operntheater. Nicht unwichtig war das starke Anwachsen der jüdischen Gemeinde Kiews in den 1860er und 1870er Jahren. Ende des 19. Jahrhunderts wurde die Stadt zum Zentrum der politischen Opposition, in der national orientierte Parteien und Bewegungen eine Schlüsselrolle spielten. Nach der Machtergreifung der Bolschewiken in Petersburg im Oktober 1917 wurde Kiew für einige Jahre zur Kampfarena einer Vielzahl bewaffneter politischer Gruppierungen. Im Januar 1918 rief der Zentralrat einen unabhängigen ukrainischen Staat aus. Der Zentralrat wich im gleichen Jahr zuerst den Bolschewiken, dann den deutschen Truppen und später dem Hetman Pavlo Skoropads’kyj und der Regierung der ukrainischen Volksrepublik. Schließlich übernahmen im Jahr 1921 sowjetische Truppen die Macht in der Stadt – Kiew wurde die Hauptstadt der ukrainischen Sowjetrepublik. In der Zwischenkriegszeit trat die Stadt, wie die ganze Sowjetunion, in eine Phase der forcierten Industrialisierung ein, was auch einen erheblichen Bevölkerungszuwachs mit sich brachte. Am Vorabend des Zweiten Weltkriegs war Kiew bereits eine Millionenstadt. Diese Entwicklung wurde durch den Krieg jedoch nachhaltig unterbrochen. Schon einige Wochen nach dem Einfall der deutschen Truppen in die Sowjetunion im Juni 1941 begannen die Kämpfe um Kiew. Die Besetzung der Stadt dauerte bis zum November 19�3 an. Während dieser Phase verloren rund 200.000 Menschen ihr Leben. Eine eigene Seite in der Geschichte des Holocaust nimmt die Erschießung von 3�.000 Juden in der Schlucht Babij Jar in der Nähe von Kiew ein. In dem dortigen Massengrab ruhen darüber hinaus die sterblichen Überreste von weiteren 66.000 Menschen. Die Wiederherstellungsarbeiten nach der Befreiung der Stadt dauerten bis 1949. In der Nachkriegszeit kam ein Hauptteil des Steueraufkommens in Kiew aus dem Maschinenbau und der metallverarbeitenden Industrie. Die unsichere ökologische Situation in der Ukraine, die in der Katastrophe im Atomkraftwerk Tschernobyl 1986 kulminierte, wurde zu einem der Auslöser für die Bildung einer nationalen Opposition in Kiew. Deren Anführer kritisierten die Unfähigkeit des Zentrums, mit der systemischen Krise der Industrie fertig zu werden und die Bevölkerung vor den Folgen der ökologischen Katastrophe zu schützen. Im Unterschied zu den Machthabern in Moskau reagierte die russisch-orthodoxe Kirche unmittelbar auf die Katastrophe. Die damit verbundene Zunahme der Religiosität führte zum Bau neuer Kirchen zu Ehren der Opfer des Unglücks. So geriet die Darstellung der Muttergottes auf einer gespaltenen Glocke in der Kirche des Erzengels Michael in Kiew für viele zum Symbol für Tschernobyl. Die kurz nach 39

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der Atomreaktorkatastrophe errichtete Kirche war das erste Gotteshaus, das nach Jahrzehnten atheistischer politischer Herrschaft in der ukrainischen Hauptstadt neu gebaut werden konnte. Nach dem Zerfall der Sowjetunion 1991 wurde Kiew zur Hauptstadt des unabhängigen ukrainischen Staates. Das wohl bedeutendste Ereignis in der jüngsten Geschichte der Stadt war die Orangene Revolution des Jahres 2004, während der sich auf den Straßen Kiews Tausende Menschen zur Verteidigung des Wahlrechts zusammenfanden. Politische Gegensätze kamen aber auch in einer kirchlichen Spaltung zum Ausdruck. Die Teilung der orthodoxen Kirche in die ukrainische orthodoxe Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP) und in die ukrainische orthodoxe Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) sowie die Wiedererstehung der aus dem Untergrund oder dem Exil zurückgekehrten ukrainischen autokephalen orthodoxen Kirche (UAOK) und der mit Rom unierten griechisch-katholischen Kirche (UGKK) während der 1990er Jahre wurde begleitet von Kämpfen um die Heiligtümer der alten Hauptstadt. Die Konfrontationen sind bis heute nicht gänzlich abgeflaut. III. Die Geschichte eines Mythos: Kiew – das „Zweite Jerusalem“ Ideologische Konfrontationen der letzten Jahre in der Ukraine nahmen oft Bezug auf Mythologeme der Vergangenheit. Eine der wichtigen Legitimierungsinstanzen war die Idee von Kiew als „Neuem Jerusalem“, die bereits in der Zeit der Kiewer Rus’ entstanden war. Die Kiewer Schreiber orientierten sich in diesem Fall an der noch älteren Tradition, Konstantinopel, die Hauptstadt des byzantinischen Reiches, mit der göttlichen Stadt Jerusalem zu vergleichen. Die Metapher von „Konstantinopel, der von Gott begnadeten Stadt“, erschien etwa im 7. Jahrhundert nach der Einnahme der östlichen Teile des Oströmischen Reiches durch die Araber. Seit dieser Zeit wurde die Hauptstadt als sakraler Ort aufgefaßt, wo Erlösung und Schutz in einem Meer von Chaos und Verfall warten sollten. Dieses Konzept fand seinen Widerhall in theologischen Texten sowie in der Anlage und der Architektur von Konstantinopel. Um den Ruf einer gottgeweihten Stadt bemühten sich auch weitere Städte im mittelalterlichen Europa. Konstantinopel stand in einer Reihe mit Aachen, Tărnovo oder Prag. Was Kiew betrifft, so bestand die Besonderheit der dortigen Interpretation gerade in der Anerkennung der besonderen Rolle Konstantinopels in der christlichen Heilsgeschichte. Kiew hatte nun diese Tradition geerbt und übernahm daher die Aureole der Heiligen Stadt von dort. Dieser Gedanke fand seinen Ausdruck etwa in der Pamjať i pochvala knjazju Vladimiru (Gedenkschrift und Lobrede zu Ehren des Fürsten Vladimir) nach 1040 im Kontext des Slovo o zakone i blagodati (Predigt über das Recht und die Gnade) des Metropoliten Ilarion von Kiew. So wie Kaiser Konstantin „mit seiner Mutter Helena das Kreuz aus Jerusalem geholt, es über sein ganzes Friedensreich hin gesandt und so den Glauben gefestigt“ habe, so habe auch der Kiewer Fürst Vladimir „mit [seiner] Großmutter Oľga das Kreuz aus dem neuen Jerusalem, aus der Stadt Konstantins, 40

Kiew – das „Neue Jerusalem“

Der Kupferstich stellt Jesus an der Seite von Johannes dem Täufer und dem Heiligen Andreas dar. Im Wasser des Jordan ist ein Boot mit der Ikone der Muttergottes zu erkennen. Wahrscheinlich handelt es sich dabei um die Theotokos-Ikone, die zur Kiewer Entschlafens-Bruderschaft gehörte. Es wird angenommen, daß der Kupferstich 1662 im Dnjepr gefunden wurde. Ihr Fest wird am 10. Mai gefeiert und fällt somit mit dem Stadtfest Kiews zusammen. In der oberen Reihe ist eine Gruppe weltlicher Herrscher abgebildet (unter ihnen auch der Kosakenführer Ivan Mazepa), neben Heiligen wie Boris und Gleb, die sich auf dem Hügel des Kiewer Berges befinden. Über ihnen ist das Kiewer Höhlenkloster dargestellt, versehen mit der Inschrift „Sie ist fest gegründet auf den heiligen Bergen“ (Psalm 87,1). Im Vordergrund ist die Person des heiligen Vladimir mit einem Stab zu sehen, der die Macht des weltlichen Herrschers und gleichzeitig die Taufe der Kiewer Rus‘ symbolisiert. Darüber befinden sich Darstellungen von Gott Zebaoth und dem heiligen Geist in Gestalt einer Taube. Als letztes ist in der unteren Reihe das Wappen von Mazepa abgebildet. Es erscheint noch zweimal auf dem Kupferstich (zum einen auf dem Höhlenkloster, zum anderen in Form eines Kreuzes, welches die Taufe der Rus’ auf dem Kiewer Berg symbolisiert). Das Wappen repräsentiert hier die weltliche Macht des Hetmans in Verbindung mit der Idee von „Kiew als Zweitem Jerusalem“. Bildnachweis: Privatarchiv Liliya Berezhnaya.

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gebracht“. Daß Kiew die byzantinische Tradition ererbt habe, fand sein Echo nicht nur in der Herstellung von Analogien zwischen Großfürst Vladimir und Kaiser Konstantin, zwischen Fürstin Oľga und Kaiserin Helena, sondern auch in der unmittelbaren Bezugnahme auf biblische Gestalten. So wurden Großfürst Vladimir, als Parallele zum alttestamentarischen König, David, sein Sohn Jaroslav, entsprechend zu König Salomon, Salomon genannt. Solche biblischen Parallelen vervollständigten die Legitimität der regierenden Dynastie und bezeugten die Sakralität Kiews, ihrer Residenz. Auf die besondere Rolle Kiews in der christlichen Heilsgeschichte verwies überdies die populäre Legende über die Weissagung des Apostels Andreas auf den Hügeln von Kiew. In ihrer vollständigen Form war sie niedergelegt in der Povesť vremennych let (Erzählung von den vergangenen Jahren) vom Anfang des 12. Jahrhunderts. Gemäß der Legende segnete der Apostel den Ort, auf dem die Stadt errichtet werden sollte, sagte ihr besondere göttliche Gunst voraus und errichtete dort ein Kreuz. Auf diese Weise stand Kiew nicht nur in einer Reihe mit Konstantinopel und Rom (wohin der Legende nach auch der Apostel Andreas gezogen war), sondern auch mit dem gesegneten Jerusalem. Die Andreaslegende demonstrierte zugleich den apostolischen Vorrang des altrussischen Christentums, da sie quasi den Gründungsakt der Stadt vor dem Aufenthalt des hl. Petrus in Rom ansetzt. Das gelehrte Konzept des Erbes von Konstantinopel beziehungsweise des „Zweiten Jerusalem“ fand dann auch Ausdruck im architektonischen Aufbau Kiews des 11. und 12. Jahrhunderts. Die Stadt wurde nach dem Modell Konstantinopels gestaltet, indem auf sie die sakrale Bedeutung in den Benennungen der Kirchen und der Verteidigungsanlagen übertragen wurde. So wurde etwa das Goldene Tor von Kiew, wie in Konstantinopel und in Jerusalem, als Parallele zum Eingang in die Himmlische Stadt Jerusalem aufgefaßt. Als Pforte zum Paradies galten auch das Höhlenkloster und die Kirche der heiligen Sophia. Letztere war in Analogie zur zwölftorigen Grabeskirche in Jerusalem erbaut worden. Die Sophienkathedrale in Kiew ist ebenfalls ein Bau mit zwei marmornen Säulen am Eingang. Die sakrale Zahl zwölf bezieht sich nicht nur auf die biblische Symbolik der zwölf Stämme Israels, sondern zielt auch auf die Nachkommen Fürst Vladimirs, des Täufers der Rus’. Auf den Fresken der Sophienkathedrale in Kiew folgen dem Vater dessen zwölf Söhne. Der Vater hält ein als Zion benanntes Reliquiar in den Händen. Im 16. Jahrhundert wurde diese Analogie noch durch die Hinzuziehung neuer Symbole verstärkt, indem etwa ein Jaspis, Symbol des „Neuen Jerusalem“, in den Boden der Kiewer Sophienkirche gegenüber dem Eingang zum Altarraum eingebaut wurde. Ähnlich wie die Sophienkathedrale war auch das wichtigste Kloster Kiews, das Höhlenkloster (ekfavra), konzipiert und erbaut wie eine Replik der Heiligen Stadt. Die sakrale Topographie des Klosterbaus gibt die wesentlichen Züge der zentralen Teile sowohl Konstantinopels als auch des Heiligen Landes wieder. Die Entschlafenskirche der Lavra sah man als zuverlässigen Verteidiger, als unzerstörbares Zion der Stadt. Eine der populären Legenden besagte, daß ein Pilger, der in das Kiewer Höhlenkloster gelangte, zum Teilnehmenden an den Ereignissen des Evangeliums wurde und geradezu das Leiden und die Auferstehung Christi miterlebte. Da das Territorium des Klosters mit dem Heili42

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gen Land in Verbindung gebracht wurde, begab sich jeder, der mit einem Gebet seine Schwelle überschritt, auf den Weg des Heils. IV. Instrumentalisierung des Mythos in der Frühen Neuzeit a) Petro Mohyla Nach der Verwüstung Kiews durch die Mongolen und Tataren schwächte sich die Memoria Kiews als „Neues Jerusalem“ ab. Die geistliche und weltliche Elite hatte nach dem Verlassen der Stadt kein Interesse mehr an einer Aufrechterhaltung deren besonderen Status auf der sakralen Karte der Region. Allerdings bestand die Vorstellung von der Gotterwähltheit Kiews, das sich unter der besonderen Fürsprache der Gottesmutter befand, in folkloristischen Texten fort und fand von dort Eingang in polnische und litauische Chroniken des 13. bis 15. Jahrhunderts. Eine neue Welle des Interesses am Mythos von Kiew als „Neuem Jerusalem“ fiel in die Zeit von Metropolit Petro Mohyla. In dieser Periode verschärfte sich im Zusammenhang mit dem Abschluß der Brester Kirchenunion von 1595/96 die konfessionelle Polemik. Die Themen, die in diesen Diskussionen angeschnitten wurden, umfaßten das Problem der Taufe der Rus’ und die Frage, inwiefern dies ein „katholisches“ Ereignis gewesen sei. Eine zentrale Figur stellte dabei der Apostel Andreas dar. In ihrer Beschreibung der Ereignisse stellten die orthodoxen Polemiker eine Verbindung zwischen der apostolischen Tradition Jerusalems und der orthodoxen Kirche Rutheniens her. Die Andreaslegende und Anspielungen auf Fürst Vladimir wurden so zu integralen Bestandteilen des Mythos von „Kiew als Zweitem Jerusalem“. Auslegungen dieses Mythos wiesen damals vor allem in zwei Richtungen. Einerseits sollte die besondere Mission der orthodoxen Kirche in den ruthenischen Landen unterstrichen werden, die so viele Zeichen „heiliger Protektion“ erhalten hatte. Andererseits wurde die Rolle Kiews als desjenigen Ortes betont, wo das Wiedererwachen des „ruthenischen Volkes“, des Volkes der Rus’, seinen Anfang nehmen sollte. Im Paterikon des Kiewer Höhlenklosters von Sylvestr Kosiv (1635), einer Sammlung von Heiligenlegenden der Väter und Mönche des alten Klosters, stand die Idee einer Kontinuität der ruthenischen orthodoxen Tradition im Dienst einer Verstärkung der polemischen Argumentation. Sie sollte Beweise liefern für Gottes Schutz des Kiewer Landes. In seiner Einleitung „an den orthodoxen Leser“ verglich Kosiv Kiew und sein Höhlenkloster mit „einem irdischen Geburtsort der Engel, [...] einem Feld, wo die Lilien der Reinheit, die Rosen des Leidens und die Hyazinthen des Gehorsams sich einst und jetzt ausbreiten“. Die Publikation des Paterikons sollte zudem als Versuch gesehen werden, den orthodoxen Metropolitensitz des 17. Jahrhunderts mit dem Kiew der Fürstenzeit in eine ideelle Verbindung zu bringen. In der gleichen Tradition entwickelte das Werk Τeratourgema von Atanasij Kaľnofojs’kyj (1638) das Konzept des wunderbaren ruthenischen Landes und Kiews als „Stadt Gottes“. 43

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Beide Apologien wurden auf Anweisung Petro Mohylas veröffentlicht und waren Ausdruck einer neuen propagandistischen Linie. Metropolit Mohylas Bemühungen um eine Wiederherstellung Kiews als alte Hauptstadt der Rus’ und die Wiederbelebung der Idee vom „ruthenischen Zion“ führten zur Renovierung der Kiewer Kathedralen, zur Überführung der Reliquien des heiligen Vladimir und zum Bau eines Monuments und einer Kapelle zu Ehren Vladimirs und seines Nachfolgers Jaroslav des Weisen. Auch in der visuellen Symbolik der Druckwerke fand dieser Rekurs auf die orthodoxe Tradition der Rus’ ihren Ausdruck. In der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts begannen ruthenische Druckwerkstätten systematisch mit der Publikation von Holzschnitten mit Abbildungen der Heiligen des Kiewer Höhlenklosters, des heiligen Vladimir, der heiligen Oľga und des Apostels Andreas. Zudem wurden diese Bilder oft auf die Titelseiten der Druckwerke aus Kiew plaziert, woraus sich mit der Zeit eine standardisierte Buchumkleidung entwickelte, die die wichtigsten Komponenten des Konzepts vom „Neuen Jerusalem“ reproduzierte. Dieser und andere Faktoren trugen schließlich dazu bei, daß die spirituelle, heilsgeschichtliche Rolle Kiews als wichtiger wahrgenommen wurde als seine weltliche und historische Bedeutung. b) Ivan Mazepa In der Periode nach Mohyla erschien das Konzept des „ruthenischen Zion“ reduziert zu einer etwas schlichteren und weniger mystischen Formel, doch blieb sein spiritueller Gehalt bis zum Ausgang des 17. Jahrhunderts von Belang. Dann erfuhr es eine Bereicherung durch neue visuelle Konnotationen, die sich besonders auf die Rolle des weltlichen Herrschers bezogen. So traten entsprechende Bemühungen in Predigten und in der dramatischen Literatur hervor, etwa aus der Feder der damaligen Mitstreiter des Kosakenhetmans Ivan Mazepa. Es war vor allem der Kirchenreformer und Theologe Feofan Prokopovič, der Kiew unmittelbar mit dem „neuen Zion“ verband. Er hatte damit sowohl die orthodoxe Kirche als auch das russische Reich im Auge. Derartige Anspielungen erhielten eine besondere Bedeutung, da sie eine Beziehung zwischen dem „Neuen Jerusalem“ auf den Kiewer Hügeln und der altrussischen Geschichte einerseits sowie der biblischen Überlieferung andererseits herstellen konnten. Eine entsprechende Konzeption fand sich dann in zahlreichen Panegyriken zu Ehren des Hetmans Mazepa wieder. Mazepa wurde von den Poeten aus Kiew und Černihiv mit den alttestamentarischen Gestalten Gideon, Salomon und selbst mit König David gleichgesetzt. Zudem fand diese Konzeption Ausdruck in Gravuren aus dieser Zeit, insbesondere in der Kreuzigung des Herrn von Innokentij Ščyrs’kyj. Der Künstler stellte darauf die Kiewer Hügel dar, mit Christus, Johannes dem Täufer und dem Apostel Andreas neben ihm. Auf den Wassern des Jordan schwimmt ein kleines Boot mit der Muttergottesikone der Kiewer Bruderschaft. Oben plazierte Ščirs’kyj eine Gruppe weltlicher Machthaber und geistlicher Personen, unter denen die heiligen Boris und Gleb, der heilige Großfürst Vladimir mit Zepter sowie Hetman Mazepa zu identifizieren sind. Die Argumente, die 44

Kiew – das „Neue Jerusalem“

seinerzeit Ende des 16. Jahrhunderts und im frühen 17. Jahrhundert von den orthodoxen Theologen in ihren Polemiken mit den Unierten benutzt wurden, wurden also später in der Umgebung Mazepas zu einer Neubelebung des alten Mythos – nun allerdings mit sowohl kirchlicher als auch herrschaftlich-staatlicher Konnotation – wieder verwendet. Allerdings sorgten die damaligen politischen Verhältnisse für neue Schattierungen im Begründungssystem des Konzeptes. Im Jahr 1700 zeichnete Zar Peter I. Hetman Mazepa mit dem Orden des heiligen Andreas aus, was für eine erneute Wiederbelebung der alten Legende sorgte. Auf der Gravur Ščirs’kyjs war der heilige Andreas keine zufällige Erscheinung, sondern assoziierte sich unmittelbar mit Mazepa. Weitere Beispiele allegorischer Abbildungen des Mythos von „Kiew – dem Neuen Jerusalem“ aus dieser Zeit sind der Kupferstich von Ivan Mihura Panegyrikon zu Ehren Mazepas (1706) oder allegorische Darstellungen mit dem Bild der Gottesmutter. Ein allegorisches Bild mit der heiligen Sophia, der betenden Gottesmutter (oranta) und des himmlischen Jerusalem wurde auf dem Bogen des von Mazepa angefügten Teils der Kiewer Sophienkathedrale gezeichnet. Die Wandmalerei der Kirche, die man zu Beginn des 18. Jahrhunderts dank der Bemühungen Mazepas wiederherstellen konnte, wurde zugleich mit neuen Details aus dem Fundus der Ikonographie der heiligen Sophia als der Göttlichen Weisheit in barocker Bildersprache aufgefüllt. So wurde dort eine Rotonde mit sieben Säulen als Symbol des himmlischen Jerusalem abgebildet. Eine analoge Abbildung hatte eigentlich nach dem Willen Mazepas auch die Himmelfahrtskirche des Kiewer Höhlenklosters schmücken sollen. Im entsprechenden Projekt kam zudem einer Darstellung des „Neuen Jerusalem“ ein zentraler Platz zu, dessen Ausführung sich unmittelbar mit Kiew assoziieren ließ. Darüber sollte auch die Aufschrift auf den Mauern der Kirche Auskunft geben: „Der Berg des Neuen Jerusalem, des ruthenischen Zion – der Berg Kiews, den Gott erwählte“. V. Die Nationalisierung des Mythos Nach der Schlacht bei Poltawa 1709, die den Sieg der russischen Armee über die schwedisch-kosakischen Truppen im Nordischen Krieg bedeutete, verlor die Mazepa-Version der Idee von „Kiew – dem Neuen Jerusalem“ alle Bedeutung. Stattdessen tauchte eine neue Version auf, in der Kiew die Rolle einer Wiege der russischen Orthodoxie zugeschrieben wurde und damit zugleich eines geistlichen Zentrums des Imperiums. Diese Idee erschien erstmals im Text der Kiewer Sinopsis (167�), herausgegeben wahrscheinlich auf Initiative des Archimandriten des Höhlenklosters, Innokentij Gizel. Kiew erscheint hier als „gottgesegnete, ruhmreiche und allererste Stadt der ganzen Rus’“. Die Sinopsis wurde in den folgenden Jahrzehnten vielfach neu aufgelegt. Die Idee von Kiew als der gottgesegneten Hauptstadt eines geeinten slawischen Staates fand ihren Weg in die Schulbücher und in die Texte der Geschichtsschreiber. In diesem Zusammenhang gewann der Kult des Apostels Andreas, den man im Moskauer Reich und seit dem Beginn des 18. Jahrhunderts im gesamten russischen Imperium 45

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als herausragenden Verkünder der Gotterwähltheit der „russischen Lande“ und als Täufer der Rus’ verehrte, eine besondere Bedeutung. So wurde etwa auf einer handschriftlichen Karte der Gottgesegneten Stadt Kiew von 1695 namentlich derjenige Ort hervorgehoben, „den der Apostel Andreas der Erstberufene mit dem Kreuz segnete“. Die Periode der Fürsten in der Geschichte Kiews erschien nun nur als Teil der Geschichte des Reiches. Der Mythos vom „Neuen Jerusalem Kiew“ verlor das Adjektiv „ruthenisch“, das man in den Zeiten Mohylas und Mazepas eingebracht hatte. Die Eliten des Zarenreiches übernahmen jetzt die Initiative bei einer erneuten Umformulierung des Mythos. Wichtig war hier vor allem eine Visite von Zarin Elisabeth I. in Kiew im Jahr 17��. Sie legte bei dieser Gelegenheit eigenhändig den Grundstein der „Andreaskirche“ auf jenem Hügel, auf dem der Legende nach der Apostel gestanden hatte. Einige Jahre danach begannen die Bauarbeiten nach Plänen des italienischen Architekten Rastrelli. 1767 wurde die Kirche auf besondere Anweisung des Zarenhofes eingeweiht. Nicht nur die kirchliche, auch die bürgerliche Bebauung sollte sich im 19. Jahrhundert an der Idee von Kiew als sakralem Zentrum des Imperiums orientieren. Im November 1833 erließ Zar Nikolaus I. im Zusammenhang mit der Einrichtung der russischen Universität des heiligen Vladimir in Kiew einen Befehl an den Senat, in dem er die Stadt als „Wiege des heiligen Glaubens unserer Vorfahren und zugleich erster Zeugin unserer staatlichen Selbständigkeit“ bezeichnete. 1853 wurde mit Unterstützung eben dieses Zaren in Kiew ein Denkmal für den Täufer der Kiewer Rus’, den heiligen Vladimir, errichtet. Ferner faßte man das Projekt einer Vladimir geweihten Kirche ins Auge. Die Aktivität von Nikolaus I. zur Wiederbelebung der Kiewer Rus’ in der Erinnerungskultur setzte Zar Alexander II. fort. In einem Reskript von 1856 nannte er Kiew „das Jerusalem der russischen Lande“ und verfügte wenig später, den Bau der Vladimir-Kirche zu Ende zu führen. Für die Inszenierung Kiews als Heiligtum des Gesamtreiches im 19. Jahrhundert sorgten nicht nur Initiativen seitens des Zaren, sondern auch ein nicht abreißender Strom von Pilgern. Die Stadt wurde beinahe zum Hauptpilgerort des Rußländischen Reiches. Die in Kiew Ankommenden hielten es für ihre Pflicht, den lokalen Heiligtümern ihre Ehre zu erweisen. Davon zeugen die Notizen der Reisenden, Dokumente des Aufenthaltes der Zarenfamilie in Kiew und zahlreiche literarische Produkte der Epoche. Die am häufigsten für Kiew gebrauchte Metapher in diesen Texten war „das russische Jerusalem“. Neben den alten Kirchen sollte noch eine weitere Sehenswürdigkeit Kiews Zeugnis geben für das „russische Jerusalem“. Im Januar 1902 wurde auf dem Vladimir-Hügel unweit des Denkmals ein Panorama-Pavillon unter dem Namen „Golgotha“ eröffnet. In der hölzernen Rotonde wurde zur Ansicht für das Publikum eine Leinwand von 9� x 13 Metern aufgestellt, die das Leiden und den Tod Christi darstellte. Die Attraktion stand mit einer Unterbrechung für ein auswärtiges Gastspiel bis zur Revolution von 1917/18. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts war Kiew noch zu einer anderen Art Pilgerort geworden – zu einem archäologischen. Der romantische Zug hin zu den alten Wurzeln, gerichtet hier auf die Bewußtmachung der heiligen Elemente der Kiewer Topographie und Geschichte, weckte ein Interesse an der mittelalterlichen Vergangenheit und in Verbindung damit auch an der Idee von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“. Einen Höhepunkt 46

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erreichten die archäologischen Grabungen in den 1820er Jahren. Die „säkulare“ und „antiquarische“ Entdeckung Kiews durch die Eliten des Imperiums und seine Umwandlung in ein „slawisches Pompeii“ fügte neue Nuancen zum „russischen“ Bild der Stadt hinzu. Von jetzt an dominierte eine national-russische Auffassung von der mittelalterlichen Vergangenheit der Stadt, nicht im ethnischen, sondern im kulturellen Sinn. Die Epoche der Kiewer Rus’ wurde ausschließlich in der Perspektive des imperialen Narrativs als „Wiege der russischen Geschichte“ gesehen, und Kiew erschien darin als die älteste Hauptstadt des Rußländischen Reichs. Die ukrainischen, polnisch-litauischen oder jüdischen Seiten dieser Geschichte hatten damit nichts mehr zu tun. Der Mythos von „Kiew – dem Jerusalem der russischen Lande“ wurde zu einem Bestandteil der großstaatlichen Erzählungen. Dieses Narrativ hatte eine klare anti-polnische Ausrichtung. In der polnischen romantischen Tradition nannte man Kiew auch Jahrhunderte nach seiner Eingliederung in den Bestand des Rußländischen Reiches noch „unser Kiew“, beispielsweise bei Wincenty Pol. Allerdings betrachteten die polnischen Reisenden, die Kiew im 19. Jahrhundert besuchten, die Stadt trotz allem als Ort der Taufe der Rus’ und die Kiewer Heiligtümer als das „russische Jerusalem“, wie zum Beispiel Jósef Ignacy Kraszewski. Anders verhielten sich zu dieser Idee die gebildeten jüdischen Bevölkerungskreise der Stadt. Das Kiew des 19. Jahrhunderts war für sie Objekt in einer fiktiven Geographie, bekannt unter dem Namen „Yehupetz“. Als eine große Stadt, in die alles strebt, war sie zugleich ein Hort der Gefahr. Der berühmteste jüdische Kiewer Schriftsteller dieser Zeit, Sholom Aleykhem, drückte dies 1898 in seiner Schrift Oyf vos badarfn Yidn a land (Warum brauchen die Juden ein eigenes Land?) so aus: „Wo ist unser ‚Jerusalem, die Stadt‘, die wir Tag um Tag wiederholen? [...] Wir erinnern Jerusalem jeden Tag, aber was wir wirklich meinen, ist Yehupetz.“ Eine Alternative zur imperialrussischen Version des Mythos von „Kiew – dem Neuen Jerusalem“ waren die literarischen Schöpfungen ukrainischsprachiger Autoren. Taras Ševčenko etwa schrieb 18�8 in seinem Gedicht Varnak (Der Sträfling): „Unser Kiew“ ist „wie ein Wunder, schwebend/ [...] Oben noch am Himmel [...]/ Aller goldenen Gotteskirchen/ Leuchtendes Gewimmel [...]/ Über Kiew/ Läuten alle Glocken./ Wunderbarer Gott, im Himmel/ Hör’ ich sie flocken.“ Analoge Passagen über Kiew als „unser ukrainisches Jerusalem“ finden sich in den Werken von Pantelejmon Kuliš Černa Rada. Chronika 1663 roku (Der Schwarze Rat, eine Chronik des Jahres 1663, 18��–18�6) und von Ivan Nečuj-Levyc’kyj Chmary (Wolken, 187�). In der ukrainischen Version des „neujerusalemischen Mythos“ fanden sich freilich auch bestimmte Eigenheiten. Im Unterschied zur russischen Historiographie und Literatur schenkten die ukrainischen Schriftsteller vor allem der Kosakenepoche besondere Aufmerksamkeit, nicht aber der Kiewer Rus’. Entsprechend hatte der Mythos vom „Neuen Jerusalem“ bei ihnen keine offen ausgedrückte „kieworussische“ Komponente. Kiew war für sie ein ukrainisches geistliches Zentrum, ein Ort der Reue und der Erlösung, der der russifizierenden, „dämonischen“ Politik aus Sankt Petersburg entgegenstand. Diese zwei Hauptlager in der Deutung der Idee von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“ – die ukrainozentrische und die imperozentrische – bestanden bis zur Revo�7

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lution 1917/18. Mit der Etablierung der Sowjetmacht erfuhr die imperiale Version der kieworussischen Geschichte eine Modifikation. Kiew erschien noch immer als Wiege der drei slawischen Völker (der Russen, Ukrainer und Weißrussen), doch gab es in diesem Narrativ keinen Platz mehr für den Mythos vom „Neuen Jerusalem“, da jede religiöse Anschauung als schädlich betrachtet wurde. Die Kulturschaffenden der russischen Emigration versuchten, die sakrale Bedeutung Kiews in der Geschichte Rußlands weiter hervorzuheben. Für den Religionsphilosophen Georgij Fedotov standen in seinem Werk Tri stolicy (Drei Hauptstädte, 1926) „die westliche Versuchung Petersburgs, die asiatische Versuchung Moskaus“, aber auch die polnisch-ukrainischen Elemente im Lauf der Jahrhunderte dem „byzantinisch-russischen“ Prinzip Kiews entgegen. Nach Meinung Fedotovs bedeutete das Schicksal Kiews „die Erfahrung des slawischen Hellenismus“, der per se in der christlichen Geschichte einzigartig gewesen sei. Als Gegengewicht zur sowjetischen Interpretation und derjenigen der russischen Emigration belebten Historiker aus dem polnischen Galizien der Zwischenkriegszeit eine Reihe von prinzipiellen Aspekten des Mythos von „Kiew – dem Neuen Jerusalem“ wieder. Um ihre Idee eines nationalen Messianismus zu begründen, erweiterten sie das Spektrum ihrer wissenschaftlichen Untersuchungen und wandten sich dem Studium der fürstlichen Epoche zu. So sollte sich Kiew nach Ansicht von Dmytro Doncov, einem der Theoretiker des integralen ukrainischen Nationalismus, „in ein spirituelles Zentrum Europas, oder doch zumindest der slawischen Völker, verwandeln“. Andere galizische Historiker der Zwischenkriegszeit versuchten die These zu beweisen, daß das „Neue Jerusalem“ im 13. Jahrhundert von Kiew nicht nach Moskau überführt worden sei, wie es die offizielle sowjetische Doktrin lehrte, sondern nach Halyč, in die Hauptstadt des Fürstentums Galizien-Wolhynien. Visuell fand diese These 1926 Ausdruck in Skizzen zu den Glasfenstern der Himmelfahrtskathedrale von Lemberg des ukrainischen Künstlers Petro Cholodnyj des Älteren. Hauptgegenstände waren hier die Gottesmutter und die Kiewer Heiligen des Höhlenklosters. Hier sollten die Darstellungen Kiewer Heiligtümer in Lemberg die geistliche Verwandtschaft der Kiewer Rus’ mit dem Galizien der Nachkriegszeit unterstreichen. Für die geistliche Hierarchie in Galizien diente der Mythos von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts ferner zur Begründung ihres Anspruchs auf die Einrichtung eines von Moskau unabhängigen Kiewer Patriarchats. Andrej Šeptyckyj, der Metropolit der griechisch-katholischen Kirche, arbeitete in Lemberg an einem ökumenischen Projekt zur Vereinigung der ukrainischen orthodoxen und der griechisch-katholischen Kirche mit Zentrum in Kiew. Sein Nachfolger auf dem Stuhl des Metropoliten, Josyf Slipyj, träumte in seinem Werk Zapovit (Testament) von einer „Wiedergeburt deines [Kiews] alten Ruhms!“ und von „unserem Jerusalem“ als Zentrum einer vereinigten nationalen Kirche. Für die griechisch-katholischen Hierarchen sollte das patriarchale Kiew ferner Symbol für die Synthese von östlicher und westlicher christlicher Tradition sein, ein „kulturelles Jerusalem“. �8

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VI. Erinnerungsorte in Verbindung mit Kiew als dem „Neuen Jerusalem“ nach 1991 Nach Erlangung der ukrainischen Unabhängigkeit im Jahr 1991 erhielt die Thematik von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“ erneute Aktualität. Mediale Debatten darüber, wem nun wirklich das „Neue Jerusalem“ gehört, wurden zum Teil der Diskussion über das historische Gedächtnis Rußlands und der Ukraine. Doch im Unterschied zum 19. Jahrhundert kamen, infolge der postsowjetischen Kirchenspaltungen, neue Seiten dazu. Die hauptsächliche Trennlinie zwischen den Lagern verlief nun zwischen den Anhängern einer Konzeption der „Kiewer Kirche“ und der „russischen Welt“. Zur ersteren gehörte ein Teil der Hierarchie der UOK-MP, die Führung der UOK-KP, UAOK und der UGKK. Indem sie das „Erstgeburtsrecht“ der Kiewer geistlichen Tradition gegenüber der Moskauer Tradition unterstrichen, erblickten die Anhänger der „Kiewer Kirche“ in der Geschichte Kiews die „byzantinisch-jerusalemische Dimension“ der ukrainischen Geschichte. Grundlegende Positionen der Konzeption einer „Kiewer Kirche als Erbin des Neuen Jerusalem“ wurden in der offiziellen Doktrin der UAOK beschrieben. Sie fanden sich aber auch in Sendschreiben der Leitung von UGKK, UOK-KP und zeitweise sogar der UOK-MP. Unter der „russischen Welt“ wurde demgegenüber eine kulturell-zivilisatorische Gemeinschaft verstanden, die durch ihre Zugehörigkeit zur russischen Kultur, Sprache, zur Orthodoxie und zum gemeinsamen historischen Gedächtnis vereint wurde. Hierzu zählten die orthodoxen Gläubigen der Ukraine, Rußlands, Weißrußlands, Moldawiens und Kasachstans. Unter den Anhängern der „russischen Welt“ befanden sich ein Teil der Hierarchen der UOK-MP und die Führung der russisch-orthodoxen Kirche. „Kiew – das Jerusalem der russischen Erde“ erschien in dieser Konzeption als Wiege der östlichchristlichen orthodoxen Zivilisation. Der russische Patriarch Kyrill unterstrich diese Position besonders deutlich während seines Antrittsbesuches in Kiew im Jahr 2009, als ihn die Gläubigen der UOK-MP begeistert begrüßten. Zugleich wurde Kyrills Besuch von Protesten ukrainischer Nationalisten begleitet. Um Zusammenstöße zu vermeiden, wurden beide Lager von ukrainischen Polizisten auseinander gehalten; dennoch kam es zu kleineren Auseinandersetzungen. Das Oberhaupt der russisch-orthodoxen Kirche selbst tat sich mit einem Aufruf zur Einheit in Kiew hervor, welches „unser russisches Jerusalem und Konstantinopel in einer Gestalt ist [...]. Von hierher kommt unser orthodoxer Glaube.“ Derart hochgegriffene Einschätzungen und die leidenschaftliche Debatte während des Besuchs von Patriarch Kyrill in Kiew illustrieren deutlich die scharfe Politisierung des kirchlichen Lebens in der Ukraine. Ein weiteres Zeugnis dieser Entwicklung stellten die politischen Manifeste am Vorabend der Parlamentswahlen 2012 in der Ukraine dar. Im Juli 2012 nahm die Leitung der Allukrainischen Vereinigung Svoboda (ehemals Sozial-Nationale Partei der Ukraine [SNPU] mit Oleh Tjahnybok an der Spitze) an einer Prozession in Kiew teil, die von der UOK-KP organisiert worden war. Dabei wurden Losungen wie „Kiew – unser Zweites Jerusalem“, „Der Dnjepr ist der ukrainische Jordan, Vladimir ist unser Großfürst und Täufer!“ oder „Eine einheitliche lokale orthodoxe Kirche für die Ukraine!“ mitgeführt. 49

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Neben solchen offensichtlichen politischen Instrumentalisierungen lassen sich in den letzten Jahren auch Versuche beobachten, den Mythos von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“ einfach als Teil der Kulturgeschichte der Stadt zu präsentieren. Seit kurzer Zeit arbeitet in der Stadt bei einer der Kirchen der Wohltätigkeitsfond „Kiewer Jerusalem“. Im Jahr 2012 begannen in Kiew die Aufnahmen zur vierteiligen Dokumentarserie „Zweites Jerusalem“, in der der russische Schauspieler ukrainischer Herkunft, Sergej Makoveckij, mitwirkte. Eine weitere Entpolitisierung des Mythos von „Kiew – dem Zweiten Jerusalem“ hängt unter anderem davon ab, wieweit es gelingt, innerukrainische Konflikte um das historische Gedächtnis zu entschärfen.

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Mariazell I. Zusammenfassung. – II. Der Gnadenort und Ostmitteleuropa im Mittelalter. – III. Wiedergeburt und barocke Blüte als Reichsheiligtum. – IV. Kopien und Sekundärheiligtümer der Muttergottes von Mariazell. – V. Zwischen dynastischer Bezugnahme, nationalem Erwachen und ständestaatlicher Vereinnahmung. – VI. Ideologisierung im Kalten Krieg und Chiffre für das Ende des Kommunismus in Mitteleuropa. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das als Magna Mater Austriae, Alma Mater Gentium Slavorum oder Magna Domina Hungarorum bezeichnete Mariazell zählte schon im Mittelalter zu den bedeutendsten europäischen Wallfahrtsorten und wurde seit dem 14. Jahrhundert durch die Habsburger gefördert. Prominente Donationen, darunter an erster Stelle das von dem ungarischen König Ludwig I. gestiftete Schatzkammerbild erhöhten den Rang des steierischen Gnadenortes. Die Legende um den göttlichen Beistand durch das Schatzkammerbild bildete den Ausgangspunkt einer lagen Tradition von Anrufungen der Mariazeller Gottesmutter als Schlachtenhelferin und Beschützerin gegen die Osmanen. Vor dem Hintergrund des Kalten Krieges erfuhr dieser Topos im 20. Jahrhundert eine letzte Aktualisierung durch die Gleichsetzung der kommunistischen Regime mit den Osmanen. Kaiser Ferdinand II. und dessen Nachfolger Ferdinand III. erhoben die Förderung Mariazells zu einem staatspolitischen Anliegen. Im Zuge der Errichtung des barocken Neubaus in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts nutzten neben dem Kaiserhaus auch zunehmend Vertreter des österreichischen, böhmischen und ungarischen Hochadels die Wallfahrtskirche durch reiche Kapellenstiftungen als Plattform für ihre Selbstdarstellung. Die von Georg Szelepcsényi, Primas von Ungarn, gestiftete Ladislauskapelle wurde wunschgemäß Bestattungsort des 1975 im Exil verstorbenen József Kardinal Mindszenty. In der Folge bildete sie einen zentralen Bezugsort für die Gemeinde der Exilungarn.

II. Der Gnadenort und Ostmitteleuropa im Mittelalter Das im Nordosten der Steiermark gelegene Mariazell zählt nicht nur zu den ältesten marianischen Gnadenorten Österreichs, sondern bildete darüber hinaus auch seit dem Mittelalter eines der prominentesten Ziele für Wallfahrer aus ganz Ostmittel- und Südosteuropa. Gemäß einer der Initiallegenden baute der aus dem Kloster St. Lambrecht stammende Benediktinermönch Magnus eine kleine Holzkapelle und stellte darin eine Holzstatue der Muttergottes mit dem Jesuskind auf, die dann zum Zentrum der Verehrung avancierte. Die Errichtung der namensgebenden cella (Tochterklösterchen) für die Gottesmutter (Mariazell) wird seit der Frühen Neuzeit auf das Jahr 1157 datiert. Dies 52

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entspricht den Angaben in einem zwischen 115� und 1158 von Papst Hadrian IV. verfaßten Brief, der dem Kloster St. Lambrecht das Recht einräumte, fünf Mönche zur Missionierung auszusenden. Bei der in Mariazell verehrten Gnadenstatue handelt es sich jedoch um ein Bildwerk, das stilistisch erst ins späte 13. Jahrhundert datiert werden kann. Die Anfänge der Wallfahrt nach Mariazell sind der Legende nach aufs engste mit den Ländern der Böhmischen und Ungarischen Krone verbunden. So berichtet eine der Erzählungen von einer wundersamen Heilung des mährischen Markgrafen Heinrich – wahrscheinlich Ladislaus Heinrich, der Bruder König Přemysl Otakars I. von Böhmen – und seiner Gemahlin Hedwig von der Gicht. Auf dem Weg nach Mariazell sei das Paar durch den heiligen Wenzel oder einen Engel geleitet worden. Aus Dankbarkeit für die wundersame Heilung ließ das Herrscherpaar ein steinernes Gebäude für das Gnadenbild errichten. Diese Stiftung erfolgte vermutlich in Absprache mit Adalbert III. von Böhmen, dem Bruder des mährischen Markgrafen, der Mariazell als Erzbischof von Salzburg vorstand. Der größer angelegte Kirchenbau wurde 1269 zur Pfarrkirche erhoben und im 1�. Jahrhundert durch einen gotischen Neubau ersetzt. Dabei handelt es sich um ein dreischiffiges Hallenlanghaus mit einer Turmfront, die dem alten romanischen Chor vorgelagert wurde. Der Neubau bildete auch den Rahmen für die erste faßbare Stiftung der Habsburger, einen 1342 von Herzog Albrecht II. in Auftrag gegebenen Altar, wohl der Hochaltar, der längere Zeit mit dem Gnadenaltar identisch war. Unter Albrecht II. erfolgte ferner die Erhebung Mariazells zum Marktflecken. Albrechts Sohn, Erzherzog Rudolph IV., stiftete 136� eine ewige Messe an dem Gnadenaltar für seine Familie und deren Nachkommen. Die intensive Förderung durch die Habsburger war Teil einer Initiative zur Machtsicherung im Grenzbereich zwischen Österreich und der Steiermark, beides Herzogtümer, die erst am Ende des 13. Jahrhunderts in den Herrschaftsbereich der Habsburger inkorporiert wurden. Die intensiven Bemühungen der neuen Landesherren um Mariazell lassen auch darauf schließen, daß der Gnadenort bereits überregionale Ausstrahlung besaß. Dies illustrieren die prominenten Stiftungen Ludwigs I. aus dem Haus Anjou, der seit 13�2 als König über Ungarn und Kroatien sowie ab 1370 über Polen herrschte. Ludwigs Donationen erfolgten entsprechend einer legendarischen Tradition als Dank für den Beistand der Gottesmutter im Kampf gegen ein zahlenmäßig weit überlegenes Heer, bestehend aus „Türken“ und weiteren „Barbaren aus Asien und Thrakien“. Vermutlich handelte es sich hierbei um einen militärischen Erfolg im Rahmen des Feldzugs gegen den Herrscher der Walachei, Radu II., der von den Osmanen unterstützt wurde, wodurch die Stiftung um 1378 datiert werden kann. Diese umfaßte neben einem Pektorale-Reliquiar ein Tafelbild der Muttergottes mit dem Kind, das sogenannte Schatzkammerbild. Der Legende nach betete König Ludwig I. vor der entscheidenden Schlacht in seinem Zelt vor dem Madonnenbild. Anschließend erschien ihm die Gottesmutter im Traum, um ihn zu ermutigen. Am folgenden Morgen fand er dann das Marienbild auf seiner Brust liegend. Dieser Bericht markiert den Beginn der Anrufung der Mariazeller Gottesmutter als Schlachtenhelferin, vor allem im Kontext der Auseinandersetzungen mit den Osmanen, die vom Ende des 1�. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts eine permanente Bedrohung für den habsburgischen Herrschaftsbereich darstellten. 53

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In der Legende vom göttlichen Beistand der Gottesmutter kam es zu einer Amalgamierung der ungarischen Tradition des heiligen Ladislaus als Schlachtenhelfer mit dem vor allem aus dem byzantinischen Bereich bekannten Glauben an siegbringende Marienikonen. Bei dem Gemälde in Mariazell handelt es sich um ein um 1360 entstandenes Werk des Sieneser Künstlers Andrea Vanni, das sich in seiner Form wahrscheinlich an einer Muttergottesdarstellung orientiert, die am Hof in Ofen als eigenhändiges Werk des Evangelisten Lukas verehrt wurde und als göttliches Unterpfand der AnjouHerrscher galt. Auf diese Palladiumfunktion alludiert auch der Rahmen des Mariazeller Schatzbildes aus vergoldetem Silberblech, der mit Edelsteinen und Perlen sowie den Wappen der Königreiche Ungarn und Polen geschmückt ist. Die Figur der Gottesmutter wird von emaillierten Silberblechen mit goldenen heraldischen Lilien des Hauses Anjou eingefaßt. Eine vergleichbare Konstellation begegnet auch bei den Bildern der Muttergottes, die Ludwig I. 1367 gemeinsam mit der Errichtung der Ungarnkapelle im Anschluß an den erfolgreichen Feldzug gegen die Bulgaren dem Marienmünster in Aachen gestiftet hatte. Diese Donationen zielten auf eine Repräsentation des ungarischen Königreichs und dessen Regenten an einem der programmatischen imperialen Bauten, der kurz zuvor von Kaiser Karl IV. durch einen imposanten Chor erweitert worden war. Dieser war vermutlich auch das Vorbild für den Chor der Wallfahrtskirche in Mariazell, der ebenfalls im Auftrag Ludwigs I. entstand. Die reichen Donationen des Königs von Ungarn aus dem Haus Anjou an das bereits als dynastischer Gnadenort für die Habsburger fungierende Mariazell waren Teil einer außenpolitischen Initiative mit dem Ziel, eine Allianz zwischen den beiden Geschlechtern zu realisieren, ein Vorhaben, das 1378 bei dem Treffen zwischen Ludwig I. mit Herzog Leopold III. in Hainburg dann konkretisiert wurde. Nach den vernichtenden Niederlagen der christlichen Heere gegen die Osmanen in den Schlachten am Amselfeld 1389 und bei Nikopolis 1396 intensivierte sich die Verehrung der Gottesmutter in Mariazell, wie dies die Votivtafel von St. Lambrecht (heute Graz, Steiermärkisches Landesmuseum Joanneum, Alte Galerie) illustriert. Das um 1430 geschaffene Tafelbild zeigt auf der linken Bildhälfte die stehende Muttergottes, unter deren Mantel die Vertreter der einzelnen Stände Schutz finden. Maria wird von der heiligen Hedwig, der Namenspatronin der Tochter Ludwigs I., vor einer abbrevierten Darstellung Mariazells angebetet. Ludwig I. erscheint rechts an der Spitze seines Heeres im Kampf mit orientalischen Gegnern. Vermutlich zeitnah zu diesem Votivbild entstand aus der Feder des Abts Heinrich II. Moyker von St. Lambrecht das heute nicht mehr erhaltene Mirakelbuch (libellus), das den Ausgangspunkt für die 1�87 von dem Benediktiner Johannes Mannsdorf in St. Lambrecht verfaßte Chronik von Mariazell darstellte. Die schriftliche Fixierung der Gründungslegenden durch Moyker erfolgte vermutlich im Auftrag der Habsburger mit dem Ziel einer argumentativen Untermauerung der Herrschaftsansprüche in Böhmen, Mähren, Ungarn und der Steiermark. Dies illustriert nicht zuletzt das untere Relief im Tympanon des Westportals der Pilgerkirche, eine Stiftung des Abtes Moyker, die vor 1�38 fertiggestellt wurde und gemeinsam mit dem älteren, vermutlich von Herzogin Cimburgis von Masowien, Mutter Friedrichs III., gestifteten 54

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Kreuzigungsrelief in die bereits 1380 vollendete Westfassade eingelassen wurde. Das Relief präsentiert die wichtigsten Mirakel aus der Frühgeschichte des Gnadenortes. Begünstigt durch päpstliche Ablaßschreiben – vor allem die vollständige Indulgenzgewährung durch Bonifaz IX. 1399 – und kaiserliche Schutzbriefe, entwickelte sich Mariazell noch im 15. Jahrhundert zu einem Wallfahrtsort von europäischem Rang, der von Pilgern aus dem gesamten deutschsprachigen Raum, ferner aus den böhmischen Ländern, Polen, Ungarn, Kärnten, Kroatien und Italien besucht wurde. In diesem Rahmen erhielt der Verweis auf die Gottesmutter als Identifikationsfigur angesichts der Kämpfe gegen die Osmanen einen immer breiteren Raum. Dies illustrieren die Darstellungen der Schlacht gegen die Orientalen auf dem „Kleinen“ (1512) und dem „Großen Mariazeller Wunderaltar“ (1519). Die Wallfahrt Ludwigs II., König von Ungarn und Böhmen, gemeinsam mit seiner Ehefrau Maria von Habsburg und die damit verbundenen Stiftungen bilden einen letzten Höhepunkt der mittelalterlichen Geschichte des Gnadenortes. Die vernichtende Niederlage des ungarischen Heeres gegen die Osmanen bei Mohács 1526, bei der neben König Ludwig II. ein Großteil der kirchlichen und weltlichen Eliten des Landes den Tod fand, markierte eine einschneidende Zäsur in der Wirkkraft Mariazells. Die überregionale Ausstrahlung des steierischen Gnadenortes wurde durch die osmanische Einnahme Ungarns 15�1 und die Auswirkung der Reformation empfindlich geschwächt. III. Wiedergeburt und barocke Blüte als Reichsheiligtum Der erneute Aufschwung Mariazells wurde Ende des 16. Jahrhunderts durch Mitglieder der habsburgischen Nebenlinien eingeleitet. Im Rahmen der Bemühungen zur Rekatholisierung ihrer Länder deklarierten Karl II. von Innerösterreich und dessen Ehefrau Maria von Bayern Mariazell zum bevorzugten Pilgerziel der erzherzoglichen Familie. Weitere wichtige Impulse zur Revitalisierung gab der Wiener Dompropst und spätere Bischof Melchior Khlesl durch die von ihm koordinierte Wallfahrt aus Wien. Die ab 1599 stetig stattfindenden Wallfahrten wurden durch die neu gegründeten Bruderschaften, zum Beispiel durch die 1634 gegründete Erzbruderschaft vom heiligen Rosenkranz, getragen und dienten der Versicherung himmlischer Unterstützung im Kampf gegen die Protestanten und die Osmanen. Unter Kaiser Ferdinand II. und dessen Nachfolger Ferdinand III. avancierte die Förderung Mariazells zu einem staatspolitischen Anliegen. Begünstigt durch Faktoren wie die feste Ansiedlung der Verwaltungsbehörden der Länder und des Reiches in Wien und das Ende des Dreißigjährigen Kriegs, entwickelte sich der Wallfahrtsort zum Patronatsheiligtum der Habsburger. Im Gegensatz zu Altötting, das von den Habsburgern bis 1713 zur Inszenierung der göttlichen Legitimation der Kaiserwürde genutzt wurde, standen in Mariazell die habsburgischen Erbländer im Fokus. Zugleich wirkte der steierische Gnadenort zunehmend als Zufluchtsstätte der Habsburger in privaten Angelegenheiten, vor allem bei Bitten um die Geburt eines Erben. Die Mariazeller Gottesmutter avancierte somit zur himmlischen Mutter der Dynastie (Magna Mater Austriae). 55

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Das vor 1�38 im Auftrag des St. Lambrechter Abtes Heinrich II. Moyker fertiggestellte Tympanonrelief an der Westfassade der Wallfahrtskirche in Mariazell präsentiert in verdichteter Form die bereits im Mittelalter existierenden engen Verbindungen zwischen dem steierischen Gnadenort und Ostmitteleuropa. Auf der linken Seite führt der heilige Wenzel Markgraf Ladislaus Heinrich von Mähren und dessen Gemahlin Hedwig an die Muttergottes heran, die eine hohe Kaiserkrone trägt und die Vertreter der einzelnen Stände unter ihrem Schutzmantel versammelt. Zu ihren Füßen überreicht König Ludwig I. von Ungarn das Schatzkammerbild, während hinter ihm der Kampf gegen die Osmanen tobt. Die prominent unterhalb der Figur Ludwigs positionierten Wappen Herzog Albrechts V. von Österreich und seiner Gemahlin Elisabeth von Böhmen und Ungarn dienten der Legitimierung der habsburgischen Herrschaft in Ungarn und Böhmen. Bildnachweis: Reproduktion nach Farbaky, Péter (Hg.): Ungarn in Mariazell, Mariazell in Ungarn: Geschichte und Erinnerung. Ausstellungskatalog. Budapest 2004, 311.

Insgesamt reisten die Mitglieder des herrschenden Habsburgerhauses zwischen 1620 und 1770 mehr als vierzigmal bei Dank- und Bittwallfahrten nach Mariazell. Ausgehend von diesen Besuchen wurde in den panegyrischen Schriften und Fürstenspiegeln ein Bild von den Habsburgern als vorbildliche Pilger entworfen. Gleichzeitig ermöglichten die Wallfahrten die Visualisierung der für das habsburgische dynastische Selbstverständnis zentralen Idee der Pietas Austriaca vor allen Schichten der Bevölkerung. Parallel zu diesen Initiativen kam es zu einer Wiederbelebung der mittelalterlichen Traditionen der Verehrung des Mariazeller Gnadenbildes in Böhmen, Mähren und Ungarn. Dies illustrieren sowohl die Stiftungen von Wandgemälden und Ausstattungsstükken in der Wallfahrtskirche durch böhmische katholische Adlige, etwa durch Wilhelm von Rosenberg oder Johann Ambros von Thurn, als auch die prominente Rolle des mährischen Markgrafen Ladislaus Heinrich und des ungarischen Königs Ludwig in den gedruckten Mirakelbüchern vom Anfang des 17. Jahrhunderts. Für den gleichen Zeitraum sind ferner erste Bezugnahmen des ungarischen Klerus, beispielsweise des Graner Erzbischofs Péter Pázmány oder der Äbte von Pannonhalma, wie auch des Adels zum 56

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Gnadenort Mariazell belegt. Diesbezüglich ragt Paul Esterházy hervor, der mehrere dutzendmal, teilweise mit riesigem Gefolge, von seinen Gütern nach Mariazell pilgerte. Den neuen Rang Mariazells illustriert am sinnfälligsten der 1642 begonnene barokke Umbau der Wallfahrtskirche. Die von Ferdinand III. initiierte Umgestaltung erfolgte nach Entwürfen des Architekten Domenico Sciassia. Hierbei wurde das dreischiffige Langhaus beibehalten und durch den Anbau von Kapellen erweitert. Diese wurden durch die steierischen und niederösterreichischen Landstände sowie durch führende Familien des österreichischen (Dietrichstein, Trauttmannsdorff), böhmischen (Liechtenstein, Martinitz, Czernin) und ungarischen Hochadels finanziert. Drei der insgesamt vier von ungarischen beziehungsweise kroatischen Magnaten geförderten Kapellen dedizierte man an die eng mit der Gottesmutter assoziierten ungarischen heiligen Könige (Stephanskapelle: Graf Franz Nádasdy; Emerichkapelle: Graf Nikolaus Draskovich; Ladislauskapelle: Erzbischof Georg Szelepcsényi, Primas von Ungarn). Ab der Mitte des 17. Jahrhunderts stifteten darüber hinaus einzelne mährische und oberungarische Städte Votivbilder nach Mariazell, so Brünn in Erinnerung an die Schwedenbelagerung (1652), ebenso Preßburg (165�) und Schemnitz (1656). Weitere bedeutende Stiftungen erfolgten durch Fürst Paul Esterházy, der neben der Kapelle der heiligen Katharina 1689 die Errichtung eines Altars für die Gnadenstatue förderte. Diese Donationen koinzidieren mit der Phase der intensivsten Förderung Mariazells durch die Habsburger. Im Rahmen der Umgestaltungsarbeiten stellte man 1682 die bereits davor verehrte spätgotische Holzstatue der Gottesmutter mit dem Jesuskind auf einer Marmorsäule zwischen Gnadenkapelle und Hochaltar auf. Eine zusätzliche Überhöhung der Figur der Himmelskönigin erfolgte durch das imperial konnotierte Motiv der den Hochaltar überspannenden Kuppel. Das Umschreiten dieser Säule durch die Pilger weist Parallelen zur Verehrungspraxis einer Reihe von Mariensäulen auf, einer Form des sakralen Denkmals, die gerade unter Leopold I. eine besondere Verbreitung erfahren hatte. Unter diesem Kaiser stieg Mariazell zum Reichsheiligtum auf, ein Rang, der noch unter Kaiserin Maria Theresia Bestand hatte. Diese Ausnahmestellung illustrieren zudem Stiftungen wie der unter Leopold I. realisierte neue Hochaltar nach den Entwürfen von Johann Bernhard Fischer von Erlach (1693–170�). Als eine der letzten monumentalen imperialen Stiftungen wurde 1727 im Auftrag Kaiser Karls VI. ein silberner Gnadenaltar fertiggestellt. Karl VI. und dessen Tochter Maria Theresia zählten gleichzeitig auch zu den letzten großen Förderern der kaiserlichen Wallfahrten, die zu dem Gnadenort durchgeführt wurden. Einen Höhepunkt markierte hierbei die Wallfahrt 1757 anläßlich der Sechshundertjahrfeier des Gnadenortes. Die Kaiserin pilgerte gemeinsam mit ihrer gesamten Familie nach Mariazell und stiftete ein prächtiges silbernes Gitter für den Gnadenaltar. Des weiteren wurden bei dieser Gelegenheit die von Balthasar Moll geschaffenen lebensgroßen bleiernen Statuen des heiligen Wenzel und König Ludwigs I. von Ungarn seitlich des Westportals der Wallfahrtskirche aufgestellt. Bei ihren Wallfahrten und Dedikationen orientierten sich die Habsburger explizit an dem Vorbild ihrer mittelalterlichen Vorläufer aus Böhmen und Ungarn, Markgraf Ladislaus Heinrich und König Ludwig dem Großen. Einen ersten Schwerpunkt bildete dabei 57

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die Verehrung des Schatzkammerbildes, das ab dem 17. Jahrhundert neben der Gnadenstatue zum einem zweiten Ziel für die Wallfahrer wurde. Die Präsentation des Bildes erfolgte ab 1675 in der neueröffneten Schatzkammer. Dort erhielt das Schatzkammerbild 17�8 einen neuen Altar, der mittels seiner Baldachinbekrönung auf das Zelt König Ludwigs I. anspielte. Die Errichtung des silbernen Altars wurde vermutlich durch die steierischen Stände gemeinsam mit dem Kloster St. Lambrecht finanziert. Aus Anlaß der Vierhundertjahrfeier der Stiftung des Schatzkammerbildes wurde dieses Ensemble 176� durch die Donation eines silbernen Antependiums mit den Bildnissen Maria Theresias und der Mitglieder ihrer Familie erweitert. Zu den symbolischen Gesten der habsburgischen Herrscher, die einen programmatischen Rückbezug auf König Ludwig von Ungarn darstellen, zählten die Anrufungen der Mariazeller Gottesmutter um Unterstützung im Krieg. So ersuchte Erzherzog Leopold Wilhelm 1645 um Hilfe in der Schlacht gegen die Schweden und stellte Leopold I. seine Truppen 1676 im Angesicht der osmanischen Bedrohung unter das Oberkommando der Muttergottes. Auch blieben militärische Erfolge nicht ohne Dank. So übergab der Erzherzog und spätere Kaiser Matthias II. der Gottesmutter im Gedenken an den Sieg über die Osmanen bei Stuhlweißenburg 1602 eine goldene Krone. Leopold I. deponierte osmanische Beutestücke nach den Schlachten bei St. Gotthard/Mogersdorf und charakterisierte Mariazell nach der Zurückdrängung der Osmanen aus Ungarn 1693 mit dem Epitheton der Magna Hungariae Domina. In seiner Nachfolge stiftete Karl VI. osmanische Beutestücke aus Temeswar und Belgrad, während Maria Theresia französische und preußische Beutestücke nach Mariazell schickte. IV. Kopien und Sekundärheiligtümer der Muttergottes von Mariazell Durch diese symbolischen Akte bildete die Kirche in Mariazell einen der Hauptorte, an denen es zu einer Materialisierung der genealogischen Traditionen mit Blick auf die Herrschaft der Habsburger über Böhmen und Ungarn kam. Diesen besonderen Stellenwert des steierischen Wallfahrtsortes illustriert neben den zahlreichen Pilgerfahrten auch die weite Verbreitung und Verehrung von Kopien der Mariazeller Gnadenstatue. Einen ersten regionalen Schwerpunkt der Devotion bildete Böhmen, wo nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 eine reiche literarische Produktion jesuitischer Autoren einsetzte. Dabei bemühten sich Autoren wie Bohuslav Balbín und Jan Tanner um die Rekonstruktion einer marianischen Kulttradition, deren Wurzeln in vorhussitischer Zeit lagen. Eine zentrale Rolle spielte dabei die Revitalisierung der Wallfahrt nach Altbunzlau, einem Gnadenort, der aufs engste mit dem heiligen Wenzel verbunden war. Der Herzog bildete ferner ein Bindeglied, durch das Altbunzlau und Mariazell und somit die Pietas Bohemica mit der Pietas Austriaca verklammert wurden. Diese Verbindungslinie wird in der auf Anregung Jan Tanners geschaffenen via sacra sichtbar, durch die Altbunzlau mit der als „Neuer Berg Sion“ apostrophierten königlichen Kanonie der Prämonstratenser vom Strahov verbunden war. Als Stiftungen von 33 Angehörigen des böhmischen Hoch58

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adels sowie elf Prälaten entstanden zwischen 167� und 1680 entlang der Wegstrecke �� Kapellen in Anlehnung an die 44 Anrufungen der Lauretanischen Litanei. Ein vergleichbarer Rosenkranz-Stationsweg wurde bereits 1644 in Mariazell errichtet. Die Stationen in Altbunzlau wurden jeweils mit marianischen Motiven (oben) und Szenen aus dem Leben des heiligen Wenzel (unten) ausgemalt. Unter den Verweisen auf die Gottesmutter figuriert auch eine Darstellung von Mariazell. Ein Dokument der habsburgtreuen Gesinnung stellte die 1676 im Auftrag des böhmischen Oberburggrafen Bernhard Ignaz von Martinitz erstellte Kopie der Mariazeller Gnadenkapelle im Karlshof, einer bedeutenden marianischen Wallfahrtsstätte in Prag, dar, die jedoch 17�� bereits abgetragen wurde. Eine weitaus größere Anzahl an Kopien und Sekundärwallfahrtsorten entstand im 18. Jahrhundert im Bereich des vormaligen Königreichs Ungarn. Einen wichtigen Impuls für die Errichtung dieser Anlagen gaben die Pestepidemien. Als ein bürgerliches ex voto entstand nach 1713 die Preßburger Kapelle der Muttergottes am Tiefen Weg, die mit einem Kalvarienberg verbunden wurde. Eine vergleichbare Konstellation begegnet im slowenischen St. Marein bei Erlachstein. Dort wurde eine Kopie der Madonna auf einem Altar, der den Mariazeller Gnadenaltar paraphrasiert, in der St. Rochus-Kirche aufgestellt. Ein Ensemble, bestehend aus einem Kalvarienberg mit einer Kirche mit einer Kopie des Mariazeller Gnadenbildes, wurde in der ungarischen Kleinstadt Kleinmariazell realisiert. Dort hatte der vormals in St. Lambrecht lebende Benediktiner Oddo Koptik zunächst auf dem Gelände einer zerstörten mittelalterlichen Abtei eine Kapelle mit der Gnadenstatue aufgestellt, um die sich nach Wunderberichten rasch eine Wallfahrt entwickelte. Koptik förderte diesen Kult durch eine intensive publizistische Tätigkeit und über die Gründung von Bruderschaften. Mit der finanziellen Unterstützung des Kammerpräsidenten Graf György Erdődy entstanden sukzessive eine Wallfahrtskirche (17��–17�8), deren Gestalt sich an der Anlage in Mariazell orientierte, ein Kreuzweg (1755) sowie ein Benediktinerkloster. Ein Sekundärheiligtum vergleichbaren Rangs hatte sich bereits wenig früher in AltOfen-Kleinzell etabliert. Den Ausgangspunkt bildete 1725 die Aufstellung einer Kopie der Statue von Mariazell in einer Kapelle. 1738 übertrug man die Betreuung der steigenden Anzahl von Wallfahrern dem Trinitarierorden. Zwischen 17�5 und 1758 wurden dann mit Förderung der Adelsfamilie Zichy das Kloster und die Wallfahrtskirche fertiggestellt, die jedoch im Zweiten Weltkrieg weitestgehend zerstört wurden. V. Zwischen dynastischer Bezugnahme, nationalem Erwachen und ständestaatlicher Vereinnahmung Die Entstehung der Sekundärwallfahrtsorte bewirkte zunächst einen Rückgang der Wallfahrten aus Ungarn nach Mariazell. In den letzten drei Jahrzehnten des 18. Jahrhunderts wurden sowohl der steierische Gnadenort als auch die Sekundärgründungen mit massiven Problemen konfrontiert. Hierzu zählten die noch unter Maria Theresia ausgesprochenen und später von Kaiser Joseph II. zwischen 1772 und 1789 erweiterten Verbote 59

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von Wallfahrten wie auch die Auflösung des Klosters St. Lambrecht 1786. Die Annullierung des Wallfahrtsverbots durch Kaiser Franz II. 1797 und die Rücknahme der Aufhebung des Klosters St. Lambrecht 1802 brachten nur punktuelle Verbesserungen. Der Krieg gegen Frankreich (1797–1806) und ein Großbrand der Ortschaft Mariazell 1827 bedeuteten weitere einschneidende Zäsuren. Eine Besserung der Situation erfolgte im Zuge der Modernisierung der Schiffahrt und der Fertigstellung der Semmeringbahn 185�. Die leichtere Erreichbarkeit bewirkte einen Anstieg der Pilgerzahlen. Gleichzeitig erhöhte sich die Zahl der Besucher mit rein touristischen Interessen. Die Mitglieder des Herrscherhauses besuchten Mariazell unter weitgehendem Verzicht auf aufwendige Inszenierungen. Das symbolische Kapital des steierischen Gnadenortes wurde fortan vielmehr von der katholischen Kirche genutzt, wobei, wie das Beispiel der Siebenhundertjahrfeier von Mariazell im Jahr 1857 zeigt, durchaus divergierende Diskurse zum Tragen kamen. Für die österreichische Seite boten die Feierlichkeiten zunächst die Gelegenheit der Darstellung einer Kirche, die durch das 1855 geschlossene Konkordat eine besonders machtvolle Stellung im Kaisertum Österreich erlangt hatte. Für die Vertreter der Kirche in Ungarn stellten die Feierlichkeiten von 1857 eine Plattform dar, öffentlich Präsenz zu zeigen im repressiven Klima nach der Niederschlagung der revolutionären Erhebung in Ungarn von 18�8/�9. Dies illustriert die Wallfahrt von 27.000 Menschen aus Böhmen, Mähren und Ungarn von Preßburg nach Mariazell im September 1857. Die Pilgerfahrt erfolgte unter der Führung der höchsten Würdenträger aus Böhmen und Ungarn, unter ihnen der ungarische Primas Johann Scitovszky und eine Reihe von Diözesanbischöfen, und wurde sowohl von der Presse in Ungarn als auch von den österreichischen Stellen als politische Manifestation der Ungarn interpretiert. Eine Ausnahmeerscheinung in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts bildete die Massenwallfahrt aus Anlaß der Jubiläumsfeierlichkeiten von 1857 trotz der drei Jahre zuvor erfolgten Verkündigung des Dogmas der Immaculata Conceptio Mariae und der Initiativen der kirchlichen Stellen zu einer Erneuerung des Katholizismus durch die Förderung des Marienkults. Der Rückgang war sicherlich durch das Aufkommen neuer Wallfahrtsziele bedingt. Neben den Orten der Marienerscheinung in La Salette (18�6) und Lourdes (1858) zeichnete sich eine zunehmende Fokussierung auf national konnotierte Wallfahrtsstätten ab. Mit Blick auf Böhmen waren dies die Marienheiligtümer Heiligen Berg bei Pribram, Maria Kulm und Altbunzlau sowie Velehrad, wo 1863 die Tausendjahrfeier der Mission von Kyrill und Method stattfand. Andererseits wurde Mariazell verstärkt von konservativen Kräften, die zunehmend gemeinsam mit der katholischen Geistlichkeit gegen die Liberalen agierten, als Bühne genutzt. Wallfahrten wurden zu einem Medium der Demonstration des politischen Katholizismus. Zu den öffentlichkeitswirksamsten Initiativen zählten die 1893 von dem Jesuiten Heinrich Abel initiierten Männerfahrten aus Wien nach Mariazell, die bis 1937 alljährlich stattfanden und somit die Tradition des politischen Katholizismus in der Ersten Republik fortführten. Das habsburgische Herrscherhaus konnte die Deutungshoheit über die Inszenierungen in Mariazell nicht für sich sichern. Einer der Gründe hierfür war die zunehmende Priva60

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tisierung der Aufenthalte des Kaisers und vor allem deren Seltenheit. Franz Joseph I. besuchte während seiner ein halbes Jahrhundert währenden Herrschaft den steierischen Gnadenort nur dreimal. Lediglich die Erzherzöge waren stärker präsent. Vor diesem Hintergrund ist es bezeichnend, daß 1907 anläßlich der Siebenhundertfünfzigjahrfeier des Wallfahrtsortes die Initiative zur Erhebung Mariazells in den Rang eines österreichischen Reichsheiligtums von dem gesamtösterreichischen Priesterkongreß ausging. Dieser schlug vor, die Nationalitäten des Vielvölkerstaates unter den Schutz der Patrona Austriae zu stellen. Weder diese Vorschläge noch die im selben Jahr erfolgte Erhebung Mariazells in den Rang einer Basilica minor durch Papst Pius X. und die feierliche Krönung der Marienstatue auf Anordnung des Domkapitels von St. Peter in Rom 1908 konnten das transnationale Moment der Wallfahrt signifikant stärken. In den letzten Jahren der Habsburgermonarchie blieb lediglich die militärische Konnotation der Gottesmutter erhalten, als Kardinal Friedrich Gustav Piffl diese in einem Großgottesdienst am 1. April 1916 als Generalissima anrief. Der Zerfall der österreichisch-ungarischen Doppelmonarchie verschärfte im Kern die bereits an der Wende zum 20. Jahrhundert absehbaren Entwicklungen. Mariazell wurde vor allem im Christsozialen Ständestaat (1933–1938), der stark durch katholische Wertvorstellungen geprägt war, zur Bühne diverser Großveranstaltungen, etwa des Allgemeinen Deutschen Katholikentages 1933. Im darauffolgenden Jahr nahmen Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und Bundespräsident Wilhelm Miklas an der Wallfahrt teil und hielten hier staatspolitische Reden. Im September desselben Jahres fand in Mariazell eine Großveranstaltung statt, bei der zehntausend Bauern dem ermordeten Dollfuß die Treue schworen. Diese Veranstaltung leitete den Kult rund um diese zentrale Figur des Ständestaates ein. Im Oktober 1937 wurde ein Dollfuß-Denkmal in Mariazell enthüllt. Die starke Indienstnahme Mariazells für die nationalkonservativen Ziele des Ständestaates wurde sicherlich durch die Entstehung der Nationalstaaten auf dem vormaligen Gebiet der Doppelmonarchie begünstigt. Trotz administrativer Erleichterungen, etwa die Einführung von Wallfahrerausweisen für die Grenzübertritte, zeichnete sich ein Rückgang der Pilgerzahlen ab. Unter den ausländischen Pilgern gewannen nun nationale Argumente zunehmend an Gewicht. So traten die Ungarndeutschen, deren Wallfahrten bis zum Zweiten Weltkrieg durch den Volksbildungsverein organisiert wurden, als eigenständig konturierte Gruppe in Erscheinung. Gleichzeitig kam es zu einer verstärkten nationalen Akzentuierung der ungarischen Komponente Mariazells. Die in Österreich, Rumänien und der Tschechoslowakei lebende ungarische Bevölkerung stilisierte den Gnadenort zu einem Symbol der nationalen Einheit und somit einem Gegenentwurf zur Situation Ungarns nach dem Vertrag von Trianon. Nach der Annexion Österreichs durch das nationalsozialistische Deutsche Reich im Mai 1938 wurde das Kloster St. Lambrecht von SS-Einheiten beschlagnahmt und von 19�2 bis zum Kriegsende im Mai 19�5 als Außenlager des Konzentrationslagers Mauthausen genutzt. Während der gesamten Zeit hatte die Abtei St. Lambrecht ihren Sitz nach Mariazell verlegt. 61

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VI. Ideologisierung im Kalten Krieg und Chiffre für das Ende des Kommunismus in Mitteleuropa Die Geschichte Mariazells nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs war zunächst von dem Bemühen gekennzeichnet, die negativen Entwicklungen der Zwischenkriegszeit aufzuarbeiten. Im Jahr 1949 wurde die nahe der Wallfahrtskirche gelegene St. Michaelskapelle, der spätgotische Karner, zu einer Gedenkstätte für die Opfer und Gefallenen der beiden Weltkriege umgestaltet. Drei Jahre später fand in Mariazell die Studientagung des Österreichischen Katholikentages statt, auf der ein Positionspapier ausgearbeitet wurde, in dem das Verhältnis von Kirche und Politik neu definiert wurde. Der in diesem Mariazeller Manifest formulierte Leitsatz „Eine freie Kirche in einer freien Gesellschaft“ signalisierte eine klare Abgrenzung der katholischen Kirche in Österreich von dem Staatskirchentum der Habsburgermonarchie und vor allem des Christsozialen Ständestaates. Weitaus stärker als die Aufarbeitung der Vergangenheit bestimmte seit Beginn der 1950er Jahre das konfrontative ideologische Klima des Kalten Krieges die Wahrnehmung des steierischen Gnadenorts. Aufgrund seiner topographisch exponierten Lage und der historischen Verbindungslinien in die nun jenseits des Eisernen Vorhangs gelegenen Länder avancierte Mariazell bereits früh zu einem symbolträchtigen Ort. Dessen besondere Strahlkraft war nicht auf die katholischen Gemeinden Ostmittel- und Südosteuropas begrenzt. Sie beinhaltete auch eine starke nationale beziehungsweise ethnische Komponente. Dies gilt zunächst für die ungarndeutschen und donauschwäbischen Vertriebenen, für die – neben Altötting und Einsiedeln – Mariazell das wohl wichtigste Wallfahrtsziel darstellte. Im Fall der Ungarndeutschen knüpfte man hierbei sicherlich auch an Traditionen der Zwischenkriegszeit an, die jedoch durch die Erfahrung der Vertreibung überschattet wurden. Einer Transformation unterworfen wurden ferner einzelne Konzepte und Narrative aus der barocken Hochzeit des Wallfahrtsorts, etwa der Verweis auf den göttlichen Schutz bei der Abwehr der andersgläubigen Osmanen. Hierbei konstruierte man Analogien zwischen der Situation der Christen unter den Osmanen und derjenigen der Bevölkerung jenseits des Eisernen Vorhangs, die wegen rigider Reisebestimmungen der neuen Machthaber nicht mehr an den Wallfahrten teilnehmen konnten. Ein Ereignis mit besonderer Signalwirkung bildete das im Juni 1956 begangene fünfhundertjährige Jubiläum des ungarischen Sieges über die Osmanen bei Belgrad. Anläßlich der Feierlichkeiten wurden sogenannte Mariazeller Freiheitstaler in deutschen und ungarischen Versionen geprägt. Programmatisch bezog man sich auf den „Mariazeller Türkenpfennig“ von 1683, wodurch die Prägung den Charakter einer Befreiungsmünze erhielt. Die von dem Administrator der Wallfahrtskirche, Gabriel Beda Döbrentei, als ein Mittel zur Mobilisierung finanzieller Unterstützung für die Kirchenrenovierung angedachte Prägung trägt die Umschrift „Magna Hungarorum Domina 1�56–1956“ und „Basilika Mariazell 1157–1957“. Die Münze wurde gezielt an konservative Leitfiguren verliehen, darunter die Diktatoren in Spanien und Portugal, Franco und Salazar, an Papst Pius XII. sowie an die im Exil lebende letzte Kaiserin Zita von Habsburg und deren 62

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Sohn Otto. Diese Aktion, durch die Mariazell erneut als Reichsheiligtum der Habsburger inszeniert wurde, brachte zwar die Mittel für die Restaurierungsarbeiten ein – die Erneuerung der Jakobuskapelle wurde von Franco finanziert –, zog aber zugleich Verstimmungen auf diplomatischer Ebene nach sich. Das auf der Medaille ebenfalls angekündigte achthundertjährige Jubiläum des Pilgerortes im Jahr 1957 stand ganz unter dem Eindruck der Niederschlagung des ungarischen Aufstands im November 1956 und der daran anschließenden Massenflucht in den Westen. Mariazell etablierte sich in den darauffolgenden Jahren zum religiösen Zentrum der Exilungarn. Dies gilt insbesondere für die Ladislauskapelle der Wallfahrtskirche, die von Georg Szelepcsényi, Primas von Ungarn und bedeutende Gestalt der Gegenreformation, abweichend zur Tradition seiner Amtsvorgänger zur letzten Ruhestätte erkoren wurde. An diese Tradition knüpfte auch József Kardinal Mindszenty an, eine der zentralen Figuren der Opposition gegen die kommunistischen Machthaber in Ungarn wie auch im Exil, als er die Kapelle als Ort für seine Bestattung auswählte. Der seit 19�5 als Primas von Ungarn amtierende Mindszenty war, da er an den monarchischen Traditionen Ungarns festhielt, 19�9 in einem Schauprozeß zu einer lebenslangen Zuchthausstrafe verurteilt worden. Von den Revolutionären befreit, warb er in einer Radio-Ansprache am 3. November 1956 für die Unterstützung der neuen Regierung. Nachdem er nach der Niederschlagung des Aufstandes mehr als 15 Jahre als politischer Flüchtling in der Budapester Botschaft der Vereinigten Staaten gelebt hatte, übersiedelte er nach Österreich. Dort bestimmte er, daß sein Leib erst dann in die Basilika von Gran überführt werden dürfe, „wenn über dem Lande Mariens und des heiligen Stephan der Stern des Moskauer Unglaubens niederfällt“. Die hier aufscheinende enge Verbindung religiösen Bewußtseins mit nationaler Identität bestimmte auch sein Handeln in den letzten Lebensjahren. So feierte Mindszenty 1972 in Mariazell gemeinsam mit Stephan László, dem Bischof von Eisenstadt, und mit fünfzig ungarischen Priestern und Bischöfen den Geburtstag König Stephans des Heiligen. Eine vergleichbare Demonstration religiöser und nationaler Momente stellte die Bestattung Mindszentys im Beisein von Vertretern der Exilungarn aus Europa und Übersee, mehrerer Bischöfe aus Österreich und Deutschland sowie Vertretern des Adels dar. Das Grab Mindszentys entwickelte sich in der Folgezeit zu einem symbolischen Ort des Widerstands gegen den Kommunismus und zu einer Pilgerstätte für die ungarische Exilgemeinde. Die Ladislauskapelle suchte Papst Johannes Paul II. während seines Besuchs in Österreich 1983 auf; am Grab des Kardinals sprach er ein Gebet. Die Erinnerung an Mindszenty wurde darüber hinaus durch eine 1977 eingerichtete Station auf dem 197� neugeschaffenen Kreuzweg (Sebastianiweg) wachgehalten. Die ungarische Inschrift auf dem Sockel der sogenannten Mindszenty Station bezeichnet diese als Erinnerungsstätte an die Ungarn, die im Zweiten Weltkrieg wie auch bei der Erhebung von 1956 gefallen waren. Diese Orte der Erinnerung und vor allem das 1979 eröffnete Mindszenty Museum wurden durch eine Stiftung gefördert, an der das Haus Habsburg federführend mitwirkte. Mitglieder der Habsburger Dynastie nutzen den steierischen Gnadenort seit 1918 zudem immer wieder als Ort für Zeremonien, für Trauungen und Requiems. 63

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Nach 1989 trat Mariazells habsburgisch-dynastische Konnotation zunehmend in den Hintergrund, während die Strahlkraft als Magna Domina Hungarorum und Alma Mater Gentium Slavorum auch nach dem Ende der kommunistischen Regimes in Ostmittel- und Südosteuropa erhalten blieb. Dieses symbolische Potential nutzte man sowohl von staatlicher als auch von kirchlicher Seite bereits 1991 bei der Überführung der sterblichen Überreste Kardinal Mindszentys nach Gran. Vor dem Hintergrund der allseits bekannten testamentarischen Verfügungen des Kardinals konnte die Rückführung als eindeutiges Signal für das Ende der kommunistischen Herrschaft wie auch der sowjetischen Präsenz in Ungarn gedeutet werden. Entsprechend begleiteten hohe Vertreter der ersten frei gewählten Regierung in Ungarn nach 1989, darunter Ministerpräsident József Antall, den Konvoi. An der Grenze wurde er mit militärischen Ehren empfangen. Gleichzeitig bildete die Translation Mindszentys nicht zuletzt durch die aufwendige Inszenierung ein Glied in einer langen Reihe von Umbettungen nationaler Helden, die im Exil verstorben waren. Hierzu zählten Franz II. Rákóczi (1906) oder auch Béla Bartók (1988). Insbesondere die Rückführung der Gebeine Imre Nagys und seiner Mitstreiter, die im Juni 1989 unter großer Anteilnahme der Bevölkerung erfolgte, stellte ein klares Indiz für das Ende des alten politischen Systems dar. Gemeinsam mit den sterblichen Überresten des Primas von Ungarn verlegte man auch das Mindszenty gewidmete Museum nach Gran. Die katholische Kirche Ungarns initiierte unmittelbar nach der Translation ein Seligsprechungsverfahren für Mindszenty. Infolge der Translation des Primas schwand Mariazells Aura für die ungarische Bevölkerung. Seitdem übernimmt der marianische Wallfahrtsort Csíksomlyó im rumänischen Széklerland die Rolle eines national-religiösen Kristallisationspunktes an der Peripherie von Ungarns mental map. Darüber hinaus signalisierte die Translation Mindszentys eine Rückkehr Ungarns nach Mitteleuropa. Diese geschichtsregionale Komponente wurde von österreichischer Seite um die Jahrtausendwende besonders betont. Im Jahr 2000 pilgerte der österreichische Bundeskanzler Wolfgang Schüssel gemeinsam mit drei Ministern der ÖVP-Regierung nach Mariazell, um für die Aufhebung der EU-Sanktionen gegenüber Österreich zu danken. Vor dem Hintergrund des EU-Beitritts einer Reihe osteuropäischer Staaten veranstaltete die österreichische Kirche 2004 den Mitteleuropäischen Katholikentag in Mariazell, an dem Pilger aus Bosnien-Herzegowina, Kroatien, Ungarn, Polen, der Slowakei, Slowenien und Tschechien teilnahmen. Auf diese Weise knüpfte man an die vormaligen engen Bindungen der Völker der Habsburgermonarchie zum steierischen Gnadenort an. VII. Auswahlbibliographie Mausoleum potentissimorum ac gloriosissimorum regni apostolici regum et primorum militantis Ungariae ducum cum versione operis germanica Mausoleum regni apostolici regum et ducum. Norimberga 1664; höLLer, Antonius: Monumenta religionis Augustae: seu Colossi Dei et Divorum honoribus Caesarum Austriacorum munifica pietate Viennae erecti. Viennae 1732; JordánszKy, Alexius: Kurze Beschreibung der Gnadenbilder der seligsten Jungfrau Mutter Gottes Maria, welche im Königreiche Hungarn, und der zu demselben gehörigen Theile und Ländern öffentlich verehrt werden. Preßburg 1836; Grynaeus,

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Mariazell Alajos: Máriacelli útitárs a hétszázados ünnepre [Mariazeller Wegbegleiter zum siebenhundertsten Geburtstag]. Mariazell 1857; Wonisch, Othmar: Erinnerungsblätter an die Jubiläums- und Krönungs-Feierlichkeiten in Mariazell in den Jahren 1907 und 1908. St. Lambrecht 1909; andorfer, Eduard: Das Mariazeller Tympanonrelief. In: Zeitschrift des Historischen Vereines für Steiermark 23 (1927) 80–88; bertaLan, Vilmos: Az óbudai-kiscelli trinitárius kolostor és templom [Trinitarierkloster und -kirche in Altbuda-Kleinzell]. Budapest 1942; GuGitz, Gustav: Österreichs Gnadenstätten in Kult und Brauch, Bd. 4: Kärnten und Steiermark. Wien 1956; aurenhaMMer, Hans: Die Mariengnadenbilder Wiens und Niederösterreichs in der Barockzeit. Der Wandel ihrer Ikonographie und ihrer Verehrung. Wien 1956; coreth, Anna: Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. München 1959; Wonisch, Othmar: Die vorbarocke Kunstentwicklung der Mariazeller Gnadenkirche. Dargestellt im Lichte der Geschichte, der Legenden und Mirakel. Graz 1960; bonoMi, Eugen: Ungarndeutsche Wallfahrten nach Mariazell (Österreich) im 20. Jahrhundert. In: Jahrbuch für ostdeutsche Volkskunde 13 (1970) 136–190; szaMosi, József: Máriacelli emlékkönyv. Képes magyar kalauz [Mariazell-Gedenkbuch. Illustrierter ungarischer Führer]. München/Zürich 1979; Matsche, Franz: Die Kunst im Dienste der Staatsidee Karls VI. Ikonographie. Ikonologie und Programmatik des „Kaiserstils“, Bd. 1–2. Berlin/New York 1981; szaMosi, József: Magyar zarándoklatok Máriacellben [Ungarische Pilger in Mariazell]. In: Katolikus Szemle 39 (1987) 318–338; GaLavics, Géza: Főúri búcsújárás a XVII. században (A búcsújárás mint a néprajz és a művészettörténet közös kutatási feladata) [Aristokratische Wallfahrten im 17. Jahrhundert (Das Wallfahrtswesen als gemeinsame Aufgabe der Volkskunde und der Kunstgeschichte)]. In: Mohay, Tamás (Hg.): Közelítések. Néprajzi, történeti, antropológiai tanulmányok Hofer Tamás 60. születésnapjára. Debrecen 1992, 65–69; báLint, Sándor/barna Gábor: Búcsújáró magyarok. A magyarországi búcsújárás története és néprajza [Wallfahrende Ungarn. Geschichte und Volkskunde der Wallfahrten in Ungarn]. Budapest 1994; fraydeneGG-MonzeLLo, Otto (Hg.): Schatz und Schicksal. Steirische Landesausstellung 1996. Ausstellungskatalog. Graz 1996; boros, Géza: Emlékművek‚ 56-nak [Erinnerungsmale an 56]. Budapest 1997; stadeLMann, Christian: Das ungarische Mariazell oder: Die politische Neubewertung einer religiösen Leitfigur. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde N.S. 53 (1999) 1–20; Laura, Lynne: The Habsburgs at Mariazell: Piety, Patronage, and Statecraft, 1620–1760. Phil. Diss. Los Angeles 2000; LiebMann, Maximilian: Das „Mariazeller Manifest“ als Teil einer Doppelstrategie. In: burz, Ulfried u. a. (Hg.): Brennpunkt Mitteleuropa. Festschrift für Helmut Rumpler zum 65. Geburtstag. Klagenfurt 2000, 639–657; KLaniczay, Gábor: Holy Rulers and Blessed Princesses – Dynastic Cults in Medieval Central Europe. Cambridge 2002; brunner, Walter (Hg.): „... da half Maria aus aller Not“. Der große Mariazeller Wunderaltar aus der Zeit um 1520. Graz 2002; ders. u. a. (Hg.): Mariazell und Ungarn. 650 Jahre religiöse Gemeinsamkeit. Graz 2003; farbaKy, Péter (Hg.): Ungarn in Mariazell, Mariazell in Ungarn: Geschichte und Erinnerung. Ausstellungskatalog. Budapest 2004; picKL, Othmar (Hg.): Wallfahrten der Völker des Donauraumes nach Mariazell. Graz 2004; serfőző, Szabolcs: „Vera effigies“. A mariazelli kegyszobor másolatai Magyarországon [„Vera effigies“. Die Kopien des Gnadenbildes von Mariazell in Ungarn]. In: Ars Hungarica 33 (2005) 257–280; stadeLMann, Christian: Mariazell. In: brix, Emil u. a. (Hg.): Memoria Austriae, Bd. 2: Bauten, Orte, Regionen. Wien 2005, 304–335; prettenthaLer-zieGerhofer, Anita: Bauplatz Europa. Die österreichische katholische Kirche und die Anfänge der europäischen Integration. In: Jahrbuch für Europäische Geschichte 9 (2008) �9–70; franK, Alison: The Pleasant and the Useful: Pilgrimage and Tourism in Habsburg Mariazell. In: Austrian History Yearbook 40 (2009) 157–182; schreiner, Klaus: Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: strohschneider, Peter (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und früher Neuzeit. Berlin 2009, 8��–903; Müller, Stefan: Kaiser und Caudillo. Der spanische Diktator Franco ermöglichte Otto Habsburg den Start in die Politik, und der bedankte sich mit einer Medaille. In: DIE ZEIT vom 25. November 2010; ducreux, Marie-Elizabeth: Emperors, Kingdoms, Territories: Multiple Versions of the Pietas Austriaca. In: The Catholic Historical Review 97 (2011) 276–30�.

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Pannonhalma I. Zusammenfassung. – II. Gründungsort und Gründungslegende. – III. Pannonhalma als Zentralort des Kultur- und Ordenslebens. – a) Gesetzgebung. – b) Niedergang und Reform im späten Mittelalter. – IV. Neue Aufgaben in der Moderne. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Kloster auf dem Berg des heiligen Martin wurde als erste kirchliche Institution nach der Bekehrung der Ungarn gegründet. Diese Vorreiterrolle in spiritueller und kultureller Hinsicht wurde und wird den Katholiken Ungarns bis in die Gegenwart in Erinnerung gerufen. Der Aufschwung zur Zeit der Gründung sowie die Entwicklungen in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts und während der sogenannten Commendator-Zeit sorgten für ein vielfältiges Klosterleben. Die Reformen der Benediktiner im 16. Jahrhundert erleichterten das Überleben des Klosters während der Zeit der osmanischen Herrschaft sowie der absolutistischen Politik Kaiser Josephs II. Als das Kloster danach neu gestaltet wurde, erwies sich die Aufgabe der Bildung als entscheidend. Nach der kurzzeitigen Auflösung der Institution nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs wirkt sie nicht nur in der Erinnerungskultur und in der wissenschaftlichen Reflexion, sondern nach wie vor auch in der Schulbildung und in der Seelsorge fort. II. Gründungsort und Gründungslegende Zur Zeit der Landnahme des Karpatenbeckens durch die ungarischen Stämme schlug Großfürst Árpád zusammen mit seinen Truppen nach der romanhaften Vorstellung des Meisters von Pannonhalma sein Lager neben dem Sankt-Martin-Berg auf; die Männer und ihre Pferde tranken aus der Sabaria-Quelle. Gestärkt durch den Trunk bestiegen sie den Hügel, und Freude erfüllte sie, als sie der Schönheit der Landschaft von Pannonien gewahr wurden. Der Meister von Pannonhalma lebte im 12./13. Jahrhundert und verfaßte einen fiktiven Brief an einen ehemaligen Kommilitonen und vermutlich späteren Erzbischof, in dem er die Großtaten der Ungarn rühmte. Der namenlose Autor war nicht nur gebildet, sondern auch, wie er nicht ohne Stolz vermerkte, Notar König Bélas III. Somit war er bestens vertraut mit der Geschichte des Hauses auf dem Sankt-Martin-Berg und wußte genau, daß sich zu dem Zeitpunkt der Landnahme dort kein Kirchengebäude befand. Auch wenn er bei seiner Verschriftlichung der mythischen Gründungserzählung anachronistisch Handlungen und Personen vermengte, berichtete er immerhin von keinerlei Kirchengebäude auf dem Hügel. Er erwähnte nicht einmal, daß sich später hier ein Kloster befinden sollte, das dem heiligen Martin geweiht war, da dieser in Pannonien geboren wurde. Obwohl er die Sabaria-Quelle erwähnte, verwies er dennoch nicht darauf, daß Sabaria auch der Name des Geburtsortes des heiligen Martin sei. Martin, der spätere 66

Pannonhalma

Bischof von Tours, soll in der ehemals römischen Provinz Pannonien in der Siedlung Sabaria geboren worden sein. Sabaria wird aber heute mit der Stadt Steinamanger verbunden und liegt weit entfernt von Pannonhalma an der österreichischen Grenze. Dieser Widerspruch, der das ungarische Gedenken an den heiligen Martin dominiert – die Annahme mithin, daß der Heilige der Überlieferung gemäß zwar in Sabaria geboren wurde, die wichtigste Gedenkstätte sich jedoch auf dem Sankt-Martin-Berg befindet –, veranlaßte andere Geschichtsschreiber, nach einer plausibleren Erklärung zu suchen und eine Verbindung zwischen dem Sankt-Martin-Berg und dem Geburtsort herauszustellen. Über Martins Heiligenverehrung läßt sich bereits etwas in der Legende des heiligen Stephan erfahren. Bischof Hartvik, der auf Wunsch König Kolomans mehrere Legenden kompilierte, führte die Gründung des Klosters auf dem Sankt-Martin-Berg auf frühere Siege des heiligen Stephan zurück. Er berichtete von einer Schlacht, bei der König Stephan I. die feindlichen Truppen unter den Bannern der heiligen Martin und Georg in der Nähe von Wesprim erfolgreich habe schlagen können. Da Pannonien sich stolz als Geburtsland des heiligen Martin bezeichnete, sollte an der Stelle, an der sich der Besitz des Heiligen befunden hatte, und dort, wo er seine Gebete gesprochen hatte, ein Kloster zu seinen Ehren errichtet werden. Der König stiftete allerdings nicht nur das Land für das Kloster, sondern verpflichtete auch das Volk der besiegten Feinde dazu, ihren Kirchenzehnten fortan nicht ihrem Bischof, sondern dem Kloster zu spenden. Er ging sogar so weit, daß jedes zehnte Kind einer Familie dem Kloster übergeben werden sollte. Die späteren Geschichtsschreiber vermuteten an dieser Stelle nicht nur den Besitz des heiligen Martin, sondern bemühten sich zudem um jeden Preis, an dieser Stelle den Namen Sabaria zu finden. Es galt, die beiden Erinnerungsstränge unauflöslich zu vereinen. Dies setzte sich so fest, daß sogar zeitgenössische Historiker glaubten, in dem kleinen Fluß Pánzsa die Sabaria-Quelle finden zu können. Sie stützen sich dabei auf Urkunden aus dem 9. Jahrhundert, die von einem Sabaria Sicca genannten Ort handeln, der den Salzburgern gehört haben soll. III. Pannonhalma als Zentralort des Kultur- und Ordenslebens a) Gesetzgebung In Pannonhalma, das rasch zum Mittelpunkt des benediktinischen Ordenslebens avancierte, wurden die Mitglieder der verschiedenen ungarischen Klöster ausgebildet. Später kehrten sie nach Pannonhalma zurück, um über ihr Leben Rechenschaft abzulegen, wie der noch von Stephan ernannte Bischof von Fünfkirchen, Maurus, in seiner Schrift über das Leben der frühen Mönche schrieb. Er selbst hatte die Schule in Pannonhalma besucht und dort sein Ordensleben begonnen. Dort war er auch auf den von dem Berg Zobor bei Neutra kommenden Eremiten Benedikt gestoßen. Pannonhalma war mit dem Stammkloster Montecassino eng verbunden und besaß alle Merkmale eines regionalen kulturellen Zentrums. Da es den ungarischen Erzbischof stellte, nahm es eine besondere Stelle unter den ungarischen Kirchen ein. So überrascht es nicht, daß König Stephan I. das Kloster 67

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mit mehreren Besuchen beehrte. Als er seinen Sohn Emmerich in der Kunst des Regierens unterrichtete, ließ er ihn vorangehen, damit er als erster von den Ordensleuten begrüßt werden konnte. Emmerich begrüßte die Mönche, wie es der Anstand von ihm verlangte, mit Küssen. Als Herrscher, der Verdienste vorweisen mußte, drückte er durch die Anzahl der Küsse aus, wer in seiner Gunst am höchsten stand. Die Grundlage für die Gunsterweisung des Herrschers war die Einhaltung des geistlichen Gelöbnisses, wie der junge Herzog auf Nachfrage seines Vaters erklärte. Die Legende steht für die enge Verbindung des Königtums mit dem Kloster in der mittelalterlichen und jüngeren Erinnerungskultur. Die Bedeutung Pannonhalmas bezeugt zudem, daß dort die Beschlüsse gefaßt wurden, die später in das Gesetzbuch des heiligen Stephan aufgenommen wurden. Dem Tod Stephans I. folgten politische Wirren. Erst unter der Herrschaft des heiligen Ladislaus I. setzte eine neue Friedenszeit ein. Die Grundlage für eine Wiederherstellung des Königreichs bildete ein funktionierendes Gerichtswesen. Die denkbar strengsten Strafen wurden an denjenigen vollzogen, die sich an Besitztümern vergangen hatten. Über die Frage, ob diese Gesetze zeitgleich mit der Thronbesteigung Ladislaus I. oder schon zuvor erlassen wurden, herrscht in der Geschichtsschreibung Uneinigkeit. Jedenfalls führte die neue Rechtspraxis zu einer Phase innenpolitischer Ruhe. Grundlage hierzu war eine Versammlung der führenden Köpfe des Landes in Pannonhalma gewesen. Die politische Stabilität konnte auf diese Weise zurückgewonnen werden. Dies hatte auch zur Folge, daß man 1093 den ungarischen König als Anführer für einen Kreuzzug in das Heilige Land, zu dem Papst Urban II. aufgerufen hatte, gewinnen wollte. Urbans Tod zwei Jahre später machte diese Überlegungen allerdings zunichte. Als Gottfried von Bouillon mit seinem Heereszug Ungarn erreichte, wurde ein Abkommen über ein friedliches Durchqueren des Landes abgeschlossen. Die prominente Stellung von Pannonhalma wurde nicht zuletzt dadurch bekräftigt, daß 1096 gerade dort eine Übereinkunft zwischen den Kreuzfahrern und König Koloman getroffen wurde. 1102 stellte Papst Paschalis II. Pannonhalma unter seinen besonderen Schutz und bestätigte alle Privilegien, die Stephan I. dem Kloster hatte zuteil werden lassen. Das privilegium protectionis bedeutete nicht, daß Pannonhalma fortan unmittelbar dem Heiligen Stuhl unterstand, aber es war ein wichtiger Schritt hin zur Unabhängigkeit von der kirchlichen Verwaltung Ungarns. Schon länger war man bestrebt, den Status eines privilegium exemptionis zu erhalten. Das erstarkte Kloster in Pannonhalma erhielt an der Wende vom 12. zum 13. Jahrhundert zusammen mit den übrigen Kircheneinrichtungen, Stiften und Konventen eine neue Aufgabe. Für die Herausbildung der Schriftlichkeit in Ungarn wurde es als Beglaubigungsort zu einem wichtigen Schauplatz. Diese Entwicklung setzte sich im 13. Jahrhundert fort, als markante Veränderungen im Leben von Pannonhalma und dem Christentum in Ungarn insgesamt stattfanden. In der ersten Hälfte dieses 13. Jahrhunderts ordnete der bedeutende Abt Uros die Geschicke des Klosters neu und stellte dessen rechtliche Stellung wieder her. Es spricht manches dafür, daß es diesem Umstand zu verdanken ist, daß die Tataren Pannonhalma 12�1/�2 nicht einnehmen oder zerstören konnten. Durch die Tätigkeit der Geistlichen in Pannonhalma sind mehrere Hundert Dokumente erhalten geblieben, darunter eine ganze Reihe, die die Rechte des Klosters betreffen. 68

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Die geistige Elite in Ungarn bemühte sich um Rechtssicherheit und sorgte dafür, daß die eigenen Rechte verteidigt werden konnten. Für diese Leistung waren die Arbeiten der Beglaubigungsorte entscheidend, in denen geistliche Notare wirkten und mehrere Schreiber die Abschrift von Büchern und Dokumenten erledigten. Wie in ganz Europa üblich, war auch in Ungarn die Schriftkundigkeit – nicht nur die Kopiertechnik des Schreibers, sondern auch die Fähigkeit eigenständig zu formulieren und die Amtsführung auszuüben – an die Kirche und die Kanzleien gebunden. Die Arbeit in der Kanzlei und eine eigenständige literarische Tätigkeit konnten das Werk ein und derselben Person sein. So verstand sich der Meister von Pannonhalma, der an einer ausländischen Universität studiert hatte und Notar der Kanzlei König Bélas III. war, auch darauf, die Geschichte über den Ursprung der Ungarn (Gesta Hungarorum) in bemerkenswerter Eigenständigkeit niederzuschreiben. Aus der späteren Zeit genügt es, den Chronisten János Apród Tótsolymosi und den in der Kanzlei von Hunyadi tätigen János Vitéz oder Ianus Pannonius zu erwähnen. In ihre Reihen gehören ferner die Mitglieder der königlichen Kanzlei, die zwar nicht bis zur Abfassung von Chroniken gelangten, aber mit der Erstellung desjenigen Teils der Urkunden, der die Beurteilung enthält (narratio), zum Ausdruck brachten, daß sie im Grunde alle Voraussetzungen für die Herstellung entsprechender Texte besaßen. Noch im 13. Jahrhundert waren nur in der Kirche Personen zu finden, die des Lesens und Schreibens mächtig waren. Erst nach 1300 finden sich erste Vertreter einer weltlichen Intelligenz (litterati), die ihren Platz nicht nur in der Kanzlei einnahmen. Zu ihnen zählte János Thuróczy, der neben seiner Tätigkeit in der Hofkanzlei in der Lage war, eine Chronik zu schreiben, in der er sich selbst als „schnelle und geistreiche Feder der Notare“ bezeichnet. Zu diesem Kreis zählte überdies die große Zahl derjenigen, die in den Beglaubigungsorten tätig waren. Mit jedem Dokument, das Pannonhalma als Entstehungsort nannte, festigte sich das Kloster im Gedächtnis der Lesenden und Hörenden. Die zentrale Rolle Pannonhalmas in der regionalen Verdichtung von Schriftlichkeit verankerte das Kloster gleichzeitig auch in der weltlichen Erinnerungskultur. b) Niedergang und Reform im späten Mittelalter Das Honorarium der meisten Intellektuellen des Landes war ein kirchliches Lehen. Ob sie geweihte Priester oder sogar Bischöfe waren oder aber ob sie ihren Laienstatus behielten – als Commendatore genossen sie das Einkommen aus ihrem kirchlichen Gut. Pannonhalma bildete in dieser Hinsicht keine Ausnahme. Die besondere Bedeutung zeigt sich jedoch in der Tatsache, daß der Commendatore in diesem Fall eine Person von hohem Rang war, wie der Erzbischof von Gran, János Vitéz, der Primas des Landes. Nachdem dieser die Gunst des Herrschers verloren hatte, setzte sich König Matthias Corvinus selbst in die Lehen von Pannonhalma ein. Die Fürsorge des Lehnsherrn ist an der Eingravierung des Jahres 1�86 in dem gewölbten Verbindungskorridor des Klosters zu erkennen. Der Niedergang Pannonhalmas war zu dieser Zeit allerdings schon nicht mehr aufzuhalten. 69

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Gedenkblatt anläßlich des 700jährigen Jubiläums von Pannonhalma (1701). Die zwei kleinen Bilder im Zentrum verdeutlichen Gewicht und Bedeutung der Erzabtei. Das obere Bild verweist auf das ungarische Staatswappen und zeigt die herausragende Bedeutung des Klosters in der ungarischen Geschichte. Das Land wird von der Heiligen Dreifaltigkeit geschützt, in deren Strahlkreis der heilige Martin, Patron und Namengeber der Erzabtei, sowie Abt Astrik – dieser hält in seinem Schoß die vom Papst für König Stephan mitgebrachte Heilige Krone und ein Kreuz – zu sehen sind. Das untere Bild, dessen Konstruktion sich an das obere anlehnt, bezieht sich auf die Vergangenheit des Klosters. Neben der Heiligen Jungfrau, die das Land und das Kloster schützt, knien links und rechts zwei Könige von Ungarn, der heilige Stephan und der heilige Ladislaus, die das Kloster reich dotiert hatten. Bildnachweis: Mons Sacer 996–1996. Pannonhalma 1000 éve [Mons sacer 996–1996. 1000 Jahre Pannonhalma], Bd. 1–3. Pannonhalma 1996, hier Bd. 2, 103.

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Die Gebildeten, die an der Regierung des Königreichs teilhatten, waren unterdessen so sehr in das weltliche und kirchliche Leben eingebunden, daß nach dem Verfall der Benediktinerklöster im 15. und 16. Jahrhundert König Ladislaus einen Händler, der schreib- und lesekundig am Salzhandel beteiligt war, als königlichen Hofnotar mit der Aufgabe einer Erneuerung der Benediktinerklöster betraute. Der König ernannte diesen Hofnotar, Máté Tolnai, zum Abt von Pannonhalma. Mit dieser königlichen Verordnung wurde das älteste und reichste Benediktinerkloster der Region zum Ausgangspunkt umfassender Reformen. Abt Tolnai war bemüht, die Benediktinerklöster von Transdanubien und von Nordungarn unter der Leitung von Pannonhalma zu vereinen. Der erste Schritt zur Verwirklichung dieses Vorhabens war, die ausgewählten Klöster zu besuchen. 1508 visitierten die beiden Äbte von Zalavár und Báta 17 ausgewählte Klöster. Sie prüften dabei nicht nur die materiellen Verhältnisse der Klöster, den Güterbesitz etwa, sondern hielten auch fest, wie weit das Alltagsleben der Mönche den Anforderungen der Regularien der Benediktiner entsprach. Obwohl die Klöster, die in die Visitation einbezogen wurden, nicht florierten, fanden die Äbte zahlreiche Gebrauchsgegenstände vor, von denen mehr als tausend in detaillierten Bestandslisten erfaßt wurden. Auch von Pannonhalma ist die unter Abt Tolnai 1518 erstellte Liste der beweglichen Güter erhalten geblieben. Sie wurde ein Vierteljahrhundert fortgeführt. Aus kulturgeschichtlicher Perspektive ist es bedauerlich, daß auf die Liste von Pannonhalma vorrangig liturgische Gewänder und Gegenstände aus der Sakristei gesetzt wurden. Dennoch war das Leben in den anderen besuchten Klöstern wahrscheinlich mit demjenigen in Pannonhalma vergleichbar. Von den Äbten, die an der Visitation teilnahmen, ist zu erfahren, wie weit das Leben der einzelnen Klöster von den Regularien der Benediktiner und von den Regeln, die Abt Tolnai nach dem Muster des Breviariums von Melk verfaßt hatte, abwich. Deutlich wird ferner, weswegen gerade die Äbte von Zalavár und Báta mit der Visitation beauftragt worden waren. Beide gehörten zu denjenigen Klöstern, die ihre Aufgaben am besten erfüllten. Zalavár fungierte als Beglaubigungsort, Báta wiederum war wegen der dort aufbewahrten Blutreliquie ein Wallfahrtsort mit einer sehr reichen liturgischen Ausstattung. Den größten Teil dieser Ausstattung, und zwar gerade die wertvollsten Objekte, kennen wir auch in ihren Details. Die Mönche aus Báta flüchteten 1526 vor den Türken nach Pannonhalma, wo von den mitgebrachten Gegenständen eine präzise Zusammenstellung angefertigt wurde. Im ungarischen Erinnerungszusammenhang spielte Pannonhalma eine herausragende Rolle, zum einen als Zentrum der Ordenserneuerung, zum anderen als Zufluchtsort vor den Türken. IV. Neue Aufgaben in der Moderne Die Klöster, die über die obengenannten Funktionen hinaus noch weitere Aufgaben besaßen – etwa das Kloster in Báta (Wallfahrtsort) oder diejenigen in Zalavár, Kapornak und in Garamszentbenedek (Beglaubigungsorte) –, befanden sich in einer grundsätzlich 71

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besseren Lage als diejenigen, die ursprünglich der Kontemplation gewidmet waren. Die Lösung der damit verbundenen Probleme ließ aber noch lange auf sich warten. Bis dahin verwüsteten türkische Truppen noch eine Reihe weiterer Klöster. Unter der Regierung Josephs II. schließlich wurden alle Männer- und Frauenklöster, die nicht Krankenpflege, Unterricht oder Seelsorge dienten, vollständig aufgelöst. Erst 1802 erhielt der Orden neue Aufgaben auf dem Gebiet der Bildung. Die Mönche in Pannonhalma zählten schon nach kurzer Zeit erneut zur geistigen Elite des Landes. Als Vorteil erwies sich in diesem Zusammenhang, daß die klösterlichen Archivalien und Sammlungen die Jahrhunderte größtenteils unversehrt überlebt hatten. Die Bestände der Bibliothek wurden etwas stärker dezimiert als die Materialien des Archivs, während die Gebäude erhalten blieben oder sogar erneuert wurden. Die aktuellen Grenzen der römisch-katholischen Diözesen in Ungarn legte Papst Johannes Paul II. am 30. Mai 1993 in der Enzyklika Hungarorum Gens fest. Von den in den vier Erzbistümern organisierten 13 Diözesen wird die Diözese Pannonhalma dem Heiligen Stuhl untergeordnet. Zu dieser Territorialabtei gehören 15 Kirchgemeinden. Die Erzabtei Pannonhalma mit ihren zwei bedeutenden kulturellen Sammelstellen, der Bibliothek und dem Archiv, steht an der Spitze der Diözesen in Ungarn. Ihre aktuelle Bibliothek besteht aus etwa 400.000 Bänden. Der Bestand der Bibliothek setzt sich aus mittelalterlichen Kodices, Inkunabeln, Altdrucken und modernen Büchern (Theologie, Kirchengeschichte, Kulturgeschichte, Mönchtums-Geschichte im allgemeinen, speziell Benediktiner Mönchtum), den sogenannten Benedictina (Manuskripte, gedruckte Werke und persönliche Dokumente der verstorbenen Benediktiner), Iesuitica (Manuskripte und gedruckte Sammelwerke von Mihály Paintner über die Jesuiten) sowie aus der Bibliothek Lónyay (Bibliothek von Herzog Elemér Lónyay und seiner Frau Stefánia) zusammen. Auch das Archiv ist von großer Bedeutung, die Periodika-Sammlung ist in Ungarn einmalig. Im Archiv findet man tausende der frühesten und wertvollsten Urkunden Ungarns, ferner das eigentliche wirtschaftliche und administrative Gedächtnis der Abtei. In den letzten Jahrzehnten konnten die Mönche und Laien in der Abtei wohnen und mit ihren Arbeiten die Sammlungen bereichern. Die Feier ihres tausendjährigen Bestehens 1996 rief die Erzabtei einer breiteren Öffentlichkeit in Ungarn in Erinnerung. Zusammen mit ihrer näheren Umgebung wurde sie damals in die Liste des Welterbes der UNESCO aufgenommen. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Erdély, László u. a. (Hg.): A Pannonhalmi Szent-Benedek-Rend története. Okmánytár [Geschichte des Benediktinerordens in Pannonhalma. Urkundenbuch], Bd. 1–12b. Budapest 1902–1912; BoGyay, thomas v.: Die heiligen Könige. Ungarns Geschichtsschreiber, Bd. 1. Graz/Wien/Köln 1976; ÉrszeGi, Géza (Hg.): Árpád-kori legendák és intelmek [Legenden und Mahnungen aus der Arpadenzeit]. Budapest 1983 [²1987]; de thurocz, iohannes: Chronica Hungarorum II. Composuit Elemér MáLyusz

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Pannonhalma adiuvante Iulio Kristó. Bibliotheca scriptorum medii recentisque aevorum. S. N., Bd. 8–9. Budapest 1988; SilaGi, Gábriel (Hg.): Die „Gesta Hungarorum“ des anonymen Notars. Die älteste Darstellung der ungarischen Geschichte. Sigmaringen 1991; Besenyei, Lajos/ÉrszeGi, Géza/Pedrazza GorLero, Géza Maurizio (Hg.): De bulla aurea Andreae II regis Hungariae MCCXXII. Verona 1999; farbaKy, Péter u. a. (Hg.): Matthias Corvinus, the King. Tradition and Renewal in the Hungarian Royal Court 1�58–1�90. Budapest 2008.

b) Darstellungen PauLer, Gyula: A magyar nemzet története [Geschichte der ungarischen Nation], Bd. 1–2. Budapest 1899 [³1985]; fLecKenstein, Josef: Die Hofkapelle der deutschen Könige, Bd. 1. Stuttgart 1959; CsóKa, Lajos J.: A latin nyelvű történeti irodalom kialakulása Magyarországon a IX–XIV. században [Die Herausbildung der lateinischsprachigen Geschichtsschreibung in Ungarn im 9.–14. Jahrhundert]. Budapest 1967; ders.: Geschichte des Benediktinischen Mönchtums in Ungarn. München 1980; ÉrszeGi, Géza: Zum Alltagsleben und Sachkultur ungarischer Benediktinerklöster des Spätmittelalters. Klösterliche Sachkultur des Spätmittelalters. Wien 1980; ders./SzeLesti, László N.: Fogalmazási mintákat tartalmazó tankönyv töredékei a 1�. század első feléből [Fragmente eines Lehrbuchs für Aufsatzmuster aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts]. In: ders. (Hg.): Tanulmányok a középkori magyarországi könyvkultúráról. Budapest 1989, 297–326; CapprioLi, Adriano/Vaccaro, Luciano: I primi secoli della cristianità. Storia religiosa dell’Ungheria. Milano 1992; Mons Sacer 996–1996. Pannonhalma 1000 éve [Mons sacer 996–1996. 1000 Jahre Pannonhalma], Bd. 1–3. Pannonhalma 1996; Szende, Katalin u. a. (Hg.): A magyar iskola első évszázadai (996–1526) [Die ersten Jahrhunderte des Schulwesens in Ungarn (996–1526)]. Győr 1996; ÉrszeGi, Géza: Le „libertà“ di Monteccasino a Pannonhalma. In: JanKovics, József u. a. (Hg.): A magyar művelődés és a kereszténység. Budapest 1998, ��–52; Kiss, Gábor/Tóth, Endre/ZáGorhidi cziGány, Balázs: Savaria-Szombathely története a város alapításától 1526-ig [Geschichte von Savaria-Szombathely von der Gründung der Stadt bis 1526]. Szombathely 1998; ÉrszeGi, Géza: Die Christianisierung Ungarns anhand der Quellen. In: WieczoreK, Alfried/Hinz, Hans-Martin (Hg.): Europas Mitte um 1000, Bd. 1–2. Stuttgart 2000, hier Bd. 2, 600–607; BeKe, Margit: Esztergomi érsekek 1001–2003 [Die Graner Erzbischöfe 1001–2003]. Budapest 2003; Pál, József/ SoMorJai, Ádám: Mille anni di storia dell’arciabbazia di Pannonhalma. Roma/Pannonhalma 1997; SoLyMosi, László: Írásbeliség és társadalom az Árpád-korban [Schriftlichkeit und Gesellschaft in der Arpadenzeit]. Budapest 2006.

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Kloster Počajiv I. Zusammenfassung. – II. Geschichte der Lavra. – III. Religiöse Memoria bis um 1800. – IV. Das politische Gedächtnis von Počajiv und seinen Heiligtümern nach 1800. – V. Auswahlbibliographie,

I. Zusammenfassung Das Mariä-Himmelfahrtskloster von Počajiv in der Ukraine, Region Ternopiľ, nimmt in der orthodoxen Kirche den Ehrenrang einer „Lavra“ ein, das heißt eines besonders wichtigen und großen Klosters. Die Erinnerungsgeschichte an das Kloster läßt sich in zwei chronologischen Teilen erfassen. Bis zum Anfang des 19. Jahrhunderts gab es vergleichsweise wenige Konfrontationen zwischen dem „griechisch-katholischen“ und dem „russisch-orthodoxen“ Bild der Lavra und ihres wichtigsten Heiligtums, der Ikone der Gottesmutter. Erst von der Mitte des 19. Jahrhunderts an bis in die Gegenwart existieren zwei konfessionell und national gefärbte Visionen über die Zugehörigkeit der Lavra, nämlich zum einen als ukrainisches Nationalheiligtum und zum anderen als Bastion der russischen Orthodoxie. II. Geschichte der Lavra Der Überlieferung nach wurde das Mariä-Himmelfahrtskloster von Počajiv 12�0 gegründet, als die Mönche des Höhlenklosters in Kiew vor den Tataro-Mongolen flohen und sich auf dem Hügel von Počajiv niederließen. Auf diese Zeit bezieht sich auch die Wunderlegende, nach der dem Hirten Ivan Bosy die Gottesmutter erschienen war: Demnach stieg sie auf den Hügel von Počajiv, und ihre Fußspuren füllten sich mit lebenspendendem Wasser. Erstmals schriftlich erwähnt wurde das Kloster 1527. Offiziell geht die Gründung des Klosters in seiner späteren Größe allerdings zurück auf eine Stiftungsurkunde der Eigentümerin von Počajiv, der Adeligen Hanna Hojs’ka, aus dem Jahr 1597. Hojs’ka schenkte dem Kloster nicht nur Wald- und Ackerland, sondern auch eine wundertätige Ikone der Gottesmutter, die sie als Geschenk von einem bulgarischen Metropoliten namens Neofit erhalten hatte. Eine wichtige Rolle für die Entwicklung des Klosters besaß dessen Vorsteher Iov Zalyzo an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert. Er führte im Kloster die studitische Mönchsregel nach dem Vorbild des Studionklosters in Byzanz ein. Außerdem gelang es ihm, Güter zurückzuerlangen, die dem Kloster von den Nachfahren Hanna Hojs’kas weggenommen worden waren, sowie neue und reiche Unterstützer und Stifter unter dem lokalen Adel zu finden. 16�9 wurde auf dem Hügel von Počajiv die Dreifaltigkeitskirche erbaut, wohin auch die Ikone der Gottesmutter überführt wurde. Die „basilianische Periode“ der Lavra begann im frühen 18. Jahrhundert. Zu dieser Zeit ging das Kloster in den Besitz der Griechisch-Katholischen („Unierten“) über, und 1739 ließ sich dort der griechisch-katholische Orden der Basilianer nieder. In dieser Zeit 7�

Kloster Počajiv

setzte der Aufschwung der Druckerei von Počajiv ein. Die Basilianer waren auch die Initiatoren des Umbaus des Klosters im spätbarocken Stil, der dessen Aussehen bis heute prägt. Finanzielle Unterstützung gewährte dabei Graf Mikołaj Potocki, der der Überlieferung nach von der römisch-katholischen zur griechisch-katholischen Kirche übergetreten war, und zwar infolge des wundertätigen Eintretens der Gottesmutter von Počajiv für seinen Diener, den der jähzornige Graf zunächst hatte erschießen wollen. Nach seiner Konversion finanzierte der Graf den Umbau der monumentalen Himmelfahrtskathedrale im Kloster. Er konnte sogar den Papst überzeugen, die Gottesmutterikone von Počajiv zu krönen, ihr also auch aus Sicht der römisch-katholischen Kirche den Status einer Reliquie zu verleihen. Die feierliche Zeremonie fand 1773 statt. Nach dem polnischen Aufstand von 1831, an dem die Počajiver Basilianer aktiven Anteil genommen hatten, befahl der russische Zar Nikolaus I., das Kloster erneut den Orthodoxen zurückzugeben. Zwei Jahre später wurde auf Beschluß des Allerheiligsten Synod der russisch-orthodoxen Kirche dem Kloster der Titel einer Lavra verliehen, der dessen Status nun in der orthodoxen Welt beträchtlich erhöhte. Die Liste von Stiftern des Klosters enthält seit dieser Zeit nicht nur Angehörige bedeutender russischer Adelshäuser, sondern auch die Namen der Zaren Nikolaus I. und Alexander II. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts wurde auf Beschluß des wolhynischen Erzbischofs Antonij Chrapovyc’kyj auf dem Territorium der Lavra neben der alten, nach dessen Auffassung während „der unierten Zeit demolierten“, Dreifaltigkeitskirche im traditionellen russischen Stil eine neue errichtet. Diese Kirche war gedacht als Ergänzung – oder Alternative – zur barocken, ihrem Aussehen nach katholischen, Himmelfahrtskathedrale. Zu dieser Zeit wurde die Lavra zu einem der Zentren der Formierung des konservativen „Bundes des russischen Volkes“ (Sojuz russkogo naroda), auch bekannt als Bewegung der „Schwarzen Hundertschaften“ (Černaja Sotnja). Mit dieser Periode in der Geschichte des Klosters ist aber auch die Entstehung einer Bewegung für die Errichtung einer ukrainischen autokephalen Kirche innerhalb der orthodoxen Ökumene verbunden. Während des Ersten Weltkriegs sowie des anschließenden Russischen Bürgerkriegs und des Polnisch-Ukrainischen Kriegs (1918/19) wurde die Lavra erheblich beschädigt. Das Kloster ging zeitweise in die Hand der österreichisch-ungarischen, zeitweise in die Hand der russischen Truppen über. Ab 1920 befand sich Počajiv auf dem Territorium des polnischen Staates. Durch die Verschiebung der polnischen Grenzen im Zuge des Zweiten Weltkriegs kam das Kloster schließlich auf das Gebiet der Sowjetunion. Die antireligiösen Kampagnen der frühen Sowjetzeit und der Jahre unter Stalin führten zwar nicht unmittelbar zur Schließung der Lavra, doch waren die Mönche systematischen Verfolgungen ausgesetzt: Sie wurden in psychiatrische Heilanstalten gesteckt oder gewaltsam aus dem Kloster vertrieben. In dieser Zeit lebte der Mönch Vater Amfilochyj, zu dem Gläubige aus vielen Regionen der Ukraine um Rat und Hilfe kamen, in der Lavra. Im Jahr 2002 wurde Amfilochyj von der ukrainischen orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats (UOK-MP) selig gesprochen. Nach der Unabhängigkeit der Ukraine 1991 wurde die Lavra von Počajiv zum Ziel starker Pilgerströme. Auf ihrem Gelände befinden sich gegenwärtig eine Katechetenschu75

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le und ein Geistliches Seminar. Die Abspaltung der ukrainischen orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) von der ukrainischen orthodoxen Kirche (UOK) sowie die Wiedergeburt der ukrainischen griechisch-katholischen Kirche (UGCK, „Unierte“) und der ukrainischen autokephalen orthodoxen Kirche (UAOK) und die daraus entstehenden interkonfessionellen Konflikte in der Ukraine seit dem Beginn der 1990er Jahre berührten auch Počajiv. Einer der Archimandriten, Iakov Pančuk, der mit der 1992 vom früher russisch-orthodoxen Bischof Filaret errichteten ukrainischen orthodoxen Kirche des Kiewer Patriarchats (UOK-KP) sympathisierte, wurde von den Klosterbrüdern ebenfalls 1992 vertrieben. Die Mönche der Lavra verblieben bei der UOK. III. Religiöse Memoria bis um 1800 Der Anfang der Herausbildung eines Kultes um das Kloster Počajiv und die Gottesmutter von Počajiv läßt sich am Ende des 17. Jahrhunderts finden, als der orthodoxe Prediger und Rektor der Kiewer Akademie, Ioanikij Galiatovs’kyj, in seinem 1665 erschienenen Buch Nebo Novoe (Der neue Himmel) an eine wundertätige Ikone erinnerte, zu deren Verehrung eine große Zahl von Pilgern geströmt sei. Zu dieser Zeit entstand auch das Epos vom wundertätigen Eintreten der Gottesmutter bei der türkisch-tatarischen Belagerung von 1675, das unter anderem seinen Niederschlag im religiösen Gesang gefunden hat und danach ins nationale Volksliedgut eingegangen ist, wie etwa das Lied Oj, zašla zorja večorovaja (Sieh, der Abendstern ging auf) bezeugt. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts fertigte der lokale Künstler Nikodym Zubryc’kyj einen Kupferstich, der die bekannten Ereignisse der Belagerung wiedergibt und die Figur der Gottesmutter in einem rühmenden Strahlenkranz darstellt. Parallel zur Entstehung des Kultes der Počajiver Gottesmutter verbreitete sich die Verehrung des hl. Iov von Počajiv, des Vorstehers des Klosters an der Wende zum 17. Jahrhundert. Eine erste Lebensbeschreibung des Heiligen wurde von seinem Schüler Dosyfej zusammengestellt, nicht lange nach der Kanonisierung Iovs im Jahr 1659. Wichtig ist, daß in der Ikonographie Iov von Beginn an eng mit der Gottesmutter verbunden wurde – die Ikonen zeigen immer beide zusammen –, was den Bedeutungszuwachs der Lavra von Počajiv als christliches Heiligtum noch beförderte. Mitte des 18. Jahrhunderts intervenierte Graf Potocki bei Papst Clemens XIV. wegen einer Kanonisierung des Iov von Počajiv von römisch-katholischer Seite und einer Krönung der Gottesmutterikone. Zwar wurde nur seiner zweiten Bitte entsprochen, dennoch vollendeten die Krönung und der Bau der barocken Himmelfahrtskathedrale, in der auch die wundertätige Ikone ihren Platz fand, den Wandel der Lavra von Počajiv in ein Heiligtum, das in der katholischen wie in der orthodoxen Welt Anerkennung besitzt. Im Verlauf des 18. und der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts, also während der gesamten „basilianischen“ Periode des Klosters, gab es keine Konflikte um dessen Zugehörigkeit. Erst ab 1830 vollzog sich eine Trennung zwischen dem „griechisch-katholischen“ und dem „russisch-orthodoxen“ Bild der Lavra und ihres wichtigsten Heiligtums, 76

Kloster Počajiv

der Gottesmutterikone. Die Übergabe von Počajiv an die russisch-orthodoxe Kirche fügte sich gut in den russischen Schutzmachtmythos ein, der in Symbolen, Ritualen und Liturgien festgehalten wurde. Auf diese Weise spaltete sich die religiöse Memoria über Počajiv in mindestens zwei Teile – einen griechisch-katholischen und einen russisch-orthodoxen. Die Nationalisierung der Religion und die Sakralisierung der Nation brachten neue politische Deutungen der Lavra hervor. IV. Das politische Gedächtnis von Počajiv und seinen Heiligtümern nach 1800 Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden zwei politisch gefärbte und einander gegenüberstehende Bilder der Lavra: einerseits als ukrainisches Nationalheiligtum und andererseits als Vorposten der russischen Orthodoxie sowie, was noch viel weiter geht, des „Russischen“ und des „Russentums“ überhaupt. Diese Narrative in ihrer konfliktreichen, sich dennoch manchmal auch gegenseitig ergänzenden Form entstanden in einem nationalen ukrainischen wie in einem russischen imperialen Milieu, in Kreisen von Geistlichen, Politikern, Historikern, aber auch bei Künstlern, Schriftstellern und Filmregisseuren. Die Hauptmedien in diesen Prozessen waren literarische Texte, visuelle Darstellungen (kirchliche Gebäude, Ikonen und Kupferstiche, zuletzt Filme), aber auch verschiedene Inszenierungen wie religiöse und politische Prozessionen. Zu den letztgenannten Ereignissen lassen sich die pompösen Feierlichkeiten zum 50. Jubiläum der Übergabe des Klosters an die Orthodoxie am 13. Oktober 1883 rechnen, zu dem zahlreiche staatliche und geistliche Würdenträger erschienen. Spätestens diese Jubiläumsfeier verhalf dem Kloster mit seiner wundertätigen Muttergottesikone zum Status eines Symbols für die „Befreiung“ und „Wiedereroberung“ der ukrainischen Gebiete von der polnischen „Fremdherrschaft“ schlechthin. Die im Zuge der Feierlichkeiten gegründete „Bruderschaft von Počajiv“ hatte zur Aufgabe, die orthodoxen Besucher zu „begleiten, beschützen und ermutigen“; ein Bücher- und Broschürendepot sollte für unierte Pilger aus Galizien sorgen. Das beste Symbol dieser „Russifizierung“ der Lavra als Erinnerungsort ist vermutlich ihre Dreifaltigkeitskirche, erbaut 1906 bis 1912 auf Anordnung des Bischofs Antonij. Der Bischof betrachtete die alte Himmelfahrtskathedrale als ungebührlich „westlich“ und „katholisch“ und weigerte sich, in ihr die Liturgie abzuhalten, so daß man entschied, eine weitere Kirche im neo-russischen Stil mit vielen Ähnlichkeiten zu den mittelalterlichen Kirchen in Novgorod und Pskov, zu errichten. Aber nicht nur die Priester beförderten die Entstehung einer „russischen“ Geschichte der Lavra. Zum Ende des 19. Jahrhunderts setzte auch die historische Erforschung der Lavra ein, die von einer Reihe von kirchlichen Würdenträgern der russisch-orthodoxen Kirche begründet wurde. Eines der Werke verfaßte Archimandrit Amvrosij Lotoc’kyj, dessen Skazanie istoričeskoe o Počaevskoj Lavre (Historische Erzählung von der Lavra von Počajiv, 1886) auf gründlich ausgewerteten Materialien aus dem Klosterarchiv basiert. Die nur etwas später entstandene Studie von Andrij Chojnac’kyj Počaevskaja uspenskaja lavra. Istoričeskoe opisanie (Die Himmelfahrts-Lavra von Počajiv. Historische Beschreibung, 1897) stellte das Bild vom „feindlichen Polen“ in den Mittelpunkt. 77

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Die Erfolge der basilianischen Druckerei wurden darin gänzlich verschwiegen, und der Kirchenbau des 18. Jahrhunderts erschien im Buch als Zugeständnis an den westlichen Einfluß, während die griechisch-katholische Periode generell als eine „verlorene Zeit“ beschrieben wurde. Viele russische Emigranten nach der Revolution von 1917 haben diese Ideen gleichsam zusammen mit der Druckerei von Počajiv mit ins Exil genommen. Die russischorthodoxe Kirche im Ausland hat den Kult von Iov von Počajiv stark geprägt und befördert. Als ein Ergebnis dieser Bemühungen wurde in der Nähe von München das Kloster von Iov von Počajiv errichtet; denselben Name trägt die Druckerei des Dreifaltigkeitsklosters im nordamerikanischen Jordanville. Gegenströmungen kamen aus der ukrainischen autokephalen Bewegung am Anfang des 20. Jahrhunderts. Als ein Paradebeispiel der „Nationalisierung des Diskurses“ über die Geschichte der Lavra erschien das Buch des Metropoliten der Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche, Ilarion Ohijenko, Svjata Počajivs’ka lavra (Die heilige Lavra von Počajiv). Noch während der Wirren von Revolution und Bürgerkrieg hatte er versucht, Dokumente über Počajiv und seine Druckerei zu sammeln. Am Ende, schon in der Emigration, erschien dann 1961 ein Buch, das das Bild der Lavra von Počajiv als eindeutig ukrainisches Nationalheiligtum propagierte. Die Russisch-Orthodoxen genauso wie die griechisch-katholische und die römisch-katholische Kirche in Polen sind jeweils als historische Feinde des ukrainischen Volkes dargestellt. Die Mariä-Himmelfahrtskathedrale und die Dreifaltigkeitskirche entsprachen nach Ohijenkos Ansicht auch nicht dem nationalen architektonischen Stil. Werke von ukrainischen Dichtern und Malern über Počajiv, wie beispielweise jene von Taras Ševčenko, wurden bei ihm als Bestätigungen der Zugehörigkeit der Lavra zum ukrainischen nationalen Gemeingut interpretiert. Das Bild von der Lavra von Počajiv als ein ukrainisches Nationalheiligtum bestimmte viele Spruchbänder während der massenhaften anti-sowjetischen Demonstrationen vor ihren Mauern im August 1933. Aber auch die polnische Regierung hat die Lavra von Počajiv als Heiligtum und Erinnerungsort anerkannt. 1929 besuchte der polnische Präsident Ignacy Mościcki Počajiv, um die wundertätige Ikone der Gottesmutter zu verehren. Nach dem Zweiten Weltkrieg ging die Verfolgung der Mönche unter der sowjetischen Regierung weiter, die zugleich versuchte, die religiösen Erinnerungen um die Lavra verschwinden zu lassen. Während großer religiöser Feste wurden in der Region Kinoveranstaltungen als Alternativangebot organisiert, die das Publikum ablenken und fernhalten sollten. Der Zerfall der Sowjetunion brachte eine Wiederbelebung von ukrainischen und russischen nationalen Narrativen über Geschichte und Gegenwart der Lavra mit sich. Damit sind freilich auch konkurrierende Narrative gemeint, in denen sich Ansprüche verschiedener Seiten ausdrückten. Diese Wiederbelebung ist in erster Linie die Folge eines nicht beendeten Konflikts um die Ukraine selbst und ferner zwischen der Ukraine und Rußland um den historischen Erinnerungsort der Lavra (in einer Reihe mit anderen Erinnerungsorten wie Hetman Mazepa, dem Zweiten Weltkrieg und dem Holodomor, der großen Hungerkatastrophe 1932/33). Das heißt, abgesehen von einem allgemein 78

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Die Karikatur aus der nationalistischen Lemberger Zeitung „Zerkalo“ (Spiegel) vom 15. Mai 1882 zeigt, wie die galizischen pro-russischen politischen Parteien, wie zum Beispiel „Russkoe Slovo“ (Russisches Wort) oder „Halycka Rus’“ (Galizische Rus’), nach Počajiv marschieren, um dort Geld abzuholen. Auf den Kuppeln der Lavra von Počajiv sitzt ein Zar mit Peitschen, um Angst zu verbreiten. Die Unterschrift auf der Fahne in den Händen des orthodoxen Priesters unten ruft die Pilger auf, sich vor dem Zaren zu verbeugen. Bildnachweis: Zeitung „Zerkalo“ (Spiegel), Lemberg 15. (27.) Mai 1882, 4.

ukrainischen Konflikt beobachten wir hier noch einen spezifisch lokalen, der in erster Linie mit der geographischen Lage der Lavra „an der Grenze“ verbunden ist. Vor diesem Hintergrund besaß der Besuch des russischen Patriarchen Kyrill in der Ukraine imAugust 2009 Signalcharakter. Im Verlauf seiner Visite besuchte er auch Počajiv, wo ihn etwa 25.000 Gläubige der UOK begrüßten. Zugleich wurde sein Besuch aber auch von den Protesten von etwa �.000 Angehörigen der UOK-KP begleitet. Zur Vermeidung von Zusammenstößen wurden die Gläubigen der verschiedenen Konfessionen durch Polizisten auseinander gehalten. Zwar kam es in Počajiv nicht zu Gewalt, doch entlud sich ein erheblicher Unmut in verbalen Tiraden, so etwa in Ausrufen wie „Weg mit dem Moskauer Popen!“, konterkariert von der Losung „Unser Patriarch Kyrill“. Eine Steigerung des Konflikts ist parallel zur Wiedergeburt der Lavra als religiöser Erinnerungsort zu beobachten. Beigetragen haben hierzu nicht nur jüngste historische Studien in der Ukraine und in Rußland, sondern auch elektronische Medien wie etwa die in Počajiv selbst verfaßten Flugblätter, die auf der Internetseite des Klosters eingesehen werden können. Bemerkenswert sind Spiel- und Dokumentarfilme, in denen die Wunder von Počajiv bildnerisch-realistisch geschildert werden. Zu diesen gehört bei79

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spielsweise die neue Dokumentation von Taťjana Jacyna und Vasyľ Kyba mit dem Titel Počajiv (2006), die den Hauptpreis auf dem Internationalen Festival des Orthodoxen Films „Pokrov“ in Kiew erhielt. Im Film geht es weniger um politische Konfrontationen, als vielmehr um die Anerkennung der einzigartigen Rolle des Klosters von Počajiv in der Geschichte des Christentums. Perspektiven für eine „Depolitisierung“ der Lavra von Počajiv als Erinnerungsort hängen ab von der allgemeinen religiösen und politischen Situation in der Ukraine. Bisher hatten alle mehr oder weniger wichtigen Unruhen um Počajiv ihren Ursprung in politischen Veränderungen. Die seit dem Frühjahr 2010 im Amt befindliche Regierung von Präsident Janukovyč, der öffentlich die UOK-MP unterstützt, gibt aus Sicht der Mönche des Klosters Hoffnung auf eine gewisse Stabilität des Status quo und eine wenigstens zeitweilige Unterbrechung der Konflikte um die „russische Bastion im westukrainischen Meer“. VI. Auswahlbibliographie Muravev, Andrej: Žitije blažennogo Iova Želeso, igumena Lavry Počaevskoj [Die Vita des Seligen Iov, Hegumen der Lavra von Počajiv]. Počaev 1860; aMvrosiJ (LotocKiJ): Skazanie istoričeskoe o Počaevskoj Lavre byvšego namestnika Lavry archimandrita Amvrosija [Historische Erzählung von der Lavra von Počajiv, vom ehemaligen Abt der Lavra, Archimandrit Ambrosius]. Počaev 1886; chojnacKij, Andrej: Počaevskaja uspenskaja lavra. Istoričeskoe opisanie [Die Himmelfahrts-Lavra von Počajiv. Historische Beschreibung]. Počaev 1897; KryžanovsKiJ, Grigorij: Istoričeskoe i obščestvennoe značenie Počaevskoj lavry [Historische und gesellschaftliche Bedeutung der Lavra von Počajiv]. Počaev 1899; žuK, Semen:: Korotkyj istoryčnyj čnyj nyj narys Počajivs’koji čajivs’koji ajivs’koji jivs’koji vs’koji ’koji koji Uspens’koji ’koji koji Lavry [Eine Eine kurze historische Skizze über die Himmelfahrts-Lavra von Počajiv]. Kremenec’ 1938; dutKieWicz, Józef Edward: Fabryka cerkwi Wniebowziecia N.M. w Poczajowie [Die Werkstatt der Himmelfahrtskirche von Počajiv]. In: Dawna sztuka 2 (1939) 131–162; iLarion (ohijenKo): Forteцja pravoslavja na Volyni: Svjata Počajivs’ka lavra [Eine Bastion der Orthodoxie in Wolhynien: Die Heilige Lavra von Počajiv]. Winnipeg 1961; dubyLKo, Ivan: Počajivs’kyj monastyr v istoriji našoho narodu [Das Kloster von Počajiv in der Geschichte unseres Volkes]. Winnipeg 1986; GudyMa, Arsen:: Počajivs’kyj čajivs’kyj ajivs’kyj jivs’kyj vs’kyj ’kyj kyj monastyr v istoryčnij doli ukrajinstva [Das Kloster von Počajiv im historischen Schicksal der Ukraine]. Ternopiľ 1995; GorbačenKo, Tetiana: etiana:: Počajivs’kyj čajivs’kyj ajivs’kyj jivs’kyj vs’kyj ’kyj kyj monastyr v konteksti istorijii ta duchovnosti ukrajins’koho jins’koho ns’koho ’koho koho narodu [Das Kloster von Počajiv im Kontext von Geschichte und Spiritualität des ukrainischen Volkes]. Ternopiľ 1995; ryčKov, Petro/Luz, Viktor: Počajivs’ka Svjato-Uspens’ka Lavra [Die HimmelfahrtsLavra von Počajiv]. Kyjiv 2000; vuLpius, Ricarda: Nationalisierung der Religion. Russifizierungspolitik und ukrainische Nationsbildung 1860–1920. Wiesbaden 2005; Svjato-uspenskaja Počaevskaja lavra. Vzgljad čerez veka. Istoričeskoe povestvovanie v slovach i obrazach [Die Himmelfahrts-Lavra von Počajiv. Ein Blick durch die Jahrhunderte. Historische Erzählung in Worten und Bildern]. Počaev 2007; dudar, Vasyľ: ľ: Istorija Počajivs’koji čajivs’koji ajivs’koji ’koji koji Svjato-Uspenskoji -Uspenskoji Uspenskoji lavry (istoriohrafičnyj istoriohrafičnyj čnyj nyj aspekt pytannia) [Die Geschichte der Himmelfahrts-Lavra von Počajiv (historiographischer Aspekt)]. In: Istorija ukrajins’koji nauky na meži tysjaččoliť 28 (2007) 12�–130; dudar, Vasyľ: Počajivskyj monastyr. Istorija pochodžennja [Das Kloster von Počajiv. Die Geschichte seiner Enstehung]. In: Perejaslavica. Naukovi zapysky Nacionalnoho istoryko-etnografičnoho zapovidnyka „Perejaslav“ 1/3 (2007) 51–53; berezhnaya, Liliya: Interkonfessionelle Konflikte um die Lavra von Počajiv. In: Glaube in der 2. Welt (Juni 2010) 18–20.

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Lemberg I. Zusammenfassung. – II. Vielfalt konfessionsethnischer Traditionen. – III. Römisch-katholische Überlieferungen. – IV. Jüdische Erinnerungsorte. – V. Orthodoxe/griechisch-katholische Traditionen. – VI. Multikonfessionelle Erinnerungsorte. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Stadt Lemberg ist ein vielstimmiger religiöser Erinnerungsort. Das Zusammenwirken verschiedener konfessionsethnischer Erinnerungskulturen macht ihre Besonderheit aus. Die zahlreichen Lemberger Konfessionen – später Nationen – standen in ihren Identitätsbildungsprozessen in einem wechselseitigen Wettstreit, woraus sich ein Überschuß lokaler (nationalisierter) religiöser Erinnerungsorte ergab. Dies trifft besonders auf die Wechselwirkung zwischen römisch-katholischen und orthodoxen oder später griechischkatholischen Erinnerungsorten der Stadt zu. Heterogene Richtungen (Orthodoxe, Assimilierte, Zionisten) jüdischer Identität und vor allem armenisch-apostolische und später armenisch-katholische kollektive Identitäten integrierten sich im späten 19. Jahrhundert zu einem beträchtlichen Teil in die kulturelle und sprachliche Welt der polnischen Mehrheit Lembergs. Die Mehrzahl der kollektiven religiösen Erinnerungselemente Lembergs hat ihren Ursprung in der zum Ausgang des 16. und im 17. Jahrhundert zunehmenden religiösen Intoleranz in Polen-Litauen, als sich die konfessionellen Identitäten verstärkt voneinander abgrenzten. Im Zuge der Sowjetisierung Lembergs nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die ältere multikulturelle Tradition der Stadt bewußt tabuisiert oder einseitig ukrainisiert. Erst nach dem Umbruch von 1989/91 durften sich die verschiedenen Erinnerungskulturen, in denen Lemberg seinen Platz hat, wiederum zu Wort melden. Allerdings führen die divergierenden nationalen Perspektiven auf die Geschichte Lembergs insbesondere im ukrainisch-polnischen Verhältnis immer noch zu Irritationen.

II. Vielfalt konfessionsethnischer Traditionen Lemberg war bereits zur Zeit der Fürsten der Rus’ (ca. 1250–13�0) eine Stadt, in der verschiedene Konfessionsethnien ihren Sitz hatten. Dieses Merkmal verstärkte sich im Laufe der Jahrhunderte, bis der Zweite Weltkrieg, die Umsiedlungsaktionen und die sowjetische Anti-Religionspolitik der Nachkriegszeit den multiethnischen und -konfessionellen Charakter der Stadt gewaltsam auslöschten. Lemberg verdankte seinen polykonfessionellen Charakter der Lage an der Schnittstelle der ost-westlichen Handelswege, die von Kiew und aus der Schwarzmeer-Region (Armenier, Karäer, Tataren, Juden) über Kleinpolen und Schlesien in den deutschsprachigen 81

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Raum führten. Zu seiner religiösen Vielstimmigkeit trugen auch die Bemühungen der jeweiligen Herrscher bei, die mit dem Ziel des Landesausbaus Kolonisten aus den westlichen Nachbargebieten ansiedelten. Orthodoxe, später griechisch-katholische Ruthenen/ Ukrainer, römisch-katholische – bereits im 15. Jahrhundert zusehends polonisierte – Deutsche und Polen sowie aschkenasische Juden prägten das Bild und die Gesellschaft der Stadt. Die armenische Gemeinde verlor demgegenüber schon seit dem 18. Jahrhundert an Bedeutung. Ihre wenigen Angehörigen akkulturierten sich nach 1800 an das Polentum, wenn sie auch ihre religiöse Sonderstellung bewahrten. Die armenische Gemeinde, die nach 1945 in Lemberg wiedererstand, war nicht mehr armenisch-katholisch, vielmehr bildeten Armenier aus der gleichnamigen Sowjetrepublik ihren Kern. Aus diesen Gründen werden hier religiöse armenische Erinnerungsorte in Lemberg nicht vorgestellt. Abgesehen von den ersten Jahrzehnten (1772–1867) der habsburgischen Herrschaft über Galizien hatte seit dem 14. Jahrhundert die römisch-katholische Stadtnation die politische Vormachtstellung in Lemberg inne. Demographisch und konfessionell präsentierte sich das Bild nicht mit der gleichen Eindeutigkeit. Die römisch-katholische, ethnisch und kulturell vorwiegend polnische Gemeinschaft stellte vom 16./17. Jahrhundert bis zum Zweiten Weltkrieg etwa die Hälfte der Bevölkerung. Danach ging ihr Anteil auf 2 Prozent und weniger zurück. Im gleichen Zeitraum schwankte das Bevölkerungsgewicht der Juden Lembergs zwischen 20 bis maximal �0 Prozent, womit die Lemberger eine der größten jüdischen Gemeinden Polens bildeten. Die orthodoxen und griechischkatholischen Ruthenen hatten einen Anteil zwischen 10 und 20 Prozent, obwohl sie im Umland Lembergs die überwiegende Mehrheit der Bevölkerung stellten. Die Lemberger Armenier stellten demgegenüber höchstens 5 bis 10 Prozent der Einwohnerschaft, mit abnehmender Tendenz. Solch vielschichtige Bevölkerungsverhältnisse brachten auch verschiedene religiöse Erinnerungsorte hervor. III. Römisch-katholische Überlieferungen Lemberg spielt als Ganzes seit etwa 1650 für die polnischen Katholiken die Rolle eines religiösen, später nationalisierten Erinnerungsorts. Die Stadt galt als ein sicheres Bollwerk an den östlichen Grenzen sowohl des Christentums als auch des polnischen Königreichs – eines Staatswesens, das die polnische Adelsgesellschaft damals zusehends als ausschließlich katholisch und von äußeren und inneren, nicht-katholischen Feinden bedroht sah. Unter Bedrängnis der schwedischen und rußländischen Truppen, die mit Ausnahme des Südostens des Königreichs Polen das ganze Land erobert hatten, erklärte der polnische König Johann II. Kasimir am 1. April 1656 in der Lemberger Kathedrale die Gottesmutter Maria zur Patronin Polens und rief die gesamte Gesellschaft zum Widerstand gegen den Feind auf. Zugleich versprach er soziale Reformen. Dieses Ereignis wird unter dem Begriff der „Lemberger Gelübde“ (śluby lwowskie) erinnert. Nach den Teilungen Polen-Litauens, vor dem Hintergrund einer neuerlichen Besetzung der polnischen Ge82

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biete durch fremde Mächte, fand es im 19. Jahrhundert Eingang in die nationale polnische Erinnerungskultur – vermittelt durch die Literatur (Henryk Sienkiewicz, Stanisław Wyspiański) und Malerei (Jan Matejko). Der katholische Erzbischof von Lemberg reaktivierte 1904 die Tradition der „Lemberger Gelübde“, nun allerdings unter nationalen, gegen die vermeintliche ukrainische Bedrohung des als polnisch imaginierten Lemberg gerichteten Vorzeichen. Schließlich erklärte der Heilige Stuhl 1923 den 3. Mai – das Datum der Ausrufung der polnisch-litauischen Verfassung von 1791 – zum Feiertag der Gottesmutter Maria als Königin von Polen. Damit versuchte man Symbole der religiösnationalen Erinnerung und aufgeklärter Staatlichkeit zu einem mächtigen Gedenktag zu vereinen. Auch im postkommunistischen Polen gedachte man in national-patriotisch, katholisch-konservativ gesinnten Kreisen der „Lemberger Gelübde“ anläßlich ihres 350. Jubiläums erneut. Lemberg trägt überdies in der polnischen Erinnerungskultur die Bezeichnung urbs semper fidelis. Die Herkunft dieses religiös verbrämten Ehrentitels geht gleichfalls auf die Zeit der existenziellen machtpolitischen Bedrohung der Adelsrepublik in der Mitte des 17. Jahrhunderts zurück. Der polnisch-litauische Reichstag erhob die Stadt 1658 für ihre Tapferkeit bei der Verteidigung des Landes gegen den Feind, ebenso wie die historischen Hauptstädte Krakau und Wilna, in den Adelsstand. Der Reichstag begründete diesen Schritt zudem mit dem standfesten Glauben Lembergs gegenüber der Republik („stateczney wiary ku Nam y Rzpltey miasto Lwow“, latinisiert semper fidelis Poloniae). Im gleichen Jahr soll auch Papst Alexander VII. Lemberg für seine Schlüsselrolle bei der Verteidigung Europas und der Christenheit mit diesem Titel ausgezeichnet haben. Lemberg galt im 17. Jahrhundert als Vormauer, die die Christenheit vor den Bedrohungen aus dem Osten – Tataren, Osmanen und ukrainische Kosaken – schützte (antemurale christianitatis). Im 19. Jahrhundert war es die einzige Metropole, in der sich die polnische Kultur frei entfalten und dank des wirtschaftlichen Aufschwungs der Stadt sogar blühen konnte: Das semper fidelis gewann nun neue Bedeutung und wurde nationalisiert zur Treue gegenüber dem Polentum ausgedehnt. Diese Vorstellung von Lemberg als Inbegriff eines nationalen Bollwerks und einer Insel des Polentums im umgebenden ukrainischen Meer erhielt umso mehr Gewicht, je nachdrücklicher die aufstrebende ukrainische Nationalbewegung Ostgalizien und Lemberg nach 18�8 für sich reklamierte. Sie gipfelte im ukrainisch-polnischen Bürgerkrieg von 1918/19 und in der Zwischenkriegszeit, als man der Stadt als heroischer Verteidigerin des Vaterlandes den Orden Virtuti Militari verlieh. In dieser Funktion einer nach Osten vorgerückten Bastion des katholischen Polentums kehrte Lemberg erst nach dem Umbruch des Jahres 1989 mit zahlreichen Publikationen in die kollektive polnische Erinnerung zurück. Letztlich bildete die römisch-katholische Maria-Himmelfahrts-Kathedrale (neben Rathaus und Marktplatz) den konkreten baulichen und topographischen religiösen Mittelpunkt der als östliche Bastion des katholischen Polentums begriffenen Stadt, die seit 1414 auch Sitz eines katholischen Erzbistums war. Die Kathedrale diente von der Gegenreformation bis ins 20. Jahrhundert neben anderen katholischen Kirchen als sakraler Angelpunkt nicht nur religiöser, sondern seit dem 19. Jahrhundert auch national-patrio83

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tischer Feierlichkeiten und von Manifestationen des öffentlichen polnischen Lebens, die traditionell von Prozessionen und Gottesdiensten umrahmt wurden. Ihre hervorragende Bedeutung als national-religiöser Ort der polnischen Katholiken akzentuierte ihre Erhebung zur Metropolitan-Basilika im Jahr 1910. Auf diese Weise – wie auch mit anderen Kirchenbauten der Zwischenkriegszeit – unterstrich die römisch-katholische Kirche die katholische „Polonität“ (polskość) Lembergs gegenüber ukrainischen Ansprüchen. IV. Jüdische Erinnerungsorte Jüdische religiöse Erinnerungsorte der Stadt Lemberg sind ein Produkt ihrer konfrontativen Begegnung mit der christlichen Mehrheitsumgebung. Dies gilt etwa für die Synagoge „Goldene Rose“ (Di gildene Rojse) der jüdischen Innenstadt-Gemeinde von Lemberg. Sie wurde 1582 erbaut. 1603 beanspruchten die im Zeichen der Gegenreformation neu in die Stadt berufenen Jesuiten die Grundstücke im jüdischen Viertel. Nach einem Gerichtsprozeß, der bis 1606 beziehungsweise 1608 gedauert und in der Adelsrepublik hohe Wellen geworfen hatte, ließen sich die Jesuiten in einem anderen Teil der Stadt nieder: Die jüdische Lemberger Gemeinde konnte das Grundstück behalten, auf dem ihre Synagoge stand. Der städtische Rat und die jüdische Gemeinde wehrten sich in diesem Prozeß mit viel Aufwand gegen die Ansprüche seitens des Jesuitenordens, wobei sich die jüdische Gemeinde schließlich freikaufte. Jahre später begann sich um diesen Prozeß in verschiedenen Versionen die Legende zu ranken, die Frau eines der führenden Mitglieder der jüdischen Gemeinde, Rojse Nahman, die für ihre Schönheit berühmt war, habe unter Einsatz ihres Lebens die Synagoge vor den Jesuiten gerettet. Dies gab der Synagoge ihren Namen. Mindestens bis zum Ersten Weltkrieg gedachte die jüdische Gemeinde Lembergs jährlich dieser Errettung ihrer Innenstadt-Synagoge mit einem besonderen Gebet. Ein weiteres Ereignis interreligiöser Interaktion verankerte Lemberg in der jüdischen Erinnerung: Seit den 1570er Jahren, also mit dem Anbruch der Gegenreformation in Lemberg, kam es immer wieder zu Übergriffen der religiös fanatisierten katholischen Schuljugend gegenüber der jüdischen Stadtbevölkerung. Das „große Schülergeläuf“ im Jahr 166�, welches von Studenten des Jesuitenkollegiums ausging, verlief jedoch außerordentlich gewaltsam, forderte 129 jüdische Menschenleben und verwüstete das jüdische Innenstadtviertel. Dieses Ereignis blieb in der volkstümlichen jüdischen Erzählung bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts lebendig. Inwiefern auch der Chmeľnyc’kyj-Aufstand und seine brutalen, besonders auch antijüdischen Massaker (16�8/�9) spezifisch in die Lemberger jüdische Erinnerungskultur eingegangen sind, bedürfte eingehenderer Nachforschungen. Im Fall der jüdischen Gemeinde von Lemberg nahmen die damaligen Geschehnisse einen besonderen Verlauf, weil der Lemberger Magistrat sich weigerte, die Juden an die Aufständischen auszuliefern. Stattdessen bezahlte man ein hohes Lösegeld, an dem sich auch die jüdische Gemeinde beteiligen mußte. Dieser Vorgang blieb in der jüdischen historischen Erinnerung 8�

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Lembergs bis nach 1900 lebendig, wie die Schilderung durch den bekanntesten Chronisten der Lemberger Judengemeinde, Majer Bałaban, nahelegt, die Lemberg patriotisch zugeneigt ist. V. Orthodoxe/griechisch-katholische Erinnerungsorte Die ruthenisch-ukrainische, bis zum Jahr 1700 beziehungsweise 1708 orthodoxe, danach griechisch-katholische Konfessionsgemeinschaft Lembergs hatte ihr religiöses Zentrum vom 16. bis zum 19. Jahrhundert bei der Maria-Entschlafens-Kirche (Uspenie) und der gleichnamigen Laienbruderschaft, die das Patronat über die Kirche ausübte. Die Bruderschaft etablierte sich nach 1550 als politische, wirtschaftliche und religiöse Interessenvertreterin der ruthenischen Stadtnation, die deren Rechte gegenüber der dominanten katholisch-polnischen Konfessionsethnie der Stadt verteidigte. Dieser Konflikt verschärfte sich mit dem Anbruch der Gegenreformation in Lemberg, wobei die Einführung des Gregorianischen Kalenders (1582/8�) und der Abschluß der Kirchenunion von Brest (1596) zwischen Teilen der orthodoxen Kirche Polen-Litauens und Rom den Höhepunkt dieser Auseinandersetzung bezeichneten. Die orthodoxe Laienbruderschaft unterhielt überdies eine Schule und eine Druckerei, die durchgängig bis ins 19. Jahrhundert in Betrieb blieb, mithin die älteste ohne Unterbrechung tätige orthodoxe Druckerei Europas ist. Der religiöse und kulturelle Stellenwert der Lemberger Bruderschaft war in der ruthenischen Gesellschaft Polen-Litauens bereits in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts so weitreichend, daß sie die Unterstützung und Fürsprache aus Kreisen des ruthenischen Adels und der Kosakenschaft genoß. Aber auch die griechisch-orthodoxen Patriarchen aus Konstantinopel beförderten deren Status, indem sie sich die Laienbruderschaft 1586 direkt unterstellten (stauropegia) und aus der Jurisdiktion des lokalen Bistums herauslösten. Mit dem Beitritt der ruthenischen Stadtgemeinde zur griechisch-katholischen Kirche (1709) verwandelte sich die Bruderschaft in eine Vereinigung der Honoratioren der Lemberger Ruthenen, was sie auch während des 18. und 19. Jahrhunderts blieb. Die anhaltende Bedeutung der Uspenie-Bruderschaft für die ruthenische Lemberger Gesellschaft wurde 1787 deutlich, als ein kaiserliches Dekret kirchliche Institutionen im habsburgischen Herrschaftsbereich auflöste. Die Bruderschaft gelangte direkt an den Kaiser und erwirkte, daß sie als von der Kirche unabhängiges, weltliches „Stauropegial“Institut weiterexistieren konnte. Das „Stauropegial“-Institut behielt seine Funktion als wichtigster weltlicher kulturell-nationaler Kristallisationskern des Ruthenentums auch in der Anfangsphase der ukrainischen Nationalbewegung bei. Während der Revolution von 18�8 stellten die Honoratioren des Instituts neben der griechisch-katholischen Geistlichkeit ein Drittel der Mitglieder im politischen Koordinationsorgan der Ruthenen, im „Ruthenischen Hauptrat“ (Holovna rus’ka rada). Nach 1850 bildete das „Stauropegial“Institut den institutionellen Kern der konservativen, russophilen Richtung innerhalb der verschiedenen, miteinander im Wettkampf stehenden ukrainischen Nationalbewegungen. Als einziger religiöser Versammlungsort der Ukrainer in der historischen Altstadt 85

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von Lemberg bewahrte jedoch die Maria-Entschlafens-Kirche selbst in dieser Phase ihre übergreifende Bedeutung. Sie war Ausgangspunkt von politischen ukrainischen Massenveranstaltungen sowie von Prozessionen und Gedenkgottesdiensten, die nicht anders als bei den Lemberger Polen zunehmend als nationalisierte religiöse Manifestationen des ukrainischen öffentlichen Lebens funktionierten. Im ausgehenden 19. und im 20. Jahrhundert – besonders in der Zwischenkriegszeit, als es eine pro-polnische Option vertrat – begab sich das „Stauropegial“-Institut mit seiner russophilen Orientierung auf ein Nebengleis der ukrainischen Nationalbewegung und fiel deshalb aus der nationalisierten ukrainischen Erinnerungskultur späterer Zeit weitgehend heraus. Die Laienbruderschaft des 16./17. Jahrhunderts blieb dagegen von Interesse. Ihre Geschichte galt sowohl deren russophilen und „westrussischen“ Interpreten im 19. Jahrhundert als auch der ukrainischen Historiographie im Ausland sowie während gewisser Tauwetterphasen ebenso innerhalb der Sowjetunion als frühe Manifestation ukrainischen nationalen Bewußtseins, das sich gegen die katholische polnische Bedrückung wehrte. Diese anti-polnische/anti-katholische Stoßrichtung gilt noch für manche Interpretationen in der postsowjetischen Ukraine. Während man aber im 19. Jahrhundert und in der Sowjetukraine der Lemberger „Stauropegial“-Bruderschaft eine deutlich pro-russische Orientierung zuschrieb, erkennen neuere Deutungen in ihr eher einen historischen Beweis der kulturell-religiösen Westorientierung der Ukraine. Als anderer religiöser Erinnerungsort sticht die St. Georgs-Kathedrale nicht nur optisch aus der Lemberger Stadtsilhouette hervor. Sie wurde 17��/6� zusammen mit dem erzbischöflichen Palast in barockem Stil umgebaut, was die westliche Orientierung der griechisch-katholischen Kirche bezeugen sollte. Der Bau war ein Zeichen für die zunehmende Latinisierung und Polonisierung dieser Religionsgemeinschaft. Als Sitz des Metropoliten bildete die Kathedrale fortan das wichtigste religiöse Zentrum für die Griechisch-Katholiken, das allerdings außerhalb der historischen Altstadt lag. Die Bedeutung des St. Georgs-Hügel mit seiner Kathedrale hing eng mit der gesellschaftlichen Rolle der griechisch-katholischen Bischöfe und Metropoliten zusammen. Bei der Revolution von 18�8 hatte der „Ruthenische Hauptrat“ unter Leitung des griechisch-katholischen Bischofs auf dem St. Georgs-Hügel getagt und seine Postulate ausgearbeitet. Spätestens seit diesem Moment waren die griechisch-katholischen geistlichen Würdenträger als früher Keim einer ukrainischen Bildungselite nicht mehr nur religiöse, sondern zunehmend auch politische Vertreter, die mit wechselndem Erfolg – wegen großer Nähe zum russophilen Lager – die nationale Führerschaft bei den Ukrainern Galiziens beanspruchten. Insbesondere der Metropolit Andrej Šeptyc’kyj erfüllte diese Rolle eines Repräsentanten der ukrainischen Nation in Galizien. Weithin sichtbares Symbol für diesen Anspruch und für die Bedeutung der griechisch-katholischen Kirche in der westukrainischen Gesellschaft war der St. Georgs-Hügel. Insgesamt war die griechischkatholische Kirche jedoch ein regionales Phänomen, das sich auf die Westukraine beschränkte. Sie wurde 19�6 nach dem Anschluß der Westukraine an die Sowjetunion mit der russisch-orthodoxen Kirche zwangsvereinigt, in den Untergrund abgedrängt, ihr Klerus wurde verfolgt. Der St. Georgs-Hügel ging an die Orthodoxen über. Vor diesem 86

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Hintergrund umgab die griechisch-katholische Kirche in den Jahrzehnten der Sowjetherrschaft der Nimbus eines Martyriums. Trotzdem wurde der Hauptsitz der nach dem Untergang der Sowjetunion wiedererstandenen griechisch-katholischen Kirche 2004/05 in die ukrainische Hauptstadt verlegt, was einen Verlust religiösen Symbolgehalts Lembergs zugunsten von Kiew andeutet. VI. Multikonfessionelle Erinnerungsorte Vor dem Hintergrund des Zusammenlebens verschiedener Konfessionsethnien auf engem städtischem Raum brachte Lemberg auch religiöse Erinnerungsorte hervor, auf die sich verschiedene religiöse Gemeinschaften beriefen. Ein Beispiel dafür ist der bereits genannte Metropolit Andrej Šeptyc’kyj. Er genießt in der Westukraine seit den 1990er Jahren wiederum (und ohne Unterbrechung in der ukrainischen Emigration) große Popularität und Verehrung als Geistlicher sowie als nationale Führerfigur wegen seiner Standhaftigkeit gegenüber den Besatzungsmächten während des Zweiten Weltkriegs. Die offizielle sowjetische Politik hatte ihn und die griechisch-katholische Kirche in ihrer Gesamtheit zuvor über Jahrzehnte wegen der anfänglich deutschfreundlichen Haltung als Kollaborateure und nationale Verräter gebrandmarkt. Auf Betreiben kirchlicher Kreise in der ukrainischen Emigration wurde deshalb der Prozeß seiner Seligsprechung 1958 in Gang gesetzt. Nicht nur auf ukrainischer und katholischer Seite dauert die Diskussion an, welche Beurteilung Šeptyc’kyj gerecht werden könne. Sein Einsatz für die jüdische Bevölkerung Lembergs während der deutschen Besatzung, dem die Rettung von 150 bis 200 Menschen zugeschrieben wird, beschäftigt auch die jüdischen Instanzen, die zu entscheiden haben, ob er als „Gerechter unter den Völkern“ in die Gedenkstätte Yad Vashem Aufnahme finden soll. Damit ist Šeptyc’kyj zum Gegenstand zweier unterschiedlicher religiöser Erinnerungskulturen geworden. Die 1786 angelegte Lemberger Lyčakiv-Nekropole ist ein anderer Erinnerungsort, der von zwei national-religiösen Gedächtniskulturen beansprucht wird – in diesem Fall jedoch in ausschließendem Sinn. Die Lemberger Polen konnten den öffentlichen Raum der Stadt seit 1867 mit nationalen Denkmälern exklusiv besetzen. Demgegenüber boten den Ukrainern dafür nur Grabstätten auf dem Lyčakiv-Friedhof einen Ersatz. Beide nationale Gruppen gestalteten Begräbnisumzüge und die anschließenden Feierlichkeiten auf dem Friedhof im Gedenken an Angehörige ihrer jeweiligen kulturellen und politischen Eliten im ausgehenden 19. Jahrhundert zu nationalen Kundgebungen aus, an denen auf polnischer Seite mehrere tausend Menschen teilnahmen. Das religiöse Begräbnisritual unterlag dabei einer Nationalisierung. Während anfänglich noch die Vertreter kirchlicher Bruderschaften den Umzügen voranschritten, wurden sie in dieser Funktion in der Zwischenkriegszeit von Repräsentanten sportlicher und paramilitärischer Verbände abgelöst, die ganz dem nationalen Wettkampf verschrieben waren. In der Zwischenkriegszeit errichteten die Polen hier einen monumentalen Heldenfriedhof in Erinnerung an die polnischen „Lemberger Adlerjungen“ (Lwowskie Orlęta) und die „Verteidiger Lem87

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Briefmarke der Republik Ukraine zur Feier des 750. Jahrestages der Gründung Lembergs (2006). Die Briefmarke bezeugt die Rolle der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Geschichte der Stadt in der jüngsten ukrainischen Erinnerungskultur. Sie gibt einen Stich von Joris Hoefnagel wieder, der verändert zu Beginn des 17. Jahrhunderts auch im Werk Civitates Orbis Terrarum von Georg Braun und Frans Hogenberg in Köln veröffentlicht worden war. Bildnachweis: Privatarchiv Christophe von Werdt.

bergs“ (obrońcy Lwowa), die im ukrainisch-polnischen Bürgerkrieg für die Erhaltung Lembergs als Teil des polnischen Staates gefallen waren. Diese Tat wurde nahtlos in den historischen Mythos von Lemberg als Stadt semper fidelis eingefügt. Den für Lemberg gefallenen Polen gedachte man jeweils an einem ohnehin schon wichtigen katholischen Feiertag, an Allerheiligen (1. November), so daß religiöse und nationale Erinnerung sich gegenseitig verstärkten. Nach dem Zweiten Weltkrieg, im nun sowjetukrainischen Lemberg, verwahrloste der polnische Heldenfriedhof zusehends, wobei die sowjetischen Behörden dies bewußt geschehen ließen und die Wiederbelebung des Ortes durch die verbliebenen Lemberger Polen jeweils durch Einsatz der Miliz verhinderten. Anfang der 1970er Jahre machte man sich sogar daran, diesen Teil des Lyčakiv-Friedhofs mit schweren Baumaschinen dem Erdboden gleich zu machen. Interventionen zur Rettung des Friedhofs bei den zuständigen Organen Volkspolens und der Sowjetukraine wurden nur ausweichend oder gar nicht beantwortet, da die polnische Vergangenheit Lembergs offiziell ein Tabuthema war. Nach den politischen Umbrüchen der Jahre 1989/91 begann der Wiederaufbau des Friedhofs, wobei polnische Freiwilligen-Aktionen in Lemberg und die Wiederbele88

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bung der Erinnerung an den Ort durch Buchpublikationen den Anfang machten. Seit den 1990er Jahren wurde die Frage der Renovierung und der Wiedereröffnung des polnischen Heldenfriedhofs in Lemberg, die in den Kreisen der polnischen Vertriebenen und in den Medien emotional verfolgt wurde, mehrmals auf höchster politischer Ebene zwischen der Ukraine und Polen thematisiert. Gegen einen solchen Schritt wehrten sich vor allem die lokalen Stadtbehörden. Seit 1998 begann die ukrainische Seite mit einem eigenen Projekt einen erinnerungs-politischen Kontrapunkt zu setzen: Sie stellte dem polnischen Heldenfriedhof in unmittelbarer Nachbarschaft auf dem Lyčakiv-Friedhof eine Heldengedenkstätte für die Sič-Schützen und die Ukrainische Galizische Armee entgegen. Die offizielle Wiedereröffnung des polnischen Heldenfriedhofs durch die beiden Staatspräsidenten mußte mehrmals verschoben werden, da sie in Teilen der ukrainischen Öffentlichkeit und bei den Stadtbehörden Lembergs weiterhin auf Unverständnis stieß. Erst die „Orangene Revolution“ in der Ukraine und versöhnliche intellektuelle Stimmen, die Verständnis für die Sicht der jeweils anderen Seite auf die komplizierte ukrainisch-polnische Geschichte und besonders auch Lembergs aufbrachten, ebneten 2005 den Weg für die Einweihung des polnischen Heldenfriedhofs durch die Präsidenten der Ukraine und Polens. VII. Auswahlbibliographie SvarnyK, Ivan I./zubryc’KyJ, Denys I. (Hg.): Chronika mista Ľvova. [Chronik der Stadt Lemberg]. Ľviv 22006 [12002]; bałaban, Majer: Żydzi lwowscy na przełomie XVIgo i XVIIgo wieku [Die Lemberger Juden an der Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert]. Kraków 21990 [11906]; bałaban, Majer: Dzielnica żydowska. Jej dzieje i zabytki [Das jüdische Viertel. Seine Geschichte und seine Denkmäler]. Lwów 21990 [11909]; MaGocsi, Paul R. (Hg.): Morality and Reality. The Life and Times of Andrei Sheptyts’kyi. Edmonton 1989; horn, Maurycy: Społeczność żydowska w wielonarodowościowym Lwowie 1356–1696 [Die jüdische Gemeinschaft im multiethnischen Lemberg 1356–1696]. In: Biuletyn Żydowskiego Instytutu Historycznego w Polsce �1/1 (1991) 3–1�; podhorodecKi, Leszek: Dzieje Lwowa [Geschichte Lembergs]. Warszawa 1993; MelaMed, Volodymyr M.: Evrei vo Ľvove (XIII-pervaja polovina XX veka). Sobytija, obščestvo, ljudi [Juden in Lemberg (vom 13. Jahrhundert bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts). Ereignisse, Gesellschaft, Menschen]. Ľvov 199�; rubchaK, Marian Jean: From Periphery to Centre. The Development of Ukrainian Identity in Sixteenth-Century Lviv. In: Canadian Review of Studies in Nationalism 21/1–2 (1994) 1–9; fässLer, Peter (Hg.): Lemberg – Lwów – Lviv. Eine Stadt im Schnittpunkt europäischer Kulturen. Köln/Weimar/Wien 21995 [11993]; Werdt, Christophe von: Orthodoxe Bruderschaften in Polen-Litauen (bis zur Mitte des 17. Jh.). Gesellschaftlicher Aufbruch und kirchliche Emanzipation des ruthenischen Stadtbürgertums der frühen Neuzeit. Lizentiatsarbeit. Zürich 1995; bociurKiW, Bohdan Rostyslav: Ukrainian Greek Catholic Church and the Soviet State (1939–1950). Edmonton 1996; bartaL, Israel/poLonsKy, Antony (Hg.): Focusing on Galicia. Jews, Poles, and Ukrainians, 1772–1918. In: Polin. Studies in Polish Jewry 12 (1999); hiMKa, JohnPaul: The Construction of Nationality in Galician Rus’. Icarian Flights in Almost All Directions. In: Suny, Ronald Grigor (Hg.): Intellectuals and the Articulation of the Nation. Ann Arbor 1999, 109–164; MudryJ, Mar’jan (Hg.): Ľviv: Misto, suspil’stvo, kul’tura. Zbirnyk naukovych prac’ [Lemberg: Stadt, Gesellschaft, Kultur. Eine Sammlung wissenschaftlicher Arbeiten], Bd. 3. Ľviv 1999; czapLicKa, John (Hg.): Lviv. A City in the Crosscurrents of Culture. In: Harvard Ukrainian Studies 24 (2000); Kapraľ, Myron (Hg.): Pryvilejii nacionaľnych hromad mista Ľvova. XIV–XVIII st. [Privilegien der nationalen

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Die Marienburg I. Zusammenfassung. – II. Blütezeit und Niedergang. – III. Religiöse Absicherung der Expansion im 14. Jahrhundert. – IV. Deutsch-nationale Überblendungen im 19. und 20. Jahrhundert. – V. Ambivalenzen in der polnischen Rezeption der Marienburg. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Um 1280 als Komtursitz auf der wilden Wurzel, also ohne eine Vorgängersiedlung, gegründet und 1309 beziehungsweise 1324 zur Residenz des Hochmeisters des Deutschen Ritterordens erhoben, war die Marienburg im Spätmittelalter eines der wichtigsten politischen Machtzentren im Nordosten Europas. In der religiösen Absicherung des Großfürstentums Litauen, das dem Anspruch des Ordens nach großflächig christianisiert werden sollte, ist sie aber auch ein kirchlicher Erinnerungsort. Nach dem raschen politischen Niedergang des Deutschen Ordens im 15. Jahrhundert wurde das mächtige Bauwerk im 19. und 20. Jahrhundert zu einem deutsch-nationalen Symbol der mittelalterlichen Ostkolonisation. Diese Konnotation führte in Polen zu einer ambivalenten Wahrnehmung des Bauwerks: Einer instrumentalisierenden Darstellung der vom Deutschen Orden ausgehenden Bedrohung in literarischen und bildkünstlerischen Werken steht hier die denkmalgerechte Restaurierung nach 1945 gegenüber.

II. Blütezeit und Niedergang Seit 1309 erlangte die Marienburg als Residenz der Hochmeister des Deutschen Ordens größere Bedeutung. Damals war sie nicht nur der ideelle Mittelpunkt des Deutschordenslandes Preußen, sondern auch Nukleus seines ausgedehnten Herrschaftsbereichs im Nordosten Europas, ebenso bedeutend wie Krakau, Wilna oder Novgorod. Die Architektur der größten Backsteinburg des Kontinents diente mit der Parallelität ihrer Parchammauern, der Massivität der Türme und Tore, des Brückentors sowie der hochaufragenden monumentalen Kuben des Hoch- und Mittelschlosses und des Hochmeisterpalastes als weithin wahrnehmbare Machtdemonstration. Der polnische Chronist des 15. Jahrhunderts, Jan Długosz, berichtet über König Kasimir den Großen, daß er nach einem Besuch in der Marienburg im Jahr 1366, gleichsam überwältigt von der Wehrhaftigkeit der Anlage, seine Kriegspläne gegen den Orden aufgeschoben habe. Der Ordenschronist Wigand von Marburg vermerkt darüber hinaus, daß der König nicht nur durch die Mauern der Burg, sondern auch von den dort bewahrten Essensvorräten beeindruckt gewesen sei. Diese sowohl faktisch wehrhafte als auch symbolisch politische Rolle war allerdings auf die Burg begrenzt. Hier residierten im 14. und 15. Jahrhundert die Hochmeister des Deutschen Ordens und zwei der fünf sogenannten Großgebietiger als eine Art Berater91

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kreis um den Hochmeister, darunter der Großkomtur und der Großtreßler. Hier fielen die wichtigsten politischen Entscheidungen für Preußen und für den gesamteuropäischen Wirkungsbereich des Ordens. Zentrumsfunktion konnte dabei allein die Burg, nicht die Stadt beanspruchen. Preußen hatte keine Hauptstadt, und der vom Orden bewußt kleingehaltenen Stadt Marienburg haftete stets das Odium des Provinziellen an. Der kurzen Blütezeit folgte ein langer Niedergang. Bereits 1410, nach der Schlacht bei Tannenberg, büßten der Deutsche Orden und damit die Marienburg an Bedeutung ein. Mit dem Zweiten Thorner Frieden im Jahr 1466 wurde der Westen des Ordenslandes Preußen als sogenanntes Königliches Preußen polnisch. Die Hochmeister residierten fortan in Königsberg, das im Reststaat des Ordens lag; nach der Säkularisierung des Ordenslandes Preußen 1525 beschränkte sich das Wirken des Ordens immer exklusiver auf das römisch-deutsche Reich. Hochmeisterresidenzen waren bis 1809 Mergentheim sowie anschließend und bis zum heutigen Tag Wien. Bis zur ersten Teilung Polens 1772 war die Marienburg zwar formal eine königliche Residenz bei Reisen nach Norden, wurde aber nur selten vom König als solche besucht. Vielmehr diente sie als Staatsgefängnis. In der preußisch-deutschen Zeit bis 19�5 und unter der anschließenden polnischen Herrschaft erwies sich die Marienburg als ambivalenter Erinnerungsort, dessen von nationaler Rhetorik geprägte symbolische Überhöhung immer wieder auch von Abbruchwellen, so insbesondere in den Jahren 1772 bis 180�, geprägt war. Der weitreichenden Zerstörung 19�5 infolge sowjetischen Beschusses folgte bis 1961 eine Phase als Ruine. Anschließend wurde mit dem Wiederaufbau beziehungsweise mit Rekonstruktionsversuchen begonnen. III. Religiöse Absicherung der Expansion im 14. Jahrhundert „Ex luto Marienburg, Offen ex saxo, ex marmore Mediolanum“ – Marienburg aus Schlamm, Ofen aus Stein, Mailand aus Marmor. Dieser ieser seit dem 15. Jahrhundert bekannte Ausspruch verortet die Stadt und Burg an der Nogat, einem Weichseldeltaarm, semantisch in der Nachbarschaft der großen europäischen Residenzstädte. Zugleich hebt die Erwähnung des unsicheren Baugrunds (Schlamm), der auch mit dem Baumaterial (Ton) gleichgesetzt werden kann, die Leistung hervor, diesen unwirtlichen Lebensraum für die Christenheit erschlossen zu haben. Dieser Aspekt beeinflußt bis in das 20. Jahrhundert hinein die gesamte Rhetorik, die um das Monument herum entwickelt wurde. Dabei erfolgte die Verlagerung des Hochmeistersitzes von Venedig nach Marienburg im Bestreben, in einem eigenen Herrschaftsgebiet weder von der Gunst des jeweiligen Landesherrn noch von der des Kaisers oder des Papstes abhängig zu sein. Das Schicksal des Templerordens, dessen Eliten durch König Philipp IV., den Schönen, von Frankreich aus finanziellen und politischen Gründen der Häresie bezichtigt, hingerichtet und dessen Güter 1307 konfisziert wurden, war eine ernstzunehmende Warnung. Zwar ist aus dem Namen, wie ihn vergleichbar auch Marienburg in Livland, Marienburg in Siebenbürgen oder Christburg aufweisen, noch kein Anspruch auf eine Funktion 92

Die Marienburg

als religiöses Zentrum abzuleiten, jedoch bekräftigen Reliquien wie die Heiligkreuzreliquie in der Laurentiuskapelle der Vorburg die religiöse Absicherung des Herrschaftsanspruchs. Seit dem 13. Jahrhundert zog eine offenbar wundertätige Madonnenfigur im Marientor der Stadt zudem Pilger an. Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie an die Südwand der städtischen evangelischen Sankt Marienkirche transloziert und 1945 zerstört. Zeichenhaft war der unter Hochmeister Dietrich von Altenburg bis 1344 umfänglich ausgebauten Kapelle Sankt Marien an der Außenseite des Chorscheitels in einer Nische ein monumentales, von kostbarem Mosaik überzogenes Marienbild eingelassen worden. Weithin sichtbar und auch mit Blick auf die Namensgebung der Residenz signifikant dominierte das Bild die gesamte Ostfront der Burg. IV. Deutsch-nationale Überblendungen im 19. und 20. Jahrhundert Nach der Teilung Polens diente die seit dem Einzug der Jesuiten in das Hochschloß 1652 barock ummantelte Marienburg als preußische Kaserne. Nach einem Plan von David Gilly erwog man sogar, sie gänzlich abzubrechen. Infolge des durch den Literaten Max von Schenkendorf vorgetragenen Apells Über die Zerstörungswucht in Preußen (1803) wurde davon jedoch Abstand genommen. Eine Serie von Zeichnungen Friedrich Gillys machte die Burg europaweit berühmt. Schon 179� hatte Gilly zusammen mit seinem Vater David eine ausgedehnte Studienreise durch Ost- und Westpreußen unternommen, in deren Zusammenhang er die Ruine der Marienburg als preußisch-vaterländisches Monument in teilweise rekonstruierenden Zeichnungen festhielt. 1795 wurden die Blätter in Berlin ausgestellt. Ergänzt um weitere Zeichnungen von Martin Friedrich Rabe und Johann Friedrich Frick wurden sie als 19 Aquatintaradierungen 1799 von Frick in einem Bildband veröffentlicht. Die erhaltene Bausubstanz in der Regel realistisch wiedergebend, zeigen sie in einigen Fällen auch idealisierende Details, etwa Gewölbe mit schlanken Rippen und hohen Spitzbögen, die es so in der Tat nicht gab. Zugleich wurden die Darstellungen vielfach um romantisierende Staffagen ergänzt. Die Wirkung dieser Blätter für das zeitgenössische Architekturschaffen ist dabei nicht zu unterschätzen, kam es doch bald zu einer Wiederbelebung des Backsteinbaus in Norddeutschland. Seit 1817 wurde an der Rekonstruktion und Restaurierung der Burg gearbeitet. Dabei war die Marienburg das erste mittelalterliche Gebäude in Europa, das regulären denkmalpflegerischen Baumaßnahmen unterzogen wurde, unter anderem unter Mitwirkung von Karl Friedrich Schinkel und Joseph von Eichendorff, wodurch sich das nationalromantische Potential der Burg noch zugespitzt haben dürfte. Zwischen 1888 und 19�� wurde sie unter den Architekten Conrad Steinbrecht und Bernhard Schmid fertig saniert. Die gesamte Kampagne stand unter der politischen Prämisse, mit dem Monument „das Wesen des aus ganz Deutschland hervorgegangenen Ordensstaates [und damit] die Geschichte des deutschen Ostens überhaupt“ zu visualisieren. Tatsächlich spielte der Wiederaufbau der Marienburg eine ebenso große Rolle wie die Vollendung des Kölner Doms oder der Hochkönigsburg im Elsaß. 93

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Parallel zu diesen Maßnahmen setzte mit dem Essay des Historikers Heinrich von Treitschke, den dieser unter dem Titel Das Deutsche Ordensland Preußen 1862 publiziert hatte, die Glorifizierung des Deutschen Ordens und dessen Instrumentalisierung für die Tagespolitik ein. Spätestens seit der Reichsgründung 1871 schien das Streben nach dem deutschen Nationalstaat mit der polnischen Forderung nach Wiedererlangung der Unabhängigkeit in den Grenzen von 1772 unvereinbar. Demgegenüber versuchte man in unterschiedlichen Medien die Marienburg als Symbol für die deutsche Kulturarbeit und den Zug nach Osten zu etablieren. Ihre Silhouette war in den Schriften des 189� gegründeten Deutschen Ostmarkenvereins „Hakata“, der das Ziel einer Germanisierung der östlichen Provinzen des Reiches verfolgte, allgegenwärtig. Bei etlichen durch den Verein organisierten Ostmarkfahrten und Deutschen Tagen firmierten kostümierte Ordensritter als Garanten für das politische Programm Otto von Bismarcks, ganz nach dessen Motto „kein Fußbreit deutscher Erde soll verloren gehen“. Auch Kaiser Wilhelm II., der die als königliche Residenz erachtete Marienburg insgesamt fünfzigmal besuchte, nahm regen Anteil an deren Wiederaufbau und prägte durch seine offiziellen Reden ihr Bild als „Wallfahrtsort für jeden Deutschen, der an ihr sein Deutschtum neu beleben und bestärken soll“ (1922). Einen Höhepunkt erreichte die nationalpolitische Überhöhung der Marienburg während der Zeit des Nationalsozialismus. Zwar scheiterte die Idee des Umbaus der Burg zu einer nationalsozialistischen Eliteschule, einer „Ordensburg“ wie in Sonthofen und in Vogelsang, aufgrund des massiven Widerstands von Denkmalpflegern. Doch eignete sich die Marienburg nach wie vor hervorragend als Kulisse für quasireligiöse Inszenierungen: 1940 wurden die bei Tannenberg erbeuteten Ordensfahnen aus dem Wawel geborgen und auf die Marienburg „heimgebracht“, wobei der Danziger Gauleiter Albert Forster in seiner Rede wiederum eine religiöse und deutschnationale Rhetorik mit dem Erscheinungsbild des Bauwerks verband: „In diesem gewaltigen Bau an der Nogat war deutsche Wesenheit plastisch gestaltet.“ So stark die derart beschworenen Bilder auch sein mochten, so bezeichnend ist es, daß der Deutsche Orden und die Marienburg in der Zeit von 19�5 bis 1989 in der deutschen Öffentlichkeit lediglich eine marginale, auf den politisch rechten Rand und auf Vertriebenenkreise beschränkte Rolle spielte. Ausdruck dafür sind die Zeilen, die der Marienburger Baurat Bernhard Schmid 1946 noch kurz vor seinem Tod schrieb. Demnach sei das „Schicksal“ der Marienburg eng verquickt „mit der geistigen Höhe Deutschlands und seinem Untergang. Wenn Deutschland einst wiederersteht, wird ihm die Marienburg folgen.“ Sicherlich nicht auf die Marienburg und die damit verbundene Kontinuität eines „Drangs nach Osten“ bezogen, aber im Polen der Zeit doch entsprechend ausgedeutet und propagandistisch ausgewalzt wurde das Bild Konrad Adenauers im Deutschordensmantel anläßlich seiner Ernennung zum 12. Ehrenritter im Jahr 1958.

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Die Marienburg

Kaiser Wilhelm II. im Mantel des Johanniterordens auf dem Weg zur Marienburger Schloßkirche im Juni 1902. Anlaß des Besuchs war die Eröffnung des Hochschlosses nach der Renovierung. Die Johanniter stehen gleichsam für den Deutschen Orden, der – zu diesem Zeitpunkt in Wien ansässig und überdies katholisch – der Feier nicht beiwohnte. Im Hintergrund ist die Ende des 14. Jahrhunderts errichtete Ostfassade des Hochmeisterpalastes zu erkennen, im Mittelschloß geschmückt mit den mittelalterlichen Bannern des Ordens. Bildnachweis: Malbork, Muzeum Zamkowe w Malborku.

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V. Ambivalenzen in der polnischen Rezeption der Marienburg Im nationalen Diskurs Polens prägten die populären Werke der Schriftsteller Adam Mickiewicz und Henryk Sienkiewicz die Rezeption. Der 1828 in Petersburg erschienene Roman Konrad Wallenrod verarbeitete die Geschicke der historischen Figur des 1391 bis 1399 amtierenden Hochmeisters Conrad von Wallenrode. Die mit seiner Person verknüpfte martialische Maxime „das Ziel heiligt die Mittel“ verfolgte im Entstehungskontext des Werks eine eindeutig antirussische Stoßrichtung. Der Roman wurde im Verlauf des 19. Jahrhunderts mehrfach illustriert und dabei auch das Bild der Ordensritter entsprechend ausgemalt. Die Illustrationen Juliusz Kossaks, wie sie die 1890 in Lemberg erschienene Ausgabe bebildern, bestätigen bereits den Topos vom Ordensritter als grausamen Schänder, der mordend durch die polnischen Lande zieht. Möglicherweise angeregt durch das literarische Werk Mickiewiczs entstand das heute verschollene Gemälde Branka krzyżacka (Sklavin der Ordensritter) von Wojciech Gerson aus dem Jahr 1875. In der Zwischenkriegszeit wurde es bezeichnenderweise mit dem Untertitel „Zug der deutschen Kultur gen Osten“ belegt, eine Bezeichnung, die das Bedrohung signalisierende Ansehen des Deutschen Ordens noch weit bis in das 20. Jahrhundert hinein bestätigt. Nach 1945 spielte sich die erinnerungspolitische Instrumentalisierung des Deutschen Ordens jedoch tatsächlich auf anderen Bühnen als der Marienburg ab. Um im Rahmen nationaler Selbstvergewisserung den polnischen Triumph über den Deutschen Orden herauszustellen, wurde vielmehr das Schlachtfeld von Tannenberg als Erinnerungsort etabliert. Als die Marienburg 1945 über einen Zeitraum von vier Wochen von Soldaten der deutschen Wehrmacht in anhaltendem Feuergefecht verteidigt wurde (was in der damaligen Tagespresse das Bild der Burg als eines feuerspeienden Vulkans entstehen ließ), wurde ihre gesamte Ostfront vernichtet. 1945 bis 1950 war das annähernd zur Hälfte in seiner Bausubstanz zerstörte Ensemble dem Heeresmuseum in Warschau unterstellt worden. Ein Teil der Öffentlichkeit forderte die vollständige Abtragung der Anlage, die zum einen als Hort „hitlerisch-deutschordensritterlichen“ Verbrechens charakterisiert, die zum anderen aber auch als ein historisch wenig glaubwürdiges Ensemble angesehen wurde, dem sich die nationalromantisch geleiteten Rekonstruktionsbemühungen des 19. Jahrhunderts ganz maßgeblich eingeschrieben hatten. Nicht zuletzt meinte man, die Bausubstanz sinnvoll beim Wiederaufbau der kriegszerstörten polnischen Städte einsetzen zu können. Ein wichtiger Fürsprecher für den Erhalt der Anlage war der Kunsthistoriker Stanisław Lorentz, dem es trotz aller Ressentiments, die ihm das Kriegstrauma diktierte, im wesentlichen um die mittelalterliche Bausubstanz gegangen zu sein scheint. Seit 1961 errichteten polnische Denkmalschützer die zum Museum der Slawischen Kultur umfunktionierte Burg wieder. Dabei wurde sie einer maßgeblichen Umdeutung unterzogen. Den Auftakt machte eine bereits 1960 eröffnete Ausstellung über die Geschichte der Wojewodschaft, die „die Fälschungen und Mythen der deutschen Propaganda [zu] beseitigen“ suchte. Zu sehen waren Bildnisse polnischer Könige, Waffen und Rüstungen des polnischen Heeres sowie Interieurs des 17. und 18. Jahrhunderts. 96

Die Marienburg

Gleichzeitig waren jene die Ordensritterzeit verherrlichenden Wandgemälde des 19. Jahrhunderts übermalt worden. Der Wiederaufbau der Burg konnte mit deren Verflechtung mit der polnischen Geschichte begründet werden, ja mit dem Umstand, daß es maßgeblich Polen waren, die dem mächtigen Ordensstaat ein Ende bereitet hatten. Ein bereits 1959 einberufenes Komitee von Kunsthistorikern argumentierte zudem mit dem hohen architekturgeschichtlichen Rang der Anlage. 1973 waren die Arbeiten am Hoch- und Mittelschloß bereits weitgehend vollendet, wodurch die Burg zum meistbesuchten Denkmal Polens avancierte, dessen Besucherzahl im Jahr 2012 sogar jene des Königsschlosses in Krakau oder des Konzentrations- und Vernichtungslagers Auschwitz noch überstieg. Abgesehen von der Restaurierung der Schloßkirche und der mosaizierten Marienfigur, die man bereits in den 1970er Jahren aufgeschoben hatte, ist die Sanierung heute weitgehend abgeschlossen. Die Instandsetzung erfolgte unter genuin denkmalpflegerischen Gesichtspunkten; ebenso argumentierte man in dem 1997 gestellten Antrag auf Aufnahme des Ensembles in die UNESCO-Weltkulturerbe-Liste primär auf der Basis architektur- und kunsthistorischer Wertungen. Nachdem die damals noch ruinöse Anlage bereits 1950 vom polnischen Wanderverein PTTK übernommen worden war und schon im Sommer 195� täglich bis zu 3.000 Besucher gezählt wurden, kann man von der Marienburg als einer der größten touristischen Attraktionen Polens sprechen. Auch im Bildungskanon polnischer Schüler spielt sie im Kontext des Deutschen Ordens bis heute eine wichtige Rolle. Dabei wich die weitgehend negative Konnotation der Burg und des Deutschen Ordens als politischer Gegner Polens zugunsten einer Darstellung seiner kulturellen und künstlerischen Leistungen, etwa im Burgenbau. Volkstümliche Popularität genießt der Deutsche Orden bis heute im Kontext einer Nachstellung mittelalterlicher Schlachten, so jeweils am 15. Juli in Masuren, wo die Schlacht bei Tannenberg von 1410 unter Einbeziehung von Hunderten der Mitglieder von Rittervereinen und Tausenden von Zuschauern nachgespielt wird, wobei das Massenspektakel an sich im Vordergrund steht, bar jeder Ideologisierung oder nationaler Ressentiments. IV. Auswahlbibliographie dLuGossius, Joannis: Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae, liber 9/5 [bis 1370]. Varsaviae 1778; fricK, Friedrich (Hg.): Schloss Marienburg in Preußen, nach seinen vorzüglichen aeusseren und inneren Ansichten dargestellt. Berlin 1799; ders.: Historische und architektonische Erläuterungen der Prospecte des Schlosses Marienburg in Preußen. Berlin 1802; hirsch, Theodor u. a. (Hg.): Scriptores Rerum Prussicarum, Geschichtsquellen der preußischen Vorzeit bis zum Untergange der Ordensherrschaft, Bd. 1–5. Leipzig 1861–187�; schuLtz, J[ohann] C[arl]: Schinkel in Danzig. In: Zeitschrift für Bauwesen 18 (1868) 113–118; treitschKe, Heinrich von: Aufsätze, Reden und Briefe, Bd. 1–2. Meersburg 1929; schMid, Bernhard: Schinkel und die Marienburg. In: Geschäftsbericht des Vorstandes für die Herstellung der Marienburg. Königsberg 1932, 8–18; Feier der Einholung der Fahnen des Deutschen Ritterordens von der Burg zu Krakau, dem Sitz des Generalgouverneurs für die besetzten polnischen Gebiete in die Marienburg im Reichsgau Danzig-Westpreußen. Danzig 19�0; saleWsKi, W[ilhelm]

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Der Fürstenhof in Argeş I. Zusammenfassung. – II. Argeş – ein multifunktionaler Erinnerungsort und seine Legenden. – a) Die Gründungszeit der Ungrowalachischen Metropolie.. – b) Frühe Multikulturalität in der subkarpatischen Region. – c) Die Region von Argeş in Gründungslegenden. – d) Herrschaftslegitimation mit Bezug auf Argeş in der Frühen Neuzeit. – III. Konstruktion eines neuen Erinnerungsraumes im 19. und 20. Jahrhundert. – a) Argeş – ein mythischer Ort: Rekonstruktion des äußeren Rahmens. – b) Curtea de Argeş als Gedenkstätte der neuen Dynastie Hohenzollern-Sigmaringen. – c) Wiederbelebung der Verehrung der hl. Philophtheia. – IV. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Argeş, später als Fürstenhof und Sitz des orthodoxen Bischofs der Walachei Curtea de Argeş, ist mit seiner näheren Umgebung seit dem Mittelalter einer der ältesten politischen wie religiösen Erinnerungsorte Rumäniens. Argeş war bis 1517 der führende Fürsten- und Metropolitensitz der Walachei. Die symbolhafte Funktionalität dieses Orts wurde nach der Herrschaftsbildung um 1300 über mehrere Jahrhunderte hinweg von einzelnen Fürsten zur eigenen Legitimation neu gestaltet. Daran hatten im 16. und 17. Jahrhundert einige herausragende Woiwoden und in deren Gefolge auch die orthodoxe Kirche entscheidenden Anteil. Die Kultstätten in Argeş wurden zwar oft jahrzehntelang vernachlässigt, sie schienen dem Verfall preisgegeben, konnten aber durch fürstliche Zuund Neustiftungen immer wieder erneuert und so in der kollektiven Erinnerung befestigt werden. Eine intensive Legendenbildung um wundertätige Marienikonen, Reliquien von Neuheiligen und um Bauopfer sicherte Argeş einen Platz im Gedächtnis der Rumänen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert spielte Argeş erneut eine zentrale Rolle in der kulturellen Erneuerung. Diese neue Identitätsstiftung galt nun nicht mehr nur dem walachischen Fürstentum, sondern sollte alle Rumänen erreichen. In der kommunistischen Epoche wurde das orthodoxe Bistum Argeş aufgehoben. Der Staat kümmerte sich aber um die Erhaltung der bedeutenden Bausubstanz. 1990 erneuert, versucht das Bistum heute beispielsweise mit sozialen Werken, die die Namen der einstigen, aber inzwischen in Vergessenheit geratenen Neuheiligen Philophtheia, Nikodemus von Tismana oder Nephon tragen, eine betont moralisch-christliche Erinnerungsstrategie zu steuern. Die Verehrung der hl. Philophtheia ist seit ihrer Kanonisierung (1992) in der Klosterkirche erfolgreich wiederbelebt worden. Der christlichen schließt sich die nationale Memoria mit Michael dem Tapferen und den Gräbern der rumänischen Königsdynastie an.

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II. Argeş – ein multifunktionaler Erinnerungsort und seine Legenden a) Die Gründungszeit der Ungrowalachischen Metropolie Der kleine Ort Argeş, im gleichnamigen Flußtal am Fuß der Südkarpaten gelegen, gehörte neben dem benachbarten Câmpulung und der späteren Landeshauptstadt Târgovişte vom 13. bis zum 15. Jahrhundert zu den drei wichtigsten von verschiedenen Ethnien und Konfessionen bewohnten, festen Handelsorten, in denen im 14. Jahrhundert die gemauerten Fürstenhöfe und sogenannte Fürstenkirchen des vermutlich ersten walachischen Woiwoden Basarab I. und seiner Nachfolger Nicolae Alexandru und Vladislav I. errichtet wurden. Ob das abgelegenere Argeş oder das näher am internationalen Handelsweg nach Buda und Wien gelegene Câmpulung immer die Priorität innehatte, ist noch weitgehend ungeklärt. Argeş, als der besser geschützte, da weniger zentral gelegene Ort, vermehrte seine Aufgaben um die Mitte des 14. Jahrhunderts, als dort einer der drei Herrschaftssitze und ihnen benachbart je eine Fürstenkirche erbaut wurden, die zugleich als fürstliche Grablege dienten. Hinzu kam in Argeş noch der orthodoxe Bischofssitz für die Walachei, den der ökumenische Patriarch Kallistos I. dem jungen Herrschaftsgebilde 1359 zugestand. Im Gegenzug sollte sich das Fürstentum allein an Konstantinopel – und nicht an Rom – orientieren. Ob der Öikomenikus dabei auch an eines der neuen nationalen Patriarchate der Südslawen (Ochrid, Peć oder Tărnovo) dachte, bleibt in dem Schreiben offen. Die Kontakte der Walachei zu den südslawischen Bistümern waren im 14. und 15. Jahrhundert sehr eng. Aber mit Byzanz und dem Berg Athos verband diesen neuen Bischofssitz ebenso der Umstand, daß viele Metropoliten in der Frühzeit von dorther kamen; es waren Griechen, die hier vorwiegend griechische Formen des Kultus einführten. Einheimische finden sich noch lange Zeit eher selten unter den Metropoliten der Walachei. Die Reihe der Metropoliten von Argeş ist nicht lückenlos überliefert. Es gab des öfteren längere Vakanzen, was wahrscheinlich auch ein Grund für die Verlegung des Bischofssitzes an die jeweiligen Woiwodensitze in die neuen Hauptstädte Târgovişte beziehungsweise Bukarest war. Die Zuständigkeit des Metropoliten von Argeş erstreckte sich auch über die nördlich der Karpaten gelegenen Gebiete mit orthodoxen Gläubigen; seine Titulatur lautete „Exarch der gesamten Ungrowalachei und der Hochebenen“. Die erste Metropolitankirche der Walachei war wahrscheinlich die von den Woiwoden Nicolae Alexandru und Vladislav I. am Ort einer älteren Hofkapelle gestiftete Hofkirche St. Nikolaus, worauf auch das ikonographische Programm des Chorraumes hinzuweisen scheint. Fürst Vlad Dracul ließ um 1�39 in einiger Entfernung von der inzwischen baufällig gewordenen Metropolitankirche St. Nikolaus die neue Mariae Tod erbauen. Während eines Erdbebens zerstört, wurde sie 1517 an gleicher Stelle durch den prächtigsten Klosterkirchenbau der Walachei mit demselben Patrozinium ersetzt und vom Patriarchen Theolipt eingeweiht. Die neue Kirche, um die sich bald schon Legenden zu ranken begannen, ließ der Stifter Neagoe Basarab zu ihrem Schutz mit einer Klosteranlage umgeben und mit dem Salzzoll von Ocna Mică (bei Târgovişte) versehen, der 100

Der Fürstenhof in Argeş

bislang den katholischen Händlern von Argeş zugestanden hatte. Er und mehrere seiner Nachfolger auf dem Fürstenthron der Walachei brachten diesem Kloster immer wieder fromme Stiftungen dar – es waren vor allem Ikonen, Reliquien und besondere Messen, mittels welcher die Mönche durch ihre Fürbitten das Andenken der Stifter bewahren sollten. Neagoe Basarab und seine engere Familie fanden hier – wie vom Woiwoden geplant – ihre letzte Ruhestätte. 1517 verlegte dieser Fürst Hof und Bischofssitz von Argeş nach Târgovişte. 1660 wurde Bukarest zur Hauptstadt der Walachei; der amtierende Metropolit folgte dem Fürsten 1668 in die neue Residenzstadt nach. Das Bistum Argeş wurde erst 1793 wieder belebt, 1944 der Metropolie Râmnicu Vâlcea zugeschlagen und 1990 erneuert.

Der Fürstenhof übte auch an der Wende zum 20. Jahrhundert eine durch neue Medien ausgedrückte Austrahlung aus, wie diese Postkarte im neuromantischen Stil bezeugt. Bildnachweis: Postkarte um 1900, Privatarchiv Krista Zach.

b) Frühe Multikulturalität in der subkarpatischen Region Im 12. und 13. Jahrhundert ist in dieser Region von einer turanisch-rumänischen Bevölkerung mit kumanischer Führungsschicht auszugehen, die durch Orts- und Flußbezeichnungen sowie die Namen einiger Herrscher wie Litovoi, Thocomerius oder Basarab belegt ist. Die beiden zuletzt genannten schwankten zwischen katholischer und orthodoxer Konfession. Nach 1200 siedelten hier wie in Câmpulung, Piteşti, Râmnicu Vâlcea und Târgovişte auch deutsche und ungarische Kolonisten aus Siebenbürgen. Ihr wirtschaftlich, sozial und geistig konturiertes Leben ist im 14. und 15. Jahrhundert im Zusammenhang mit Handwerk und regionalem Fernhandel zwischen Donau und Hermannstadt gut belegt, doch nennen die Quellen später auch griechische und armenische Händler in dieser Region. Die kleine, dem hl. Nikolaus gewidmete romanische Kirche war eine der ersten Kirchenbauten in Argeş. Davon stehen heute nur mehr Ruinen. Sie befand sich nahe der 101

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später errichteten orthodoxen Hofkirche und wird mit den katholischen Bewohnern des Ortes in Verbindung gebracht. Diese gründeten ihre Gemeindekirche etwas später abseits des Fürstenhofes und weihten sie, typisch für Händlerniederlassungen, dem hl. Nikolaus. Für die katholischen Kolonisten ließ Papst Urban VI. 1381 in Câmpulung ein Bistum mit dem Titel Argesiensis und Sitz in dem um 1345 erbauten Franziskanerkloster zu „Unserer Lieben Frau“ (heute eine Ruine) errichten. Das neue Bistum am südlichen Karpatenrand sollte in der Zeit der ungarischen Anjou-Könige wie auch das sogenannte Kumanenbistum Milcovia die – allerdings wenig erfolgreiche – Mission unter den Heiden und Orthodoxen unterstützen. Der Bischofssitz verwaiste nach längerer Vakanz in der Reformationszeit im 16. Jahrhundert, wurde 1591 aber als Titular- und Missionsbistum mit Sitz im moldauischen Bacău reaktiviert. Bemühungen italienischer Missionare aus der Moldau waren um 1650 vor allem unter der inzwischen zum Luthertum oder zur Orthodoxie bekehrten deutschen und zum Kalvinismus übergetretenen magyarischen Bevölkerung der drei genannten Orte erfolgreich, blieben aber auch auf diese beschränkt. Katholische Ordenshäuser und Pfarreien blieben in der subkarpatischen Region bis zum 20. Jahrhundert erhalten. Der von serbischen Bauleuten um die Mitte des 14. Jahrhunderts auf Fundamenten der alten Holzkirche ausgeführte Bau der ersten orthodoxen Metropolitankirche St. Nikolaus bestätigte schließlich auch die konfessionelle Dominanz in dieser subkarpatischen Region östlich des Flusses Alt (rum. Olt). Baukörper und Innenmalerei verweisen auf Kunsttraditionen des Balkans. Vor wenigen Jahren wurde dieser für die Geschichte der Walachei exemplarische Kirchenbau zur Gänze renoviert. c) Die Region von Argeş in Gründungslegenden Die drei Orte Argeş, Câmpulung und Târgovişte blieben im Legendenschatz der Bewohner, ungeachtet der exakten historischen Chronologie, mit der Gründungszeit der Walachei eng verbunden. Im kulturellen Gedächtnis der Rumänen behielt besonders Argeş einen festen Platz. Sein Symbolwert als Wiege des walachischen Staates und des ersten orthodoxen Bischofssitzes wurde durch die religiösen Bauwerke, die Chronistik, die frommen Stiftungen der Woiwoden und zahlreiche Legenden aus späteren Jahrhunderten immer von neuem betont. Dazu trugen nicht nur die Mönche des Klosters, sondern auch eine Reihe von bedeutenden Persönlichkeiten der orthodoxen Ökumene bei, seien es griechische Mönche vom Berg Athos oder Hierarchen aus den östlichen Patriarchaten unter osmanischer Herrschaft. Dazu gehörten beispielsweise der Patriarch Nephon II. von Konstantinopel, dessen prächtiger, von einem Kronstädter Meister gearbeitete Silberschrein sich später in der Klosterkirche befand, oder Metropolit Makarios III. von Antiochien, der von einem syrischen Diakon, Paul von Aleppo, auf einer mehrjährigen Bittreise um Almosen für ihre notleidenden Kirchen, die sie auch in die Walachei führte, begleitet wurde. Paul von Aleppo überlieferte nicht weniger als acht solcher Legenden, die ihm die Mönche aus Argeş erzählt hatten – Legenden rund um den Klosterbau der 102

Der Fürstenhof in Argeş

1517 von Patriarch Theolipt von Konstantinopel neu eingeweihten Metropolitankirche zu Argeş und ihre Ausstattung mit wundertätigen Fundationsikonen der Gottesmutter und Berührungsreliquien von Neomärtyrern wie Nephon und Philophtheia. Paul überlieferte auch die Mär von der Beschaffung des kostbaren Marmors für den Bau dieser Klosterkirche, den sich Fürst Neagoe Basarab durch das Versprechen, im osmanischen Nachbarort Vidin an der Donau eine Moschee errichten zu lassen, vom Sultan erschwindelt habe. Dazu gehörte auch die Legende von der wundertätig gewordenen Gottesmutterikone, nachdem sie ein Jude angeblich mit dem Messer durchbohrt hatte. Von dem in mehreren Versionen auf dem ganzen Balkan verbreiteten Volksglauben über das Bauopfer eines Baumeisters, hier Manole, der zum Gelingen seiner Arbeit Ana, seine eigene Frau, einmauern musste, berichtete hundert Jahre später (17�6) der kretische Hierarch Neophit, der zeitweilig auch (wie schon Nephon der Athosmönch) als Metropolit der Ungrowalachei bekannt wurde. Reliquienkult und dementsprechend auch Handel mit Reliquien waren im 17. Jahrhundert nicht nur im Bereich der Orthodoxie weit verbreitet. Reliquien von Märtyrern der Urkirche konnten nicht von Konstantinopel kommen – es hat dort keine gegeben –, sondern aus dem Nahen Osten und, solche der Neuheiligen, vom Berg Athos wie auch von der Balkanhalbinsel. Vor allem griechische Mönche verfassten dazu neue Heiligenviten, oft mit Bezug auf namensgleiche, viel ältere Volksheilige und Märtyrer. Solch ein Fall liegt wahrscheinlich bei der Geschichte der bulgarischen Märtyrerin Philophtheia vor, von deren unversehrtem corpus im Kloster zu Argeş als erster Paul von Aleppo zu berichten wusste. Reliquien verschiedener „Heiliger“, mit denen die Argeşer Klosterkirche von Neagoe Basarab ausgestattet wurde, dienten nicht zuletzt dem Fürstenlob, sie sollten dessen herrscherliche Tugenden durch Kirchenbau und Erneuerungsarbeit wie auch dessen Fürsorge für das Heil seiner Untertanen bekräftigen. Besonders an den Hof- und Metropolitankirchen von Argeş, Câmpulung und Târgovişte ist dieses Mäzenatentum durch zahlreiche Neustiftungen des 16. und 17. Jahrhunderts bezeugt. Obwohl Neagoe Basarab die Metropolitankirche in Argeş erneuerte und zur Grabstätte seiner Familie bestimmte, ließ er auch in Târgovişte eine weitere Bischofskirche errichten. Ein bedeutender Herrscher und Mäzen des 17. Jahrhunderts, Matei Basarab, bedachte gleich alle drei durch die Gründungsgeschichte der Walachei miteinander verbundenen Orte mit frommen Stiftungen: neben Argeş waren das die Erneuerung der Bischofskirche in Târgovişte und der Bau von Negru-Vodă in Câmpulung. d) Herrschaftslegitimation mit Bezug auf Argeş in der Frühen Neuzeit Der Erinnerungsort Curtea de Argeş war vermutlich gerade wegen der realgeschichtlichen Brüche und Diskontinuitäten in der frühen historischen Überlieferung im 16. und 17. Jahrhundert dazu prädestiniert, zum mythischen Gründungsnukleus von Staat, Dynastie und orthodoxer Kirche der Walachei zu avancieren, und das umso mehr, als er 103

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seine anfängliche Trifunktionalität längst verloren hatte. Legenden schufen jetzt den Raum und den Rahmen für „geglaubte Realität“. Mehr oder weniger fiktive dynastische Traditionslinien wurden im Zusammenhang mit Argeş konstruiert. Aktuelle historische Ereignisse spielten dabei meistens eine gewichtige Rolle. Der Gründungslegenden um einen Radu-Negru und um Basarab I. bedienten sich später mehrere Fürsten der Walachei zur Legitimierung ihres Machtanspruches, nachdem die reale dynastische Traditionsfolge längst vergessen war. Nach einer Legende vom mythischen Staatsgründer Negru-Vodă, der von den Südkarpaten herabgestiegen sein (rum. a descăleca, im übertragenen Sinn gründen) und sich in Câmpulung niedergelassen haben soll, wurde hier im 13. Jahrhundert eine gleichnamige Kirche gebaut. Daß diese vielmehr von den ersten Herrschern der Walachei, Basarab I. und/oder Alexandru Nicolae errichtet wurde, und daß von ihnen auch um die Mitte des 1�. Jahrhunderts in Argeş die Hofkirche St. Nikolaus erbaut beziehungsweise erneuert und um einem Fürstenhof erweitert wurde, war schon im 16. und 17. Jahrhundert – wie auch die Namen der ersten Fürsten selbst – ungewiß. Im 17. Jahrhundert tauchte der legendäre Gründerfürst (rum. descălecător) Negru-Vodă, in den Quellen auch als Radu-Negru, wieder auf – was inhaltlich wohl als eine Verschmelzung mit einem anderen Fürsten der Frühzeit, Radu I., über den auch nicht viel bekannt war, zu deuten ist. Der Woiwode Matei Basarab ließ den Fürstenhof in Câmpulung zu einem Kloster mit Namen Negru-Vodă umbauen; die Anlage mit dem wuchtigen Torturm steht heute noch. Der aktuelle Bezug dazu war ein typischer Antezedenzstreit um ein benachbartes Grundstück, auf dem die Ruine einer katholischen Kirche stand. Deren Steine finden sich im gotisierten Torturm von Negru-Vodă noch heute. Auch der fürstliche Vorname Basarab spielte im 16. und 17. Jahrhundert in Legitimierungsfragen eine herausgehobene Rolle. Zunächst ohne als Name für die Dynastie der Nachfahren Basarabs I. verstanden zu werden, wurde er auf einen rezenteren Fürsten dieses Namens rückbezogen, als sich der Bastard Basarabs des Jüngeren, Neagoe, den fürstlichen Vornamen Basarab zulegte. Dann berief sich ein anderer, Matei Basarab, hundert Jahre danach zwecks Legitimierung auf seine Verwandtschaft mit diesem Fürsten Neagoe. Er konstruierte sich mit dessen Vornamen eine vermeintliche dynastische Tradition des walachischen Fürstenhauses Basarab, was besonders in seinen Urkunden mit Bezug auf Neagoes Klosterstiftung Argeş aufscheint. Er bestätigte diesem Kloster all seine alten Rechte beziehungsweise Liegenschaften, die ihm von griechisch-orthodoxen Einrichtungen entzogen worden waren. Wie im Falle des Klosters Argeş machte er durch zwei Erlasse (1639, 1640) noch zahlreiche andere „widerrechtliche Zueignungen“ walachischer Klöster an die Griechen im Osmanischen Reich rückgängig. Dynastische Ansprüche und Legitimationsverweise wurden durch fromme Stiftungen untermauert, die damals, wie auch beispielsweise Reliquien, wohlfeil vom Berg Athos und aus Kleinasien zu haben waren. In die Klosterkirche zu Argeş gelangten so Haupt und Arm des hl. Nephon vom Berg Athos, die Neagoe Basarab beschaffte, oder die Köpfe zweier frühchristlicher Märtyrer, Serghios und Vach, für deren Meßfeier Şerban Cantacuzino aus dem Griechischen ins Kirchenslawische übersetzte Texte stiftete. Die drei 104

Der Fürstenhof in Argeş

Fürsten – neben den hier Genannten auch Matei Basarab – wirkten für Restaurierungsarbeiten des Klosters, alle drei hatten ein gewisses Legitimitätsdefizit gut zu machen. Dennoch berichten die Quellen bis zum 19. Jahrhundert nichts von der Existenz eines besonderen öffentlichen Reliquienkults in Curtea de Argeş. Die Mönche sorgten mit ihrem Gebet und im Akt der orthodoxen Lithurgie wohl allein für das Seelenheil der fürstlichen Stifter, vermittelt durch Heilige und Märtyrer. Das sollte sich erst im 19. Jahrhundert ändern, als Curtea de Argeş zum Erinnerungsort mit neuer Qualität wurde – zu einer nationalen Gedenkstätte. III. Konstruktion eines neuen Erinnerungsraumes im 19. und 20. Jahrhundert a) Argeş – ein mythischer Ort: Rekonstruktion des äußeren Rahmens Curtea de Argeş tauchte im 19. Jahrhundert als ein mythischer Ort in der kollektiven Memoria der Rumänen wieder auf, als es auf Anregung namentlich des Kulturkritikers Titu Maiorescu darum ging, herausragende nationale Kulturgüter für die Nachwelt zu bewahren. Dazu gehörte an vorderster Stelle auch Argeş, denn inzwischen waren die kirchlichen und fürstlichen Monumente aus dem Mittelalter hier wie in den beiden anderen Orten aus der walachischen Gründerzeit verfallen oder in sehr schlechtem baulichen Zustand. Die St. Nikolaus-Kirche, deren Innenräume im Lauf der Jahrhunderte mehrfach übermalt worden waren, drohte einzustürzen, der Abriß schien unvermeidlich. Die Klosterkirche Mariae Tod wurde nach 1876 im Inneren von André Lecomte de Nouÿ nach dem damals modischen französischen Konzept des „einheitlichen Stils“ renoviert und von seinem Bruder Jean zum Teil übermalt. Sie bekam dadurch im Inneren ein im orthodoxen Kontext befremdlich wirkendes jugendstilähnliches Erscheinungsbild, während das Äußere noch weitgehend repariert werden konnte. Wieder instand gesetzt wurde ab 1911, und das auch mit Spenden aus der Bevölkerung, sodann die ehemalige Hofkirche St. Nikolaus, und zwar von einem Ingenieur namens Grigore Cerchez. In den siebziger Jahren des 20. Jahrhunderts konnte dank neuer Restaurierungstechniken auch die zum Teil auf das 14. Jahrhundert, die Zeit des VlaicuVodă, zurückgehende Innenmalerei der Kirche gerettet und ihre äußere Gestalt im Stil serbischer Kirchen wiederhergestellt werden. b) Curtea de Argeş als Gedenkstätte der neuen Dynastie Hohenzollern-Sigmaringen Den Auftrag zur Renovierung der Klosterkirche Mariae Tod hatte König Karl I. von Hohenzollern-Sigmaringen (1866 Fürst, nach 1881 König von Rumänien) selbst dem ihm freundschaftlich verbundenen französischen Architekten André Lecomte de Nouÿ erteilt. Das Herrscherpaar ließ sich in der Nähe dieser Kirche, in einer friedlichen und landschaftlich lieblichen Umgebung, auch ein kleines Palais erbauen. In seinem Testa105

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ment hatte Karl I. den Wunsch geäußert, wohl dort, „in der Nähe“ der von Lecomte de Nouÿ erneuerten Klosterkirche, seine letzte Ruhestätte zu finden. Über den Umstand, daß der König als Katholik nicht in einer orthodoxen Kirche bestattet werden könne, setzten sich Kultus- und Premierminister in Bukarest hinweg, Karl I. und sein Nachfolger Ferdinand wurden, nach privater katholischer Einsegnung im Königspalais, mit ihren Gattinnen in der Klosterkirche zu Curtea de Argeş beigesetzt. Damit wurde eine neue dynastische Traditionslinie von den Woiwoden der Walachei, die in Argeş ruhten beziehungsweise dort als Stifter verehrt wurden, zu den neuen, landfremden Königen aus deutschem Adel konstruiert. Ein Neuzugang war das Haupt von Mihai Viteazul, einem Woiwoden der Walachei, der auch bei den Balkanvölkern in griechischen und serbischen Legenden als Türkenkämpfer erinnert wird. 1599 von Kaiser Rudolf II. zu seinem Statthalter in Siebenbürgen berufen, wurde Mihai dort 1601 von einem Adelskomplott gemeuchelt, nachdem es ihm gelungen war, auch weite Teile der Moldau zu erobern. In der modernen Nationalmythologie gilt Michael als erster „Vereiniger“ der „drei rumänischen Fürstentümer“. Sein Haupt wurde beim Einzug der deutsch-österreichischen Truppen in Bukarest, im September 1916, aus seinem Schrein im Fürstenkloster Dealu bei Târgovişte entnommen und in die Moldau, später auf die Krim in Sicherheit gebracht. 1920 erfolgte unter der Ägide des Nationalhistorikers Nicolae Iorga die feierliche Neubestattung des Hauptes in der Klosterkirche zu Argeş. Damit wurde nicht zuletzt auch die fiktive rumänische Genealogie der Hohenzollern-Dynastie weiter verstärkt. Neu war auch, daß hier in der Klosterkirche zwei Patriarchen der Orthodoxen Kirche Rumäniens, Iustinian Marina und Teoctist – der zuletzt genannte mit sonst unüblichen, patriotischen Emblemen auf dem Marmorstein –, zur letzten Ruhe gebettet wurden. Während der Amtszeit des dem kommunistischen Regime in Rumänien nahe stehenden Teoctist waren immer wieder beträchtliche Mittel in die Restaurierung einiger exemplarischer religiöser Bauwerke geflossen, so nach Argeş und auf den Patriarchatshügel in Bukarest. Auch diese Renovierungen dienten der Begleitung der patriotischen Kulturpropaganda der Ceauşescu-Zeit durch die orthodoxe Staatskirche. c) Wiederbelebung der Verehrung der hl. Philophtheia Von der kindhaften bulgarischen Wohltäterin Philophtheia, welche die Armen in Notzeiten speiste und daher von ihrem Vater im Zorn getötet wurde, berichtete erstmals im späten 1�. Jahrhundert Patriarch Euthymios von Tărnovo in seiner Vita der Heiligen Philophtheia von Tărnovo. Eine griechische Version der Vita erzählt von einer keuschen griechischen Gattin. Einer Überlieferung aus dem orthodoxen Milieu nach soll ihr Leichnam zusammen mit jenen des hl. Ivan von Rila und der hl. Paraskeva vom Metropoliten Joasaf II. aus dem 1393 osmanisch gewordenen Tărnovo in seine Bischofsstadt Vidin an der Donau in Sicherheit gebracht und hier zum Schutz der Stadt eingesetzt worden sein. Hier habe sich alsbald ein Kult um die Reliquie der kleinen Fürsorgerin in einer neuen, 106

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der Paraskeva in Tŭrnovo vergleichbaren Funktion als Beschützerin der Bischofsstadt entwickelt. Über den Verbleib der Philophtheia in Vidin ist nichts bekannt. Vidin war seit 1365/66 in ungarischer Hand und fiel 1396, nach der von den Kreuzfahrern unter Kaiser Sigismund von Luxemburg verlorenen Schlacht bei Nikopolis, an die Osmanen. Auch andere bedeutende Reliquien verschwanden aus Vidin – die der Paraskeva der Neuen wurden in das Studionkloster nach Konstantinopel gebracht, Ivans in das bulgarische Rilakloster. Der Verbleib der Gebeine der Neomärtyrerin Philophtheia ist nicht geklärt. Dem festen Glauben der orthodoxen Kirche, es handle sich um die Volksheilige der Vita des Patriarchen Euthymios, widersprechen die Wissenschaftler. Sie meinen, der Leichnam in der Klosterkirche zu Argeş gehöre „einer anonymen lokalen Person“ (V. Barbu), Philophtheias Überführung nach Argeş sei eine Fabel der Mönche, deren inzwischen um neue Elemente angereicherte beide griechische Viten eine starke Verschmelzung mit der verbürgten Vita der Neomärtyrerin Paraskeva aufweise. Es habe vor dem 19. Jahrhundert keinen Kult, keine Wallfahrt, keine besondere Bekanntheit und keine fürstliche Bezugnahme auf Philophtheia von Argeş gegeben – hier handle es sich um ein klerikales Konstrukt. Es ist nicht bekannt, wann und unter welchen Umständen Philophtheia nach Argeş kam. Paul von Aleppo berichtet als erster, 1656 in Argeş den unversehrten, wohlriechenden Leichnam, der in St. Nikolaus als wundertätig verehrt werde, gesehen zu haben. An Philophtheia erinnern auch einige Fresken am linken Pfeiler des Naos von St. Nikolaus, wo diese Reliquie lange Zeit über aufbewahrt wurde. Allerdings entstanden die Fresken des Malers Radu, darunter eine Translatio-Szene, erst 1752, nach dem Besuch des kretischen Metropoliten Neophit in Argeş. Vom Martyrium der Philophtheia sind drei Versionen überliefert – die Vita der kleinen bulgarischen Wohltäterin aus der Feder des Euthymios (vor 1393), die Nacherzählung des Paul von Aleppo von 1656 und jene des Kreters Neophit von 17�6, der damals auch Metropolit der Walachei gewesen war. Schon Paul von Aleppo hatte ihr einen Tag im Synaxar zugeordnet, Neophit auch eine Wallfahrt – dokumentarische Quellen darüber fehlen jedoch. 179� berichtete eine Quelle, der Abt von Argeş und der zuständige Metropolit des wieder belebten gleichnamigen Bistums hätten sich an den Woiwoden Alexandru Moruzi mit der Klage gewandt, der Körper der Philophtheia sei aus ihrem Schrein gestohlen worden, woraufhin eine Suchaktion einsetzte. Sollte dieser vermeintliche Raub den amtierenden Fürsten lediglich an die vergessene Reliquie erinnern? Es erstaunt, daß die Vita des Euthymios, in bulgarischer Sprache verfaßt, erst 2009 nach einer modernen bulgarischsprachigen Version von 1971 ins Rumänische übersetzt wurde. Die 1992 in Rumänien kanonisierte Neomärtyrerin wird heute auch in Bulgarien und Serbien verehrt, ihr Gedenktag ist im Menaion der 7. Dezember. Ihr Kult aber ist eine Erfindung aus moderner Zeit. Das Erinnern an die dem Vergessen anheim gefallene Philophtheia erfuhr seit 1990 im Bistum Argeş eine deutlich sichtbare Wiederbelebung. Heute ist ihr Reliquienschrein zur Berührung im zentral gelegenen Torturm der Klosteranlage ausgestellt, und hier bitten 107

Krista Zach

viele, auch junge Menschen um ihren Beistand. Neben Fürbittgelegenheit und einer Wallfahrt fördert die orthodoxe Kirche in Philophtheias Namen beispielsweise auch sozialerzieherische Werke, wie etwa Kinderandachten oder einen orthodoxen Kindergarten. Das Theologische Institut in Piteşti wurde nach ihr benannt. Der Erzbischof von Argeş-Muscel formulierte kürzlich im Internet: Philophtheia „beschützt mit ihren Gebeten zum HERRN die Walachei, und rechtschaffene Gläubige verehren voller Andacht ihre Reliquien“. Zu Pfingsten findet in dem geschichtsträchtigen Ort Curtea de Argeş wieder ein volksfestartiges allgemeines Gedenken statt, das trotz schlechter Zufahrtsstraßen von Tausenden besucht wird. Wem das Gedenken – wenn nicht dem kulturhistorisch herausragenden Ort selbst – gewidmet ist, läßt sich dabei schwerlich ausmachen. IV. Auswahlbibliographie a) Viten, Chroniken, Legenden, Tagebücher Călătoria lui Paul de Alep. In: Călători străini despre ţările române [Die Reise des Paul von Aleppo. In: Ausländische Reisende durch die rumänischen Gebiete], Bd. 6. Bucureşti 1976, 21–307; netzhaMMer, Nikolaus/zach, Krista (Hg.): Raymund Netzhammer. Bischof in Rumänien. Im Spannungsfeld zwischen Staat und Vatikan. Bd. 1. München 1995; Viaţa şi pătimirea Sfintei Muceniţe Filoteia [Leben und Leiden der hl. Märtyrerin Philophtheia]. In: Viaţa şi Acatistul Sf. Cuv. Parascheva. Sf. Muc. Filoteia. O. O., o. J., �7–95; ciocioi, Gheorghiţă (Hg): Viaţa Sfintei Filofteia de la Târnovo – Viaţa Sfântului Eftimie de la Târnovo [Vita der hl. Philophtheia von Tŭrnovo – Vita des hl. Euthymios von Tărnovo]. Bucureşti 2009.

b) Untersuchungen und Quellen Jaffé, Franz: Die bischöfliche Klosterkirche von Curtea de Argeş. Berlin 1912; chihaia, Pavel: Din cetăţile de scaun ale Ţării Româneşti [Von den Fürstensitzen der Walachei]. Bucureşti 197�; drăGuţ, Vasile: Dicţionar enciclopedic de artă medievală românească [Enzyklopädisches Lexikon der rumänischen Kunst des Mittelalters]. Bucureşti 1976; Musicescu, Maria Ana/ionescu, Grigore: Biserica domnească din Curtea de Argeş [Die Fürstenkirche zu Curtea de Argeş]. Bucureşti 1976; chihaia, Pavel: „Negru Vodă“ – creaţie cărturărească a epocii lui Radu de la Afumaţi [„Negru Vodă“ – ein gelehrtes Konstrukt aus der Zeit von Radu de la Afumaţi]. In: ders.: Artă medievală. Bd. 2, Invăţături şi mituri în Ţara Românească. Bucureşti 1989, 226–233; păcurariu, Mircea: Istoria Bisericii Ortodoxe Române [Geschichte der Rumänischen Orthodoxen Kirche]. Bd. 1–3, Bucureşti 21991–1994 [11972]; PiPPidi, Andrei: About Graves as Landmarks of National Identity. Budapest 1995; barbu, Daniel: Rome, Byzance et les Roumains. Etudes sur la production politique de la foi en Moyen-Age. Bucureşti 1998; păun, Radu G.; Relicve şi putere în secolul al XVIII-lea românesc. Dosarul problemei [Reliquien und Macht bei den Rumänen im 18. Jahrhundert. Problemaufriß]. In: Studii şi materiale de istorie modernă 13 (1999) 113–12�; papacostea, Şerban: Evul mediu românesc. Relaţii politice şi curente spirituale [Das rumänische Mittelalter. Politische Beziehungen und geistige Strömungen]. Bucureşti 2001; ciocîLtan, Virgil: Inţelesul politic al „minunii“ Sfântului Nicodim de la Tismana [Der politische Hintergrund des von Nicodim von Tismana vollbrachten „Wunders“]. In: Studii şi materiale de istorie medie 22 (200�) 153–168; PiPPidi, Andrei: Régnier saintement. Examples et contre-examples dans les

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Der Fürstenhof in Argeş principautés roumaines. In: biLarsKy, Ivan/păun, Radu G. (Hg.): The Biblical Models of Power and Law. Papers of the International Conference. Bucharest 2005, �5–60; dJuvara, Neagu: Thocomerius – Negru Vodă. Un voivod de origine cumană la începuturile Ţării Româneşti [Thocomerius – Negru Vodă. Ein Woiwode kumanischer Herkunft am Beginn der Woiwodschaft Walachei]. In: ders. O scurtă istorie a românilor povestită celor tineri. Bucureşti 22007 [12001], ��–�8; ursprunG, Daniel: Herrschaftslegitimation zwischen Tradition und Innovation. Repräsentation und Inszenierung von Herrschaft in der rumänischen Geschichte der Vormoderne und bei Ceauşescu. Heidelberg 2007; barbu, Violeta: Purgatoriul misionarilor. Contrareforma în Ţările Române în secolul al XVII-lea [Das Purgatorium der Missionare. Die katholische Reform in den rumänischen Fürstentümern im 17. Jh.]. Bucureşti 2008; ciocîLtan, Alexandru: Contrareforma la Câmpulung. Noi documente [Die katholische Reform in Câmpulung. Neue Quellen]. In: Revista istorică 19 (2008) 1–2, 99–118; Câmpulung/Langenau, in: cantacuzino, Gheorghe I. u. a. (Hg.): Atlas istoric al oraşelor din România/Städtegeschichtsatlas Rumäniens. Seria B: Ţara Românească, Fasc. 2. Bucureşti 2008; MihaLache, Andi: Französische und englische Einflüsse auf die Denkmalpflege in Rumänien. In: soLoMon, Flavius/zach, Krista/brandt, Juliane (Hg.): Vorbild Europa und die Modernisierung Ostmitteleuropas im 19. bis 21. Jahrhundert. Münster 2009, 253–270; rădvan, Laurenţiu: At Europe’s Borders. Medieval Towns in the Romanian Principalities. Leiden/Boston 2010.

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Mariaberg in Leutschau I. Zusammenfassung. – II. Herkunft und Entstehung des Wallfahrtsortes. – III. Der Pilgerort in der Zeit der Reformation und Gegenreformation. – IV. Der Wallfahrtsort im langen 19. Jahrhundert. – V. Der Wallfahrtsort im ideologischen und politischen Kampf der Zwischenkriegszeit. – VI. Die kommunistische Zeit. – VII. Neue Blütezeit nach dem Fall des Kommunismus. – VIII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Im Jahr 1311 erhielt eine kleine Pilgerkirche bei Leutschau das Patrozinium des Heiligen Geistes der „Heimsuchung Mariens“. Mariaberg, bald der wichtigste Wallfahrtsort im nordöstlichen Ungarn, avancierte nach dem Zerfall der Habsburgermonarchie zu einer der beiden bedeutendsten Wallfahrtsstätten in der Slowakei. Seit den letzten Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts entwickelte sich der Ort zur meistbesuchten Pilgerstätte des Landes. Das Objekt der Verehrung der Pilger ist die gotische Statue der Jungfrau Maria, die auf dem 1922 geweihten neuen Hauptaltar steht. II. Herkunft und Entstehung des Wallfahrtsortes Im Unterschied zu den anderen Pilgerstätten mittelalterlichen Ursprungs in Ungarn existiert über Mariaberg keine Legende über eine Offenbarung der Jungfrau Maria, über die Erscheinung einer wundertätigen Statue oder eines Gnadenbildes. Der Ursprung der Wallfahrten bleibt ungeklärt. Die erhaltenen Chroniken und Inschriften in der Pfarrkirche in Leutschau deuten an, daß die Pilgertradition aus Dankbarkeit der Bewohner der Stadt zum Schutz vor der mongolischen Bedrohung 1241/42 entstanden ist. Die erste Kirche am Mariaberg wurde 12�7 erbaut und dem Heiligen Geist geweiht. Die Leutschauer unternahmen in der Folgezeit jährlich eine Wallfahrt dorthin. 1311 begann der örtliche Pfarrer Henry de Leucza mit dem Umbau des inzwischen der Jungfrau Maria geweihten Gotteshauses. Zu dieser Zeit befand sich in der Kirche eine Statue oder ein anderes Gnadenbild der Jungfrau Maria, das schon zu dieser Zeit die außerordentliche Verehrung der Gläubigen aus dem nordöstlichen Ungarn genoß. Im zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts plünderten Verbände der böhmischen Hussiten im Rahmen ihrer Auseinandersetzungen mit Kaiser Sigismund von Luxemburg die Stadt und zerstörten dabei die Pilgerkirche. 1�70 wurde das Gotteshaus umfassend umgebaut. Aus dieser Zeit stammt auch die bis heute erhaltene und verehrte Statue der Jungfrau Maria, die das ursprüngliche Gnadenbild oder die als wundertätig angesehene Statue ersetzte. Die Leutschauer Jungfrau Maria gehört zu den Spitzenwerken der gotischen Kunst auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Ihr unbekannter Autor wirkte in der Stadt noch vor dem bekannten Meister Paul von Leutschau. Die Statue zeigt die Jungfrau Maria im Moment ihrer Begegnung mit der heiligen 110

Mariaberg in Leutschau

Elisabeth, also „Mariä Heimsuchung“. Der Erlauer Bischof Georg Bársonyi erklärte sie 1671 zu einem gnadenspendenden Bildnis. Der Zipser Oberhirte Michael Leopold Brigido, der zuvor als Priester in Leutschau gewirkt hatte, bestätigte diesen Befund. III. Der Pilgerort in der Zeit der Reformation und Gegenreformation Die deutschen Städte in der Zips wurden schon ein paar Jahre nach Luthers Auftreten und der raschen Verbreitung seiner Lehren Zentren reformatorischer Bewegungen in Oberungarn. Im konfessionellen Zeitalter verlor der Pilgerort somit rasch jede Basis. Das Wallfahrtswesen kam mehrere Jahrzehnte lang vollständig zum Erliegen. Der nunmehr vorwiegend lutherische Stadtmagistrat verbot unter Strafandrohung sämtliche Prozessionen durch die Stadt. Dem städtischen Magistrat wurde befohlen, den gelegentlich noch in kleiner Zahl ankommenden Pilgern Einschränkungen aufzuerlegen. Der Kult der wundertätigen Statue konnte sich dennoch über die Reformationszeit hinweg auf lokaler Ebene halten, allerdings mit kleineren zeitlichen Unterbrechungen. Mit der Niederlassung der Jesuiten in Leutschau 1671 begann seine Revitalisierung im Zeichen barocker Frömmigkeitsformen. Trotz des Widerstands seitens des lutherischen Magistrats erneuerten die Jesuiten mit Unterstützung des Wiener Hofes und seiner Amtsträger in Ungarn die Pilgerkirche und die Wunderquelle. Seit 1681 übte der neuernannte römisch-katholische Leutschauer Pfarrer erneut das Patronat über den Wallfahrtsort aus. Die Verehrung der Jungfrau Maria war ein integraler Bestandteil der Pietas austriaca und der Volksfrömmigkeit im 17. und 18. Jahrhundert. Die Anbetung der Leutschauer Statue löste sich nach 1700 aus der Reihe der übrigen regionalen ungarländischen Wallfahrten und verbreitete sich über die Zips hinaus auch in andere Komitate. Mariaberg in Leutschau wurde der größte Wallfahrtsort im nordöstlichen Ungarn. Rund 30.000 Pilger reisten im Durchschnitt jährlich zum Fest der Heimsuchung Mariä. Dazu gab es jeden Sonntag und während der Sommermonate mehrmals in der Woche gut besuchte Wallfahrten und feierliche Gottesdienste. IV. Der Wallfahrtsort im langen 19. Jahrhundert Die josephinische Kirchenpolitik bemühte sich nach 1780 um die radikale Entfernung der traditionellen Frömmigkeitsformen und damit auch der üppigen barocken Festivitäten und Wallfahrten, die eine zentrale Rolle im Jahreskreislauf der katholischen Landbevölkerung eingenommen hatten. 1787 wurden die Wallfahrten nach Mariaberg durch ein Dekret Kaiser Josephs II. endgültig untersagt. Die gnädige Staue wurde in die Pfarrkirche von Leutschau übertragen, die Wallfahrtskirche selbst blieb mehrere Jahre geschlossen. Erst Kaiser Franz II. (I.) erlaubte während der napoleonischen Kriege die Rückkehr der Statue in die Kirche auf dem Mariaberg und die Wiederbelebung der Wallfahrtstradition. Die partielle Rehabilitation der im josephinischen Katholizismus verdrängten Frömmig111

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keitsformen führte schon sehr rasch zu einer Erneuerung der vorherigen Beliebtheit des Pilgerorts in ganz Nordostungarn. Das Areal um die Pilgerkirche wurde dabei ständig erweitert. 1819 rekonstruierte man die 1766 gebaute Barockkirche von Grund auf und stattete sie neu aus. In den 1850er Jahren baute man ein Haus für die Beichtväter an den zentralen Wallfahrtstagen. An der Straße nach Mariaberg entstanden fünf Kapellen mit Szenen aus dem Leben Marias. Auch die prachtvolle Lindenallee entlang der Pilgerstraße wurde in dieser Zeit gepflanzt. Die Linde wird in der römisch-katholischen Marienverehrung als Baum der Muttergottes verehrt. Seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts wuchs die Beliebtheit des Mariabergs auch unter den griechisch-katholischen Gläubigen gleich welcher Muttersprache, die einen bedeutenden Anteil der Bevölkerung der nordöstlichen Peripherie des Königreichs Ungarn darstellten. Wegen der intensiven Akkulturationsprozesse zwischen beiden katholischen Riten und konkret infolge der Ausbildung des östlichen, griechisch-katholischen Klerus in römisch-katholischen Priesterseminaren, der Attraktivität der katholischen barocken Festivitäten, aber auch mangels eigener Wallfahrtsorte in Oberungarn kamen die griechisch-katholischen Gläubigen in ständig wachsender Zahl nach Mariaberg. Die Gottesdienste im byzantinisch-slawischen Ritus wurden zuerst in einer kleinen Kapelle auf dem Mariaberg abgehalten. 18�7 wurde für ihre Bedürfnisse eine eigene hölzerne Kapelle eingeweiht. Im ethnisch und konfessionell gemischten Nordostungarn wiesen auch die Wallfahrten einen ausgeprägt pluralistischen Charakter auf. Bei Gottesdiensten, Predigten und anderen Frömmigkeitsformen wurde und wird das Slowakische und das Deutsche, aber auch das Ruthenische und das Ungarische benutzt. Während der ungarländischen Millenniumsfeierlichkeiten im Jahr 1896 wurde das Projekt einer neuen monumentalen Wallfahrtskirche vorgestellt. Die Fundamente wurden 1904 geweiht, mit dem Bau begann man aber erst zwei Jahre später. Finanzielle Engpässe und das schwierige Bauterrain verzögerten die Fertigstellung bis 1914. Der Ausbruch des Ersten Weltkriegs verschob die Vollendung der Ausschmückung des Kircheninneren und die Kirchweihe dann um weitere acht Jahre.

V. Der Wallfahrtsort im ideologischen und politischen Kampf der Zwischenkriegszeit Die Einweihung der neuen Kirche am 2. Juli 1922 erfolgte unter gewandelten staatsrechtlichen und politischen Bedingungen. In der Tschechoslowakei wurden die dem Königreich Ungarn bis dahin loyalen Bischöfe mit zunächst zögerlicher Genehmigung Roms durch neue Amtsträger ersetzt. Der neue Zipser Bischof Ján Vojtaššák konnte die Feier der Kirchenweihe zur Konsolidierung seiner Autorität nutzen. Die Verehrung der Leutschauer Jungfrau Maria spielte eine wichtige Rolle im politischen Kampf der autonomistisch gesinnten, konservativen und vorwiegend römisch-katholischen politischen slowakischen Eliten mit der offiziellen tschechischen, liberalen und als „hussitisch“ oder „atheistisch“ wahrgenommenen Politik. 112

Mariaberg in Leutschau

Neue politische und religiöse römisch-katholische Eliten in der Slowakei knüpften an die emotional tief eingewurzelte Tradition der Verehrung der Jungfrau Maria als Königin Ungarns an. Diese wurde allmählich als Patronin auch der slowakischen Nation verehrt. Während des Episkopats von Vojtaššák wurde aus Mariaberg in Leutschau der bedeutendste Wallfahrtsort der Ostslowakei. Dies zeigte sich während der Jahreswallfahrt 19�7, an der im Zeichen bereits massiver stalinistischer Repression über 130.000 Pilger teilnahmen. Bischof Vojtaššák machte sie aus Besorgnis vor den wachsenden Restriktionen der totalitären Staatsmacht gegen die katholische Kirche zu einer Manifestation der slowakischen Katholiken und auch der slowakischen Nation gegen die neuen Machthaber. VI. Die kommunistische Zeit Nach der kommunistischen Machtübernahme führten die Verfolgung der katholischen Hierarchie und die Obstruktion der Wallfahrten durch die staatlichen Behörden zu einem empfindlichen Rückgang der Besucherzahlen. Im Juli 19�8 fand die letzte Pilgerfahrt unter der Teilnahme des Zipser Bischofs Vojtaššák statt, der im September 1950 verhaftet und wenig später zu einer langjährigen Gefängnisstrafe verurteilt wurde. 1949 hatte man die Wallfahrt auf dem Mariaberg wegen einer angeblichen Fleckfieberepidemie verboten; ein Jahr später wurde sie durch die Staatsmacht allerdings überraschend wieder genehmigt. Die Staatsbehörden, Polizei und Geheimdienst überwachten allerdings deren Vorbereitungen und den Verlauf. Das Programm der Wallfahrt, die Auswahl der Priester, des Hauptpredigers sowie die Beichtväter und deren Anzahl unterlagen der Genehmigung der staatlichen Überwachungsorgane. Die weltlichen Veranstaltungen, die diese Festivität traditionell begleiteten, wurden abgeschafft, die päpstlichen Fahnen und der Gesang der slowakischen Hymne untersagt. Jede Form der Propagierung, Anzeigen etwa in der ohnehin stark eingeschränkten katholischen Presse, waren verboten; man organisierte besonders für die jüngeren Generationen zum Wallfahrtstermin verschiedene, von der Wallfahrt ablenkende Pflichtveranstaltungen. Während der Wallfahrt überwachte die Staatssicherheit den Verlauf, das Verhalten der Pilger und das Auftreten der Geistlichkeit. Zur Zeit des Höhepunktes der kommunistischen Repression wurde Leutschau der größte Pilgerort der Slowakei. Zu Beginn der 1950er Jahre, als andere Wallfahrtsorte von nicht mehr als 1.500 Gläubigen besucht wurden, pilgerten zur Leutschauer Jungfrau Maria jährlich Zehntausende und damit beinahe so viele wie in der Zwischenkriegszeit. Priester wie Jozef Ligoš, Štefan Garaj und Štefan Klubert, die phasenweise auch im Untergrund wirkten, führten die Wallfahrten in der Zeit der Verfolgung fort. Der „Prager Frühling“ bewirkte eine Lockerung der staatlichen Maßnahmen gegen die öffentlichen Frömmigkeitsformen. Die Aufsicht blieb zwar erhalten, die Staatsorgane behinderten die Pilger in den Jahren 1968 und 1969 aber kaum. 1969 wurde die Pilgerfahrt mit der Feier des 1.100. Jubiläums des Todes des heiligen Kyrill verknüpft. Bei dieser Gelegenheit wurden in der Pilgerkirche feierlich Reliquien des Slawenapo113

Peter Šoltés

Die Photographie zeigt ein Pilgerlager von Jugendlichen und Studenten zur Pfingstwallfahrt 1998 um die Marienkirche in Leutschau. Die Übernachtung möglichst nahe der Kirche soll an mittelalterliche Praktiken anknüpfen und mystische Erlebnisse fördern. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

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Mariaberg in Leutschau

stels gezeigt; die Messe wurde zum ersten Mal auf dem erhöhten Podium vor mehr als 200.000 Teilnehmern zelebriert. Mit dem Beginn der sogenannten Normalisierung erneuerten sich 1970 die Obstruktionen seitens der Staatsmacht. Die einzelnen Maßnahmen konnten jedoch die wachsende Anziehungskraft des Wallfahrtsortes, an dem neben dem marianischen nunmehr auch der kyrillomethodianische Kult begangen wurde, kaum mindern. Die Zahl der Pilger sank bis zur politischen Wende der Jahre 1989/90 jährlich nie unter 100.000 und verzeichnete somit in jenen Jahren einen wachsenden Trend. Die Wallfahrten nach Mariaberg in Leutschau gehörten zu den wichtigsten Formen des Widerstands der Bevölkerung gegen die Verletzungen der religiösen Freiheiten und waren eine Manifestation der starken Verankerung weiter Teile der Bevölkerung in der katholischen Kirche. Das Prestige der Pilgerkirche wurde durch ihre Erhöhung zur Basilica Minor durch Papst Johannes Paul II. 198� bekräftigt. VII. Neue Blütezeit nach dem Fall des Kommunismus Aus dem Mariaberg über Leutschau wurde in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts der größte und wichtigste Wallfahrtsort der Slowakei. Diese Tatsache zeigte sich in vollem Ausmaß nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes. 1990 besuchten den Mariaberg fast 500.000 Pilger aus der gesamten Slowakei, aber auch aus Mähren, Böhmen, Ungarn und Österreich. Die einzigartige Stellung wurde durch eine Visitation von Papst Johannes Paul II. 1995 sanktioniert. Mariaberg in Leutschau wurde am 3. Oktober 2005 Mitglied des Europäischen Verbands der Marianischen Wallfahrtsorte und zählt damit zur gleichen Gruppe wie die global ausgerichteten Pilgerzentren in Lourdes, Mariazell, Tschenstochau und Fatima. VIII. Auswahlbibliographie StraKa, Ján: Hora levočská [Der Leutschauer Berg]. In: Pútnik svätovojtešsk�. Kalendár pre katolíckych Slovákov v Uhorsku (1915) 77–8�; ders.: Ján: Pútnické Miesta. Hora Levočska [Wallfahrtsorte. Der Leutschauer Berg]. In: Pútnik svätovojtešsk�. Kalendár pre katolíckych Slovákov v Uhorsku (1922) 108–117; MedvecKý, Karol A.: Naše pútnické miesta [Unsere Wallfahrtsorte]. In: Pöstényi, Ján (Hg.): Katolícke Slovensko. Na pamiatku tisícstoročného jubilea blaženého zvestovania kristovej viery nášmu národu slovenskému, keď založil prvú kresťanskú svätyňu slovensk� knieža Pribina v Nitre 833–1933. Trnava 1933, 451–454; feKete, Štefan: Vznik, rozloženie a v�znam slovensk�ch pútnick�ch miest. Príspevok ku kultúrnej geografii Slovenska [Entstehung, Einteilung und Bedeutung slowakischer Pilgerorte. Ein Beitrag zur kulturellen Geographie der Slowakei]. In: Národopisn� sborník 8/3 (19�7) 125–143; JuriK, Rudolf: Mariánska Hora v Levoči [Mariaberg in Leutschau]. Levoča 19�8; PaJdušáK, Matúš: Mariánska Hora v Levoči. K 700. v�ročiu najväčšieho vsl. pútnického miesta [Mariaberg in Leutschau. Zum 700. Jahrestag des größten Wallfahrtsortes in der Ostslowakei]. In: Svojina 2/6–9 (19�8) 152–158; Tóth, Melinda (Hg.): Documenta artis paulinorum, Bd. 2. Budapest 1976, 31�–3�5; Coreth, Anna: Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. Wien 1982; HaberMas, Re-

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Peter Šoltés bekka: Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in den frühen Neuzeit. Frankfurt/ Main 1991; DünninGer, Hans: Wallfahrt und Bilderkult. Würzburg 1995; Knapp, Éva/TüsKés, Gábor: Volksfrömmigkeit in Ungarn. Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturgeschichte. Dettelbach 1996; DLuGoš, František: Prenasledovanie katolíckej cirkvi za komunizmu v zrkadle levočsk�ch pútí [Die Verfolgung der katholischen Kirche im Kommunismus im Spiegel der Leutschauer Wallfahrten]. Levoča 2000; ders.: Sluha Boží, biskup Ján Vojtaššák a jeho vzťah k Mariánskej hore v Levoči [Der Diener Gottes, Bischof Jan Vojtaššák und seine Beziehung zum Marienberg in Leutschau]. Levoča 2000; Lenčiš, Štefan (Hg.): Púte a putovanie [Wallfahrt und Wandern]. Košice 2006; DLuGoš, František: 760 rokov Mariánskej hory v Levoči (12�7–2007) [760 Jahre Mariaberg zu Leutschau (12�7–2007)]. Levoča 2007; Ganczar, Natalia: Súčasné prejavy mariánskeho kultu na príklade pútí do Tuchowa a Levoče [Zeitgenössische Formen der Marienverehrung am Beispiel der Wallfahrten von Tuchow und Leutschau]. In: Slovensk� národopis 55/2 (2007) 159–179.

Peter Šoltés

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Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz I. Zusammenfassung. – II. Geschichte des Ortes. – III. Kazimierz als Ort jüdischer Gelehrsamkeit. – IV. Kazimierz als Hort des frommen, konservativen Judentums. – V. Wandel der Perspektive durch die Schoah. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Stadt Kazimierz, eine Gründung Kasimirs des Großen vor den Toren Krakaus, wurde gegen Ende des 15. Jahrhunderts zu einem jüdischen Wohnort und blieb dies bis zum Zweiten Weltkrieg. Vor allem unter der Herrschaft der Jagiellonen blühte die jüdische Gelehrsamkeit in der Stadt auf, die damit Krakau zu einem Zentrum des jüdischen Geisteslebens, insbesondere der Talmudgelehrsamkeit, machte. Mit dem politischen Niedergang Polen-Litauens im 17. Jahrhundert verfiel zwar auch Kazimierz zunehmend, doch blieb die Stadt ein wichtiger jüdischer Erinnerungsort. Im 19. Jahrhundert wurde die jüdische Bevölkerung in mehreren Schritten auch in der Wahl des Wohnorts gleichgestellt. In Kazimierz verblieben seit dieser Zeit vor allem die religiösen, besonders aber die ärmeren Juden. Die Gemeinde bekam ein vorwiegend chassidisches Gepräge. Es gab jedoch auch Elemente der Moderne. So entstand damals beispielsweise die progressive Synagoge, der sogenannte Tempel. Die deutsche Besetzung im Zweiten Weltkrieg führte zur Vernichtung der Krakauer Juden; von den ehemals rund 64.000 jüdischen Bewohnern überlebten nur annähernd �.000. Nach Kriegsende wurde Kazimierz zu einem großteils verwahrlosten Stadtviertel. Erst in den letzten zwei Jahrzehnten des 20. Jahrhunderts begannen größere Sanierungsarbeiten. Seither erblüht ein eigenes kulturelles Leben in Kazimierz, das heute in vielen Facetten aufschimmert. II. Geschichte des Ortes Kazimierz war zuerst eine selbständige Stadt, eine Gründung König Kasimirs des Großen aus dem Jahr 1335, eine Zwillingsstadt und Konkurrenz für Krakau. Zu Kasimirs Regierungszeit gab es eine beachtliche Einwanderungswelle von Juden nach Polen, vor allem aus Böhmen und den deutschen Territorien. Erste jüdische Bewohner sind in Kazimierz im 14. Jahrhundert belegt; zu einem jüdischen Wohnort wurde die Stadt jedoch erst gegen Ende des 15. Jahrhunderts, nachdem aufgrund eines Stadtbrands die meisten Juden Krakau verlassen hatten – weil sie 1495 von König Jan I. Olbracht zwangsweise nach Kazimierz umgesiedelt wurden, da man ihnen den Brand anlastete, oder weil sie in Kazimierz nach dem Brand neue Wohnflächen erhielten. Bis zum 19. Jahrhundert blieb Kazimierz der Wohnort der Krakauer Juden, die trotz verschiedener Einschränkungen weiterhin Handel in Krakau trieben. Sie bewohnten allerdings nur 20 Prozent der Fläche der Stadt, die sonst von Christen besiedelt war. Im 16. Jahrhundert, dem „Goldenen Zeitalter“ Polens 117

Maria Kłańska

und der polnischen Kultur, entwickelte sich Kazimierz zu einem in der ganzen jüdischen Welt bekannten Ort der talmudischen Gelehrsamkeit, wo anerkannte Rabbiner lebten und eine berühmte Jeschiwa sowie hebräische Druckereien bestanden. Nach und nach wurden Synagogen in Kazimierz gebaut: 1�07 die Kupa-Synagoge, danach die Alte Synagoge, die Remu-Synagoge sowie die Hohe Synagoge, im 17. Jahrhundert die Ajzyk-Synagoge und die Popper-Synagoge; hinzu kamen das seit 1�85 nachgewiesene Ritualbad (mikwe) und ein jüdischer Marktplatz (1�88 erwähnt). Mit dem politischen Verfall Polens im 17. Jahrhundert verfiel auch Kazimierz, infolge mehrerer Kriege und Aufstände wurde die Stadt fast vollständig zerstört. Ihre jüdische Bevölkerung betrug vor den Teilungen PolenLitauens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts etwa �.200 Einwohner. Im Jahr 1800, also bereits unter österreichischer Herrschaft, wurde Kazimierz in die Stadt Krakau eingemeindet. Während der kurzen Zeit der Freien Stadt Krakau von 1815 bis 18�6 wurden die Ghettomauern abgerissen, so daß sich viele Juden auch im bisher christlichen Teil des Stadtviertels ansiedeln konnten. Man erlaubte vermögenden und auch weltlich gebildeten Juden, ihren Wohnort in Krakau frei zu wählen; allerdings betraf diese Regelung nur 196 Personen. Die Verfassung der österreich-ungarischen Monarchie von 1867 räumte dann allen Staatsbürgern, also auch Juden, das Recht der freien Niederlassung ein. Die Gemeinde in Kazimierz wurde zwar von Chassidim dominiert, doch bestand grundsätzlich eine gewisse Vielfalt religiöser Haltungen. Es entstand die progressive Synagoge, der sogenannte Tempel. Ein Teil der Krakauer Juden, darunter jener aus Kazimierz, begann den Zionismus zu unterstützen. Bis 1939 wahrte Kazimierz seine Rolle als Zentrum, um das sich das gesellschaftliche, ökonomische und kulturelle Leben der Krakauer Juden konzentrierte, auch für die außerhalb des Viertels wohnende jüdische Bevölkerung. Mit Beginn der deutschen Besatzung Polens im September 1939 setzte die Verfolgung und Vernichtung der Krakauer Juden ein. 19�1 richtete man im Stadtviertel Podgórze ein Zwangsghetto ein. Im benachbarten Ort Płaszów legten die Deutschen auf dem Gelände des neuen jüdischen Friedhofs ein Konzentrationslager an, in das 1943 die arbeitsfähigen Bewohner des Ghettos eingesperrt wurden. Die Pläne, Kazimierz vollständig niederzureißen, wurden in Angriff genommen, konnten aber nicht mehr umgesetzt werden. Nach Kriegsende wurde Kazimierz zu einem in weiten Teilen menschenleeren, verfallenen Stadtviertel, lediglich die kleine Remu-Synagoge blieb in Betrieb. In der restaurierten Alten Synagoge richtete man ein jüdisches Museum ein. Ende der 1980er begann man mit größeren Sanierungsarbeiten. Allmählich entstand ein eigenes kulturelles Leben, das sich von 1988 an um die „Festspiele der Jüdischen Kultur“, ab 1993 um das „Zentrum Jüdischer Kultur“ der Stiftung Judaica und seit 2008 auch um das „Jewish Community Centre“ (JCC) konzentriert. III. Kazimierz als Ort jüdischer Gelehrsamkeit In der Blütezeit Polens unter der Herrschaft der Jagiellonen blühte auch in Kazimierz die jüdische Gelehrsamkeit auf, die damit das jüdische Krakau zu einem Zentrum des jüdi118

Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz

Die Photographie zeigt einen Ausschnitt der sogenannten Klagemauer, die nach dem Zweiten Weltkrieg auf dem Friedhof von Kazimierz „Remu“ aus zerbrochenen Grabsteinen errichtet wurde. Bildnachweis: Privatarchiv Stefan Rohdewald.

schen Geisteslebens machte. Die Juden in Kazimierz wurden stets als Krakauer Juden bezeichnet, und als solche sahen sie sich auch selbst. Der 2009 gestorbene Chronist des Krakauer jüdischen Lebens, Henryk Halkowski, urteilte, daß viele Menschen den alten jüdischen Friedhof von Kazimierz – neben demjenigen von Safed in Galiläa – als den wichtigsten jüdischen Friedhof der Welt ansahen. Der polnische König Sigismund der Alte erweiterte die Selbstverwaltung der Juden über den Bereich der Gemeinde hinaus; er ließ Polen in vier jüdische Selbstverwaltungsprovinzen einteilen. Einer seiner Nachfolger, Stefan Batory, richtete 1579 eine Generalvertretung der polnischen Juden, den „Vierländersejm“ (Waad Arba Arcot), ein, der diese Selbstverwaltung auf gesamtstaatlicher Ebene organisierte. Eine dieser vier Provinzen war Kleinpolen, das beim Waad meistens durch Krakauer Rabbiner und Gemeindeälteste vertreten war. Im 16. Jahrhundert kamen viele jüdische Flüchtlinge nach Krakau, besonders aus den deutschen Territorien und den böhmischen Ländern, die die jüdische Gemeinde ökonomisch, aber auch intellektuell bereicherten. Die religiöse Toleranz im Polen der Renaissance hatte zur Folge, daß gerade in der Hauptstadt Krakau die Humanisten häufig Dispute mit gelehrten Juden führten. 153� öffnete in Krakau die erste jüdische Druckerei in Polen ihre Pforten. Sie wurde von den Brüdern Schmuel (Samuel), Ascher und Eliachim Halicz, Einwanderern aus Prag, geführt. In der Druckerei erschienen nicht nur hebräische, sondern auch jiddische Bücher. 119

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Nach dem wirtschaftlichen Scheitern ihres Unternehmens erteilte der polnische König 1568 dem italienischen Juden Isaak ben Aharon Prostitz das Recht, hebräische Bücher zu drucken. Diese Druckerei, die bis 1629 bestand, brachte rund 340 Werke heraus. Vermutlich schon Ende des 15. Jahrhunderts wurde in Kazimierz die erste Jeschiwa gegründet, deren Ruf fromme und wissenshungrige junge Männer aus ganz Europa anlockte. Im Mittelpunkt der jüdischen Gelehrsamkeit befand sich die rabbinische Literatur, die verschiedene Methoden der Talmudauslegung prägte. In Krakau wurde die sogenannte Pfeffer-Methode entwickelt, die jedes Thema von verschiedenen Seiten ausleuchtete, indem eine These, Antithese und Synthese erstellt wurde. Sie wurde jahrhundertelang zur Klärung strittiger Fragen verwendet und besonders vom Gründer der Krakauer Jeschiwa, Jakub ben Josef Polak, propagiert, der seit 1503 Oberrabbiner für ganz Kleinpolen war. Der erste jüdische Gelehrte in Krakau, der namentlich bekannt ist, war Jom Tow Lipman aus Mühlhausen, Autor des berühmten apologetischen Bibelkommentars Nitzachon. Er lebte von 1�00 bis 1�25 in Krakau. Der bereits genannte Jakub ben Josef Polak hatte in Nürnberg und Regensburg studiert, wurde Rabbiner in Prag und kam als Schwiegersohn des Geldhändlers und Steuereinnehmers Efraim Fischel nach Krakau, wo er bald zum Oberhaupt der Krakauer Gemeinde aufstieg. Polak, der zu den wegen des Krakauer Brandes von 1494 verhafteten Juden gehört haben soll, zog 1495 mit den Seinen nach Kazimierz. 1503 ernannte ihn der polnische König in Anerkennung seiner Verdienste in litteris mosaicis legisque Mosaicae zum Rabbiner von Krakau und ganz Kleinpolen (nach manchen Quellen sogar zum Rabbiner von ganz Polen). Polak hinterließ keine eigenen Werke, was in der Legende auf seine große Bescheidenheit zurückgeführt wurde. Einer seiner Schüler, Schalom Schachne, gründete später die Lubliner Jeschiwa, in der der künftige Krakauer Gelehrte und Rabbiner Moses Isserles studieren sollte. Der berühmteste der Krakauer Rabbiner war Moses ben Israel Isserles, bekannt auch unter dem Akronym „RaMA“ (nach der galizischen Aussprache „ReMU“), unter dem er in Krakau die größte Bekanntheit erlangte. Sein Grab auf dem alten jüdischen Friedhof wurde von den Nationalsozialisten nicht vernichtet, was fromme Juden auf Isserles’ wundersame Kraft zurückführen. Die bis heute für Gottesdienste genutzte kleine RemuSynagoge in Kazimierz war von Isserles’ Vater, dem wohlhabenden, in Krakau wirkenden Kaufmann Israel Isserl aus Regensburg, im 16. Jahrhundert gestiftet worden. Moses Isserles war Gründer und Leiter einer berühmten Jeschiwa, die aus der ganzen Welt Schüler anzog, dazu Rabbiner und vor allem ein wichtiger Kodifikator der jüdischen Gesetze. Er wurde berühmt durch seinen Kommentar zu der Sammlung religiöser Vorschriften Schulchan Aruch (Gedeckter Tisch) von Josef Karo, Mapah (Tischtuch), aber auch durch Werke wie Mechir Jain (Der Preis des Weins), einen Kommentar zum Buche Esther, Darke Moscheh (Wege des Moses), Torat haChachat (Thora des Sündenopfers) oder Torat haOla (Thora des Brandopfers). Die Aufschrift auf seinem Grabmal auf dem alten jüdischen Friedhof neben der Remu-Synagoge, zu dem bis heute fromme Juden wallfahren, verkündet, daß es „von Moses bis Moses“ keinen wie diesen Moses gegeben habe, was ihn mit Maimonides, den er ebenfalls auslegte, und sogar mit dem Begründer des Mosaismus auf eine Stufe stellt. 120

Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz

Der Ruf dieser und weiterer Gelehrter und Lehrer bewirkte eine gewaltige Anziehungskraft. So wurde Krakau – und das war in diesem Zusammenhang faktisch Kazimierz – im 16. Jahrhundert zu einem Mittelpunkt der talmudischen, teilweise auch der kabbalistischen Gelehrsamkeit im auch sonst durch die Werke jüdischer Theologie berühmten Polen. Dies hatte zur Folge, daß Kazimierz bereits im 17. Jahrhundert ein wichtiger religiöser Erinnerungsort wurde. Der Chronist Nathan Hannover, der nach den Massakern im Rahmen des Aufstands von Bohdan Chmeľnyc’kyj 16�8 sein Klagebuch Jawein Mezulah (Tiefer Sumpf) verfaßte, äußerte sich darüber wie folgt: „Allgemein Bekanntes bedarf keines Beweises, niemals gab es irgendwo so viel Thora in der ganzen Diaspora wie im Land Polen.“ Auch als Kazimierz und ganz Polen-Litauen infolge der polnisch-schwedischen Kriege und, im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts, der Teilungen Polens gänzlich verfielen, blieb die Stadt doch im kulturellen Gedächtnis des Judentums als ein wichtiger Ort der Blüte jüdischer Gelehrsamkeit und des eifrigen Thorastudiums erhalten. IV. Kazimierz als Hort des frommen, konservativen Judentums In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts war die Blütezeit von Kazimierz unstrittig vorbei, seine Vergangenheit wurde im ganzen Judentum mit Respekt und manchmal auch mit Nostalgie erinnert. Seit die Verfassung der Habsburgermonarchie den Einwohnern mosaischen Glaubens Gleichstellung gewährte, siedelten sich immer mehr Juden in anderen Stadtvierteln Krakaus an, besonders in dem Arbeiterviertel Podgórze, die wohlhabendsten auch am Hauptmarkt. Es waren vor allem europäisch akkulturierte, religiös liberale Juden, die Kazimierz verließen, während die Frommen größtenteils in ihrem traditionellen Wohnbezirk blieben. 1815 hatte der chassidische Rebbe Kalman Epstein das erste chassidische stibl im Zentrum von Kazimierz errichtet. Seitdem entfaltete sich der Chassidimus in Krakau. 1832 wurde der orthodoxe Rabbiner Dow Ber Meisels zum Oberrabbiner von Krakau ernannt, ein polnischer Patriot, der als Anhänger polnischnationaler Bestrebungen gegen die russische Fremdherrschaft in Polen seinerseits zur Erinnerungsfigur geworden ist. Seine Wahl wurde von den Krakauer chassidim, die den wohlhabenden Kaufmann Saul Raphael Landau zum Krakauer Rabbiner erklärten und nur dessen Autorität anerkannten, nicht gebilligt. Entschieden wurde der Streit zugunsten der chassidim unter Landaus Nachfolger, dem ultraorthodoxen Juden Simon Sofer, 1861 bis 1883 Oberrabbiner von Krakau. Die Krakauer chassidim waren allerdings untereinander nicht einig – es gab unter ihnen Anhänger der Zaddikim von Bobowa, Bełz, Aleksandrów, Góra Kalwaria und Radomsko. Sofers Enkel, Josef Nehemia Kornitzer, war der letzte Oberrabbiner Krakaus vor dem Zweiten Weltkrieg, sein Sohn Samuel Schmelke sollte der Schoah zum Opfer fallen; er wurde in Auschwitz getötet. Vom 19. Jahrhundert bis zum Jahr 1939 war Kazimierz ein Ort beispielloser jüdischer Armut und beengter Wohnverhältnisse. Zahlreiche Werke in vielen Sprachen belegen diesen Sachverhalt, so etwa die Darstellungen Krakau (18�0) von Theodor Mundt, Ein121

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drücke aus Galizien (1909) von Theodor Lessing und das Krakau-Kapitel aus Alfred Döblins Reise in Polen (1926). Westjüdische Reisende, die Krakau besuchten, waren erschüttert von der zivilisatorischen Rückständigkeit der dortigen Juden, andere wiederum nachhaltig beeindruckt von der Frömmigkeit und inneren Integrität des Ostjudentums. Freilich gab es auch in Kazimierz Anzeichen des Fortschritts und der Modernisierung. Schon in der Zeit der Freien Stadt Krakau bestand eine kleine Gruppe von Aufklärern, zu der vor allem Ärzte wie Filip Bondy, Jonatan Warschauer und Jozef Oettinger gehörten, aber auch der Kaufmann Abraham Gumplowicz, der 1839 die erste Leihbibliothek in Kazimierz mit polnischen und deutschen Büchern eröffnete. Die Krakauer maskilim gründeten 18�0 einen religiös-zivilisatorischen Verein sowie 18�8 einen Klub zur Förderung der geistigen und materiellen Interessen der Israeliten. 1858 bis 1861 wurde in Kazimierz die Reformsynagoge Tempel der progressiven Gemeinde gebaut, in der auf Deutsch und auf Polnisch gepredigt wurde. Ihr berühmtester Rabbiner war in der Zwischenkriegszeit der Zionist Ossias Jehoschua Thon, der im Auftrag der jüdischen Minderheit auch Abgeordneter im polnischen Parlament war und selbst zu einer Erinnerungsfigur des polnischen Judentums geworden ist. Vor allem zu Beginn des 20. Jahrhunderts und in der Zwischenkriegszeit wurden moderne, für die damalige Zeit zum Teil hoch komfortable Gebäude errichtet, wie die Gebethäuser der „B’nei Emuna“ (heute Zentrum Judaica in der Meiselsa-Straße), der „Scheirit B’nei Emuna“, der „Chewra Thilim“, das Gemeindehaus, das jüdische Krankenhaus, das Hebräische Gymnasium, ein Studentenhaus, Waisenhaus und Altersheim. Als sichtbares Zeichen stand Kazimierz vor allem für die jüdische Tradition. Davon zeugten beispielsweise die religiösen Beit-Jakov-Handwerksschulen und das Lehrerinnenseminar der Sara Schenirer, dazu die zahlreichen chedorim für die Jungen. Jedes Jahr pilgerten am Tag des Lag Baomer, dem Todestag von Isserles, zahlreiche Juden aus ganz Polen zum alten Friedhof an der Remu-Synagoge (der neue, heute noch offene Friedhof wurde 180� in der Miodowa-Straße angelegt), um die Gräber des ReMU und anderer Rabbiner zu besuchen und ganztägig zu beten. Jüdischer Armut konnte man auf den beiden Marktplätzen in Kazimierz, dem Neuen Platz und dem Fischmarkt vor der „IsaakSynagoge“, begegnen. Oft waren Traditionalismus und Moderne eng beieinander anzutreffen, was besonders die moderne Kleidung neben dem traditionellen Kaftan veranschaulicht. In der Literatur bis 1939 fungierte Kazimierz zusammen mit dem Lemberger und Wilnaer Judenviertel sowie zahlreichen stetlech als ein Symbol des traditionellen, frommen, von der modernen, insbesondere nichtjüdischen Umwelt in seiner Kultur und Glaubenswelt hermetisch abgeschlossenen Judentums. V. Wandel der Perspektive durch die Schoah Durch die Schoah wurden die Stätten des vor dem Zweiten Weltkrieg in Polen und ganz Osteuropa so vitalen jüdischen Lebens zu bloßen Erinnerungsorten. Während die jüdische Gemeinschaft in Krakau vor 1939 etwa ein Viertel der Stadtbevölkerung aus122

Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz

machte, waren es nach dem Krieg höchstens noch 6.000 Juden, die größtenteils aus der Sowjetunion heimgekehrt waren, darunter maximal 2.000 Juden aus Krakau. Die meisten davon emigrierten im Rahmen der Auswanderungswellen von 19�8, 1957 und 1968. Heute zählt die Krakauer Judengemeinde noch rund 150 Personen. Das macht Kazimierz zu einem Erinnerungsort für das jüdische Leben vom 14. Jahrhundert bis zum Jahr 1939 und gleichermaßen für die Vernichtung der Millionen Mitglieder zählenden ostjüdischen Gemeinschaft in Polen. Kontinuität gibt es lediglich in den Erinnerungen der ehemaligen Bewohner des Stadtviertels, der Schüler des Hebräischen Gymnasiums und anderer Bürger der Stadt Krakau der Vorkriegszeit, so beispielsweise in den polnischen, teils in Polen, teils in Israel publizierten Erinnerungen von Manuel Rympel Słowo o Żydach krakowskich w okresie międzywojennym (1918–1939) (Ein Wort über die Krakauer Juden der Zwischenkriegszeit, 1964), der Sammlung I pozostała tylko legenda (Und nur die Sage ist übriggeblieben, 1986), in den Memoiren von Henryk Vogler Wyznanie mojzeszowe we wspomnienia z utraconego czasa (Mosaisches Bekenntnis in der Erinnerung der verlorenen Zeit, 1991), den Erinnerungen von Henryk Ritterman-Abir, Nie od razu Kraków zapomniano (Nicht auf einmal wurde Krakau vergessen, 198�), oder in Kim pan jest, panie Grymek? (Wer sind Sie, Herr Grymek?, 1991) von Natan Gross. Prägend für die Nachkriegszeit war eine lange Periode des Verfalls dieses Krakauer Stadtviertels, das zunehmend der Vergessenheit anheimfiel; kaum ein Gebäude wurde renoviert. Die Alte, teilweise von den Nationalsozialisten zerstörte Synagoge wurde saniert; dort entstand ein Jüdisches Museum. In manchen Synagogen wurden Künstlerwerkstätten untergebracht, andere verfielen. Nur auf dem neuen jüdischen Friedhof in der Miodowa gab es ab und zu eine jüdische Bestattung. Der alte Friedhof, insbesondere das Grab des Moses Isserles, wurde wie seit langem üblich von frommen chassidischen Wallfahrern aus der ganzen Welt aufgesucht. Diese Zustände änderten sich gegen Ende des 20. Jahrhunderts aufgrund des Wandels der politischen Rahmenbedingungen grundlegend. Die Synagogen wurden der Jüdischen Gemeinde zurückgegeben und restauriert, meistens von dem Nationalfonds für die Sanierung der Baudenkmäler Krakaus, manchmal auch vom World Monuments Fund, von der Stadt Krakau oder von anderen Organisationen. 1988 fanden die ersten „Festspiele der Jüdischen Kultur“ in Krakau statt, wenn auch zuerst noch nicht in Kazimierz. Im Jahr 2010 feierte man bereits die 20. Festspiele dieser Art, deren Begründer zwei Polen, der Filmwissenschaftler Krzysztof Gierat und der Polonist Janusz Makuch, waren. Zuerst bestanden die Festspiele aus Konzerten der klesmorim-Musik und anderer jüdischer, teilweise synagogaler Musik, ferner aus Filmen und Vorträgen. Heute ist das Angebot reichhaltiger. Höhepunkt bleiben aber die Konzerte, etwa diejenigen der Kantoren im Tempel, sowie das Abschlußkonzert auf der Szeroka-Straße, bei dem auch das Publikum tanzend mitwirken kann. Für die Wissenschaft war die Einrichtung mehrerer judaistischer Institutionen von Bedeutung, vor allem die Gründung des Lehrstuhls für Geschichte und Kultur der polnischen Juden an der Jagiellonen-Universität 1986 durch Józef Gierowski. Der Lehrstuhl wurde jüngst als Teil der Historischen Fakultät in Kazimierz untergebracht. Eine Mittlerstellung zwischen Wissenschaft und Öffentlichkeit nimmt das „Zen123

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trum der Jüdischen Kultur“ der Stiftung Judaica ein, an dessen Spitze der Politologe Joachim Russek steht. Im Programm stehen Vorträge und Lesungen, dazu Konzerte und Ausstellungen.Manches hat sich in der heutigen Bewertung des jüdischen Lebens in Polen bis 1939 verändert. So wurde der zunächst eher als Volkssänger bekannte Tischler Mordechaj Gebirtig (eigentlich Markus Bertig), der jiddische Lieder dichtete, zu einer wichtigen Erinnerungsfigur für das jüdische Krakau. Er wird als ein Künstler gewürdigt, der den jüdischen Alltag einfacher Leute und die Judenverfolgungen festhielt. Er ist als wohl einziger jiddischer Dichter in den Rang eines Nationaldichters des jüdischen Krakau aufgestiegen. Jiddisch war auch in Kazimierz die Umgangs- und Muttersprache der niederen Schichten des jüdischen Volkes, aber viel stärker als andernorts bedienten sich in Krakau auch diese Juden der polnischen Sprache. Israelische Schüler, die sich heute auf der obligatorischen Klassenreise nach Auschwitz befinden, besuchen als Zwischenstation Kazimierz – als Relikt einer unwiederbringlich verschwundenen Vergangenheit und gleichsam als Denkmal des Lebens in der Diaspora. Fromme chassidim besuchen nach wie vor den alten jüdischen Friedhof und die Synagogen. Aber auch eine große Zahl von jüdischen und nichtjüdischen Touristen kommt jedes Jahr nach Kazimierz, das mit dem Königsschloß auf dem Wawel und dem Marktplatz zur dritten Stätte Krakaus wurde, die selbst bei einer kurzen Stadtbesichtigung besucht werden muß. Die kulturelle und religiöse Erinnerung an das jüdische Leben in Kazimierz beinhaltet auch die Trauer über den Untergang dieser Lebenswelt im Ghetto von Podgórze, im Konzentrationslager Płaszów sowie in den vielen Vernichtungslagern, die in den Jahren 1939 bis 19�5 von den deutschen nationalsozialistischen Machthabern in Polen eingerichtet wurden. VI. Auswahlbibliographie bersohn, Mathias: Słownik biograficzny uczonych Żydów Polskich XVI, XVII i XVIII wieku [Biographisches Lexikon der gelehrten polnischen Juden des 16., 17. und 18. Jahrhunderts]. Warszawa 1905; bałaban, Majer: Dzieje Żydów w Galicyi i w Rzeczypospolitej Krakowskiej 1772–1868 [Geschichte der Juden in Galizien und in der Krakauer Republik 1772–1868]. Lwów 191� [ND Kraków 1988]; ders.: Historja Żydów w Krakowie i na Kazimierzu [Geschichte der Juden in Krakau und Kazimierz], Bd. 1–2. Kraków 1931–1936; ders.: Przewodnik po żydowskich zabytkach Krakowa [Führer durch die jüdischen Kulturdenkmäler Krakaus]. Kraków 1935; ryMPel, Manuel: Słowo o Żydach krakowskich w okresie międzywojennym (1918–1939) [Ein Wort über die Krakauer Juden der Zwischenkriegszeit (1918–1939)]. In: GinteL, Jan (Hg.): Kopiec wspomnień. Kraków 21964 [11959], 557–587; ŚWiszczoWsKi, Stefan: Miasto Kazimierz pod Krakowem [Die Stadt Kazimierz bei Krakau]. Kraków 1981; netzer, Schlomo: Wanderungen der Juden und Neusiedlung in Osteuropa. In: brocKe, Michael (Hg.): Beter und Rebellen. Aus 1000 Jahren Judentum in Polen. Frankfurt/Main 1983, 33–50; duda, Eugeniusz: Krakowskie Judaica [Krakauer Judaica]. Warszawa 1991; bieberstein, Aleksander: Zagłada Żydów w Krakowie [Der Untergang der Juden in Krakau]. Kraków/Wrocław 1985; aKavia, Miriam/Gross, Natan (Hg.): „I pozostała tylko legenda“. Wspomnienia z żydowskiego Krakowa [„Und nur die Sage ist übrig geblieben“. Erinnerungen an das jüdische Krakau]. Tel Aviv 1986; rożeK, Michał: Żydowskie zabytki krakowskiego Kazimierza. Krótki przewodnik [Jüdische Kulturdenkmäler des Krakauer Kazimierz. Kurzer Führer]. Kraków 1990; haLKoWsKi, Henryk: Kraków – „miasto i matka Izraela“ [Krakau – „Stadt und Mutter Israels“]. In: baran, Zbigniew (Hg.): Kraków – dialog tradycji. Kraków 1991,

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Das Krakauer Stadtviertel Kazimierz 35–51; KiryK, Feliks (Hg.): Żydzi w Małopolsce. Studia z dziejów osadnictwa i życia społecznego [Juden in Kleinpolen. Studien über die Siedlungsgeschichte und das gesellschaftliche Leben]. Przemyśl 1991; MarKoWsKi, Stanisław: Krakowski Kazimierz. Dzielnica żydowska 1870–1988/Kazimierz. The Jewish Quarter of Cracow 1870–1988. Kraków 1992; KłańsKa, Maria (Hg.): Jüdisches Städtebild Krakau. Frankfurt/Main 1994; żbiKoWsKi, Andrzej: Żydzi krakowscy i ich gmina w latach 1869–1919 [Krakauer Juden und ihre Gemeinde in den Jahren 1869–1919]. Warszawa 1994; WyrozuMsKa, Bożena (Hg.): Żydzi w średniowiecznym Krakowie. Wypisy źródłowe z ksiąg miejskich krakowskich/The Jews in Medieval Cracow. Selected Records from Cracow Municipal Books. Kraków 1995; MałecKi, Jan J./szLufiK, Elżbieta (Hg.): Handel żydowski w Krakowie w końcu XVI i w XVII wieku. Wypisy z krakowskich rejestrów celnych z lat 1593–1683/Jewish Trade in Cracow at the End of the XVI Century and in the XVII. Selected Records from Cracow Custom Registers 1593–1683. Kraków 1995; stein, Jehuda L.: Juden in Krakau. Ein historischer Überblick 1173–1939. Hg. v. Erhard Roy Wiehn. Konstanz 1997; dyleWsKi, Adam: Kraków [Krakau]. In: ders. (Hg.): Śladami Żydów polskich. Przewodnik ilustrowany. Bielsko-Biała 2002, 193–212; duda, Eugeniusz: Żydowski Kraków. Przewodnik po zabytkach i miejscach pamięci [Jüdisches Krakau. Führer durch die Sehenswürdigkeiten und Gedächtnisorte]. Kraków 2003; MałecKi, Jan (Hg.): Świat przed katastrofą. Żydzi krakowscy w dwudziestoleciu międzywojennym/A World before a Catastrophe. Krakow’s Jews between the Wars. Kraków 2007; sroKa, Łukasz Tomasz: Żydzi w Krakowie. Studium o elicie miasta 1850–1918 [Juden in Krakau. Eine Studie über die Stadtelite 1850–1918]. Kraków 2008; haLKoWsKi, Henryk: Żydowski Kraków. Legendy i ludzie [Jüdisches Krakau. Legenden und Menschen]. Kraków/Budapeszt 2009; Galas, Michał/poLonsKy, Antony: Jews in Cracow. Themenheft: Polin. Studies in Polish Jewry 23 (2010).

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Heiligelinde I. Zusammenfassung. – II. Der Wallfahrtsort vom 15. bis zum 17. Jahrhundert. – III. Die Wallfahrt seit dem 18. Jahrhundert. – IV. Heiligelinde als interkonfessionelles und internationales religiöses Zentrum im 20. Jahrhundert. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das kleine Dorf Heiligelinde im Herzogtum Preußen ist seit Mitte des 1�. Jahrhunderts als Wallfahrtsort ein Zentrum der regionalen und überregionalen Marienverehrung. Die älteste Kapelle vom Ende des 15. Jahrhunderts, die man an einem Ort errichtet hatte, an dem eine Marienfigur in einer Linde verehrt wurde, betreuten Priester des Deutschen Ordens; sie wurde während der Reformation zerstört. Zu Beginn des 17. Jahrhunderts erneuerte man die Kultstätte, um die sich fortan Jesuiten kümmerten. Die Societas Jesu war es auch, die in den 1680er Jahren den Bau einer reich ausgestatteten dreischiffigen Barockkirche veranlaßte. Nach einer Belebung der Wallfahrt im ersten Drittel des 20. Jahrhunderts wurde der Ort nach 1945 rasch zu einem Mittelpunkt des polnischen Katholizismus. In jüngster Zeit avancierte Heiligelinde zu einem Zentrum des regionalen religiösen Lebens, das für Gläubige nicht nur im heutigen nordöstlichen Polen, sondern auch in den Nachbarländern und in Deutschland bedeutsam ist. Heiligelinde hat darüber hinaus eine besondere Bedeutung für den ökumenischen Dialog. Das verehrte Bild trägt den Namen „Mutter der Einheit der Christen“. Das Heiligtum wurde von masurischen Protestanten besucht, vor allem anläßlich des Peter- und Paul-Ablasses am 29. Juni, wie Aufzeichnungen aus den 1970er Jahren bezeugen. Gegenwärtig werden ökumenische Wochen, Jugendtreffen und Orgelkonzerte organisiert. Mit Blick auf die zahlreichen Pilger- und Touristengruppen aus Deutschland wird Heiligelinde ferner als deutsch-polnisches Begegnungszentrum wahrgenommen. II. Der Wallfahrtsort vom 15. bis zum 17. Jahrhundert Die Anfänge der Marienverehrung in Heiligelinde sind mit der mündlichen Überlieferung über Wunderereignisse aus der Mitte des 14. Jahrhunderts verbunden, die von Michael Ciaritius (1626) und Thomas Clagius (1659) erstmals aufgezeichnet wurden. Demnach erlebte ein Verurteilter, der auf Schloß Rastenburg auf die Vollstreckung seines Todesurteils wartete, in der Nacht davor eine Erscheinung der Gottesmutter, zu der er betete und die ihn aufforderte, ihre Figur zu schnitzen. Obwohl der Verurteilte das Schnitzhandwerk überhaupt nicht beherrschte, machte er sich an die Arbeit und schuf eine derart bezaubernde Skulptur von Maria mit dem Kind, daß die Richter dies als göttliches Zeichen ansahen, das Urteil revidierten und dem Gefangenen die Freiheit schenkten. Daraufhin begab sich dieser nach Rößel und brachte die Figur auf Geheiß Mariens 126

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an einer ihm von ihr gezeigten Linde an. Schon bald wurde die Figur durch Gebetserhörungen berühmt: Man errichtete an jener Stelle eine Kapelle, und zwar so, daß der Baum in ihrer Mitte wuchs und über das Dach hinausreichte. Die Kapelle wurde der Heimsuchung Mariens geweiht. Erst im 19. Jahrhundert kamen Äußerungen über Verbindungen des Pilgerortes mit einem ursprünglichen, heidnischen Lindenkult auf. Darauf gibt es jedoch keine Hinweise bei den ersten Chronisten. Wenn es eine solche Linde gegeben hätte, dann hätten die ermländischen Bischöfe sie gewiß fällen lassen, wie es mit heiligen Eichen andernorts geschah. Es ist insofern schwierig, die Verehrung der christlichen Gottesmutter mit einem heidnischen Lindenkult zu verbinden. Die Seelsorge übten an diesem Ort zuerst Deutschordenspriester aus Rastenburg aus. Das änderte sich auch nicht nach 1466, als infolge des Zweiten Thorner Friedens das Ermland zu Polen kam, Heiligelinde politisch aber weiterhin zum Ordensstaat gehörte. Weiterhin kamen Pilger aller Stände von nah und fern. Aus dem Jahr 1�73 stammt die Nachricht, daß das Heiligtum von Bewohnern Masowiens besucht wurde. Auch der Hochmeister des Deutschen Ordens, Albrecht von Hohenzollern, pilgerte, vermutlich 1519, zu Fuß dorthin. Mit der Reformation änderte sich die Situation jedoch grundlegend. Auf den Rat Luthers wandelte Albrecht den Ordensstaat 1525 in ein weltliches Herzogtum um und verbot den katholischen Glauben. Die Heiligenverehrung galt nun als Götzendienst. In dieser Atmosphäre kam es, vermutlich schon 1524, zur Verbrennung der Kapelle in Heiligelinde. Damals wurde auch die Linde gefällt und die Skulptur vernichtet. An derselben Stelle errichtete man einen Galgen; Wallfahrten waren fortan bei Todesstrafe verboten. Dennoch kamen viele Gläubige heimlich nach Heiligelinde und erwiesen der Gottesmutter die Ehre. Den Quellen nach ereigneten sich mehrere Wunderheilungen, wie es etwa vom Sohn des Rößeler Vogts, Friedrich Berendt, zu Beginn des 17. Jahrhunderts berichtet wird. Etwa ein Jahrhundert später erneuerte man das Heiligtum. 1610 legte eine Revisionskommission, die sich aus Vertretern des Bischofs von Ermland und des Herzogs von Preußen zusammensetzte, zudem den Verlauf der Grenze in der Nähe von Heiligelinde fest. Damals wurde der Ort gefunden, an dem sich früher die Kapelle befunden hatte. Als förderlich erwies sich, daß fünf Jahre zuvor der Kurfürst von Brandenburg, Joachim Friedrich, in seinem Land die Konfessionsfreiheit eingeführt hatte; am 28. Februar 1617 wurde der Platz bei der Kapelle, am 12. April 1619 dann die ganze Siedlung aufgekauft. Finanziert wurde dieses Unternehmen von Stefan Sadorski, dem Sekretär des polnischen Königs Sigismund III. Wasa. Den Grundstein unter der neuen Kapelle legte am 22. Mai 1619 der Bischof von Ermland, Simon Rudnicki. Das Baumaterial schaffte man aus verschiedenen Orten des Ermlands heran. Sechs Monate später war die Kapelle fertiggestellt, die Rudnicki am 19. November weihte. Nach der Wiedererrichtung der Kapelle mußte ihre dauerhafte seelsorgerische Betreuung sichergestellt werden. Sadorski wollte, daß diese Aufgabe den Jesuiten übertragen wird, und beabsichtigte, ihnen im benachbarten Rößel ein Kolleg zu errichten. Die Societas Jesu nahm das Angebot jedoch zunächst nicht an, so daß vorerst Diözesanpriester die Seelsorge übernahmen. Erst einige Jahre später begaben sich zwei Jesuiten aus 127

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Braunsberg nach Rößel und versorgten von dort auch die Pilger in Heiligelinde. 1639 ließen sie sich dort dauerhaft nieder und betreuten das Heiligtum ohne Unterbrechung bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. Der Pilgerstrom verstärkte sich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts spürbar. Die Pilger kamen von immer weiter her – aus Masowien, Podlachien und anderen Gebieten Polens, aus Litauen, der Ukraine, aus verschiedenen deutschen Territorien –, am häufigsten aus dem Ermland und sogar aus dem protestantischen Herzoglichen Preußen. Unter ihnen waren Vertreter bekannter Familien, der Czartoryski, Sapieha, Radziwiłł, Potocki, Branicki und Chodkiewicz. König Stanislaus Leszczyński war wahrscheinlich mit seinem Hof in Heiligelinde. Mehrere Schenkungen bestätigen die Anwesenheit von Protestanten – dies erwähnen evangelische Schreiber wie der Königsberger Theologe Cölestin Myslenta im 17. oder der preußische Landeshistoriker Max Toeppen im 19. Jahrhundert. Für die Pilger wurden eigene Häuser gebaut. Die Quellen belegen die Errichtung eines Gasthauses (domus hospitum) durch Sadorski sowie eines anderen, abseits stehenden Gebäudes, das offenbar dem wohlhabenden Adel vorbehalten war. Der Jesuit Thomas Clagius bemerkte, daß es in Preußen und im Ermland kaum jemanden gäbe, der nicht mindestens einmal im Leben in Heiligelinde gewesen sei. Die meisten Pilger kamen zu den Marienfeiertagen im Sommer. Mit der Zeit wurden die Pilgerfahrten, die durch Gelübde veranlaßt wurden, immer häufiger, zum Beispiel als Dank für die Bewahrung vor Feuer oder Pest, mit reichem Ritual und mit Liedern (manchmal mit Trommeln oder anderen Instrumenten), wobei Kerzen, Fahnen und Votivtafeln mitgeführt wurden. Heiligelinde ist seit langem für die zahlreichen Gnadenerweise und Heilungen bekannt, die auf Fürsprache der Gottesmutter erlangt wurden. Viele sind in besonderen Büchern aufgezeichnet. Mit dem Glauben an eine wunderbare Heilung kamen an diesen Ort sogar Angehörige von Königshöfen, hohe Landesbeamte, vor allem aber Leute aus den benachbarten Ortschaften. Zum Zeugnis ihrer Dankbarkeit legten sie Votivgaben nieder – Arme oder Beine aus Wachs, Figuren von Menschen oder Tieren, Tafeln mit verschiedenen Abbildungen oder Kruzifixe. In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erwies sich die bescheidene, nur 12 Meter lange und 8 Meter breite Kapelle als zu klein. Die Jesuiten schritten daher zum Bau einer Kirche, wozu sie durch das ermländische Domkapitel, das das Patronat über den Ort innehatte, verpflichtet wurden. Die Grundsteinlegung erfolgte am 1. November 1687 durch den Bischof von Ermland, Stefan Radziejowski, die Weihe der Kirche am 15. August 1693 durch dessen Nachfolger als ermländischer Oberhirte, Jan Zbąski. Die Bauarbeiten leitete der aus Tirol gebürtige Maurermeister Georg Ertli aus Wilna. Der originale Bauplan ist nicht erhalten, auch der Architekt des Sakralbaus ist nicht bekannt. In den folgenden Jahren schmückte man die Kirche reich aus: mit einem neuen Altar, mit Schnitzwerk, Skulpturen, Bildern und Fresken; 1719–1721 baute Johann Joshua Mosengel, der Königlich-Preußische Hoforgelbauer aus Königsberg, in Heiligelinde die berühmte Orgel mit beweglichen Figuren. Die Kirche selbst umgab ein ansehnlicher Kreuzgang mit Eckkapellen. 128

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An die Stelle der während der Reformation zerstörten Figur der Muttergottes mit dem Kind und der Linde stellte man ein Bild zuerst in der Kapelle, dann in der Kirche auf. Es handelt sich um eine Replik des wundertätigen Bildes aus der römischen Kirche Santa Maria Maggiore (Maria Schnee). Gemalt hatte es 16�0 der flämische Maler Bartholomäus Pens, das reich geschmückte silberne Kleid stammte vom Königsberger Goldschmied Samuel Grewe. In die neue Kirche brachte man zur Erinnerung an den älteren Lindenstamm erneut den Stamm einer Linde, an dem die silberne Statue der Jungfrau Maria angebracht wurde. Die Figur, die mit silbernem Blech geschmückt wurde und von einem Blätter- und Strahlenkranz umgeben war, erhielt Heiligelinde 1652 als Geschenk der Höflinge des polnischen Königs Sigismund III. Wasa. 1728 wurde sie in die neue Kirche überführt. III. Die Wallfahrt seit dem 18. Jahrhundert Nach der Errichtung der Kirche begann die Glanzzeit der Geschichte von Heiligelinde. Die Betreuung lag weiterhin in den Händen der Jesuiten; gewöhnlich waren es drei oder vier, darunter Prediger deutscher und polnischer Sprache. Sie übten die Seelsorge in der Kirche aus, kümmerten sich um die Pilger, betreuten die Katholiken, die in der Diaspora unter den Protestanten im Herzogtum Preußen lebten und führten in diesen Gebieten auch Mission durch. Darüber hinaus entstand in Heiligelinde zu Beginn des 18. Jahrhunderts ein Musikinternat, in dem in einem vier- bis sechsjährigen Kursus das Spiel auf verschiedenen Instrumenten sowie Gesang gelehrt wurde. Aufgabe dieses Kurses war das Erlernen der musikalischen Gestaltung der Feierlichkeiten in Heiligelinde, aber auch die Ausbildung von Pfarrorganisten. Hier wurde unter anderem der bekannte ermländische Komponist Feliks Nowowiejski ausgebildet. Die Musikschule wurde 1909 geschlossen. Nach der Auflösung des Jesuitenordens durch Papst Clemens XIV. 1773 setzte Friedrich II. von Preußen diese Entscheidung einige Jahre später auch für seinen Herrschaftsbereich um. Seitdem konnten die Jesuiten die seelsorgerische Arbeit nur als Diözesanpriester fortsetzen. Der Bischof von Ermland, Ignacy Krasicki, ernannte den bisherigen Superior zum Pfarrer in Heiligelinde und andere Jesuiten zu seinen Hilfsgeistlichen. Später wurden sie durch Geistliche des Bistums Ermland ersetzt. Dadurch veränderte sich teilweise auch der Status der Einrichtung: Aus einem typischen Sanktuarium wurde eine Pfarrei, obwohl diese weiterhin die Funktion eines Sanktuariums und einer Pilgerstätte erfüllte. Auch die Missionsreisen zu vielen Orten in Preußen, darunter nach Johannisburg, Lötzen, Angerburg und sogar nach Lyck und Marggrabowa, wurden fortgesetzt. Im Jahr 1914 begann man mit grundlegenden konservatorischen Arbeiten am Heiligtum. Damals wurden das Kirchenschiff und das Presbyterium erneuert und die Vergoldungen und die Gemälde restauriert. Danach entwässerte man den Kreuzgang, bedeckte das Dach mit Kupferblech und regulierte den Boden um die Kirche. Nachdem die Arbeiten 1932 abgeschlossen worden waren, kehrten auch die Jesuiten nach Heiligelinde zurück. Ihr erster Superior, der Schlesier Leopold Willimsky, wurde üblicherweise von vier anderen Geistlichen unterstützt. 1932 erhielt das Heiligtum hohen Besuch, als der apostolische Nuntius in Deutschland, Cesare Orsenigo, in Begleitung des Bischofs von 129

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Ermland, Maximilian Kaller, nach Heiligelinde kam. Zwei Jahre später organisierte man eine Wallfahrt der weiblichen Jugend aus ganz Ostpreußen, 1935 wurde hier der Abschluß des Heiligen Jahres in der Diözese Ermland feierlich begangen. Ein Jahr später kamen rund 30.000 bis 35.000 Gläubige zum Ablaß zu Mariä Heimsuchung nach Heiligelinde; dies zeigt, daß das Heiligtum zu jener Zeit eine stark besuchte Pilgerstätte war. Während des Zweiten Weltkriegs kam es in Heiligelinde zu keinen größeren Zerstörungen, da das in einem Tal liegende und vom Wald verdeckte Heiligtum nicht feindlichem Artilleriefeuer ausgesetzt war. Die in Heiligelinde 1945 einquartierten sowjetischen Soldaten rissen allerdings zahlreiche Bänke heraus und richteten innerhalb des Heiligtums Lagerplätze ein; sie zerstörten ferner die Orgelpfeifen und plünderten die Schatzkammer. Die deutschen Jesuiten blieben am Ort und führten die seelsorgerische Arbeit weiter. Erst im Sommer 19�5 kam mit Piotr Burzak ein polnischer Jesuit hinzu. Unter den neuen politischen Verhältnissen wurde vergleichsweise zügig die Seelsorge in polnischer Sprache aufgebaut. Auch die Wallfahrtstradition nahm man schnell wieder auf. Zum Peter- und Pauls-Fest 19�6 kamen zahlreiche Ermländer und Masuren sowie Pilger aus Masowien. Wenig später besuchte das Heiligtum der polnische Primas August Hlond. Es wurden konservatorische Arbeiten durchgeführt, die unter anderem die äußeren Mauern, den Kreuzgang, die Orgel und die Fenster betrafen. 1949 bis 1955 baute man neue Bänke ein. Es kam überdies zu diversen Exhumierungen von Verstorbenen, die in der Nähe des Heiligtums bestattet waren und dann auf den Pfarrfriedhof überführt wurden. Als größeres Problem erwies sich die Trockenlegung des sumpfigen Grundes, um das Abrutschen der Wände zu verhindern. 1960 wurde die Kirche von außen verputzt und angestrichen; zwei Jahre später begann man mit der Restaurierung des Hochaltars, für den einige Figuren nachgemacht werden mußten. In den Folgejahren wurde auch die Orgel grundlegend renoviert. Trotz dieser konservatorischen Arbeiten und der Sorge um die Seelsorge und den Dienst an den Pilgern trieb die Jesuiten seit 196� der Gedanke um, das Bild der Gottesmutter in Heiligelinde zu krönen. Schon kurze Zeit später erhielt man hierzu die Zustimmung des Heiligen Stuhls. Da für 1967 die Krönung eines Bildes in einem anderen ermländischen Heiligtum geplant war, in Dietrichswalde bei Allenstein, sollte das Bildnis in Heiligelinde ein Jahr später eine Krone erhalten. Zu diesem Anlaß wurde es aufwendig restauriert und erhielt eine neue Abdeckung aus versilbertem Kupfer. Im Juni 1968 wurde das Ensemble am Hochaltar wieder zusammengebaut, der seitdem täglich morgens geöffnet und abends geschlossen wird. Parallel renovierte man die Rosenkranzkapelle, die sich an der Straße nach Rößel befindet. Mitte 1967 hatte die römische Ritenkongregation das Fest der Gottesmutter von Heiligelinde festgelegt. An den Krönungsfeierlichkeiten des folgenden Jahres, die von etwa 40.000 Gläubigen besucht wurden, nahmen der Primas von Polen, Kardinal Stefan Wyszyński, der Erzbischof von Krakau, Kardinal Karol Wojtyła, der Bischof von Ermland, Józef Drzazga, sowie viele andere polnische Oberhirten teil. 1983 schließlich erhob Papst Johannes Paul II. die Kirche in Heiligelinde zur Würde einer Basilica minor. Seit dieser Zeit werden Sternwallfahrten aus den drei Städten Rößel, Rastenburg und Sensburg nach Heiligelinde organisiert. 130

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IV. Heiligelinde als interkonfessionelles und internationales religiöses Zentrum im 20. Jahrhundert Heiligelinde verbindet seit Jahrhunderten Nationen und Konfessionen. Bedeutsam ist schon allein der Umstand, daß es seit dem 16. Jahrhundert auf dem Gebiet des protestantischen Herzoglichen Preußen lag und dennoch ein Zentrum des religiösen Lebens der Katholiken wurde, und zwar nicht nur für das benachbarte Ermland, sondern auch für Masowien und das Großfürstentum Litauen. 16�� besuchte den Ort Aleksandra Wiesiołowska, die Witwe des Marschalls des Großfürstentums Litauen, 1708 der Bischof von Wilna, Konstanty Kazimierz Brzostowski. Die ermländischen Bischöfe führten Senatoren und Vertreter des polnischen Hofes und sogar russische Offiziere zu dem Heiligtum. Nach Heiligelinde kamen auch Gesandte der polnischen Könige Stanislaus Leszczyński und August III. 1806 finden wir die Familie König Friedrich Wilhelms III. von Preußen und seiner Gattin Luise in Heiligelinde. Franz Lieder, Lehrer aus Groß Bößau, der Augenzeuge des Ereignisses war, schrieb über jenen Besuch: „Und am zweiten Tag sah ich die ganze königliche Familie, wie in der Kirche vor dem Bildnis der Muttergottes im Hochaltar die Königin niederkniete, und während des Salve Regina tröpfelnde Tränen ihr schönes Gesicht benetzten. Ach, wie hat dieser feierliche Akt allen Katholiken gefallen.“ Vom deutsch-polnischen Charakter des Heiligtums zeugen Gebetbücher, Führer und zahlreiche Beschreibungen der Ablässe, die in beiden Sprachen herausgegeben wurden. Anschaulich beschrieb Wojciech Kętrzyński 189� den Alltag in Heiligelinde: „Heiligelinde ist in ganz Ermland und Masuren bekannt für sein wundertätiges Bild der Muttergottes, das besonders zum Peter- und Paul-Ablaß große Menschenmassen aus Ostpreußen und aus Polen anzieht. Mehrmals wurden dort zwanzigtausend Menschen gezählt. Ein solcher Ablaß ist ein merkwürdiger Anblick. In dem kleinen Dörfchen ist ein schreckliches Gedränge, in dem man nur mit Mühe vorankommt. In langen Reihen stehen Buden der Krämer und Kaufleute, die ihre Waren den Vorbeikommenden anbieten. Im Hotel ist Lärm und Gedränge; man muß Stunden warten, bis man ein Glas Bier bekommt; von Essen ist keine Rede. Um das Dorf im Wald schwärmen überall Leute, überall stehen Wagen und Pferde. Und was ist das erst für ein Völkergemisch, hier tummeln sich Deutsche und Juden, da Masuren und Ermländer, dort wiederum nähert sich eine Prozession frommer Kurpien aus Polen. Dort sitzt ein Bettler, der einst unter Blücher gegen Napoleon gekämpft hatte und um ein Almosen bettelt, hier erzählt ein Weißhaariger, daß er ein Bein verloren hat, als er unter Kościuszko kämpfte; weiter andere Behinderte, die dir einen Vortrag über Grochów und Skrzynecki halten [...].“ Der internationale und interkonfessionelle Charakter von Heiligelinde hat sich bis heute erhalten. Nach der Krönung des Marienbildes 1968 kam noch der Tourismus hinzu, der auf die großen masurischen Seen sowie die Ruinen des sogenannten Führerhauptquartiers („Wolfsschanze“) beim Dorf Görlitz unweit Rastenburg gerichtet ist. Weiterhin kommen die Pilger hauptsächlich zu den wichtigsten Marienfesttagen, Mariä Heimsuchung (30. Mai) und Mariä Himmelfahrt (15. August). Für die Besucher wurde in den Jahren 1982 bis 198� ein Pilgerhaus errichtet. Seit der Reparatur der Orgel werden 131

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Die Photographie zeigt die Feierlichkeiten anläßlich der Krönung des Marienbildes von Heiligelinde am 11. August 1968. Seit Anfang des 17. Jahrhunderts verbreitete sich in der katholischen Volksfrömmigkeit der Brauch, besonders verehrte Marienbildnisse oder -statuen zu krönen, wofür die Zustimmung des Ortsbischofs beziehungsweise des Papstes erforderlich war. Das Marienbild von Heiligelinde wurde vom polnischen Primas, Kardinal Stefan Wyszyński, unter Beteiligung des Erzbischofs von Krakau, Kardinal Karol Wojtyła, und des Bischofs von Ermland, Józef Drzazga, gekrönt. Auf dem Marienbild, das nach der Krönungsfeier unter freiem Himmel in einer Prozession in das Sanktuarium hineingetragen wurde, ist die aufgesetzte Krone gut zu erkennen. An den Krönungsfeierlichkeiten hatten rund 40.000 Gläubige teilgenommen. Bildnachweis: Archiwum Archidiecezji Warmińskiej w Olsztynie.

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Konzerte und Orgelvorführungen angeboten. 1989 wurden die „Heiligenlinder Musikabende“ ins Leben gerufen, die im Sommer stattfinden. Die architektonische Unvergleichbarkeit der Anlage und die Außergewöhnlichkeit des Musikinstruments sorgten dafür, daß zuletzt rund 100.000 Personen im Rahmen von Wallfahrten und organisierten oder individuellen Ausflügen jährlich Heiligelinde besuchten. Aus dem Ausland kommen hauptsächlich Deutsche, aber auch Franzosen, Österreicher, Niederländer, Litauer, Weißrussen, Ukrainer und Russen. Im Jahr 2002 entstand die Initiative, das Heiligtum zu einem polnisch-deutschen Begegnungszentrum zu machen, weil hierher jedes Jahr tausende Pilger aus beiden Ländern kommen, um zu beten, das Heiligtum und die dort befindlichen Denkmäler zu bewundern und Orgelkonzerte anzuhören. Unter ihnen sind viele Ermländer, die den Hauptwallfahrtsort ihrer Vorfahren besuchen. Sie werden in deutscher Sprache geführt. Unter den Musikern, die im Rahmen der „Heiligelinder Musikabende“ die Orgel spielen, waren Deutsche, Amerikaner, Schweden, Spanier, Dänen, Litauer und Kanadier. Für die Außendarstellung des Ortes spielen wissenschaftliche Treffen eine große Rolle. 1987 wurde ein Symposium anläßlich des 300. Jahrestages der Grundsteinlegung der Kirche organisiert. Sechs Jahre später fand eine weitere Tagung zum 300. Jahrestag der Weihe des Heiligtums unter dem Titel „Barock im Ermland“ statt. 2008 folgte ein Symposium aus Anlaß des �0. Jahrestages der Krönung des Bildes und des 25. Jahrestages der Verleihung des Titels einer Basilica minor. Alle damals gehaltenen Beiträge wurden 2008 in Warschau unter dem charakteristischen Titel Święta Lipka. Perła na pograniczu ziem, kultur i wyznań (Heiligelinde. Eine Perle im Begegnungsraum der Länder, Kulturen und Bekenntnisse) publiziert. In der regionalen Dichtung und in Kirchenliedern wurde Heiligelinde vielfach thematisiert. Ein Beispiel hierfür sind die Gedichte von Maria Zientara-Malewska Świętolipka (Heiligelinde) und Trójkąt Maryi (Das Dreieck Mariens), von Maryna Okęcka-Bromkowa Perła znad jezior (Die Perle von den Seen) und Matko Świętolipsko, pamiętoj! (Mutter von Heiligelinde, denke an uns!) sowie von Stanisława Łozińska Święta Lipka (Heiligelinde). In allen Gedichten geht es um den genius loci, die bezaubernde Umgebung und die Marienerscheinung von Heiligelinde. Die in diesem Zusammenhang entstandenen Lieder werden zum Erbe der marianischen Volksfrömmigkeit gezählt. Die ersten wurden schon 1805 in dem Gebetbuch Opisanie miejsca Święta Lipa (Beschreibung des Ortes Heiligelinde) abgedruckt. Hier finden sich Formulierungen wie „Jungfrau von Heiligelinde“, „unsere Frau von Heiligelinde“, Maria, die „in Heiligelinde den Thron ergriffen“, „das masurische Volk liebgewonnen“ und „viele Zeichen und Wunder für das polnische Volk“ bewirkt habe. Andere Umschreibungen lauten „Masurisches Land freue Dich, daß Du bei Dir in dieser heiligen Linde das Gesicht der Gottesmutter hast“, oder „Wunderschöne Frau, an dem Stamm der Linde genest man auf wunderbare Weise schon am nächsten Tag“. Die Sorge um den Erhalt dieses religiösen Erinnerungsortes zeigt sich nicht zuletzt in der ständigen Erneuerung der Sakrallandschaft, die als kulturelles Erbe behandelt wird. Deshalb werden schon seit einigen Jahren verschiedene Projekte realisiert, die die Er133

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neuerung der örtlichen Denkmäler zum Ziel haben, unter anderem im Rahmen des Europäischen Landwirtschaftsfonds für die Entwicklung des ländlichen Raums sowie des Europäischen Fonds für regionale Entwicklung.

V. Auswahlbibliographie a) Quellen ciaritius, Michael Fridericus: B. V. M. Lindensis. Vetustissimum et religiosissimum in Prussia Sacellum Beatissimae Virginis Mariae sacrum, prodigiis divinis clarisimum. Brunsbergae 1626; MisLenta, Coelestinus: Manuale Prutenicum seu repetitio corporis doctrinae ecclesiarum Prutenicarum commentario explicata. Regiomonti 1626; cLaGius, Thomas: Linda Mariana sive de B. Virgine Lindensi. Libri V. Coloniae 1659; Historia Lindensis Das ist Kurzer Inhalt von der Wunderthätigen Capell unser Engelreiner Jungfrauen und Mutter Gottes Maria zur H. Lind. Beschrieben durch R. P. Thomam Clagium SI, Anno 1667 von Etlichen Mariae Liebhaberen ins Teutsch versetzt zu Braunsberg; Gnaden-Brunn Aus dem Marianischen Paradeiss der zart grünenden Heiligen Linde entsprossen. Braunsberg 1733, 1773; Opisanie mieysca Święta Lipa, czyli Święta Lipka nazwanego, z przyłączeniem świętobliwych uwag, duchownych ćwiczen, i pobudek, oraz pieśni i modlitw [...] z Niemieckiey książky dawniey wydrukowaney i Roku 1773 znowu przedrukowaney, na Polski zaś język Roku 1770 przetłómaczoney, a teraz znowu po polsku z niektóremi ważnemi odmianami i przydatkami wydane [Beschreibung des Heiligelinde genannten Ortes mit Beifügung gottgefälliger Anmerkungen, geistlicher Übungen und Weckrufe sowie von Liedern und Gebeten nach einem früher gedruckten deutschen Buch, das im Jahr 1773 erneut gedruckt und im Jahre 1770 in die polnische Sprache übersetzt wurde und jetzt erneut auf polnisch mit einigen wichtigen Veränderungen und Zusätzen herausgegeben wird]. Warszawa 1805; Krótka wiadomość o początkach i pomnożeniu nabożeństwa i cudów na słynącym wielkimi łaskami Maryi Panny miejscu Świętey Lipki [Kurze Nachricht über die Anfänge und die Mehrung des Gottesdienstes und der Wunder an dem durch die großen Gnaden der Jungfrau Maria berühmten Ort Heiligelinde]. Brunsberg 1770; toeppen, Max: Geschichte Masurens. Ein Beitrag zur preußischen Landes- und Kulturgeschichte. Danzig 1870 [ND Aalen 1969, 1979].

b) Darstellungen KoLberG, Augustyn: Geschichte der Heiligenlinde. In: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 3 (1866) 28–138, �35–520; buchhoLz, Franz: Der Bau der Heiligelinder Orgel. In: Zeitschrift für die Geschichte und Altertumskunde Ermlands 27 (19�2) �37–���; obłąK, Jan: Jerzy Ertli, budowniczy Świętej Lipki [Georg Ertl, der Baumeister von Heiligelinde]. In: Rocznik Olsztyński 3 (1960) 115–131; poKLeWsKi, Józef: Święta Lipka – polska fundacja barokowa na terenie Prus Książęcych [Heiligelinde – eine polnische Barockstiftung auf dem Gebiet des Herzoglichen Preußen]. Warszawa/Poznań 197�; obłąK, Jan: Święta Lipka [Heiligelinde]. Olsztyn 1975 [21982]; paszenda, Jerzy: Dzieje Świętej Lipki [Die Geschichte von Heiligelinde]. In: Biuletyn Historii Sztuki 3 (1977) 278–286; noWaK, Władysław: Sanktuarium NMP w Świętej Lipce a kult maryjny wśród protestantów na Mazurach [Das Marienheiligtum in Heiligelinde und der Marienkult unter den Protestanten in Masuren]. In: Przegląd Powszechny 5–6 (1983) 217–230; paszenda, Jerzy: Sanktuarium świętolipskie [Das Heiligtum in Heiligelinde]. In: Przegląd Powszechny 5 (1987) 22–230; JasińsKi, Janusz: Pielgrzymki do Świętej Lipki od schyłku XVIII do początku XX wieku [Die Wallfahrten nach Heiligelinde vom

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Heiligelinde Ende des 18. bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts]. In: Zapiski Historyczne 56/� (1991) 71–92; rzeMpołuch, Andrzej: Święta Lipka. Przewodnik [Heiligelinde. Führer]. Olsztyn 1991; KrucK, Paul: Opfergang von Allenstein nach Heiligelinde. In: Ermlandbuch 45 (1994) 199–200; noWaK, Władysław: Matka Pana w religijności ewangelików Prus Wschodnich (1525–19�5) [Die Gottesmutter der Religiosität der evangelischen Ostpreußen (1525–19�5)]. Olsztyn 1996; hochLeitner, Janusz: „Katolickość“ pruskich ewangelików na przykładzie ich udziału w pielgrzymkach do Świętej Lipki [Die „Katholizität“ der preußischen Evangelischen am Beispiel ihrer Teilnahme an den Wallfahrten nach Heiligelinde]. In: Rocznik Mazurski 4 (1999) 45–52; KopiczKo, Andrzej: Ustrój i organizacja diecezji warmińskiej w latach 1525–1772 [Der Aufbau und die Organisation der Diözese Ermland in den Jahren 1525–1772]. Olsztyn 1993; paszenda, Jerzy: Architektura zespołu kościelnego w Świętej Lipce na tle polskiego baroku [Das kirchliche Architekturensemble in Heiligelinde vor dem Hintergrund des polnischen Barock]. In: Komunikaty Mazursko-Warmińskie � (1993) 511–518; ders.: Święta Lipka [Heiligelinde]. Olsztyn 1996 [Kraków 22008]; ders.: Pielgrzymowanie do Świętej Lipki dawniej i dziś [Die Wallfahrten nach Heiligelinde früher und heute]. In: Peregrinus Cracoviensis 6 (1998) 138–162; KopiczKo, Andrzej: Porta Domini. Kościoły jubileuszowe i sanktuaria Świętego Krzyża w archidiecezji warmińskiej [Porta Domini. Jubiläumskirchen und Heiligtümer zum Heiligen Kreuz in der Diözese Ermland]. Olsztyn 2002; JacyniaK, Aleksander (Hg.): Święta Lipka. Perła na pograniczu ziem, kultur i wyznań. Praca zbiorowa zawierająca materiały z sympozjum zorganizowanego w ramach obchodów �0-lecia koronacji obrazu Matki Boskiej Świętolipskiej i 25-lecia nadania świątyni tytułu bazyliki mniejszej [Heiligelinde. Eine Perle im Begegnungsraum der Länder, Kulturen und Bekenntnisse. Sammelband der Materialien des Symposiums, das im Rahmen der Feierlichkeiten anläßlich des �0. Jahrestages der Krönung des Bildes der Muttergottes von Heiligelinde und des 25. Jahrestages der Verleihung des Titels Basilica minor organisiert wurde]. Warszawa 2008.

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Tschenstochau I. Zusammenfassung. – II. Die Gründung des Sanktuariums und die Kultanfänge der Muttergottes von Jasna Góra. – III. Der Aufstieg Jasna Góras zum führenden Heiligtum des Landes im 17. Jahrhundert. – IV. Jasna Góra in Krisenzeiten der polnischen Staatlichkeit und während der Teilungen des Landes. – V. Jasna Góra in der Konfrontation mit dem kommunistischen Regime. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Paulinerkloster in Jasna Góra (Clara Mons, wörtlich „Heller Berg“) bei oder in Tschenstochau ist das zentrale Marienheiligtum Polens und einer der bedeutendsten Wallfahrtsorte weltweit. Die etwa 5 Hektar große Klosteranlage erhebt sich westlich des Stadtteils Alt-Tschenstochau auf einem 296 Meter hohen Kalkhügel. Sie präsentiert sich auf einem rechteckigen Grundriß als dicht bebauter Gebäudekomplex, der von hohen Festungsmauern mit vier Bastionen sowie einem Park umgeben ist. Die Marienkapelle mit dem verehrten Gnadenbild und die daran angrenzende Basilika mit mehreren Kapellen bilden das sakrale Zentrum der Anlage, deren weithin sichtbares Zeichen ein 106 Meter hoher schmaler Turm ist. Das Arsenal im Westen des Gebäudekomplexes erinnert an die Festungsfunktion, die das Kloster vom 17. bis ins 19. Jahrhundert erfüllte. Das Klosterkomplex mit seinen reichen Sammlungen gilt als eines der wichtigsten Zeugnisse der polnischen Geschichte. Das im ausgehenden 14. Jahrhundert gegründete Sanktuarium blickt auf eine seitdem ununterbrochene Wirkungsgeschichte zurück, die in einem engen Zusammenhang mit der Verehrung einer Muttergottesikone vom byzantinischen Typus der Hodegetria steht. Ihr dunkles Inkarnat hat der Maria den Beinamen „Schwarze Madonna“ eingebracht. Ihr auffälligstes Merkmal sind allerdings zwei Schnitte, die ihrem Antlitz bei einem Raubüberfall auf das Kloster im Jahr 1430 zugefügt wurden und die die Wundertätigkeit des Bildes begründeten. Von Beginn an wurde die Madonna von den polnischen Königen verschiedener Dynastien und dem Adel verehrt und für politische Belange in Anspruch genommen. Als oberste Befehlshaberin, Heerführerin (Hetmanin) und Palladium gegen die Feinde Polens stand sie nicht nur für die militärischen Erfolge der polnischen Armee in der Vergangenheit, sondern verkörperte auch die Tradition des Freiheitskampfes und die polnische Leidensgeschichte. Im Laufe der Jahrhunderte entwickelten sich sowohl die Ikone als auch ihr Aufbewahrungsort, das Paulinerkloster in Jasna Góra, neben dem polnischen Wappen zu den wichtigsten Symbolen nationaler Einheit und Integrität. Die Verehrungskonjunkturen des Gnadenbildes sind in die polnische Geschichte eingeschrieben: Die Gegenreformation, der Verlust der Eigenstaatlichkeit während der Teilungen Polens vom Ende des 18. Jahrhunderts bis zum Ende des Ersten Weltkriegs sowie die Erfahrung der kommunistischen Diktatur waren Perioden intensiver Kultentfaltung der 136

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Ikone und bestimmten die Entwicklung und den Ausbau des Sanktuariums. So wurde das Gnadenbild beispielsweise im 19. Jahrhundert zum Inbegriff des Patriotismus. Seine heutige Wahrnehmung geht auf die kommunistische Zeit zurück, in der sich die Oppositionsbewegung im Kampf gegen das kommunistische Regime auf die moralische Autorität der Ikone stützte. II. Die Gründung des Sanktuariums und die Kultanfänge der Muttergottes von Jasna Góra Auf Initiative des Piastenfürsten Władysław II. von Oppeln wurde 1382 das Kloster auf Jasna Góra gegründet und mit Paulinereremiten aus Ofen besetzt. Zwei Jahre später übergab der Herzog ihnen eine wahrscheinlich aus Ofen importierte Marienikone. Die älteste Quelle, die aus dem 15. Jahrhundert stammende Translatio Tabulae, nennt abweichend Belz in der Ukraine als Herkunftsort. Die Zuverlässigkeit dieser Angabe ist aber zweifelhaft. Das Gnadenbild vom byzantinischen Typus der Hodegetria zeigt die Muttergottes als annähernd frontales Brustbild. Maria trägt ein dunkelblaues, mit goldenen Lilienmotiven verziertes Kleid und ein ebenso dekoriertes Maphorion, das ihr Haupt und ihre Schultern bedeckt und dessen rotes Innenfutter an den umgeschlagenen Säumen aufleuchtet. Das rot gewandete Christuskind sitzt aufrecht auf Marias linkem Arm und hebt seine Rechte zum Segenszeichen. In der Linken hält es die Heilige Schrift, das Zeichen des neuen Bundes. Lange Zeit herrschte die Auffassung, das Bild sei eigenhändig vom heiligen Lukas in Jerusalem auf einem Tischblatt aus dem Haus der Heiligen Familie angefertigt worden, weshalb es als Sacrum verehrt wurde. Tatsächlich entstand die Darstellung jedoch wohl um die Mitte des 13. Jahrhunderts auf dem Balkan und war vermutlich Bestandteil einer Ikonostase, aus der sie herausgelöst wurde, bevor sie in den Westen gelangte. Ein sienesisch geschulter Maler restaurierte das Bild im 14. Jahrhundert, wobei er dessen ostkirchlichen Typus beibehielt, der Darstellung aber einen gleichsam westlichen Anstrich verlieh. Es ist anzunehmen, daß zu diesem Zeitpunkt auch zwei mit Edelsteinen bestückte Zierbleche aus Gold und Silber entstanden, die auf der Vorder- und Rückseite des Gemäldes montiert waren und seinen Rang zusätzlich verdeutlichten. Veranlaßt wurden diese Maßnahmen wahrscheinlich durch die in Ofen residierenden Anjou, die mit den polnischen Piasten eng verwandt waren und diese auch beerbten. Im Jahr der Thronbesteigung Hedwigs von Anjou in Polen gelangte 138� auch die Marienikone durch Władysław von Oppeln, der als Statthalter der Anjou fungierte, ins Paulinerkloster bei Tschenstochau. Von Beginn an erfuhr das Bild der Muttergottes besondere Verehrung seitens der polnisch-litauischen Jagiellonendynastie, die Hedwig durch ihre Heirat mit dem litauischen Fürsten Jogaila 1386 begründete. Dieser erneuerte als König Władysław II. Jagiełło 1393 die Klosterstiftung und setzte sich für Ablaßprivilegien beim Papst ein, später entwickelte sich außerdem die Tradition königlicher Wallfahrten im Zusammenhang mit Krönungen oder militärischen Handlungen. 137

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Der große Pilgerzulauf machte bereits fünfzig Jahre nach Gründung des Klosters dessen Ausbau notwendig, der ab 1429 mit königlicher Unterstützung erfolgte. In diesem Zusammenhang kam es im April 1430 zu einem Raubüberfall, bei dem die Ikone ihres reichen Schmuckes beraubt und stark beschädigt wurde. Władysław Jagiełło veranlaßte eine Restaurierung des Bildes durch Krakauer Maler (1430–1434), bei der sich allerdings der Überlieferung nach die Schnitte im Gesicht der Maria auf wundersame Weise nicht übermalen ließen – als Zeugnisse des Sakrilegs wurden sie zu ihrem „Signum“. Die Tschenstochauer Ikone war allerdings schon vorher „verwundet“ gewesen, denn an Marias Hals ist ein älterer Pfeileinschuß nachweisbar, der durch aufwendige Verzierungen ausgewiesen war. Bei der Restaurierung von 1430 wurde diese Stelle retuschiert und die „frische Wunde“ statt dessen durch rote Einfärbung exponiert, wodurch die „Leidensgeschichte“ des Bildes eine neue lokale Prägung erhielt und seine Wundertätigkeit herausgestellt wurde. Anläßlich der Restaurierung entstanden außerdem gravierte und getriebene Silberbleche zur Verzierung des Bildhintergrundes, die als eine Gabe König Władysławs II. gelten und bis heute in Gebrauch sind. Das Sakrileg von 1�30 verlieh der Marienikone eine zusätzliche Autorität und trug auch überregional zu ihrer Kultentwicklung bei. An die unter dem Patronat des Heiligen Kreuzes und der Jungfrau Maria 1�63 konsekrierte neue Klosterkirche wurde eine separate spätgotische Marienkapelle zur Präsentation der Ikone angebaut, die man im 17. Jahrhundert noch erweiterte. Bis zum heutigen Tag hat diese Kapelle ihre Funktion beibehalten. Zahlreiche Wappen des frühen 16. Jahrhunderts dokumentieren die königliche Förderung durch Sigismund I. und seine Gattin Bona Sforza, die Beteiligung der höchsten geistlichen und weltlichen Würdenträger, unter anderem Kanzler und Primas Jan Łaski, Kronkanzler Krzysztof Szydłowiecki, Primas Andrzej Róża Boryszewski oder der Krakauer Bischof Jan Konarski. Der illustre Kreis der Förderer bezeugt das hohe Prestige des Bauvorhabens. III. Der Aufstieg Jasna Góras zum führenden Heiligtum des Landes im 17. Jahrhundert Während der Reformation, die in Polen einen gemäßigten Verlauf nahm, erlitt weder die volkstümlich geprägte Marienfrömmigkeit noch die Popularität des Tschenstochauer Heiligtums, das in der Anfangsphase unter der Kritik der Marienkult-Gegner stand, einen nennenswerten Rückgang, zumal seit 1573 die Warschauer Konföderation die Gleichberechtigung der Konfessionen garantierte. Mit der Thronbesteigung durch Sigismund III. Wasa verstärkten sich im Land sarmatische Tendenzen. Im Zusammenhang mit den Vorstellungen von Polen als antemurale christianitatis wurde der Marienkult immer stärker zur Abgrenzung gegen fremde Mächte und Kulturen einerseits sowie zur Stärkung staatlicher Zugehörigkeit in einem multiethnischen und multinationalen Königreich andererseits in Anspruch genommen. In Anknüpfung an die Frömmigkeit der Jagiellonen förderten die Wasa-Könige zur Zeit der Gegenreformation den Ausbau des Tschenstochauer Sanktuariums in vielfacher Weise. Damit ging auch die 138

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Stiftungstätigkeit hofnaher Kreise einher. Viele der damals durchgeführten Gestaltungsmaßnahmen prägen bis heute das Erscheinungsbild der Anlage: Eine dreischiffige Kirche im Stil der Spätrenaissance wurde in den Jahren 1641 bis 1644 an die gotische Marienkapelle angebaut, die 16�5 durch Kronkanzler Jerzy Ossoliński einen barocken Ebenholz-Altar erhielt. Für den Aufstieg Jasna Góras zum führenden Heiligtum des Landes erwies sich jedoch vor allem der 1616 durch Sigismund III. initiierte Ausbau des Klosters zu einer Festung als entscheidend; er begründete dadurch dessen militärische und auch politische Bedeutung. Im Zweiten Nordischen Krieg (1655–1661), der unter dem Namen „schwedische Sintflut“ in die polnische Historiographie einging, hielt das befestigte Sanktuarium im ersten Kriegsjahr der Belagerung durch schwedische Truppen, die das Land in Furcht versetzten, erfolgreich stand. Und obwohl Tschenstochau auch im 18. und beginnenden 19. Jahrhundert noch zahlreichen weiteren Belagerungen ausgesetzt war, war es gerade dieser aus militärischer Sicht wenig relevante Sieg von 1655, der den Ruhm des Klosters begründete, galt er doch als ein Wunder Mariens. Das Paulinerschrifttum, besonders die Nova Gigantomachia von 1658 des Priors August Kordecki, stilisierte die Verteidigung Tschenstochaus zum Wendepunkt des Krieges und trug zur Verbreitung der Vorstellung von der Errettung des Königsreichs Polen-Litauen durch die Gnade Mariens bei. Es festigte die Wahrnehmung der Muttergottes von Tschenstochau als oberste Befehlshaberin, Heerführerin (Hetmanin) und Schutzschild gegen die Feinde Polens. Als 1659 König Johann II. Kasimir im „Lemberger Gelübde“ (śluby lwowskie) sich selbst, sein Herrschaftsgebiet sowie sein Volk dem Schutz der Himmelskönigin als Patrona Poloniae unterstellte, wurde dieser Titel im allgemeinen Verständnis in besonderer Weise auf die Muttergottes von Tschenstochau bezogen. Im Sanktuarium selbst spielten sich in der Folgezeit mehrere Ereignisse von staatstragender Bedeutung ab, die den Anspruch der Monarchie auf das symbolische Potential der Kultstätte verdeutlichten: 1658 tagte in Tschenstochau das polnisch-litauische Parlament, 1670 ehelichte dort König Michael Korybut Wiśniowiecki Eleonore von Österreich, und Johann III. Sobieski leistete vor und nach seiner siegreichen Verteidigung Wiens 1683 gegen die Osmanen Fürbitten. Der gesteigerte Ruhm Jasna Góras zeigte sich unter anderem in einer Zunahme des Pilgerwesens und einer damit einhergehenden Spendentätigkeit und führte zu neuen Verehrungs- und Inszenierungsformen der Tschenstochauer Ikone. Es entstand der Brauch, das Gnadenbild zu besonderen Anlässen mit einer reich verzierten Bildauflage in Form eines Gewandes zu schmücken, an das eine große Anzahl von Votivpretiosen montiert war. Das Inventar der Schatzkammer von 1685 nennt bereits vier dieser aufwendig mit Diamanten, Edelsteinen oder Perlen bestickten Schmuckwerke. Das Ausgestalten der Ikone mit Krönungsinsignien und -ornat machte die Idee der königlichen Herrschaft Mariens über Polen für die Gläubigen visuell erfahrbar. Einem höfischen Zeremoniell gleich, wurde das Ver- und Enthüllen des Bildes mit einem 1672 von der Familie Działyński gestifteten Silberdeckel zum Klang einer königlichen Intrada (Hejnał) feierlich zelebriert. 139

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Im Jahr 1717 wurde der Tschenstochauer Ikone eine besondere Ehrung zuteil, als in Jasna Góra die erste von Rom sanktionierte Marienbildkrönung auf polnischem Boden durchgeführt wurde, für die Papst Clemens XI. die Kronen gestiftet hatte. Das in Anwesenheit von 200.000 Pilgern gefeierte Ereignis trug in besonderer Weise zur Kultverbreitung der Schwarzen Madonna bei und zu einer noch stärkeren Verknüpfung des Titels „Königin von Polen“ mit dieser konkreten Mariendarstellung. Damit wurden außerdem neue Formen der Marienverehrung sowie die Gründung einer Marienbruderschaft 1718 initiiert, die mit ihren über 80.000 Mitgliedern großen Einfluß auf die Weiterentwicklung der Marienfrömmigkeit in Polen genommen hat. Die Ausbaumaßnahmen des 17. und 18. Jahrhunderts, an denen führende Adelsfamilien des Landes sowie Künstler und Handwerker von internationalem Ruf beteiligt waren, prägen bis heute das Erscheinungsbild der Klosteranlage, deren sakrales Zentrum die Marienkapelle mit dem Gnadenbild und die daran angrenzende Basilika bilden. Daran angebaut sind die königlichen Zimmer des 17. Jahrhunderts, eine zeitgleich über der Sakristei errichtete Schatzkammer, in der die wertvollsten Votivgaben aus sechs Jahrhunderten der Verehrungsgeschichte präsentiert werden, sowie die nördlich der Marienkapelle um zwei Innenhöfe angeordneten Konventsgebäude, die im 17. Jahrhundert um weitere Trakte erweitert wurden. Das Arsenal im Westen des Gebäudekomplexes sowie mehrere Toranlagen, darunter das künstlerisch beachtenswerte Lubomiski-Tor von 1722/23, erinnern an die Festungsfunktion, die das Kloster bis ins 19. Jahrhundert inne hatte. Die bei einem Brand 1690 stark beschädigte Innenausstattung der Klosterkirche erfuhr in den Jahren 1692 bis 1695 und 1706 bis 1728 eine umfassende Erneuerung im Stil des Spätbarock. Dabei führte Karol Dankwart die Fresken im Mittelschiff und Presbyterium aus, Giacomo Antonio Buzzini entwarf den monumentalen Hauptaltar, während Adam Horatio Casparini den repräsentativen Orgelprospekt realisierte. IV. Jasna Góra in Krisenzeiten der polnischen Staatlichkeit und während der Teilungen des Landes Die politische Situation Polens wurde ab Mitte des 18. Jahrhunderts zunehmend instabil. Mit dem fortschreitenden Verlust königlicher Autorität zugunsten der erstarkenden Magnaten ging auch ein Wandel in der Deutung der marianischen Königswürde einher. Die monarchische Auslegung des Marienpatronats wich mehr und mehr einer ständischen, die Maria als Garantin von Adelsfreiheiten, als Schutzschild sarmatischer Standesprivilegien und vor allem als wahre, über die Wahlmonarchie erhabene Königin Polens propagierte. Vor diesem Hintergrund spielte Jasna Góra in der Konföderation von Bar (1768–1772), einer adeligen Erhebung gegen das Rußländische Reich und den umstrittenen letzten polnischen König Stanislaus August Poniatowski, eine wichtige Rolle. Das Kloster wurde in den Jahren 1769 bis 1771 zum Stützpunkt der Konföderierten, die ihr Eintreten für den Schutz des katholischen Glaubens und des unabhängigen Polens mit Darstellungen 140

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der Tschenstochauer Muttergottes auf Fahnen und Schilder anzeigten. Zum ersten Mal wurde damit die Ikone eindeutig von einer Seite eines innenpolitischen Konflikts vereinnahmt. Die Festung hielt der über zweijährigen Belagerung stand, wurde aber nach dem Niedergang der Konföderation vom polnischen König an Rußland übergeben. Diesen Zustand zementierten bald darauf die in drei Schritten erfolgten Teilungen Polens durch Rußland, Preußen und Österreich in den Jahren 1772, 1793 und 1795, die den endgültigen Zerfall der polnischen Staatsmacht und den Verlust der Eigenstaatlichkeit für über 123 Jahre besiegelten. Während der napoleonischen Kriege, an die sich die Hoffnungen der Polen auf die Wiedererlangung der Unabhängigkeit knüpften, erfüllte Jasna Góra zum letzten Mal in den Jahren 1806 bis 1813 eine Festungsfunktion bei der Abwehr der Österreicher und wurde im April 1813 durch die russische Armee eingenommen. In einer symbolischen Geste ließ Zar Alexander I. anschließend die Festungsmauer bis zur Höhe des ersten Stockwerks niederreißen. Drei Jahrzehnte später brachte sein Nachfolger Nikolaus I. mit dem Wiederaufbau der Mauer seine Toleranz gegenüber dem Katholizismus zum Ausdruck. Nachdem Polen seine Souveränität eingebüßt hatte, begann Jasna Góra eine immer wichtigere Rolle als geistige Heimat der Nation zu spielen. Diese Vorstellung prägte in erheblicher Weise das patriotische Schrifttum der Romantik. Nationaldichter wie Adam Mickiewicz oder Juliusz Słowacki verknüpften in ihren Werken den Freiheitsgedanken mit dem Marienkult. Durch Bezüge auf Kordeckis Nova Gigantomachia rückten sie die legendäre Verteidigung Jasna Góras gegen die Schweden im Jahr 1655 als gerechten Kampf gegen die Feinde des Landes wieder ins öffentliche Bewußtsein. Welche symbolische Autorität dem Paulinerkloster und seinem Gnadenbild daraus erwuchs, verdeutlicht das Vorhaben der Januaraufständischen von 1863/6�, die Tschenstochauer Maria ins Zentrum des neuen Staatswappens aufzunehmen. Die Pauliner von Tschenstochau unterstützten die Nationalerhebungen von 1830/31 (Novemberaufstand) und 1863/6� gegen Rußland; in der Konsequenz wurden 186� einige von ihnen nach Sibirien deportiert, ferner Priesterseminar, Druckerei sowie Apotheke geschlossen, die Klosterverwaltung abgesetzt, der Grundbesitz teilweise kassiert und Agenten des Zaren als Kontrolleure eingesetzt. Daraufhin gingen die materiellen Spenden in Jasna Góra zurück. Außerdem veränderte sich deren Charakter: Votivgaben von eher geringem materiellen, aber hohem emotionalen und symbolischen Wert, wie Handschellen der nach Sibirien Verbannten oder die Erde von Schlachtfeldern des Freiheitskampfes, gaben Zeugnis von der repressiven Haltung der Besatzer und ihren harten Sanktionen gegenüber der polnischen Bevölkerung. Der Marienkult von Tschenstochau wurde somit immer stärker national überlagert und zum Inbegriff des politischen Widerstandes. Die daraus entstehende Konnotation vom Opfertopos ist eine Deutung, die bis heute in der Wahrnehmung der Ikone ihre Gültigkeit behalten hat. Obwohl schwierige Umstände das Wallfahrtswesen zwischenzeitlich beeinträchtigten, waren es gerade die großen Jubiläen, die über die Teilungsgrenzen hinaus die Gläubigen zu Hunderten mobilisierten und somit im nationalen Sinne konsolidierend wirkten. Die 500. Jahrfeier der Klostergründung zog 1882 eine halbe Million Besucher an. Kurz dar141

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Neben literarischen Werken wie dem historischen Roman Potop (Sintflut) des polnischen Literaturnobelpreisträgers Henryk Sienkiewicz hatten Gemälde wie das hier abgebildete von January Suchodolski großen Einfluß auf die Glorifizierung der Verteidigung Tschenstochaus im Jahr 1655 gegen die Schweden. Schriftsteller und Maler vor allem des 19. Jahrhunderts verbanden in ihren Werken patriotische und religiöse Motive mit dem Ziel, die nationalen Abwehrkräfte der Polen zu mobilisieren und so – wie es Sienkiewicz formulierte – ihre „Herzen zu stärken“. Bildnachweis: Muzeum Narodowe w Krakowie, Nr. inw. MNK II-a-8.

auf setzte der historische Roman Potop (Sintflut) von Henryk Sienkiewicz erneut die Verteidigung der Klosterfestung von 1655 opulent in Szene. Das nach wie vor äußerst populäre Buch aus dem Jahr 1883 prägte über Generationen die Vorstellung von Jasna Góra als einem Nukleus des Polentums und des im katholischen Glauben wurzelnden Patriotismus. Der Gedanke, daß Polen nur dank des Marienschutzes als geistiges und nationales Gebilde überleben könne, entwickelte sich während der einhundertdreiundzwanzigjährigen Teilungszeit zum allgemein verbreiteten Topos, der mit Hilfe von allegorischen Darstellungen versinnbildlicht und in Postkartenserien mit dem Bild der Tschenstochauer Muttergottes und den Jahreszahlen der polnischen Teilungen und Aufstände verbreitet wurde. Das subversive Potential solcher Medien wurde am 12. Januar 1910 sogar Gegenstand einer Interpellation im Deutschen Reichstag. 142

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Im Jahr zuvor war die Ikone ihrer päpstlichen Kronen von 1717 und ihres barocken Perlengewandes beraubt worden. Dieses Sakrileg veranlaßte eine wiederholte Bildkrönung, deren feierliche Begehung im September 1910 zur Demonstration nationaler Geschlossenheit über die Teilungsgrenzen hinweg wurde, auch wenn die Besatzungsmächte die Anreise einiger Würdenträger verhinderten. Papst Pius X. schenkte neue Insignien und kam damit Zar Nikolaus II. zuvor, dessen Absicht, Jasna Góra neue Kronen zu stiften, im unfreien Polen Befürchtungen hinsichtlich einer symbolischen Vereinnahmung der polnischen Nationalikone durch Rußland weckte. Bereits 1813 hatte sich Zar Alexanders I. bemüht, das integrative Potential der Tschenstochauer Ikone im Zuge seiner Machtsicherung in Polen zu nutzen, indem er ihren Feiertag in den orthodoxen Kirchenkalender aufnehmen ließ. Eine gewisse Entspannung der politischen Verhältnisse erlaubte es, zu Beginn des 20. Jahrhunderts einige Bauvorhaben auf dem Klostergelände zu realisieren. 1903 bis 191� wurde beispielsweise ein monumentaler Kreuzweg nach den Entwürfen von Pius Weloński um die Festungsmauern errichtet und 1906 der durch einen Brand zerstörte Kirchturm mit einer Höhe von 106 Metern erneuert. Bereits kurz nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 wurde Polen erneut zum Ziel von Angriffen aus dem Osten. Auf den Einmarsch der russischen Truppen 1920 reagierten am 27. Juli die polnischen Bischöfe mit einer erneuten Erwählung der Muttergottes in Jasna Góra zur Königin von Polen. Der Sieg der polnischen Truppen bei Warschau über die Übermacht der Angreifer zu Mariae Himmelfahrt am 15. August wurde als Beleg für das Einwirken der Muttergottes verstanden, der sich noch dadurch festigte, daß Augenzeugen von einer Marienerscheinung auf dem Schlachtfeld berichteten. V. Jasna Góra in der Konfrontation mit dem kommunistischen Regime Den Zweiten Weltkrieg überstand das Kloster weitgehend unbeschadet. Allerdings war der Betrieb nur in eingeschränktem Maße möglich, da die deutsche Wehrmacht fast die gesamte Kriegszeit über die Anlage besetzt hielt. Am 8. September 19�6 weihte Primas August Kardinal Hlond auf Jasna Góra in Anwesenheit von 170.000 Pilgern die polnische Nation dem Unbefleckten Herzen Mariens, womit er an die Tradition des Lemberger Gelübdes Johann Kasimirs von 1656 anknüpfte. Daran orientierte sich sein Amtsnachfolger Stefan Kardinal Wyszyński, der während seiner dreijährigen Internierung von 1953 bis 1956 eine Reihe von Maßnahmen entwickelte, mit denen sich die Kirche in die barocke Tradition des königlichen Marienpatronats stellend und an das Wertekapital der Zwischenkriegszeit anknüpfend als einzig einende Kraft und legitime Vertreterin nationaler Interessen positionierte. Das Zentrum seiner groß angelegten Kampagne zur geistigen Erneuerung Polens, die die breite Bevölkerung im Zeichen des Marienkultes mobilisierte und die katholische Kirche auf Konfrontationskurs zum kommunistischen Regime brachte, war Tschenstochau. 143

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Während des vom Episkopat initiierten Jahres der Königin Polens 1956/57 wurde am 26. August 1956 auf Jasna Góra in Anwesenheit von einer Million Besuchern feierlich die Erneuerung des königlichen Mariengelübdes zu dessen dreihundertjährigem Jubiläum begangen. Die Zeremonie bildete den Auftakt zur Großen Novene, eines auf neun Jahre angelegten Programms zur Vorbereitung der Gläubigen auf die Begehung des tausendjährigen Jubiläums der Christianisierung Polens (Sacrum Poloniae Millennium) im Jahr 1966. Zum Akt eines demonstrativen Patriotismus wurde vor allem die 1957 durch Primas Wyszyński nach dem Vorbild von Lourdes und Fátima initiierte peregrinatio einer päpstlich geweihten Kopie der Tschenstochauer Ikone durch alle Pfarreien des Landes. Die staatlich gelenkten Sabotagen brachten die Wanderschaft des Marienbildes nur für kurze Zeit ins Stocken – sie provozierten vielmehr den Widerstand der Bevölkerung und verstärkten deren Zusammenhalt. Von großer symbolischer Wirkung war die durch die Verhängung eines sechsjährigen Verbots der Ikonenwanderschaft (1966–1972) ausgelöste Fortsetzung der Wallfahrt mit einem demonstrativ leeren Bilderrahmen. Die Wanderschaft der Ikonenkopie wurde in den 1960er Jahren ausgehend von exilpolnischen Zentren auch auf allen Kontinenten durchgeführt. Der Bedeutungszuwachs Jasna Góras als transnationaler Wallfahrtsort zeigte sich anläßlich der zentralen Millenniumsfeierlichkeiten von 1966 besonders deutlich. Zahlreiche Pilger aus anderen Staaten des Rats zur gegenseitigen Wirtschaftshilfe (RGW), unter anderem der Tschechoslowakei und Kroatien, suchten das Marienheiligtum auf. Das Zweite Vatikanische Konzil bot außerdem die Gelegenheit, international auf die polnische Religiosität mit dem Zentrum in Tschenstochau als Träger der Erneuerung des unter dem kommunistischen Regime leidenden Katholizismus aufmerksam zu machen. Im marianischen Programm Kardinal Wyszyńskis wurzelte die Frömmigkeit Karol Wojtyłas, der sein 1978 begonnenes Pontifikat unter die auf Maria bezogene Devise Totus Tuus stellte. Ein zentraler Punkt seiner ersten Polenreise als Papst im Jahr 1979 war ein Tschenstochau-Besuch, der 3,5 Millionen Pilger, auch aus dem Ausland, anzog und eine wichtige Anregung für die Gründung der Solidarność-Bewegung ein Jahr später war. Ihrem Erwachsen aus der katholischen Opposition trug die Gewerkschaft auf symbolische Weise Rechnung, indem sie außer mit ihrem berühmten Schriftzug auch mit dem Bildnis der Muttergottes von Tschenstochau firmierte. Solidarność vermittelte mit diesem auf Flugblättern und Ansteckern gedruckten Bild Glaubwürdigkeit, Verpflichtung gegenüber nationalen Interessen und Nähe zur katholischen Kirche. Auf die Verhängung des Kriegsrechts am 13. Dezember 1981, das die Machtübernahme durch das Militär und die Sicherheitsorgane in Übereinstimmung mit der Sowjetunion sowie eine Zeit verstärkter Repressionen gegen die Zivilbevölkerung einleitete, antwortete die Kirche 1982/83 mit einer groß angelegten 600-Jahr-Feier der Anwesenheit der Schwarzen Madonna in Tschenstochau, mit der sie sich gleichzeitig nach dem Tod Wyszyńskis im Mai 1981 des Rückhalts in der Bevölkerung vergewisserte. Diesmal versuchte das Regime, mit thematischen Ausstellungen in Warschau und Breslau sowie einer Briefmarkenserie der polnischen Post am symbolischen Potential des Gnadenbildes 144

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zu partizipieren und gleichzeitig dessen Sakralität und emotionale Aufladung durch eine wissenschaftlich-rationale Wahrnehmung der Nationalikone als Kunstwerk und historisches Denkmal auszuhöhlen. Der Paulinerorden organisierte seinerseits 1982 und in den Folgejahren künstlerische Arbeitstreffen, aus denen Werke namhafter Künstler von starkem symbolischem und politischem Charakter hervorgingen. Vor allem aber gründete er im selben Jahr mit dem Museum zur sechshundertjährigen Geschichte von Jasna Góra eine bleibende Einrichtung, die sowohl die Verehrungsgeschichte der Ikone als auch die Tätigkeit des Paulinerordens dokumentiert. Die politische Wende von 1989/90 eröffnete der katholischen Kirche in Polen neue Handlungsmöglichkeiten und -felder und verstärkte ihre mediale Präsenz, was zu einer deutlichen Zunahme der Frömmigkeitspraxis führte, gleichzeitig aber auch Säkularisierungstendenzen mit sich brachte. Das Tschenstochauer Heiligtum erfreut sich als Pilgerzentrum nach wie vor eines großen, internationalen Zuspruchs. Und obwohl neue, spektakuläre Kirchenbauprojekte wie die Basilika von Licheń großes Interesse auf sich ziehen, kann Tschenstochau seine auf eine lange Tradition gegründete Position als führendes Sanktuarium und nationales Heiligtum weiterhin behaupten. In den letzten Jahren zeichnet sich in Jasna Góra die Tendenz ab, durch die Wiederbelebung und Aktualisierung tradierter Verehrungsformen wieder stärker an den gesellschaftlichen Diskursen zu partizipieren und diese mit anzustoßen. Beispielsweise entstanden nach einer längeren Pause in den Jahren 2005 und 2010 neue Gewänder als Votivgaben der Nation an die Marienikone. Das zuletzt angefertigte Gewand sollte auf symbolische Weise an den Absturz des Flugzeugs des polnischen Staatspräsidenten am 10. April 2010 bei Smolensk erinnern, der eine große gesellschaftliche Kontroverse auslöste. Das Werk wurde darüber hinaus als eine politische Stimme verstanden und rief deshalb Zuspruch wie Kritik hervor. Möglicherweise war das einer der Gründe für den Farbanschlag, den im Dezember 2012 ein Einzeltäter auf das Marienbild verübte. Im selben Jahr wurde die Tradition der Wanderschaft einer Ikonenkopie wiederaufgenommen. Sie sollte weltweit stattfinden und ökumenischen Charakter tragen. Zum ersten Mal verbanden sich im Zeichen der Tschenstochauer Muttergottes die katholische Kirche Polens und die orthodoxe Kirche Rußlands im Bemühen um den Schutz des (ungeborenen) Lebens. Auch im pluralistischen Polen der Nachwendezeit hat Jasna Góra seine Aktualität bewahren können. Zentral dafür ist, daß die Maria von Tschenstochau stets unverändert und wandelbar zugleich geblieben ist, daß sie einerseits die Tradition verkörpert und andererseits mit neuen Inhalten aufgeladen werden konnte. Selbst wenn die Rolle der Kirche und ihr Wertesystem in der zunehmend säkularen Gesellschaft Polens hinterfragt werden, behält die Muttergottes von Tschenstochau ihr symbolisches Potential und fungiert als Gradmesser innenpolitischer Stimmungen.

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VI. Auswahlbibliographie KordecKi, Augustyn: Nova Gigantomachia contra Sacram Imaginem Deiparae Virginis a Sancto Luca depinctam et in Monte Claro Częstochoviensi [...] per Suecos et alios Haereticos excitata. O. O. 1657– 1658 [Polnische Übersetzung: Pamiętnik oblężenia Częstochowy 1655 r. Nova Gigantomachia. Częstochowa 1991]; Kersten, Adam: Obrona klasztoru w Jasnej Górze [Die Verteidigung des Klosters in Jasna Góra]. Warszawa 1964; rozanoW, Zofia: The Cultural Heritage of Jasna Góra. Warszawa 1979; czerWień, Henryk/zbudnieWeK, Janusz: Bibliografia piśmiennictwa Jasnej Góry i jej obrońcy o. Augustyna Kordeckiego za lata 1655–1977 [Bibliographie des Schrifttums zu Jasna Góra und ihrem Verteidiger Pater Augustyn Kordecki in den Jahren 1655–1977]. Warszawa 1979; zaLesKi, Wincenty: Jasna Góra 1382–1982. Łódź 1981; JabłońsKi, Szczepan Z.: Z dziejów kultu Matki Boskiej Częstochowskiej w XVI w. [Aus der Geschichte des Kultes der Muttergottes von Tschenstochau im 16. Jahrhundert]. In: Studia Claromontana 2 (1981) 65–80; łuKaszuK, Tadeusz: Tytuły prawne królewskiej godności Maryi według O. Ambrożego Nieszporkowicza [Rechtliche Aspekte der Königswürde Mariens nach Pater Ambroży Nieszporkowicz]. In: Studia Claromontana 2 (1981) 223–2�7; JełoWiecKa, Jadwiga: Nawiedzenie polskich parafii przez kopię obrazu Matki Bożej Jasnogórskiej [Die Heimsuchung der polnischen Pfarreien durch die Bildkopie der Muttergottes von Jasna Góra]. In: Studia Claromontana 2 (1981) 91–107; abraMeK, Rufin Józef: „Jasnogórska“ mariologia Kardynała Karola Wojtyły Papieża Jana Pawła II [Die Jasna-Góra-Mariologie Kardinal Karol Wojtyłas, des Papstes Johannes Paul II.]. In: Studia Claromontana 1 (1981) 7–39; toMzińsKi, Jerzy: Jasnogórska Maryja w życiu i służbie Ks. Kard. Stefana Wyszyńskiego, Prymasa Polski [Die Maria von Jasna Góra im Leben und Dienst Stefan Kardinal Wyszyńskis, Primas von Polen]. In: Studia Claromontana 2 (1981) 5–�5; rożeJ, Stefan Jan: Obecność Matki Boskiej Jasnogórskiej w polskiej twórczości poetyckiej [Die Muttergottes von Jasna Góra in der polnischen Lyrik]. In: Studia Claromontana 3 (1982) 30–�2; toMczyKoWsKa, Wanda: The History and Legend of the Black Madonna. San Francisco 1983; borKoWsKa, Urszula: Jasna Góra w pobożności królów polskich [Jasna Góra in der Frömmigkeit der polnischen Könige]. In: Studia Claromontana � (1983) 126–1�6; JasnoWsKa, Weronika: Jasna Góra w sercu narodu [Jasna Góra im Herzen der Nation]. Częstochowa/Jasna Góra 1985; borKoWsKa, Urszula: Królowie polscy na Jasnej Górze od czasów Jana Kazimierza do końca Rzeczypospolitej Obojga Narodów [Polnische Könige in Jasna Góra von Johann Kasimir bis zum Ende der Adelsrepublik der beiden Nationen]. In: Studia Claromontana 6 (1985) 63–87; MaLińsKi, Mieczysław: Czarna Madonna [Schwarze Madonna]. Poznań 1985; Kopeć, Jerzy Józef: Geneza patronatu maryjnego nad narodem polskim [Die Genese der Schutzherrschaft Mariens über das polnische Volk]. In: Roczniki Humanistyczne 3�/2 (1986) 275–292; WyrWas, Stanisława: Dzieje kultu Najświętszej Maryi Panny Królowej Polski. Studia historyczno-liturgiczne [Die Geschichte des Kultes der allerheiligsten Jungfrau Maria, Königin Polens. Historisch-liturgische Studien]. Lublin 1986; JełoWicKa, Jadwiga. Narodziny instytutu prymasowskiego ślubów narodu na Jasnej Górze w czasach okupacji hitlerowskiej [Die Gründung des primasischen Instituts des Nationaleides auf Jasna Góra zur Zeit der Hitler-Okkupation]. In: Studia Claromontana 8 (1987) 126–136; chroŚcicKi, JuLiusz a.: Gigantomachia, komety i ulotki. Studia nad ikonografią oblężenia Jasnej Góry w roku 1655 [Gigantomachia, Kometen und Flugblätter. Studien zur Ikonographie der Belagerung von Jasna Góra im Jahr 1655]. In: Studia Claromontana 7 (1987) 121–133; buKsińsKi, Stefan Jerzy: „Oblężenie Jasnej Góry Częstochowskiej“. Próba nowego spojrzenia na poemat i jego autora [„Die Belagerung Tschenstochaus“. Versuch eines neuen Blicks auf das Poem und seinen Autor]. In: Studia Claromontana 7 (1987) 1�1–182; zaKrzeWsKi, Andrzej: Częstochowa w kulturze religijnej polskiego baroku [Tschenstochau in der religiösen Kultur des polnischen Barock]. Częstochowa 1988; starnaWsKi, Jerzy: Augustyn Kordecki w oświetleniu Mickiewicza [Augustyn Kordecki beleuchtet durch Mickiewicz]. In: Studia Claromontana 9 (1988) 195–200; boGacKa, Joanna (Hg.): Przewodniczka: Kult Matki Boskiej w Polsce. Od Lumen Gentium do Redemptoris Mater 196�–1987 [Die Führerin. Der Marienkult in Polen. Von Lumen Gentium bis Redemptoris Mater 196�–1987]. Jasna Góra/Częstochowa 199�; WitKoWsKa,

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Agnieszka Gąsior nerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2007, 77–98; KurpiK, Wojciech: Częstochowska Hodegetria [Die Tschenstochauer Hodegetria]. Łódź/Pelplin 2008; MichaeL, Holger: Der schwarze Mythos. Die katholische Kirche Polens im 20. Jahrhundert. Berlin 2009; pach, Jan (Hg.): Królowa w nowych szatach. Uroczyste nałożenie Wotum Narodu Polskiego – Koron i Szat Miłości, Wdzięczności, Cierpienia i Nadziei � września 2010 r. [Die Königin in neuen Gewändern. Die feierliche Aufsetzung des Votums der Polnischen Nation – der Kronen und der Gewänder der Liebe, der Dankbarkeit, des Leidens und der Hoffnung am 4. September 2010]. Częstochowa 2011.

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Tyrnau I. Zusammenfassung. – II. Tyrnau als neuer Sitz der Graner Erzbischöfe. – III. Zentrum des ungarischen Katholizismus (1615–1777). – IV. Tyrnau in der religiös-kulturellen Erinnerung. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Osmanen besiegten 1526 die Ungarn bei Mohács und führten bis zur Besetzung der Hauptstadt des Königreichs Ungarn, Ofen, im Jahr 1541 mehrmals Feldzüge gegen Wien und ungarische Städte. Dies hatte zur Folge, daß der unweit von Ofen liegende Sitz des Graner Erzbischofs wiederholt durch die Osmanen bedroht war. 1532 flüchteten der Erzbischof und das Domkapitel nach Tyrnau, das am anderen Ufer der Donau lag. Als 1543 Gran gefallen war, wurde der Sitz der Erzbischöfe in Tyrnau eingerichtet. Von hier aus wurde die ungarische katholische Kirche von 15�1 bis 1820 geleitet und zur Zeit der sich verbreitenden Reformation im 16. Jahrhundert neu organisiert. Unter Erzbischof Péter Pázmány entwickelte sich Tyrnau nicht nur zum Zentrum der katholischen Erneuerung und Barockkultur, sondern auch zu einem symbolischen Ort der reorganisierten katholischen Kirche im Stephansreich. Das historische Stadtzentrum zeichnet sich durch eine größere Anzahl an Kirchen aus, darunter mit der Kathedrale St. Johannes Baptist eine der größten Kirchen Europas. Die Stadt wurde daher traditionell als „Klein-Rom“ (parva Roma), seit dem Ende des 20. Jahrhunderts auch als „Slowakisches Rom“ bezeichnet.

II. Tyrnau als neuer Sitz der Graner Erzbischöfe Miklós Oláh, einer der herausragenden Humanisten seiner Zeit, wurde 1553 in der St. Nikolaus-Kirche von Tyrnau zum Erzbischof von Gran geweiht. Während seiner Amtszeit begann der Ausbau Tyrnaus zum Zentrum der katholischen Kirche Ungarns; auch die Bauarbeiten an einem erzbischöflichen Palast wurden zu jener Zeit in Angriff genommen. Oláh holte die Jesuiten in die Stadt und übertrug ihnen 1561 die Leitung der Stadtschule. Die Societas Jesu führte ein Fünf-Klassen-Gymnasium ein und modernisierte den Unterricht im Sinne der studia humanitatis. 1566 gründete der Orden überdies ein Priesterseminar. Obwohl die Jesuiten Tyrnau wegen verschiedener Differenzen mit dem Stadtrat, der seine Privilegien durch die Tätigkeit der Gesellschaft Jesu bedroht sah, verlassen mußten, konnte die katholische Schule ihr hohes Niveau bewahren. Dies war besonders deshalb beachtlich, weil sich die Mehrheit der aus Ungarn, Deutschen und Slowaken bestehenden Landbevölkerung entweder der reformierten und lutherischen Konfession angeschlossen hatte oder völliges Desinteresse an der Glaubenserneuerung zeigte. Seit 1560 rief Oláh in Tyrnau jedes Jahr eine Diözesansynode zusammen, auf der 149

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er versuchte, die Beschlüsse des Konzils von Trient durchzusetzen. Seine Bemühungen stießen freilich auf Hindernisse, da die meisten Pfarrer der Diözese vergleichsweise ungebildet waren. Zudem bestand in jener Zeit, in der sich die Reformation rasch ausbreitete, stets die Gefahr, daß die Geistlichen ihr Bekenntnis ganz wechselten und sich der reformatorischen Bewegung zuwandten. Mit Hilfe der Synoden konnte die katholische Kirchenorganisation – und damit die Bedingung für eine spätere Reorganisation nach Zurückdrängung der Osmanen – allerdings erhalten werden. Nach dem Tod von Erzbischof Oláh 1568 setzte die kirchliche Hierarchie ihre Bemühungen fort, die katholische Kirche Ungarns innerlich zu festigen, und ergriff wichtige Maßnahmen, um dem sich immer mehr ausbreitenden Protestantismus Einhalt zu gebieten. Erste Erfolge konnte Erzbischof Ferenc Forgách vorweisen, der sich auf den jungen, außerordentlich begabten Jesuiten Péter Pázmány stützte. Im Auftrag Forgáchs nahm Pázmány in ungarischsprachigen Streitschriften den Kampf mit den protestantischen Lehren auf. Nach zahlreichen Polemiken gab er 1613 eine monumentale apologetische Synthese unter dem Titel Isteni igazságra vezérlő Kalauz (Wegweiser zur göttlichen Wahrheit) heraus. In Tyrnau sowie im nahegelegenen Preßburg, seit der Eroberung Ofens durch die Osmanen Sitz des ungarischen Landtags und der Landesverwaltung, zeigten Pázmánys Predigten große Wirkung. Hier konnte er mehrere politisch exponierte Adelsfamilien zum Katholizismus zurückführen. Als Forgáchs Nachfolger auf dem Primasstuhl wurde Pázmány, der Tyrnau zum geistigen und repräsentativen Zentrum der Kirche ausbauen ließ, die führende Persönlichkeit des Katholizismus in Ungarn. 1615 kehrten auch die Jesuiten in die Stadt zurück, denen Pázmány die Ausbildung der neuen katholischen Elite des Landes anvertraute. III. Zentrum des ungarischen Katholizismus (1615–1777) Nach dem Umzug des Domkapitels von Gran nach Tyrnau wurde die mittelalterliche gotische St. Nikolaus-Kirche zum bischöflichen Dom erweitert, wo künftig die wichtigsten Würdenträger – die bekannten Glaubensstreiter Miklós Telegdi und András Monoszlóy etwa, der Bibelübersetzer György Káldy und Pázmány selbst – ihre Predigten halten sollten. Pázmány ließ die Kirche restaurieren und mit neuen Altären, Seitenkapellen, einer neuen Kanzel und einem Fußboden aus Marmor versehen. Neben der Domkirche hatten auch die seit dem Mittelalter in der Stadt angesiedelten Orden der Franziskaner und Dominikaner sowie die Barmherzigen Brüder ihre eigenen Kirchen, Ordenshäuser und Institutionen. Aus den erzbischöflichen Einkünften unterstützte Pázmány die Tätigkeit dieser Ordensgeistlichen, vor allem aber die der Jesuiten, denen er bei der Rekatholisierung des ungarischen Adels eine zentrale Rolle zuwies. Auf Ersuchen der Jesuiten und des Erzbischofs wurde mit finanzieller Unterstützung des Palatins Graf Miklós Esterházy, einem der reichsten Aristokraten des Landes und selbst Zögling der Gesellschaft Jesu, zwischen 1629 und 1637 die nach Johannes dem Täufer benannte Kirche der Jesuiten erbaut, und zwar nach dem Vorbild von Gotteshäu150

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sern in Rom und Wien im neuen Barockstil. Die Pläne dieser ersten Barockkirche im gesamten Karpatenbecken überhaupt, deren aufwendige Innenarbeiten erst an der Wende zum 18. Jahrhundert dank der Unterstützung von Fürst Pál Esterházy abgeschlossen werden konnten, hatten die italienischen Architekten Pietro und Antonio Spazzo entworfen. Die Kirche diente später zugleich als Universitätskirche. Pázmány konnte mit Hilfe der Jesuiten die Wirkung und Tätigkeit der Protestanten in Tyrnau und in der Diözese zurückdrängen und versuchte, auch mit anderen Mitteln die Position der katholischen Kirche zu stärken. Zu diesem Zweck organisierte er in Tyrnau regelmäßig Diözesansynoden, belebte die Kirchenvisitationen neu, ließ die Liturgie vereinheitlichen und die Gottesdienste festlicher veranstalten. Er konnte auch viele der entwendeten oder verpfändeten Besitztümer des Erzbistums zurückerlangen. Unterstützt wurde er durch die Sacra Congregatio de Propaganda Fide in Rom und eine Jahresrente (annua pensio) vom spanischen König. Durch diese Gelder konnte Pázmány binnen eines Jahrzehnts das erzbischöfliche Einkommen, das zur Priesterausbildung und zum allmählichen Ausbau Tyrnaus zum Zentrum des ungarischen Katholizismus verwendet wurde, auf das Dreifache erhöhen. Zur barocken Repräsentation gehörten pompöse Pontifikalfeiern, bei denen Theaterstücke durch Schüler und Studenten der Stadt unter Leitung der Jesuiten aufgeführt wurden. Im Rahmen von Fronleichnamsprozessionen und Bischofsweihen, aber auch aus Anlaß von Schuljahresabschlußfeiern kam es oft zu solchen Aufführungen, die zugleich der Erbauung der Jugend und der Stadtbevölkerung dienten. In den Stücken wurden die Taten jesuitischer Heiliger wie Ignatius von Loyola und Franz Xaveri oder der ungarischen Könige verherrlicht, wodurch die Studenten von Tyrnau landesweit bekannt und sogar zu Gastspielen nach Wien eingeladen wurden. Pázmány erkannte die hohe Bedeutung der Erziehung sowohl der Jugend als auch der Priester für die Stärkung der Position der Katholiken. Er übergab das alte Ordenshaus der Tyrnauer Dominikaner an die Jesuiten, die dort ein Gymnasium und später auch ein Seminar für weltliche Priester eröffneten. Außerdem ließ er ein Adelskonvikt und ein Studienhaus für nichtadelige Jugendliche errichten und gründete das Kollegium Bursa Sancti Adalberti zur Erziehung weltlicher Führungskräfte. Nach dem Muster Tyrnaus wurden zahlreiche weitere Jesuitenkollegien im Königlichen Ungarn errichtet, vor allem in Preßburg und in Raab. Daß Pázmány das wichtigste Priesterseminar, das nach ihm benannte und bis heute bestehende Pazmaneum, 1623 in Wien begründete, hing vor allem mit der politischen und militärischen Situation im 17. Jahrhundert zusammen. Die begabtesten ungarischen Studenten konnten ihr Theologiestudium mit Pázmánys finanzieller Unterstützung zunächst in Wien, später dann im Collegium Germanicum Hungaricum in Rom fortsetzen. Tyrnau nahm damit im intellektuellen und kulturellen Leben des südosteuropäischen Katholizismus eine dominante Stellung ein. Aus den von Pázmány unterstützten Schulen und Konvikten gingen im 17. Jahrhundert namhafte Ordinarien hervor, die den Erzbischofssitz später mit weiteren repräsentativen Bauten ausschmückten. Erzbischof György Lippai beispielsweise errichtete 1649 das Generalseminar Convictus Rubrorum für Theologen aus dem gesamten Karpatenraum. Sein Nachfolger, György Szelepcsényi, ließ das 151

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Seminar Convictus Marianum erbauen. Für die adeligen Studenten ließ Königin Maria Theresia in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts ein palaisartiges Konvikt errichten. Die bedeutendste Bildungseinrichtung Tyrnaus mit einer hohen Ausstrahlungskraft war allerdings die 1635 durch Pázmány gegründete Universität, deren Leitung der Erzbischof den Jesuiten übergab. Sie bestand wie allgemein üblich aus zwei Fakultäten, der Theologischen und der Artistenfakultät. 1667 kam eine Juristische, 1769 auch eine Medizinische Fakultät hinzu. Die Methodik und das Lehrmaterial des Unterrichts waren durch die Ratio Studiorum vorgegeben, wodurch sich die Universität von Tyrnau in das weltweite Bildungsnetz der Gesellschaft Jesu einfügte. Die Zahl der Studenten war nach 1635 innerhalb von nur acht Jahren auf 200 gestiegen. Bis 1777 erwarben insgesamt �.315 Personen an der Universität Tyrnau, deren Studenten aus allen Landesteilen kamen, einen akademischen Grad. Blickt man auf die Geschichte der Universitätsgründungen in Ungarn, so entstand in Tyrnau erstmals eine kontinuierlich funktionierende Universität, die ihre Tätigkeit mit der Zeit sogar erweitern konnte und auch erhalten blieb, als der Jesuitenorden 1773 in Ungarn aufgelöst wurde. Die Hochschule, die von Maria Theresia nach Ofen und von Joseph II. kurz danach nach Pest verlegt wurde, erhielt 1950 nach mehreren Umgestaltungen den Namen Loránd Eötvös Universität. Es waren jedoch nicht allein die neuerrichteten Seminare und die Universität, die das Stadtbild von Tyrnau und dessen Bedeutung als Zentrum des ungarischen Katholizismus prägten. Nicht minder folgenschwer war, daß man seit 1635 in der Klarissenkirche wichtige Reliquien, darunter die der sogenannten Kaschauer Märtyrer, aufbewahrte. Sie stammen von den drei Priestern, die 1619 während eines Ständeaufstands unter Führung Gábor Bethlens in Kaschau gemartert worden waren, weil sie es abgelehnt hatten, zum reformierten Bekenntnis zu konvertieren. (Alle drei wurden von Papst Johannes Paul II. bei dessen Besuch in Tyrnau 1995 heiliggesprochen.) In der Stadt befinden sich überdies mehrere imposante Statuengruppen, so beispielsweise die Dreifaltigkeitsstatue (1695) auf dem Hauptplatz und das Standbild des Heiligen Joseph (1731), die jeweils als Dank für das Ende einer Pestepidemie errichtet wurden. Die Vielzahl dieser Einrichtungen, Denkmäler und Funktionen ließ bereits die Zeitgenossen, die Tyrnau aufsuchten, von einem „Kleinen Rom“ sprechen. Tyrnau spielte schon im 16. Jahrhundert eine Schlüsselrolle im katholischen Verlagswesen. Es gab zwar im Königreich Ungarn und im Fürstentum Siebenbürgen mehrere protestantische Druckereien, die Katholiken aber verfügten lediglich über eine einzige Offizin in Tyrnau. Sie war entstanden, als der erzbischöfliche Vikar Miklós Telegdi die von den Wiener Jesuiten veräußerte Druckereiausrüstung gekauft und in seinem eigenen Haus mit finanzieller Unterstützung Kaiser Rudolfs II. und des Domkapitels eine Druckerei eingerichtet hatte. Mit deren Leitung war der vielseitig begabte Priester Lukács Pécsi betraut worden, der Dichter, Kalenderschreiber und Korrektor in einer Person war. In der Tyrnauer Druckerei wurde neben wichtigem religiösen Schrifttum, Kalendern und katholischen Polemiken 158� auch die komplette Gesetzessammlung Ungarns (Corpus juris Hungarici) herausgegeben. Die Druckerei des Domkapitels arbeitete bis zum Jahr 1609, als Erzbischof Forgách in Preßburg eine neue katholische Druckerwerkstatt 152

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einrichtete. Der Universitätsunterricht in Tyrnau machte dann die Gründung einer neuen Druckerei erforderlich, so daß die Stadt von 16�8 an bis zum Ende des 18. Jahrhunderts abermals zu einer Hochburg des katholischen Verlagswesens wurde. Hier erschienen Universitätsdisputationen mit aufwendigen Kupferstichen, repräsentative Werke wie die Abhandlung von János Lippai über die barocke Gartenkunst (166�), barocke Predigtsammlungen (beispielsweise von András Illyés) oder mehrbändige Werke wie die Enzyklopädie Curiosiora et selectiora variarum scientiarum miscellanea des Präfekten der Druckerei, Márton Szentiványi (1689–1702). Seinen unbestrittenen Höhepunkt erreichte der Buchdruck in Tyrnau in den Jahrzehnten zwischen 1711 und 1777, in denen mehr als �.000 Bücher verlegt werden konnten. Die Werke erschienen mehrheitlich in lateinischer Sprache, danach folgten Abhandlungen auf Ungarisch und Slowakisch. Der Höhenflug endete jäh mit der Auflösung der Gesellschaft Jesu. Als die Druckerei Ende des 18. Jahrhunderts in staatliche Hände fiel, wurde sie zusammen mit der Universität nach Ofen verlegt. IV. Tyrnau in der religiös-kulturellen Erinnerung Tyrnau war fast drei Jahrhunderte lang Zentrum des ungarischen Katholizismus und der mitteleuropäischen barocken Bildung. Von hier aus wurden lebhafte Kontakte mit Rom und Wien gepflegt, wodurch die Stadt eine wichtige Rolle nicht nur in der Ausgestaltung der katholischen Ideenwelt, sondern auch in der Vermittlung der zeitgenössischen wissenschaftlichen Ergebnisse einnahm. Das Tyrnauer Verlagswesen beförderte den Gedanken eines Regnum Marianum, propagierte den Kultus der ungarischen Heiligen und fügte die Angelegenheiten der Religion und des nationalen Schicksals zusammen, wodurch sich die Stadt sowohl geographisch als auch symbolisch zur Gedenkstätte des ungarischen Katholizismus entwickeln konnte. Tyrnau war mit seinen reich ausgestatteten Kirchen Ziel zahlloser Pilger. In der St. Nikolaus-Kirche wurden allein fünf Erzbischöfe (Miklós Oláh, Antal Verancsics, János Kutassy, Ferenc Forgách und Imre Lósy) begraben, denen in der Erinnerungskultur Ungarns eine zentrale Bedeutung zukommt. Die Bezeichnung Tyrnaus als „Klein-Rom“ war im 17. und 18. Jahrhundert allgemein bekannt. Darauf weist ein 1777 zum Abschied der Absolventen von der Stadt vorgetragenes Studentenlied hin, in dem Tyrnau (parva Roma) geradezu als Rivale der Ewigen Stadt bezeichnet wurde: „Ergo vale, parva Roma, magnae Romae aemula,/ derelinquo cuncta bona, tecta tua superba,/ Rex iam iubet ire Budam, terra mari urbem notam./ Eris posthac, nisi fallor, oppidorum famula“. Das Lied dient seit 1985 als inoffizielle Hymne der Eötvös-Loránd-Universität Budapest und wird bei festlichen Gelegenheiten noch immer gesungen. Tyrnau behielt seine herausragende Position in der Religions- und Kulturgeschichte auch nach dem Umzug der Universität nach Ofen 1777 und der Rückverlegung des erzbischöflichen Sitzes nach Gran 1820. Die Stadt wurde seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zum Zentrum slowakischer Selbstvergewisserung und Erneuerung. 1792 gründeten die katholischen Geistlichen Anton Bernolák und Juraj Fándly den slowaki153

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Allegorie der Universität Tyrnau. Der Kupferstich aus dem 18. Jahrhundert mit dem Bild der von Péter Pázmány 1635 gegründeten katholischen Universität, unterhalb der thronenden Pallas Athene, bezeugt die Rolle der Bildungsanstalt in der neuzeitlichen Bildungs- und Kulturgeschichte des Königreichs Ungarn. Zugleich belegt er die enge Verbindung Tyrnaus mit der katholischen Erneuerungsbewegung nach Trient in der ungarischen Erinnerungskultur. Bildnachweis: Ferenc Glatz (Hg.): A magyarok krónikája [Chronik der Ungarn]. Budapest 1995, 259.

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schen Kulturverein Slovenské učené tovaryšstvo in Tyrnau. Er gab Bücher – auch, aber nicht nur religiösen Inhalts – in der erstmals 1787 durch Bernolák kodifizierten slowakischen Sprache heraus, die auf dem slowakischen Dialekt aus der Gegend von Tyrnau beruhte. Bernolák strebte mit seiner Bewegung eine pastorale Betreuung in der Muttersprache an, die durch den nationalen Gedanken unterstützt werden sollte. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde die Stadt der Tschechoslowakei angeschlossen. Die damit einhergehenden politischen und ethnischen Veränderungen führten dazu, daß die bisher als „Klein-Rom“ bezeichnete Stadt das Attribut „slowakisches Rom“ erhielt. Hinter der Verbreitung dieser Bezeichnung stand zunächst das Bestreben der slowakischen Kulturpolitik, die Traditionen Tyrnaus einseitig an das slowakische Ethnikum zu binden und dessen Identität zu stärken. Seit Ende der siebziger Jahre des 20. Jahrhunderts wird neben der Bedeutung des Ortes für die slowakische Identität auch die allgemeine Bedeutung Tyrnaus für das religiöse und geistige Leben der Region und des Landes verstärkt in den Vordergrund gestellt. Anlaß dazu gab Papst Paul VI. im Jahr 1977, als er in Tyrnau den Sitz der ersten selbständigen slowakischen Kirchenprovinz errichtete und die Kathedrale des heiligen Johannes des Täufers zur Metropolitankirche erhob. Der Heilige Stuhl verfolgte das Schicksal der Stadt bis in die Gegenwart mit großer Aufmerksamkeit. Bei seinem Besuch in der Slowakei sprach Papst Johannes Paul II. am 2. Juli 1995 die drei Kaschauer Märtyrer heilig, deren Reliquien sich seit dem 17. Jahrhundert in Tyrnau befinden. Der Papstbesuch und die Heiligsprechung erfuhren eine lebhafte Resonanz in der Bevölkerung und in der Presse, was die religiöse Aufladung des Ortes spürbar verstärkte. 2003 besuchte der Papst die Stadt ein zweites Mal. Zum Gedenken an den hohen Besuch wurde eine Statue von Johannes Paul II. vor der Kathedrale enthüllt. Die Kathedrale mit den Reliquien bildet zusammen mit dem danebenstehenden alten Universitätsgebäude den topographischen und baulichen Mittelpunkt des Erinnerungsortes. Die religiösen und akademischen Traditionen waren in Tyrnau im 17. und 18. Jahrhundert sehr eng miteinander verbunden, und eben diese Verknüpfung macht seine Besonderheit aus. Diese doppelte religiös-akademische Erinnerung wird heute von drei Bildungsanstalten – der Eötvös-Loránd-Universität in Budapest, der Katholischen Pázmány-Péter-Universität in Piliscsaba und der wieder ins Leben gerufenen Hochschule in Tyrnau – als Erbnachfolger der Jesuitenuniversität gemeinsam gepflegt. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Kazy, Franciscus: Historia Universitatis Tyrnaviensis Societatis Jesu. Tyrnaviae 1737; péterffy, Carolus: Sacra Concilia Ecclesiae Romano-Catholicae in Regno Hungariae. Posonii 17�2; zeLLiGer, Aloysius: Pantheon Tyrnaviense. Tyrnaviae 1931; LuKács, Ladislaus: Monumenta antiquae Hungariae, Bd. 1. Roma 1969; Granasztói, György: Nagyszombat egyházi topográfiája (1579–1711) [Tyrnaus Tyrnaus kirchliche Topographie (1579–1711)]. In: drasKóczy, István (Hg.): Emlékkönyv Székely György 75. szüle-

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b) Darstellungen béKefi, Remig: Oláh Miklós nagyszombati iskolájának szervezete [Die Organisation der Tyrnauer Schule von Miklós Oláh]. In: Századok 31 (1897) 881–902; Marton, József: Nagyszombat [Tyrnau]. In: borovszKy, Samu (Hg.): Pozsony vármegye. Budapest 1903, 173–200; dubnicKý, Jaroslav: Ranobarokov� univerzitn� Kostol v Trnave [Die frühbarocke Universitätskirche in Tyrnau]. Bratislava 19�8; Péteri, János: Az első jezsuiták Magyarországon (1561–1567) [Die ersten Jesuiten in Ungarn (1561–1567)]. Róma 1963; őry, Miklós: Kardinal Pázmány und die kirchliche Erneuerung in Ungarn. In: Ungarn-Jahrbuch 5 (1973) 76–96; anGyaL, Endre: Nagyszombat (Trnava) et la culture baroque européenne. In: KLaniczay, Tibor/varGa, Imre (Hg.): Le Baroque en Hongrie (Revue internationale). Montauban 1976, 111–122; Käfer, István: Az egyetemi nyomda négyszáz éve (1577–1977) [�00 Jahre (Tyrnauer) Universitätsdruckerei (1577–1977)]. Budapest 1977; šiMončič, Josef (Hg.): Trnava. Okreš a mesto [Tyrnau. Bezirk und Stadt]. Bratislava 1980; bitsKey, István: Pázmány Péter [Peter Pázmány]. Budapest 1986; szántó, Konrád: Pázmány főpásztori tevékenysége [Die Tätigkeit Pázmánys als Oberhirte]. In: LuKács, László/szabó, Ferenc (Hg.): Pázmány Péter emlékezete. Halálának 350. évfordulóján. Róma 1987, 269–30�; bitsKey, István: Péter Pázmány, Cardinal, Statesman, Master of Hungarian Prose. In: The New Hungarian Quarterly 29 (1988) 6�–71; JanKovič, Vendelin: Ideové a spoločenské pomery v Trnave za sto rokov pred založenim univerzity [Geistige und gesellschaftliche Verhältnisse in Tyrnau im Jahrhundert vor der Universitätsgründung]. In: šiMončič, Josef (Hg.): Trnava 1988. Bratislava 1991, ��–88; beKe, Margit: Oláh Miklós tevékenysége az esztergomi érseki székben 1553–1568 [Die Tätigkeit Miklós Oláhs als Graner Erzbischof 1553–1568]. In: dies. (Hg.): Kezdés és újrakezdés. Budapest 1993, 19–24; J. uJváry, Zsuzsanna: Katolikus papot vagy prédikátort? Nagyszombat küzdelme a protestáns hitért az 1570-es években [Katholische Pfarrer oder Prediger? Tyrnaus Kampf um die protestantische Konfession in den 1570er Jahren]. In: A Ráday Gyűjtemény Évkönyve 7 (199�) 101–111; néMeth, Gábor: Nagyszombati testamentumok a XVI–XVII. századból [Tyrnauer Testamente aus dem 16. und 17. Jahrhundert]. Budapest 1995; v. ecsedy, Judit: A nagyszombati akadémiai nyomda első másfél évtizede (16�8–1652) [Die ersten anderthalb Jahrzehnte der Tyrnauer Universitätsdruckerei (16�8–1652)]. In: Magyar Könyvszemle 111 (1995) 361–373; haiMan, György/ MuszKa, Erzsébet/borsa, Gedeon: A nagyszombati jezsuita kollégium és az egyetemi nyomda leltára (1773) [Inventar des Tyrnauer Jesuitenkollegiums und der Universitätsdruckerei (1773)]. Budapest 1997; tusor, Péter: Az 1639. évi nagyszombati püspökkari konferencia. (A magyar klérus és a római Kúria kapcsolatainak válsága és reformja) [Die Bischofskonferenz in Tyrnau von 1639. (Krise und Reform der Beziehungen des ungarischen Klerus und der römischen Kurie)]. In: Századok 134 (2000) 431–459; harGittay, Emil (Hg.): Pázmány Péter és kora [Peter Pázmány und seine Zeit]. Piliscsaba 2001; bitsKey, István: Katholische Erneuerung im europäischen Kontext: Der Fall Oberungarns im 17. Jahrhundert. In: PaPP, Klára/barta, János (Hg.): The First Millennium of Hungary in Europe. Debrecen 2002, 349–364; fazeKas, István: Oláh Miklós reformtörekvései az esztergomi egyházmegyében 1553–1568 között [Reformbestrebungen von Miklós Oláh im Graner Bistum zwischen 1553 und 1568]. In: Történelmi Szemle 45 (2003) 139–153; sinKovics, István: A nagyszombati egyetem 1635–1777 [Die Tyrnauer Universität 1635–1777]. In: szöGi, László (Hg.): Az Eötvös Loránd Tudományegyetem

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Tyrnau története 1635–2002. Budapest 2003, 15–70; šiMončič, Josef: Rekatolizácia v Uhorsku a Peter Pázmán [Die Rekatholisierung in Ungarn und Péter Pázmány]. In: Kohutová, Mária (Hg.): Krestanstvo v dejinach Slovenska. Bratislava 2003, 111–116; Granasztói, György: A barokk győzelme Nagyszombatban. Tér és társadalom 1579–1711 [Der Sieg des Barocks in Tyrnau. Raum und Gesellschaft 1579–1711]. Budapest 200�; MaczáK, Ibolya (Hg.): Pázmány Péter-bibliográfia 1598–200� [Peter Pázmány-Bibliographie 1598–200�]. Piliscsaba 2005; szörényi, László: Idegen- és zarándokvezető könyvecske a nagyszombati Szent Miklós-templomban [Fremdenführer- und Pilgerführerbüchlein in der Tyrnauer St. Nikolaus-Kirche]. In: bretz, Annamária/csörsz ruMen, István/heGedűs, Béla (Hg.): Labor omnia vincit. Tanulmányok Tüskés Gábor 50. születésnapjára. Budapest 2005, 55–57; KiLián, István: A nagyszombati jezsuita iskolaszínház szcenikája [Szenerie des Schultheaters der Tyrnauer Jesuiten]. In: sziLáGyi, Csaba (Hg.): A magyar jezsuiták küldetése a kezdetektől napjainkig. Piliscsaba 2006, ��2–�57; harGittay, Emil: Opposition, gegenseitige Anregung und Integration im Wirken von Péter Pázmány. In: Mitterbauer, Helga/baLoGh, F. András (Hg.): Zentraleuropa. Ein hybrider Kommunikationsraum. Wien 2006, 49–62; Marsina, Richard: Pazmaneum a Trnavská univerzita [Das Pazmaneum und die Tyrnauer Universität]. In: šiMončič, Jozef (Hg.): Fons tyrnaviensis. K dejinám Trnavskej univerzity, Bd. 1. Trnava 2006, 59–62; Kohútová, Mária: Trnava – slovensk� Rim [Tyrnau – das slowakische Rom]. In: šutaJ, Štefan/szarKa, László (Hg.): Regionálna a národná identita v maďarskej a slovenskej histórii 18–20. storočia. Regionális és nemzeti identitásformák a 18–20. századi magyar és szlovák történelemben. Prešov 2007, 32–39; bitsKey, István: Petrus Cardinalis Pazmany archiepiscopus strigoniensis. Trnava 2010.

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Preßburg I. Zusammenfassung. – II. Die Pfarr- und Kollegiatskirche Sankt Martin als römisch-katholisches Zentrum und ungarische Krönungsstätte. – III. Das evangelische Viertel. – IV. Das Preßburger Judentum. – V. Polyethnisches und multikonfessionelles Preßburg. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Unmittelbar an der Grenze zu Österreich und Tschechien gelegen, ist Preßburg, die Hauptstadt der heutigen Slowakei, in bezug auf religiöse Erinnerungsorte gleich mehrerer Konfessionen und Ethnien ein komplex strukturiertes historisches Gebilde. Seit dem Mittelalter spielten die Kirchen und Klöster Preßburgs auch unabhängig von ihrer spezifischen liturgischen Nutzung in der Topographie der Stadt eine bedeutende Rolle. Das Franziskanerkloster wurde zur Projektionsfläche städtischer, während der Herrschaft König Sigismunds von Luxemburg gar königlicher Repräsentationsansprüche. Infolge der osmanischen Besetzung zentraler Gebiete Ungarns avancierte die Stiftskirche Sankt Martin nach 1563 zur Krönungskirche der ungarischen Könige. „Klein Halle“ nannte man das evangelische Viertel im Norden der Stadt, das dank dem Gelehrten Matej Bel zu einem Zentrum des ungarischen Pietismus wurde. Im 18. und 19. Jahrhundert waren die beiden lutherischen Kirchen und insbesondere das Lyzeum Ausgangspunkte der slowakischen, in erster Linie sprachlich definierten nationalen Bewegung. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts errang überdies die Preßburger Jüdische Hochschule aufgrund der Tätigkeit des Gelehrten Chatam Sofer und damit die ganze Gemeinde überregionale Bedeutung. Noch bevor im Zweiten Weltkrieg das Preßburger Judentum in Konzentrationslagern nahezu ausgelöscht wurde, bewies die Stadt im 19. und zu Beginn des 20. Jahrhunderts ein ungewöhnliches Integrationspotential, verkörpert durch den massiven Bau der neologen Synagoge unmittelbar neben der größten katholischen Pfarrkirche Sankt Martin. In kommunistischer Zeit wurde die Synagoge in einem städtebaulich rücksichtslosen und gleichermaßen programmatischen Projekt dem Bau einer Brücke geopfert. Mit ihrem Abriß im Jahr 1969 schwand auch etwa die Hälfte des jüdischen Viertels. Die Pfarrkirche entging diesem Schicksal nur knapp. Am Vorabend der sogenannten Samtenen Revolution fand im März 1989 an einem der zentralen Plätze Preßburgs, vor der Kirche des Klosters der Kanonissen Notre-Dame, eine illegale Kundgebung statt, die unter dem Namen „Kerzendemonstration“ in die jüngste Geschichte des Landes einging. Forderten die Demonstranten zunächst vor allem die Gewährung aller religiösen Freiheiten, so geriet die Veranstaltung bald zu einer politischen Manifestation des Anspruchs auf Einhaltung der Menschenrechte. In der zeitgeschichtlichen Einordnung der Ereignisse nach 1989 wurde die Kerzendemonstration zugleich als Akt der Emanzipation der modernen Protestbewegung in den slowakischen Landesteilen gegenüber Prag beziehungsweise Tschechien als dem „großen Bruder“ in158

Preßburg

terpretiert. Sie war damit auch ein Vorbote der staatlichen Teilung der Tschechoslowakei in eine Tschechische und eine Slowakische Republik. II. Die Pfarr- und Kollegiatskirche Sankt Martin als römisch-katholisches Zentrum und ungarische Krönungsstätte Die Frühgeschichte der Martinskirche liegt zum großen Teil immer noch im Dunkeln. Zu einer eigenständigen Pfarrei entwickelte sich Sankt Martin erst im 13. Jahrhundert. Aus einer älteren kirchenorganisatorischen Einheit als Stiftskapitel an der Burg hervorgehend, wurden die Kanoniker-Versammlung und ebenso der zweite Patron, der heilige Salvator, auch für die Pfarrkirche beibehalten. Über das pfarrkirchliche Leben hinaus waren gleichzeitig mehrere außerliturgische Aufgaben mit ihr verknüpft, unter anderem diente sie als locus credibilis, als Beglaubigungsstelle in rechtlichen Belangen. Infolge ihrer Vorgeschichte nicht im Zentrum der Stadt errichtet, sondern an der westlichen Mauer der Stadtbefestigung gelegen, spiegelt ihre Architektur und Ausstattungsgeschichte dennoch das spezifische Verhältnis der Preßburger zu ihrer größten Kirche wider. Im Verlauf des 14. Jahrhunderts setzten sich die städtischen Eliten, an erster Stelle die Bürgermeister-Familie Jakob, für die Institution ein und bedachten sie mit reichen Stiftungen. Im weiteren trieb insbesondere Sigismund von Luxemburg den Bau voran, wenn auch die eigentlichen Bauphasen aufgrund weiterer Überbauung nur schwer zu differenzieren sind. Nach dem Tod des 1409 abgesetzten römischen und von da an nur noch böhmischen Königs Wenzel IV. im Jahr 1419 unterhielt seine Witwe Sophie von Bayern an Sankt Martin eine eigene Kapelle, in der sie 1429 auch bestattet wurde. Einzelne Objekte des Kirchenschatzes künden von ihren Stiftungen. Matthias Corvinus sicherte sich mit einem im Gewölbe angebrachten Wappenschild seine Präsenz im Chor. Auf ihn geht allem Anschein nach auch das ehemalige Hochaltarretabel aus dem späten 15. Jahrhundert zurück, von dem das zentrale Relief in der Sammlung der Slowakischen Nationalgalerie erhalten ist. Die Kanoniker des Preßburger Kollegiatskapitels boten in allen Phasen der Bezugnahme auf die als Dom figurierende Kirche deren personell-institutionellen Rückhalt. Ebenso trugen sie eine reiche Sammlung liturgischer und kirchenrechtlicher Handschriften zusammen. Mit Gründung der von Matthias Corvinus ins Leben gerufenen Universitas Istropolitana diente die Kapitelsbibliothek auch akademischen Zwecken, und der Wirkungsbereich der Kirche wurde um diese humanistischen Bemühungen erweitert. Im Verlauf des späten 15. und 16. Jahrhunderts spielten die Pröpste von Sankt Martin, so Georg Peltell von Schönberg oder Antonius Sankfalvai, eine wichtige Rolle in der königlichen und kaiserlichen Diplomatie und festigten damit den internationalen Charakter des Preßburger religiösen Lebens, das eine personelle Abhängigkeit von Wien jedoch nie abstreifen konnte. Als nach der Schlacht von Mohács 1526 im Zuge der osmanischen Expansion Kerngebiete Ungarns besetzt wurden, intensivierten sich die Bemühungen der ungarischen 159

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Stände, Preßburg als neue Krönungs- und Residenzstadt zu etablieren. Damit wurde die prominenteste Phase der Kirche nach 1536 eingeleitet, als Sankt Martin Krönungskirche der ungarischen Könige und Preßburg faktisch zur Hauptstadt des königlichen Ungarns wurde. Eine wichtige Rolle in bezug auf das religiös-politische Leben spielte dabei der Bau des Primas-Palais, der zeitweiligen Residenz des Graner Erzbischofs und Primas von Ungarn, nachdem Gran 1543 von den Osmanen erobert worden war. Zwischen 1563 und 1830 krönte der jeweilige ungarische Primas in Sankt Martin insgesamt zehn ungarische Könige samt Gemahlinnen. 17�1 weihte er zudem die bereits amtierende Königin Maria Theresia. Großzügige Festlichkeiten begleiteten die Krönungen nach einer Messe im Dom. Der Festzug ging durch die Straßen zum Franziskanerkloster und endete nach mehreren Stationen am Donau-Ufer. Obgleich an der Peripherie des Königreich Ungarns gelegen, hatte Preßburg im Zuge dieser Feierlichkeiten, bei denen die Mächtigen der Welt zusammenkamen, Zentrumsfunktion. Diese besondere Rolle als Krönungsstätte weithin anzeigend, erhielt der Turm der Martinskirche seinen Abschluß in Gestalt einer monumentalen Stephanskrone allerdings erst 1760. Immerhin überdauerte sie alle folgenden Umbauten. Neben dem Erlöser- und dem Martinspatrozinium erfuhr im Verlauf des 16. Jahrhunderts auch der Kult um den Johannes Elemosynarius erheblichen Auftrieb. Nach Abschluß der Friedensverhandlungen zwischen Matthias Corvinus und dem türkischen Sultan erhielt der ungarische König die Reliquien des damals noch in Konstantinopel begrabenen Heiligen als diplomatisches Geschenk. Zunächst gelangten sie nach Ofen; der Kult um den Heiligen verbreitete sich rasch im ganzen Land. Nach 1526 ließ Maria von Ungarn, die Witwe des bei der Schlacht von Mohács verstorbenen König Ludwigs II., den Reliquienschatz der Ofener Schloßkapelle im sichereren Preßburg deponieren, darunter auch die Reliquien des Almosengebers. Ein Jahrhundert später wurde ihm in der Stadtkirche ein Grab samt Grabplatte errichtet, die heutige Elemosynarius-Kapelle mit der Ausstattung von Georg Raphäel Donner kam jedoch erst 1729 bis 1732 hinzu. Ihr Stifter, der Graner Erzbischof Imre Esterhazy, ließ sich dabei selbst lebensgroß in einer Wandnische kniend darstellen. Mit dieser barocken Inszenierung des ElemosynariusKultes wurde neben der Funktion der Krönungskirche der eigentlich aus der Zeit des Matthias Corvinus stammende königliche Bezug der Martinskirche ein weiteres Mal bestätigt. 1732 errichtete Donner in der Kirche auch den Baldachinaltar, der dem Kirchenpatron Martin geweiht war. Die einst zentrale Bronzestatue des Ensembles, das später der Regotisierung des Interieurs zum Opfer fiel, ziert heute das südliche Nebenschiff. Bezeichnend im Zusammenhang der Umbauten des Kirchenraums im Verlauf der Jahrhunderte ist das Schicksal des spätgotischen Retabels des Salvatoraltars. Im Zuge der Barockisierung gelangte dessen zentrales Relief mit einer Anbetung des Kindes in den Besitz der Erdődy, jener Magnatenfamilie, der auch der Graner Erzbischof und ungarische Primas corvinischer Zeit, Thomas Bakózc, entstammte. Stark kirchenpolitisch motiviert, ließen die katholischen Erdődy unweit Preßburgs, in Freistadt an der Waag, eine Schloßkapelle samt neuem barocken Baldachinaltar für das Relief errichten und initiierten damit eine später recht populäre Marienwallfahrt. 160

Preßburg

Preßburg profitierte aber auch von Pilgern zu anderen, vielbesuchten Wallfahrtszentren. Während die nahegelegenen Stätten des Marienkults, das Paulanerkloster Mariatal oder die Nikolauskirche zu Tyrnau, lediglich regionale Ausstrahlungskraft besaßen, stieg die Marienbasilika zu Saswar bereits im 18. Jahrhundert zu einem überregionalen Kultzentrum auf, wobei die Schutzfunktion ihres Gnadenbildes als Landespatronin (Patrona Hungariae) auch auf das moderne politische Staatsbild übertragen wurde. Als Patronin der Slowakei (Panna Mária Šaštínska – patrónka Slovenska) erfreut sich das dortige Marienbild immer noch großer Popularität. III. Das evangelische Viertel In der Geschichte der evangelischen Gemeinden Preßburgs spiegelt sich allgemein das Geschick der evangelischen Kirche im Königreich Ungarn beziehungsweise der österreich-ungarischen Monarchie. Gleich zwei Kirchen erbaute die lutherische Gemeinde unweit des Hauptmarkts in den Jahren 1636 bis 1638. Doch wurden diese bereits 1672 im Zuge der Gegenreformation unter Erzbischof Georg Szelepcsényi gewaltsam übernommen und den Jesuiten beziehungsweise Ursulinen zur Benutzung übergeben. Abgesehen von den Bedrohungen, denen das Gemeindeleben wiederholt ausgesetzt war, erwies sich die evangelische Stadtgemeinde als in der intellektuellen Tradition der nationalen Bewegung im 18. und 19. Jahrhundert fest verankert. So waren viele ihrer führenden Persönlichkeiten Absolventen des berühmten Preßburger Lyzeums. Die Gründung eines evangelischen Viertels außerhalb der Stadtmauer, das auch „Klein Halle“ genannt wurde, reflektiert die machtpolitischen Allianzen Kaiser Leopolds I. mit dem ungarischen Adel, insbesondere mit Emerich Thököly, im Kampf gegen die Türken. Nach der Ödenburger Versammlung 1681 entspannte sich die bis dahin restriktive Politik des Hofs gegenüber den Lutheranern. Ebenso wurden der Konfession ältere, bereits 1606 im Zuge des Wiener Friedens zugesprochene Rechte wieder zuerkannt. Zwar bedeutete dies nicht automatisch eine Gleichstellung von lutherischem und katholischem Glauben – dazu kam es erst 1781 infolge des Toleranzpatents Kaiser Josephs II. –, doch erlaubte es den Preßburgern den Bau von gleich zwei Holzkirchen, die mit Blick auf die Ödenburger Artikel auch Artikularkirchen genannt werden. Die eine diente der stärkeren deutschsprachigen Gemeinde, die andere der kleineren ungarisch-slawischen. Knapp hundert Jahre nach der Gründung wurden in beiden Fällen Erweiterungen beziehungsweise gar Neubauten aus Stein notwendig. Die heutige „Große“ wie auch die „Kleine evangelische Kirche“, die beide vom Matthias Walch entworfen und 177� erbaut wurden, sind beredte Zeugnisse jener Konjunktur. Hand in Hand mit dem Kirchenbau ging das stete Bemühen um die Errichtung eines Lyzeums. Dienten nach 1682 zunächst zwei geschenkte Häuser unweit der Großen Kirche als Unterrichtsstätte, nutzte man die liberale Atmosphäre nach den josephinischen Reformen zum Bau einer Schulanstalt, die 1783 eröffnet wurde. 161

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Der Fischmarkt in Preßburg mit der Sankt Nikolauskirche, der neologen Synagoge und dem Dom in einer Photographie von Pavol Poljak aus dem Jahr 19�0. Die einst größte Preßburger Synagoge mußte 1969 dem Bau einer Autobahnbrücke weichen. Ihre Lage neben der wichtigsten Pfarrkirche der Stadt prädestinierte sie noch lange nach ihrer vollständigen Zerstörung dazu, an Preßburgs einstige ethnische wie konfessionelle Vielfalt zu erinnern. Heute steht an ihrer Stelle ein Holocaust-Mahnmal. Bildnachweis: Bratislava, Slovenská národná galéria.

Im Jahr 171� hatte man den Universalgelehrten Matej Bel aus dem Neusohler Gymnasium als Rektor berufen. Bel entstammte einer ungarischen Adelsfamilie in der Mittelslowakei. Nach einem Studium in Halle und Leipzig sorgte er für die Verbreitung der Ideen von Jakob Philipp Spener und August Hermann Francke in Oberungarn. Zu seiner Zeit erblühte Preßburg als Zentrum des Pietismus im Sinn einer rationalistisch geprägten Lehre mit Schwerpunkten auf der Ethik und einem verstärkten sozialen Programm zugunsten der Gemeindemitglieder. Diese Motive veranlaßten zunehmende Investitionen in die Infrastruktur des evangelischen Viertels. Binnen zweier Jahrhunderte wurden nahe den beiden Kirchen weitere Schulen und Internate sowie Krankenhäuser errichtet. Dank diesem konfessionellen „Asyl“ der Preßburger Protestanten kam es zu einer nachhaltigen urbanen Erschließung eines in der Zukunft immer wichtiger werdenden Quartiers. Auf dem Preßburger Lyzeum studierten Ján Kollár, Jozef Miloslav Hurban, Ľudovít Štúr 162

Preßburg

und andere evangelische Pastoren, Literaten sowie spätere Politiker und Ideologen des slowakischen nationalen Befreiungskampfes der Jahre 18�8/�9. An diesem geschichtsträchtigen Ort, aber schon in einem 185�/55 errichteten Nachfolgebau, befinden sich heute die Literatur-Institute der Slowakischen Akademie der Wissenschaften. IV. Das Preßburger Judentum In den 1920er Jahren verfügte Preßburg über drei Synagogen, zugleich verfolgte die jüdische Bevölkerung – immerhin über zehn Prozent der gesamten Stadtpopulation – gewisse säkularisierende Tendenzen. War noch bis in das späte 19. Jahrhundert die orthodoxe Kommunität dominant, kam es unter dem Rabbiner Ševet Sofer 1872 zu ihrer Teilung. Der Bau der großen neologen Synagoge am Fischermarkt nach einem Entwurf von Dezső Milch im Jahr 1893, gleich neben der Pfarrkirche Sankt Martin, kennzeichnet damit den Aufstieg der reformierten Juden: der Kongreßgemeinde. Den Holocaust überlebte in der ganzen Slowakei nur ein Bruchteil der ehemals vitalen jüdischen Minderheit. Das Preßburger Judentum hatte mittelalterliche Wurzeln und lebte mit der ethnisch und konfessionell ohnehin stark differenzierten Mehrheitsgesellschaft bis in das 19. Jahrhundert in einer zwar nicht immer idyllischen, doch auf mehreren Ebenen greifbaren Symbiose. Eine Blütezeit, und somit auch die Entwicklung des wohl bedeutendsten jüdischen Erinnerungsortes, brachte die Tätigkeit des Frankfurter Gelehrten und berühmten Rabbiner Mosche Schreiber (Moses, Chatam Sofer) hervor. Die bereits Ende des 17. Jahrhunderts gegründete Hochschule Ješiva gelangte durch ihn zu weltweitem Ruf, viele ihrer Absolventen wurden insbesondere im 19. Jahrhundert Hauptrabbiner in Zentren des Judentums wie in Jerusalem, Berlin, Budapest, Wien und New York. Die RabbinerSchule existierte nahezu 250 Jahre; ihre Aktivität erlosch erst nach der Gründung des faschistischen Slowakischen Staates im Jahr 1939. Immerhin konnte der letzte Rabbi, Akiba Schreiber, nach seiner Emigration nach Palästina die Kontituität der „Preßburger Ješiva“ mit einer gleich benannten Neugründung im Jerusalemer Viertel Mea Sherim sichern. Das Grab seines berühmten Urgroßvaters, Chatam Sofer, befindet sich bis heute im sogenannten Rabbiner-Distrikt eines der drei jüdischen Friedhöfe der Stadt am Donau-Ufer. Im Jahr 2002 wurde das Grab saniert und nach einem Entwurf des Architekten Martin Kvasnica neugestaltet. Mit dieser Maßnahme wurde das Denkmal nicht nur zu einer neuen architektonischen Dominante Preßburgs, sie ermöglicht jüdischen Pilgern aus aller Welt auch in Zukunft einen würdevollen Besuch des Sofer-Grabes. V. Polyethnisches und multikonfessionelles Preßburg Schon im Mittelalter hatte eine charakteristische Mischung von Ethnien und Sprachen die Stadt geprägt, obgleich Deutsch noch bis zur Gründung der Tschechoslowakei vorherrschend war. Um 1850 teilte sich die Stadtbevölkerung in 75 Prozent Deutsche, 18 163

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Prozent Slowaken und 7 Prozent Ungaren auf, 1918 lag der Proporz auf jeweils einem Drittel. Schon im Mittelalter sorgten die spezifische Lage an der Grenze des Königreichs Ungarn und vor allem die Nähe zu Wien beziehungsweise zu Mähren auch in religiösen Belangen für eine ungewöhnliche Vielfalt. Ungarische, böhmische und niederösterreichische Kanoniker bestimmten die Geschicke des Preßburger Kapitels, wie auch selbstverständlich wirtschaftliche Beziehungen der Bürger zu Ofen, Wien und Prag gepflegt wurden. Die sprachlich-ethnische Vielfalt wurde später innerhalb der Glaubensgruppen beibehalten, so verfügte zum Beispiel die evangelische Kirche über eine deutsche und eine ungarisch-slawische Gemeinde. Bei den Juden herrschte neben Hebräisch und Jiddisch ebenfalls Deutsch als gesprochene Sprache vor. Mit Blick auf die Neuzeit läßt sich der von stets mehreren Identitäten geprägte Charakter der Stadt gut mit der Person von Matej Bel illustrieren. Sein Hauptwerk Notitia Hungariae Novae, erschienen in Wien in den Jahren 1735 bis 17�2, handelt just von den Volksnationen des ehemaligen Königreichs Ungarn. Der Autor selbst beschrieb sich darin als Mann „lingua Slavus, natione Hungarus, eruditione Germanus“. Zugleich bemühte er sich im Zuge einer Annäherung der slowakischen Protestanten an die Böhmischen Brüder um eine Ausgabe der Kralitzer Bibel. Noch weit über Bels Tod hinaus orientierte sich das intellektuelle Leben Preßburgs am Bild einer religiös und ethnisch toleranten Stadt. Diesbezüglich ist erst mit der Gründung der Tschechoslowakei im Jahr 1918 eine grundlegende Veränderung zu verzeichnen, als sich im Zuge der späten Industrialisierung der nun neuen slowakischen Metropole auch die ethnischen Verhältnisse veränderten. Der faschistische Slowakische Staat (1939– 19�5) bereitete dem Preßburger Judentum ein jähes Ende. Die im Zeichen eines „Aufbaus des Sozialismus“ stehenden Nachkriegsjahre haben mit ihrer antikirchlichen Propaganda die natürliche Entwicklung des religiösen Lebens der Stadt stark beeinträchtigt. Bezeichnenderweise stieß die Sprengung der neologen Synagoge im Jahr 1969 selbst seitens der staatlichen Denkmalpflege auf wenig Widerstand. Nach dem Revolutionsjahr 1989, in dem vor allem die katholische Kirche dank einer Handvoll Dissidenten und offiziell vom Staat bis dahin nicht anerkannter Priester und Bischöfe eine bedeutende Rolle spielte, strebten die dominanten Konfessionen zu einer neuen Institutionalisierung. So kam es 2008 zur Gründung des selbständigen Preßburger katholischen Erzbistums, mit dem die Martinskirche in den Rang einer Erzkathedrale aufstieg. Im Fall der bis dahin nicht mehr existenten jüdischen Gemeinde kam es immerhin zu einer Neugründung. VI. Auswahlbibliographie Knauz, Nándor: A pozsonyi káptalannak kéziratai/Codices mansucripti kapituli Posoniensis. Estergom 1870; faust, Ovidius: Archív mesta Bratislavy I. Súpis erbov�ch listín zemianskych [Das Preßburger Stadtarchiv I. Das Verzeichnis der adeligen Wappenurkunden]. Bratislava [um 1938]; franK, Isnard Wilhelm: Das Gutachten eines Wiener Dominikaners für die Universität Preßburg aus dem Jahre 1�67. In: Zeitschrift für Ostforschung 16 (1967) �18–�39; hoLotíK, Ľudovít/vantuch, Anton: Humanizmus a renesancia na Slovensku v 15.–16. storočí [Humanismus und Renaissance in der Slowakei im 15.–16.

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Dušan Buran

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Debrecen, das „Calvinistische Rom“ I. Zusammenfassung. – II. Die „Civis“-Stadt. – III. Die Stadt als religiöses Zentrum. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Seit der Debrecener Synode von 1567, die das Zweite Helvetische Bekenntnis (Confessio Helvetica Posterior) und die reformierte Kirchenordnung annahm, gilt die größte Stadt in der Ungarischen Tiefebene als Zentrum des ungarischen Reformiertentums. Kanzel, Schule und Druckerei bildeten in der Stadt lange Zeit eine organische Einheit, die zur Förderung der reformierten und darüber hinaus der gesamtungarischen Kultur über die Konfessionsgrenzen hinaus wesentlich beitrug. Die Bezeichnung „calvinistisches Rom“ für die Stadt erscheint zunächst als Spottname, der im 19. Jahrhundert jedoch als eine stolze Selbstbenennung der Debrecener Bürger angenommen und zu einer bis heute allgemein bekannten Metapher für die Stadt wurde. II. Die „Civis“-Stadt Das am Knotenpunkt wichtiger Handelsstraßen gelegene Debrecen erhielt 1361 einen königlichen Freibrief als privilegierter Marktflecken. Zu dieser Zeit bildeten sich die ersten lederverarbeitenden Zünfte, die in der Debrecener Wirtschaft neben der Viehzucht bis ins 19. Jahrhundert hinein die wichtigste Rolle spielen sollten. Die von Viehzucht, Handwerk und Handel lebenden Stadtbewohner, sich selbst als „Civis“ bezeichnend, führten eine städtisch-bäuerliche Existenz. Anfang des 15. Jahrhunderts stattete König Sigismund von Luxemburg den Marktflecken mit Privilegien aus, wonach die Debrecener unter anderem freie Märkte abhalten und ihren Magistrat selbst wählen durften. Im 16. Jahrhundert, als die Osmanen Zentralungarn eroberten, lag das etwa 10.000 Einwohner zählende Debrecen, das nicht mit Stadtmauern umgeben war, an der Grenze dreier Länder. Durch eine kluge Politik gelang es dem Magistrat jedoch, das Gleichgewicht zwischen den Osmanen, den Habsburgern und dem Fürstentum Siebenbürgen zu bewahren. Auch im 17. Jahrhundert, als die Heerführer des Kaisers und des Sultans abwechselnd über Debrecen herfielen und es brandschatzten, konnte die Stadt mit Hilfe der reformierten Fürsten Siebenbürgens ihre Privilegien wahren und ihre politische und religiöse Stellung behalten. Auch die Beziehungen zum Ausland, vor allem zum Heiligen Römischen Reich deutscher Nation, wurden in dieser Zeit intensiviert. Deutsche Viehhändler suchten die Debrecener Märkte regelmäßig auf, reiche Debrecener Kaufleute wiederum ließen ihre Söhne im römisch-deutschen Reich studieren; diese kehrten später mit den neuen reformatorischen Lehren nach Debrecen zurück. So ist es nicht ver166

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wunderlich, daß Debrecen stets eine antikatholische und demzufolge antihabsburgische Position einnahm wie etwa im Aufstand Stephan Bocskais, der am 15. Oktober 160� an der Spitze seiner Hajducken in die Stadt einzog. Wurden die meisten Privilegien der Stadt 1715 auch von Kaiser und König Joseph I. bestätigt, so konnte die ab 1552 geltende städtische Ordnung, wonach nur Reformierten das Recht auf Niederlassung in der Stadt eingeräumt worden war, nicht mehr aufrechterhalten werden. Die von der Stadt und der reformierten Kirche gemeinsam getragene Druckerei wurde unter Maria Theresia streng zensiert, die Selbstverwaltung des Reformierten Kollegiums beschränkt und die peregrinatio academica ins protestantische Ausland erschwert. Die einst privilegierte Patrizierschicht, die sich geschlossen zur reformierten Konfession bekannte, reagierte auf die Maßnahmen nicht nur ablehnend, sondern fing auch an, sich fremden Einflüssen gegenüber zu isolieren. Diese Abwehrhaltung führte längerfristig zu einem Konservativismus, der zugleich das wirtschaftliche Schicksal der „Civis“ besiegelte. Im 19. Jahrhundert konnte sie deshalb den Anschluß an die auch in Ungarn beginnende Industrialisierung kaum schaffen, nur im kirchlichen und kulturellen Leben behielt sie weiterhin ihre feste Position. Der teilweise in der Unzufriedenheit der Protestanten wurzelnde Unabhängigkeitsgedanke wurde im ungarischen Freiheitskampf 18�8/�9 in Debrecen zum Sieg geführt, nachdem im Januar 18�9 die erste unabhängige Regierung Ungarns ihren Sitz nach Debrecen verlegt hatte. Im Oratorium des Reformierten Kollegiums tagte der ungarische Landtag, und in der „Großen Kirche“ erklärte Lajos Kossuth, der Führer der Revolution, die Entthronung des Hauses Habsburg und die Unabhängigkeit des Landes. So verbanden sich nationale Belange und reformierte Kirche zu einer Symbiose in der ungarischen historischen Erinnerung. Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 setzte auch in Debrecen eine allmähliche Modernisierung ein, die im Stadtbild und im kulturellen Leben zum Ausdruck kam. Das kulturprotestantische Erbe äußerte sich unter anderem in dem regen Presse- und Vereinsleben und schließlich in der 1912 erfolgten Gründung einer staatlichen Universität, die aus der Hochschule des Reformierten Kollegiums hervorging. Nach dem Ersten Weltkrieg befand sich Debrecen durch die neu gezogenen Landesgrenzen erneut in einer Randlage. Die Krise brachte die Stadt dazu, mehr auf Bildung und Tourismus zu setzen. 1944 war Debrecen zum zweiten Mal für eine kurze Zeit Hauptstadt und Regierungssitz von Ungarn, als sich dort am Ende des Zweiten Weltkriegs die provisorische Nationalversammlung konstituierte. Nach 19�5 zählte Debrecen zu den größten und bedeutendsten Städten im sozialistischen Ungarn, blieb jedoch mit seinen reformierten Einrichtungen und Kirchen weiterhin das Zentrum des ungarischen Calvinismus. III. Die Stadt als religiöses Zentrum Bestimmende Persönlichkeit der Reformation Debrecens war der reformierte Bischof Péter Melius Juhász, der Calvins Theologie nicht nur gegen die Katholiken, sondern auch gegen die aus Westeuropa und Polen nach Ungarn und Siebenbürgen geflüchte167

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ten Antitrinitarier verteidigte. In einem gegen die Reformierten gerichteten satirischen Drama der Antitrinitarier, Debreceni disputa (Debrecener Disput), wurde Melius 1572 spöttisch als „Papst Peter“ bezeichnet. Das ist der erste schriftliche Beleg für die Anwendung der Parallele zwischen Debrecen und Rom. Zwischen Stadtführung und Kirchenregiment bildete sich in Debrecen eine sehr enge Zusammenarbeit heraus, die zur selben Zeit für Genf unter der geistlichen Führung von Calvin kennzeichnend war. In der Stadt erhielten nur noch Reformierte das Bürgerrecht. Die Debrecener Synode unter dem Vorsitz von Melius nahm 1567 die Confessio Helvetica Posterior als Bekenntnis der Stadt an, das von allen ungarischen reformierten Gemeinden als verpflichtend eingeführt wurde und das bis heute für alle ungarischsprachigen Reformierten in der Welt Geltung hat. Die Debrecener Kirchenordnung mit der Gottesdienstordnung und dem Gesangbuch galten ebenfalls als Muster für die ungarischen reformierten Gemeinden. Seither nahm Debrecen, vergleichbar mit der Stellung Roms für die katholische Kirche, eine führende Rolle in dogmatischen Fragen für die ungarischen Reformierten ein. Ähnlich wie in Genf stützte sich die reformierte Kirche in Debrecen nicht nur auf das Stadtregiment, sondern auch auf Institutionen wie Schule und Druckerei. Unter Aufsicht von Melius wurde das 1538 gegründete Kollegium zur reformierten Bildungsanstalt ausgebaut. Sie besaß bereits um 1600 neben der Elementarschule auch einen akademischen Zweig. Die Kollegiumsgesetze basierten auf denen der Straßburger Schule von Johannes Sturm und der ungarischen Studentengemeinschaft an der Universität Wittenberg. Die starke Schulautonomie, die Selbstversorgung der Studenten und die enge Verbindung zu den Universitäten in West- und Mitteleuropa durch die Peregrination waren für das Kollegium jahrhundertelang kennzeichnend. Das Reformierte Kollegium fungierte zugleich als Mutterschule, die zahlreiche Partikularschulen im ganzen Land innehatte und diese bis ins 19. Jahrhundert mit Lehrern, Schulbüchern und Lehrplänen versah. Deshalb bezeichnete man das Debrecener Reformierte Kollegium auch als „Schule des Landes“. Die Debrecener Druckerei wurde von Gál Huszár gegründet, der von Melius 1561 in die Stadt gerufen worden war. Obwohl Huszár schon ein Jahr später wegzog, hinterließ er seine Werkstatt, in der zahlreiche reformatorische Schriften, Lehrbücher, aber auch schöngeistige Werke veröffentlicht wurden. Die Druckerei, die auch später im gemeinsamen Besitz von Kirche und Stadt blieb, wurde in kürzester Zeit eine der wichtigsten Druckanstalten Ungarns. So bildeten Kanzel, Schule und Druckerei in Debrecen ähnlich wie in Genf eine dauerhafte Einheit, die auch nach dem Tod von Melius für Kontinuität sorgte und die Calvinsche Richtung in der Theologie selbst in schwierigen Zeiten festigte, etwa während der sogenannten Trauerdekade in den Jahren 1671 bis 1681, als die Habsburger mit äußerster Gewalt gegen die Protestanten in Ungarn vorgingen. Debrecen gelang es unter György Komáromi Csipkés, einem Theologen und Professor des Kollegiums, aus der intellektuellen und moralischen Erneuerung des englischen Puritanismus Kraft zu schöpfen und Melius Erbe zu bewahren. Im Zeitalter der Aufklärung und der anschließenden Reformzeit erwies sich das Reformierte Kollegium als Vermittler neuer Lehren. Der wichtigste Vertreter der frühen Aufklärung, Professor György Maróthi, brachte von seiner Bildungsreise die Ideen von 168

Debrecen, das „Calvinistische Rom“

Newton, Locke und Leibniz nach Debrecen mit und führte neue Fächer wie Geographie, Physik, Astronomie und Musikwissenschaft ein. Maróthis Reformen setzte der Polyhistor István Hatvani fort, der wegen seiner physikalischen und chemischen Experimente den Namen „ungarischer Faust“ erhielt. Doch in Fragen der Moral erwiesen sich Professoren wie Geistliche als treue Bewahrer der Calvinschen Theologie und lehnten jede Form der Säkularisation ab, die vom Stadtregiment vertreten wurde. Die Gegensätze zwischen Laien und Geistlichen spitzten sich Anfang des 19. Jahrhunderts im Zuge einer zweifachen Bischofswahl zu. Die Streitigkeiten endeten erst auf dem Debrecener Konvent von 1821 mit der Entscheidung über ein doppeltes, von Klerikern und weltlichen Vertretern gebildetes Präsidium im Sinne des reformierten Synodalsystems. Die revolutionären Ereignisse von 18�8/�9 einigten Liberale und Konservative vorübergehend, doch schon zur Zeit des Neoabsolutismus in den 1850er Jahren trat der Gegensatz zwischen beiden Lagern erneut offen zutage, als der orthodoxe, durch die schottischen und schweizerischen Erweckungsbewegungen inspirierte Calvinismus neu belebt wurde. Auch der gemeinsam und erfolgreich geführte Kampf gegen das von der kaiserlichen Regierung 1859 erlassene Patent, das auf eine Abschaffung der Autonomie der protestantischen Kirchen abzielte, konnte die Gegensätze nicht überwinden. So erschien 186� die Bezeichnung „calvinistisches Rom“ in einer Kritik zum Calvin-Buch des Debrecener reformierten Theologen Imre Révész als spöttische Bezeichnung für die konservative Burgmentalität. Im Zusammenhang mit den heftigen schulpolitischen Streitigkeiten von 1868, als Debrecen eindeutig gegen die Verstaatlichung der kirchlichen Schulen Stellung nahm, wurde die Stadt von der liberalen kirchlichen Opposition auf dem Titelblatt des populären politischen Witzblattes Borsszem Jankó als „calvinistisches Rom“ karikiert. Vom größten Prosaschriftsteller der ungarischen Romantik Mór Jókai wurde dagegen die Bezeichnung in seinem 1872 veröffentlichten Roman És mégis mozog a föld (Und dennoch bewegt sich die Erde) bereits positiv belegt. Der Roman zeigte anhand des Lebenswegs von fünf Debrecener Studenten das Ideal des gut wirtschaftenden und gebildeten Bürgers gegenüber der Aristokratie als Modell auf. Das erfolgreiche Werk trug dazu bei, daß die Bezeichnung „calvinistisches Rom“ für Debrecen nicht nur von den Stadtbürgern, sondern bald auch im ganzen Land mit wachsender Hochachtung benutzt wurde. Eine Verstärkung erhielt die Bezeichnung 1881, als die bis dahin selbständigen fünf reformierten Kirchendistrikte in Ungarn und in Siebenbürgen auf der in Debrecen abgehaltenen Synode die einheitliche Reformierte Kirche Ungarns konstituierten. Im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erlebte die historisierende Memorialkultur auch in Debrecen ihre Blütezeit. Alle nationalen und kirchlichen Jubiläen wurden genutzt, um Denkmäler als Erinnerung an die protestantische Vergangenheit zu errichten. Der erste öffentliche Park Debrecens, der „Gedenkgarten“, wurde in den 1860er Jahren im Stadtkern zwischen den beiden Wahrzeichen der Stadt – der „Großen Kirche“ und dem Reformierten Kollegium – eröffnet. Hier wurden von der Stadt und der reformierten Kirche initiierte und von den Stadtbürgern gestiftete Denkmäler aufgestellt. 1895 errichtete man die Gedenksäule für die als Galeerensklaven verkauften protestantischen 169

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Kanzel, Schule und Druckerei bildeten in Debrecen lange Zeit eine Einheit. Das brachte die Stadt auch in ihrem Wappen zum Ausdruck, das zugleich das Wappen der reformierten Kirche Ungarns mit dem Agnus Dei und der Bibel ist. Zwar war das Stadtwappen zur Zeit der kommunistischen Herrschaft verboten, doch hatte es der Stadtmagistrat schon kurz vor der politischen Wende 1989 einstimmig wieder eingeführt. Bildnachweis: Szűcs, István: Szabad királyi Debrecen város történelme. A legrégibb kortól a mai időkig [Die Geschichte der königlichen Freistadt Debrecen von den Anfängen bis heute], Bd. 1–3. Debrecen 1871, hier Bd. 1, 32.

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Prediger des 17. Jahrhunderts, die bis heute jährlich am Reformationstag sowohl der Gemeinde der „Großen Kirche“ als auch der Schülerschaft des Kollegiums als Ort der Erinnerung dient. In der Mitte des Gartens steht seit 1906 die Statue des reformierten Fürsten Stephan Bocskai, die zum Gedenken an den 1606 unterzeichneten Wiener Frieden aufgestellt wurde. Am Rande des Gedenkgartens grünt der „Lícium“-Baum (Lycium barbarum), eine botanische Seltenheit. In der Geschichte, die von den Debrecenern bis zur Gegenwart erzählt wird, stritten zwei Geistliche – der katholische Ambrosius und der reformierte Bálint – zur Reformationszeit bei der zierlichen Bocksdorn-Pflanze. Bálint hielt einen Lycium-Zweig in seiner Hand, woraufhin Ambrosius in der Hitze der Debatte sagte: „Aus den Lehren von Calvin wird nie ein Glaube, so wie aus der Lycium-Pflanze nie ein Baum wird.“ Bálint antwortete: „Es wird doch ein Baum daraus“, und steckte den Zweig in die Erde. Aus ihm wurde ein Baum, der bis heute grünt. Die historischen Denkmäler des Gartens bilden heute mit den symbolträchtigen Gebäuden des Reformierten Kollegiums und der „Großen Kirche“ sowie der 191� errichteten Kossuth-Statue vor der Kirche einen verdichteten Erinnerungsort der Debrecener und ungarischen Reformierten. Die kommunistische Diktatur stürzte auch die reformierte Kirche nach 19�8 in eine schwere Krise. Ihre finanziellen Grundlagen wurden vernichtet, ihre Schulen zum Großteil verstaatlicht. Die Führungsstellen besetzte man mit sich gegenüber der Staatsideologie loyal verhaltenden Theologen. Das Verbot des historischen Stadtwappens brachte den Bruch auch symbolisch zum Ausdruck, denn bis dahin stellte das Wappen der reformierten Kirche Ungarns mit dem Agnus Dei und der Bibel das Stadtwappen dar. Doch das „calvinistische Rom“ trotzte, soweit irgend möglich, der Diktatur: In der Bibliothek des Kollegiums bekamen nach dem Volksaufstand von 1956 auch politisch Verfolgte eine Anstellung, und die 1950 geschlossene Theologische Fakultät der Universität wirkte als selbständige Theologische Akademie weiter. Im Gymnasium des Reformierten Kollegiums, das vierzig Jahre lang als die einzige staatlich anerkannte reformierte Mittelschule Ungarns fungierte, lernten Hunderte von Kindern aus sogenannten klassenfeindlichen Familien, die in staatlichen Gymnasien sonst keinen Platz erhielten. Nach der politischen Wende von 1989 blühte das kirchliche Leben allmählich wieder auf. Reformierte Institutionen durften erneut ihre Tore öffnen, die alte Struktur des Reformierten Kollegiums wurde wiederhergestellt, und seine Theologische Fakultät erhielt ihren Universitätsrang zurück. Auch das alte Stadtwappen wurde schon kurz vor der politischen Wende im Jahr 1989 vom Stadtmagistrat einstimmig wieder eingeführt. Trotz aller Bemühungen sind aber die Positionen des Calvinismus in der heutigen „Civis“Stadt mit denen vor dem Zweiten Weltkrieg nicht zu vergleichen. Durch die Säkularisierung und das schnelle Wachstum der Stadt durch Zuwanderung in den letzten Jahrzehnten bekennt sich heute nur etwa die Hälfte der Christen zum reformierten Glauben. Die Bezeichnung „calvinistisches Rom“ für Debrecen wird trotzdem weiterhin als kulturelle Botschaft und Selbstimage der Stadt verwendet, auch wenn nach einer Erhebung aus dem Jahr 2009 nur noch 55 Prozent der Stadtbewohner ihren Wohnort mit diesem Namen definierten. Unter den ungarischsprachigen Reformierten konnte Debrecen seine 171

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Stellung aber nach wie vor als Zentrum des Reformiertentums bewahren – darauf wies etwa die am 22. Mai 2009 in der Stadt abgehaltene „Einigungssynode“ hin, als die infolge des Trianoner Vertrags von 1920 getrennten Kirchenteile des ungarischen Reformiertentums in Ungarn, Rumänien, Serbien, Kroatien und in der Ukraine erneut in einer einzigen Kirchenorganisation vereinigt wurden. IV. Auswahlbibliographie barta, Bóldisar: Rövid Chrónica, avagy oly Beszélgetés, melly a’ közelebb elmúlt száz esztendők alatt Debreczenben esett emlékezetesebb dolgokról [Kurze Chronik oder Gespräche über merkwürdige Angelegenheiten, die sich in den letzten hundert Jahren in Debrecen ereigneten]. Debrecen 1666; szűcs, István: Szabad királyi Debrecen város történelme. A legrégibb kortól a mai időkig [Die Geschichte der königlichen Freistadt Debrecen von den Anfängen bis heute], Bd. 1–3. Debrecen 1871; veress, Stefan: Einfluß der calvinischen Grundsätze auf das Kirchen- und Staatswesen in Ungarn. Tübingen 1910; szabó s., József: A Debreceni Református Kollégium tanárai és kiválóbb növendékei 1549–1925 [Lehrer und hervorragende Schüler des Debrecener Reformierten Kollegiums 1549–1925]. Debrecen 1926; csobán, Endre/csűrös, Ferenc (Hg.): Debrecen szabad királyi város. A város múltja, jelene és jövője rövid áttekintésben [Geschichte, Gegenwart und Zukunft der königlichen Freistadt Debrecen in einem kurzen Überblick]. Budapest 1931; naGy, Sándor: A debreceni református kollégium [Das Debrecener Reformierte Kollegium]. Hajdúhadház 1933; révész, Imre: A „kálvinista Róma“. (Két elnevezés története) [Das „calvinistische Rom“. (Die Geschichte zweier Benennungen)]. Debrecen 1934; zsiGMond, Ferenc: A debreceni református Kollégium története 1538–1938 [Die Geschichte des Debrecener Reformierten Kollegiums 1538–1938]. Debrecen 1938; naGy, Sándor: A debreceni Kollégium mint egységes intézmény az egyetem kiválásáig [Das Debrecener Kollegium als eine einheitliche Bildungsanstalt bis zur Gründung der Universität]. Debrecen 1940; MoLnár, Pál: Debrecen a magyar irodalom történetében [Debrecen in der Geschichte der ungarischen Literatur]. Debrecen 1941; baLoGh, István: A cívisek társadalma [Die Gesellschaft des Civis]. Debrecen 1946; naGy, Sándor/erdős, Károly: „Szegények iskolája“. Szociológiai tanulmány a Debreceni Református Kollégium utóbbi száz esztendejéből 18�8–19�8 / „The School for the poor“. Sociological Study of the Debrecen Reformed College during the last hundred years 18�8–19�8. Debrecen 19�8; révész, Imre: Sinai Miklós és kora. Adalékok a XVIII. századvég magyar társadalomtörténetéhez [Miklós Sinai und seine Zeit. Beiträge zur ungarischen Gesellschaftsgeschichte am Ende des 18. Jahrhunderts]. Budapest 1959; benda, Kálmán/irinyi, Károly: A négyszáz éves debreceni nyomda [Die 400 Jahre alte Debrecener Druckerei]. Budapest 1961; baLoGh, István: A cívisek világa [Die Welt der Civis]. Budapest 1973; orosz, István (Hg.): Debrecen története [Geschichte Debrecens], Bd. 1–7. Debrecen 1981–2002; taKács, Béla: Debrecen Református Nagytemplom [Die Debrecener Reformierte Große Kirche]. Budapest 1983; barcza, József (Hg.): A Debreceni Református Kollégium története [Die Geschichte des Debrecener Reformierten Kollegiums]. Budapest 1988; hapáK, József/Módy, György/taKács, Béla: Debrecen, die Civiswelt. Debrecen 1994; rácz, István: Az ország iskolája. A Debreceni Református Kollégium gazdasági erőforrásai [Die Schule des Landes. Die Wirtschaftsquellen des Debrecener Reformierten Kollegiums]. Debrecen 1995; rácz, István: Protestáns patronátus. Debrecen város kegyurasága [Das protestantische Patronat. Debrecens grundherrschaftliches Kirchenpatronat]. Debrecen 1997; GáborJáni szabó, Botond: A szabadság szent igéi. A tiszántúli református egyházi vezetés és a Debreceni Kollégium 18�8/�9-ben [Die heiligen Worte der Freiheit. Die Leitung der Reformierten Kirche jenseits der Theiß und das Reformierte Kollegium 18�8/�9]. Debrecen 1999; rácz, István: Parasztok, hajdúk, cívisek (Társadalomtörténeti tanulmányok) [Bauern, Hajducken, Civis (Gesellschaftshistorische Studien)]. Debrecen 2000; irinyi, Károly: A politikai közgondolkodás és mentalitás változatai Debrecenben 1867–1918 [Die Formen des

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Debrecen, das „Calvinistische Rom“ politischen Denkens und der Mentalität in Debrecen 1867–1918]. Debrecen 2002; KáLnási, Árpád: Debreceni cívis szótár [Civis-Wörterbuch Debrecens]. Debrecen 2005; Győri L., János: „Egész Magyarországnak és Erdélységnek … világosító lámpása. A Debreceni Református Kollégium története [Licht ganz Ungarns und Siebenbürgens … Geschichte des Debrecener Reformierten Kollegiums]. Debrecen, 2006; ders (Hg.): A Debreceni Református Kollégium Gimnáziuma és az 1956-os forradalmi események [Das Gymnasium des Debrecener Reformierten Kollegiums und die revolutionären Ereignisse von 1956]. Debrecen 2006; szabadi, István: „A reformált vallásnak gyámola és oszlopa“. A Debrecen-Nagytemplomi Református Egyházközség története [„Patron und Stütze des reformierten Glaubens“. Die Geschichte der Kirchengemeinde der Debrecener Großen Kirche]. Debrecen 2007; rátz, Tamara: A magyar Athén és a kálvinista Róma. Kulturális üzenet megjelenése magyar városok észlelt imázsában [Das ungarische Athen und das calvinistische Rom. Erscheinungsformen der kulturellen Botschaft im Image ungarischer Städte]. In: Turizmus Bulletin XII/3 (2009) 41–51.

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Oberschlesische Wallfahrtsorte I. Zusammenfassung. – II. Allgemeine Merkmale des oberschlesischen Wallfahrtswesens. – III. Die einzelnen Wallfahrtsorte. – a) Historischer Abriß. – b) Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Wallfahrtsorte sind in ihrer religiösen Funktion schon von sich aus Erinnerungsorte. Sie bewahren die Erinnerung an das Leben und Sterben eines Heiligen oder der Muttergottes, oft vergegenwärtigen sie überdies noch einmal topographisch durch Kalvarienberge das Leben und Sterben Jesu. Damit stehen sie am Ursprung der Erinnerungsorte überhaupt, so wie sie für das Heilige Land zuerst herausgearbeitet wurden. Die Region Oberschlesien ist besonders mit der katholischen Konfession eng verbunden – wobei die Wallfahrtsorte Oberschlesiens nicht nur einen Teil der Geschichte der Frömmigkeit bilden, sondern auch der profanen Geschichte der Grenzregion Oberschlesien. In den Wallfahrtsorten manifestiert sich insofern eine Verbindung von Religion, Heimat und Nation. Diese Verbindung wird besonders deutlich, wenn man die Wallfahrtsorte in ihrer Rolle als religiöse Erinnerungsorte betrachtet. II. Allgemeine Merkmale des oberschlesischen Wallfahrtswesens Die oberschlesischen Wallfahrtsorte Wartha, Albendorf, Deutsch Piekar und Sankt Annaberg entstanden alle im Mittelalter, erlangten aber zumeist ihre größte Bedeutung erst in der Neuzeit, nach dem Dreißigjährigen Krieg. Denn Oberschlesien, dessen Grundherren wie viele andere schlesische Adelige während der Reformationszeit zunächst zum Protestantismus übergetreten waren, wurde wie andere Gebiete der böhmischen Länder nach 1620 in großem Umfang rekatholisiert. Im 17. Jahrhundert wurden die älteren Wallfahrtsorte neu belebt und die im Zuge des Westfälischen Friedens von 16�8 entstandenen Gnadenkirchen aus- und umgebaut. Die alte Tradition der Wallfahrten wurde in diesem Zusammenhang zu einem probaten Mittel, die Gläubigen über sinnliche Erfahrungen anzusprechen und damit alle älteren reformatorischen Neigungen in Oberschlesien zu beseitigen. Mehrere adelige Familien verschrieben sich der Förderung des Wallfahrtswesens in besonderer Weise. Für diese Gruppe bot sich damit zugleich die Möglichkeit, ihre politische Loyalität zum Haus Habsburg und zum Katholizismus unter Beweis zu stellen. Die vom Hof forcierten Rekatholisierungsbestrebungen machten rasch Fortschritte: Die Wallfahrtsorte fanden großen Anklang, einige von ihnen, Wartha beispielsweise, sogar überregional. Um sie herum entwickelte sich ein Wallfahrtswesen, das die Frömmigkeitstradition in Oberschlesien tief prägte. Oberschlesische Region und katholische 17�

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Konfession wurden weitgehend deckungsgleich. Nur in den Städten siedelten sich nach und nach einzelne protestantische oder jüdische Bewohner an, die meisten von ihnen waren deutschsprachig. Im 17. Jahrhundert stärkten die Wallfahrtsorte durch die Betreuung der Pilger die Zugehörigkeit zum Katholizismus und damit auch die Verbindungen zum Habsburgerreich. Die Kirchenbauten des 18. Jahrhunderts sind, auch wenn sie zum Teil erst unter der neuen preußischen Oberherrschaft nach 17�0/�1 fertiggestellt wurden, Beispiele des typisch altösterreichischen Barockkatholizismus und belegen die engen kulturellen Verbindungen des oberschlesischen Raumes zu anderen habsburgischen Territorien. Nach der Eroberung des größten Teils von Schlesien durch Friedrich II. blieb Oberschlesien eine nahezu geschlossen katholische Region unter einem reformierten Landesherrn. Der Katholizismus wurde daher zu einem besonderen Charakteristikum Oberschlesiens, gerade in Abgrenzung zum restlichen, mehrheitlich lutherischen Preußen. Die Säkularisation im Jahr 1810 schwächte zwar die Wallfahrtsorte, wenn das betreuende Kloster aufgehoben wurde. Insgesamt gesehen wuchs das Wallfahrtswesen jedoch im 19. Jahrhundert weiter, auch nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871. Gerade in der Auseinandersetzung mit dem preußischen Staat während und nach dem Kulturkampf setzte die katholische Kirche auf Wallfahrten, die als Gemeinschaftserlebnis den Glauben und das Selbstverständnis der Katholiken stärken sollten. Sogar in den aufgeladenen 1880er Jahren, in denen in zahlreichen Wallfahrtsorten Oberschlesiens aus politischen Gründen keine Priester eingesetzt wurden, pilgerten die Menschen zu den entsprechenden Stätten. Statt wie beabsichtigt die Bindungen zur Kirche zu lockern, stärkte der Kulturkampf das Selbstbewußtsein der katholischen Oberschlesier. In dieser Auseinandersetzung wird bei vielen Oberschlesiern Ende des 19. Jahrhunderts erstmals ein nationales Bewußtsein faßbar. Unterstützt von polnischen Lehrern und Journalisten aus den preußischen Provinzen Posen und Westpreußen, entwickelte sich in Oberschlesien eine organisierte polnische Minderheit mit polnischem Nationalbewußtsein. Bis dahin war, vor allem bei den unteren Schichten, ein solche Identität nur schwach ausgeprägt gewesen. Das stärkste Identitätsmerkmal der Oberschlesier war der Katholizismus. Die Kirche trug dem durch eine bewußt zweisprachige Ansprache der Gläubigen in den Kirchen und Wallfahrtsorten Rechnung. Auch zum größten und bekanntesten Wallfahrtsort, dem Sankt Annaberg, pilgerten polnisch- wie deutschsprachige Oberschlesier. Das Zusammenleben war friedlich, jedoch von sozialer Ungleichheit geprägt. Die polnischsprachige Mehrheitsbevölkerung Oberschlesiens besaß weniger Land und weniger beweglichen Besitz als die deutschsprachige Minderheit, die zudem seit der Herrschaft der Habsburger, verstärkt dann unter preußischer und später reichsdeutscher Herrschaft, die staatlichen Machtpositionen innehatte. Durch ihre Sprachenpolitik konnte sich die katholische Kirche für die polnischsprachigen Oberschlesier positiv von den anderen Obrigkeiten abheben. Auch dadurch verstärkte sich die Identifikation von ,Oberschlesiertum‘ und Katholizismus.

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III. Die einzelnen Wallfahrtsorte a) Historischer Abriß Der Sankt Annaberg bekam seinen Namen von der Annakapelle, die 1516 der Pfarrei von Leschnitz zur Pflege übergeben wurde. Da der letzte Grundherr von Leschnitz, zu dem auch der Sankt Annaberg gehörte, Georg Friedrich von Zyrowski, Protestant geworden war und dafür nach der Niederlage der evangelischen Stände Böhmens in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 lebenslang eingekerkert wurde, verkaufte Kaiser Ferdinand II. die Grundherrschaft an die katholische und kaisertreue Familie Gaschin. Melchior von Gaschin bemühte sich darum, polnischsprachige Franziskaner für ein Kloster auf dem Berg zu gewinnen; erst nach der Zerstörung des Krakauer Klosters im Jahr 1655 und des erneut ausgebrochenen Schwedisch-Polnischen Kriegs kam die Neueinrichtung eines Franziskanerklosters 1659 zustande. Auch von den Wallfahrtsorten Wartha und Deutsch Piekar ging die Rekatholisierung Oberschlesiens nach dem Dreißigjährigen Krieg aus. In Wartha stiegen die Zahlen der Wallfahrtsteilnehmer zum Mariengnadenbild nach 1650 stark an. Die Marienwallfahrt nach Wartha ist seit dem 16. Jahrhundert belegt; ursprünglich hatte sich die Wallfahrtsstätte an der alten Handelsstraße zwischen Prag und Gnesen aus Ablaßwallfahrten entwickelt. Sowohl auf dem Sankt Annaberg als auch in Wartha wurden im Übergang zum 18. Jahrhundert größere Kirchen und neue Klostergebäude errichtet. 1733 bis 17�9 baute man auf dem Sankt Annaberg ein Steinkloster, etwas später eine Kirche. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts ließ Grundherr Georg Adam von Gaschin den Kalvarienberg unter Leitung des italienischen Architekten Domenico Signo errichten, der 176� fertiggestellt wurde. Der zweite große Wallfahrtsort Oberschlesiens, Wartha, wurde im 18. Jahrhundert ebenfalls ausgebaut. Die 1702 neuerrichtete dreischiffige Basilika brannte allerdings neun Jahre später ab. Nach Wartha pilgerten in dieser Zeit jährlich mehr als 100.000 Menschen. Der Wallfahrtsort Deutsch Piekar – mit seiner Lage unweit von Beuthen OS heute ein Teil des oberschlesischen Industriegebiets – ist seit dem 14. Jahrhundert bezeugt. Das Gnadenbild der Maria entstand im 16. Jahrhundert. Das Wallfahrtswesen zum Madonnenbild wurde ebenfalls nach dem Dreißigjährigen Krieg intensiviert. 1680 habe Kaiser Leopold I. das Bild nach Prag geholt, um mit ihm, wie es in der Überlieferung heißt, erfolgreich die Pest aus der Stadt zu vertreiben. Daraufhin beschenkte die kaiserliche Familie das Gnadenbild reich mit Gold und Edelsteinen; so geschmückt, kam es nach Piekar zurück. Besondere Bedeutung für spätere Zeiten hatte der Besuch des polnischen Königs Johann Sobieski 1683, der Maria in Piekar um Hilfe bei der Rettung Wiens vor den Türken anflehte. Seit dem Jahr 18�2 behütet eine neue Kirche das Gnadenbild. In Albendorf ist die Marienwallfahrt seit Anfang des 16. Jahrhunderts bezeugt. Während der Reformation berief der Lehensherr jedoch für Albendorf einen lutherischen Geistlichen, so daß die Tradition der Wallfahrt für mehr als ein Jahrhundert abriß. Erst 1660 wurde die Wallfahrt durch den Grundherrn Daniel Paschasius wiederbelebt. 1695 bis 1710 baute man eine neue Kirche, die 1715 allerdings wegen Baufälligkeit geschlos176

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sen werden mußte. Die Wallfahrtskirche „Maria Heimsuchung“ wurde 1716 durch den Grundherrn, Franz Anton Graf von Götzen, gestiftet. Im 18. Jahrhundert stiegen die Pilgerzahlen stark an. Die Schlesischen Kriege seit 17�0 und der Übergang des Großteils Oberschlesiens an Preußen veränderten die Rahmenbedingungen grundlegend. Wartha verlor vorübergehend den Kontakt nach Böhmen und Mähren. Die Säkularisation schadete dem Wallfahrtsort anfangs, da die von den Klöstern organisierten Prozessionen wegfielen. Doch wie auf dem Sankt Annaberg fanden auch an anderen Orten die Wallfahrten selbst ohne geistliche Betreuung statt. Erst Mitte des 19. Jahrhunderts konnten die Franziskaner auf den Sankt Annaberg zurückkehren. Schnell zeigte sich, daß der Zulauf zu dieser Wallfahrtsstätte ungebrochen war. Zum Jubiläum 1865 kamen rund �00.000 Pilger. In der Zeit des Kulturkampfes in Preußen mußten die Franziskaner vom Sankt Annaberg ihr Kloster verlassen. 187� wurde eine deutsche Kreuzesfestwallfahrt aufgelöst, der polnischen Wallfahrt wurde das Betreten des Berges gar nicht erst erlaubt. In den folgenden Jahren durfte es wieder Wallfahrten geben, allerdings wie in den Zeiten der Säkularisation ohne geistliche Betreuung. 1887 kehrten die Franziskaner zum zweiten Mal auf den Sankt Annaberg zurück, und Ende des 19. Jahrhunderts wurde das Innere der Sankt Annakapelle auf dem Annaberg nochmals ausgebaut. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde Oberschlesien zum Objekt territorial-politischer Auseinandersetzungen zwischen Polen, der Tschechoslowakei und dem Deutschen Reich. In der Zeit der Volksabstimmung 1921, als Oberschlesien von alliierten Truppen besetzt und verwaltet wurde, bekam der Sankt Annaberg von deutscher Seite eine neue Aufgabe. Da der Berg als Wallfahrtsort eng mit der oberschlesischen Region verbunden war und deren Einheit versinnbildlichte, konnte er in der Abstimmungspropaganda zur Verkörperung der regionalen Heimat gemacht werden. Der Annaberg war daher während der Polnischen Aufstände in Oberschlesien nicht nur ein strategisches Angriffsziel, sondern auch ein symbolischer Kampfort. Die militärische Besetzung des Annabergs durch deutsche Freikorpskämpfer in dieser Phase wurde in der Weimarer Republik von rechtsradikalen und antidemokratischen Parteien und Strömungen als erster Sieg nach dem verlorenen Weltkrieg gefeiert und erinnert. Die Freikorpskämpfe waren in dieser Sicht eine Verlängerung des Weltkrieges, die gefallenen Kämpfer avancierten zu Helden, die für die Nation in den Tod gegangen waren. Ihr Opfer gab dem Berg eine vermeintlich neue Weihe. In dieser Deutung trafen sich katholische, zentrumsnahe Oberschlesier und konservative, völkische und deutschnationale Bewegungen. Nach der 1922 verfügten Teilung Oberschlesiens zwischen Deutschland und Polen wurde der Sankt Annaberg zu einem Mahnmal gegen die Teilung Oberschlesiens stilisiert. An dieser Erinnerung beteiligten sich die katholische wie auch die evangelische Kirche, die zu den pompösen Erinnerungsfeiern Gottesdienste abhielten. Der Sankt Annaberg als Ort friedlicher Gemeinsamkeit zwischen polnisch- und deutschsprachigen Christen geriet dabei in den Hintergrund. In den 1920er und 1930er Jahren wurden auf dem Sankt Annaberg zweisprachige Gottesdienste gehalten. 1939 schließlich verbot die deutsche Regierung alle polnischen Got177

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Die undatierte Ansichtskarte zeigt die 1934 bis 1936 erbaute nationalsozialistische Thingstätte sowie das 1940 als „Reichsehrenmal der Freikorpskämpfer“ eingeweihte Mausoleum auf dem Felsen darüber. 1946 wurde das Mausoleum zerstört und an seiner Stelle 1955 ein Ehrenmal zum Gedenken des „ewigen Kampfes Polens mit dem deutschen Drang nach Osten“ errichtet. Bildnachweis: Privatarchiv Stefan Rohdewald.

tesdienste. In der Zeit des Dritten Reiches wurde am Rand des Sankt Annabergs eine Außenstelle des Konzentrationslagers Groß-Rosen eingerichtet. Der Wallfahrtsort selbst sollte in der Frühzeit des nationalsozialistischen Regimes zum Grenzlandvorposten ausgebaut werden, einem Ort, wo Kinder und Jugendliche die besonderen Pflichten des Grenzlandes – die Verteidigung der Nation – lernen sollten. Der „Geist der Annabergkämpfer“ hatte der ideologischen Festigung der Gesellschaft zu dienen. Zu diesem Zweck wurde 1934 ein gewaltiges Mausoleum für die ehemaligen Kämpfer am Annaberg gebaut, um das herum eine Thingstätte entstand. Der Ausbau des Annabergs als quasi nationalsozialistisches Heiligtum geriet jedoch ins Stocken. Das lag nicht daran, daß die katholische Kirche versuchte, den Ort für sich zu bewahren – die Pilgerzahlen waren nach 1933 ohnehin noch einmal angestiegen –, es hatte seine Ursache darin, daß sich nach dem Angriff Deutschlands auf Polen 1939 die propagandistischen Ziele des Regimes veränderten und der Sankt Annaberg spürbar an Interesse für die Nationalsozialisten verlor. Während des Zweiten Weltkrieges geriet der Annaberg daher fast in Vergessenheit. Bis 1939 ist ein Anstieg der Teilnehmerzahlen an den christlichen Wallfahrten zu beobachten. Der Sankt Annaberg und Wartha spielten eine wichtige Rolle in der katholischen Jugendarbeit, die auf eine Stärkung des Gemeinschaftsgefühls abzielte. Zur Pilgerfahrt der Kolpingfamilie nach Wartha 1935 kamen über 170.000 Menschen, auch die 178

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sogenannten Jungmännerwallfahrten auf den Sankt Annaberg waren gut besucht. In Predigten wurde vielfach dazu aufgerufen, dem christlichen Glauben und der katholischen Kirche treu zu bleiben. Mit dem fortschreitenden Krieg und dem sich verstärkenden Kampf gegen die katholische Kirche wurden die Wallfahrten allerdings verboten. 1940 mußten die Franziskaner den Sankt Annaberg verlassen. Zwei Jahre später wurde auch Wartha geräumt. An beiden Wallfahrtsorten wurden volksdeutsche Umsiedler aus Bessarabien und der Bukowina einquartiert. Im polnischen Oberschlesien wurden deutsche Gottesdienste nach 1945 verboten. Das von den Nationalsozialisten errichtete Mausoleum auf dem Sankt Annaberg wurde gesprengt. An seiner Stelle errichteten die polnischen Behörden nach einem Entwurf von Xawier Dunikowski ein Denkmal, das an die polnischen Kämpfe gegen die deutschen „Besetzer“ vom Mittelalter bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts erinnerte und als Symbol der Propaganda für die „wiedergewonnenen Gebiete“ diente. Mit dieser propagandistischen Denkfigur sollten die Westgebiete Polens, die nach dem Zweiten Weltkrieg zu Polen gekommen waren, historisch und politisch als Teil des Mutterlandes Polen festgeschrieben werden. Am polnischen Denkmal auf dem Sankt Annaberg fand noch 19�5 eine größere Siegesfeier statt. Doch erst nach dem Ende des Stalinismus konnte es zu einem festen Ort regelmäßig wiederkehrender Jahresfeiern werden, an denen der Kämpfe um Oberschlesien gedacht wurde. Hier knüpften die polnischen Kommunisten an die Propaganda der Zwischenkriegszeit an, die der damalige Woiwode der Sanacja-Partei, Michał Grażyński, in Schlesien betrieben hatte. Grażyński hatte versucht, die Aufstände und deren „Blutopfer“ als Beweis der Polonizität Schlesiens in der Region fest zu verankern. Zu diesem Zweck war in Deutsch Piekar 193� ein „Befreiungshügel“ mit Erde von den verschiedenen Orten der polnischen Unabhängigkeitskämpfe errichtet worden. Der Hügel sollte den Wallfahrtsort, an dem Johann Sobieski einst im späten 17. Jahrhundert gebetet hatte, mit der polnischen Nationalgeschichte verknüpfen. b) Gegenwart Heute sind die einzelnen Wallfahrtsorte Teil der polnischen katholischen Tradition Oberschlesiens. Auf dem Sankt Annaberg werden seit dem Fall des Eisernen Vorhangs wieder deutsche Messen angeboten. Schon im Herbst 1989 hatte der damalige Bischof Oberschlesiens, Alfons Nossol, Bundeskanzler Helmut Kohl auf den Sankt Annaberg eingeladen. Nach starken Protesten aus Polen wie aus Deutschland war das Treffen Kohls mit dem polnischen Ministerpräsidenten Mazowiecki dann aber ins niederschlesische Kreisau verlegt worden. In der Bundesrepublik Deutschland bewahrten die vertriebenen Oberschlesier die Erinnerung an die Wallfahrtsorte. Der Sankt Annaberg wurde nach 1945 geradezu zu einem Symbol der verlorenen Heimat, wie zahlreiche Veröffentlichungen der oberschlesischen Vertriebenenorganisationen belegen. Mit dem heiligen Ort wurde zugleich seiner wech179

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selvollen Geschichte, einschließlich der deutsch-polnischen Kämpfe, erinnert. Als Ersatz für den zurückgelassenen Wallfahrtsort pilgerten die Oberschlesier zum Sankt Annaberg nach Haltern. Die „Schlesier“-Wallfahrt ist die Übertragung des alten Annaglaubens auf die neue Heimat. Sie diente und dient der Erinnerung, gleichzeitig aber auch dem Ankommen und Heimischwerden im neuen Zuhause. Für den Wallfahrtsort Wartha fand sich in Westdeutschland ebenfalls Ersatz: Maria Veen. Für dieses „Ersatz-Wartha“ setzte sich besonders der letzte deutsche Priester aus Wartha, Oscar Franosch, ein. Die Oberschlesier mußten sich in Maria Veen allerdings mit der Verehrung einer Kopie des Warthaer Gnadenbildes begnügen. Die Wallfahrten nach Maria Veen ermöglichten es ihnen jedoch, ihr Selbstverständnis als gläubige Katholiken zu bewahren und sich an die zurückgelassene Heimat zu erinnern. Zugleich entstand seit den 1980er Jahren ein Kontakt nach Bardo/Wartha, wohin Spenden für die Gnadenkirche und für Hilfstransporte zugunsten der Einwohner von Bardo geschickt wurden. So erwuchs aus der Erinnerung der Heimatvertriebenen, die ursprünglich auf die Erhaltung des Rückkehrwunsches gerichtet war, deutsch-polnische Zusammenarbeit und Versöhnung. IV. Auswahlbibliographie ziMMer, Emanuel: Albendorf, sein Ursprung und seine Geschichte bis zur Gegenwart. Breslau 1898; Knauer, Paul: Der Ursprung der Marien-Wallfahrt zu Wartha in Schlesien. Eine quellenkritische Untersuchung. Breslau 1917; WientzeL, Wolfgang: Sankt Annaberg. Habelschwerdt 1923; hayduK, Alfons/ heLLMann, Anton: Heiliger Berg. Oppeln 1927; boLczyK, Camillus: St. Annaberg. Kurze Geschichte des berühmten Wallfahrtortes im Herzen Oberschlesiens. Breslau 1937; fLott, Franz: Annaberg. Breslau 1938; hayduK, Alfons: Annabergwacht. Oppeln 1938; stoKoWy, Barnabas: Góra Św. Anny. Zarys historii ośrodka kultu religijnego na Górnym Śląsku [Der Sankt Annaberg. Historischer Abriß eines religiösen Kultzentrums in Oberschlesien]. Wrocław 19�6; szypoWsKa, Maria/szypoWsKi, Andrzej: Góra Św. Anny [Der Sankt Annaberg]. Warszawa 1969; hanich, Andrzej: Góra Św. Anny [Der Sankt Annaberg]. Aschaffenburg 1985; teichMann, Lucius: St. Annaberg, Franziskanerkloster. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 30 (1989) 29–�3; bein, Werner/schMiLeWsKi, Ulrich: Wartha. Ein schlesischer Wallfahrtsort. Würzburg 1994; dröGe, Kurt: Hedwig. Zur Konstruktion von Vertriebenensymbolik. In: brednich, Rolf Wilhelm/schMitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. Münster 1997, �50–�58; pieczKa, Krystian: St. Annaberg in Oberschlesien. Dülmen 2000; hauboLd-stoLLe, Juliane: Der heilige Berg Oberschlesiens. In: czapLińsKi, Marek/ hahn, Hans-Joachim/WeGer, Tobias (Hg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005, 201–220; herziG, Arno/ruchnieWicz, Małgorzata: Geschichte des Glatzer Landes. Hamburg/Wrocław 2006; eiden, Maximilian/MasnyK, Marek: Góra św. Anny [Der Sankt Annaberg]. In: bahLcKe, Joachim/GaWrecKi, Dan/KaczMareK, Ryszard (Hg.): Historia Górnego Śląska. Polityka, gospodarka i kultura europejskiego regionu. Gliwice 2011, �39–��7.

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Der Patriarchatshügel in Bukarest I. Zusammenfassung. – II. Merkmale der Zentralität. – III. Die Kathedrale und der hl. Demetrius von Basarabov. – IV. Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Memoria. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Auf einem Hügel am rechten Ufer der heute unterirdisch fließenden Dâmboviţa erhebt sich seit 1658 die Bukarester Kathedrale. Diese Kirche auf dem „Weinberg“ (Dealul Viilor) war drei Jahrhunderte lang das Wahrzeichen der neuen walachischen Hauptstadt; den Hügel nannte man fortan „Metropoliehügel“ (Dealul Metropoliei) bzw. Patriarchatshügel. Hier war der Sitz des Metropoliten und später Patriarchen der Ungrowalachei. Er lag relativ weit vom fürstlichen Hof entfernt und deutete damit eine gewisse Distanz zwischen den beiden Institutionen an, die es bis zur Regierungszeit des katholischen Fürsten, dann Königs, Karl von Hohenzollern-Sigmaringen, 1861 beziehungsweise 1881 eigentlich gar nicht gab. Seit 1925 bildet die orthodoxe Kirche Rumäniens ein autokephales nationales Patriarchat. Die Gebäude auf dem Patriarchatshügel haben sich inzwischen vermehrt – neben der Kathedrale und der Residenz des Metropoliten respektive später des Patriarchen steht das wuchtige, kürzlich erneuerte und erweiterte Patriarchenpalais, das hauptsächlich Repräsentationszwecken dient.

II. Merkmale der Zentralität Der Bau der Metropolitankirche wurde 1656 in der Regierungszeit des Fürsten Constantin Şerban Basarab an der Stelle eines kleinen Holzklosters begonnen. Die lange Bauzeit von über zehn Jahren hatte mit dem häufigen Fürstenwechsel, also auch mit Intrigen im Phanar, zu tun, obwohl der Stifter das Projekt durch Güterschenkungen bereits zu Anfang unterstützt hatte. Die neue Klosterkirche war ursprünglich ummauert, Stützpfeiler stärkten die festungsartigen Wälle. Erhalten ist davon nur mehr der heute frei stehende, vor wenigen Jahren sorgfältig restaurierte hohe Glockenturm. Das Haus des Klostervorstehers wurde 1668 zum Sitz des Metropoliten der Walachei, im selben Jahr erfolgte die Übernahme des Patroziniums von Konstantin und Helena für die Kathedrale. Im Funktionsbereich der osteuropäischen Orthodoxie war der Metropolit der Ungrowalachei ein bedeutender Würdenträger. Häufig kehrten bei ihm Botschafter des ökumenischen Patriarchen und Almosen begehrende Vertreter anderer orthodoxer Kirchen ein, die unter osmanischer Herrschaft standen. Diesen Geistlichen sind auch Reisebeschreibungen über die religiösen Stätten der Walachei zu verdanken. Dem Metropoliten der Walachei standen außer dem an die Eparchie gebundenen Erzbischofsrang die Titel eines 181

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Verwesers von Caesarea in Kappadokien – den er bis heute trägt – und Exarchen „der Hochebenen“ (al plaiurilor) zu. Der zuletzt genannte Titel bezog sich auf die Gerichtsbarkeit über die Orthodoxen im Karpatenbogen und ist, da 1919 gegenstandslos geworden, erloschen. Heute lautet die vollständige Titulatur „Erzbischof von Bukarest, Metropolit Munteniens, der Dobrudscha und Patriarch der Rumänischen Orthodoxen Kirche“. Der Metropolit pflegte den neuen, von der Hohen Pforte in Konstantinopel ernannten und vom ökumenischen Patriarchen geweihten Fürsten der Walachei in seiner Kirche zu salben. Dieses althergebrachte Ritual der orthodoxen Herrschereinsetzung wurde 1866 mit der Installation des katholischen Fürsten Karl von Hohenzollern-Sigmaringen unterbrochen – er empfing die Fürstenwürde, wie 1881 die neu geschaffene Königskrone, vom Parlament, das sich damals auf dem Metropoliehügel befand. Das kirchliche Ritual der Herrschereinsetzung war seit 1866 einer Verweltlichung gewichen; der König setzte sich die Krone – in Gegenwart der hohen weltlichen und geistlichen Würdenträger – selber auf, das Zeremoniell fand in der königlichen Residenz und nicht in der orthodoxen Kathedrale statt. Bis 1859 stand dem Landesmetropoliten im Fürstlichen Rat der erste Platz nach dem Monarchen zu. Wenn der Fürst und an seiner Stelle der Großbanus von Oltenien verhindert waren, die Ratssitzungen zu leiten, wurde der Metropolit dazu berufen. Nach 1859 modernisierte Fürst Alexandru Ioan Cuza das Zeremoniell; die Kirche sollte sich auf religiöse Aufgaben beschränken. Doch die Beziehungen zwischen Staat und orthodoxer Kirche blieben unklar, vor allem bezüglich des Begriffs und Inhalts der Staatskirche Rumäniens. Nach 1919, als die Rumänen als Sprachgruppe zwei Konfessionen angehörten – der griechisch-orthodoxen, die die Mehrheit bildete, und der griechisch-katholischen (oder unierten) in den Gebietszuwächsen des Großrumänischen Königreichs –, schien eine Regelung der Beziehungen von Staat und Kirche der Rumänen noch schwieriger. Die neue Verfassung von 1923 nannte – weiterhin nicht eindeutig – die Existenz von „zwei Kirchen der Rumänen“, wobei die größere, also die orthodoxe Kirche, Vorrang und Vorrechte genoß. Auch in der aktuell gültigen, 2003 zuletzt revidierten Verfassung von 1991 ist die Frage der grundsätzlichen Trennung von Staat und Kirche im Sinne der Neutralität der orthodoxen Kirche nicht eindeutig definiert. Auch hat die Aufhebung der Synodalität in der orthodoxen Kirche durch den 2008 verstorbenen Patriarchen Teoctist autoritären Strukturen in der Walachei Vorschub geleistet, sehr zur Verärgerung der Bischöfe und Laienvertreter in Siebenbürgen und im Banat. Die enge Verflechtung von öffentlichem und religiösem Raum kam seit dem 17. und 18. Jahrhundert auch dadurch zum Ausdruck, daß am Sitz des Metropoliten in Bukarest bis 1831 ein wichtiges Archiv mit Urkunden öffentlicher, privater und kirchlicher Provenienz bestand, da ein Staatsarchiv noch fehlte. Zwischen 1859 und 1925 war der Bukarester Metropolit Primas von Rumänien.

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Der Patriarchatshügel in Bukarest

III. Die Kathedrale und der hl. Demetrius von Basarabov Architektonisch folgt die Kathedrale von Bukarest dem Plan der Klosterkirche zu Curtea de Argeş – auch hier gab es ursprünglich zwölf Pfeiler im Pronaos, die Zwölf Apostel symbolisierend, doch ist die neue Kirche etwas größer. Die Innenmalerei wurde von 1932 bis 1935 fast gänzlich erneuert, allein das Weihefresko aus dem 17. Jahrhundert mit Konstantin und Helena blieb erhalten. In der Metropolitankirche wurden viele bedeutende Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens der Walachei bestattet, darunter vier Fürsten, mehrere Mitglieder von Fürsten- und Bojarenfamilien, zwölf Metropoliten und drei der Patriarchen der Rumänischen Orthodoxen Kirche aus dem 20. Jahrhundert – Miron, Nicodim und Justin. An der Wand erinnert eine Tafel an alle Metropoliten der Walachei (soweit – in der Frühzeit – bekannt). Die Reliquien des hl. Demetrius des Neuen Basarabov sind das Hauptheiligtum der Bukarester Kathedrale. Dieser Volksheilige soll im 13. Jahrhundert in der Nähe des bulgarischen Russe an der Donau im Dorfe Basarabeni oder Basarabov gelebt und als Heiler und Wundertäter gewirkt haben. Demetrius von Basarabov war angeblich ein aromunischer Hirte, so behaupten es manche Legenden jüngeren Datums. Das aromunische Element spielt dabei für die rumänische Orthodoxie eine wichtige Rolle: Auch über manche andere bulgarische Volksheilige, nicht zuletzt den Patriarchen Euthymios von Tărnovo und den Metropoliten Gregor Camblak von Kiew, die im späten 14. Jahrhundert in der Kirchengeschichte der Rumänen eine gewisse Rolle gespielt hatten, wird in der neueren rumänischen Literatur kirchlicher Provenienz eine protonationale Traditionslinie zu den Aromunen gezogen. Während des russisch-türkischen Krieges von 1768–177�, in dessen Folge unter anderem die Bukowina von der Moldau abgetrennt wurde, ließ der russische General Pëtr Saltykov die Gebeine Basarabovs 177� aus Bulgarien nach Rußland transportieren. In Bukarest angekommen, bat der Metropolit Grigorie II. der Ungrowalachei den General um Überlassung dieser Reliquie, um das Land vor dem allzu häufigen Wechsel der Phanariotenfürsten zu schützen, wie es in einer anderen neueren Legende heißt. 1793 wurde Demetrius zum Schutzpatron von Bukarest erklärt; sein Feiertag ist der 17. Oktober, auch heute wieder ein Tag der öffentlichen Zurschaustellung des Reliquienschreins und einer Wallfahrt der Bukarester zum Patriarchatshügel. Demetrius schmückt seit dem 19. Jahrhundert als Hauptfigur das Stadtwappen von Bukarest, mit einer Unterbrechung während der kommunistischen Periode. Damit wird symbolisch ausgesprochen, daß er auch der Schutzheilige der rumänischen Hauptstadt ist. Im Februar 1918 stahlen bulgarische Soldaten während der Besatzung Bukarests durch deutsche Truppen die Gebeine des hl. Demetrius des Neuen aus der Metropolitankirche, um sie nach Bulgarien zurück zu bringen. Die deutsche Militärkommandantur befürchtete einen Aufruhr der Bevölkerung in der Stadt, und Kommandant August von Mackensen ordnete die Suche und sofortige Rückführung des Stadtheiligen an, die allerdings erst an der Landesgrenze, im Frontabschnitt des bayerischen Generals Zach bei Giurgiu an der Donau, gelang. Die nicht für den Krieg requirierten Glocken der Kathe183

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drale verkündeten den Bukarestern die Rückkehr ihres Schutzpatrons. 1955 wurde der Kult Demetrius’ des Neuen auf ganz Rumänien ausgedehnt, 1992 fand die Ausweitung des Kults zum „rumänischen Heiligen“ statt. IV. Verknüpfung von geistlicher und weltlicher Memoria Die Kathedrale des Patriarchats ist, wie der Patriarchatshügel insgesamt, für die Rumänen auch heute noch ein Ort religiöser wie historisch verankerter Erinnerung. Die Funktion dieses traditionsreichen Zentrums des religiösen, politischen und kulturellen Lebens wird vor allem auf symbolische Art und Weise verdeutlicht. Neben der Kathedrale befindet sich das heutige Patriarchenpalais, in dem früher, bis zum Umzug in den neuen Parlamentspalast, das von Ceauşescu begründete „Haus des Volkes“, die Abgeordnetenkammer des Parlaments, getagt hatte. Ein neues Goldmosaik an der Fassade des links von der Kathedrale angesiedelten, heute prächtig erweiterten Patriarchenpalais erinnert daran, daß der Apostel Andreas zu den ältesten Christenbekehrern im rumänischen Raum gehört haben soll. Ihm werden in der orthodox-rumänischen Tradition, die ebenfalls jüngeren Datums ist, die frühchristlichen Gemeinden der Scythia Minor am Westrand des Pontus Euxinus mit ihren Kapellen aus dem �. Jahrhundert zugeordnet. Auf dem Patriarchatshügel wurden zwei politische Entscheidungen von großer Tragweite für die Neuere Geschichte der Rumänen getroffen: Am 2�. Januar 1859 wurde Alexandru Ioan Cuza zum Fürsten der Walachei gewählt, was die Vereinigung des Landes mit der Moldau ermöglichte. Und am 9. Mai 1877 wurde ebendort, nur von seiten Rumäniens, die Unabhängigkeit vom Osmanischen Reich durch das Parlament erklärt. Die volle internationale Souveränität erhielt Rumänien erst 1881, sein Fürst Karl I. wurde König. Mehrere Statuen erinnern an historische Ereignisse, die auf dem Patriarchatshügel stattgefunden haben. Neben der Statue des ersten Kirchenstifters, dem Fürsten Constantin Şerban, stehen die Statuen des Fürsten Alexandru Ioan Cuza und des Politikers Barbu Catargiu. Der ultrakonservative Politiker Catargiu wurde im Jahre 1862 im offenen Wagen erschossen, als er vom Parlament abfuhr. Dieser Mord wurde niemals aufgeklärt; es wird angenommen, daß er im Auftrag des regierenden Fürsten A. I. Cuza geschah. Es war Catargiu gewesen, der die Reformen Cuzas im Parlament systematisch und erfolgreich blockiert hatte. Diese waren zwar notwendig, wurden aber mit Gewalt durch das Parlament gepeitscht, mit Verfahren, die nicht gesetzeskonform waren. Drei steinerne Kreuze unterhalb des Hügels erinnern an frühere Fürsten – das mittlere Kreuz an Petru Cercel (1583–1585), ein zweites an Alexandru IV. Iliaş (1616–1618) und ein drittes, von 1644, an die Regierung von Matei Basarab (1632–1654). Sie geben Rätsel auf, da weder ein Hinweis auf ihre Herkunft noch ein Grund für ihre Aufstellung zu finden ist. Das letzte Kreuz wurde für die Seelenruhe des Bojaren Preda Brâncoveanu aufgestellt, der dort 1644 von meuternden Söldnern ermordet wurde. Diese Kreuze auf dem Hügel der Bukarester Patriarchatskirche erinnern an Bluttaten aus der politischen Geschichte, insbesondere an die Ermordung des bedeutenden Fürsten und Kulturmä18�

Der Patriarchatshügel in Bukarest

Torturm, Kathedrale und Patriarchenpalais, das bis 1997 als Parlamentsgebäude diente, bilden ein eindrückliches und repräsentatives architektonisches Ensemble. Zur Inszenierung kirchlicher Macht in der Hauptstadt Bukarest stellt es ein beliebtes Objekt offizieller Postkarten der Rumänischen Orthodoxen Kirche dar. Bildnachweis: Postkarte, 9 x 14 cm, Editura Ad. Maier & D. Stern, Bukarest, Erscheinungsdatum unbekannt.

zens Constantin Brâncoveanu (1688–171�), der wegen politischer Unbotmäßigkeit zusammen mit seinen vier minderjährigen Söhnen und seinem Berater in Konstantinopel öffentlich hingerichtet wurde, weil sie sich weigerten, zum Islam zu konvertieren. Die Orthodoxe Kirche Rumäniens hat sie alle gemeinsam 1992 kanonisiert. Ein weiteres Wahrzeichen stand einige Jahrzehnte lang ebenfalls auf diesem Hügel – die römische Lupa, ein Geschenk Italiens als Zeichen der Kulturverbundenheit romanischer Staaten in Europa und deren Waffenbrüderschaft gegen das Deutsche Reich im Ersten Weltkrieg. So verbinden sich auf dem Patriarchatshügel die allgemein historische mit der kirchengeschichtlichen Memoria untrennbar miteinander. Sicherlich auch darum wendete man im Geiste der patriotischen Kulturpropaganda während der Ceauşescuzeit beträchtliche Mittel für die Restaurierung der exemplarischen religiösen Bauwerke an diesem Orte auf. Trotz dieser Symbolkraft des Patiarchatshügels sucht die orthodoxe Kirche seit geraumer Zeit, allerdings nicht unwidersprochen, nach einem geeigneten Bauplatz für eine größere Kathedrale. 185

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V. Auswahlbibliographie a) Quellen brusanovsKi, Paul: Despre sursele canonico-juridice ale Statutului Organic şagunian [Die kanonischjuristischen Quellen des Organischen Statuts von (Metropolit) Şaguna]. In: bocşan, Nicolae u. a. (Hg.): Identităţi confesionale în Europa Centro-Orientală (secolele XVII–XXI). Cluj-Napoca 2009, 521–601; ciocioi, Gheorghiţă (Hg.): Viaţa Sfintei Filofteia de la Târnovo – Viaţa Sfântului Eftimie de la Târnovo [Vita der hl. Philophtheia von Tărnovo – Vita des hl. Euthymios von Tărnovo]. Bucureşti 2009; desartovici, L. S. (Hg.): Sfântul cuvios Dimitrie Basarabov cu sfintele moaşte la Bucureşti [Der glückselige hl. Dimitrie Basarabov und seine heilige Reliquie in Bukarest]. Bucureşti 2009.

b) Darstellungen Giurescu, Constantin C.: Istoria Bucureştilor din cele mai vechi timpuri impuri până în zilele noastre [Geschichte Bukarests von den Anfängen bis heute]. Bucureşti 1966; păcurariu, Mircea: Istoria Bisericii Ortodoxe Române [Geschichte der Rumänischen Orthodoxen Kirche], Bd. 1–3. Bucureşti 21991–1994 [11980–1981]; netzhaMMer, Nikolaus/zach, Krista (Hg.): Raymund Netzhammer. Bischof in Rumänien. Im Spannungsfeld zwischen Staat und Vatikan, Bd. 1–2. München 1995; dies. (Hg.): Raymund Netzhammer Episcop în România. Intr-o epocă a conflictelor naţionale şi religioase [Raymund Netzhammer, Bischof in Rumänien. In einer Eopche der nationalen und religiösen Konflikte], Bd. 1–2, Bucureşti 2005; păun, Radu G.: Incoronarea în Ţara Românească şi Moldova în secolul al XVIII-lea. Principii, atitudini, simboluri [Die Inthronisierung in der Walachei und Moldau im 18. Jh.]. In: Revista istorică 5/7–8 (199�) 7�3–759; păun, Radu G.: Reliques et pouvoir au XVIIIe siècle roumain. Le dossier du probème. In: Revue des études sud-est europénnes 39 (2001), 63–73; binder-iijiMa, Edda: Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie unter Carol I. 1866–1881. München 2003; Catedrala Patriarhală din Bucureşti [Die Kathedrale des Patriarchats zu Bukarest]. Bucureşti 2006.

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Metropolie (Patriarchat) von Karlowitz I. Zusammenfassung. – II. Einrichtung und Akzeptanz bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts. – III. Die Metropolie als Zugpferd der Bildungspolitik.. – IV. Erinnerungspolitische Debatten des 19. Jahrhunderts. – V. Die Kirche als Hüterin des nationalen Gedächtnisses. – VI. Spätere Rekurse im nationalen Erinnern. – VII. Bibliographie.

I. Zusammenfassung Die orthodoxe Metropolie von Karlowitz bestand zwischen 1691 und 1920. Anfangs war sie die einzige kirchliche Einrichtung für die Orthodoxen in der Habsburgermonarchie, später nur in Ungarn und Kroatien. Die kirchliche Hierarchie war dabei für die Serben in der Monarchie auch in einigen zivilen Belangen zuständig. Im 19. Jahrhundert wurde die Metropolie zum Patriarchat erhoben und stand im Mittelpunkt eines langen Streits zwischen weltlichen und geistlichen Reformern sowie Konservativen um die Macht der Kirche in der serbischen Gemeinschaft. Im Zuge dieser Auseinandersetzung übernahm die Kirche, repräsentiert durch das Patriarchat von Karlowitz, das nationale Geschichtsbild der Liberalen und schrieb sich in diesem Rahmen eine führende Rolle zu. Diese Weichenstellung blieb für das serbische Verständnis der Kirche bis heute entscheidend und prägte das Bild von Karlowitz im nationalen Erinnerungshaushalt. II. Einrichtung und Akzeptanz bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts Zahlreiche orthodoxe Gläubige waren im Zuge der zahlreichen Migrationen aus dem Osmanischen Reich in der Frühen Neuzeit auf habsburgisches Territorium geflüchtet. Wichtig waren die beiden so genannten großen Wanderungen der Serben, geführt von den Patriarchen Arsenije III. 1690 und Arsenije IV. 1739. Die Diplome, die Kaiser Leopold I. 1690, 1691 und 1695 verlieh, legten die Grundlage für eine Metropolie in der Habsburgermonarchie und definierten die serbische Gemeinschaft gemäß dem Vorbild des osmanischen Millet entsprechend konfessioneller Grenzen und mit der Geistlichkeit als Führung. Der Sitz der neuen orthodoxen Metropolie in der Monarchie kam 1713 nach Karlowitz. Zu ihr gehörten die Bistümer Gornji Karlovac (Plaški), Pakrac und Karlowitz in Kroatien und Vršac, Buda, Bačka sowie Timişoara und Arad in Ungarn. Die Verbindung zum Patriarchat von Peć, zu dem die orthodoxen Serben im Osmanischen Reich gehörten, blieb rein formal. Mit seiner Aufhebung 1766 wurde die Metropolie von Karlowitz zum gänzlich unabhängigen Zentrum der Orthodoxie in der Habsburgermonarchie. Der Metropolit, der ab 18�8 wieder den Titel eines Patriarchen trug, war nicht nur Kirchenfürst, er handelte auch als Führer der ganzen orthodoxen Gemeinschaft und diente als Vermittler zwischen den Gläubigen und der Reichsregierung. Analog dazu nahmen die Bischöfe eine Rolle als Führer der christlichen Bevölkerung ein. 187

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Im Gegenzug genossen die Spitzen der orthodoxen Kirche und die Mönche, aus denen sie sich rekrutierte, Privilegien des landsässigen Adels. Die Privilegien verbanden den orthodoxen Klerus und eine winzige Schicht reicher Kaufleute, Offiziere und Adeliger zu einer konfessionellen Gemeinschaft, deren sakrale und zivile Behörden vereint waren und sich wechselseitig stärkten. Ethnizität spielte keine Rolle, zumal die Diplome insgesamt alle Orthodoxe einschlossen. Aber beinahe alle Bischöfe waren Serben, und Griechen beherrschten das Ökumenische Patriarchat. Nicht nur kleinstädtische griechische und walachische Kaufleutegemeinden waren in allen Angelegenheiten den serbischen Hierarchen unterstellt, sondern später auch die rumänischen Orthodoxen, die im Banat und in Siebenbürgen die Bevölkerungsmehrheit stellten und insgesamt in der Monarchie ebenso zahlreich wie die Serben waren. Die serbischen Siedler innerhalb der Militärgrenze der Monarchie, die Grenzer, genossen den speziellen Schutz des Kaisers und der Militärkommandanten, nicht aber der lokalen Machtträger oder der katholischen Kirche, was zu einem jahrhundertelangen Streit um die Bestätigung ihrer Rechte sowie zum Widerstand gegen Unionsversuche seitens der katholischen Kirche führte. III. Die Metropolie als Zugpferd der Bildungspolitik Die Gegenreformation und spätere Reformen im Geist der Aufklärung hatten großen Einfluß auf die Ausgestaltung der Metropolie von Karlowitz. Dies bezeugt etwa der Hof des Metropoliten in Karlowitz mit seiner nach Habsburger Vorbild gestalteten Architektur, dem Protokoll und den Prozessionen, die alle im 18. Jahrhundert gänzlich verändert wurden, um die neuen politischen Ambitionen und Weltanschauungen des höheren orthodoxen Klerus zu demonstrieren. In der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts kamen die Lehrer des orthodoxen Klerus aus Kiew – und damit aus dem Machtbereich des Zaren. Die erste kyrillische Druckerei wurde 1758 in Venedig mit russischer Hilfe eingerichtet. Beides führte zu einem russischen Einfluß in der Theologie, in der liturgischen Sprache und im Gesang. Zwei Reglemente von 1770 und 1777 sowie das Reskript von 1779 seitens des Wiener Hofes sollten den Gegnern des russischen Einflusses entgegenkommen, wobei die Anordnungen die Oberhoheit der Kaiser über die orthodoxe Kirche etablierten: Ernennungen, Visitationen, Exkommunikationen und andere Handlungen der Kirche benötigten fortan die kaiserliche Zustimmung. Zudem wurde das Amt des Kommissars eingerichtet, das dem des Oberprokurators der russischen Kirchensynode glich. Der Gehorsam der serbischen Bischöfe, etwa bei der Veränderung der Begräbnisregeln, der Verminderung der kirchlichen Feiertage und der Entfernung russischer Heiliger aus dem kirchlichen Kalender, rief Volkszorn und mehrere Rebellionen in von Serben bewohnten Städten Ungarns hervor. Die neuen Verordnungen begrenzten auch die Befugnisse der Bischöfe durch das sogenannte Konsistorialsystem nach katholischem Vorbild, das Laienvertretungen in den leitenden Behörden der Kirche vorsah. Die theresianischen und josephinischen Reformen stärkten so nicht nur die weltliche Kontrolle über die orthodoxe Kirche, sondern 188

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sie verringerten auch deren Macht durch die Verminderung der Anzahl an Klöstern, Mönchen und religiösen Feiern sowie durch die klare Festlegung der Abgaben für religiöse Zeremonien. Gleichzeitig baute die Diözese Karlowitz ein Seminar auf, und die erste serbische Zeitung konnte in Wien erscheinen. Diese Maßnahmen mißfielen vielen Geistlichen, aber die sogenannten Aufklärer unter den Serben begrüßten sie. Für sie stand Dositej Obradović, der nach seiner Flucht aus dem Kloster Hopovo der Hauptvertreter der westlichen Bildung und des Rationalismus bei den Serben wurde. Die entstehende schmale Schicht weltlicher Gelehrter sah die Kirchenhierarchie als rückwärtsgewandt, gierig und selbstsüchtig an und warf ihr Verrat an den Interessen des Volkes vor. IV. Erinnerungspolitische Debatten des 19. Jahrhunderts Als der serbische Philologe Vuk Karadžić zu Beginn des 19. Jahrhunderts begann, sich für den Gebrauch der Volkssprache einzusetzen, in die er das Neue Testament übersetzte, und eine neue Rechtschreibung entwarf, brach eine größere Kontroverse aus. Karadžićs Sprachreformen wurden als Angriff auf die bestehende liturgische Sprache und die Stellung der Kirche als Trägerin der Wahrheit und mächtigste politische und soziale Einrichtung der Serben in der Monarchie wahrgenommen. Vor dem Hintergrund der Revolution von 18�8/�9 begann die gestärkte weltliche Intelligenz die Vorherrschaft der Kirche auch in anderen Bereichen in Frage zu stellen. Auf der politischen Ebene konzentrierte sich der Streit auf die wichtigste Einrichtung, die sich den sogenannten Diplomen verdankte – die „Volks- und Kirchenversammlungen“ (crkveno-narodni sabori), deren Befugnisse und Aufgaben aber seit der Übersiedlung auf das Gebiet der Monarchie drastisch vermindert worden waren. Der Konflikt entwickelte sich im Streit darum, welches Prinzip die serbische Gemeinschaft von nun an in ihrem Kampf zur Anerkennung oder Stärkung der politischen Vertretung befolgen sollte – das historische Recht, wie es die kirchliche Hierarchie und Konservative vertraten, oder das Prinzip der nationalen Souveränität, für das die serbischen nationalistischen Liberalen unter der Führung von Svetozar Miletić nach 1860 eintraten. Die Konservativen waren davon überzeugt, daß soziale Stabilität, Sicherheit und Volksrechte von der Stellung der Kirche abhingen. Sie wollten mehr soziale Kontrolle und die Kirchen und Schulen dem Einfluß der Laien entziehen. Aus der Sicht der orthodoxen Tradition war es gerechtfertigt, eine traditionelle, hierarchische, von den Bischöfen geführte Kirche zu verteidigen. Liberale und weltliche Nationalisten behaupteten andererseits, daß serbische Rechte unter der Vorherrschaft der Kirche stark verwässert worden seien. Sie strebten an, die autonomen Institutionen und indirekt auch die Kirche zu einem Instrument moderner Politik und der nationalen Idee zu machen. Als die Liberalen in der Volks- und Kirchenversammlung eine Mehrheit erreicht hatten, stellten sie die Behörden der serbischen Autonomie und der Kirche beinahe vollständig unter die Gewalt gewählter weltlicher Vertreter. Sie wiesen die Argumente der Konservativen – die Heiligkeit der Kirche, ihre unveränderbare orthodoxe Tradition und die vererbte 189

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Würde der Hierachie – schroff zurück. So wurde die Kirchengemeindeverwaltung 186� gemäß dem Statut protestantischer Kirchen in Österreich reformiert. Nach und nach verfestigte sich das konsistoriale System der Laienbeteiligung. Als die serbische Autonomie 1912 endgültig aufgehoben wurde, hatten Laien in allen kirchlichen Einrichtungen außer im Heiligen Synod die Mehrheit inne. Die Hierarchie der orthodoxen Kirche lehnte es lange ab, ethnische Unterschiede unter den Gläubigen zu berücksichtigen und diskriminierte damit aus nationaler Perspektive rumänische Gläubige, die bis zu �0 Prozent der Orthodoxen der Metropolie von Karlowitz ausmachten. Nach einem langen Kampf um den Gebrauch der rumänischen Sprache und des lateinischen Alphabets sowie die Ernennung von rumänisch sprechenden Geistlichen beschlossen die Krone und das ungarische Parlament 1868 die Abtrennung der rumänischen Bistümer und die Einrichtung einer eigenen Metropolie in Hermannstadt unter der Führung von Andrei Şaguna. In demselben Jahr wurde auch die serbische Autonomie endlich gefestigt, als das ungarische Parlament das Nationalitätengesetz (Artikel IX) annahm. Diesem folgte ein gesondertes Gesetz der Kroatischen Versammlung 1887, das im Zusammenhang mit der verstärkten Magyarisierung für die ethnische Minderheit von großer Bedeutung war. Allerdings verringerte das ungarische Parlament im Bestätigungsverfahren den Umfang der Autonomie auf konfessionelle und bildungspolitische Angelegenheiten. Die autonomen serbischen Behörden leiteten damals 356 Grundschulen, zwei Hochschulen oder Gymnasien, drei Lehrerausbildungseinrichtungen sowie drei Mädchenschulen und ein Priesterseminar. Die Versammlung war auch für die wirtschaftlichen Angelegenheiten der Kirche und der Schulen verantwortlich. Ihre wirtschaftliche Macht lag in dem großen Grundbesitz der Kirche begründet, der über 130.000 Hektar umfaßte, und in Wohltätigkeitsstiftungen, deren Wert 1905 auf über 40 Millionen Forint geschätzt wurde. V. Die Kirche als Hüterin des nationalen Gedächtnisses Nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 berief die ungarische Regierung die kirchliche Versammlung unregelmäßig ein und mißachtete in der Regel die Entscheidungen serbischer Vertreter, um eigene Beschlüsse erlassen zu können. Von 1875 bis 1908 bestätigte die ungarische Regierung nur einen einzigen Beschluß der Serbischen Versammlung. 1882 ernannte Kaiser Franz Joseph entgegen den Regeln über die Serbischen Versammlungen und gegen die Tradition der orthodoxen Kirche seinen eigenen Kandidaten zum Patriarchen, obwohl dieser in der Wahlversammlung deutlich unterlegen war. Die strikte Kontrolle des Serbischen Patriarchats in Karlowitz durch das Reich und die Regierung und besonders die Ernennung unpopulärer Patriarchen diskreditierten die Hierarchie in den Augen der Laien und ließen die antiklerikale Radikale Partei unter den Serben Ungarns anwachsen. So entstand ein Teufelskreis, in dem der Konservativismus der Kirche ihre Gegner noch radikaler antiklerikal machte und der Antiklerikalismus der Kirchengegner die Kirche immer konservativer werden ließ. 190

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Die beiden Fraktionen zerstritten sich in langwierigen Kontroversen um die Versammlungen und lähmten diese, was faktisch zu einer Verringerung der serbischen Autonomie beitrug. Strittige Themen waren die geistliche Gerichtsbarkeit über Bosnien und die Herzegowina nach der Besetzung 1878, die Kontrolle der großen Kirchengüter nach der drastischen Verringerung der Anzahl der Mönche und der Verschuldung der Güter sowie die Unfähigkeit der Behörden der serbischen kirchlichen Autonomie, die serbischen Schulen zu unterhalten – wobei die Einschulungsquote bei nur etwa 25 Prozent lag. Die Seelsorge befand sich hauptsächlich in der Hand der Weltgeistlichkeit, die in einen immer größeren Konflikt mit ihrer Obrigkeit geriet. Ihre Armut und das Fehlen einer gründlichen Ausbildung schwächten ihre Autorität und führten zu einer defizitären Pastoraltätigkeit. Die meisten zeitgenössischen Beobachter waren der Meinung, die Hierarchie sei von der Mehrheit des einfachen Volkes und seinen Frömmigkeitsformen weit entfernt. Die Serben in der Metropolie von Karlowitz waren am stärksten äußeren Einflüssen ausgesetzt und erfuhren tiefe Umgestaltungen ihrer alten Traditionen und Institutionen, von Familien- und Verwandtschaftsverbänden, religiösen und moralischen Normen. Miletić versuchte beispielsweise, liberale Forderungen nach einer Demokratisierung der kirchlichen Behörden mit orthodoxen Traditionen zu vereinigen, die Laien dieselben Rechte gaben wie den Herrschern in orthodoxen Reichen wie Byzanz oder Rußland, wo die Zaren die Kirche regierten. Er trat für Aufklärung und Ausbildung für alle ein, was zusammen mit dem orthodoxen Glauben den Geist der Nation heben und die Serben auf eine gleiche Ebene mit ihren Nachbarn und Konkurrenten stellen sollte. Aber nicht die Liberalen, sondern die Bekehrung vieler Serben zu neo-protestantischen Nazarenern signalisierte, daß die orthodoxe Kirche ihre letzte Bastion, den geistlichen Bereich, verlieren könnte. Die sogenannte nazarenische Krankheit, wie sie oft beschrieben wurde, brachte die Kirche endlich dazu, sich verspätet aber nachdrücklich dem Geist des Nationalismus zuzuwenden. Während die Bekehrung von Serben zu Nazarenern den Liberalen als ein weiteres Argument in ihrem Antiklerikalismus diente, setzte die Kirche die Nazarener für das gegenteilige Ziel ein: die Ablehnung der liberalen Reformen und den Entwurf einer serbischen Nation, die durch ihre Verbindung mit dem orthodoxen Glauben gestärkt werden sollte. Die Reaktion der Kirche auf religiöse Bekehrungen dieser Zeit vermischte sich mit einem mythologisierten Diskurs über Zwangsbekehrungen in der Vergangenheit, um einen exklusiven konfessionellen Nationalismus der Serben zu schaffen. Der traditionelle antikatholische theologische Diskurs der orthodoxen Kirche wurde umgestaltet in einen Diskurs konkreter Angst: Serbische Geschichte in der Monarchie erschien als Leidensgeschichte der serbischen Nation und des orthodoxen Glaubens im Widerstand gegen die Union mit Rom. Überdies stellte das Bedrohungsargument von Union oder Bekehrung eine einzigartige Waffe dar, die Autorität und Rolle der orthodoxen Kirche als Institution in der Verteidigung des Volkes und beim Erhalt seiner Identität gegenüber Gefahren wie Säkularisierung oder Magyarisierung zu bestärken. Mit der entstehenden Laienbewegung der „Gottesanbeter“ (Bogomoljci) fand der serbische Klerus eine Zuhörerschaft und hatte damit die Chance, die Laien auf der prakti191

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Die um 1900 zu datierende Ansichtskarte des Palastes des serbischen Patriarchen in Karlowitz zeigt diesen als bedeutendstes Gebäude des Stadtzentrums. In dem repräsentativen Bau im Stil eines Regierungsgebäudes residiert heute der Bischof von Syrmien. Zudem steht er dem Patriarchen der serbisch-orthodoxen Kirche als Sommerresidenz zur Verfügung. Karlowitz gilt mit seinen zahlreichen kirchlichen Bauten und aufgrund der mit der Stadt verbundenen Geschichte insgesamt als religiöser Erinnerungsort. Bildnachweis: Privatbesitz Bojan Aleksov.

schen und nationalen Ebene zu beeinflussen. Viele Priester lehnten die Bewegung ab, andere versuchten, ihren religiösen Eifer zu kanalisieren. Hierzu setzten sie Strategien ein, die auch von anderen Kirchen verwendet wurden, um Gläubige vor dem Abfall zu anderen Konfessionen oder in religiöse Indifferenz zu bewahren. Ihr prominentester Vertreter war Bischof Nikolaj Velimirović, der seine ekklesiologische und pastorale Theologie in der Zwischenkriegszeit vor dem Hintergrund der Bogomoljci entwickelte. Als Reaktion auf die massenhafte Verbreitung der durch die Nazarener inspirierten Bewegung der Bogomoljci – und zu ihrer Abwehr – eignete sich die serbische Kirche gerade die Strategien und Formen der Volksreligion und Frömmigkeit der protestantischen und der katholischen Kirchen an, denen sie lange ablehnend gegenüber gestanden hatte. Die Metropolie von Karlowitz wurde nun gelenkt von einer politischen Ideologie des Nationalismus und wandelte sich von einer imperialen in eine nationale Einrichtung. Dieser Vorgang endete mit dem Ersten Weltkrieg am 31. Dezember 1918, als die Metropolie von Karlowitz mit den verschiedenen anderen orthodoxen Jurisdiktionen vereinigt wurde, unter denen orthodoxe Serben lebten, und als 1920 in Karlowitz die serbisch-orthodoxe Kirche ausgerufen wurde. Belgrad wurde zu ihrem Hauptsitz, aber die Residenz blieb bis 1936 in Karlowitz. Von 1921 bis 1944 befand sich in Karlowitz der Sitz der russisch-orthodoxen Kirche im Ausland („Synod von Karlowitz“). In der Zwischenkriegszeit festigte sich die diskursive Verbindung von Nation und Religion unter den Serben weiter. 192

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VI. Spätere Rekurse im nationalen Erinnern Nach 1918 spielte Karlowitz in der seit dem 19. Jahrhundert überbordenden Historiographie über die Rolle der orthodoxen Kirche im jugoslawischen und besonders im serbisch orientierten nationalen Geschichtsbild nach 1918 nur im Zusammenhang mit seiner durchwegs als wichtig eingestuften Funktion im 19. Jahrhundert eine Rolle. Die für den Entwurf moderner nationaler Geschichte wichtigen Debatten blieben im 20. Jahrhundert, abgesehen von Umgewichtungen, in der Regel ohne neue grundlegende Kontroverse: Während nach 1945 die Rolle der Kirche zurückgestuft wurde, mehrten sich nach 1989 Darstellungen, die die Rolle der Kirche überschätzten. Der zu Beginn anationale Hintergrund der Metropolie Karlowitz wurde ausgeklammert und statt dessen die nationale Bedeutung betont. Die Gebäude des Patriarchen in Karlowitz dienen heute als Residenz des Bischofs von Syrmien, als Sommerresidenz des serbischen Patriarchaten sowie als Museum der serbisch-orthodoxen Kirche.

VII. Bibliographie a) Quellen Natošević, Đorđe: Za što naš narod u Austriji propada? [Weshalb zerfällt unser Volk in Österreich?]. Novi Sad 1866; PodGradsKi, Josif: Otvorena knjiga dru Svetozaru Miletiću u Vac via Pest. O žalosnom stanju narodno-crkvenog života kod Srba [Offener Brief an Dr. Svetozar Miletić in Vac via Pest. Über den traurigen Zustand des nationalen und religiösen Lebens des serbischen Volkes]. Novi Sad 1871; Picot, Emile [PavLović, Stevan]: Les Serbes de Hongrie. Prague 1873; MiLeusnić, Slobodan/GruJić, Radoslav (Hg.): Azbučnik Srpske pravoslavne crkve [Wörterbuch der serbisch-orthodoxen Kirche]. Beograd 1993.

b) Darstellungen: SchWicKer, Johann Heinrich: Politische Geschichte der Serben in Ungarn. Budapest 1880 [in serb. Übers.: Politička istorija Srba u Ugarskoj. Novi Sad 1998]; HudaL, Alois: Die serbisch-orthodoxe Nationalkirche. Graz/Leipzig 1922; hadrovics, Laszlo: Le peuple serbe et son eglise sous la domination turque. Paris 19�7; RothenberG, Gunther: The Austrian Military Border in Croatia 1522–17�7. Urbana 1960; Stoianovich, Traian: The Conquering Balkan Orthodox Merchant. In: Journal of Economic History 20 (1960) 234–313; SLiJepčević, Đoko:: Istorija Srpske pravoslavne crkve [Geschichte der serbisch-orthodoxen Kirche], Bd. 1–3. Köln/München 1962–1986; RothenberG, Gunther: The Military Border in Croatia, 17�0–1881. Chicago 1966; GavriLović, Slavko: Daljsko vlastelinstvo karlovačke Mitropolije u XVIII stoleću [Das Gut Dalja des Erzbistums Karlowitz im 18. Jahrhundert]. In: Zbornik Matice srpske za društvene nauke �6 (1967) 27–63 und �7 (1967) 5–38; GavriLović, Slavko/Petrović, Nikola (Hg.): Temišvarski sabor 1790 [Die Versammlung von Timişoara 1790]. Novi Sad/Sremski Karlovci 1972; RaKić, Lazar: Radikalna stranka u Vojvodini do početka XX veka [Die Radikale Partei in der Vojvodina bis zu Beginn des 20. Jahrhunderts]. Novi Sad 197�; TurczynsKi, Emanuel: Konfession und Nation. Zur Frühgeschichte der serbischen und rumänischen Nationsbildung. Düsseldorf

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Máriapócs I. Zusammenfassung. – II. Die Pócser Madonna, ein gemeinsamer Kult in Österreich und Ungarn. – III. Die Verehrung der Pócser Madonna seit 1918. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die ostungarische Kleinstadt Máriapócs ist das spirituelle Zentrum der ungarischen griechisch-katholischen Kirche und heute ihr einziger bedeutender Wallfahrtsort weltweit. Máriapócs zählte schon seit dem Ende des 17. Jahrhunderts über konfessionelle und ethnische Grenzen hinweg zu den am stärksten besuchten Wallfahrtsorten in Ostmitteleuropa. Die weinende Gottesmutter wurde in Wien zum Sinnbild für den Sieg der Christenheit über den Islam, in Ungarn selbst dagegen immer mehr zum Symbol der Union zwichen westlichem und östlichem Christentum. Im Laufe der Jahrhunderte entstanden zahlreiche Filiationen nicht nur in Ungarn, sondern auch in Österreich, Deutschland und in der Schweiz. 2005 erklärte die Bischofskonferenz der ungarischen katholischen Kirche die Pócser Wallfahrtskirche zum „nationalen heiligen Ort Ungarns“. II. Die Pócser Madonna, ein gemeinsamer Kult in Österreich und Ungarn Das heute im Komitat Szabolcs-Szatmár-Bereg liegende Pócs wird in den historischen Quellen zum ersten Mal in einer Urkunde aus dem Jahr 1280 erwähnt. Ab Mitte des 17. Jahrhunderts ließen sich in dem bis dahin von katholischen und evangelischen Ungarn bewohnten Dorf ruthenische Einwanderer nieder, die um 1700 bereits die Mehrheit der Dorfbewohner stellten. Dadurch änderte sich nicht nur das ethnische, sondern auch das konfessionelle Verhältnis der Ortschaft grundlegend, denn die Ruthenen waren griechisch-katholischen Glaubens. Das erste Tränenwunder in der kleinen griechisch-katholischen Holzkirche von Pócs ereignete sich am 4. November 1696. Der Bauer Mihály Eöry merkte während des Gottesdienstes, daß aus den Augen der Maria-Ikone an der Ikonostase die Tränen flossen. Das nächste Tränenwunder dauerte, mit unterschiedlicher Intensität, bis zum 8. Dezember 1696 an. Die Nachricht über die unerklärbare Erscheinung erreichte schnell auch die umliegenden Siedlungen, es kam zu ersten wundersamen Heilungen und Konversionen. Aus dem Verwaltungszentrum der Region, Kálló, ritt Johannes Andreas Graf von Corbelli, General der dort stationierten kaiserlichen Truppen, in Begleitung seiner Offiziere nach Pócs, um die tränende Maria-Ikone persönlich in Augenschein zu nehmen. Nachdem er das Bild untersucht hatte, war er davon überzeugt, daß die Erscheinung kein Betrug sein konnte, denn die Tränen flossen auch aus den Augen der Gottesmutter, als 195

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er das Bild höchstpersönlich in seiner Hand hielt. Über das wundersame Ereignis benachrichtigte er Kaiser Leopold I. und dessen Gattin Eleonore Magdalena. Beinahe zur gleichen Zeit von Corbellis Besuch wohnten dem wundersamen Ereignis auch der katholische Pfarrer von Kálló, Jakob Kriegsmann, sowie Kardinal Leopold Kollonich bei. Der Kardinal informierte den Bischof von Erlau, György Fenessy, dem das griechischkatholische Bistum von Munkatsch unterstellt war. Der Erlauer Oberhirte ordnete daraufhin eine Untersuchung an, in der nicht nur Katholiken, sondern auch Reformierte und Lutheraner das wundersame Ereignis einstimmig bezeugten. Das Untersuchungsprotokoll wurde mit Genehmigung des Bischofs publiziert, was zur schnellen Verbreitung der Nachricht über die weinende Gottesmutter im Lande beitrug. Aus den Zeugenprotokollen ist auch die Entstehungsgeschichte der Maria-Ikone zu erfahren. Nach Aussage des Richters László Csigri hatte er selbst 1676 das Bild bei István Papp bestellt, einem Bruder des örtlichen griechisch-katholischen Pfarrers. Csigri, der als achtjähriger Knabe in osmanische Gefangenschaft geraten war und auf wunderbare Weise gerettet wurde, wollte mit dem Bild seine Dankbarkeit an die Gottesmutter zum Ausdruck bringen. Den ausgehandelten Preis hielten seine unvermögenden Eltern jedoch für zu hoch, so daß schließlich ein reicher Pócser das Bild kaufte und es der Kirche schenkte. Das Bild der Gottesmutter mit dem Jesuskind wurde auf eine 50 × 70 cm große Ahornholztafel mit Temperafarben im Typus der Hodegetria-Madonnen, den wegweisenden Gottesmutterfiguren, gemalt. Maria hält das Kind Jesus auf dem linken Arm; mit der rechten Hand zeigt sie auf das Kind, den einzig rechten Weg. Nach dem Ergebnis der offiziellen Untersuchung ließ Leopold I. im März 1697 die Ikone nach Wien überführen. Der Kaiser verfolgte schon seit dem Ende der osmanischen Belagerung Wiens 1683 den Plan, um seine Residenzstadt ein marianisches Vorwerk gegen die Osmanen zu errichten, bestehend aus mehreren Kirchen in den Wiener Vorstädten. Die Ikone von Pócs wurde als zentrales Stadt- und Staatspalladium dieses Vorwerks auserwählt. Der feierliche Zug der Ikone erreichte am �. Juli 1697 Wien, wo das Bild von Zehntausenden von Menschen empfangen wurde. Der Weg der Ikone führte zunächst in die Kapelle neben dem Lustschloß Favorita, wo das Kaiserpaar dem Bild huldigte. Anschließend wurde es in allen größeren Kirchen Wiens ausgestellt, bevor es seinen endgültigen Platz im Stephansdom erhielt. Ein berühmter Prediger der Zeit, Abraham a Sancta Clara, stellte das tränende Gnadenbild in seiner Predigt vom 8. August 1697 in den Kontext des gegen die Osmanen geführten Krieges. Als dann am 11. September des Jahres Prinz Eugen von Savoyen den Sultan bei Zenta besiegte und damit Ungarn von der osmanischen Vorherrschaft befreite, wurde der Sieg der Pócser Gottesmutter zugeschrieben. Das militärische Ereignis förderte den Kult des Pócser Gnadenbildes in Wien und in den österreichischen Erbländern nachhaltig. Am ersten Adventssonntag 1697 wurde das Bild im Stephansdom über dem Tabernakel des Hochaltars aufgestellt. Die Ikone avancierte damit zum topographischen und kultischen Zentrum der leopoldinischen Stadtbefestigung. Vor dem Gnadenbild wurde alltäglich eine vom Wiener Magistrat gestiftete Heilige Messe in Form eines 196

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Hochamts gelesen, die bis heute, wenn auch in veränderter Form, weitergeführt wird. Während der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts entstand ein spezielles Liedrepertoire zur Verehrung des Gnadenbildes. Wegen des anhaltenden Kultes mußte bald eine Kopie der Ikone ausgestellt werden; das Original zeigte man nur noch anläßlich besonderer Feierlichkeiten. 19�6 wurde jedoch die Kopie geraubt, seitdem befindet sich die Originalikone auf dem Altar des südlichen Nebenschiffes des Stephansdomes. Obgleich sich die Intensität der Verehrung des Pócser Gnadenbildes in Wien während der vergangenen Jahrhunderte nicht minderte und das Bild nach wie vor zu den staatlichen Heiligtümern Österreichs gehört, wiederholte sich das Tränenwunder in Wien nicht mehr. Die Überführung des Gnadenbildes nach Wien hatte bei den Bewohnern von Pócs und Umgebung, die in der Gottesmutter ihre einzige Trostspenderin sahen, Widerstand ausgelöst. An die Gottesmutter wandten sie sich in ihrer großen Not, in der sie zur Zeit der Türkenkriege lebten. Denn während 1697 die christlichen Truppen in Südungarn gegen die Osmanen kämpften, mußte die Bevölkerung im Hinterland, so auch in Nordostungarn, die erdrückende Bürde der Einquartierung und der Verpflegung der gegen die Osmanen kämpfenden kaiserlichen Heere tragen. Die häufigen Gewalttaten und Requirierungen der Soldaten führten 1697 in Nordostungarn sogar zu einem Aufstand gegen die Habsburger. Daß es in Pócs und Umgebung beim Abtransport der Maria-Ikone nicht zu Handgreiflichkeiten der Ortsbewohner und der versammelten Pilger kam, war allein dem Dorfpfarrer zu verdanken, der die Gemüter beruhigen konnte. Die Ungarn empfanden die Überführung der Ikone nach Wien gleichwohl als Raub. So war es nicht verwunderlich, daß unter den hundert Gravamina, die als Gründe für den 1703 ausgebrochenen Rákóczi-Freiheitskampf genannt wurden, auch die Überführung der Pócser Ikone nach Wien zu lesen war. Die Überführung der Ikone nach Wien wußten wiederum die Jesuiten zu nutzen, um den Kult der Pócser Madonna in Ungarn zu verbreiten und so zugleich die orthodoxen Ruthenen in ihrer Union mit Rom zu stärken. Der Jesuitenorden war im 17. und 18. Jahrhundert der maßgebliche Beförderer der 16�6 zustande gebrachten Kirchenunion von Ungvár; die Ruthenen spielten in diesen Vorstellungen eine Schlüsselrolle: Die Pócser Ikone wurde von den Jesuiten als ein einmaliges Symbol der Einheit des westlichen und östlichen Christentums und als mystische Kraftquelle ihrer Unionsbestrebungen bewertet. So wurde die Überführung der Ikone nach Wien als ein fünf Monate lang dauernder feierlicher Zug von Pócs über Kaschau, Erlau, Pest, Ofen und Raab inszeniert. Überall huldigten Geistliche und Gläubige der Gottesmutter im Rahmen von feierlichen Gottesdiensten und fertigten zahlreiche Kopien des Bildes an, die ebenso verehrt wurden wie das Original. Trotz der Überführung des Gnadenbildes nach Wien brach die auf Pócs gerichtete Aufmerksamkeit nicht ab. Die kleine Holzkirche blieb auch ohne die Ikone ein Wallfahrtsort, weil die Pilger aus Ungarn, Siebenbürgen und Polen den Schauplatz des Wunders unabhängig vom Bild als einen von der göttlichen Gnade auserwählten und ausgezeichneten Ort betrachteten. Die Tatsache, daß es in Wien nicht mehr zum Tränenwunder 197

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kam, verstärkte die Ansicht über Pócs als einen heiligen Ort. Erst nach vielen Jahren vergeblichen Hoffens, daß die Ikone wieder nach Pócs zurückkehren werde, wurde 1707 eine Kopie des Gnadenbildes, wahrscheinlich ein Geschenk des Erlauer Bischofs István Telekessy, in der Kirche aufgestellt. Die große Zahl der Wallfahrer erforderte bald den Bau einer neuen Kirche anstelle der kleinen Holzkirche. 171� stellte János Hodermárszky, griechisch-katholischer Bischof von Munkatsch, einen entsprechenden Antrag beim Wiener Hof. Wegen der Ablehnung des katholischen Bischofs von Erlau, unter dessen Jurisdiktion der Bischof und das Bistum Munkatsch noch weiterhin standen, wurde der Bau jedoch zunächst verweigert. Erst nachdem in Pócs 1715 ein drittes Wunder erfolgt war, konnte mit den Vorarbeiten begonnen werden. Die Kopie der Madonna begann während des Gottesdienstes am 1. August 1715 zu tränen, was von mehreren Dutzend Zeugen – wie schon beim ersten Wunder von Vertretern aller Konfessionen im Dorf und in der Umgebung – bestätigt wurde. Die anschließende Untersuchung wurde abermals mit dem Ergebnis abgeschlossen, daß das Vorkommnis übernatürlich sei. Der Erlauer Bischof erkannte am 19. September 1715 die Tatsache des Wunders an und erklärte den Ort zum Wallfahrtsort, der danach das Präfix „Mária“ annahm. Máriapócs wurde zum wichtigen regionalen Wallfahrtsort sowohl der ruthenischund rumänischsprachigen Griechisch-Katholiken als auch der ungarischsprachigen Römisch-Katholiken. Mit dem Bau einer neuen Kirche und eines Basilianerklosters zur Betreuung der Pilger konnte allerdings erst 1730 begonnen werden, als es dem griechisch-katholischen Bischof gelungen war, die Baugenehmigung vom Statthaltereirat in Ofen zu erhalten. Neben den Gläubigen, die sich durch Spenden und andere Unterstützungsmaßnahmen einbrachten, förderte auch Graf Ferenc Károlyi, der katholische Grundherr des Dorfes, den Bau großzügig. Das Gnadenbild plazierte man in dem neuen Kirchengebäude über dem mittleren, königlichen Tor. Seinen endgültigen Platz erhielt die Ikone 1946, als ein neuer Altar aufgestellt wurde, in der Westapsis der Kirche, um sie für die Wallfahrer besser zugänglich zu machen. Das vierte und bisher letzte Tränenwunder ereignete sich zwischen dem 3. und 19. Dezember 1905 und löste eine Debatte über die Volksreligiosität in Ungarn aus. In der Komitatszeitung Nyírvidék ließ der liberale Chefredakteur Artikel abdrucken, welche das Tränenwunder in Zweifel zogen und dessen schädliche Auswirkung auf das ungeschulte Volk hervorkehrten. Als auch der radikal-liberale Publizist Oszkár Jászi 1910 Máriapócs aufsuchte, um einerseits über die angeblich negativen Folgen der Wallfahrt auf die Menschen, andererseits über die kommerzielle Seite der Wallfahrt in der Zeitschrift der Freimaurer Világ zu berichten, fand die Debatte allgemeine Aufmerksamkeit. Endre Ady, ein landesweit bekannter Vertreter der modernen Lyrik reformierter Konfession, meldete sich zu Wort, indem er in einem zweiundsiebzigzeiligen Gedicht die Pócser Madonna als Regina Vitae besang.

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Auf dem Kupferstich von Franz Feninger aus der Mitte des 18. Jahrhunderts ist die bereits neugebaute Wallfahrtskirche von Máriapócs abgebildet. Über der Kirche halten Engel die Ikone der weinenden Gottesmutter mit dem Kind Jesus auf dem Arm. Das Bild war im katholischen Europa allgemein bekannt, was auf die Rolle der Ikone als zentrales Stadt- und Staatspalladium der Habsburger zurückzuführen ist. Im Hintergrund des Bildes erscheint das von der Gesellschaft Jesu besonders geförderte Programm mit der Darstellung der Arche Noah als Symbol der Einheit der Kirche. Bildnachweis: Janka, György (Hg.): Máriapócs 1696 – Nyíregyháza 1996. Történelmi konferencia a Máriapócsi Istenszülő-ikon első könnyezésének 300. évfordulóján [Máriapócs 1696 – Nyíregyháza 1996. Konferenz anläßlich des 300. Jubiläums des ersten Tränenwunders der Máriapócser Ikone]. Nyíregyháza 1996, 162.

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III. Die Verehrung der Pócser Madonna seit 1918 Im 20. Jahrhundert wurde Máriapócs unter der Leitung der Basilianer zu einem der bekanntesten Wallfahrtsorte Ungarns und zu dem wichtigsten der griechisch-katholischen Gläubigen weltweit. 19�8 bekam die Wallfahrtskirche von Papst Pius XII. den Titel basilica minor verliehen. Nur kurze Zeit später wurde das Basilianerkloster jedoch vom kommunistischen Regime aufgelöst. Es gelang den neuen Machthabern aber nicht, die Wallfahrten einzustellen, auch wenn diese zuerst unter strenger polizeilicher Aufsicht verliefen. Máriapócs wurde wie die anderen Wallfahrtsstätten zu einem Ort der Opposition gegen die Staatsideologie. Viele, die wegen der polizeilichen Kontrolle ihre religiöse Identität an ihren Wohnorten nicht öffentlich zeigen durften, nutzten die Massenwallfahrten in Máriapócs, um unerkannt Gottesdienste zu besuchen oder sich am Abendmahl zu beteiligen. Nach der politischen Wende von 1989 öffnete sich Máriapócs erneut den Pilgern auch aus dem benachbarten Ausland, aus Rumänien, Polen und der Ukraine. Das Gnadenbild wird heute von Angehörigen der griechisch-katholischen und der römisch-katholischen Kirche gleichermaßen verehrt. 1991 besuchte Papst Johannes Paul II. Máriapócs und hielt eine Messe nach byzantinischer Liturgie in ungarischer Sprache ab. 2005 erklärte die Bischofskonferenz der Ungarischen Katholischen Kirche die Wallfahrtskirche zum „nationalen Heiligtum“ Ungarns. Am 11. September 2010 wurde die vollständig renovierte Wallfahrtskirche im Beisein des Wiener und des Graner Erzbischofs als Ausdruck der engen Zusammengehörigkeit von Máriapócs und Wien neu geweiht. Außerhalb von Wien und Máriapócs wird die Pócser Madonna in zahlreichen weiteren Kirchen und Kapellen Europas verehrt, so in Verdasio im Kanton Tessin in der Schweiz und im pfälzischen Kindsbach. Auch in Österreich, von Jennersdorf bis Salzburg, gibt es viele Kirchen, Kapellen oder Reliefs zu Ehren der Pócser Madonna. In der Wallfahrtskapelle Siebeneich im Schweizer Kanton Obwalden dient die Pócser Madonna seit dem ungarischen Volksaufstand von 1956 der Wallfahrt der Exilungarn. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Universitätsbibliothek Budapest, Hevenesi Sammlung Nr. XLI. �1. und LXXI. �15; Erzbischöfliches Archiv Eger, Nr. Arch. Vetus 1800 [Untersuchungsprotokolle].

b) Darstellungen Kerényi, Karl: Die ungarische Madonna von Verdasio. In: ders.: Wege und Genossen, Bd. 2. München 1988, 379–386; pusKás, Bernadett: A máriapócsi kegytemplom és bazilita kolostor [Die Gnadenkirche und das Basilianerkloster von Máriapócs]. In: Művészettörténeti Értesítő �� (1995) 169–190; dies.:

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Máriapócs Čudotvorna ikona Bohorodyci v Marijapovči (1673) [Die wundertätige Ikone von Máriapócs (1673)]. In: Sydor, Oleh (Red.): Bohorodycja i ukrajins’ka kuľtura. Tezy dopovidej i povidomlen’ Mižnarodnoji naukovoji konferenciji. 14–15 hrudnja 1995 r. Ľviv 1995, �9–51; JanKa, György (Hg.): Máriapócs 1696 – Nyíregyháza 1996. Történelmi konferencia a Máriapócsi Istenszülő-ikon első könnyezésének 300. évfordulóján [Máriapócs 1696 – Nyíregyháza 1996. Konferenz anläßlich des 300. Jubiläums des ersten Tränenwunders der Máriapócser Ikone]. Nyíregyháza 1996; Knapp, Éva/tüsKés, Gábor: „Abgetrocknete Thränen“. A pócsi Mária ikon bécsi kultuszának elemei 1698-ban [„Abgetrocknete Thränen“. Elemente in der Wiener Verehrung des marianischen Gnadenbildes von Pócs im Jahr 1698]. Ebd., 61–77; pusKás, Bernadett: A máriapócsi kegykép művészettörténeti vonatkozásai [Die kirchenhistorischen Bezüge des Máriapócser Gnadenbildes]. In: Athanasiana 3 (1996) 19–24; terdiK, Szilveszter: „Madonna delle Vittorie“. A pócsi Mária tiszteletéről Venetóban [„Madonna delle Vittorie“. Über die Verehrung der Pócser Maria in Veneto]. In: Magyar Egyháztörténeti Vázlatok 11/1–2 (1999) 153–161; pusKás, Bernadett: Ikonopis’ 18 veka istoričeskoj Mukačevskoj eparchii. Novye dannye o tvorčestve masterov-professionalov [Die Ikonenmalerei des historischen Bistums Munkács im 18. Jahrhundert. Neue Angaben bezüglich der Tätigkeit der führenden Maler]. In: pružinsKý, Štefan/KorManíK, Peter (Hg.): Kresťansk� chrám byzantského obradu včera a dnes. Prešov 2000, 56–66; ivancsó, István (Hg.): „Téged jöttünk köszönteni“. A máriapócsi kegykép harmadik könnyezésének centenáriuma alkalmából rendezett nemzetközi konferencia anyaga [„Wir sind gekommen, um Dich zu begrüßen“. Materialien der internationalen Konferenz anläßlich des hundertjährigen Jubiläums des dritten Tränenwunders des Máriapócser Gnadenbildes]. Nyíregyháza 2005; terdiK, Szilveszter: A máriapócsi kegytemplom építésére és belső díszítésére vonatkozó, eddig ismeretlen források [Die bisher unbekannten Quellen bezüglich des Baus und der Innenausstattung der Gnadenkirche von Máriapócs]. In: Jósa András Múzeum Évkönyve 50 (2008) 525–571; Gánicz, Tamás/LeGeza, László/terdiK, Szilveszter: Máriapócs, our National Sanctuary. Budapest 2009; schreiner, Klaus: Siegbringende Marienbilder. Formen und Funktionen bildhafter Kommunikation in militärischen Konflikten des späten Mittelalters und der frühen Neuzeit. In: strohschneider, Peter (Hg.): Literarische und religiöse Kommunikation in Mittelalter und Früher Neuzeit. Berlin 2009, 8��–903; pusKás, Bernadett: Greek Catholic Churches. In: szuhóczKy, Gábor (Hg.): Monuments in Carpathian. Nyíregyháza 2010, 55–62; dies.: Monuments of Byzantine rite in Subcarpathia. Ebd., 98–11�; terdiK, Szilveszter: Sculptor constantinopolitanus. Un intagliatore greco a Máriapócs nel Settecento. In: véGhseő, Tamás (Hg.): Symbolae. Wege der Erforschung des griechisch-katholischen Erbes. Akten der Konferenz zum Andenken an den 100. Todestag von Nikolaus Nilles SJ. Nyíregyháza 2010, 249–269.

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Der Wallfahrtsort Schossberg I. Zusammenfassung. – II. Legende über die Entstehung des Wallfahrtsortes. – III. Die Erhöhung der Pietà von Schossberg zur gnadenreichen Statue. – IV. Pauliner in Schossberg. – V. 300jähriges Jubiläum der Verehrung der Schossberger Jungfrau Maria. – VI. „Maria der Sieben Schmerzen“ – Patronin der Slowakei. – VII. Verehrung während des Kommunismus. – VIII. Revitalisierung nach 1989. – IX. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Der Ursprung des Wallfahrtsortes in Schossberg, einer kleinen Stadt an der Grenze zwischen der Slowakei, Mähren und Österreich, verbindet sich mit der Verehrung der Statue der „Sieben Schmerzen der Jungfrau Maria“. Der Wallfahrtsort wurde nach seiner Erhebung zum Gnadenort durch den Heiligen Stuhl 1732 rasch populär und zu einem überregionalen Wallfahrtsort, der Pilger aus dem ganzen ungarländischen Gebiet anzog. Die Pieta von Schossberg wurde eine weitere Schutzpatronin der heiligen Stephanskrone. Ihr Kult weitete seinen Einzugsraum auch nach Mähren, Böhmen und Niederösterreich hin aus. Während der ersten Tschechoslowakischen Republik schlugen die politisch konservativen slowakischen Eliten die „Maria der Sieben Schmerzen von Schossberg“ als Patronin der gesamten Slowakei vor. Papst Pius XI. nahm diesen Vorschlag 1927 an. In der Zwischenkriegszeit entfaltete sich in Schossberg der bedeutendste und meistbesuchte Wallfahrtsort der Slowakei.

II. Legende über die Entstehung des Wallfahrtsortes Laut Erzählungen, die erst im 18. Jahrhundert schriftlich festgehalten wurden, ließ Grundherrin Anna Bakics die Statue der „Sieben Schmerzen Mariens“ 1564 errichten, zum Dank für die Hilfe der Muttergottes bei der Lösung ihrer Ehestreitigkeiten mit Imre Czobor. Die versöhnten Eheleute sollen die aus Birnenholz geschnittene Pietaskulptur bei einer Straße zu ihrem Kastell aufgestellt haben. In der Folge versammelten sich bei diesem zu Marienfesten nicht nur die Grundbesitzer mit ihrer Dienerschaft, sondern auch die Gläubigen aus der näheren Umgebung. Die Verehrung der Statue der „Sieben Schmerzen Mariens“ wurde so ein Bestandteil der Czoborischen Familientradition mit einem zunächst nur lokalen Einzugsbereich. Während der Osmanisch-Habsburgischen Kriege und der ständischen Aufstandsbewegungen im späten 16. und 17. Jahrhundert wurde die Statue in der Kapelle des Schossberger Kastells aufbewahrt.

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III. Die Erhöhung der Pietà von Schossberg zur gnadenreichen Statue Ein Zentraler Wendepunkt in der Geschichte der Verehrung der Schossberger Jungfrau Maria war das Jahr 1732. Nachdem im Frühjahr diesen Jahres über die ersten Wunderheilungen berichtet worden war, wuchs die Zahl der Pilger sehr schnell. Das zuständige Bistum bildete eine kanonische Kommission, die die Wahrhaftigkeit der Wunder untersuchen sollte. Die Kommission wurde im Oktober 1732 nach Schossberg einberufen. Ihren Bericht legte sie dem Graner Erzbischof und Primas von Ungarn, Imre Eszterházy, vor. Eine von Eszterházy zusammengestellte Gruppe von Theologen untersuchte die Feststellungen der Kommission am 15. Oktober 1732. Schon drei Tage später erließ Eszterházy aufgrund ihrer Empfehlung ein Dekret, in dem er die Schossberger Statue der Jungfrau Maria für gnadenreich erklärte und so ihre öffentliche Verehrung bewilligte. Der örtliche Pfarrer und sein Kaplan betreuten die Kapelle mit der „gnadenreichen Statue“. Sie waren aber bereits nach sehr kurzer Zeit nicht mehr imstande, die große Menge der Pilger und ihre seelsorgerlichen Bedürfnisse zu befriedigen. IV. Pauliner in Schossberg Der Schossberger Pfarrer berief zur Aushilfe bei Beichte und Predigten zuerst die Franziskaner aus dem Kloster in Skalitz. Die rasch wachsende Zahl der Pilger stellte aber die Frage nach einer neuen Verwaltungsstruktur des entstehenden Wallfahrtsortes. Der Pauliner Orden, der schon den naheliegenden Pilgerort in Marienthal verwaltete, äußerte Interesse an der Übernahme auch Schossbergs. Der Provinzial der ungarischen Provinz gewann die Zustimmung des Erzbischofs Esterhazy, des Wieners Bischofs und Ordensprotektors Sigismund Kollonitsch und des Schossberger Grundherren Joseph Czobor. Am 2. April 1733 trafen die ersten drei Ordensbrüder der Pauliner in Schossberg ein. Mehrere Umstände trugen zur raschen Verbreitung der Verehrung der Schossberger Maria bei. Wichtig waren die Unterstützung des Graner Erzbischofs und des Kaisers Franz I. sowie die intensiven, missionarischen und auf die Förderung barocker Frömmigkeitsformen ausgerichteten Aktivitäten der Pauliner. Sie widmeten neben der geistlichen Sorge um die Pilger auch der Propagierung des Wallfahrtsortes große Aufmerksamkeit. Gerhard Jankovich gab 17�6 in der jesuitischen Druckerei in Tyrnau ein umfangreiches lateinisches Werk Novum Sidus Hungariae, sive Sanctissima Dei, et dolorum mater Maria in s. statua Sassiniensi in fine saeculorum Thaumaturga heraus. Außer Ehrbezeugungen für die Schossberger Pieta wurden hier auch die überlieferten Wunderheilungen und Konversionen rund um den Gnadenort aufgezeichnet. Der Titel Novum Sidus Hungariae zeigt, daß Schossberg schon in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts als marianischer Wallfahrtsort mit gesamtungarischer Bedeutung dargestellt wurde. 1751 erschienen auch slowakische, deutsche und ungarische Übersetzungen des Werkes von Jankovich. Die Pauliner begannen schon kurz nach ihrer Ankunft in Schossberg mit dem Bau einer neuen Wallfahrtskirche im Stil des Rokoko, in dem die wundertätige Statue der 203

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Die um 1920 auf einer Ansichtskarte gedruckte kolorierte Zeichnung der „Sieben Schmerzen Mariens“ grüßte den Empfänger auf Slowakisch, Deutsch und Ungarisch. Läßt man dieses Beispiel gelten, spielten damals in der publizistischen Darstellung des Wallfahrtsorts Differenzen zwischen Katholiken mit unterschiedlichen nationalen Sprachidentitäten keine Rolle. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

Jungfrau Maria ein angemessenes Obdach finden sollte. Finanzielle Probleme erschwerten den Bau der Kirche, die als eines der größten Gotteshäuser im damaligen Königreich Ungarn geplant wurde. Das Zeitalter der barocken katholischen Frömmigkeitsformen und ihrer intensiven Förderung durch die Obrigkeiten befand sich bereits in seiner Spätphase und wurde zunehmend auch durch Teile der höfischen Eliten, die unter dem Einfluß aufklärerischen Gedankengutes standen, in Frage gestellt. Die Pauliner konnten sich zunächst bei ihren Bemühungen vor allem auf die Unterstützung des Graner Erzbischofs Imre Eszterházy stützen, er weihte auch den Grundstein der Wallfahrtskirche. In der letzten Phase des Aufbaus und der Innenausstattung der Kirche griffen auch Maria Theresia und Kaiser Franz I. durch die Bereitstellung finanzieller Unterstützung persönlich ein. Die Kirchenweihe am 12. August 1762 und die feierliche Übertragung der Statue der „Sieben Schmerzen Mariens“ auf den Hauptaltar wurde eine prächtige Feier im Rokokostil, an der Maria Theresia und ihre kaiserliche Familie, der Graner Erzbischof und etliche andere römisch-katholische ungarländische kirchliche und weltliche Würdenträger teilnahmen. Maria Schossberg stieg somit innerhalb kürzester Zeit in den Kreis der zentralen, vom Wiener Hofe geförderten Gnadenorte im weiteren Umkreis um die Haupt- und Residenzstadt Wien auf. Die josephinischen Reformen wirkten sich auf Schossberg schwächer aus als auf die meisten anderen ungarländischen Wallfahrtsorte. 1786 wurden per Dekret alle Pauliner204

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klöster aufgehoben, und die Ordensbrüder mußten das frisch gebaute Klostergebäude verlassen. Die Kirche blieb trotz jahrelanger offizieller Wallfahrtsverbote weiterhin ein beliebter Pilgerort. V. 300jähriges Jubiläum der Verehrung der Schossberger Jungfrau Maria Nach 1860 wurden einige bedeutende Jubiläen begangen, die mit dem Wallfahrtsort in Schossberg verbunden waren: 1862 das 100jährige Jubiläum der Übertragung der Schossberger Pietà in die neue Wallfahrtskirche und 1863 das Millennium der kyrillomethodianischen Mission in Großmähren. 186� wurde das 300jährige Jubiläum der Verehrung der „Jungfrau Maria von den Sieben Schmerzen“ in Schossberg gefeiert. Der damalige Schossberger Dekan und Pfarrer Štefan Hrebíček setzte durch, daß alle drei Jubiläen in Schossberg gemeinsam 186� begangen werden sollten. Bei dieser Gelegenheit wurden die Kirchentürme, die im Vergleich zum massiven Bau der Kirche verhältnismäßig niedrig waren, ausgebaut und weitere Restaurierungsarbeiten der Kirche und des Klosters geplant. Hrebíček fand beim Graner Erzbischof János Scitovszky sowie bei Kaiser Franz Joseph I. Unterstützung für sein Vorhaben. Der Graner Erzbischof legte das Datum der groß angelegten und auf ein überregionales Publikum zielenden Feierlichkeit auf den 8. September 186�, den Tag von Mariä Geburt. Schossberg behielt bis zum Untergang der Habsburger Monarchie seinen Charakter als interethnisch genutzter Wallfahrtsort von überregionaler Bedeutung im religiösen Leben des ganzen Königreichs Ungarn. An Sonn- und Feiertagen predigte man in der Kirche slowakisch, bei den größeren Pilgerfahrten, bei welchen sich in Schossberg nicht selten mehr als hundert Priester aus den Graner, Olmützer, Wiener, Neutraer, Brünner und Zipser Bistümern zusammen mit ihren Gläubigen einfanden, wurden die Predigten ungarisch, tschechisch und deutsch gehalten. VI. „Maria der Sieben Schmerzen“ – Patronin der Slowakei „Maria der Sieben Schmerzen von Schossberg, Regina Hungariae“ wurde schon kurz nach dem Zerfall Österreich-Ungarns im Rahmen der politischen Agenda der gegenüber den tschechischen Nationalparteien deutlich in der Defensive befindlichen konservativen und katholischen Kräfte, vor allem der Slowakischen Volkspartei, zur Patronin der Slowakei ausgewählt. Die katholischen Eliten des slowakischen Landesteils waren mit der Stellung der Slowakei in der neuen Tschechoslowakischen Republik unzufrieden. Mit Argwohn beobachteten sie die Hinneigung der meisten tschechischen Parteien zum Liberalismus und zu radikalen Säkularisierungstendenzen. Die Gestalt der Jungfrau Maria wurde zum religiösen und nationalen Symbol der römisch-katholisch ausgerichteten politischen Gruppen in der Slowakei, sie wurde zur Stabilisierung der nationalen Identität der Slowaken und zum politischen Kampf gegen Säkularismus und die Dominanz Prags instrumentalisiert. 205

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Die Vertreter der Slowakischen Volkspartei legten seit 1919 etliche Vorschläge vor, die „Maria der Sieben Schmerzen von Schossberg“ offiziell zur Patronin der Slowakei zu erklären. Für ihre Initiative fanden sie bei den Bischöfen des Landes positive Resonanz und die Idee stieß auch in Rom auf Unterstützung. Papst Pius XI. gab somit am 22. April 1927 das Dekret Celebrem apud Slovachcam gentem heraus, in dem die Verehrung der „Maria der Sieben Schmerzen von Schossberg“ als Patronin der Slowakei erlaubt wurde. Einen Monat später, am 21. und 22. Mai 1927 fand in Schossberg die herkömmliche Jahreswallfahrt statt, an der �0.000 Pilger, mehr als 100 Priester und drei slowakische Bischöfe, Ján Vojtaššák, Pavol Jantausch und Michal Bubnič, teilnahmen. Diese Pilgerfahrt von 1927 begründete die Tradition der nationalslowakisch konnotierten Schossberger Wallfahrten. Die Maiwallfahrt nach Schossberg wurde als gesamtnationaler Akt gefeiert, an welchem die konservative römisch-katholische sowie autonomistisch oder auch auf Unabhängigkeit ausgerichtete Elite mitsamt den Vertretern der diesen Richtungen entsprechenden nationalen Vereine und Gesellschaften teilnahmen. Der Tyrnauer Bichof Pavol Jantausch übertrug die Verwaltung der Schossberger Pfarrei bereits 1924 den Salesianern, die ihre missionarischen Aktivitäten in Schossberg erheblich ausbauten und an dem enormen Aufschwung des Wallfahrtsortes teilhatten. Zwischen 1939 und 1944 wurde Schossberg einer der wichtigsten religiösen Erinnerungsorte der Tiso-Diktatur. An den Jahreswallfahrten nahmen neben hohen katholischen Würdenträgern immer wichtige Repräsentanten des Regimes teil. VII. Verehrung während des Kommunismus Nach 1945 wurden die Wallfahrten zum Objekt des politischen und ideologischen Kampfes zwischen der Führung der Kommunistischen Partei und der römisch-katholischen Hierarchie. Die durch die Kommunisten kontrollierte Presse kritisierte schon 19�6 die Wallfahrten als Relikte der alten Zeit. Die Organisatoren und Teilnehmer wurden als Saboteure des Wiederaufbaus, der nationalen Versöhnung und der Verwirklichung der stalinistisch ausgerichteten Regierungsprogramme gebrandmarkt. Die katholische Kirchenhierarchie nahm die Wallfahrten als eine wichtige öffentliche Demonstration des katholischen Charakters der Slowakei und der Resistenz gegenüber der wachsenden Kontrolle der Gesellschaft durch die Kommunistische Partei wahr und rief die Gläubigen in Hirtenbriefen und Predigten zur Teilnahme an den traditionellen Wallfahrten auf. 19�7 wurde die jährliche Wallfahrt nach Schossberg, ähnlich wie in anderen Pilgerorten, eine organisierte Manifestation der Katholiken gegen die wachsenden Beschränkungen des religiösen Lebens und andere antikirchliche Maßnahmen. Die Zahl der Pilger sank nach der formalen kommunistischen Machtübernahme im Februar 19�8 sukzessive. Die Einschüchterungen aktiver Katholiken, die massive Verfolgung aller Ordensangehörigen und die Aufhebung des Salesianer Klosters in Schossberg sowie zahlreiche weitere Einschränkungen wirkten sich auf die Pilgerzahl aus. 1952 kamen rund 10.000 Pilger nach Schossberg, ein Jahr später nur noch 1.500. 206

Der Wallfahrtsort Schossberg

Die Pilgertradition um die Schossberger Maria konnte trotz der intensiven Repressionen der Staatsorgane nicht zerstört werden. Neben illegalen Wallfahrten kleiner Gruppen konnte die offizielle Maiwallfahrtsmesse nur unter Aufsicht und mit Zustimmung der Staatsorgane stattfinden, die nur mit hohen Auflagen gewährt wurden. Die meisten Pilger kamen daher seit 19�9 bereits individuell zu anderen Jahreszeiten. Prozessionen waren in der gesamten Tschechoslowakei seit 19�9 gänzlich untersagt. Durch Straßensperren, Stilllegung von Buslinien und Bahnhöfen an bestimmten Terminen, Verhaftungen und Mißhandlungen auch großer Pilgergruppen und anderen Schikanen seitens der Polizei und der Staatssicherheit versuchte die Kommunistische Partei, das religiöse Leben zu zerschlagen und zumindest die öffentlich manifestierte Volksfrömmigkeit zu unterdrükken. Die römisch-katholische Kirche war sich der Bedeutung des Schossberger Wallfahrtsortes für ihre Mitglieder bewußt. Papst Paul VI. erhob die Schossberger Kirche der „Sieben Schmerzen Mariens“ auf die Initiative der slowakischen Bischöfe Ambróz Lazik und Eduard Nécseyhi, die mehrere Jahre im Untergrund wirken mußten, auf die Stufe einer Basilica Minor. 1968, nach zwei Jahrzehnten andauernder Verfolgung der Kirche, kam es zur Entspannung in der Prager Kirchenpolitik. An der nunmehr staatlicherseits genehmigten Wallfahrt am 2. Juni nahmen mehr als 75.000 Personen aus der gesamten Slowakei und aus Mähren teil. Trotz der Erneuerung der restriktiven Maßnahmen gegen alle öffentlichen Äußerungen der Religiosität nach 1970 konnte das Regime die wiederkehrende Popularität der Wallfahrten nach Schossberg nicht mehr wie vor 1968 unter seine vollständige Kontrolle bringen. Die Katakombenkirche, geheim organisierte katholische Jugendgruppen und immer stärker auch die geduldeten und strikt überwachten offiziellen Strukturen der Kirche nahmen die Wallfahrten nicht nur als Gelegenheit zur geistlichen Erneuerung und eine der spektakulärsten öffentlichen Frömmigkeitsformen wahr. Die ständig wachsende Zahl von Pilgern wurde in den 1980er Jahren gleichzeitig auch eine Manifestation der wachsenden Ablehnung des Regimes durch weite Teile der Bevölkerung der Slowakei und stand für Forderungen nach religiösen und bürgerlichen Freiheiten. VIII. Revitalisierung nach 1989 Schon wenige Monate nach dem Fall der kommunistischen Diktatur in der Tschechoslowakei kehrten im Februar 1990 die Salesianer nach Schossberg zurück. Sie begannen mit der Wiederherstellung des Klosters, eröffneten ein Gymnasium mitsamt Schülerwohnheim und übernahmen die Organisation der Marienwallfahrten. Die Tradition der gesamtnationalen Wallfahrt nach Schossberg wurde weitergepflegt. Die zentrale Position der Schossberger Basilika auf der religiösen Karte der Slowakei bestätigte der Besuch von Johannes Paul II. am 1. Juli 1995. Bei der feierlichen Messe nahmen die höchsten Repräsentanten des Staates und der katholischen Kirche zusammen mit mehr als 400.000 Gläubigen teil. 207

Peter Šoltés

Schossberg im Westen der Slowakei und der Leutschauer Mariaberg sind gegenwärtig die zwei bedeutendsten römisch-katholischen Pilgerstätten in der Slowakei. Es folgt mit Abstand der Marienwallfahrtsort in Nitra. An den wichtigsten Wallfahrten im Mai, zu Pfingsten, zu Maria Himmelfahrt im August und zu Maria Geburt im September besuchen allerdings weniger Pilger Schossberg als Mariaberg bei Leutschau. Nur am Gedenktag der „Sieben Schmerzen Mariens“ ändert sich dieses. Die nationalen Wallfahrten zu den „Sieben Schmerzen Mariens“ im Mai beziehungsweise Juni jeden Jahres, an der die höchsten Repräsentanten des Staates und der katholischen Kirche teilnehmen, erhielten nach 1989 ihre in der Zwischenkriegszeit begründete zentrale Rolle unter den slowakischen Pilgerfahrten zurück. IX. Auswahlbibliographie JanKovich, Gerhard (Hg.): Novum Sidus Hungariae, sive Sanctissima Dei, et dolorum mater Maria in s. statua Sassiniensi in fine saeculorum Thaumaturga […]. Tyrnaviae 17�6; MatejKa, Jozef (Hg.): Pútnik Mariansky aneb milostiwym a zázračn�m obrazom preblahoslawenej Panny Marie Sedmibolestnej Šassčínskej [Marienpilger oder der Weg zum gnädigen und wundertätigen Bild der gnadenspendenden Jungfrau der Sieben Schmerzen Mariens von Schossberg]. Skalica 186�; radLinsKy, a. (hg.): Cesta mariánskeho pútnika [Marienpilgerweg]. Budín 186�; VaGač, Viliam: Pôvod a zázračné udalosti pútnického miesta Panny Márie Sedembolestnej v Šaštíne [Ursprung und Wunder im Wallfahrtsort der Jungfrau der Sieben Schmerzen Mariens in Schossberg]. Trnava 1925; MedvecKý, Karol A.: Naše pútnické miesta [Unsere Wallfahrtsorte]. In: Pöstényi, Ján (Hg.): Katolícke Slovensko. Na pamiatku tisícstoročného jubilea blaženého zvestovania kristovej viery nášmu národu slovenskému, keď založil prvú kresťanskú svätyňu slovensk� knieža Pribina v Nitre 833–1933. Trnava 1933, �51–�5�; CincíK, Jozef: Pútnick� kostol a kláštor v Šaštíne. Náčrt umelecko-historick� [Pilgerkirche und -kloster in Schossberg. Eine kunsthistorische Skizze]. Šaštín 1938; feKete, Štefan: Vznik, rozloženie a v�znam slovensk�ch pútnick�ch miest. Príspevok ku kultúrnej geografii Slovenska [Entstehung, Einteilung und Bedeutung slowakischer Pilgerorte. Ein Beitrag zur kulturellen Geographie der Slowakei]. In: Národopisn� sborník 8 (19�7) 3 125–1�3; Tóth, Melinda (Hg.): Documenta artis paulinorum, Bd. 2. Budapest 1976, 31�–3�5; Coreth, Anna: Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. Wien 1982; Radváni, Hadrián (Hg.): Naša národná svätyňa. Bazilika v Šaštíne [Ein Heiligtum unseres Volkes. Die Schossberger Basilika]. Trnava 1990; HaberMas, Rebekka: Wallfahrt und Aufruhr. Zur Geschichte des Wunderglaubens in den frühen Neuzeit. Frankfurt/Main 1991; Knapp, Éva/TüsKés, Gábor: Volksfrömmigkeit in Ungarn. Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturgeschichte. Dettelbach 1996; MacáK, Ernest: Naša Sedembolestná Matka. Dejiny Šaštína [Unsere Muttergottes der Sieben Schmerzen. Geschichte Schossbergs]. Bratislava 2004.

Peter Soltes

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Nicula I. Zusammenfassung. – II. Die Anfänge als Gnadenort, der Ursprung des Gnadenbildes und dessen Verbreitung. – III. Instrumentalisierung im Dienste der Rekatholisierung Siebenbürgens. – IV. Ein regionales griechisch-katholisches Wallfahrtszentrum in den Auseinandersetzungen mit der rumänisch-orthodoxen Kirche bis 1948. – V. Die Inbesitznahme und Instrumentalisierung des Wallfahrtsortes durch die rumänisch-orthodoxe Kirche in kommunistischer Zeit. – VI. Der Dauerkonflikt zwischen griechischorthodoxer und griechisch-katholischer Kirche um Nicula seit der Wende von 1989. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Nicula ist ein nordöstlich von Klausenburg gelegener Wallfahrtsort in Siebenbürgen. Dort hat entsprechend der Überlieferung Ende des 17. Jahrhunderts eine Ikone der Muttergottes Tränen vergossen und nachträglich Wunder bewirkt. Diese Ereignisse stehen am Ausgangspunkt einer bewegten Geschichte, in deren Verlauf das Bild von römischkatholischen, griechisch-katholischen und griechisch-orthodoxen Gläubigen aus unterschiedlichen Ethnien verehrt wurde. Entsprechend entwickelten sich im Verlauf von drei Jahrhunderten unterschiedliche, in Teilen sogar einander diametral entgegengesetzte Narrative rund um die Darstellung der Gottesmutter und den danach angefertigten Kopien wie auch den Ort des Wunders. Dies gilt insbesondere für die Periode nach 1989, als der Wallfahrtsort zum Gegenstand einer Auseinandersetzung zwischen der griechischkatholischen und der griechisch-orthodoxen Kirche in Siebenbürgen wurde. Die dürftige Quellenlage und die durch starke Polemiken der einzelnen Konfessionen, die Ansprüche auf den Wallfahrtsort beziehungsweise eine der beiden Versionen des Gnadenbildes erheben, beeinflußte Sekundärliteratur erschweren eine Rekonstruktion der Geschichte der Wallfahrten rund um das wundertätige Bild von Nicula. II. Die Anfänge als Gnadenort, der Ursprung des Gnadenbildes und dessen Verbreitung Die Grundlage für sämtliche Narrative zur Gnadenikone von Nicula, unabhängig von der jeweiligen konfessionellen Ausrichtung, bildet das im Umfeld der Klausenburger Jesuiten verfaßte und 1736 publizierte Werk Historia Thaumaturgae Virginis Claudiopolitanae. Der Überlieferung nach wurden Soldaten des Hohenzollern-Regiments im Frühjahr 1699 in einer kleinen Holzkirche im Dorfe Nicula Zeugen eines Wunders. Eine Ikone der Muttergottes mit dem Jesuskind soll dort zwischen Februar und Mitte März mehrmals Tränen vergossen haben. Bei der in der Historia genannten Kirche handelt es sich nicht um den heute auf dem Hügel oberhalb von Nicula befindlichen kleinen Holzbau. Dieser wurde erst 197� aus Năsal Fânaţe als Ersatz für die ein Jahr davor durch einen Brand vernichtete Kirche nach Nicula transferiert. Eine aus dem zerstörten Vorgängergebäude 209

Robert Born

überlieferte Inschrift belegt die Erneuerung der Kirche 171� im Auftrag des römischkatholischen ungarischen Adligen Sigismund Kornis de Gőncz-Ruszka. Ferner ist eine Glocke mit einer kirchenslawischen Inschrift aus dem Jahr 1685 bekannt. Somit kann nicht ausgeschlossen werden, daß der 1973 verbrannte Bau seinerseits an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert anstelle einer älteren Anlage errichtet worden war. Aufgrund des Fehlens eindeutiger Quellenangaben kann die Frage nach der konfessionellen Zugehörigkeit der ethnisch rumänischen Gemeinde, in deren Kirche das Wunder 1699 stattfand, nicht endgültig beantwortet werden. Die griechisch-orthodoxe Historiographie postulierte – vor allem nach 1989 – eine Nutzung der Pfarrkirche und die Existenz eines orthodoxen Klosters in Nicula seit 1552. Alternativ hierzu favorisieren griechisch-katholische Historiker die Gründung eines Klosters zwischen 1700 und 171�, da erst dadurch eine Nutzung der Holzkirche durch eine griechisch-katholische Gemeinde plausibel erscheint. Im Herbst 1698, also unmittelbar vor dem Tränenwunder in Nicula, hatte der orthodoxe Bischof Atanasie der bereits unter seinem Amtsvorgänger Teofil ausgehandelten Vereinigung mit der katholischen Kirche zugestimmt. Gemeinsam mit dem Eparchen traten 38 Protopopen der Kirchenunion mit Rom bei. Deren Zustandekommen wurde auf kaiserlicher Seite entscheidend durch den Erzbischof von Gran und Primas von Ungarn, Kardinal Leopold Karl von Kollonich, vorangetrieben. Dieser übernahm eine Schlüsselrolle bei der politischen und konfessionellen Neuordnung der von den Osmanen zurückeroberten Gebiete in Ungarn. Laut Auskunft der Historia kam die Ikone von Nicula als eine Stiftung des rumänischen Kleinadeligen Ioan Cupşa in die örtliche Kirche. Das Bild sei 18 Jahre vor dem Wunder, das heißt um 1690 und somit vor dem Abschluß der Kirchenunion, von einem Priester mit dem Namen Luca aus der benachbarten Gemeinde Iclod gemalt worden, der als Ruthene bezeichnet wird. Trotz dieser eindeutigen Festlegung präsentierten sowohl griechisch-orthodoxe als auch griechisch-katholische Historiker den Maler als Rumänen, wobei dessen konfessionelle Zugehörigkeit jeweils mit derjenigen der Autoren in Einklang gebracht wurde. Nur kurze Zeit nach dem Bekanntwerden des Wunders ließ Graf Sigismund Kornis de Gőncz-Ruszka die Ikone im Rahmen einer feierlichen Prozession auf den Familiensitz im nahegelegenen Mănăstirea, dem ehemaligen Benediug, überführen. Der Graf stammte aus einer Familie überzeugter Katholiken, die bereits um die Mitte des 17. Jahrhunderts die im Auftrag der Propagandakongregation in Siebenbürgen tätigen Franziskaner aktiv unterstützt hatte. Kornis war darüber hinaus stets bemüht, Bildwerke, denen eine besondere Verehrung entgegengebracht wurde, auf die Familienbesitzungen zu überführen. So gelangte eine weitere, als wundertätig bezeichnete Ikone aus Iliuşa auf den Sitz in Mănăstirea. Später wurden dann auch Stücke aus evangelischen Kirchen, wie die Statuen der Muttergottes aus den Altären in Großschenk und Mühlbach, in die Familienkapelle in Korod transloziert. Keines dieser verehrten Werke aus dem Besitz des Grafen entfaltete jedoch einen so starken Nachruhm wie die Marienikone aus Nicula. Diese bewirkte der Überlieferung nach kurz nach der Ankunft in Mănăstirea Krankenheilungen und beförderte Konversionen, vergoß jedoch schon bald keine Tränen mehr. Zudem mußte das Bild 210

Nicula

nach kürzester Zeit auf Druck der katholischen Kirchenleitung, die auf die Beschwerden der Bevölkerung in Nicula reagierte, wieder in das Dorf zurückgebracht werden. Der kurze Aufenthalt der Marienikone wurde auf den Familiensitzen der Kornis in Korod und Mănăstirea durch Steinreliefs mit der Darstellung des Bildes kommemoriert. Zusätzlich dazu berichteten vormals über der Kapelle beziehungsweise über dem Zugang zum heute weitestgehend zerstörten Anwesen in Mănăstirea angebrachte Inschriften von dem göttlichen Schutz und der himmlischen Fürsprache für das Haus Kornis. Nach der Rückkehr des Bildes nach Nicula wurde noch im März 1699 mit der Befragung der Zeugen des Wunders begonnen. Auf der Basis der Protokolle genehmigte Kardinal Kollonich schließlich die öffentliche Verehrung der Ikone. Zu diesem Zweck übergab man bereits 1700 das Bild der Jesuitenmission im Klausenburger Vorort Abtsdorf. Die Gemeinde in Nicula erhielt der Überlieferung nach eine Kopie als Ersatz. In der Abtsdorfer Jesuitenmission erfuhr das Gnadenbild eine intensive Verehrung durch Gläubige unterschiedlicher Ethnien (Ungarn, Deutsche, Armenier) und Konfessionen (Katholiken, Unierte, gelegentlich wohl auch Griechisch-Orthodoxe), wie dies Berichte vom Februar 1701 schildern. Den bereits überregionalen Ruhm der Ikone verdeutlichen die von dem Wiener Kupferstecher Johann Franck (Frank) de Langgraffen angefertigten Darstellungen in der in Tyrnau 1701 veröffentlichten Ausgabe des Gebetbuchs (Keresztyéni imádságos könyv) von Peter Pázmány, der zu den führenden Gestalten der radikalen katholischen Reformbewegung in Ungarn zählte. Zusätzlich zu den beiden Illustrationen mit der damals in dem Klausenburger Vorort aufbewahrten Ikone finden sich in der Tyrnauer Ausgabe auch Abbildungen der wundertätigen Marienbilder aus Pócs/ Wien und Raab. Gemeinsam sollten diese Beispiele als bildliche Verweise auf Devotionsformen, die durch die Reformation unterbrochen wurden, gelesen werden. In diesem Sinn ist auch die prominent dem Titelblatt vorangestellte allegorische Komposition zu lesen, auf der die Gnadenbilder der Muttergottes aus Pócs/Wien und Nicula/Klausenburg miteinander verbunden und von der ungarischen Stephanskrone überhöht gezeigt werden. Im darunterliegenden Teil der Darstellung erscheinen ein Landschaftsausschnitt mit einer zerstörten Kirche und eine Ansammlung liturgischer Geräte für den katholischen Kult, die von den Personifikationen Ungarns und Siebenbürgens flankiert werden. Die bildhafte Inszenierung schildert die desolate Situation des ungarischen Königreichs infolge der Reformation. Der Nexus zwischen dem Niedergang des Landes und der Ausbreitung des Protestantismus bildete seit Ende des 16. Jahrhunderts ein wiederkehrendes Motiv in den Predigten und Publikationen jesuitischer Autoren wie István Szántó (Arator) oder Péter Pázmany. Die motivische Anbindung der Gnadenbilder aus Pócs und Klausenburg an die ungarische Krone stellt darüber hinaus eine bildliche Umsetzung des politisch-theologischen Konzepts des Regnum Marianum dar, die in der Folgezeit eine weite Verbreitung erfahren sollte. Dies illustriert ein um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandenes Ölgemälde aus dem Bestand der Ungarischen Nationalgalerie in Budapest. Johann Franck de Landgraffens zweite Darstellung des Klausenburger Gnadenbildes in Pázmánys Gebetbuch zeigt das Bild mitsamt dem Rahmen und bildet somit eine wichtige Quelle für die Rekonstruktion der ursprünglichen Erscheinung des Bildes, die 211

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heute aufgrund der im Lauf der Zeit applizierten Kronen und reichen Bekleidung der Figuren nur noch schemenhaft erkennbar ist. Durch den Vergleich mit dem in Nicula verehrten Bild läßt sich darüber hinaus das Verhältnis zwischen den Bildern in Abtsdorf/ Klausenburg und Nicula näher präzisieren. Hierbei zeigt sich, daß beide Darstellungen der Muttergottes dem Typus der Hodegetria entsprechen. Eine Gegenüberstellung offenbart auffällige Abweichungen, wie das markant dem Jesuskind zugeneigte Haupt der Gottesmutter auf dem Klausenburger Bild. Auf diesem fehlen die beiden Engelsfiguren, die auf der Ikone in Nicula in den Zwickeln oberhalb der Jungfrau zu sehen sind. Diese abweichenden gestalterischen Elemente sprechen gegen ein Original-Kopie-Verhältnis. Vermutlich wurden die beiden Ikonen von zwei verschiedenen Meistern in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts geschaffen. III. Instrumentalisierung im Dienste der Rekatholisierung Siebenbürgens Die 1713 auf Weisung Kaiser Karls VI. erfolgte Ernennung des Grafen Sigismund Kornis zum Gubernator von Siebenbürgen leitete eine neue Etappe der Bemühungen Wiens ein, das Fürstentum zu rekatholisieren. Unter dem Schutz kaiserlicher Truppen nahmen die Katholiken den Dom in Weißenburg und die Sankt Michaels Kirche in Klausenburg, die zuvor von den Antitrinitariern genutzt worden war, in Besitz. Gleichzeitig erhielt die Gesellschaft Jesu in Klausenburg die Erlaubnis zur Errichtung einer Kirche und eines Kollegs innerhalb der Stadtmauern. Der 1718 begonnene Neubau wurde von Christoph Tausch, einem Schüler des berühmten Malers und Architekten Andrea Pozzo, entworfen. Der Laienbruder Pozzo wirkte in seinen letzten Lebensjahren in Wien (1702–1709) und war dort maßgeblich an der Umgestaltung der dortigen Universitätskirche beteiligt, die in der Folgezeit zu einem wichtigen Orientierungspunkt für eine Reihe von Neubauten innerhalb der Provincia Austria des Jesuitenordens wie Tyrnau, Trentschin, Kaschau, Linz oder Raab wurde. An diese Gruppe von Bauten knüpfte man typologisch auch bei der Klausenburger Kirche an, die ihrerseits als Referenz für weitere jesuitische Neubauten in Siebenbürgen wie diejenigen in Neumarkt und Hermannstadt wurde. Am 10. August 172� erfolgte die Überführung des Gnadenbildes aus Abtsdorf in die fast fertige Kirche in Klausenburg im Rahmen einer Prozession, an der neben den Spitzen der Provinzverwaltung und des Militärs vor allem die Mitglieder der 1660 gegründeten Marianischen Kongregation teilnahmen. Bei der Translation wurde das eigens für diesen Anlaß verfaßte Gedicht Coronam XII. Stellarum vorgetragen. Durch den Verweis auf die Sternenkrone der Muttergottes wurde diese als Immaculata charakterisiert. Am 13. Mai des darauffolgenden Jahres erfolgte dann die Weihe der Kirche an die Heilige Dreifaltigkeit. Die Wahl eines Glaubensdogmas als Patrozinium für den Neubau stellte eine deutliche Herausforderung für die in Klausenburg starke Gemeinde der Unitarier dar. Die Trinität bildete gleichzeitig einen Gegenentwurf zum Islam und stand gemeinsam mit der Verehrung der Immaculata im Fokus der Pietas Austriaca, einer als erblich erachteten Tugend des Hauses Habsburg. Beide theologischen Konzepte begegnen in 212

Nicula

verdichteter Form auf dem von Christoph Tausch gefertigten Hochaltar-Retabel. Die zweizonige Komposition zeigt im oberen Teil die Heilige Dreifaltigkeit im Gloria und darunter die vier Erzengel. Der mit einem Feuerschwert bewaffnete Michael hält gemeinsam mit Gabriel eine mit einem Kranz aus zwölf Sternen, ein Symbol der Immaculata Conceptio, umgebene Krone über die wundertätige Ikone. Diese nimmt als Einsatzbild, die untere Partie des Retabels ein. Gleichzeitig bildet das Gnadenbild den Fokus einer komplexen Inszenierung. Durch die programmatische Verklammerung mit dem Tabernakel, dem Aufbewahrungsort der Eucharistie, das von Büsten der beiden bedeutendsten jesuitischen Ordensheiligen (Ignatius von Loyola, Franz Xaver) sowie von Aufbauten mit Reliquien von Katakombenheiligen gerahmt wird, präsentierte man das Bild als Teil einer authentischen Tradition der katholischen Kirche und vergegenwärtigte gleichzeitig die Existenz eines symbolischen Bandes mit Rom. Parallel zu dieser opulenten Inszenierung bemühten sich die Klausenburger Jesuiten, den Ruhm des Gnadenbildes durch andere Medien zu mehren. Hierzu zählen Publikationen wie Ladislaus Nedeczkis Fontes Gratiarum Marianarum novi, et veteres von 1736, ein Werk, in dem die wundertätigen Darstellungen der Muttergottes auf dem Territorium Ungarns anschaulich vorgestellt werden. Durch dieses in der Tradition von Pál Esterházys Atlas Marianus (1696) stehende Werk strebte man an, die Verehrung der Gottesmutter in Siebenbürgen zu stärken. Gleichzeitig sah man in der erstarkten Devotion der Gottesmutter einen göttlichen Schutzschild des Fürstentums gegen die in jenen Jahren immer noch akute Gefahr osmanischer und tatarischer Einfälle ins Fürstentum. Nahezu zeitgleich mit Nedeczkis Buch erschienen die ersten deutschsprachigen Publikationen zur Geschichte des Klausenburger Marienbildes. 17�� veröffentlichte das dortige Jesuitenkolleg ein Buch in rumänischer Sprache mit kyrillischen Charakteren mit einer Holzschnittdarstellung der Gottesmutter aus der Jesuitenkirche. Wie auf allen Buchillustrationen und Flugblättern dieser Zeit erschien die Gottesmutter in dem bereits im Pázmány-Gebetbuch etablierten Typus. Dieser wurde erstaunlicherweise auch in dem 1751 in Blasendorf erschienenen Gebetbuch in rumänischer Sprache beibehalten. Der Abdruck der Abbildung des Klausenburger Bildes in einer Publikation aus dem direkten Umkreis der Spitze der griechisch-katholischen Kirche in Siebenbürgen kann als Indiz für die temporäre Akzeptanz eines Transfers des Wunders von Nicula nach Klausenburg angesehen werden. Die Flut an Publikationen zwischen 17�0 und 1750 war auch das Ergebnis einer gezielten Politik der Klausenburger Jesuiten, die in zunehmender Konkurrenz zu den Franziskanern in Weißenburg (Karlsburg) geraten waren, in deren Obhut sich das Gnadenbild der Gottesmutter aus Čiprovci befand. Dieses wurde von katholischen Bulgaren nach der blutigen Niederschlagung des antiosmanischen Aufstands im Jahr 1688 ins siebenbürgische Exil mitgenommen. In Karlsburg wurde das Bild nicht nur von den Angehörigen aller Schichten der bulgarischen Gemeinden in Siebenbürgen und dem Banat, sondern auch von Vertretern der höheren Aristokratie verehrt, der Tochter des walachischen Fürsten Şerban Cantacuzino etwa, der ungarischen Gräfin Kalnoky sowie österreichischen Offizieren und Beamten. 213

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Eine weitere Strategie der Jesuiten zur Popularisierung des Klausenburger Bildes stellte dessen Einbindung in den Lehrbetrieb dar. So fanden die öffentlichen Disputationen am Ende des Studiums im Beisein der Vertreter der Landesregierung vor dem Gnadenbild selbst statt. Dabei wurden auch die für diesen feierlichen Anlaß angefertigten Thesenblätter aufgehängt. Ein eindrückliches Beispiel für diese Gattung ist das 1753 in Augsburg angefertigte Thesenblatt von Stefan Ujfalusi mit der Darstellung des Klausenburger Gnadenbildes. Dessen besondere Popularität illustrieren ferner die Steinreliefs, die auch im Kreis der armenisch-katholischen Bevölkerung in Armenierstadt Verbreitung erfuhren. Zusätzlich dazu sind gemalte Kopien des Klausenburger Bildes in der Kathedrale von Stuhlweißenburg und der Johannes-Nepomuk-Kapelle in Raab erhalten. Weitere Formen der Devotion bildeten die Stiftungen von Metallreliefs oder teuren Kronen für das Gnadenbild, wie diejenigen aus dem Kreis der Familie Kornis. Eine besonders aufwendige Donation, die gleichzeitig den überregionalen Rang des Klausenburger Gnadenbilds illustriert, stellt der 176� im Auftrag von Karol Stanisław Radziwiłł fertiggestellte reiche Silberrahmen für das Bild dar. Der Magnat hatte Polen nach der Wahl Stanisław August Poniatowskis zum König verlassen und lebte anschließend im Exil im Fürstentum Moldau. Im Vergleich zu dem stark im jesuitischen Umfeld verankerten Klausenburger Gnadenbild, das von römisch-katholischen Gläubigen unterschiedlicher Ethnien, von griechisch-katholischen Rumänen und katholischen Armeniern verehrt wurde, war die Devotion des in Nicula verbliebenen Bildes auf die rumänische griechisch-katholische Bevölkerung begrenzt. Die Formen dieser Verehrung lassen sich nur schemenhaft rekonstruieren. Vermutlich wurde das Bild der Gottesmutter als Teil der Ikonostase in der 171� im Auftrag von Sigismund Kornis erneuerten Holzkirche inszeniert. 1767 beantragte die griechisch-katholische Kirchenleitung aus Blasendorf in Rom einen Ablaß für die Pilger nach Nicula. Damit verbunden war die Hoffnung auf einen Übertritt einer hohen Anzahl von „Schismatikern“ zur Union mit Rom. Diese Initiative muß vor dem Hintergrund der seit Mitte des 18. Jahrhunderts virulenten Auseinandersetzung zwischen der griechischunierten und der griechisch-orthodoxen Kirche gesehen werden. Der Konflikt erreichte zwischen 1759 und 1761 eine dramatische Zuspitzung durch die erfolgreiche Propaganda des orthodoxen Wandermönchs Sofronie aus Cioarea, in deren Folge in einigen Regionen Siebenbürgens das Projekt der Kirchenunion existenziell gefährdet war. In diesem Klima der Unsicherheit verkündete Papst Clemens XIII. 1767 einen Ablaß für Wallfahrten nach Nicula, der auf die Dauer von zehn Jahren begrenzt war. Diese Maßnahme zeigte jedoch eine nur begrenzte Wirkung, denn 177� lebte nur noch ein einziger Mönch in Nicula, der im Ort auch als Lehrer tätig war. Die Schule im Kloster blieb bis 1860 neben der alten Holzkirche in Betrieb und wurde aus Mitteln der Landesregierung finanziert. Mit der Verlagerung des Schulbetriebs ins nahegelegene Dorf scheint auch das klösterliche Leben erloschen zu sein. Vor Ort wirkte vermutlich nur noch eine Werkstatt zur Herstellung von Hinterglasikonen weiter, die schnell eine überregionale Bedeutung gewann. 214

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IV. Ein regionales griechisch-katholisches Wallfahrtszentrum in den Auseinandersetzungen mit der rumänisch-orthodoxen Kirche bis 1948 Die schulische Ausbildung erhielt ab der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts die Bedeutung einer gesellschaftlichen Bewegung und bildete einen wesentlichen Motor der sozialen Emanzipation der griechisch-katholischen Rumänen. Das neue Selbstbewußtsein dieser Gruppe vergegenwärtigt auch die Monumentalisierung der Bauten in Nicula. Ab 1875 errichtete man dort eine Kirche im neuromanischen Stil, mit dem Doppelpatrozinium der Koimesis (Entschlafung der Muttergottes) und des heiligen Johannes des Täufers. Dem Bau wurden 1905 zwei Türme vorgelagert. Dieser Fassadentypus dokumentierte gemeinsam mit dem historisierenden Stil des übrigen Baus die programmatische Ausrichtung der griechisch-katholischen Gemeinde nach Westen. Diese Orientierung stand in der Zwischenkriegszeit im Fokus der Auseinandersetzungen zwischen Vertretern der griechisch-orthodoxen Kirche und Angehörigen der Unierten. Die Polemik zwischen beiden Lagern, in die auch die Ikone in Nicula einbezogen wurde, waren Folge der neuen Situation, die nach der Eingliederung Siebenbürgens in das nach 1919 entstandene Großrumänien vorherrschte. Im neuen rumänischen Nationalstaat bildeten die bis dahin in Siebenbürgen kirchenpolitisch und sozial benachteiligten Orthodoxen nun einen Teil der Mehrheitskirche. Die unierten Rumänen waren ihrerseits zwar Teil der ethnischen Mehrheit, blieben aber gleichzeitig konfessionell eine Minderheit. Zusätzlich erschwert wurde die Situation der Unierten durch den ungeklärten rechtlichen Status der griechisch-katholischen wie auch der römisch-katholischen Kirche. Ein Konkordat mit dem Heiligen Stuhl wurde zwar 1927 unterschrieben, jedoch erst 1929 von der rumänischen Seite ratifiziert und 1932 noch einmal modifiziert. Die Unierten begrüßten diesen Staatskirchenvertrag prinzipiell als eine Möglichkeit zur Lösung der vormaligen kircheninstitutionellen Bindungen nach Ungarn. Trotz dieser Grundhaltung kam es vor allem im Vorfeld der Verabschiedung des Religionsgesetzes von 1928 (legea pentru regimul general al cultelor) zu erbitterten Debatten, in deren Verlauf Fragen nach dem grundsätzlichen Selbstverständnis der beiden Konfessionen aufgeworfen wurden. Hierbei interpretierte die griechisch-orthodoxe Seite die Kirchenunion von 1700 als einen Akt, durch den die ursprüngliche Einheit des rumänischen Volkes zerstört würde. Im Zuge der Ausbreitung der vor allem in den 1930er Jahren diskutierten Ideen zu den Charakteristika des rumänischen Wesens wurde wiederholt ein kausaler Zusammenhang zwischen der Orthodoxie und der Zugehörigkeit zur rumänischen Nation postuliert. Unter den Anhängern dieser Ideen befand sich auch der griechisch-orthodoxe Erzbischof von Alba Iulia und Metropolit von Siebenbürgen, Nicolae Bălan. Dieser versuchte gemeinsam mit den beiden Klausenburger Professoren Onisifor Ghibu und Sextil Puşcariu, die Bukarester Regierung zu einer Verstaatlichung des Eigentums des Status Romano-Catholicus Transilvaniensis zu bewegen, indem sie diesen als einen „Staat im Staat“ darstellten. Eine zusätzliche Belastung des Verhältnisses stellte die Errichtung der orthodoxen Bistümer Vad und Feleac 1921 im mehrheitlich unierten Kirchenbezirk Klausenburg dar. Die beiden Eparchien wurden zu Recht als missionarische Initiative wahrgenommen. 215

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Sowohl Onisifor Ghibu als auch Autoren aus dem Umfeld des Siebenbürger Metropoliten Bălan behandelten wiederholt die Frage nach dem Original der Ikone von Nicula. Zur Untermauerung seiner Forderung nach einer Überführung der Klausenburger Universitätskirche (vormalige Jesuiten- und spätere Piaristenkirche) in den Besitz des rumänischen Staates verwies Ghibu auf die Historia Thaumaturgae Virginis Claudiopolitanae von 1736 und sprach zunächst von einem Diebstahl der wunderwirkenden Ikone durch die Jesuiten. Ein Jahrzehnt später erklärte Iosif E. Naghiu in einem Beitrag in der Zeitschrift Renaşterea (Wiedergeburt) des griechisch-orthodoxen Bistums von Klausenburg, Vad und Feleac das Klausenburger Bild zum wundertätigen Original. Auf diesem Wege warf man den Unierten vor, nur zu einer Kopie der wundertätigen Ikone zu pilgern. Diese polemischen Unterstellungen bewirkten jedoch keinen Rückgang der Pilgerzahlen, im Gegenteil: Die Zahl der Wallfahrer stieg von Jahr zu Jahr an, vor allem nach der von Papst Pius XI. 1928 genehmigten Indulgenz für die Wallfahrt nach Nicula. An Feiertagen wie Mariä Himmelfahrt besuchten bisweilen an die 10.000 Pilger den Ort. Die griechisch-katholische Kirchenleitung reagierte auf diese neue Situation und veranlaßte die Errichtung eines Sommeraltars für die Messen unter freiem Himmel und einer neuen Ikonostase zur besseren Präsentation der wundertätigen Ikone. Der beachtliche Anstieg der Pilgerzahlen war nicht zuletzt ein Reflex einer sich intensivierenden Verehrung der Gottesmutter. Gerade in der Nachfolge des Ersten Vatikanums (1869–1870) übernahmen die rumänischen Unierten eine Reihe von Elementen aus der katholischen Frömmigkeitspraxis wie die „Rosenkranz-Vereinigungen“. Die Kirchenleitung bemühte sich zunehmend, diese Bewegung zu kanalisieren, etwa durch die regelmäßigen Teilnahmen des unierten Bischofs von Gherla und späteren Kardinals Iuliu Hossu an den Wallfahrten. Der unierte Eparch veranlaßte 1936 zudem die Übertragung der Aufsicht über die Wallfahrtsstätte Nicula und die dortige Ortspfarre an rumänische Mönche aus dem Basilianer Orden. Diese Maßnahme zielte nicht nur auf eine Festigung der Strukturen in Nicula, sondern war auch als ein Schritt zur wirtschaftlichen Konsolidierung anderer Niederlassungen der Basilianer in Siebenbürgen gedacht. Das griechisch-katholische Bistum von Gherla (ab 1930 Gherla-Cluj) veröffentlichte in der Zwischenkriegszeit mehrere Publikationen populären Charakters, in denen die Verehrung der Muttergottes-Bilder thematisiert wurde. Die Druckwerke dienten der Kanalisierung der Devotion und erfüllten darüber hinaus, vor dem Hintergrund der zunehmenden Kritik der griechisch-orthodoxen Kirche an der Verehrung Mariens und insbesondere der Immaculata, eine apologetische Funktion. Im Rahmen der Auseinandersetzung um die Echtheit der Ikone von Nicula verwiesen die Unierten stets auf die heilende Kraft des Gnadenbildes. Mit Blick auf die prinzipielle Verehrung von Marienbildern wurde betont, daß dies eine östliche Praxis sei, welche die Rumänen übernommen hätten und die somit zu einem Teil des römischen Erbes der Rumänen wurde. Der Verweis auf die römische Abkunft der Rumänen eröffnete gleichzeitig die Möglichkeit, die Kirchenunion mit Rom ideologisch zu rechtfertigen. Entsprechend wurden auch die Apostel Petrus und Paulus als römische Ahnherren der Marienverehrung argumentativ ins Feld geführt. 216

Nicula

Das um die Mitte des 18. Jahrhunderts entstandene, heute in der Ungarischen Nationalgalerie in Budapest befindliche Ölgemälde wiederholt eine allegorische Komposition, die erstmalig als Stich in der Tyrnauer Ausgabe des Gebetbuchs von Peter Pázmány von 1701 belegt ist. Die Komposition zeigt die Gnadenbilder der Muttergottes aus Pócs/Wien und Nicula/Klausenburg, die gemeinsam von der ungarischen Stephanskrone überhöht werden. Das durch diese Konstellation visualisierte politisch-theologische Konzept von Ungarn als Regnum Marianum bildet einen himmlischen Gegenpol zur desolaten Szenerie im unteren Teil der Darstellung, wo die Vertreter Ungarns und Siebenbürgens den Niedergang des Landes infolge der Reformation beklagen. Bildnachweis: Magyar Nemzeti Galéria, Budapest.

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V. Inbesitznahme und Instrumentalisierung des Wallfahrtsortes durch die rumänisch-orthodoxe Kirche in kommunistischer Zeit Im Jahr 19�8 versammelte sich letztmalig für mehrere Jahrzehnte eine gewaltige Pilgerschar in Nicula. Diese stimmte Bischof Hossu in seiner Predigt auf die bereits abzusehenden Repressalien durch die neuen kommunistischen Machthaber ein. Die Unterdrückung der Unierten Kirche war ein Teilbereich der Sowjetisierungspolitik in Rumänien. Neben der Nähe der Kirche zu Rom stufte man vor allem deren intensive Förderung der nationalen Traditionen als besonders gefährlich ein. Im Verlauf mehrerer brutaler Verfolgungswellen wurden große Teile des Klerus – jene, die nicht in den Schoß der sogenannten griechisch-orthodoxen Mutterkirche zurückkehren wollten – eingekerkert oder mußten im Untergrund agieren. Ein letztes Aufbäumen der unierten Kirche gegen die neuen Gesetze bildete ein öffentlicher Gottesdienst vor den Toren der ehemaligen Klausenburger Jesuitenkirche am 12. August 1956, an dem über Tausend Gläubige teilnahmen. Durch ein am 1. Dezember 19�8 erlassenes Dekret wurde die Übertragung des gesamten Besitzes der unierten Kirche an den rumänischen Staat festgeschrieben. Dieser überließ anschließend einen Teil der Immobilien, vor allem die Bauten für den Gottesdienst und Klöster, der griechisch-orthodoxen Kirche zur Nutzung, während Schulen und Waisenhäuser fortan unter staatlicher Kontrolle betrieben wurden. Eine entsprechende Praxis ist auch im Fall des Klosters Nicula belegt, wo die Bauten der griechisch-orthodoxen Kirche übertragen wurden. Das Bild der Muttergottes verschwand zunächst im Untergrund. Die wundertätige Ikone wurde in der Wohnung eines Bauern eingemauert und blieb dort bis 1962 unentdeckt. Anschließend gelangte sie in den Besitz der griechisch-orthodoxen Kirche, die das Bild zunächst in der Kapelle des Erzbischofs in Klausenburg aufbewahrte. Eine öffentliche Verehrung war trotz der sich vor allem ab den späten 1960er Jahren abzeichnenden punktuellen Annäherungen von griechisch-orthodoxer Kirche und kommunistischen Machthabern nicht möglich. Ungeachtet der wiederholten Aktionen gegen einzelne Priester kooperierte die griechisch-orthodoxe Kirchenführung mit der kommunistischen Führung und sicherte sich auf diesem Weg einen gewissen Handlungsspielraum. Zu einer engen Zusammenarbeit beider Seiten kam es zwischen 1965 und 1989 im Rahmen der national ausgerichteten Politik unter Nicolae Ceauşescu. VI. Der Dauerkonflikt zwischen griechisch-orthodoxer und griechisch-katholischer Kirche um Nicula seit der Wende von 1989 Kurz vor dem Ende des kommunistischen Regimes 1989 stellte man den Verfall der Substanz der Ikone von Nicula fest. Im Verlauf der Restaurierung am Museum für Geschichte in Klausenburg wurde diese durch einen Brand zusätzlich beschädigt. Der nachfolgende restauratorische Eingriff erwies sich als fatal und führte zu einer weitestgehenden Entstellung des Originals. In diesem veränderten Zustand wurde das Bild am 24. März 218

Nicula

1995 nach Nicula zurückgebracht. Das Datum wurde in Anspielung auf die Rückkehr des Bildes am 2�. März 1695 aus dem Kornis-Schloß nach Nicula gewählt. Im Zuge der sich nach 1989 intensivierenden allgemeinen Religiosität in Rumänien wurde die Ikone zum Zentrum einer intensiven Verehrung durch die griechisch-orthodoxen Gläubigen. Somit avancierte Nicula noch in den 1990er Jahren zu einem der bedeutendsten orthodoxen Pilgerziele in Rumänien. Die hohe Zahl von Wallfahrern rief auch die Politik auf den Plan, die den Ort vor allem anläßlich des Mariä-HimmelfahrtFestes und den damit verbundenen großen Wallfahrten als Bühne für medienwirksame Auftritte nutzt. Seit 2002 präsentieren sich vor allem in den Jahren, in denen Wahlgänge angesetzt sind, am 15. August hochrangige Mitglieder der rumänischen Regierung in den bedeutendsten überregionalen orthodoxen Marien-Wallfahrtsorten in Rumänien, in Nicula, Putna oder Tismana. So besuchte im Jahr 2005 der Premierminister Călin Popescu-Tăriceanu das Kloster Nicula, während der Staatspräsident Traian Băsescu in Putna weilte. Korrespondierend mit den Inszenierungen der politischen Parteien und Entscheidungsträger in Nicula suchte die rumänisch-orthodoxe Kirchenleitung durchaus die Nähe staatlicher Institutionen. So spielte das Militär eine bedeutende Rolle bei den Feierlichkeiten aus Anlaß der Dreihundertjahrfeier des Tränenwunders, der in diesem Rahmen erfolgten Überführung des Gnadenbildes und dessen fünftägiger Präsentation in der griechisch-orthodoxen Kathedrale in Klausenburg. Diese Masseninszenierungen verdeutlichen, daß die von der rumänisch-orthodoxen Kirche in der Zwischenkriegszeit häufig geäußerten Zweifel an der Authentizität der Ikone in Nicula nun bewußt ignoriert wurden. Im Jahr 2000 stilisierte man das Gnadenbild im Kontext der Feierlicheiten anläßlich der postulierten Vierhundertfünfzigjahrfeier der Gründung eines Klosters in Nicula sogar zu einem nationalen Palladium. Zu den treibenden Kräften hinter dieser symbolischen Rangerhöhung zählte Bartolomeu Anania, orthodoxer Erzbischof von Klausenburg, Vad und Feleac und ab 2005 Metropolit von Siebenbürgen. Anania, der zeitweilig in Nicula residierte, stand auch im Fokus einer weiteren medienwirksamen Inszenierung in der Silvesternacht 2006/2007, in der Rumäniens Beitritt zur Europäischen Union eingeläutet wurde. Der Eparch beging den historischen Jahreswechsel gemeinsam mit seinem Gast, dem vormaligen rumänischen König Mihai. Dessen Besuch in Nicula war Teil einer größeren Reise der königlichen Familie zu den rumänischen siebenbürgischen Bauern, die als Bewahrer der traditionellen nationalen Werte gepriesen wurden. Diese Akzentsetzung zeigt eine Reihe von Berührungspunkten zur griechischorthodoxen Kirche in Rumänien, die eine skeptische Haltung gegenüber der westlichen Anbindung Rumäniens durch die Beitritte zu NATO und EU einnahm. Durch die genannten medienwirksamen Inszenierungen unterschiedlicher politischer Akteure wurde das brisante Politikum der geforderten Rückgabe des Klosters Nicula an die griechisch-katholische Kirche aus der öffentlichen Wahrnehmung verdrängt. Die unmittelbar nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes erfolgte Aufhebung des Verbots der unierten Kirche stellte diese zunächst vor eine Reihe von Problemen, da keine institutionellen Strukturen die Zeit der Verfolgung überdauert hatten. 219

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Daher war der Aufbau einer kirchlichen Hierarchie eine ebenso wichtige Aufgabe wie der Kampf um die Rückerstattung des vormaligen Eigentums. Ein im April 1990 verabschiedetes Gesetz sah vor, daß alle konfiszierten Güter, mit Ausnahme des Grundbesitzes, der verstaatlicht wurde, an die griechisch-katholische Kirche zurückzuerstatten seien. Über die jeweiligen Fälle sollte eine gemischte Kommission aus Vertretern der beiden Konfessionen entscheiden. Die Forderungen der griechisch-katholischen Kirche nach einer Restitutio in Integrum von rund 1.800 Gebäuden wurden von der rumänischorthodoxen Kirche umgehend mit dem Verweis auf die nunmehr sehr kleine Anzahl von Unierten – 2011 waren dies noch rund 165.000 Personen bei deutlich sinkender Tendenz – zurückgewiesen. Nach diesem Mißerfolg änderte die griechisch-katholische Kirche ihre Strategie und forderte die Rückgabe ausgewählter Bauten, darunter auch der Wallfahrtskirche und der Klostergebäude in Nicula. Die rumänisch-orthodoxe Kirche zeigte sich zu Lebzeiten des Metropoliten Anania jedoch zu keinerlei Konzessionen bereit. Hierbei argumentierte man, daß das Kloster immer schon orthodox gewesen sei, wobei weder die Existenz eines Klosters vor Ort noch dessen Zugehörigkeit zur griechisch-orthodoxen Konfession dokumentarisch eindeutig belegt sind. Trotzdem feierte man 2002 in Nicula 450 Jahre seit der Gründung des Klosters. In diesem Rahmen wurde feierlich der Grundstein zur Errichtung eines ökumenischen Zentrums gelegt. Dessen Herzstück bildet ein Kirchenneubau, der gegenwärtig kurz vor der Fertigstellung steht. Mit seinen byzantinisierenden Formen stellt er einen programmatischen Gegenakzent zur steinernen Wallfahrtskirche dar, die einem schleichenden Verfall preisgegeben wurde. Trotz der Proteste der griechisch-katholischen Kirche und des noch schwebenden juristischen Rückgabe-Verfahrens wurde das Bauprojekt weiter vorangetrieben. Aber auch jenseits der ungelösten Eigentumsfrage mit Blick auf die Kirche von Nicula und somit auch auf die darin aufbewahrte Ikone der Gottesmutter wurde den Unierten eine Nutzung des Areals für Gottesdienste verwehrt. Im Dezember 2001 formulierte eine rumänisch-orthodoxe Gruppe einen Kompromißvorschlag, der eine gemeinsame Nutzung des Marienheiligtums von Nicula nach dem Vorbild der Jerusalemer Grabeskirche vorsah. Diese Initiative wurde von dem Metropoliten Bartolomeu Anania abgeschmettert: Man brandmarkte die Initiatoren des Schreibens unter Verweis auf die zeitgleich in Rumänien geführte Debatte um die Föderalisierung des Landes pauschal als „griechisch-katholisch“ und unterstellte ihnen, das Land destabilisieren zu wollen. Diese Stellungnahme steht eindeutig in einer Kontinuitätslinie, deren Anfänge in der Zwischenkriegszeit liegen und die durch die kommunistischen Verfolgungen zwischen 19�8 und 1989 eine zusätzliche negative Überformung erfuhren. Gleichzeitig markiert die gegenwärtige Situation einen sicherlich für alle beteiligten Gruppen unbefriedigenden Zustand. Die konfliktreiche Geschichte der beiden verwandten Gnadenbilder in Klausenburg und Nicula, die in den vergangenen drei Jahrhunderten von Gläubigen unterschiedlicher Ethnien und Konfessionen verehrt wurden, hat somit immer noch kein versöhnliches Ende gefunden. 220

Nicula

VII. Auswahlbibliographie Historia Residentiae Societatis Jesu. Claudiopolitanae 1701, wiederabgedruckt in rus, Vasile: Operarii in Vinea Domini. Misionari iezuiti in Transilvania in sec. XVI–XVIII [Arbeiter im Weinberg Gottes. Jesuitische Missionare in Siebenbürgen vom 16.–18. Jahrhundert], Bd. 2. Cluj-Napoca 2008, 187– 206; Grueber, Antonius: Historia Thaumaturgae Virginis Claudiopolitanae [...]. Claudiopolis 1737, wiederabgedruckt in duMitran, Ana/heGedűs, Enikő/rus, Vasile (Hg.): Fecioarele înlăcrimate ale Transilvaniei: preliminarii la o istorie ilustrată a toleranţei religiose [Die weinenden Jungfrauen aus Siebenbürgen: Vorstufen zu einer illustrierten Geschichte der religiösen Toleranz]. Ausstellungskatalog Alba Iulia. Alba Iulia 2011, 151–37�; Ghibu, Onisifor: Catolicismul unguresc in Transilvania şi politica religioasă a statului român [Der ungarische Katholizismus in Siebenbürgen und die Kirchenpolitik des rumänischen Staates]. Cluj 1924; boJor, Victor: Maica Domnului dela Sf. Mănăstire din Nicula [Die Muttergottes aus dem heiligen Kloster in Nicula]. Gherla 1930; biró, Vencel: A kolozsvári piarista templom alapítása [Die Errichtung der Klausenburger Piaristenkirche]. Cluj-Kolozsvár 1932; Mânzat, George: Vechile mănăstiri din ţinutul Someşului [Alte Klöster aus dem Someş-Gebiet]. In: Cultura Creştină 16/10 (1936) 583–591; naGhiu, Iosif E.: Baza pelerinajului la Nicula [Die Grundlage der Wallfahrt nach Nicula]. In: Renaşterea �1 (1938) 2–3; popescu, Ion Apostol: Arta icoanelor pe sticlă de la Nicula [Die Kunst der Hinterglasmalerei der Ikonen von Nicula]. Bucureşti 1969; popa, Atanasie: Monumente istorice dispărute. Bisericile de lemn din Nicula şi Libotin [Verschwundene historische Denkmale. Die Holzkirchen in Nicula und Libotin]. In: Acta Musei Napocensis 12 (1975) 251–257; B. naGy, Margit: Adalékok a mikolai Mária-ikon történetéhez [Angaben zur Geschichte der MarienIkone von Nicula]. In: dies.: Stílusok, művek, mesterek. Művészettörténeti tanulmányok. Bukarest 1977, 2�–31; poruMb, Marius: Die rumänische Malerei in Siebenbürgen, Bd. 1. Cluj-Napoca 1981; sziLárdfy, Zoltán: Barokk szentképek Magyarországon [Barocke Heiligenbilder aus Ungarn]. Budapest 198�, Kat. Nr. 21; daMMert, Udo: Die rumänische Hinterglasikone. Die weinende Maria von Transsylvanien. In: Weltkunst 57 (1987) 1961–1965; rósza, György: Thesenblätter mit ungarischer Beziehung. In: Acta Historiae Artium 33 (1987–1988) 257–289; niessen, James: The Greek Catholic Church and the Romanian Nation in Transylvania. In: ders./hiMKa, John-Paul/fLynn, James T. (Hg.): Religious Compromise, Political Salvation: the Greek Catholic Church and Nation-building in Eastern Europe. Pittsburgh 1993, �9–51; Gillet, Olivier: Religion et nationalisme. L’ideologie de l’Eglise orthodoxe roumaine sous le régime. Bruxelles 1997; sas, Péter: A kolozsvári piarista templom [Die Piaristen-Kirche in Klausenburg]. Kolozsvár 1999; barna, Gábor: Gnadenorte der „tränenden Marienbilder“ in Ungarn. Mittel der Ideologie der katholischen Restauration und der kirchlichen Union. In: Acta Ethnographica Hungarica �5/1–2 (2000) 137–1�9; cobzaru, Dumitru: Monografia Mânăstirii „Adormirea Maicii Domnului“ Nicula [Monographie des Klosters „Entschlafung der Muttergottes“ in Nicula]. Nicula 2001; soMeşeanuL, Vasile/cobzaru, Dumitru (Hg.): Nicula, icoana neamului, �50 de ani de atestare documentară [Nicula, die Ikone der Nation, �50 Jahre seit der urkundlichen Erstnennung]. Nicula 2002; Mahieu, Stéphanie: Pour une anthropologie des variations religieuses. La recréation de l’Eglise gréco-catholique de Roumanie après 1989. Thèse de Doctorat. Ecole des Hautes Etudes en Sciences Sociales 2003 (Typoskript); Mahieu, Stéphanie: Legal recognition and recovery of property. Contested restitution of the Romanian Greek Catholic church patrimony. Halle/ Saale 2004; vasile, Cristian: Episcopia de Cluj-Gherla în anul 19�8 [Das Bistum Cluj-Gherla im Jahr 19�8]. In: Studia Universitatis Babeş Bolyai – Theologia Catholica �9/1 (200�) 1–7; rus, Vasile: Pro Scientiarium Academia. Calvaria şi şcolile iezuite din Cluj (sec. XVI–XVIII) [Pro Scientiarium Academia. Calvaria und jesuitische Schulen in Klausenburg (16.–18. Jahrhundert)]. Cluj-Napoca 2005; stan, Lavinia/turcescu, Lucian: Pulpits, Ballots and Party Cards. Religion and Elections in Romania. In: Religion, State and Society 33/� (2005) 3�7–366; veress, Ferenc: A kolozsvári jezsuita templom építése [Die Errichtung der Klausenburger Jesuitenkirche]. In: sziLá, Csaba (Hg.): A magyar jezsuiták küldetése a kezdetektől napjainkig. Piliscsaba 2006, �1�–�23; bahLcKe, Joachim/zach, Krista (Hg.):

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Robert Born

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Der Berg der Kreuze I. Zusammenfassung. – II. Geschichte des Ortes bis 1940. – III. Neue Interpretationen unter der sowjetischen Herrschaft. – IV. Zwischen religiösem Erinnerungsort und touristischer Attraktion: der „Berg der Kreuze“ nach 1990. – V. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Als „Berg der Kreuze“ wird ein Hügel nördlich des litauischen Schaulen bezeichnet, auf dem an der Stelle des mittelalterlichen Burghügels Jurgaičiai seit Mitte des 19. Jahrhunderts Kreuze als Dank für erfolgte Wunderheilungen aufgestellt wurden. Dieser Ort einer unregulierten Volksfrömmigkeit erfuhr in sowjetischer Zeit, vor allem seit der Mitte der 1950er Jahre, eine starke Belebung, die nun die politische Konnotation eines Widerstandsaktes gegen die sowjetische Religionspolitik erhielt. Versuche der Kommunistischen Partei, den Sinngehalt des Berges umzudeuten oder aber diesen ganz zu sperren und die Kreuze zu beseitigen, blieben erfolglos. In den letzten Jahren der sowjetischen Herrschaft und in den Wendejahren nach 1990 wurde der „Berg der Kreuze“ zu einem Symbol religiöser und nationaler Erinnerung. Heute zählt er zu den wichtigsten Wallfahrtsorten nicht nur in Litauen, sondern im ganzen Baltikum. In den letzten Jahren ist freilich die Weiterentwicklung des Ortes zwischen verschiedenen Gruppen, die konträre traditionalistisch-religiöse und modernistisch-touristische Konzepte der weiteren Nutzung vertreten, umstritten.

II. Geschichte des Ortes bis 1940 Berge mit Kreuzen sind ein einzigartiges Phänomen im Norden Litauens, wo das Christentum erst am Ende des Mittelalters Aufnahme fand. Seit Mitte des 16. Jahrhunderts werden noch zwei weitere Berge mit Kreuzen im Norden Litauens erwähnt. Einer befand sich bei Telšiai im Westen des Landes, ungefähr 100 Kilometer westlich vom Berg bei Schaulen, ein anderer bei Linkuva im Norden, rund 50 Kilometer östlich von Schaulen. Der Ort im Westen Litauens ist noch auf einer topographischen Karte des späten 18. Jahrhunderts vermerkt. Man vermutete hier ursprünglich Stätten eines vorchristlichen Totenkults, deren Tradition als Kultort die christliche Kirche fortgeführt habe, wobei der Kult mit inhaltlichen Bezügen zum neuen Glauben verbunden worden sei. Einen vergleichbaren Ort gibt es auch in Polen, er gehört dort zum Kultbereich der orthodoxen Kirche. Nicht weit von Drohiczyn im südlichen Podlachien gibt es einen „Berg der Kreuze“ (Święta Gora Grabarka), dessen Geschichte sich bis zum Beginn des des 18. Jahrhunderts zurückverfolgen läßt. Bewohner der Umgebung kamen dorthin, um einer Pestepidemie auszuweichen; der Dank für ihre als Wunder verstandene Rettung gab den 223

Arūnas Streikus

Anstoß dafür, mit der Errichtung von Kreuzen für körperliche und geistige Gesundheit oder Gesundung Gott zu danken. Im Bewußtsein der Litauer hatte das Kreuz verschiedene, manches Mal auch gegensätzliche Bedeutungen. Vor dem Hintergrund der Kämpfe gegen den Deutschen Orden, dessen Kennzeichen das Kreuz war, wurde es anfangs als Symbol von Gewalt und Unterdrückung wahrgenommen. Erst allmählich wandelten sich die mit dem Kreuz verbundenen Einstellungen, wobei sich genuin christliche Inhalte und Elemente des Volksglaubens vermengten. In der Folge wurde die Tradition, Kreuze in privaten und öffentlichen Räumen zu errichten, so stark, daß Litauen öfter geradezu als ,,Land der Kreuze“ bezeichnet wurde und das Kreuz selbst zum Kennzeichen des litauischen Katholizismus aufstieg. Der „Berg der Kreuze“ bei Schaulen ist verhältnismäßig ltnismäßig jung. Seine religiöse Geschichte setzt an diesem Ort, an dem sich vom 11.–14. Jahrhundert eine litauische Befestigung aus Holz gegen die Angriffe der Deutschordensritter befand, erst in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts ein, als Litauen ein Teil des Russländischen Reiches war. Der erste Hinweis auf eine beginnende Tradition, hier Kreuze aufzustellen, findet sich in einem Inventar der Landgüter des Gebietes Schaulen aus dem Jahr 1850, in dem es heißt: „Es wird nun auch auf dem Schloßberg von Jurgaičiai ein Heiligtum beschrieben. Obwohl dieser Berg bis 18�7 nicht für christliche Begräbnisse benutzt wurde und auf ihm niemals Kreuze standen, finden sich hier nun ungefähr zwanzig Kreuze. Nach der örtlichen Überlieferung, geschah dies deshalb, weil ein Bewohner aus dem Dorf Jurgaičiai, der an einer schweren Krankheit litt, 18�7 das Gelübde abgelegt hatte, im Fall seiner Gesundung auf dem Berg ein Kreuz aufzustellen. Als er nun tatsächlich gesund wurde und sich diese Nachricht in der Gegend verbreitete, brachte man im Laufe von drei Jahren aus den weiter entfernten Dörfern so viele Kreuze, wie man heute hier sehen kann.“ Seit Beginn des 20. Jahrhunderts finden sich zunehmend Angaben über den „Berg der Kreuze“ in der litauischen Presse. So zählte der Archäologe Ludwik Krzywicki 1902 auf dem Berg insgesamt 155 Kreuze und berichtete auch von einer gemauerten Kapelle. Seinen Angaben zufolge wurden die Kreuze meistens von Kranken, die auch von weit entfernten Gebieten kamen, errichtet. Bisweilen versammelten sich große Menschenmengen auf dem als heilig angesehenen Platz. Ein Jahrzehnt später, 1912, veröffentlichte die Zeitschrift Šaltinis die erste Aufnahme vom Berg, die leider nur von geringer Qualität ist. Ein Kommentator, der das Thema direkt am Vorabend des Ersten Weltkriegs aufgriff, bedauerte den schlichten, ungeordneten Charakter der volkstümlichen Frömmigkeit, die an dem Wallfahrtsort zum Ausdruck komme. Es ist nicht ganz eindeutig, wie sich das religiöse Leben am „Berg der Kreuze“ in der Zwischenkriegszeit, als Litauen ein unabhängiger Staat war, entwickelte. Der Historiker Dangiras Mačiulis čiulis ist der Meinung, daß der „Berg der Kreuze“ bis zum Zweiten Weltkrieg nur von regionaler Bedeutung bei den litauischen Katholiken gewesen sei und keine große Breitenwirkung entfaltet habe. Der Heimatforscher Balys Buračas dagegen behauptete 1930, daß der Berg in ganz Litauen bekannt sei. Sein Artikel enthält überdies die Angabe, daß es damals dort mehr als �00 Kreuze gab. Eine andere Nachricht aus der örtlichen Zeitung sprach sogar von über 10.000 Menschen, die im Jahr 1928 an einer 224

Der Berg der Kreuze

Wallfahrt zum Berg teilgenommen haben sollen. Ein Photo von Vytautas Augustinas aus den frühen 1930er Jahren, das auch als Postkarte verbreitet wurde, legt nahe, von einer Verankerung der ikonographischen Vorstellung des Berges als eines der charakteristischen Zeichen der kulturellen Landschaft zu sprechen. Obwohl der „Berg der Kreuze“ bisher kaum Eingang in die litauische Kunst gefunden hatte, begeisterte der Ort schon damals ausländische Künstler. Der schwedische Schriftsteller Carl Mothander verfaßte nach einem Ausflug zum Berg im Jahr 1927 die Erzählung Der Berg des Flehens. In einem anderen Text äußerte sich Buračas 1930 allerdings eher zurückhaltend: ,,Die Errichtung der Kreuze nahm bei uns nach dem Krieg [dem Ersten Weltkrieg] stark ab, weshalb es gut möglich ist, daß die Kreuze vom ‚Berg der Kreuze‘ ebenfalls verschwinden werden.“ Unstrittig ist, daß der „Berg der Kreuze“ in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch nicht über den Status eines religiösen Erinnerungsortes auf nationaler Ebene, den er am Ende des Jahrhunderts hatte, verfügte. Die katholische Kirche zeigte in dieser Phase kein großes Interesse daran, den Ort einer besonderen volkstümlichen Frömmigkeit zu institutionalisieren. Die neue Kapelle, die auf dem Berg 1929 auf Initiative der örtlichen Gemeinde errichtet wurde, war derart geschmacklos, daß sie auf Wunsch der staatlichen und kirchlichen Behörden wieder abgerissen werden sollte. III. Neue Interpretationen unter der sowjetischen Herrschaft Der Stellenwert des „Berges der Kreuze“ veränderte sich im kollektiven Bewußtsein der Bevölkerung während der sowjetischen Herrschaft stark, wenngleich über seine Bedeutung in den ersten Nachkriegsjahren zunächst wenig bekannt ist. Man erzählt sich, daß viele Kreuze auf dem Berg in diesem Zeitraum von Familien aufgestellt wurden, die unter ihren Mitgliedern Opfer im bewaffneten Widerstand gegen die sowjetische Besatzung erlitten hatten. Einen signifikanten Bedeutungsanstieg erhielt der Berg erst nach dem Tod Stalins 1953, als Menschen, die das sowjetische Terrorsystem im Gulag oder in der Verbannung überlebt hatten, in ihre Heimat zurückkehrten und die Zahl der Kreuze auf dem Berg rasch anwuchs. Viele dieser Menschen wollten offenbar ein Kreuz als Zeichen ihrer Dankbarkeit an Gott beziehungsweise als Symbol ihrer Leiden auf dem Berg hinterlassen. Man sagt, daß allein in den Jahren von 1956 bis 1959 mehr als 1.000 Kreuze errichtet wurden. Damit erlangte der Ort erstmals eine ausgesprochen politische Bedeutung. In der sowjetischen Regierung gab dieser Bedeutungszuwachs Anlaß zu Überlegungen, den Ort möglicherweise für die Öffentlichkeit zu sperren oder ihn sogar ganz zu zerstören. Der anwachsende Ärger des Regimes über den „Berg der Kreuze“ fiel mit einer neuen antireligiösen Kampagne zusammen, die Ende der 1950er Jahre ihren Anfang nahm. Eines ihrer Hauptziele war die Vernichtung aller Formen religiösen Lebens, die die Grenze des alltäglichen Kultes überschritten, vor allem der wichtigsten Wallfahrtsorte. Das erste Signal zu einem Handeln in diese Richtung wurde am 20. April 1959 mit dem Beschluß des Politbüros des Zentralkomitees der Litauischen Kommunistischen 225

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Partei (ZK ZK LKP)) ,,Wegen der Maßnahmen, um die Pilgerschaft zu heiligen Orten stillzulegen“ gegeben. Der „Berg der Kreuze“ gehörte zu den ersten Namen auf dieser Liste. Zuerst versuchte man, die Wahrnehmung des Berges im kollektiven Bewußtsein zu ändern. Das bezeugen Publikationen in der sowjetischen Presse, die im Sommer 1959 auftauchten. Mit der klaren Absicht, den religiösen Sinn des Ortes zu parodieren, schrieb zum Beispiel der renommierte Journalist und Satiriker Jonas Bulota in seinen Artikeln über den Berg als eine Form der geistlichen Spekulation oder als potentielle Quelle verschiedener Krankheiten. Bulota wollte jedoch den „Berg der Kreuze“ als eine Gedenkstätte für den Kampf des litauischen Volkes gegen seine Ausbeuter umdeuten, indem er an ältere Traditionen der Wahrnehmung des Kreuzes als Symbol der sozialen und nationalen Unterdrückung anzuknüpfen versuchte. Eine derartige Umwandlung des Erinnerungsinhaltes stand im Zentrum aller propagandistischen Bemühungen der Sowjetmacht, um die Vernichtung der Kreuze auf dem Berg zu rechtfertigen. Dabei wurde auch die Behauptung verbreitet, daß die ersten Kreuze auf dem Berg für die dort beerdigten Teilnehmer der Aufstände von 1831 und 1863, die gegen die russische Besatzung gerichtet waren, errichtet worden seien. Da diese Aufstände im sowjetischen Bild der litauischen Geschichte vor allem als bäuerliche Protestbewegungen gedeutet wurden, schien diese Erklärung der Anfänge und des Charakters des Ortes besonders passend für die Umwandlung des religiösen Erinnerungsortes in ein Monument der sozialistischen Geschichte – ungeachtet der Tatsache, daß es für diese Umdeutung keine Anhaltspunkte in den historischen Quellen gab. In offiziellen Dokumenten der sowjetischen Behörden wurde der „Berg der Kreuze“ seit dieser Zeit nur als historisch-archäologisches Denkmal bezeichnet. Er wurde bald nach 1959 in die Liste der staatlich geschützten Denkmäler eingetragen, um so eine weitere ,,Störung“ durch das eigenmächtige Errichten von Kreuzen zu verhindern. Das Verbot, dort Kreuze aufzustellen, wurde ausdrücklich am 12. Januar 1961 im Befehl des Komitees für Naturschutz ,,Wegen der Erklärung des Schloßberges von Jurgaičiai zum Denkmal der Natur und Geschichte“ formuliert. In dieser Erklärung vermied man sogar den Namen ,,Berg der Kreuze“, um jede Verbindung des Ortes mit dem Glauben im kollektiven Gedächtnis auszulöschen. Auf diese Weise bereitete man Schritt für Schritt die endgültige Vernichtung der Kreuze auf dem Berg vor, was in offiziellen Verlautbarungen als „Reinigung“ bezeichnet wurde. Am 27. März 1961 veröffentlichte das ZK der LKP den Beschluß, den Schloßberg von Jurgaičiai in Verbindung mit dessen hundertjährigem Jubiläum „in Ordnung“ zu bringen. Die Maßnahme sah eine „Reinigung des Schloßberges von Jurgaičiai von den dastehenden Kreuzen“ vor und kündigte ,,die Errichtung eines Gedenksteines mit der Inschrift ‚1861–186�‘“ an. Der Beschluß wurde von den örtlichen Behörden am 5. April 1961 durchgeführt, indem mit Hilfe von Militär und Traktoren alle Kreuze umgestürzt und zerstört wurden. Der Berg war während der ganzen Aktion von Miliz-Einheiten umgeben. An einem Tag wurden mehr als 2.000 Kreuze fortgeschafft, darunter 151 eiserne und 112 steinerne, außerdem viele kleine Kreuzchen und Medaillons. Einige Tage später 226

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wurde der Berg endgültig „in Ordnung“ gebracht, mit Gras besät und mit Zierbüschen bepflanzt. Trotz des staatlichen Vandalismus starb die Tradition, Kreuze auf dem Berg aufzustellen, nicht aus. Immer wieder fand man morgens neue auf dem Hügel. Einen besonders starken Anstoß gab dafür die Selbstverbrennung von Romas Kalanta im Mai 1972. In den folgenden Monaten wurden derart viele Kreuze aufgestellt, daß die sowjetischen Behörden im April 1973 erneut den Berg „reinigen“ mußten. In dieser zweiten Aktion wurden rund 400 Kreuze beseitigt. Schon am 19. Mai stellte eine Gruppe von örtlichen religiösen Aktivisten jedoch ein neues Kreuz auf dem Berg auf, drei Meter hoch, als unübersehbares Zeichen der Sühne für die Sünden des litauischen Volkes. Die Tat versetzte die staatlichen Behörden umso mehr in Zorn, da sie zeitgleich mit Protesten zum Jahrestag von Kalantas Selbstverbrennung geschah. Seitdem fanden nahezu jedes Jahr solche „Reinigungsaktionen“ statt, freilich ohne Erfolg: Schon nach wenigen Tagen standen am Berg abermals Kreuze. Der letzte Versuch, die Kreuze auszurotten, datiert auf das Jahr 1985, als man Dutzende mutwillig zerbrach. Die erfolglosen Versuche des Regimes, den „Berg der Kreuze“ zu vernichten, und auch die standhaften Bestrebungen der Gläubigen, ihn wiederzubeleben, wurden in der Untergrundzeitschrift Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika (Chronik der Litauischen Katholischen Kirche) genau festgehalten. Dadurch erfuhr man auch im Ausland viel über den Ort, da die Chronik in zahlreiche Sprachen übersetzt wurde. In der Zeitschrift, die schon bald zum Symbol des katholischen Widerstands gegen die Beschränkungen des kirchlichen Lebens werden sollte, fand sich immer häufiger auch die Schilderung des „Berges der Kreuze“ als eines litauischen Golgatha. Der Historiker Dangiras Mačiulis vertritt deshalb die Auffassung, daß der Zeitraum von 1960–1990 der wichtigste in der Geschichte des „Berges der Kreuze“ war, als dieser nicht nur ein Symbol individuellen religiösen Selbstbewußtseins, sondern auch des Widerstands gegen das sowjetische Regime war und dadurch breite Bekanntheit erlangte. Die Bemühungen der sowjetischen Regierung, den „Berg der Kreuze“ zu vernichten oder wenigstens das mit ihm verbundene Erinnerungspotential zu transformieren, schufen bei Lichte besehen einen neuen religiösen Erinnerungsort in Litauen. Dazu trug auch die Tatsache bei, daß der Berg einen der wenigen Räume im totalitären Staat bot, wo eine Person ihren Glauben bekennen konnte, ohne ihre Anonymität zu gefährden. Das wird verständlich, wenn man bedenkt, daß die institutionalisierten Formen des kirchlichen Lebens während der Sowjetzeit unter scharfe Überwachung gestellt waren und deswegen für bestimmte Gruppen unzugänglich blieben. Wegen seiner Entlegenheit, Heimlichkeit und Einsamkeit taugte der Berg in besonderer Weise als Ausdruck eines religiösen Individualismus ohne klare konfessionellen Begrenzungen, der so charakteristisch für eine moderne beziehungsweise postmoderne Gesellschaft ist.

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IV. Zwischen religiösem Erinnerungsort und touristischer Attraktion: der „Berg der Kreuze“ nach 1990 In den letzten Jahren der sowjetischen Herrschaft und in den Wendejahren nach 1990 bildete der „Berg der Kreuze“ einen freien Raum für den Aufbruch nicht nur individueller, sondern auch kollektiver religiöser und nationaler Gefühle, die lange unterdrückt gewesen waren. Kreuze wuchsen auf dem Berg wie Pilze nach dem Regen, Pilgerschaften strömten aus allen Gegenden des Landes. Im September 1990 versuchte eine Gruppe von Studenten der Universität Schaulen, die Kreuze auf dem Berg zu zählen. Die Zählung ergab mehr als 14.000 stehende Kreuze, an denen noch rund 41.000 kleinere Kreuzchen hingen. Da der Platz auf dem Hügel selbst schon lange nicht mehr ausreichte, stellte man weitere Kreuze daneben auf. Durch den Besuch Papst Johannes Pauls II. im September 1993 wurde der „Berg der Kreuze“ vom nationalen Symbol zu einem internationalen Zeichen des katholischen Glaubens erhoben. Der Papst hob in einer Predigt sowohl den religiösen als auch den nationalen Charakter des Gedenkortes hervor: „Steigen wir auf diesen ‚Berg der Kreuze‘ und erinnern uns an alle Söhne und Töchter Ihres Landes, die einst verurteilt und ins Gefängnis geworfen, in Konzentrationslager geschickt, nach Sibirien oder Kolyma verschleppt, zum Tod verurteilt worden sind. [...] Söhne und Töchter Ihres Landes brachten auf diesen Berg Kreuze, die dem Kreuz von Golgatha, an dem unser Erlöser gestorben ist, gleichen. Auf diese Weise erklärten sie den Glauben, daß ihre Brüder und Schwestern, obwohl sie auf verschiedene Weise getötet wurden, das ewige Leben haben.“ Der Papstbesuch führte zugleich zu einer zweifachen Institutionalisierung des Objektes. Einerseits wurde der Berg nun in kirchliche Strukturen eingebunden. Während seines Besuchs im Franziskanerkloster auf dem Berg La Verna in der Toskana, kurz nach der Reise nach Litauen, forderte Papst Johannes Paul II. die Franziskaner auf, ein Kloster am „Berg der Kreuze“ zu errichten. Dabei verknüpfte der Heilige Vater eindeutig die franziskanische Tradition der Frömmigkeit mit der Art volkstümlicher Verehrung, die den „Berg der Kreuze“ seither prägt. Die Franziskaner nahmen die Einladung bereitwillig an, und schon im Sommer 2000 konnte ihr Kloster feierlich eingeweiht werden. Damit wurde den Franziskanern auch die Sorge um den „Berg der Kreuze“ übertragen. Ihr Haus neben dem Berg sollte nicht nur als Novizenhaus der litauischen Provinz dienen, sondern auch eine Unterkunft und geistliche Dienste für die zahlreichen Pilger anbieten. Des weiteren wurde der „Berg der Kreuze“ zum Symbol des 1997 neugegründeten Bistums Schaulen. Bischof Eugenijus Bartulis legte schon eine Woche nach seinem Einzug in die Domkirche den Ablaßtag (den letzten Sonntag im Juli) auf dem Berg fest. Das neue kirchliche Fest erhielt, unter Beteiligung von allen Bischöfen und großen Massen von Gläubigen, rasch nationale Geltung. Wallfahrten von Schaulen zum Berg und vom Berg nach Šiluva, dem anderen berühmten Wallfahrtsort in Litauen, erfreuen sich seither großer Popularität, besonders unter jungen Menschen. Um den „Berg der Kreuze“ zu einem Anziehungspunkt für die Jugend zu machen, griffen die Franziskaner und die Bis228

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tumsleitung auch zu neuen Formen; so wurden am Berg beispielsweise auch Konzerte mit christlicher Rockmusik veranstaltet. Andererseits wurde der „Berg der Kreuze“ zum Objekt staatlicher Kulturpflege. Er befindet sich auf einer Liste historischer, archäologischer und kultureller Objekte, die im Jahr 2007 von der Regierung angenommen wurde. Die staatlichen Behörden kümmern sich nicht nur um die Authentizität dieser Objekte, sondern auch darum, ihre touristische Anziehungskraft zu stärken. Die Stätte gewann zusätzlich an Gewicht, als der „Berg der Kreuze“ 2001 auf die UNESCO-Liste der Meisterwerke des mündlichen und immateriellen Erbes der Menschheit eingetragen wurde. Staatliche und kirchliche Interessen berühren sich im Projekt ,,Der Pilgerweg Johannes Pauls II. in Litauen“. Der „Berg der Kreuze“ stellt in diesem Zusammenhang einen wichtigen Punkt in dem Programm dar, den „Pilgerweg Johannes Pauls II.“ für Bedürfnisse von Pilgern und Touristen vorzubereiten (2007–2013). Als wichtiges touristisches Objekt verändern sich die Funktionen des „Bergs der Kreuze“ als Erinnerungsort. So entwickelt sich eine Popkultur, die ein gewandeltes Verständnis von der nationalen, kulturhistorischen und religiösen Bedeutung des Berges ausdrückt. Diese Entwicklung wird von der Kirche nicht durchwegs befürwortet. So kritisierte der Franziskanerpater Julius Sasnauskas in der Einleitung eines 2010 erschienenen Bildbandes über den „Berg der Kreuze“: „Die Gefahr ist groß, eine Perle auszuwählen, die Eigentümlichkeit des Ortes zu genießen, Neugier und Erstaunen zu verlieren, nicht zu fragen, warum dorthin nicht nur Exkursionen kommen. Endlich in diesem Meer von Kreuzen keine Anspielung darauf zu suchen, wer die Welt erlöst hat und immer noch erlöst.“ Die Eigentümlichkeit des Ortes kann aber auch dadurch gefährdet werden, daß der Plan des Bistums, eine Kirche direkt beim Berg zu errichten, realisiert wird. Als das Vorhaben im Sommer 2011 bekannt wurde, formierte sich sofort starker Widerstand, der eine Umsetzung zumindest vorläufig verhindert hat. Es ist das jüngste Beispiel der öffentlichen Diskussion über die weitere Entwicklung des Ortes, in der sich zwei Haupttendenzen scheiden. Die eine Seite bilden die ,,Traditionalisten“, die jede planmäßige Intervention in die Umgebung des Berges ablehnen; man kann eine solche Position, die den ursprünglichen Charakter des Objektes zu bewahren versucht, als eine ökologische, ethnographische und zugleich romantische bezeichnen. Sie ist aber kaum durchzuhalten, da der „Berg der Kreuze“ in den letzten beiden Jahrzehnten eine große Umwandlung von einem isolierten, lokalen Gedenkort zu einem Wallfahrtsort internationaler Geltung erfahren hat. Anhänger der anderen Position befürworten die Modernisierung der Gegend mit der Errichtung einer neuen Kirche, eines Museums, von Warenhäusern und Hotels. In dieser Spaltung spiegelt sich ein zweifaches Sinnbild des „Berges der Kreuze“ im kollektiven Bewußtsein wider. Einerseits funktioniert er als ein religiöser und zugleich nationaler Erinnerungsort, wobei mehrere Charakterisierungen nebeneinander verwendet werden: Symbol des Kampfes für nationale und religiöse Freiheit, Ausdruck für das Leiden des litauischen Volkes oder Symbol eines litauischen Golgatha, schließlich der Ort, der an den Besuch des Papstes erinnert. Daher rührt das Bestreben, den „Berg der 229

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Der Besuch von Papst Johannes Paul II. am „Berg der Kreuze“ am 7. September 1993 während seines Aufenthalts in Litauen. Bildnachweis: Kryžių kalnas ir jo fiksavimo vaizdais istorija [Der Berg der Kreuze und seine Geschichte in Bildern]. Šiauliai 2008.

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Kreuze“ als ein Objekt des nationalen Kulturerbes zu schützen. Andererseits bietet der Berg einen freien Raum für die Suche nach neuen Wegen ins Glaubensgeheimnis, wobei Stimmen eines internationalen beziehungsweise interkonfessionellen Gespräches zu hören sind. Dazu aber muß der „Berg der Kreuze“ für eine materielle und geistliche Weiterentwicklung offen bleiben. V. Auswahlbibliographie a) Quellen KrzyWicKi, Ludwik: Żmudź starożytna. Dawni Żmudzini i ich warownie [Das altertümliche Schemaitien. Die alten Schemaitier und ihre Burgen]. Warszawa 1906; buračas, Balys: Pilies kryžių kalnas [Der Schloßberg der Kreuze]. In: Trimitas 2� (1930) �85; buLota, Jonas: ,,Kryžių kalnas“ [,,Der Berg der Kreuze“]. In: Jaunimo gretos 8 (1959) 18–19; The Chronicle of the Lithuanian Catholic Church 1/1–9 (1981); puronas, Vilius: Kryžių kalnas. Paslaptys, legendos, padavimai [Der Berg der Kreuze. Geheimnisse, Legenden, Geschichten]. Šiauliai 1991.

b) Darstellungen bourdeaux, Michael: Land of Crosses. The Struggle for Religious Freedom in Lithuania 1939–78. Devon 1979; LauKaitytė, Regina: Lietuvos šventųjų vietų likvidavimo kampanija [Die Kampagne zur Vernichtung der heiligen litauischen Stätten]. In: Naujasis židinys-Aidai 11–12 (1999) 5�7–553; MačiuLis, Dangiras: Historical Development of the Hill of Crosses and its Surrounding Landscape. In: Reports Made at the International Conference „Historical Roots of the Hill of Crosses and its Preservation Problems“: February 2�–25, 2000. Šiauliai 2000, 2�–3�; streiKus, Arūnas: Antireligious Policy of Soviet Power in Lithuania and the Hill of Crosses. Ebd., 35–39; riMKus, Vytenis: Kryžių kalnas XXI amžiuje [Der Berg der Kreuze im 21. Jahrhundert]. In: Lietuviu̜ Kataliku̜ Mokslo Akademijos Metraštis 21 (2002) 85–87; Motuzas, Alfonsas: Kryžių kalno apeiginiai papročiai [Rituelle Bräuche des Berges der Kreuze]. In: Soter 13 (200�) 189–208; stanKuvienė, Rūta: Kryžių kalnas: vertybių divergencijos [Der Berg der Kreuze: eine Divergenz der Werte]. In: Inter-studia humanitatis 1 (200�) �8–5�; Kryžių kalnas ir jo fiksavimo vaizdais istorija [Der Berg der Kreuze und seine Geschichte in Bildern]. Šiauliai 2008; triMonienė, Rita: Kryžių kalnai Žemaitijoje XVI–XIX a.: liaudies christianizacijos problema [Berge der Kreuze in Žemaitija 16.–19. Jahrhundert: das Problem der Volkschristianisierung]. In: Menotyra 17 (2010) 37–50; Jurčys, Edis/KučinsKaitė, Elvyra: Kryžių kalnas. Gyvybės sodai [Der Berg der Kreuze. Garten des Lebens]. Vilnius 2010.

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Der Wallfahrtsort Međugorje I. Zusammenfassung. – II. Phänomen. – III. Verehrung. – a) 1980er Jahre: Konfrontation mit der Staatsmacht und Entwicklung zum Massenpilgerort. – b) Serbisch-kroatische Erinnerungskonflikte in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren. – c) Innerkatholische Deutungskonflikte. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der in der westlichen Herzegowina gelegene Ort Međugorje hat sich seit 1981, als die ersten Berichte über angebliche Marienerscheinungen dort publik wurden, zu einem Massenpilgerort entwickelt. In den späten 1980er und frühen 1990er Jahren wurde Međugorje in dieser Funktion in die serbisch-kroatischen Erinnerungskonflikte hineingezogen. Innerhalb der römisch-katholischen Kirche gibt es bis heute Uneinigkeit über die offizielle Anerkennung von Međugorje als Wallfahrtsort. II. Phänomen Am 2�. oder 25. Juni 1981 berichteten sechs Kinder, vier Mädchen und zwei Jungen, ihnen sei in der Nähe des Ortes Međugorje auf dem Crnica-Hügel die Jungfrau Maria erschienen und habe ihnen Botschaften mitgeteilt. Die sogenannten Erscheinungen der „Gospa“, wie die Gottesmutter in der Region genannt wird, dauern bis heute an. Damit bilden die Erscheinungen in Međugorje, wo fast ausschließlich katholische Kroaten leben, die längste Serie angeblicher Marienerscheinungen in der Geschichte der römisch-katholischen Kirche. Anfangs wurden die „Botschaften“ der Gottesmutter fast täglich veröffentlicht; seit 1987 ergeht jeweils am 25. eines jeden Monats eine an die Öffentlichkeit. Bei den Botschaften handelt es sich um relativ kurze Aussagen, in denen die Gottesmutter aus dem Mund von „Seherinnen“ und „Sehern“ zu Umkehr, tieferem Glauben, Gebet und Frömmigkeit aufruft. Besonders prominent ist dabei die Friedensbotschaft, weswegen die Gottesmutter in Međugorje vor allem als „Königin des Friedens“ verehrt wird. Die römisch-katholische Kirche in Gestalt des Vatikans und der Bischofskonferenz von Bosnien-Herzegowina hat allerdings die Erscheinungen bis heute nicht als „übernatürlich“ anerkannt und verbietet daher offizielle Wallfahrten nach Međugorje.

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III. Verehrung a) 1980er Jahre: Konfrontation mit der Staatsmacht und Entwicklung zum Massenpilgerort Die Nachricht von den angeblichen Erscheinungen stieß sowohl bei den Gläubigen in der 1892 gegründeten Pfarrei von Međugorje, die von Mitgliedern der herzegowinischen Franziskanerprovinz seelsorglich betreut wird, als auch in der weiteren Umgebung rasch auf großes Interesse. Die Staatsmacht dagegen reagierte – gut ein Jahr nach dem Tod Titos 1980 und nach den Unruhen in der Provinz Kosovo im Frühjahr 1981 – äußerst nervös auf die Ereignisse in Međugorje und erblickte in ihnen eine „klerikal-nationalistische“ Herausforderung für die sozialistische Gesellschaftsordnung. So kritisierte Branko Mikulić, hochrangiger Parteifunktionär aus Bosnien-Herzegowina und Mitglied des Staatspräsidiums in Belgrad, bereits am �. Juli 1981 die „Kleriker-Nationalisten“ in Međugorje, weil sie die ungebildete Bevölkerung verführten und gegen die Regierung aufhetzten. Der damalige Gemeindepfarrer von Međugorje, der Franziskaner Jozo Zovko, wurde verhaftet und in einem Gerichtsverfahren wegen „antisozialistischer Propaganda“ zu dreieinhalb Jahren Gefängnis verurteilt; die Strafe wurde später auf eineinhalb Jahren vermindert. In einem zweiten Prozeß im gleichen Jahr wurden zwei weitere Franziskaner zu zunächst acht und fünfeinhalb Jahren Haft verurteilt. Auch diese Strafe wurde später verringert, weil sie in der Kirchenzeitschrift Naša ognjišta (Unsere Feuerstätten) über das Phänomen in Međugorje berichtet hatten. In der staatlich kontrollierten Presse wurde eine Kampagne gegen die örtlichen Franziskaner eröffnet, denen man vorwarf, zur Verbreitung von Unfrieden und zu einer Revitalisierung der faschistischen Ustaša-Ideologie beizutragen. Erinnert wurde dabei auch immer wieder an die Massaker der Ustaše an der Zivilbevölkerung in der unmittelbaren Umgebung von Međugorje während des Zweiten Weltkriegs. Im Rahmen der jugoslawischen nationalitätenpolitischen Integrationsideologie von „Brüderlichkeit und Einheit“ (bratstvo i jedinstvo) wurde allerdings verschwiegen, daß es vornehmlich die serbische Bevölkerung war, die zu den Opfern der Ustaše gezählt hatte. Die restriktive staatliche Politik und deren Versuche, durch die Erinnerung an die Ustaša-Vergangenheit das Phänomen in Međugorje zu diskreditieren, konnten allerdings die Dynamik der Verehrung kaum mehr aufhalten; vielmehr dürften die staatlichen Maßnahmen, die Pressekampagne und die Gerichtsverfahren gegen die drei Franziskaner, über die auch westliche Medien ausführlich berichteten, zur Steigerung des Bekanntheitsgrads von Međugorje beigetragen haben. Innerhalb weniger Wochen und Monate stiegen die Pilgerströme nach Međugorje rasant an. Schätzungen zufolge sollen in den Anfangsjahren täglich 3.000 bis 5.000 Menschen Međugorje besucht haben, an kirchlichen Feiertagen sogar 10.000 bis 15.000, darunter auch Orthodoxe und Muslime. Den dritten Jahrestag der Erscheinungen im Jahr 198� feierten laut Presseberichten bereits 25.000 Pilger. Erst mit dem Ausbruch der Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina 1991/92 kam es zu einem vorübergehenden Rückgang der Pilgerzahlen. 233

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Zur raschen Verbreitung des Phänomens Međugorje trugen jedoch nicht nur – entgegen ihrer Intention – die staatlichen Repressionsmaßnahmen bei, sondern auch die gute Vernetzung einiger Franziskaner mit der internationalen charismatischen Bewegung. Weltweit entstanden in rascher Folge Gebets- und Unterstützungskreise für Međugorje. Die Međugorje-Anhänger, unter ihnen auch prominente katholische Mariologen wie René Laurentin, publizierten zahlreiche Schriften, um innerhalb der römisch-katholischen Kirche für die Echtheit der Erscheinungen zu werben. Allein in den USA wurden zwischen 198� und 1986 sechs solcher Bücher mit apologetischem Charakter veröffentlicht. Angesichts der Erfolgsgeschichte von Međugorje wichen die jugoslawischen Behörden schnell von ihrem anfänglich scharfen Konfrontationskurs ab und versuchten stattdessen, das Phänomen zu ignorieren; in der einheimischen Presse tauchte Međugorje bis Mitte der 1980er Jahre kaum mehr auf. Danach kam es zu einer grundlegenden Wende in der staatlichen Politik: Unter dem Eindruck der dramatischen wirtschaftlichen Lage und einer galoppierenden Inflation unterstützte das Regime ab Mitte der 1980er Jahre den Pilgertourismus nach Međugorje, um Devisen ins Land zu bringen. So beteiligte sich der Staat am Aufbau einer besseren Infrastruktur für die Pilger, und die großen jugoslawischen Touristenagenturen machten Werbung für Međugorje. Auch der Tenor in der Presse änderte sich: Die gleichen Zeitungen, die noch wenige Jahre zuvor über die „Kleriker-Nationalisten“ in Međugorje berichtet hatten, schrieben nun über die Segnungen des Pilgertourismus. Ende der 1980er Jahre hatte sich Međugorje zu einem internationalen Massenpilgerort entwickelt – paradoxerweise gefördert von einem sozialistischen Regime, das sich offiziell ein Absterben der Religion zum Ziel gesetzt hatte. b) Serbisch-kroatische Erinnerungskonflikte in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren Im Prozeß der nationalen Mobilisierung in Serbien in den 1980er Jahren wurde Međugorje zum Gegenstand der serbisch-kroatischen Auseinandersetzungen. Milan Bulajić, einer der maßgeblichen Protagonisten in Serbien bei der Neudeutung der Weltkriegsvergangenheit jenseits des bisherigen Interpretationsparadigmas von „bratstvo i jedinstvo“, nahm den Ustaša-Topos aus den Presseberichten von 1981 wieder auf, hob dabei aber nun prominent die serbische Opferrolle hervor. Zudem verwies er auf die wichtige Rolle der Jungfrau Maria in der Ustaša-Propaganda und die Verwicklungen des katholischen Klerus, vor allem der Franziskaner in der Herzegowina, in die Verfolgungen und „Umtaufungen“ orthodoxer Serben im „Unabhängigen Staat Kroatien“. Aus Sicht von Bulajić stellten die Ereignisse in Međugorje lediglich eine Fortführung der verbrecherischen Politik der Ustaše und den möglichen Auftakt zu einem neuen Völkermord an der serbischen Bevölkerung dar – eine Geschichtsinterpretation, die von vielen serbischen Medien und der Serbischen Orthodoxen Kirche übernommen wurde. In seinem Brief an die katholische Bischofskonferenz Jugoslawiens vom 26. Juni 1989 beklagte der hl. Synod der serbisch-orthodoxen Kirche das Schweigen der katholischen Kirche zu 234

Der Wallfahrtsort Međugorje

den menschenverachtenden Verbrechen der Ustaše: „Von der Unvergleichlichkeit dieser Ausrottung […] zeugt nicht [nur] die Zahl der Opfer, die unschuldig geschlachtet, […] und in zahlreiche Karsthöhlen – von jener bei Međugorje bis zu der in Jadovno – geworfen wurden. Davon zeugt ebenso sehr […] die schreckliche Tatsache, daß diese ganze teuflische Arbeit im Namen christlicher Prinzipien begangen wurde […].“ Das Phänomen Međugorje wurde somit in die Erinnerungskonflikte zwischen der katholischen Kirche und der serbisch-orthodoxen Kirche hineingezogen. Im Oktober 1990 startete die serbisch-orthodoxe Kirche eine einjährige Reihe von Gedenkgottesdiensten für die serbischen Opfer des Zweiten Weltkriegs; mehrere Gedenkveranstaltungen fanden auch in unmittelbarer Nähe von Međugorje statt. Im Dorf Prebilovci bei Čapljina, rund 12 Kilometer von Međugorje entfernt, wurde eine Kapelle errichtet, die den „Serbischen Neomärtyrern“ geweiht war. Auf dem umliegenden Friedhof wurden die sterblichen Überreste von über 800 Opfern der Ustaše begraben, die zuvor unter Teilnahme hoher katholischer Kirchenvertreter aus einer Karsthöhle bei Šurmanci, einem Ortsteil von Međugorje, exhumiert worden waren. Die verbalen Angriffe von serbischer Seite auf Međugorje sowie die anschließenden Kriege in Kroatien und Bosnien-Herzegowina bewirkten eine zunehmende nationale Instrumentalisierung des Erinnerungsorts Međugorje auf kroatischer Seite. Während des Krieges, von dem Međugorje weitgehend verschont blieb, diente der Ort dem „Kroatischen Verteidigungsrat“ (HVO) als Operationsbasis. Gleichzeitig strebten kroatische Nationalisten in Kroatien wie in Bosnien-Herzegowina danach, die westliche Herzegowina staatlich an Kroatien anzuschließen. Bei einem Besuch in Međugorje 1993 bewertete der damalige kroatische Präsident Franjo Tuđman die Erscheinungen der „Gospa“ als Ankündigung zur „Wiedererweckung der kroatischen Nation“. In dem Film The Miracle of Medjugorje. Gospa von Jakov Sedlar, einer kroatisch-amerikanischen Koproduktion aus dem Jahr 1995, kommt diese Deutung der Ereignisse ebenfalls zum Tragen: Der Gemeindepriester Jozo Zovko, gespielt von Martin Sheen, wird als frommer und friedfertiger Katholik dargestellt, der sich im Dienst der Wahrheit für die sechs „Seherinnen“ und „Seher“ und für die kroatische Nation gegen die kommunistischen Machthaber einsetzt und deswegen ins Gefängnis muß. Zum 20. Jahrestag der Erscheinungen 2001 lobte Tomislav Pervan, von 199� bis 2001 Provinzial der herzegowinischen Franziskanerprovinz, das „Wunder von Međugorje“, ohne das es heute keinen unabhängigen kroatischen Staat gäbe. c) Innerkatholische Deutungskonflikte Die Nationalisierung des Erinnerungsorts Međugorje stößt an zwei Grenzen: Auf der einen Seite ist Međugorje in der Gegenwart tatsächlich zu einem internationalen Pilgerort geworden, was die Umformung zu einem rein nationalen Wallfahrtsort verhindert; und auf der anderen Seite gibt es auch innerhalb der römisch-katholischen Kirche Deutungskonflikte um Međugorje – vor allem zwischen den örtlichen Katholiken, zwischen den herze235

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Međugorje hat sich zu einem Pilgerort entwickelt, der von einer bis in die 1990er Jahre immer stärker anwachsenden internationalen Pilgerschar besucht wurde. Zahlreiche Publikationen verbreiteten die Verehrung regional und in ganz Mitteleuropa. Im Vordergrund dieser Photographie, die einem in Kroatien mit Begleittexten in deutscher Sprache erschienenen Bildband entnommen ist, ist eine polnische Fahne zu sehen, im Hintergrund eine italienische. Bildnachweis: Landek, Ivan u. a.: Međugorje. Zagreb 1997, 6.

gowinischen Franziskanern und dem zuständigen Ortsbischof, dem Bischof von Mostar. In den ersten Wochen nach dem Bekanntwerden der Marienerscheinungen stand auch der damalige Bischof von Mostar, Pavao Žanić, dem Phänomen aufgeschlossen gegenüber und verteidigte die „Seherinnen“ und „Seher“ gegen die Angriffe des Regimes; doch schon im Laufe des Jahres 1981 distanzierte er sich von den Ereignissen in Međugorje und kritisierte diese als „Manipulation“ der Franziskaner. Mit ausschlaggebend für diesen Sinneswandel dürfte die Verknüpfung des Phänomens Međugorje mit dem sogenannten herzegowinischen Fall sein, einem bereits seit über 100 Jahren schwelenden Konflikt: Im Bistum Mostar konkurrieren seit der Wiedereinführung einer ordentlichen kirchlichen Hierarchie 1881 der Diözesanklerus und die Franziskaner, denen die gesamte Seelsorge während der osmanischen Zeit anvertraut war, um die pastorale Betreuung der Gläubigen. 236

Der Wallfahrtsort Međugorje

Aufgrund der traditionell großen Bedeutung der Franziskaner konnten sich die Bischöfe von Mostar oft gar nicht oder nur mit Hilfe disziplinarischer Maßnahmen aus Rom durchsetzen. 1982 suspendierte Bischof Žanić zwei Franziskaner, weil sie trotz Verbots weiterhin auf dem Gebiet seiner Dompfarrei pastoral tätig waren. Zu diesem Konflikt „nahm“ auch die Gottesmutter aus Međugorje „Stellung“ und verurteilte das Handeln des Bischofs, was zum Wendepunkt in dessen Verhältnis zu Međugorje wurde. Seitdem sind die Bischöfe von Mostar darum bemüht, den Međugorje-Kult zu bekämpfen. Zwei in den 1980er Jahren vom Bischof von Mostar eingesetzte Untersuchungskommissionen sowie eine spätere, von der Bischofskonferenz Jugoslawiens ins Leben gerufene kamen zu dem Ergebnis, daß es sich bei den Erscheinungen in Međugorje nicht um übernatürliche Ereignisse handele. Die Bischofskonferenz Jugoslawiens erklärte auf ihrer Sitzung in Zadar im April 1991, daß die Übernatürlichkeit der Ereignisse nicht bestätigt werden könne (non constat de supernaturalitate), riet aber angesichts der Pilgerströme zu einer angemessenen pastoralen Betreuung der Menschen, die Međugorje besuchten. Die Kompromisserklärung von Zadar interpretierte Bischof Perić, der Nachfolger von Bischof Žanić, jedoch dahingehend, daß das Phänomen Međugorje nicht übernatürlichen Ursprungs sei (constat de non supernaturalitate). Damit jedoch wurde die Legitimität sowohl der Verlautbarungen wie der gesamten Pilgerbewegung bestritten. Beim Thema „Međugorje“ bekämpfen sich Bischof Perić und die Franziskaner bis heute mit einer Vielzahl von Erklärungen und Publikationen, wobei sie auch vor persönlichen Angriffen nicht zurückschrecken. Dieser innerkatholische Deutungskonflikt strahlt auch auf die Weltkirche aus, wo sich ebenfalls begeisterte Anhänger und Gegner von Međugorje erbittert publizistisch bekämpfen. Der Konflikt spielt sich dabei vor allem innerhalb des „konservativen Lagers“ ab, zwischen sogenannten Charismatikern und Anhängern einer traditionellen Marienfrömmigkeit. Der Vatikan nimmt bis heute eine diplomatische Mittelposition ein und verweist bei Anfragen auf die Erklärung von Zadar. 2010 hat der Vatikan eine neue Untersuchungskommission zu Međugorje eingesetzt, die jedoch noch zu keinem Ergebnis gekommen ist. IV. Auswahlbibliographie cviic, Christopher: A Fatima in a Communist Land? In: Religion in Communist Lands 10 (1982) �–9; raMet, Pedro: The Miracle at Međugorje – A Functional Perspective. In: The South Slav Journal 8 (1985) 12–20; raMet, Pedro: Factionalism in Church-State Interaction: The Croatian Catholic Church in the 1980s. In: Slavic Review �� (1985) 298–315; Laurentin, René/rupčić, Ljudevit: Das Geschehen von Međugorje. Eine Untersuchung, Graz 1985; rupčić, Ljudevit: Die Wahrheit über Međugorje. Antwort auf eine Schrift von Bischof Žanić, Mostar. Jestetten 1991; ziMdars-sWartz, Sandra. L.: Encountering Mary: From La Salette to Međugorje. Princeton 1991; vuKonić, Boris: Međugorje’s Religion and Tourism Connection. In: Annals of Tourism Research 19 (1992) 79–91; oreč, Leonard: Fenomen Međugorja. Faktografija [Phänomen Međugorje. Faktographie]. In: Bogoslovska smotra 63 (1993) 6�–75; zovKić, Mato: Problematični elementi u fenomenu Međugorja [Problematische Elemente des Phänomens Međugorje]. In: Bogoslovska smotra 63 (1993) 76–87; MarKLe, Gerald E./Mccrea,

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Stefan Kube Frances B.: Međugorje and the Crisis in Yugoslavia. In: sWatos, William H. (Hg.): Politics and Religion in Central and Eastern Europe. Traditions and Transitions. Westport 199�, 197–207; bax, Mart: Međugorje: Religion, Politics, and Violence in Rural Bosnia. Amsterdam 1995; JurKovich, James M./ Gesler, Wilbert M.: Međugorje: Finding Peace at the Heart of Conflict. In: The Geographical Review 87 (1997) ��7–�67; Jones, E. Michael: The Međugorje Deception. Queen of Peace, Ethnic Cleansing, Ruined Lives. South Bend 1998; herrera, Juan A.: Međugorje: Ecclesiastical Conflict, Theological Controversy, Ethnic Division. In: Research in the Social Scientific Study of Religion 10 (1999) 137– 170; KutLeša, Dražen (Hg.): Ogleda pravde. Biskupski ordinarijat u Mostaru o navodnim ukazanjima i porukama u Međugorju [Spiegel der Gerechtigkeit. Das bischöfliche Ordinariat in Mostar zu den angeblichen Erscheinungen und Botschaften in Međugorje]. Mostar 2001; perica, Vjekoslav: Balkan Idols. Religion and Nationalism in Yugoslav States. Oxford 2002; rupčić, Ljudevit/nuić, Viktor: Još jednom istina o Međugorju [Noch einmal die Wahrheit über Međugorje]. Zagreb 2002; cLaverie, Elisabeth: Les guerres de Vierge. Une anthropologie des apparitions. Paris 2003; aLeKsov, Bojan: Marian Apparations and the Yugoslav Crisis. In: Southeast European Politics 5 (200�) 1–23; sKrbiš, Zlatko: The Apparitions of the Virgin Mary of Međugorje: the Convergence of Croatian Nationalism and her Apparitions. In: Nation and Nationalism 11 (2005) 443–461; župarić, Berislav: Bischof und Franziskaner: Zur aktuellen Lage im Bistum Mostar. Münster 2005 [unveröffentlichte Diplomarbeit]; foley, Donal Anthony: Understanding Međugorje. Heavenly Visions or Religious Illusion? Nottingham 2006; Leutar, Ivan/neuhoLd, Leopold/Leutar, Zdravka: Obilježja hodočasnika u Međugorju – motivi i značenje hodočašća [Charakteristika der Pilger in Međugorje – Motive und Bedeutung der Pilgerfahrt]. In: Bogoslovska smotra 77 (2007) 217–2�3.

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II. Artefakte: Die gegenständliche Dimension der Erinnerung

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Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica) I. Zusammenfassung. – II. Die glagolitische Sprache und Schrift. – III. Der glagolitische Gesang. – IV. Das Nebeneinander der Schriften. – V. Quellen. – VI. Revitalisierung. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung In der Geschichte der kroatischen Kultur waren insgesamt drei Schriften in Gebrauch: die lateinische, die kroatisch-glagolitische und die Bosančica als Variante des kyrillischen Alphabets. Besonders im Mittelalter wurden alle drei Schriften parallel verwendet. Glagolitisch diente als Alphabet für das Altkirchenslawische oder das Kirchenslawische kroatischer Redaktion. Seine Rolle als Erinnerungsort kann nur im Verbund mit den beiden anderen Schriften bewertet werden. Die glagolitische Schrift ist historisch untrennbar mit der in der katholischen Kirche einzigartigen glagolitischen Liturgie verbunden, dem römischen Ritus in kirchenslawischer Sprache. Sie ist also eine Schrift der Bibel und anderer liturgischer Bücher bei den Kroaten. Doch in ihr wurden auch Inschriften, Gesetzescodices, Statuten, Verwaltungstexte und sogar private Mitteilungen in gesprochener Sprache auf der Grundlage des čakavischen Dialekts abgefaßt. Der Protestantismus und die katholische Kirche bedienten sich des Glagolitischen, um die Menschen in den Gebieten des heutigen Kroatien zu erreichen und gleichzeitig eine Brücke in die übrige slawische Welt zu schlagen. Im heutigen Kroatien finden sich mehrere Tausend Denkmäler der glagolitischen Schrift in Stein oder auf Papier. Heute verwenden die Kroaten die lateinische Schrift, doch gewinnt die glagolitische in den letzten Jahrzehnten an Bedeutung für die kroatische Selbstwahrnehmung ihrer historisch gewachsenen Identität und Geschichte als einer eigenständigen und besonderen Entwicklung, die sich an der Nahtstelle verschiedener Kulturen entfaltete und Identität aus ihrer Vermittlerrolle schöpfte. Sie bildet heute einen Kristallisationskern für das Bewußtsein, eine facettenreiche Kultur und Tradition zu besitzen und eine eigenständige Rolle unter den Slawen und in der katholischen Kirche ausgefüllt zu haben. Im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit, die heute der glagolitischen Schrift in Forschung und Öffentlichkeit zuteil wird, steht das Anliegen, das Symbol eines Selbstverständnisses zu entfalten, das mehr Kontinuität aus Sprache und Kultur als aus Staat oder Staatsgebiet gewinnen kann. Es bedient sich also des Konzepts der Kulturnation, die sich um das besondere Merkmal der drei parallelen Schriften sammelt. So werden sowohl die Vermittlerrolle zwischen Ost und West als auch die Abgrenzung gegenüber dem Islam und der Orthodoxie als bestimmendes Charakteristikum der kroatischen Kultur betrachtet. In den drei Schriften, besonders der glagolitischen, verbinden sich die Treue zum Katholizismus, die historische Selbstwahrnehmung als Antemurale Christianitatis sowie 241

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die Vielsprachigkeit und reiche Schriftkultur zu einer heute wirksamen Kulturgrundlage. Papst Leo X. hatte 1519 die im Kampf gegen die Osmanen engagierten Kroaten als „Bollwerk der Christenheit“ bezeichnet und damit einen noch heute wichtigen Erinnerungsort des nationalen Selbstverständnisses der Kroaten begründet. Das „Wiederauffinden“ dieser autochthonen Wurzeln ermöglicht sowohl eine Abwehr gegenüber Vereinnahmungen in die slawische Welt, ohne jedoch die Zugehörigkeit zu dieser ganz zu verleugnen, als auch die Pflege eines polyglotten toleranten Selbstbildes auf der Höhe der europäischen Kultur. Die glagolitische Schrift stattet die Geschichte der kroatischen kulturellen Selbstwahrnehmung dabei mit einem Monument erster Güte aus, das Texte und Denkmäler aus vielen Jahrhunderten, die in zahlreichen Museen und Bibliotheken der Welt aufbewahrt werden, an einem symbolischen Ort versammelt und zur Grundlage für die Entwicklung der kroatischen Schriftsprache und Literatur ausbaut. Obwohl sich das Modell einer Schriftsprache auf kirchenslawischer und čakavischer Grundlage mit glagolitischem Alphabet historisch nicht durchsetzen konnte, eröffnet das kulturelle Selbstverständnis mit dem Erinnerungsort der Glagoljica eine Alternative zum jugoslawischen Modell der gepflegten, aber konfliktbehafteten kulturellen Verflechtung mit den Nachbarn. Grundlage ist die historische Gemeinsamkeit štokavischer Dialekte als Basis der Schriftsprache und der Konkurrenz zwischen lateinischem und kyrillischem Alphabet. II. Die glagolitische Sprache und Schrift Das Altkirchenslawische, eine südslawische Sprache auf bulgarisch-makedonischer Mundartgrundlage aus der Gegend um Saloniki, war die erste slawische Schriftsprache, und die Glagoljica, in der sie neben dem Kyrillischen geschrieben wurde, gilt als ältestes slawisches Alphabet. Sprache und Schrift wurden für die Verkündigung des christlichen Glaubens in der slawischen Sprache, die Übersetzung der wichtigsten kirchlichen Bücher und für die Liturgie entwickelt. Die Diskussion um die Entstehung des glagolitischen Alphabets ist noch nicht beendet. Es soll um das Jahr 863 von dem aus Byzanz zur Missionierung entsandten Slawenapostel Konstantin-Kyrill aus Saloniki als neues Alphabet für die mährische Mission entworfen worden sein. Zu seinen Vorbildern werden griechische Minuskeln, das georgische System, semitische Schriften und christliche Symbole wie Kreuz, Kreis und Dreieck gezählt. Die Urheberschaft der Glagoljica, die das Lautsystem des Südslawischen festlegte, wurde seit dem Mittelalter von den Kroaten und der katholischen Kirche dem hl. Hieronymus zugeschrieben und in Rom auch als illyrische Sprache und Schrift (lingua illyrica antiqua) bezeichnet. Im 19. Jahrhundert erhielt sie die Bezeichnung „Glagoljica“ nach dem Verb „glagoljati“ (sprechen), das in den Evangelientexten häufig verwendet wurde. Obwohl das glagolitische Schrifttum vorübergehend auch in Mähren, Pannonien, Böhmen, Bulgarien und Makedonien Fuß faßte, wurde es seit dem 10. Jahrhundert zunehmend durch die kyrillische Schrift verdrängt, die einige Zeichen der Glagoljica über242

Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica)

nahm. In Kroatien erfuhr es hingegen eine besondere Entwicklung – die glagolitische Schrift blieb bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts in Gebrauch. Sie wurde damit zu einem wichtigen Bestandteil der historischen Grundsituation der Mehrsprachigkeit, da sich die kroatischen Gebiete auf römischem Boden befanden und durch die Christianisierung bereits seit dem Beginn des 9. Jahrhunderts in die Schriftkultur des lateinischen Teils Europas eingegliedert wurden. Im 14. und 15. Jahrhundert wurde die spätmittelalterliche literarische Entfaltung des lateinischen Europa vollzogen, besonders von Dominikanern und einzelnen Magnaten. Die sich noch zu Lebzeiten der Slawenapostel Kyrill und Method in diesen Gebieten festigende kirchenslawische Schriftlichkeit traf daher auf eine mündliche Kultur und auf die lateinische Schriftsprache und schuf eine einzigartige Zweisprachigkeit auf allen Ebenen des formalisierten Sprachgebrauchs. Die Glagoljica entwickelte im 12. Jahrhundert in den kroatischen Gebieten aus der runden Variante eine eigene eckige Stilisierung und paßte sich dem čakavischen Lautsystem der gesprochenen Sprache an. Diese eckige Variante wurde seit dem 16. Jahrhundert im Buchdruck verwendet. Die ältesten Denkmäler des altkirchenslawisch-glagolitischen Schrifttums stammen aus dem 11. bis 13. Jahrhundert, besonders in der Epigraphik. Die sogenannte Tafel von Baška um 1100 (Baščanska ploča), eines der ältesten Denkmäler der kroatischen Sprache, ist in glagolitischer Schrift im Übergang von der runden zur eckigen Variante geschrieben. Seit dem 11. Jahrhundert entstanden viele glagolitische Steininschriften auf dem Boden des heutigen Kroatien. Man kennt ungefähr 1.000 Inschriften an Kirchenwänden, auf Grabsteinplatten und Gefäßen, die sich auf den Bau von Kirchen, Klöstern und Privathäusern sowie auf Kircheninventar und Gegenstände beziehen und über Namen, Herrschaftsstrukturen, Ambitionen, Leistungen und Alltag informieren. Die altkirchenslawischen liturgischen Texte in glagolitischer Schrift wurden im 12. Jahrhundert einer umfassenden kroatisch-kirchenslawischen Redaktion unterworfen und vollzogen gleichzeitig die römische Reform der liturgischen Bücher mit. Träger der glagolitischen Schriftkultur waren zumeist Weltpriester, die den glagolitischen Ritus feierten, sowie Benediktiner und Franziskaner des Dritten Ordens. Schon 880 hatte Papst Johannes VIII. im Breve Industriae tuae die Feier des römischen Ritus in kirchenslawischer Sprache und slawischer Schrift (glagolitisch oder kyrillisch) gestattet. 12�8 erhielt Bischof Philip von Senj die Erlaubnis von Papst Innozenz IV., die eigene Sprache und Schrift in der Liturgie zu verwenden, und 1252 erlaubte der Papst auch den Benediktinern auf der Insel Krk, die kirchenslawische Liturgie unter Benutzung der glagolitischen Schrift zu feiern. Die zahlreichen in Rom gedruckten glagolitischen Missale belegen, daß diese Ausnahmeregelung insgesamt für die glagolitische Liturgie galt, die besonders an der nördlichen Küste und den vorgelagerten Inseln Kroatiens gefeiert wurde. Seit dem Ende des 14. Jahrhunderts entwickelten sich Buchkursive und Kanzleikursive. Es entstanden liturgische Kodices in Unzialschrift mit Illustrationen. 1�83 erschien das in glagolitischen Buchstaben gedruckte Missale Romanum Glagolitice. Zwischen 1�83 und 1812 entstanden insgesamt 71 gedruckte kroatisch-glagolitische Ausgaben (davon 243

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fünf Inkunabeln), die in Košinj, Senj, Rijeka, Bologna, Vendig, Rom, Tübingen (Urach) und Nürnberg erschienen. Der Protestantismus nutzte die glagolitische und kyrillische Schrift sowie die kirchenslawische Sprache, um seine Anliegen durch Druckerzeugnisse aus Deutschland in den Gebieten der Kroaten und anderer Südslawen zu verbreiten. In Urach bei Tübingen wurde in den fünfziger Jahren des 16. Jahrhunderts eine Druckerei von Flüchtlingen aus kroatischen und slowenischen Gebieten gegründet. Freiherr Hans Ungnad, engagierter Protestant und Kämpfer gegen die Osmanen, rief sie ins Leben und druckte dort von 1561 bis 1564 protestantische Bücher in drei Sprachen (Kroatisch, Slowenisch, Italienisch) und in drei Schriften (Glagolitisch, Kyrillisch und Lateinisch). Diese Bücher waren ebenfalls für Bosnien, Serbien und Bulgarien gedacht. Ungnad erhoffte sich dadurch auch eine Zurückdrängung des Islam. Die glagolitischen Buchstaben waren von Stjepan Konzul Istranin in Nürnberg gegossen worden. Als Übersetzer trat besonders Antun Dalmatin hervor. 1561 wurde ein glagolitischer Katekizam (Katechismus) gedruckt. In vier Jahren verließen 13 glagolitische, sieben kyrillische und sechs lateinische Bücher die Druckerei von Urach, die unter der Leitung des Slowenen Primož Trubar stand. Ihr Impressum gab meistens den Druckort Tübingen an. Die größte Leistung des Uracher Projekts bestand in der Übersetzung des Neuen Testaments in die kroatische Sprache in glagolitischer und kyrillischer Schrift. Konzul und Dalmatin bemühten sich dabei um ein allgemein verständliches Kroatisch und verwendeten als Grundlage die nordčakavische Sprache, durchsetzt mit kajkavischen, štokavischen und kirchenslawischen Elementen. Deshalb gelten sie als die zweiten Kyrill und Method. Die Uracher Bücher wurden heimlich nach Wien und besonders nach Ljubljana vertrieben. Sie gelangten auch in die Hände glagolitischer Kleriker, die das in die gesprochene Sprache übersetzte Neue Testament gerne auch im römischen Gottesdienst verwendeten. Der Vertrieb der protestantischen Bücher wurde drakonisch bestraft. Die meisten Bücher wurden umsonst abgegeben. Zwischen 1561 und 156� verließen etwa 25.600 glagolitische Bücher Urach, von denen ungefähr 300 erhalten sind, meistens in Deutschland. Trotz dieses Engagements übte Urach wenig Einfluß auf den weiteren Verlauf der Literatur und Kultur der Kroaten aus: Der Protestantismus konnte sich nicht durchsetzen, und die Literatursprache sollte sich auf štokavischer Dialektgrundlage und in lateinischer Schrift entwickeln. Man nimmt an, daß die glagolitische Druckerei später nach Rom gebracht wurde und dort im 17. und 18. Jahrhundert, in der sogenannten römischen oder russischen Periode der kroatisch-kirchenslawischen Sprache und glagolitischen Schrift, zum Druck glagolitischer kirchlicher Bücher verwendet wurde. Damit hätten, wie es heißt, die sogenannten Glagoliten zwar ihre dringend benötigten liturgischen Schriften bekommen, aber gleichzeitig ihre Sprache verloren. Die Congregatio de Propaganda Fide hatte die Betreuung und den Druck der glagolitischen kirchlichen Publikationen übernommen, denn sie sollten endlich dem Tridentinischen Konzil (15�5–1563) angepaßt werden. Sie veröffentlichte drei Missale, drei Breviare, glagolitische Fibeln und die Dottrina cristiana breve von 244

Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica)

Roberto Bellarmino. Die gemeinsame kirchenslawische Sprache und Schrift der Kroaten sollten als Katalysatoren bei der Rückgewinnung orthodoxer und protestantischer Slawen für die katholische Kirche dienen. Deshalb wurden sie vereinheitlicht und gleichzeitig einer Russifizierung unterzogen, die zu Änderungen in der Sprache und im graphischen System nach den Normen der ostslawischen Redaktion des Kirchenslawischen führte. Dadurch wurde die Sprache der glagolitischen liturgischen Schriften in den kroatischen Gebieten weitgehend unverständlich. Diesem Problem begegnete die Congregatio mit dem gleichzeitigen Druck von Lektionaren in lateinischer Schrift und gesprochener Sprache auf štokavischer Grundlage, obwohl dies nicht ihrer Sprachpolitik entsprach. 1627 fiel in Rom die Entscheidung über die Schrift kroatischer Liturgiebücher. Der Kanonikus Ivan Tomko Mrnavić und der Franziskaner Rafael Levaković, die in Rom tätigen Redakteure der kirchlichen Bücher in sogenannter illyrischer (kroatisch-kirchenslawischer) Sprache, verwirklichten die Beschlüsse der Congregatio über den Druck dieser Bücher und gelten als Urheber ihrer Russifizierung. Anders als ursprünglich von Levaković beabsichtigt, der den Druck in allen drei oder in zumindest zwei Alphabeten für sinnvoll erachtete, wurden diese kirchlichen Bücher nur in der glagolitischen Schrift gedruckt. Sein glagolitisches Missale erschien 1631, das glagolitische Breviar 16�8. Die Glaubenskongregation hatte bereits 1629 die Fibel von Levaković (Azbukividnêk slovinskij) zum Erlernen der Glagoljica gedruckt, die das kyrillische und glagolitische Alphabet und den lateinischen Text des Ave Maria in beiden Schriften enthält. Erst Antun Parčić machte diese Entwicklung mit der Ausgabe des Rimski misal slovenskim jezikom 1893 wieder rückgängig. Das letzte Messbuch in glagolitischer Schrift erschien 1905 und 1927 in Rom, ein altslawisches Missale in lateinischer Transkription. III. Der glagolitische Gesang In Istrien, Mitteldalmatien und der Umgebung von Dubrovnik wurde, wie man annimmt, seit dem 9. Jahrhundert der glagolitische Gesang gepflegt. Man sang nach entsprechenden Liturgiebüchern in kroatisch-kirchenslawischer Sprache. In den erhaltenen Schriften finden sich keine Noten, aber Anleitungen zur gesanglichen Interpretation einer textlichen Vorlage, so beispielsweise im Messbuch des Fürsten Novak (1368) oder im Messbuch des Hrvoje Vukčić Hrvatinić (um 1�0�). Die Quellen dieser mündlichen Überlieferung liegen im byzantinischen Kirchengesang, im gregorianischen Choral und in katholischen liturgischen Gesang sowie in der folkloristischen Vokalmusik der Region. Fast nur sekundäre Quellen erteilen Auskunft über diese Gesangstradition. IV. Das Nebeneinander der Schriften Die drei Schriften waren im kroatischen Raum kontinuierlich in Gebrauch. Die kroatischen Stämme hatten die lateinische Schrift von der besiegten Bevölkerung im Raum 245

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der alten Illyrer und mit der Christianisierung übernommen. Die glagolitische Schrift in der slawischen Liturgie und die kyrillische Schrift kamen im 9. Jahrhundert hinzu und durchliefen seit dem 12. Jahrhundert eine eigenständige Entwicklung. Die Schriften wurden parallel gebraucht und treten in zahlreichen Quellen gemeinsam auf. Älteste altslawische Denkmäler sind in beiden Schriften verfaßt, und in glagolitischen Handschriften finden sich meist anonyme kyrillische Glossen oder Einschübe. Kyrillische Buchstaben wurden in glagolitischen Denkmälern verwendet, Dokumente beginnen glagolitisch und enden kyrillisch, oder beide Schriften wechseln sich ab. Im Münchner Abedecarium aus dem 11. Jahrhundert stehen bereits das kyrillische und das glagolitische Alphabet nebeneinander. Eine wichtige Quelle, die den gleichen Text in glagolitischer und kyrillischer Schrift überliefert, ist das Reimsko evanđelje (1395). Das glagolitische Schrifttum blühte in den mittleren und südwestlichen Gegenden des heutigen Kroatiens, sein Kerngebiet bildete die nördliche Adriaküste mit Istrien und den Inseln. Es wurde besonders in den zahlreichen Benediktinerklöstern gepflegt. Franziskaner und Dominikaner verwendeten die lateinische Schrift, während Benediktiner, Paulinermönche und Franziskaner des Dritten Ordens alle drei Schriften benutzten. Die kroatisch-kyrillische Schrift war bis ins 19. Jahrhundert im Raum von Šibenik bis zum Fluß Una im Nordwesten und im Süden bis zur Boka Kotorska in Gebrauch. Sie hatte viele Namen, auch den Namen Bosančica, und ihre ältesten Denkmäler stammen aus dem 11. oder 12. Jahrhundert, so die Tafel von Humac. Die glagolitische und die kroatisch-kyrillische Schrift entlehnten voneinander die Namen. So lautete die ursprüngliche Bezeichnung der Glagoljica „Kurilovica“, in Dubrovnik „Ćurilica“, und die Bewohner von Poljica nannten ihre kyrillische Schrift „unsere Glagoljica“. Die Schreiber der ältesten glagolitischen Handschriften konnten grundsätzlich auch kyrillisch schreiben. In den Glagolitenseminaren in Zadar und Priko bei Omiš mußte auch die kyrillische Schrift erlernt werden. Einflußreich sind auch die in der Bosančica geschriebenen Werke des bosnischen Franziskaners Matija Divković, besonders seine in Venedig gedruckten Besjede (Gespräche ) von 1616, die auch von den Glagoliten häufig benutzt wurden. Die kroatisch-kyrillische Schrift war auch in Dalmatien im täglichen Gebrauch. Wegen der Parallelität beider Schriften wurde in Rom im 17. Jahrhundert die Diskussion geführt, ob die kyrillische oder glagolitische Schrift in den Kirchenbüchern verwendet werden sollte. Seit dem 15. Jahrhundert begann man schließlich Texte in gesprochener Sprache und in lateinischer Schrift zu schreiben. Es erschienen Werke wie das Lekcionar von Bernardin aus Split von 1495, das Lekcionar von Ivan Bandulavić 16�1 und die Judita von Marko Marulić 1521. Der kroatische Humanismus oder Latinismus bedeutete die Durchsetzung der lateinischen Schrift und verwirklichte den vollen Anschluß an die westeuropäische schriftliche Kultur. Weltliche Bücher in lateinischer Schrift verdrängten das Glagolitische. Die kroatisch-kirchenslawische Sprache und glagolitische Schrift behielten jedoch besonders für den glagolitischen Klerus sowie für die Kirchenbücher während der Reformation und der römischen Periode des glagolitischen Schrifttums ihre Bedeutung. Ab 1614 wurde auch die kyrillische Schrift in Bosnien zurückgedrängt. Die 246

Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica)

glagolitische Schrift behielt allerdings immer ihre besondere Bedeutung als Monument der kroatischen Kultur, während die lateinische Schrift die Zugehörigkeit zur westlichen Sphäre manifestierte. Die kyrillische Schrift wurde dagegen seit dem 19. Jahrhundert zunehmend als Fremdkörper betrachtet. In der Geschichte der kroatischen schriftlichen Kultur wurden in der Regel die kroatisch-kirchenslawische und die gesprochene kirchliche Sprache in glagolitischer und in kroatisch-kyrillischer Schrift geschrieben, während die lateinische und die gesprochene weltliche Sprache in lateinischer Schrift geschrieben wurden. Die kroatisch-kirchenslawische Sprache in glagolitischer Schrift galt im Bewußtsein der Glagoliten lange als die eigentliche Schriftsprache und wurde als alte illyrische Sprache betrachtet. Der Illyrismus beendete als kroatische nationale „Wiedergeburt“ die Mehrsprachigkeit im 19. Jahrhundert und begründete die heutige Schriftsprache auf štokavischer Grundlage und in lateinischer Schrift. V. Quellen Das glagolitische Schrifttum war ein Begegnungsort westlicher und östlicher Texttraditionen und bestand zu einem großen Teil aus Übersetzungen. Übersetzt wurden kirchliche Texte nach lateinischen Vorlagen: biblische Bücher und Bibelzitate, liturgische Bücher, aber auch Heiligenlegenden, das Martyrologium und Apokryphen, Kompilationen moraldidaktischer Sentenzen sowie homiletische Literatur. Apokryphen und hagiographische Literatur anderer slawischer Herkunft gelangten besonders im 12. und 13. Jahrhundert in kroatische Handschriften. Glagolitische Sammelwerke aus dem 15. und 16. Jahrhundert nahmen das altslawisch-byzantinische Repertoire, die lateinisch-italienische Tradition und böhmische Quellen als Vorlagen für ihre Übersetzungen. Das 13�7 in Prag gegründete Benediktinerkloster Emmaus hatte die slawische Liturgie und die glagolitische Schrift, die in Böhmen im 11. Jahrhundert erloschen waren, erneuert. So sind Denkmäler in tschechischer Sprache und glagolitischer Schrift erhalten, und zahlreiche Bohemismen gelangten in das glagolitische Schrifttum. Auch Manuskripte aus Irland und England sowie weltliche Erzählprosa wie der Troja- und Alexanderroman wurden in glagolitischen Handschriften entweder in die kroatisch-kirchenslawische oder in die gesprochene Sprache auf čakavischer Grundlage in glagolitischer Schrift übersetzt, so das älteste Gesangbuch aus dem 14. Jahrhundert, Gospin plač (Marias Wehklage). In dieser Sprache auf čakavischer Grundlage und in glagolitischer Schrift wurden auch Texte von öffentlicher Bedeutung verfaßt: Gesetze, Statuten, Grenzbestimmungen, Urbarien, Ordensregeln, Konstitutionen, Matrikel, Privilegien, Protokolle, Akten und Register der Bruderschaften, Geburts-, Heirats- und Sterberegister sowie Erzählprosa und geistliche Dramen. Statuten und Gesetzesbücher wurden in kroatisch-glagolitischer und kroatisch-kyrillischer Schrift geschrieben. Unter den ältesten und wichtigsten Gesetzestexten sind hervorzuheben: Korčula codeks (Gesetzessammlung von Korčula, 121�), Istarski razvod (Istrische Grenzziehung, 1275) sowie Vinodolski zakonik (Gesetzbuch 2�7

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von Vinodol, 1288). Die Regel des heiligen Benedikt wurde im 12. Jahrhundert aus der lateinischen in die kroatisch-kirchenslawische Sprache (Regula sv. Benedikta) übersetzt und ist in einer glagolitischen Handschrift aus dem 14. Jahrhundert überliefert. Eine wichtige glagolitische Quellensammlung zur Rechts-, Wirtschafts- und Sozialgeschichte in den Gebieten des heutigen Kroatiens befindet sich in den Acta Croatica (1863). VI. Revitalisierung Als einer von mehreren Kristallisationskernen des kroatischen Identitäts- und Kontinuitäts-Bewußtseins erfährt das glagolitische Schrifttum heute in Forschung und Öffentlichkeit eine besondere Aufmerksamkeit. Das Projekt zur „Erforschung des kroatischen glagolitischen Erbes“ (Jezična književna i paleografska istraživanja hrvatske glagoljske baštine) am „Altslawischen Institut“ (Staroslavenski institut) in Zagreb sichert Paläographie, Wortschatz (Rječnik crkvenoslavenkoga jezika hrvatske redakcije [Wörterbuch der kirchenslawischen Sprache kroatischer Redaktion]) und Grammatik. Die Forschungsergebnisse werden in der Zeitschrift Slovo (Wort) und in der Reihe Radovi Staroslavenskoga instituta (Arbeiten des Altslawischen Instituts) veröffentlicht. Eine Photothek der Monumente und eine Phonothek des glagolitischen Gesangs werden derzeit erstellt. Die Ausstellung „Drei Schriften. Drei Sprachen“ fand im Jahr 2000 in Dublin und 2002 in Berlin statt und präsentierte das Schrifttum in drei Schriften als angeblich authentischen Ausdruck der in diesem Rahmen imaginierten kroatischen Kultur. Das Projekt der „Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ (Hrvatska akademija znanosti i umjetnosti) über die „Denkmäler des glagolitischen Gesangs“ (Spomenici glagoljaškog pjevanja) sichert und untersucht die Quellen. Die Wahrnehmung des glagolitischen Schrifttums im Kontext aller drei Schriften als besonderes Merkmal der kroatischen kulturellen Identität verleiht der glagolitischen Schrift heute keine funktionale, sondern eine symbolische Bedeutung. Sie kommt bei feierlichen und bedeutungsvollen Gelegenheiten zum Einsatz und wird zur Inspiration für Kunst und Gesang. Glagolitische Zeichen oder Inschriften finden auf vielen Gegenständen Verwendung, zum Beispiel auf dem kroatischen 100-Kuna-Schein. Seit 1993 fördert der „Verein der Freunde der Glagoljica“ (Društvo prijatelja glagoljice) in Zagreb die Wahrnehmung dieses Erbes in der Öffentlichkeit. Dauerausstellungen, Glagolitisch als Wahlfach in den Grundschulen, Glagolitischkurse in Bibliotheken, glagolitische Schulen und Akademien in Senj, Roč und auf der Insel Krk sowie glagolitische Liturgiefeiern bemühen sich, dieses Symbol der kroatischen Kultur mit Leben zu füllen. Die sogenannte Allee der Glagoliten von Roč nach Hum steht für eine touristische Indienstnahme des Themas. Die Übernahme politischer Ämter durch Wissenschaftler und Kulturschaffende unmittelbar nach 1991 begünstigte die kultur-, wissenschafts- und bildungspolitische Trägerschaft dieser Revitalisierungstendenzen. Mit der Ausweitung eines regionalen Selbstbewußtseins auf die nationale Ebene suggerieren sie eine Kontinuität der nationa2�8

Die glagolitische Sprache und Schrift (Glagoljica)

Die „Tafel von Baška“ (Bašćanska ploča) wurde um 1100 in čakavisch-kirchenslawischer Sprache erstellt. König Dmitar Zvonimir schenkte sie der Kirche der hl. Luzia in der Ortschaft Jurandvor bei Baška auf der Insel Krk. Heute wird sie in der „Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ (Hrvatska akademija znanosti i umjetnosti) in Zagreb aufbewahrt. Ein Replikat steht im Lesesaal der Staatsbibliothek Berlin. Bildnachweis: Privatarchiv Elisabeth von Erdmann.

len Identität und ihres Erbes. Sie zeigen sich in Instituten, Schulen, Bibliotheken, Museen und anderen Einrichtungen. Viele gesellschaftliche Initiativen, beispielsweise die in verschiedenen Städten wirkenden „Gesellschaften der Freunde der Glagoljica“, erfüllen diese Rückbesinnung auf ein wiedergefundenes kulturelles Erbe mit Leben. Im kirchlichen Leben spielt die glagolitische Tradition in der täglichen Praxis nur noch ausnahmsweise eine Rolle. Sie ist aber im Bewußtsein der eigenen Geschichte, Identität und Besonderheit des mit dem Katholizismus eng verbundenen Kroatentums gegenwärtig. Da jedoch die wenigsten die Schrift lesen können, ist die rege Verwendung der Glagoljica, wie auch die des frühmittelalterlichen Flechtmusters, vor allem als ein visuelles Zeichen kroatischer Identität zu verstehen. Insgesamt ist auf den übernationalen Charakter der Glagoljica hinzuweisen, da diese von Anfang an nichts spezifisch oder exklusiv Kroatisches darstellt: So fand die erste slawische Schrift nicht nur ihren Platz im Kontext der panslawischen und slawisierenden Bewegungen des 19. und 20 Jahrhunderts – Leoš Janáčeks Glagolská mše (Glagolitische Messe) aus dem Jahr 1926 ist zweifelsohne das prominenteste Beispiel. Eine „wiedergefundene“ lebendige glagolitische Tradition wird heutzutage auch in Mazedonien und Bulgarien gepflegt. 249

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VII. Auswahlbibliographie a) Quellensammlungen KuKuLJević saKcinsKi, Ivan: Listine Hrvatske. Acta Croatica. Zagreb 1863; šurMin, Đuro (Hg.) Hrvatski spomenici. Zbirka I. Kukuljevića i R. Lopačića [Kroatische Denkmäler. Sammlung von I. Kukuljević und R. Lopačić]. Zagreb 1898; vajs, Josip: Analecta sacrae scripturae ex antiquioribus codicibus glagoliticis, Bd. 1–8. Veglae 1903–1913; stefanić, Vjekoslav (Hg.): Hrvatska književnost srednjega vijeka. Pet stoljeća hrvatske književnosti [Die kroatische Literatur im Mittelalter. Fünf Jahrhunderte kroatischer Literatur], Bd. 1. Zagreb 1969; fučić, Branko: Glagoljski natpisi [Glagolitische Inschriften]. Zagreb 1982; Bezić, Jerko: Spomenici glagoljaškog pjevanja [Denkmäler des glagolitischen Gesangs], Bd. 1–2. Zagreb 1983–1998; viaLova, Svetlana O. (Hg.): Glagoljski fragmenti Ivana Berčića u ruskoj nacionalnoj biblioteci. Faksimili [Glagolitische Fragmente von Ivan Berčić in der russischen Nationalbibliothek. Faksimiles]. Zagreb 2000.

b) Bibliographien žubrinić, Darko: Hrvatski glagoljički rukopisi izvan domovine [Kroatische glagolitische Handschriften im Ausland]. Zagreb 1995; ders.: References related to Croatian Glagolitic and Cyrillic. Zagreb 1995; ders.: The Baška Tablet. Precious stone of Croatian literacy, Zagreb 2000; Lipovčan, Srećko (Hg.): Drei Schriften. Drei Sprachen. Kroatische Schriftdenkmäler und Drucke durch Jahrhunderte. Zagreb 2002, 100–152, 250–263; nazor, Anica: Knjiga o hrvatskoj glagoljici [Buch über die kroatische Glagoljica]. Zagreb 2008, 1�9–155.

d) Darstellungen žubrinić, Darko: Croatian Glagolitic Script. Zagreb 1995; erdMann, Elisabeth von: Der gescheiterte Drucklegungsversuch der Kašićbibel. In: Versio illyrica selecta seu declaratio Vulgatae Editionis Latinae. Bartholomaei Cassij Curictensis e Societate Iesu Professi ac Sacerdotis Theologie. Paderborn u. a. 2000, 99–129; KöniG, Dorothea: Azbukividnêk slovinskij Rafaila Levakovića 1629 g. [Die slavische Fibel von Rafael Levaković aus dem Jahr 1629]. In: Bosna Franciscana 8/13 (2000) 258–326; MiKlas, Heinz (Hg.): Glagolitica. Zum Ursprung der slavischen Schriftkultur. Wien 2000; Lipovčan, Srećko (Hg.): Drei Schriften. Drei Sprachen. Kroatische Schriftdenkmäler und Drucke durch Jahrhunderte. Zagreb 2002; dürriGl, Marija-Ana u. a. (Hg.): Glagoljica i hrvatski glagolizam [Die Glagoljica und der kroatische Glagolismus]. Zagreb 2004; herciGonJa, Eduard: Tropismena i trojezična kultura hrvatskoga srednjovjekovlja [Drei Schriften und drei Sprachen in der Kultur des kroatischen Mittelalters]. Zagreb 22006 [Zagreb 11994]; nazor, Anica: Knjiga o hrvatskoj glagoljici [Buch über die kroatische Glagoljica]. Zagreb 2008; franoLič, Branko/žaGar, Mateo: A Historical Outline of Literary Croatian. The Glagolitic Heritage of Croatian Culture. Zagreb/London 2008.

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Der Prager Veitsdom I. Zusammenfassung. – II. Der „Gründungsbau“ – die vorromanische Rotunde. – III. Bischofsbasilika und Königskirche. – IV. Ausbau der Kathedrale unter den Luxemburgern. – V. Fertigstellung. – VI. Die Kathedrale als symbolischer Ort in der jüngsten Geschichte. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Kirche Sankt Veit, die zugleich unter dem Schutz des heiligen Wenzel, des heiligen Adalbert und der Jungfrau Maria steht, ist nicht nur das wichtigste christliche Bauwerk Böhmens, sondern auch ein zentraler religiöser Erinnerungsort des Landes. An einer vorchristlichen Kultstätte und einem einstigen Herrensitz errichtet, steht sie auf dem Areal des heutigen Präsidentenpalastes. Sie ist Begräbnisort von zwölf böhmischen Fürsten und Königen und Sitz der Prager Erzbischöfe. Der heutige Bau ist bereits das dritte architektonische Werk am selben Ort, entstanden im Verlauf von sechs Jahrhunderten. Die Geschichte seiner Entstehung beschreibt einen lebendigen Prozeß, der als solcher bis in die Gegenwart fortwirkt und auch in den zeitgenössischen Restaurierungen seinen Ausdruck findet. Neue Skulpturen und Bilder wurden etwa zur Heiligsprechung der Agnes von Böhmen im Jahr 1989 errichtet, und geradezu zeichenhaft erfolgte die Restaurierung des stark verwitterten großen Mosaiks am Südportal in den Jahren 1992 bis 2008 unter internationaler Beteiligung. Die jüngste Zeit prägte vor allem ein Rechtsstreit zwischen Metropolitankapitel und Präsidialamt. Letzteres verfügte bis 2010 als Eigentümer über die Kathedrale, nachdem diese noch während der kommunistischen Herrschaft dem kirchlichen Besitz entzogen worden war. Der derzeit gültige Kompromiß legt fest, daß die Kathedrale als Gebäude und Institution nicht nur im Zusammenhang mit der römisch-katholischen Kirche wahrzunehmen sei, sondern auch im staatlichen Kontext und damit im Zusammenhang mit ihrer nationalen Bedeutung.

II. Der „Gründungsbau“ – die vorromanische Rotunde Über die ältere Gestalt der Veitskirche ist nicht viel bekannt, sicher handelte es sich jedoch um eine Rotunde. Davon zeugen einige kleinere Fragmente aus archäologischen Funden, einschließlich der südlichen Apsis. Die Rotunde war Begräbnisstätte des Fürsten Wenzel aus der Dynastie der Přemysliden; das Grab des Märtyrers und zugleich Schutzpatrons der Kirche entwickelte sich zu einem bedeutenden Wallfahrtsort. Wenzel war es denn auch, der in den 930er Jahren eine dem heiligen Veit geweihte Rotunde hatte errichten lassen, just neben dem Kultplatz auf dem kahlen Felsen (vyprahlý, möglicherweise daher der Name „Praha“, Prag), einem schmalen Grat zwischen der Moldau und dem Bach Brusnice. Eine Armreliquie des heiligen Veit erhielt der böhmische Fürst 251

Milena Bartlová

von Heinrich I., dem Vogler, worin auch die enge Beziehung Böhmens zum römischdeutschen Reich zum Ausdruck kommt. Für die Annahme, daß der Name des heiligen Veit auf die slawische Gottheit Svantovit zurückzuführen sei, sprechen gute Argumente, wissenschaftlich zu belegen ist sie gleichwohl nicht. Die Gestalt der Rotunde entspricht ihrer Funktion als kleine Kirche, die sich nahe den vorchristlichen Kultstätten und einer heiligen Quelle befand. Eine moderne Rekonstruktion, der zufolge es sich um einen Kuppelbau mit vier Apsiden handelte, die angeblich von dem Zentralbau in Aachen inspiriert sei, gilt heute als verworfen. Ausgehend von archäologischen Funden, die allerdings begrenzt sind, ist tatsächlich nur von einer Apsis auszugehen. Im Jahr 973 wurde Sankt Veit zur Bischofskirche erhoben. Auf dem Areal der Burg befand sich südlich von der Kirche der Fürstenpalast, östlich das Damenstift Sankt Georg. Alle drei Anlagen und damit der gesamte Felssporn wurden bald von einer Steinmauer eingefaßt. Obwohl die Überreste der Rotunde beim Bau der gotischen Kathedrale ganz oder in Teilen zerstört wurden, blieb die Grabstätte des wichtigsten böhmischen Landespatrons ein fester Bezugspunkt für die Ausrichtung und Gestalt der Architektur. Die Wenzelskapelle präsentiert sich in ihrer architektonischen Logik als gleichsam eigenständige Kirche, und dies schon aufgrund der Tatsache, daß sie sowohl als liturgischer Ort als auch mit Blick auf die Besitzverhältnisse, in rechtlicher Hinsicht also, eine autonome Einheit bildete. So diente sie als Wallfahrtsziel zu einem Heiligen, der im Unterschied zum heiligen Adalbert tatsächliche Wunder bewirkt haben soll. Die Kapelle bietet den einzigen Zugang zur Schatzkammer im darüberliegenden Geschoß, in dem die symbolisch als Eigentum des Heiligen betrachteten Kronjuwelen der böhmischen Länder bewahrt werden. Vor diesem Hintergrund spielte die Wenzelskapelle auch eine wichtige Rolle in der Krönungszeremonie. Bis heute stehen die Schlösser der zur Schatzkammer führenden Tür symbolisch für das gemeinsame Erbe, das von kirchlicher wie von staatlicher Seite gleichermaßen verwaltet wird. Sie lassen sich nur durch Schlüssel öffnen, die jeweils durch zwei Vertreter der Kirche, aber auch den Staatspräsidenten, den Ministerpräsidenten, die Kammerpräsidenten von Parlament und Senat sowie den Bürgermeister der Stadt Prag verwahrt werden. III. Bischofsbasilika und Königskirche Noch unter Herzog Spytihněv II. wurde 1060 mit dem Bau einer geräumigeren Kirche begonnen, die 1096 geweiht werden konnte. Die Basilika hatte zwei Krypten, die eine unter dem östlichen, die andere unter dem westlichen Chor. Ihr Grundriß spiegelt gewisse liturgische Einflüsse der Mainzer Erzdiözese wider, der die Prager Kathedrale in den ersten Jahrhunderten unterstellt war. Im südlichen Seitenschiff blieben Elemente der Apsis der Vorgängerkirche just dort, wo sich das Grab des heiligen Wenzel befand, sichtbar. Ebenso hatte die Kirche Reliquien eines zweiten heiligen Märtyrers und Schutzpatrons erhalten, des heiligen Adalbert. Seine Gebeine waren 1039 von Gnesen nach Prag über252

Der Prager Veitsdom

führt worden. Das Hauptportal wandte sich nach Süden in Richtung des fürstlichen Palastes. Nördlich der Basilika wurde für die Kanoniker des Metropolitankapitels ein Kloster mit Kreuzgang errichtet. Ein System von Gängen verband die Kathedrale mit anderen Sakralbauten auf dem Burgareal. Da die romanische Kirche samt Kreuzgang im Zuge des gotischen Kathedralneubaus bis auf wenige archäologische Überreste verschwand, läßt sich weder eine genaue Vorstellung von der baukünstlerischen Gestalt und Ausstattung noch eine solche von der Höhe der Basilika entwickeln. Offen bleibt zudem, welche Teile in welcher Form gewölbt waren. Nicht weniger unsicher ist die Anzahl der Türme. Von der Funktion her war die Basilika in erster Linie Bischofskirche, während die Wenzelskapelle als Pilgerzentrum diente. Abgesehen von Vertretern des Episkopats wurden hier mehrere Fürsten begraben. Unklar ist, ob diese Personen hier auch in ihre jeweiligen Ämter eingeführt worden waren. Hypothetisch wird ein fürstlicher Thron vorchristlicher Herkunft vermutet, der wohl östlich der Basilika gefunden wurde, in seinem Bezug auf die Basilika beziehungsweise auf das benachbarte Kloster Sankt Georg allerdings nur schwer einzuordnen ist. Nach 1186 wurde der jeweilige böhmische Landesfürst in der Basilika gekrönt, mancher auch hier begraben. IV. Ausbau der Kathedrale unter den Luxemburgern Im Jahr 1341 erteilte König Johann von Luxemburg den Auftrag zu einem Neubau der Veitskathedrale. Das Unternehmen wurde aus den Einnahmen der böhmischen Goldund Silberminen finanziert. Nach Fertigstellung der Baus sollten diese Mittel für das liturgische Gedächtnis an das Haus Luxemburg verwendet werden. Die Grundsteinlegung erfolgte 13�� anläßlich des Empfangs des Palliums durch den ersten Prager Erzbischof, Ernst von Pardubitz, und in Gegenwart des späteren böhmischen Königs sowie römischdeutschen Kaisers Karl IV., der als eigentlicher Bauherr der Kathedrale gilt. Architektonisch folgte man dem Vorbild französischer Kathedralen mit einem externen System von Strebepfeilern und Strebebögen. Zum Baumeister hatte man den französischen Architekten Matthias von Arras berufen. In der zehn Jahre währenden Bauzeit bis zu seinem Tod konnte der Chor mit einem Ring polygonaler Kapellen bis auf die Arkadenhöhe ausgeführt werden. Es ist nicht auszuschließen, daß der Bau zunächst von unbekannter Seite weitergetrieben wurde, bis schließlich Peter Parler aus Gmünd 1356 als Baumeister berufen wurde. Dieser schloß das Gewölbe des Chors (1392) und begann mit dem Bau des dreischiffigen Langhauses sowie des großen Südturms. Nach seinem Tod (1399) führten seine Söhne den Bau fort. Der Chor wird von einem Netzgewölbe überspannt, mit dem die Jochtrennung aufgelöst und ein vereinheitlichender Raumeindruck hergestellt wird. Weitere originäre architektonische Leistungen lassen sich mit hängenden Schlußsteinen, freistehenden Rippen oder auch dem durchbrochenen Fenster der Kapelle im Erdgeschoß des großen Turms benennen. Beide Architekten, Matthias von Arras und Peter Parler, bedienten beim Bau gewisse lokalspezifische Charakteristika. Um den Anforderungen der Liturgie, die einst für die 253

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vorherige Basilika entwickelt worden war, zu entsprechen, kam es im östlichen Teil der Kathedrale zur Einrichtung zweier einander gegenüberliegender Chöre, von denen allerdings unbekannt ist, ob sie tatsächlich durch architektonische oder anderweitige Einbauten abgegrenzt wurden. Die Wenzelskapelle blieb liturgisch und eigentumsrechtlich eine separate Einheit und behielt daher ihre Unabhängigkeit auch in der architektonischen Gestaltung: Statt eine polygonale Kapelle auszubilden, fügt sie sich als abgeschlossener Baukörper auf quadratischem Grundriß der Ecke des Querhauses ein und ist sogar über ein Fenster mit der Kathedrale verbunden. Oberhalb der Kapelle befindet sich die Kammer mit dem böhmischen Kronschatz. An der Wand der Schatzkammer ließ Karl IV. durch venezianische Spezialisten ein großes Mosaik anbringen. Dessen prächtig reflektierender Goldgrund verlieh diesem wichtigsten Kathedralzugang den Namen „Goldenes Tor“. Tatsächlich konnte das Goldene Tor noch bis in das 18. Jahrhundert hinein auch von der Stadt unterhalb der Burg aus wahrgenommen werden. Gegenüber diesem südlichen Portal entstand ferner der große königliche Palast Karls IV. und Wenzels IV. Die jeweiligen landesherrlichen und episkopalen Ansprüche, die sich in dem Projekt in einzigartiger Weise verbinden, kommen in der Programmatik seiner Ausstattung zum Tragen. Bis zur letzten Krönung Kaiser Ferdinands I. von Österreich zum König von Böhmen 1836 war der Veitsdom auch Krönungskirche. Ebenso wurden die Gräber früherer Herrscher aus der abgetragenen romanischen Basilika in die gotische Kathedrale transloziert. Sein eigenes Grab plazierte Karl IV. in einer Achse mit dem Hochaltar. Zwar ist das Grab selbst nicht erhalten, doch kann es schon durch seinen Standort als ideelles Zentrum der gesamten Anlage gedeutet werden, zumal angesichts der radial in den Chorumgangskapellen angeordneten und mit neuem figürlichem Schmuck versehenen Gräber seiner přemyslidischen Vorfahren. Im Triforium des Chors finden sich die Büsten der Herrscher, darunter wiederum die von Karl IV. und seinen Gemahlinnen in der Achse, aber auch die der Prager Erzbischöfe und Kanoniker bis hin zu den zwei Baumeistern. Dieses einzigartige Ensemble diente der Memoria der Förderer der Baus. Im Außenbereich antwortet darauf im noch darübergelegenen Chorobergaden eine Reihe von Büsten, die Christus und Maria sowie die böhmischen Landesheiligen repräsentieren. Im weiteren erwarb Karl IV. zahlreiche Reliquien, teils auch ganzer Körper wie den des heiligen Sigismund, der zu einem weiteren Landespatron avancierte und dem im nördlichen Chorumgang eine Kapelle geweiht wurde. Sakraltopographisch betrachtet, befand sich das Grab Karls IV. und seiner Familie damit im Schnittpunkt der Altäre des heiligen Veit im Sanktuarium, des heiligen Adalbert im östlichen Teil des Langhauses sowie der heiligen Sigismund und Wenzel in den nördlich und südlich gelegenen Kapellen. Der Ausbruch der Hussitenkriege im Jahr 1419 vereitelte den reibungslosen Weiterbau der Kathedrale, die 1421 zudem einem Bildersturm durch radikale Hussiten ausgesetzt war. Nachhaltige Bauaktivität entfaltete sich erst wieder um 1500 unter den jagiellonischen Landesherren, die den Baumeister Benedikt Ried beriefen. Das noch unvollendete Mittelschiff des Langhauses wurde 1541 durch einen Brand weitgehend zerstört. Der hohe Chor und der Turm blieben für drei Jahrhunderte ein architektonischer Torso. 254

Der Prager Veitsdom

Spektakulärer Blick durch die Strebebögen auf den Turm der Prager Veitskathedrale. In seiner erstmals 1935 erschienenen Stadtmonographie beschwor der Kunsthistoriker Oskar Schürer, untermalt durch solche Photographien, den Ausbau Prags zur deutsch geprägten „Weltstadt Karls IV.“ Die Architektur wird darin zum Exemplum eines vermeintlich „deutschen Charakters“ der böhmischen Kultur. Bildnachweis: Schürer, Oskar: Prag. Kultur – Kunst – Geschichte. München/Brünn 41940 [11935], Tafel 25.

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Im Verlauf des 15. Jahrhunderts wurde die Kathedrale durch die Utraquisten, also durch Anhänger der reformatorischen Bewegung in Böhmen, genutzt. Auch der von den Katholiken als „Hussitenkönig“ bezeichnete Georg von Podiebrad wurde hier bestattet. Für die seit 1526 in Böhmen regierenden Könige aus dem Haus Habsburg errichtete man zudem ein neues Königsgrab in der Westachse des Chors, das in den Jahren 1569 bis 1589 mit einem Marmorgrabstein ausgestattet wurde. Ein wichtiges Datum war ferner die Fertigstellung der Turmarkade im Jahr 1554, die auch eine Abkehr vom gotischen Baustil zum Ausdruck brachte und 1770 mit einem barocken Dach versehen wurde. 1619 suchte die Kathedrale ein weiterer – nun calvinistischer – Bildersturm heim, den der Hofprediger des neuen reformierten Landesherrn, Friedrichs V. von der Pfalz, angeordnet hatte. V. Fertigstellung Der Versuch einer barocken Fertigstellung des Langhauses im dritten Viertel des 17. Jahrhunderts durch Domenico Orsi blieb in den Anfängen stecken. Ein Grund mag darin liegen, daß seit der militärischen Niederlage der evangelischen Stände Böhmens in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 und nach dem Dreißigjährigen Krieg die Prager Burg kaum mehr als dauerhafter Aufenthaltsort eines Herrschers in Erscheinung trat. Erst im Zusammenhang mit der Heiligsprechung des Johannes Nepomuk 1729 rückte die Kathedrale wieder in das Interesse der Öffentlichkeit. Das von Joseph Emanuel Fischer von Erlach entworfene und im Seitenschiff des Veitsdoms errichtete silberne Hochgrab des Heiligen ließ diesen zur Symbolfigur der Rekatholisierung im Königreich Böhmen werden. Angeregt durch die Fertigstellung des Kölner Doms entstanden auch in Böhmen Pläne, die Fertigstellung der Sankt Veitskathedrale durch einen entsprechenden Verein zu finanzieren. Dank großzügiger Unterstützung durch die regierende Dynastie und zahlreicher kleinerer Spender gelang es, den beschädigten Chor zu sanieren. Darüber hinaus konnte 1873 mit dem Bau des dreischiffigen Langhauses samt der zweitürmigen Westfassade begonnen werden. Angesichts einer wachsenden nationalen Polarisierung der Gesellschaft, in der tschechische und deutsche Identitäten miteinander konkurrierten, versuchte der Verein, eindeutige Bezugnahmen mit Blick auf diese sprachlich-ethnischen Auseinandersetzungen zunächst zu vermeiden. Für die tschechischen Patrioten waren insbesondere die Krönungen ein mit Nostalgie behaftetes Moment, zumal die Prager Burg angesichts der Abwesenheit der Regenten ihrer genuin politischen Bedeutung beraubt war. In den Diskussionen wurde die Gotik üblicherweise als „germanischer Baustil“ apostrophiert, während tschechische Vertreter die „böhmische Renaissance“ des 16. Jahrhunderts bevorzugten. In Anbetracht der Kathedrale als Sitz des Erzbischofs entsprach die schließlich zur Durchsetzung gebrachte Neogotik nicht zuletzt auch einer konservativ-romantischen religiösen Grundhaltung. Zugleich erinnert die Wahl dieses Stils an eine Phase der Geschichte, in der das Land von einer einheimischen, slawischen 256

Der Prager Veitsdom

Dynastie regiert wurde, erheblichen politischen Einfluß in Europa hatte sowie nicht zuletzt eine konfessionelle Einheit bildete. In der Fertigstellung geht das Projekt auf die Architekten Joseph Kranner und Joseph Mocker zurück. Nach dem Tod Mockers 1899 übernahm Kamil Hilbert die Dombaumeisterstelle. Insbesondere Mocker vertrat die neugotische Gestaltung. Auf ihn geht auch der Vorschlag einer zweitürmigen Westfassade mit großer Rosette zurück. Reparaturen an der mittelalterlichen Struktur führte Mocker zuverlässig aus, verlorene Bauteile wurden durch Repliken ersetzt. Erst Hilbert gestaltete die unzugänglichen Teile des Gebäudes im Jugendstil um oder baute gänzlich neue Elemente ein, beispielsweise die Glasfenster von Alfons Mucha. Zugleich lieferte Hilbert als verantwortlicher Archäologe eine gute Dokumentation zu den Strukturen der gotischen Kathedralarchitektur. Zum zehnten Jahrestag der Gründung der Tschechoslowakischen Republik im Jahr 1928 wurde der Bau fertiggestellt. Ein Jahr später feierte man das tausendjährige Wenzel-Jubiläum. Da die römisch-katholische Kirche stets als Stütze des habsburgisch-monarchischen Regimes betrachtet wurde, bedurfte es seitens des säkularen Staates einiger Zeit, sich mit der Kathedrale zu identifizieren. Zu diesem Zweck wurde die Dekoration der Kathedrale programmatisch modifiziert: So entfernte man die neugeschaffenen Porträts von Mitgliedern der Habsburgerdynastie auf dem Triforium. Der Chor wurde mit dem neuen Staatszeichen versehen, und bezeichnenderweise stiftete der protestantische Staatspräsident Tomáš G. Masaryk den monumentalen Altar mit einer Kreuzigung Christi, ein Werk des Bildhauers František Bílek, der selbst Mitglied der Tschechoslowakischen Hussitischen Kirche war. In der Phase der deutschen Besatzung im „Reichsprotektorat Böhmen und Mähren“ stilisierte man die Kathedrale zu einem Symbol des vermeintlich deutschen Charakters der böhmischen Kultur. Dabei bezog man sich auf die historische Rolle des heiligen Wenzel, aber natürlich vor allem auf Karl IV. als römisch-deutschen Kaiser und auf den aus Schwaben zugezogen Baumeister Peter Parler, dessen Herkunft stets in besonderer Weise hervorgehoben wurde. In der seit 1935 in zahlreichen Auflagen erschienenen Stadtgeschichte „Prag. Kultur – Kunst – Geschichte“ von Oskar Schürer werden Bau und Ausstattung der Kathedrale als Dreh- und Angelpunkt des Ausbaus Prags zur „Weltstadt Karls IV.“ beschrieben. VI. Die Kathedrale als symbolischer Ort in der jüngsten Geschichte Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde das Grab des heiligen Adalbert in die Mitte des Langhauses verlegt. Während der vier Jahrzehnte der kommunistischen Herrschaft in der Tschechoslowakei hatten die Kathedrale sowie alle christlichen Kirchen weitgehende Einschränkungen in der liturgischen Praxis hinzunehmen. Die Vorschriften beschränkten nicht nur das Läuten der Glocken, sondern auch religiöse Äußerungsformen wie Prozessionen, die außerhalb des Kirchenraums nicht mehr durchgeführt werden durften. Paradoxerweise wurde als einzige Kirche der Tschechoslowakei ausgerechnet die Kathe257

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drale verstaatlicht, da vor allem sie als kulturell-historisches Denkmal erachtet wurde, das zugleich einen würdigen Rahmen für die Durchführung kultureller Veranstaltungen, etwa symphonischer Konzerte, abgab. Eine folgenreiche Intervention war zuletzt die Aufrichtung der Skulptur der heiligen Agnes von Böhmen, aus deren Heiligsprechung im Herbst 1989 die tschechischen Katholiken wichtige spirituelle Impulse auch für die „Samtene Revolution“ (Sametová revoluce) ableiteten. Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes im Jahr 1989 betrat Václav Havel unter den Klängen des Te Deum als neugewählter Präsident des Landes die Kathedrale und verlieh damit seinem Verständnis von der spirituellen Dimension einer säkularen Regierung Ausdruck. Mit erheblichem Aufwand wurde die Kathedrale in den 1990er Jahren grundlegend saniert. Während Havels Präsidentschaft (1990–2003) boten diverse politisch-diplomatische Ereignisse Anlaß, die Kathedrale noch über die Ökumene hinaus auch Vertreten des Judentums, des Islam und des Buddhismus zu öffnen. Zur gleichen Zeit entspann sich ein Rechtsstreit über die Besitzverhältnisse des Gebäudes und seiner Ausstattung. Bemühungen, die Rechtslage aus der Zeit vor der Enteignung wiederherzustellen, erzeugten Zurückhaltung bei einem Großteil der tschechischen Öffentlichkeit, die sich mit der Tatsache, daß die Kathedrale exklusiv der römisch-katholischen Kirche gehören sollte, nicht abfinden mochte. Hintergrund ist der stark säkulare Charakter der tschechischen Gesellschaft, in der insgesamt nur 1� Prozent der Bevölkerung offiziell einer Kirche beziehungsweise Religionsgemeinschaft angehören. Der Streit hat auch eine wirtschaftliche Dimension, sind doch die Prager Burg und die Kathedrale die von Touristen am häufigsten besuchten Denkmale der Tschechischen Republik. Für das nicht-konfessionelle Tschechien ist die Kathedrale primär ein nationales Symbol, das auch ohne Zahlung eines beträchtlichen Eintrittspreises allgemein zugänglich sein sollte.

VII. Auswahlbibliographie GLücKseLiG, Legis: Der Prager Dom zu St. Veit. Geschichtlich und kunstarchäologisch dargestellt. Leitmeritz 1855; toMeK, Wácslaw Wladiwoj: Základy starého místopisu pražského [Grundlagen zu einer Topographie des alten Prag], Tl. �. Praha 1872; podLaha, Antonín/šittLer, eduard: Chrámov� poklad u sv. Víta v Praze. Jeho dějiny a popis [Der Kirchenschatz bei Sankt Veit zu Prag. Seine Geschichte und seine Gestalt]. Praha 1903; podLaha, Antonín/hiLbert, Kamil: Soupis památek historick�ch a uměleck�ch. Metropolitní chrám sv. Víta v Praze [Inventar der historischen und künstlerischen Denkmäler. Die Metropolitankirche Sankt Veit in Prag]. Praha 1906; KLetzL, Otto: Zur künstlerischen Ausstattung des Veitsdomes in vorhussitischer Zeit. In: Germanoslavica 1 (1931–1932) 2�7–277; Schürer, Oskar: Prag. Kultur – Kunst – Geschichte. München/Brünn 1935; sWoboda, Karl M./bachMann, Erich: Studien zu Peter Parler. Brünn/Leipzig 1938; KLetzL, Otto: Peter Parler. Der Dombaumeister von Prag. Leipzig 1940; Kotrba, Viktor: Kaple svatováclavská v pražské katedrále [Die Kapelle des heiligen Wenzel in der Prager Kathedrale]. In: Umění 8 (1960) 329–356; ders.: Der Dom zu Sankt Veit in Prag. In: seibt, Ferdinand (Hg.): Bohemia Sacra. Das Christentum in Böhmen 973–1973. Düsseldorf 197�, 511–5�8; hoMoLKa, Jaromír: Ikonografie katedrály sv. Víta v Praze [Ikonographie der Kathedrale des heiligen Veit in Prag]. In: Umění 26 (1978) 56�–575; Merhautová, Anežka (Hg.): Katedrála sv. Víta v Praze [Die Kathedrale des heiligen Veit in Prag]. Praha 199�; benešovsKá, Klára u. a.: Petr Parléř.

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Der Prager Veitsdom Svatovítská katedrála 1356–1399 [Peter Parler. Die Sankt Veitskathedrale 1356–1399]. Praha 1999; KostíLKová, Marie/petrasová, Taťána: Jednota pro dostavění Chrámu sv. Víta na Hradě pražském [Verein für die Fertigstellung der Kirche Sankt Veit auf der Prager Burg]. Praha 1999; crossLey, Paul: Bohemia sacra: Liturgy and History in Prague Cathedral. In: Joubert, Fabienne/sandron, Dany (Hg.): Pierre, lumière, couleur. Étude d’historie de l’art du Moyen Âge en l’honneur d’Anne Prache. Paris 1999, 341–365; vLčeK, Pavel u. a.: Umělecké památky Prahy. Pražsk� hrad a Hradčany [Künstlerische Denkmäler Prags. Die Prager Burg und der Hradschin]. Praha 2000; crossLey, Paul: The Politics of Presentation: The Architecture of Charles IV of Bohemia. In: Jones, Sarah Rees u. a. (Hg.): Courts and Regions in Medieval Europe. York 2000, 99–172; braverMannová, Milena/LutovsKý, Michal: Hrobky a pohřebiště česk�ch knížat a králů [Gräber und Begräbnisse der böhmischen Fürsten und Könige]. Praha 2001; suchý, Marek: Solutio hebdomadaria pro structura templi pragensis. Stavba svatovítsé katedrály v letech 1372–1378 [Solutio hebdomadaria pro structura templi pragensis. Der Bau der Sankt Veitskathedrale in den Jahren 1372–1378]. Praha 2003; benešovsKá, Klára u. a.: The Story of Prague Castle. Ausstellungskatalog. Prague 2003; toMKová, Kateřina (Hg.): Pohřbívání na Pražkém hradě a jeho předpolích [Begräbnisse auf der Prager Burg und auf ihren vorgelagerten Plätzen], Bd. 1–2. Praha 2005–2006; bartLová, Milena: The Choir Triforium of Prague Cathedral Revisited: the Inscriptions and Beyond. In: opačić, Zoë (Hg.): Prague and Bohemia. Medieval Art, Architecture and Cultural Exchange in Central Europe. Leeds 2009, 81–100; opačić, Zoë: Architecture and Religious experience in 1�th Century Prague. In: faJt, Jiří/LanGer, Andrea (Hg.): Kunst als Herrschaftsinstrument. Böhmen und das Heilige Römische Reich unter den Luxemburgern im europäischen Kontext. Berlin/München 2009, 136–149; KaLina, Pavel: Architecture and Memory. St Vitus’s Cathedral in Prague and the Problem of Presence of History. Ebd., 150–156; benešovsKá, Klára: The Legacy of the Last Phase of the Prague Cathedral Workshop. One more look at the „Weicher Stil“. Ebd., 157–172; rader, Olaf B.: Erinnerte Macht. Zu Symbol, Form und Idee spätmittelalterlicher Herrschergräber. Ebd., 172–18�; otavsKý, Karel: Der Prager Domschatz unter Karl IV. im Lichte der Quellen. Ein Sonderfall unter spätmittelalterlichen Kirchenschätzen. In: WendLand, Ulrike (Hg.): … das Heilige sichtbar machen. Domschätze in Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Regensburg 2010, 181–236; Kuthan, Jiří/royt, Jan: Katedrála sv. Víta, Václava a Vojtěcha, svatyně česk�ch patronů a králů [Die Kathedrale von Sankt Veit, Wenzel und Adalbert. Heiligtum böhmischer Patrone und Könige]. Praha 2011; Kyzourová, Ivana (Hg.): Svatovítsk� poklad. Katalog stále v�stavy v kapli sv. Kříže na Pražském hradě [Der Schatz von Sankt Veit. Katalog der ständigen Ausstellung in der Heiligkreuzkapelle auf der Prager Burg]. Praha 2012; MaříKová-KubKová, Jana: Bazilika sv. Víta, Václava, Vojtěcha a Panny Marie a klášter kostela pražského [Die Basilika von Sankt Veit, Wenzel, Adalbert und der Jungfrau Maria und das Kloster der Prager Kirche]. Praha 2013.

Milena Bartlová (aus dem Tschechischen von Evelin Wetter)

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Das Rila-Kloster in Bulgarien I. Zusammenfassung. – II. Ivan von Rila († 946). – III. Die materiell-ideelle Dimension: Das RilaKloster als Hort altbulgarischer Schriftkultur. – IV. Die materielle Dimension: Das Rila-Kloster als Bauwerk. – V. Die politische Dimension: Wiedergeburt, kommunistische Herrschaft und die politische Wende von 1989. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Rila-Kloster (Rilski monastir) ist das wohl berühmteste bulgarische Kloster und eine der religiösen und touristischen Hauptattraktionen Bulgariens. Vom heiligen Ivan von Rila (Ivan Rilski) wohl schon im 10. Jahrhundert gegründet, datieren die ältesten heute noch erhaltenen Bauten erst aus dem 1�. Jahrhundert, während der Großteil der heutigen Gestalt des Klosters auf das 19. Jahrhundert zurückgeht. Während der osmanischen Herrschaft spielte das Kloster als religiöses und literarisches Refugium der bulgarischorthodoxen Schriftkultur eine zentrale Rolle. Zugleich avancierte es nach dem Erhalt der Gebeine des Ivan von Rila ab dem 15. Jahrhundert zu einer wichtigen religiösen Pilgerstätte. In der Zeit der bulgarischen Wiedergeburt nach 1800, die in der Wiedererrichtung bulgarischer Nationalstaatlichkeit mündete, erlebte das Kloster eine neue Blüte und etablierte sich als ein religiöser und nationaler Erinnerungsort der bulgarisch-orthodoxen Kirche. Während der kommunistischen Herrschaft behielt das Kloster seine Funktion als nationales Kulturdenkmal, das nach der Wende von 1989 auch wieder eine stärker religiös ausgerichtete Komponente aufweist.

II. Ivan von Rila († 946) Die ursprüngliche Bedeutung des Klosters beruht fast völlig auf seinem Gründer, dem heiligen Ivan von Rila. Er gehört zu den prominenten Heiligen der orthodoxen Kirche. Der 19. Oktober, der Jahrestag der Überführung seiner Gebeine nach Tărnovo 1195, ist sein Gedenktag. Die Hauptquellen zu seinem Leben stellen rund 16 Lebensbeschreibungen dar. Die älteste erhaltene Vita, die aber unter Umständen erst zwei Jahrhunderte später entstand, ist die sogenannte „volkstümliche“. Ihr Autor ist nicht bekannt. Als terminus ante quem ihrer Abfassung gilt das Jahr 1183, da die in diesem Jahr vollzogene Überführung von Ivans Reliquien nach Ungarn in dem Text noch keine Erwähnung findet. Die Lebensbeschreibung ist in sechs späteren Handschriften aus dem 15. bis 18. Jahrhundert erhalten. Offenbar ging ihr jedoch mindestens eine ältere, heute verlorene Vita voraus, denn die Kanonisation Ivans könnte schon in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts erfolgt sein. Im glagolitischen Zographos-Evangelium aus der Zeit um 1000 wird Ivan zum ersten Mal als Heiliger erwähnt. Der „volkstümlichen“ Vita des 260

Das Rila-Kloster in Bulgarien

Heiligen folgten weitere kürzere oder längere Viten. Wohl zwischen 1166 und 1183 entstand die ursprünglich griechische, heute nur noch in altkirchenslawischer Übersetzung in über 15 Handschriften erhaltene Vita des Georgios Skylitzes, des Protokouropalates, also eines hohen Würdenträgers Kaiser Manuels I. Komnenos. Skylitzes’ Werk diente auch als Vorlage für spätere Lebensbeschreibungen, so einer für den liturgischen Gebrauch bestimmten, vermutlich in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfaßten Vita, die in neun Handschriften aus dem 1�. bis 17. Jahrhundert überliefert ist, die Überführung der Reliquien nach Tărnovo 1195 einbezieht und mit einem Gebet für den bulgarischen Zaren endet. Eine weitere für den liturgischen Gebrauch verfaßte, in zwei Handschriften aus dem 13./1�. Jahrhundert überlieferte Vita aus der Zeit um 1200 berichtet unter anderem von der Erblindung des ungarischen Erzbischofs von Gran, die erfolgt sei, weil sich der Oberhirte zu der Zeit, als die Reliquien in Gran waren, diesen gegenüber unwürdig gezeigt habe. Die literarisch anspruchsvollste, in über zehn Handschriften aus dem 14./15. Jahrhundert überlieferte Vita stammt aus der Feder des berühmten Patriarchen Evtimij, der um 1350 in der damaligen bulgarischen Zarenresidenz Veliko Tărnovo wirkte und in seiner Lebensbeschreibung den Heiligen in einen überregionalen Kontext stellte. Sie wurde im 15. Jahrhundert von Vladislav Grammatik mit der Schilderung der Überführung der Reliquien von Tărnovo nach Rila 1�69 fortgesetzt. Zwischen 1�69 und 1�79 entstand eine weitere, mit deutlichen Gegenwartsbezügen ausgestattete Vita aus der Feder des Dimităr Kantakuzin, die von Vladislav Grammatik abgeschrieben und in das Rila-Panegyrikon aus dem Jahr 1�79 integriert wurde. Auch in späteren Jahrhunderten folgten noch weitere Bearbeitungen und eigenständige Viten. Während sich die Lebensbeschreibungen Ivans vom 12. bis 14. Jahrhundert stärker um eine Inanspruchnahme des Heiligen für die Zaren in Tărnovo bemühten, ergänzten spätere im Rila-Kloster selbst entstandene Viten die Ereignisse um die spätere Klostergeschichte und die Rückführung der Reliquien von Tărnovo nach Rila. Neben der Vitentradition finden sich einige zwar erst seit dem 15. Jahrhundert niedergeschriebene, aber wohl früher entstandene hymnographische Werke sowie im Zusammenhang mit den Gedenktagen mehrere Offizien. Das älteste Offizium zu Ivans Todestag am 18. August ist in Abschriften aus dem 13. Jahrhundert überliefert, ein späteres Offizium zum 19. Oktober aus Tărnovo entstand anläßlich seiner Überführung nach Tărnovo. Dort wurde in der Zeit Patriarch Evtimijs in der zweiten Hälfte des 1�. Jahrhunderts eine weitere dem Heiligen gewidmete hymnographische Komposition erstellt. Die 1469 erfolgte Rückführung seiner Gebeine in das Rila-Kloster beging man dort am 1. Juli. Zu diesem Anlaß erstellte Dimităr Kantakuzin ein weiteres Offizium. Im Rahmen der sogenannten Rilaer hymnographischen Schule erfuhren die älteren Offizien eine Überarbeitung. Sie erlangten eine große Verbreitung in der gesamten orthodoxen Welt bis nach Rußland und auf den Athos. Ivan von Rila selbst hinterließ nur ein in seiner Authentizität umstrittenes Testament. Zudem entwickelten sich in seinem Umfeld zahlreiche Legenden und Erzählungen, die sich – abhängig vom jeweiligen Wirkungsbereich – in einen Sofioter und einen Rila-Zy261

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klus unterteilen lassen. Sie liefern aufschlußreiche Informationen zu Konstruktionsmechanismen und Erinnerungskonfigurationen des Heiligen. Die Rekonstruktion von Ivans Leben und Wirken anhand der verschiedenen, meist lange nach seinem Tod verfaßten Viten und ihren einzelnen Redaktionen ist zwangsläufig mit Unsicherheiten behaftet; so läßt sich nicht mehr als eine grobe Skizze seines Lebens entwerfen: Ivan von Rila soll Ende der 870er Jahre im Dorf Skrino am rechten Strumaufer geboren worden sein. Der Legende nach sei er aus Armut gezwungen gewesen, als Schäfer sein Dasein zu fristen. Nach dem Tod seiner Eltern soll er in ein nahegelegenes Kloster eingetreten sein, von dort habe er sich jedoch aufgrund kriegerischer Einfälle entfernen müssen. Danach habe er verschiedene Klöster im Strumagebiet und im Vitošagebirge aufgesucht. Auf der Suche nach Einsamkeit sei er schließlich in das Rilagebirge gezogen, wo er sich mit seinen Schülern in Felshöhlen niedergelassen haben soll. Laut Georgios Skylitzes verbrachte er eine gewisse Zeit in einer Baumhöhle. Später soll er in eine über dem späteren Kloster gelegene Höhle, die er schon früher bewohnt hatte, zurückgekehrt sein und dort mit seinen Schülern zwölf Jahre bis zu seinem Tod verbracht haben. Dies berichtet Georgios Skylitzes; die von Patriarch Evtimij erstellte Lebensbeschreibung folgt dieser Darstellung nicht. Die „volkstümliche“ Vita weiß von einem vergeblichen Versuch Zar Peters, den Heiligen im Rilagebirge zu treffen. Das vom Zaren geschickte Gold soll Ivan zurückgeschickt haben. Die Vita aus der Feder Patriarch Evtimijs bereichert diese Szene noch mit mehreren Einzelheiten. Durch Wunderheilungen soll Ivan von Rila viele Menschen gewonnen und zahlreiche Schüler um sich versammelt haben, mit denen er bis zu seinem Tod am 18. August 9�6 in monastischer Gemeinschaft zusammengelebt habe. Entscheidend für die Verbindung zwischen dem Heiligem und dem Kloster war der Aufenthaltsort von Ivans Reliquien, deren Wunderwirkung Eingang in die späteren Viten fand. Für das Kloster bedeutete die Präsenz der Reliquien auch materiellen Wohlstand durch Zuwendungen seitens der Pilger. Umso stärker war das Interesse an der Verbreitung von Nachrichten über ihre Wirkung. Der prominenteste Fall an Wunderwirkung durch die Reliquien des Heiligen stellt die Heilung des byzantinischen Kaisers Manuel I. Komnenos durch die Berührung mit Myron aus den Reliquien dar, von der Georgios Skylitzes berichtet. Das Kloster war zunächst nicht im Besitz der Reliquien. Im 10. Jahrhundert wurden sie zunächst nach Sredec oder Serdika, das spätere Sofia, gebracht, wo sie in eine eigens errichtete Kirche überführt wurden. 1183 brachten sie die Ungarn unter König Béla III., der damals nach Bulgarien eingedrungen war und Sofia beherrschte, nach Gran. 1187 soll Béla III. sie zurück nach Sofia gegeben haben. Von dort wurden sie 1195 auf Betreiben des Zaren Ivan Asen II. in das zu Ehren des Heiligen errichtete Kloster Trapezica in die damalige Hauptstadt Tărnovo überführt. Dadurch wurde der Heilige fortan für die Zarenfamilie in Anspruch genommen. Der Umgang mit den Reliquien in den Jahrhunderten nach seinem Tod verdeutlicht seine überregional wirkende Popularität. Das Rila-Kloster vermochte bis zum 1�. Jahrhundert anscheinend kaum von der Aura seines Gründers zu profitieren, umso mehr je262

Das Rila-Kloster in Bulgarien

doch nach der Rückführung der Reliquien 1�69. Mit Hilfe von Mara Branković, der berühmten serbischen Witwe des 1451 verstorbenen osmanischen Herrschers Murad II., erreichte man bei Sultan Mehmed II. die Anweisung, die Reliquien aus Tărnovo zurück ins Rila-Kloster zu bringen. Trotz des Widerstands der Bevölkerung in der ehemaligen bulgarischen Hauptstadt gelang es den aus dem fernen Kloster angereisten Mönchen mit Hilfe des osmanischen Kadis in Tărnovo, die Reliquien des Heiligen nach Rila zurückzubringen. Vladislav Grammatik beschreibt in seiner Vita den triumphalen Transport der Reliquien in detaillierter Form. Die Nachrichten über Besucher und Spender sollten von nun an nicht mehr versiegen. Die Figur des Heiligen wirkte dabei weit über Bulgarien hinaus, so daß die Pilger auch aus entfernteren Gegenden das Kloster aufsuchten. III. Die materiell-ideelle Dimension: Das Rila-Kloster als Hort altbulgarischer Schriftkultur Die aktuelle Gedächtniskultur des Rila-Klosters konzentriert sich vordringlich auf den national-religiösen und national-kulturellen Aspekt. Das Kloster gilt als einer der wichtigsten Zufluchtsorte bulgarischer Schriftkultur während der Zeit der osmanischen Herrschaft zwischen dem 14. und 19. Jahrhundert. Es wird als Ort der Kontinuität zwischen dem mittelalterlichen bulgarischen Zarenreich und der nationalen „Wiedergeburt“ wahrgenommen und damit auch als geistiger Wegbereiter der staatlichen Selbständigkeit im 19. Jahrhundert. Diese Vorstellung einer Brückenfunktion über die Zeiten hinweg liegt vor allem in der meist in einem religiösen Kontext stehenden Handschriftenproduktion zwischen dem 15. und 18. Jahrhundert begründet. Die Handschriften bilden dabei sichtbare Zeichen des Überlebens nicht nur des orthodoxen Christentums, sondern auch der bulgarischen Schriftsprache. Seit dem Ende des zweiten bulgarischen Reiches Ende des 14. Jahrhunderts ist das Rila-Kloster als Zentrum der altbulgarischen Buchproduktion faßbar. Das Spektrum umfaßt alle Bereiche religiöser Literatur, Evangeliare, Menaia, Viten, hymnographische Werke, Homiletik, Exegese, Kirchenrecht und Geschichtsschreibung. Der Handschriftenbestand des Klosters ist die einzig organisch gewachsene Handschriftensammlung kirchenslawischen Schrifttums auf bulgarischem Boden. Eines der ältesten Schriftzeugnisse stellen einige glagolitische Blätter aus dem 11. Jahrhundert dar. Es handelt sich um Fragmente der Paränesis Ephraims des Syrers. Der Großteil der erhaltenen Handschriften stammt jedoch aus der Zeit ab dem 15. Jahrhundert. Viele der im Rila-Kloster verfaßten Werke gelangten in das Fürstentum Moldau, nach Serbien oder nach Rußland. Sie sorgten für eine Verbreitung des Kultes Ivans von Rila und trugen somit zur Konstruktion des Klosters als eines religiösen Erinnerungsortes in der gesamten slawisch-orthodoxen Welt bei. Im 18. Jahrhundert, das allgemein als die literarische Blütezeit des Klosters beschrieben wird, verfaßte und übersetzte Josip Bradati mehrere Werke, wobei er durch einen moderneren Sprachgebrauch entscheidende Impulse für die Weiterentwicklung der bulgarischen Literatursprache setzte. 263

Daniel Ziemann

Die Kupfergravur von 187� zeigt Stationen aus der Vita Ivans und stellt diesen als Schutzherrn des Klosters von Rila dar. Die meisten Klostergebäude waren erst kurz zuvor errichtet worden und konnten nur durch die Nachahmung älterer Vorbilder für eine lange Tradition stehen. Bildnachweis: Privatarchiv Stefan Rohdewald.

Zu den berühmtesten Handschriften des Klosters gehören zwei im damaligen Fürstentum Moldau entstandene Evangeliare aus dem 16. Jahrhundert, das Krupnik-Evangeliar, ein Geschenk Bischof Josipvon Krupniks aus dem Jahr 1577, und das Suczawa-Evangeliar aus Suceava (heute Nordostrumänien) von 1529, weiterhin ein vom serbischen Kalligraphen Pop Ivan Kratovski gestaltetes Missale aus dem Jahr 1567 und das RilaPanegyrikon des Vladislav Grammatik von 1�79, in dem sich unter anderem eine der ältesten Abschriften der Vita Konstantin-Kyrills befindet. Einige Handschriften, etwa das berühmte Rilaer Damaskin aus dem letzten Viertel des 17. Jahrhunderts, weisen prächtigen Bilderschmuck auf. Unter den zahlreichen Drucken (darunter rund 300 griechische) finden sich ferner wertvolle Dokumente der osmanischen Administration und der Kanzleien der Sultane, 264

Das Rila-Kloster in Bulgarien

die Aufschluß geben über Probleme und Schwierigkeiten des Klosters, so ein von Sultan Bayezid II. ausgestelltes Ferman vom 20. August 1�98, mit dem das Kloster vor Übergriffen durch lokale türkische Amtsträger geschützt werden sollte. Derartige Erlasse finden sich bis zum 19. Jahrhundert in ständiger Regelmäßigkeit – und liefern damit indirekt Hinweise auf deren beschränkte Wirksamkeit. IV. Die materielle Dimension: Das Rila-Kloster als Bauwerk Die Architektur als sichtbarer Erinnerungsträger verleiht dem Kloster seine Einzigartigkeit. Dabei stammt der Großteil des Klosters in der heutigen Form aus dem 19. Jahrhundert, auch wenn die Architektur vor dem Hintergrund der Klostergeschichte als mittelalterlich wahrgenommen wird. Immerhin hat sich mit dem Hreljo-Turm – der auch heute noch gut erhaltene Turm steht im östlichen Teil des Klosterhofes – ein Objekt aus dem 14. Jahrhundert erhalten. Der Turm stellt damit das älteste sichtbare Architekturmerkmal des Klosters dar. Der serbische Großdomestikos/Protosebastos Hrel Dragovol ließ 1335 den nach ihm benannten Turm, einen Wehrturm nach Vorbild der Kreuzfahrerarchitektur, errichten. Hrel Dragovol führte 1327 das serbische Heer Stefan Uroš’ III. im innerbyzantinischen Krieg auf der Seite von Kaiser Andronikos II. gegen dessen Enkel Andronikos III. Im Jahr 1342 wurde Hrel Dragovol dann vom neuen serbischen König, Stefan Dušan, zum Eintritt in das Rila-Kloster gezwungen, wo er ein Jahr später eines gewaltsamen Todes starb. Das Kloster gilt als Refugium der christlich-bulgarischen Kultur während der osmanischen Herrschaft. Die konkrete Situation vor Ort war jedoch einigermaßen komplex, und bisweilen agierten die Osmanenherrscher sogar im Interesse des Klosters. Zahlreiche Zeugnisse dokumentieren einerseits die Probleme mit lokalen Amtsträgern, die Steuern einforderten oder Klosterbesitz an sich rissen. Andererseits trugen die Mönche in regelmäßigen Abständen ihre Klagen am Hof des Sultans in Konstantinopel vor und erwirkten Schutzprivilegien, Steuerbefreiungen und eindringliche Aufforderungen an die lokalen Amtsträger, dem Kloster keinen Schaden zuzufügen. Nur während des 14. Jahrhunderts scheint das Rila-Kloster komplett verlassen worden zu sein. Drei Brüder namens Joasaf, David und Teofan aus dem Dorf Granica in der Nähe von Kjustendil sollen das Kloster neu aufgebaut haben. Nach der Überführung der Reliquien Ivans von Rila aus Tărnovo begann eine Epoche größerer Aufmerksamkeit für das Kloster. Die Verehrung des Heiligen verschmolz mit dem Kloster zu einem einzigen Erinnerungskomplex. Der nun einsetzende Pilger- und Besucherstrom, auch aus dem russischen Zarenreich, schaffte neue materielle Grundlagen und Perspektiven. Ab 177� scheinen die Mönche die Genehmigung für eine Vergrößerung der HreljoKirche durch einen Narthex und zwei Seitenkapellen erwirkt zu haben. Wie bei späteren Bauvorhaben, so ist auch in diesem Fall das Wechselspiel zwischen zögerlicher, auf die Genehmigung von Reparaturmaßnahmen sich beschränkender osmanischer Verwaltung und dem immer wieder aufkeimenden Wunsch der Mönche nach Erweiterung und Neu265

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gestaltung zu fassen. Dieses Prozedere wiederholte sich bei fast allen Baumaßnahmen aufs neue. Nach den 1778 infolge eines Überfalls entstandenen Schäden erfolgte eine grundlegende Erneuerung des Klosters, was für die gute materielle Situation in jener Zeit spricht. Der Erinnerungsort bedurfte inzwischen einer adäquaten materiellen Ausstattung und war in der Lage, diese herzustellen. Die jeweiligen Spender wurden auf Steinplatten verewigt und hatten sich damit ihren Erinnerungsanteil erkauft. Wie das Kloster in jener Zeit aussah, ist nicht bekannt. Ende des 18. Jahrhunderts wurde an der Stelle des mutmaßlichen Grabes von Ivan von Rila die Kirche Mariä Himmelfahrt (Uspenije Bogorodično) gebaut. 183� wurde sie ausgemalt. In jener Zeit Ende des 18. Jahrhunderts wurde auch die Kirche Einführung der Gottesmutter (Maria in den Tempel) (Văvedenije Bogorodično) auf dem Klosterfriedhof errichtet. 1799 folgten ihr die Kirchen Evangelist Lukas und Mariä Schutz und Fürbitte (Pokrov Bogorodičen). Die Marienkirche am Grab Ivans wurde restauriert. Leider gibt es keinerlei Zeugnisse vom Aussehen der Klosterflügel und des Katholikons, die wenige Jahre später zugunsten eines kompletten Neubaus abgerissen wurden. Dieses Vorgehen verdeutlicht ein bemerkenswertes Erinnerungsbewußtsein, das zwar an die ideelle und religiöse Funktion des Klosters und den Kult seines Heiligen geknüpft war, nicht jedoch an die bis dahin bestehenden Architekturdenkmäler. Der Nord- sowie in großen Teilen der Ost- und der Westflügel des Klosters wurden unter der Leitung des Meisters Aleksi zwischen 1816 und 1819 errichtet. Einzelne Forscher meldeten jedoch Zweifel am Umfang der Beteiligung jenes berühmten Meisters Aleksi an. Am 13. Januar 1833 legte ein verheerendes Feuer Teile der Gebäude sowie ein Großteil des Archivs und der Einrichtung in Schutt und Asche. Der folgende Wiederaufbau wurde überraschend zügig organisiert, und ebenso zügig erfolgten die Genehmigungen der entsprechenden Reparaturen durch die osmanischen Behörden. 183� bis 1837 entstand dabei auch die Kirche nach dem Vorbild des berühmten Athosberges. Zwischen 1838 und 1860 wurde die Inneneinrichtung der Kirche hergestellt. Damit war der Großteil des auch heute noch sichtbaren Bestands des Klosters vollendet. Erst zwischen 1959 und 1962 wurde der südliche Teil des Ostflügels erbaut und damit der Kreis um die Kirche abgeschlossen. V. Die politische Dimension: Wiedergeburt, kommunistische Herrschaft und die politische Wende von 1989 Nach der in mehreren Etappen zwischen 1878 und 1908 erreichten staatlichen Unabhängigkeit ganz Bulgariens etablierte sich das Rila-Kloster zunehmend auch als Wallfahrtsort mit nationaler Konnotation. Seine intellektuelle Tradition und sein Ruf als Wegbereiter der neuen Nationalstaatlichkeit bezogen das Kloster in das politische Geschehen jener Zeit ein, auch wenn es dabei nicht eine solch herausragende Rolle spielte wie andere nationale Erinnerungsorte. Ein Beispiel für die Vereinnahmung des Rila-Klosters und der 266

Das Rila-Kloster in Bulgarien

mit ihm verbundenen Geschichtsbilder stellt der sechste im Kloster stattfindende Kongreß der „Inneren makedonischen revolutionären Organisation“ (Vătrešna makedonska revoljuzionna organizacija, VMRO) vom Februar 1925 dar. Die VMRO hatte sich nach dem Berliner Kongreß von 1878 die politische Unabhängigkeit der makedonischen Gebiete vom osmanischen Herrschaftsbereich auf die Fahnen geschrieben. Nach dem Ersten Weltkrieg standen primär die Bemühungen zur Rückgewinnung der verlorenen Gebiete Makedoniens im Vordergrund. Das Rila-Kloster wurde zu einem bewußt hervorgehobenen nationalen Erinnerungsort, der durch seine überregionale Ausstrahlungskraft auch diejenigen als bulgarisch verstandenen Bevölkerungsgruppen einbinden sollte, die sich außerhalb der eigentlichen bulgarischen Staatsgrenzen befanden. Zar Boris III., eine Leitfigur des konservativ-monarchistisch orientierten Bulgarien, hatte sich das Rila-Kloster zu einem seiner Lieblingsorte auserkoren. Nach seinem mysteriösen Tod 1943 wurde er dort auch bestattet. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs veranlaßte die kommunistische Regierung 19�6 die Exhumierung seines Leichnams und dessen Überführung in den Schloßpark des „Vrana-Palastes“ nach Sofia. Nach der politischen Wende Ende 1989 versuchte man, Boris III. dort erneut zu exhumieren; man fand jedoch nur sein Herz vor, das abermals im Rila-Kloster beigesetzt wurde. Der Einmarsch der Roten Armee 1944 und die kommunistische Machtübernahme führten zu erheblichen Konflikten mit dem Kloster und gleichzeitig zu einer markanten erinnerungspolitischen Umdeutung. Bei einem Besuch des neuen Ministerpräsidenten Georgi Dimitrov zur Tausendjahrfeier des Rila-Klosters 19�6 verließ dieser aus Protest gegen die Segenswünsche für die Zarenfamilie die Kirche und äußerte anschließend heftige Kritik. Die folgenden Jahre sahen die Enteignung und Aufhebung des Klosters und die Schließung der Kirche. Auch das kommunistische Regime konnte und wollte jedoch nicht auf die Wirkung des Klosters als Gedenkort von nationaler Bedeutung verzichten und arbeitete an einer politisch-nationalen Umdeutung auf Kosten der religiösen Dimension. Schulklassen und Gruppen sollten nach wie vor das Kloster als Erinnerungsort des bulgarischen Volkes und seines kulturellen Erbes besuchen. Nachdem das Kloster 1961 zum „nationalen Museum“ und 1976 zum „nationalen Geschichtsreservat“ erklärt worden war, wurde es 1983 auch von der UNESCO als Weltkulturerbe aufgenommen. Im Jahr 1991 erhielt Rila seinen kirchenrechtlichen Status als Kloster zurück und in den folgenden Jahren im Zuge komplizierter und konfliktreicher Prozesse auch Teile seines ehemaligen Besitzes. Die bulgarisch-orthodoxe Kirche etablierte in jüngster Zeit erneut stärker die religiöse Erinnerungsdimension, wobei der Besuch von Papst Johannes Paul II. im Jahr 2002 sicherlich einen neuen Höhepunkt in der nun wieder eher religiös akzentuierten Erinnerungswirkung des Klosters darstellte. Das Erinnerungspotential Rilas ist mit diesen Aspekten nicht erschöpft. Die Lage des Klosters im Naturpark Rila etwa verbindet den Bau mit der typischen Landschaft der Umgebung und zwei bekannten Felsen als eigene Erinnerungsorte. Von großer Bedeutung ist schließlich auch die Entwicklung des Klosters zu einer touristischen Hauptattraktion Bulgariens mit entsprechendem kommerziellen Erfolg. 267

Daniel Ziemann

VI. Auswahlbibliographie a) Quellen ivanov, Jordan: Žitija na sv. Ivana Rilski. S uvodni beležki [Die Viten des heiligen Ivan von Rila. Mit einführenden Bemerkungen]. In: Godišnik na Sofijskija universitet. Istoriko-filologičeski fakultet 32/3–4 (1935/36) 1–109; KiseLKov, Vasil: Sveti Ivan Rilski. Žitija [Der heilige Ivan von Rila. Die Viten]. Sofija 19�0; Gošev, Ivan: Trite naj-stari prostranni žitija na prepodobnija Iv. Rilski. Tekst i istoriko-liturgičeski komentar [Die drei ältesten ausführlichen Viten des ehrwürdigen Ivan von Rila. Text und historisch-liturgischer Kommentar]. In: Godišnik na Sofijskija universitete, Bogoslovski fakultet 25/7 (19�7/�8) 3–72; anGeLo, Bonju St.: Novo žitie na Ivan Rilski [Eine neue Vita des Ivan von Rila]. In: ders.: Iz starata bălgarska, ruska i srăbska literatura. Sofija 1958, 69–97.

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Daniel Ziemann

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Der Wawel – Dom und Königsgräber I. Zusammenfassung. – II. Zentrum des Stanislauskults und königliche Nekropole. – III. Reliquiar nationalen Erinnerungsgutes nach Verlust der Unabhängigkeit. – IV. Pilgerstätte der Gegenwart. – V. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Der Wawel ist ein Kalkhügel im Zentrum Krakaus am linken Weichselufer und war schon im Neolithikum besiedelt. Im 10. Jahrhundert bildete sich hier ein lokales Machtzentrum. Nach der Einführung des Christentums in Polen (966) wurden auf dem Wawel die ersten steinernen Kirchen errichtet. Seit dem Jahr 1000, das heißt seit der Einrichtung eines Bischofssitzes in Krakau, befindet sich auf dem Hügel ein Dom. Den ersten, vorromanischen Bau errichtete man kurz nach der Stiftung des Bistums, den nächsten, romanischen, dann im 12. Jahrhundert. Der gegenwärtige dritte Dom entstand als gotischer Bau im 14. Jahrhundert. Der Waweldom erfüllte seit dem Mittelalter wichtige religiöse Funktionen: Hier befand sich das Grab des heiligen Bischof Stanislaus, eines der vier Hauptpatrone Polens, und hier fanden traditionell auch die Krönungsfeierlichkeiten der polnischen Könige statt. Er war ferner Grabstätte der Herrscher sowie Trophäenlager, wo eroberte Standarten und Fahnen aufbewahrt wurden. Dies bewirkte, daß der Dom unter der Herrschaft der Habsburger im 19. Jahrhundert einen besonderen Status gewann: Er avancierte – und dies gilt bis zur Gegenwart – zu einer der bedeutendsten nationalen Gedenkstätten polnischer Staatlichkeit.

II. Zentrum des Stanislauskults und königliche Nekropole Die bedeutendste religiöse Funktion des Doms war mit dem Kult des heiligen Stanislaus von Szczepanów verbunden, eines 1079 auf Befehl von König Bolesław II. ermordeten Krakauer Bischofs. Unklar bleibt, wann man die Gebeine des Bischofs von der nahegelegenen Kirche in Skałka, dem Ort des Mordes, in den Dom verlegt hat. Wahrscheinlich erfolgte diese Umbettung um das Jahr 1150. Im 13. Jahrhundert machte sich ein starkes Anwachsen des Stanislauskults bemerkbar, den dann auch die Heiligsprechung in Assisi am 17. September 1253 sanktionierte. Am 8. Mai 125� fand im Waweldom die Kanonisationsfeier statt, während derer die Reliquien des Heiligen in der Mitte der Kirche niedergelegt wurden. Diese Plazierung seiner Grabstätte behielt man beim Bau des gotischen Doms bei. Seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts hatte sie die Form eines in der Vierung situierten barocken Ziboriums mit Altar, auf dessen Mensa ein silberner, von sechs Engeln gestützter Sarg ruht, ein Werk Peters von der Rennen aus Danzig. Der Sarg war bereits der dritte: Den ersten (romanischen) hatte Fürstin Kinga anläßlich der 271

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Heiligsprechung gestiftet, den zweiten (frühbarocken) 1633 König Władysław IV. Waza; er war 1657 von schwedischen Truppen zerstört worden. Dem Kult des heiligen Stanislaus lagen schon im 13. Jahrhundert nicht nur religiöse, sondern auch politische Motive zugrunde. Nach dem Vorbild der Viten des gleichfalls am Altar seiner Kirche und im Auftrage des Königs ermordeten Erzbischofs von Canterbury, Thomas Becket, wurde Stanislaus nun zu einem Beschützer der Freiheit der Kirche stilisiert. Da der Stanislauskult rasch überregionale Bedeutung gewann, konnte er in dem territorial zersplitterten Land integrierende Wirkung entfalten. Vinzenz von Kielce schrieb in der kurz nach der Kanonisation von Stanislaus entstandenen Vita maior, das zerrissene polnische Reich würde auf diese Weise wieder zusammenwachsen, so wie der zerhauene Leichnam des Heiligen durch ein Wunder zusammengewachsen sei; auf den gottgewählten Herrscher würden bereits die in der Schatzkammer des Krakauer Doms aufbewahrten königlichen Insignien warten. In den folgenden Jahrhunderten nahm die Verehrung des heiligen Stanislaus von Szczepanów auf dem Wawel die Gestalt eines offiziellen Staatskults an. In diesem Zusammenhang wurde der Heilige zu einem der vier Hauptpatrone Polens erklärt, der Volkskult dagegen blieb stets an die Kirche in Skałka gebunden. Spätere Herrscher erinnerte man häufig an die Geschichte des Streits zwischen König und Bischof: Die Bußpilgerschaft vom Wawel nach Skałka, die jeder neugekrönte König bis zu den Teilungen Polens im 18. Jahrhundert zu Fuß abhielt, war ein Memento, das ihn über die Art und Weise der künftigen Machtausübung nachdenken ließ. Seit der Wiedervereinigung der polnischen Landesteile zu Beginn des 14. Jahrhunderts war der Waweldom die Krönungskirche der polnischen Könige. Als erster König ließ sich 1320 Władysław I. Łokietek auf dem Wawel krönen. Die Tradition erhielt sich, trotz Verlegung des königlichen Hofs von Krakau nach Warschau zu Beginn des 17. Jahrhunderts, bis in das 18. Jahrhundert hinein (nur die Krönung von Stanislaus August Poniatowski, des letzten polnischen Königs vor der Auflösung des Staates 1795, fand in Warschau statt). Seit Władysław Łokietek wurden nahezu alle Könige auch im Krakauer Dom beigesetzt. Lediglich Władysław III. Warneńczyk, dessen Leiche nach der Schlacht bei Warna nicht zu finden war, Stanislaus Leszczyński, der in Frankreich starb, sowie Poniatowski, der sein Leben im Exil beendete, wurden an anderen Orten begraben. Ursprünglich ließen sich die Herrscher gotische Tumben mit Baldachinen im Chorumgang (Władysław Łokietek, Kasimir der Große) oder im Langhaus (Władysław II. Jagiełło) aufstellen. Kasimir IV. Jagiełło dagegen baute für sich und seine Frau eine Grabkapelle im Westen der Kirche an (das Baldachingrabmal des Königs fertigte Veit Stoß). Seinem Beispiel folgten dann auch die nächsten Könige. So entstand die Sigismundkapelle im Stil der Renaissance, in der die letzten Jagiellonen bestattet wurden: Sigismund I., Sigismund II. August und Anna Jagiellonka. Stefan Batory fand seine letzte Ruhestätte in der Marienkapelle, die Herrscher aus der Wasa-Dynastie dagegen (Sigismund III., Władysław IV. Wasa und Johann II. Kasimir) in einer Kapelle, die neben der Sigismundkapelle und nach deren Vorbild errichtet, im Inneren aber barock dekoriert wurde. Frauen errichtete man keine eigenen Grabmäler. Eine Ausnahme stellte Anna Jagiellonka dar, 272

Der Wawel – Dom und Königsgräber

die nicht nur Königsgemahlin, sondern auch aus eigenem Recht Regentin des Reiches war. Hedwig von Anjou erhielt erst im 20. Jahrhundert ein eigenes Grabmal. Der Waweldom war zudem eine Art Trophäenlager. Nach dem Sieg über den Deutschen Orden bei Tannenberg 1�10 ließ Władysław II. Jagiełło nach einer feierlichen Prozession in der Domkirche die eroberten Standarten niederlegen, die dort bis zum 18. Jahrhundert hingen. Diese Gepflogenheit setzten spätere Könige und Heerführer fort, so beispielsweise Johann III. Sobieski, der nach der Schlacht bei Wien 1683 die Fahne des osmanischen Großwesirs am Grab des heiligen Stanislaus persönlich niederlegte. Die meisten dieser Trophäen gingen allerdings in späterer Zeit verloren. III. Reliquiar nationalen Erinnerungsgutes nach Verlust der Unabhängigkeit Der Weg des polnischen Volkes in die Neuzeit wurde ganz wesentlich durch den Verlust der staatlichen Existenz 1795 beeinflußt. Eine nationale Identität bildete sich nicht in Anlehnung an staatliche Institutionen, sondern auf der Grundlage kultureller Errungenschaften heraus. Gedächtnispflege wurde so zu einem Akt gegen die Fremdherrschaft in den Teilungsgebieten. In Krakau war der Druck der österreichischen Teilungsmacht vergleichsweise gering. Politisch gehörte die Stadt in napoleonischer Zeit zum Herzogtum Warschau, 1815 gewann sie den Status einer Freien Stadt. Nach der Eingliederung in das Kaisertum Österreich 18�6 und einer kurzen Zeit der Repressalien und Germanisierung wurde Krakau 1867, als Galizien autonom wurde, Hauptzentrum der polnischen Kultur und Wissenschaft. Dies hatte zur Folge, daß die an Kunst- und Geschichtsdenkmalen so reiche Metropole, die ehemalige Hauptstadt Polens, in der Bevölkerung allgemein als Reliquiar nationalen Erinnerungsgutes angesehen wurde. Im Rahmen der patriotischen Erziehung veranstaltete man in allen anderen Teilen des Landes Exkursionen nach Krakau und verlieh diesen den Rang von nationalen Wallfahrten. Ein besonderer Punkt in der symbolischen Topographie der auf diese Weise aufgewerteten Stadt war dabei der Wawel. Man sah in ihm stets ein Nationaldenkmal, während die Marienkirche auf dem Krakauer Ring zum Beispiel nur als ein für die städtische Identitätsbildung wichtiger Bau wahrgenommen wurde. Das Schloß verlor zwar gänzlich den Charakter der früheren königlichen Residenz und wurde nach 18�6 zu einer österreichischen Kaserne umgestaltet, der Dom aber blieb Gläubigen und Besuchern stets zugänglich, obwohl man ihn in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in die den ganzen Hügel einnehmende Zitadellenanlage eingliederte. In der ersten Monographie über die Architektur der Kirche deutete August Essenwein 1865 den Dom als lebendiges Spiegelbild der polnischen Nationalgeschichte; die Kirche sei ein Bild des gesamten Königreichs. Diese Funktion erfüllte der deshalb manchmal auch „Walhalla“ genannte Dom vor allem als eine Art Pantheon: „Nationale Pilger“ konnten in seinem Innern zahlreiche Grabmäler von Königen und Adligen bewundern. In den 1870er Jahren wurde sogar eine besondere Route eröffnet, die Besucher durch sukzessiv angeschlossene Grüfte mit königlichen Särgen führte. Die alte Tradition der 273

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königlichen Bestattungen wurde fortgesetzt, indem man in den Grüften der Kirche Nationalhelden bestattete. 1817 brachte man im Dom die Gebeine des Fürsten Joseph Poniatowski unter, des Oberbefehlshabers der Armeen im Herzogtum Warschau, ein Jahr darauf setzte man in der Krypta Tadeusz Kościuszko bei, den Anführer des ersten polnischen Nationalaufstands. 1869 fand man die Gebeine König Kasimirs des Großen wieder und inszenierte ein neues Begräbnis des Monarchen, das sich in eine gewaltige patriotische Manifestation verwandelte. 1890 fand Adam Mickiewicz in einer Gruft, die man eigens für den großen Dichter der Romantik eingerichtet hatte, seine letzte Ruhe. 1895 bis 1911 wurde der Dom gründlich restauriert. Dabei entfernte man mehrere Barockaltäre sowie die im Langhaus hängenden Wandteppiche aus Arras. Gleichzeitig war man bestrebt, den Charakter der Kirche als königliche Nekropole stärker hervorzuheben. Das im 18. Jahrhundert in die Kreuzkapelle verlegte Grabmal von Władysław II. Jagiełło wurde so an seinen ursprünglichen Standort zurückgebracht und ihm gegenüber ein Kenotaph seines Sohnes Władysław III. von Warna aufgestellt, das Antoni Madeyski entworfen hatte. Der Dom erfüllte über Jahrhunderte hinweg naturgemäß auch religiöse Funktionen. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts lebte der Stanislauskult wieder auf, der während der Aufklärung spürbar zurückgegangen war. Besondere Bedeutung gewannen die Feierlichkeiten zum 800. Todestag des Bischofs 1879. In der Verehrung des Heiligen verbanden sich religiöse Motive mit patriotischen. Das durch Vinzenz von Kielce berichtete wundersame Zusammenwachsen der Gebeine von Stanislaus deutete man abermals als Verheißung der Wiederherstellung eines unabhängigen Polen. In der Ermordung des Bischofs durch den König glaubte man das Böse der Macht – zu jener Zeit verkörpert in der Fremdherrschaft der Teilungsmächte – schlechthin zu erblicken, das allein durch die Fürsprache des heiligen Märtyrers besiegbar sei. Daneben gewann der Kult der Königin Hedwig von Anjou an Stärke und Lebendigkeit. Man begann, ihre Seligsprechung zu betreiben, und baute ihr neben dem Grabmal Kasimirs des Großen einen eigenen marmornen Sarkophag. Belletristische Werke und Stadtführer aus jener Zeit ermöglichen eine Rekonstruktion der typischen Besichtigungsroute durch den Dom, die polnische Besucher im 19. Jahrhundert wählten. Die religiös bedeutendste Station war das Ziborium des heiligen Stanislaus. Man besichtigte aber auch die Grabmäler von Königen und Adeligen, zum Beispiel das von Piotr Kmita, sowie das Grabdenkmal Bischof Kajetan Sołtyks, der 1767 durch russische Militärs nach Kaluga deportiert worden war und deshalb als Nationalmärtyrer galt. Obligatorisch war ferner, da man den Dom als national-religiöse Gedenkstätte betrachtete, der Besuch der königlichen Krypta sowie der Mickiewicz-Gruft. Diesen Charakter der Kirche heben auch die Wandgemälde hervor, mit denen Włodzimierz Tetmajer die Kapelle der Königin Sophie 1902/03 ausschmückte. Am Gewölbe brachte der Maler Darstellungen bedeutender Gestalten aus der polnischen Geschichte, an der Nordwand eine Allegorie Polens zur Zeit der Teilungen an. Die Inschrift „Es ist nicht gestorben, es schläft nur“, war Ausdruck der Hoffnung auf ein Wiedererwachen des Vaterlands. Einen Versuch, diesen religiös-patriotischen Mythos in Frage zu stellen, unternahm Stanisław Wyspiański: Er stellte in den unausgeführten Glasfensterentwürfen (1900/02) den hei27�

Der Wawel – Dom und Königsgräber

ligen Stanislaus als verwesten Leichnam in einem zerfallenen Sarg dar und widersetzte sich damit einem Kult, der den Wert des Leidens und Wartens auf ein Wunder der nationalen Wiedergeburt herausstellte – eine Idee der polnischen Dichtung der Romantik. Ein Symbol einer anderen Haltung sollte das Glasfenster mit einer Darstellung der Gebeine Kasimirs des Großen liefern. Die zufällige Entdeckung seines Grabes verstand Wyspiański als Appell, den aktiven Freiheitskampf wiederaufzunehmen. 190� machte er die im Dom versammelten Kunstwerke – freilich nicht diejenigen, denen das Interesse der Besucher gewöhnlich galt – zu Protagonisten seines Dramas Akropolis. Er belebte auf der Bühne Bibel- und Mythologiegestalten von den Wandteppichen, die bei der Restauration der Kirche entfernt worden waren, sowie Figuren von klassizistischen Grabmälern ohne jeglichen Bezug auf eine patriotische Deutung der Geschichte. So schuf er eine neue, der herkömmlichen völlig entgegengesetzte historische Narration. In der letzten Szene zertrümmert der in den Dom hineinfahrende Christus-Apoll mit seinem Streitwagen das Ziborium des heiligen Stanislaus.

IV. Pilgerstätte der Gegenwart Trotz der Wiedererlangung der staatlichen Unabhängigkeit Polens 1918 verlor der Dom seine älteren Funktionen nicht. Der Dom, der nur in der Zeit der deutschen Besatzung Polens von 1939 bis 19�5 geschlossen war, ist unverändert eine religiöse und nationale Kult- und Gedenkstätte. Der Brauch, nach Krakau zu pilgern, wird bis in die Gegenwart durch die meisten polnischen Schulen aufrechterhalten und bildet einen wichtigen Bestandteil der patriotischen Erziehung. Während des Kriegszustands in Polen und der Jahre bis zum Zusammenbruch des kommunistischen Systems hielt man hier „Messen für das Vaterland“ ab, die in der Tat patriotische Demonstrationen waren. 1982 führte das Krakauer Alte Theater den Mord im Dom von T. S. Eliot auf dem Wawel auf. Dabei brachte man nicht nur erneut den Mord an Thomas Becket mit dem an Bischof Stanislaus in Zusammenhang, sondern verlieh dem Widerstand des englischen Geistlichen auch eine aktuelle Deutung, und zwar im Sinn eines Aufrufs, sich auch der kommunistischen Gewalt tatkräftig zu widersetzen. 1927 hatte man neben Mickiewicz einen zweiten großen Dichter der Romantik, Juliusz Słowacki, im Dom beigesetzt. 1935 fand dort Marschall Józef Piłsudski seine letzte Ruhestätte. Sein Begräbnis war eine riesige Manifestation, an der Zehntausende von Menschen teilnahmen. Den Sarkophag des Marschalls stellte man zwei Jahre später in einer eigens zu diesem Zweck von Adolf Szyszko-Bohusz entworfenen Gruft unter dem Turm der Silbernen Glocken auf. 1993 wurden die Gebeine von General Władysław Sikorski – der Premierminister der polnischen Exilregierung und Oberbefehlshaber der polnischen Streitkräfte im Westen war 1943 bei einem Flugzeugunglück über Gibraltar ums Leben gekommen – aus England in den Dom überführt. Den Sarkophag brachte man in der St. Leonardsgruft neben den Gräbern von Kościuszko und Poniatowski unter. 275

Wojciech Bałus

Die Wawelkathedrale, traditionell die Grablege der polnischen Könige, wurde im Lauf der Jahrhunderte zu einem Reliquiar nationalen Erinnerungsgutes. Die kunsthistorische und touristische Erschließung der Architektur samt ihrer Ausstattung einerseits und die nationale Geschichtserzählung andererseits gingen dabei Hand in Hand. Dies dokumentiert auch die Titelseite des 1872 in Krakau verlegten Werkes Pomniki królów polskich w Katedrze (Denkmale der polnischen Könige im Krakauer Dom), Lithographie von Marcin Salb. Bildnachweis: Privatarchiv Wojciech Bałus.

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Der Wawel – Dom und Königsgräber

Die religiösen Feierlichkeiten, die in der Zeit zwischen den Weltkriegen offiziellen Charakter hatten, wurden unter dem kommunistischen Regime Manifestationen der Treue zum Katholizismus. Eine besondere Bedeutung gewannen Prozessionen aus dem Dom zur Kirche in Skałka, die alljährlich zu Ehren des heiligen Stanislaus am ersten Sonntag nach dem 8. Mai stattfanden. Seit 1966 hielt dabei jeweils der Kardinalprimas Stefan Wyszyński eine Predigt. 1979 beging man die Feierlichkeiten zum 900. Todestag des heiligen Stanislaus, die noch von Kardinal Karol Wojtyła vorbereitet worden waren. Als Krakauer Metropolit in den Jahren 1963 bis 1978 war Wojtyła vielfach bestrebt, Königin Hedwig zur Ehre der Altäre zu erheben. Umsetzen konnte er diesen Plan dann als Papst, indem er sie 1987 selig- und 1997 heiligsprach. Die Gebeine Hedwigs wurden in der nordöstlichen Ecke des Chorumgangs, in der Mensa eines barocken Altars, bestattet. Dieser ist mit einem gotischen Kreuz, dem sogenannten Schwarzen Kruzifix, geschmückt, das einer Legende nach die Königin einst angeredet haben soll. In den letzten Jahren bewirkte der zunehmende Kult des 2005 verstorbenen polnischen Papstes, daß der Dom auch zu einer seiner Gedenkstätten geworden ist. Johannes Paul II. hatte den Waweldom bei sechs seiner acht Wallfahrten nach Polen (1979, 1983, 1987, 1997, 1999, 2002) besucht. Unverändert dient der Dom aber auch als Nationalpantheon. Im April 2010 wurde hier dicht neben Piłsudski der tödlich verunglückte Staatspräsident Lech Kaczyński beigesetzt. Die an sich politische Entscheidung rief, sieht man von wenigen Pressemitteilungen ab, keinen größeren Protest in Polen hervor. Die Bestattung auf dem Wawel bedeutet eine Versetzung des Verstorbenen aus dem Bereich der Politik in den der Geschichte und des nationalen Gedenkens. V. Auswahlbibliographie essenWein, August: Die Domkirche zu Krakau. In: Mittheilungen der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 10 (1865) 57–90; WoJciechoWsKi, Tadeusz: Kościół katedralny w Krakowie [Die Kathedralkirche in Krakau]. Kraków 1900; WindaKieWicz, Stanisław: Dzieje Wawelu [Geschichte des Wawels]. Kraków 1925; KLeszczoWa, Izabela: Świadectwo wieków (z dziejów kultu św. Stanisława) [Zeugnis der Jahrhunderte (aus der Geschichte des Kultes des heiligen Stanislaus)]. In: Znak 298–299 (1979) 390–397; KłoczoWsKi, Jerzy: Św. Stanisław a umacnianie polskiej świadomości narodowej i religijnej w XIII wieku [Der hl. Stanislaus und die Festigung des nationalen und religiösen polnischen Bewußtseins im 13. Jahrhundert]. Ebd., 308–318; WitKoWsKa, Aleksandra: Wawel i Skałka [Der Wawel und Skałka]. Ebd., 358–365; rożeK, Michał: Ara Patriae. Dzieje grobu świętego Stanisława w katedrze na Wawelu [Ara Patriae. Die Geschichte des Grabes des heiligen Stanislaus im Dom auf dem Wawel]. In: Analecta Cracoviensia 11 (1979) �33–�60; MiodońsKa-brooKes, Ewa: Wawel – „Akropolis“. Studium o dramacie Stanisława Wyspiańskiego [Der Wawel – „Akropolis“. Studie über ein Drama Stanisław Wyspiańskis]. Kraków 1980; rożeK, Michał: Katedra wawelska w XVII wieku [Der Waweldom im 17. Jahrhundert]. Kraków 1980; crossLey, Paul: Gothic Architecture in the Reign of Casimir the Great. Church Architecture in Lesser Poland 1320–1380. Kraków 1985; MiodońsKa-brooKes, Ewa: Tradycja symboliki Wawelu w polskiej literaturze (rozważania wstępne) [Die Tradition der Wawel-Symbolik in der polnischen Literatur (vorbereitende Betrachtungen)]. In: Ruch Literacki 32 (1991) 299–315; WitKo, Andrzej: Nowe urządzenie krypt królewskich na Wawelu w latach siedemdziesiątych XIX wieku [Die neue Einrichtung der Königsgrüfte auf dem Wawel

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Wojciech Bałus in den 1870er Jahren]. In: Studia Waweliana 1 (1992) 97–111; MiodońsKa-brooKes, Ewa: Przestrzenie Wawelu (Z problematyki symboliki wawelskiej) [Die Räume des Wawel (aus der Problematik der Wawel-Symbolik)]. In: GoduLa, Róża (Hg.): Klejnoty i sekrety Krakowa. Teksty z antropologii miasta. Kraków 1994, 93–111; sołtys, Angela: Pomniki Antoniego Madeyskiego na tle problemu restauracji katedry krakowskiej [Die Denkmäler von Antoni Madeyski vor dem Hintergrund der Restaurierung der Krakauer Kathedrale]. In: Studia Waweliana 3 (199�) 157–168; rożeK, Michał: Wawel i Skałka. Panteony polskie [Der Wawel und Skałka. Polnische Pantheone]. Wrocław 1995; irGanG, Winfried: Die politische Bedeutung der Heiligen im Mittelalter (Wenzel, Adalbert, Stanislaus, Hedwig). In: KöhLer, Joachim (Hg.): Heilige und Heiligenverehrung in Schlesien. Sigmaringen 1997, 31–50; KuczMan, Kazimierz/daranoWsKa-łuKaszeWsKa, Joanna (Hg.): Katedra krakowska w Średniowieczu [Der Krakauer Dom im Mittelalter]. Kraków 1996; zieJKa, Franciszek: Poeci, misjonarze, uczeni. Z dziejów kultury i literatury polskiej [Dichter, Missionare, Gelehrte. Aus der Geschichte der polnischen Kultur und Literatur]. Kraków 1998; daranoWsKa-łuKaszeWsKa, Joanna (Hg.): Katedra krakowska w czasach nowożytnych (XVI–XVIII wiek) [Der Krakauer Dom in der Frühen Neuzeit (17. und 18. Jahrhundert)]. Kraków 1999; MrozoWicz, Wojciech: Die politische Rolle des Kultes des hl. Adalbert, Stanislaus und der hl. Hedwig im Polen des 13. Jahrhunderts. In: derWich, Marek/dMitriev, Michel (Hg.): Fonctions sociales et politiques du culte des saints dans les sociétés de rite grec et latin au Moyen Âge et à l’époque moderne. Approche comparative. Wrocław 1999, 111–12�; piech, zenon: Darstellungen des heiligen Stanislaus als Schutzheiligen des Herrschers, des Staates und der Dynastie der Jagiellonen. Ebd., 125–160; urban, Jacek: Katedra na Wawelu (1795–1918) [Der Dom auf dem Wawel (1795–1918)]. Kraków 2000; sKoWron, Ryszard: Wawel. Kronika dziejów [Der Wawel. Chronik der Geschichte], Bd. 1. Kraków 2001; bałus, Wojciech: Krakau zwischen Traditionen und Wegen in die Moderne. Zur Geschichte der Architektur und der öffentlichen Grünanlagen im 19. Jahrhundert. Stuttgart 2003, 23–32; Wünsch, Thomas: Kultbeziehungen zwischen dem Reich und Polen im Mittelalter. In: ders. (hg.): Das Reich und Polen. Parallelen, Interaktionen und Formen der Akkulturation im Hohen und Späten Mittelalter. Ostfildern 2003, 357–�01; bałus, Wojciech: Nagrobek królowej Jadwigi w katedrze na Wawelu [Das Grabmal der Königin Hedwig im Dom auf dem Wawel]. In: byrsKa, Helena/bednarz, Antoni (Hg.): Święta Jadwiga Królowa. Abyśmy byli godni tego dziedzictwa. Kraków 2006, 103–127; szczersKi, Andrzej: Nationalism and Funerals: The Commemorations of Józef Pilsudski and Paul Hindenburg in the 1930s. In: born, Robert/Labuda, Adam/störtKuhL, Beate (Hg.): Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen 1800 bis 1939. Warszawa 2006, 289–301; bałus, Wojciech: Sztuka sakralna Krakowa w wieku XIX, II: Matejko i Wyspiański [Die Sakralkunst Krakaus im 19. Jahrhunder, II: Matejko und Wyspiański]. Kraków 2007, 173–220; rożeK, Michał: Groby królewskie na Wawelu [Königsgräber auf dem Wawel]. Kraków 2008; urban, Jacek: Katedra na Wawelu (1918–2008) [Der Dom auf dem Wawel (1918–2008)]. Kraków 2009.

Wojciech Bałus

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Die Kaloža-Kirche I. Einführung. – II. Name und Bedeutung des Orts. – III. Die Kaloža-Kirche. – IV. Restaurierungen und Erinnerungsdiskurse nach 1650. – V. Auswahlbibliographie.

I. Einführung Kaloža ist ein Ortsteil der Stadt Hrоdna, in dem sich eines der wichtigsten Architekturdenkmäler der Rus’ und des Großfürstentums Litauen befindet: die Boris und Gleb geweihte Kirche von Kaloža. Das Bauwerk nach byzantinischem Vorbild wurde aufwendig auch mit farbigen Ziegelsteinen errichtet. Es legt Zeugnis von der Eingliederung der mittleren Memelregion im 11. und 12. Jahrhundert in die stark von Byzanz und der orthodoxen Kirche beeinflußte Hälfte Europas ab. Im 17. Jahrhundert wurde die Kirche zum Zankapfel der orthodoxen und der unierten Kirche. Die Bedeutung der Stadt wuchs im 17. und 18. Jahrhundert, als sich dort häufig der Reichstag von Polen-Litauen versammelte. Im 20. Jahrhundert galt das Gebäude als eines der westlichsten Baudenkmäler der Rus’. Als solches diente es nach dem Ersten Weltkrieg zur Einforderung der staatlichen Zugehörigkeit zur Sowjetunion der in der Zwischenkriegszeit polnischen Stadt und – nach dem Zweiten Weltkrieg – zur Rechtfertigung ihrer Aneignung durch die UdSSR. In der nach 1991 unabhängigen Republik Belarus’ ist die Kirche weiterhin Projektionsfläche sowohl für polnische und weißrussische als auch für rußländische Geschichtsbilder.

II. Name und Bedeutung des Orts Kaloža ist eine außerhalb der früheren Stadtbefestigungen gelegene Vorstadt von Hrodna, der ältesten Stadt der Rus’ und später des Großfürstentums Litauen, deren Ursprünge bis ins 10. Jahrhundert reichen. Die früheste Siedlung ist an den Ausläufern des Hochlands von Hrodna gelegen, am Zusammenfluß der Memel und der Haradničanka und somit am Kreuzungspunkt wichtiger Verbindungswege, die für die wachsende wirtschaftliche und militärische Bedeutung der Stadt wichtig waren. Der älteste und einzig überlieferte Name einer Vorstadtsiedlung extra muros, am steilen und hohen Flußufer der Memel gelegen, ist Kaloža. Hrodna wurde in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zum Hauptort eines als Gegengewicht zu Polack eingerichteten Kiewer Teilfürstentums und als solcher auch mit einer repräsentativen Kirchenarchitektur ausgestattet. Ihr Ziegelbaustil ist mehreren damals errichteten Kirchen gleich: der Auferstehungskirche, die der Geburt der Muttergottes geweiht ist, der Burgkirche und auch der Kirche von Kaloža. Von diesen Bauten ist nur die Kirche von Kaloža bis heute erhalten geblieben; von den ersten drei Kirchen gibt es nur noch Reste von Fundamenten. Im 12. Jahrhundert war die Stadt bekannt für ihr entwickeltes Handwerk, ihren Handel und die in ihren Bauwerken bezeugte 279

Urszula Anna Pawluczuk

Architekturschule. Während der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts zählte die Stadt zum Fürstentum Halyč-Wolhynien. Nach 1250 stand Hrodna dann im Zentrum des politischen Lebens des Großfürstentums Litauen, das sich in jener Zeit herausbildete. Die Stadt wurde zur zweitwichtigsten nach Wilna, der Hauptstadt des Großfürstentums. Bis ins 18. Jahrhundert hielten sich zahlreiche litauische Fürsten sowie später polnische Könige in Hrodna auf. Im 15. und 16. Jahrhundert erhielt Hrodna auf der Grundlage des 1496 eingeführten Magdeburger Stadtrechts eine Reihe von Privilegien und war mehrfach Tagungsort des litauischen Herrenrats und des polnisch-litauischen Reichstags. Im 17. und 18. Jahrhundert sollte jeder dritte Reichstag der Adelsrepublik in Hrodna abgehalten werden. Besonders im 18. Jahrhundert entwickelte sich die Stadt unter anderem aufgrund des Wirkens von Antoni Tyzenhauz, des Schatzmeisters des Großfürstentums Litauen, der eine Gewerbesiedlung am Stadtrand, eine Schule, ein Theater und einen europaweit bekannten botanischen Garten einrichtete. Die Reichstage und die starke wirtschaftliche Entwicklung der Stadt machten sie zu einer Residenzstadt. Die Teilungen Polens unterbrachen diese Entwicklung; infolge der dritten Teilung von 1795 fiel Hrodna an Rußland. Trotz der Tatsache, daß sie Hauptstadt eines Gouvernements wurde, lag die Stadt am Rande des großräumigen Reichs und sollte ihr früheres Prestige niemals wieder erlangen. Nach dem Ersten Weltkrieg fand sie sich im Grenzraum des wiedererrichteten polnischen Staates wieder, innerhalb dessen sie auf den Rang einer Kreisstadt herabgestuft wurde. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam sie schließlich zur Sowjetrepublik Belarus’. Heute ist Hrodna, Hauptstadt des gleichnamigen Bezirks und ein wichtiges Verwaltungs-, Wirtschafts-, Wissenschafts- und Kulturzentrum in Belarus’. Seit dem frühen Mittelalter war das Memelbecken hauptsächlich von ostslawischen Stämmen besiedelt, die aus Minsker Perspektive als weißrussisch bezeichnet werden. Mit der politischen Zugehörigkeit zum litauischen Großfürstentum im 13. Jahrhundert nahm die litauische Bevölkerung Hrodnas zu, seit dem 16. Jahrhundert kamen Polen aus Podlachien und Mazowien, aber auch Deutsche und Tschechen hinzu. Seit dem Mittelalter lebten im Gebiet von Hrodna auch Tataren und Juden; letztere wurden nach 1700 zur wichtigsten ethnoreligiösen Gruppe der Stadt. Über die Jahrhunderte hinweg lebten in Hrodna Angehörige vieler Konfessionen und Religionen – Christen (griechisch-katholische, römisch-katholische und Protestanten), Moslems und Juden. Sie bildeten einen Schmelztiegel, der die vielfältige kulturelle, religiöse, architektonische und ökonomische Landschaft der Stadt ausmachte. III. Die Kaloža-Kirche Die Kaloža-Kirche wurde im 12. Jahrhundert errichtet, zu einer Zeit, als sich das Städtewesen von Kiew aus entlang der Flüsse nach Norden hin deutlich verstärkte. Die dynamisch anwachsenden Städte waren dabei zugleich Zentren von Kunst und Kultur. Die Kirche liegt am westlichen Stadtrand von Hrodna, nahe der Mündung der Haradničanka 280

Die Kaloža-Kirche

in die Memel. Als das Magdeburger Stadtrecht Ende des 15. Jahrhunderts in Hrodna eingeführt wurde, blieb die Kirche außerhalb des Stadtverbandes, wie auch das erst in dieser Zeit bezeugte orthodoxe Kloster neben der Kirche. Die Kirche wurde spätestens nun zu einer Klosterkirche. Bekanntere Mönche wie die Vorsteher Kalikst und Arsenij erwarben an der Wende vom 15. zum 16. Jahrhundert Ländereien rund um die Kirchenanlage. Im Jahre 1500 beschenkte Großfürst Alexander Jagiełło das Kloster mit weiteren um die Kirche gelegenen Ländereien. Mihail Bohušš Bahavicinovič, Marschall des Großfürstentums, Bezirksschatzmeister, königlicher Sekretär, Gouverneur von Daugava und Žiežmariai und Besitzer zahlreicher Güter, wurde als bedeutender Stifter des Klosters in der Krypta der Kaloža-Kirche beigesetzt. Die Gattin Alexander Jagiełłos und Tochter von Ivan III. von Moskau, Elena, unterstützte ebenfalls die Klosterstiftung, indem sie ihr große Geldmittel vermachte, die zur Schaffung eines starken geistigen, ökonomischen und kulturellen Zentrums beitrugen. Mit der Erhöhung des Stellenwerts der Kirche und der Verehrung der mittelalterlichen Fürsten Boris und Gleb festigte das Herrscherpaar auch den Status der orthodoxen Konfession in der Stadt. In älterer Zeit vermachte auch die lokale orthodoxe Bevölkerung des öfteren ihren Besitz der Kirche. Seine Blüte erlebte das Klosterleben in Kaloža zur Zeit des Klostervorstehers Jona (1520–1546). Zu jener Zeit war im Kloster eine Schule für Ikonenmalerei tätig. Der Italiener Antoni de Crypa oder de Greto erhielt von König Stefan Batory das Privileg, Gärten rund um die Gebäude anzulegen. 1635 übertrug der Reichstag die Kirche mit dem Kloster der unierten Kirche. Tatsächlich zählte der Jesuit Albert Wijuk Kojałowicz die Brüder Boris und Gleb 1650 in seiner Aufzählung der Patroni M. D. Litu. proprii zu den Schutzheiligen des Großfürstentums Litauen, wenngleich mit dem Verweis auf ihre Zurechnung zum griechischen Ritus. 1697 bestätigte August II., König von Polen und Großfürst von Litauen, die Übertragung des Besitzes an die unierten Mönche des Ordens der Basilianer. Das Kloster war wohl seit seinem Bestehen, wie auch die Kirche, den heiligen Boris und Gleb gewidmet. In den ersten Jahrhunderten nach der christlichen Taufe Vladimirs des Großen 988 und dem Tod seiner jüngeren Söhne Boris und Gleb, die 1072 zu Märtyrern erklärt und als erste Heilige der Rus’ kanonisiert worden waren, wurden zahlreiche Klöster im Gebiet der nachfolgenden ruthenischen Staatsgebilde dem Heiligenpaar gewidmet: namentlich in den Herrschaftszentren Polack und Turaŭ, aber auch in Hrodna. Daneben besagt eine weitere Version, daß die Kaloža-Kirche zu Beginn des 13. Jahrhunderts durch den Enkel Jaroslavs des Weisen, Vsevolod Davidovič, errichtet wurde, der sie seinen eigenen Söhnen Boris und Gleb widmete. Schon 1405 wird die Kirche aber nicht unter dem Namen der Heiligen, sondern dem der vorstädtischen Siedlung Kaloža aufgeführt. Tatsächlich kam es in den ostslawischen Gegenden des Großfürstentums mit wenigen Ausnahmen, wie die der drei Märtyrer in Wilna oder der Eŭfrasinnja von Polack, nicht zur Ausbildung lokaler Heiligenkulte. Das Kirchengebäude ist aus flachen, langen und breiten Ziegeln unter Verwendung von dick aufgetragenem Kalkzementputz errichtet, ähnlich den zeitgleich erbauten Kirchen in Polack, Witebsk und Kiew. Die Kirche war ursprünglich ein Kuppelzentralbau, von des281

Urszula Anna Pawluczuk

sen vier Pfeilern nur noch zwei übrig sind. Heute besteht sie aus einem Mittelschiff und zwei Seitenschiffen, wobei ihr Inneres von vorspringenden Lisenen mit abgerundeten Ecken aus profilierten Ziegeln geprägt ist. In den Lisenen sind Feldsteine von einförmiger, glatter Oberfläche, die relativ symmetrisch gesetzt sind, zu erkennen. Mächtige Felsblöcke sind in den unteren Bereich der Außenwände der Kirche eingelassen – eine dekoratives Element, das sich so in keinem anderen mittelalterlichen Sakralgebäude finden läßt. Wahrscheinlich dienten sie zur Abwehr steinerner Wurfgeschosse und Belagerungsmaschinen. Die außerordentlich dicke Außenwand der Kirche war nicht verputzt, dafür ist sie mit zahlreichen Kreuzen aus Tonziegeln in blauen, grünen und roten Farbtönen versehen. Ähnliche Ziegel wurde 1909 in Belgorod (in der Region Kiew) in den Fundamenten einer Kirche aus dem 12. Jahrhundert gefunden, in Kiew, im Kloster Patleijna in Bulgarien und während der Jahre 1932/33 auf dem Burghügel in Hrodna. Die Ursprünge der Kirchenform sind in der Kiewer Rus’ zu suchen, von wo aus sich der byzantinische Einfluß weiter nach Norden ausgedehnt hatte. Vom Festungscharakter der Kirche zeugen die Scharten, durch die einst auch Sonnenlicht ins Innere des Gebäudes dringen konnte, die heute aber zugemauert sind. Die Fensteröffnungen wurden zu einem späteren Zeitpunkt angefertigt. Das Innere ist voller kleiner Einbuchtungen, die wahrscheinlich akustischen Zwecken dienten. Daneben stellen sie auch ein dekoratives Element dar, das nirgendwo sonst in dieser Anzahl zu finden ist. Dieser Resonatorentyp ist vermutlich südlicher (wolhynischer) Herkunft. Während die Resonatoren aus Pskov und Navahrudak eher faßförmig und niedrig sind, sind diejenigen aus Kaloža amphorenförmig. IV. Restaurierungen und Erinnerungsdiskurse nach 1650 Das Gebäude überstand viele Widrigkeiten und wurde während der Kriege des 17. Jahrhunderts besonders stark in Mitleidenschaft gezogen. Im 19. Jahrhundert geriet der Bau in der damals zum Rußländischen Reich gehörigen Stadt mit mehrheitlich jüdischer Bevölkerung nicht in Vergessenheit, aber er wurde seitens der orthodoxen Kirchenfürsten geringgeschätzt: Ein Riß oberhalb des Haupttors, der 18�0 entdeckt wurde und im Laufe der Jahre immer größer wurde, führte dazu, daß am 13. April 1853 nahezu die Hälfte des Gebäudes den Hang hinab in die Memel stürzte. Bemühungen um eine Wiederherstellung blieben erfolglos: 1857 schrieb der litauische Metropolit an den Synod in St. Petersburg, die Kirche zeichne sich durch keinerlei architektonische oder künstlerische Besonderheiten aus und verdiene die großen Ausgaben, die es zu ihrer Reparatur gebraucht hätte, nicht. Einer neuen Bitte um eine Restaurierung seitens des örtlichen Bischofs von 189� wurde keine Folge geleistet. 1897 wurde die Flußböschung verstärkt, und die fehlenden Steinwände wurden provisorisch durch Holzwände ersetzt. Eine Reihe von Maßnahmen zur Befestigung der flußseitigen Mauer wurde unternommen. Erst 1910 wurde das Bauwerk stabilisiert. Im Rahmen der sowjetischen Einwurzelungspolitik (korenizacija) oder der Belarusifizierung gelangte die inzwischen auf polnischem Territorium gelegene Kirche zu neuer 282

Die Kaloža-Kirche

Photographie der einzigen erhaltenen Seitenwand der Kirche mit farbigen Kreuzen. Ähnliche hochmittelalterliche Verzierungen mit mehrfarbigen Ziegeln an Wänden byzantinischer Kirchen werden auf seldschukischen Einfluß zurückgeführt. Bildnachweis: Bild in Privatbesitz Urszula Anna Pawluczuk.

Bedeutung. Mikola Ščakacichin schrieb 1928 in seinen Skizzen der weißrussischen Kunstgeschichte mehr als zehn Seiten über die Kirche und sprach ihr einen „besonderen Platz in der weißrussischen Architektur des 12. Jahrhunderts“ zu. Aber auch polnischerseits wurde ihr im 20. Jahrhundert neues Interesse zuteil, wie die Monographie von Józef Jodkowski aus dem Jahr 1936 bezeugt. Der in Hrodna geborene Archäologe und Kunsthistoriker arbeitete zunächst in Rußland als staatlicher Konservator und publizierte schon 1908 über polnische Denkmäler in der Fremde. Im erneuerten polnischen Staat war er dann in Hrodna von 1922 bis 1936 Direktor des Stadtmuseums. Die Kirche interessierte ihn damals als einer „der ältesten und besonderen Überreste kirchlicher Architektur der nordöstlichen Länder der Republik“. Im Zuge der Wiederaufbauarbeiten an der Kirche kam es in der Zwischenkriegszeit zu einer Reihe geologischer Arbeiten auf dem Gelände und archäologischer Untersuchungen in der Kirche. Aus der sowjetischen Perspektive wurde der Bau nach dem Zweiten Weltkrieg als Architekturdenkmal zu einem Vorposten der Kultur der alten Rus’, deren Entstehung positiv als ein unentbehrlicher Schritt hin zu einem geeinten Rußland und damit zur späteren Sowjetunion geschildert wurde. Nach der Unabhängigkeit der Republik Belarus 1991 festigte sich eine national-weißrussische Sichtweise auf das Bauwerk im Rahmen der westlichen Rus’, in dem die schöpferischen Prinzipien der sogenannten architektonischen Schule von Hrodna zum Ausdruck gekommen seien. Aus russischer Perspektive hingegen wird die Kirche, wie im 19. Jahrhundert, in die „Geschichte der westrussischen Länder“ eingeordnet. Die Kaloža-Kirche ist damit in mehreren, im Wettstreit miteinander geschriebenen Architektur- und Kulturgeschichten ein bedeutendes Objekt und ein zentraler Bestand283

Urszula Anna Pawluczuk

teil jeder Darstellung der kulturellen Überlieferung der mittleren Memelregion. Die sich wechselseitig ausschließenden überregionalen Staatsentwürfe des 20. Jahrhunderts legitimierten sich auch über jetzt kulturgeschichtlich gedeutete religiöse Bauwerke wie die kleine Kirche in Hrodna. Ihr derzeitiger Zustand verlangt dringend nach Maßnahmen zu ihrer Erhaltung beziehungsweise Wiederherstellung.

V. Auswahlbibliographie a) Quellen KoJałoWicz, Albert Wijuk: Miscellanea rerum Ad statum Ecclesiasticum in Magno Lituaniae ducatu, pertinentium. Wilna 1650; Archeografičeskij Sbornik Dokumentov otnosjaščichsja k istorii Severozapadnoj Rusi [Archäographischer Sammelband von Dokumenten zur Geschichte der nordwestlichen Rus’], Bd. 9. Viľna 1870; MüLLer, Ludolf: Die altrussischen hagiographischen Erzählungen und liturgischen Dichtungen über die Heiligen Boris und Gleb. München 1967.

b) Darstellungen Grodnenskaja Koložskaja Cerkov’ [Die Kaloža-Kirche in Hrodna]. In: Litovskie Eparchiaľnye Vedomosti 3 (1866) 98–108; orLovsKiJ, Evstafij: Grodnenskaja starina [Hrodnaer Altertum], Tl. 1. Grodno 1910; ŠčaKacichin, Mikola: Narysy z historyi belaruskaha mastactva [Skizzen der weißrussischen Kunstgeschichte]. Mensk 1928; WaLicKi, Michał: Cerkiew św. Borysa i Gleba na Kołoży pod Grodnem [Die Kirche der hl. Boris und Gleb in Kaloža bei Hrodna]. Warszawa 1929; JodKoWsKi, Józef: Świątynia warowna na Kołoży w Grodnie [Die Festungskirche von Kaloža in Hrodna]. Grodno 1936; Lenhoff, Gail: The Martyred Princes Boris and Gleb. A Socio-Cultural Study of the Cult and the Texts. Columbus 1989; SLJunčanKa, Valeryj: Barysahlebskaja (Kaložskaja) carkva ŭ Grodne. Histaryčna-architėkturny narys [Die Kirche der hl. Boris und Gleb in Kaloža bei Hrodna. Architekturgeschichtliche Skizze]. Minsk 1992; čerepica, Valerij: Očerki istorii pravoslavnoj cerkvi na Grodnenščine [Skizzen der Geschichte der orthodoxen Kirche im Hrodnaer Gebiet], Bd. 1–2. Grodno 2000; AleKseev, Leonid: Zapadnye zemli domongoľskoj Rusi. Očerki istorii, archeologii, kuľtury [Die westlichen Länder der vormongolischen Rus’. Skizzen der Geschichte, Archäologie und Kultur], Bd. 1–2. Moskva 2006; niendorf, Mathias: Koexistenz, Konfrontation, Synkretismus: Aspekte des Kulturkontaktes in Heiligenkulten des Großfürstentums Litauen. In: RohdeWaLd, Stefan/FricK, David/WiederKehr, Stefan (Hg.): Litauen und Ruthenien. Studien zu einer transkulturellen Kommunikationsregion (15.–18. Jahrhundert)/Lithuania and Ruthenia. Studies of a Transcultural Communication Zone (15th–18th Centuries). Wiesbaden 2007, 303–330; hardzeeŭ, Jury: Mahdėburhskaja Harodnja [Das Magdeburger Hrodna]. Harodnja/Wrocław 2008; paWLuczuK, Urszula: Życie monastyczne w II Rzeczypospolitej [Klosterleben in der Zweiten Republik]. Białystok 2007.

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Die Bogurodzica I. Zusammenfassung. – II. Charakter und Genese des Liedes. – III. Cantilena, carmen patrium, testimonium religiae catholicae. – IV. Das Lied nach dem Verlust der Staatlichkeit 1795. – V. Die „Bogurodzica“ in Polen nach 1918. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der „Bogurodzica“ (gr. Theotókos, dt. Gottesgebärerin) genannte Gesang wird allgemein für das älteste und erste schriftlich gefaßte polnische religiöse Lied gehalten. Das Lied – vor allem seine zwei ersten, kanonisch genannten Strophen – wurde für die Polen zu einem der Symbole des Kampfes gegen die Bedrohung durch die Kreuzritter, den Deutschen Orden, und später allgemein durch die Deutschen. Das Lied wird im kollektiven Bewußtsein der Polen untrennbar mit dem Sieg verbunden, den am 15. Juli 1�10 polnische und litauische Heerscharen bei Grunwald beziehungsweise in der deutschen Überlieferung Tannenberg über die Kreuzritter errangen. Der polnische Chronist Jan Długosz leitete diesen Deutungsvorgang Ende des 15. Jahrhunderts ein. Die symbolische Auffassung des Liedes verstärkte sich, nachdem Polen 1795 seine Souveränität verloren hatte. II. Charakter und Genese des Liedes Das Lied „Bogurodzica“ beschäftigt Historiker, Musikwissenschaftler und Literaturhistoriker seit langem. Zeit und Ort der Entstehung des Liedes bleiben aber unklar. Noch weniger ist über den Verfasser des Wortlauts und der Melodie bekannt, über den Platz des Liedes in der Liturgie und über seine mögliche Abhängigkeit von fremden Vorbildern. In mündlicher Form unterlag es vermutlich zahlreichen Veränderungen, bevor es nach 1400 schriftlich festgehalten wurde. Das Lied ist uneinheitlich: Es besteht aus drei Teilen, die im Verlauf zweier Jahrhunderte entstanden und voneinander unabhängig sowie unterschiedlich nicht nur in Form und Inhalt, sondern auch in der Melodie sind. Schrittweise vermehrte sich die Strophenzahl auf mehr als zehn, in einer Abschrift aus dem 16. Jahrhundert sind es sogar 22. Den ältesten Teil bilden zwei Strophen, die einen erweiterten Tropus zum Litaneianruf Kyrie eleison darstellen und auf 1200 bis 1250 zu datieren sind. Der zweite Teil des Liedes (Strophen 3–6), der erst nach 1300 entstand, ist ein Osterlied (Resurrektionslied). Die weiteren Strophen (von 7 bis üblicherweise 15) sind nach 1350 entstanden, einige erst im 15. oder im 16. Jahrhundert. Sie bilden den dritten, den Passionsteil der „Bogurodzica“. Ein Teil der Strophen des dritten Abschnitts des Liedes sind zusätzliche und oft veränderte Suffragia, Bitten an einen bestimmten Heiligen oder konkrete Anliegen. Die zwei ältesten Abschriften der „Bogurodzica“ stammen aus den Jahren 1500 bis 1530, die erste Druckfassung aus den Statuten des Kronkanzlers Jan Łaski (1506). 285

Izabela Skierska

Die erste quellenbezeugte Aufführung der „Bogurodzica“ war die bei der Schlacht bei Grunwald (1�10). Laut Długosz sang das polnische Heer das Carmen patrium nach dem Einmarsch in Preußen am 9. Juli und erneut umittelbar vor der Schlacht am 15. Juli. Der Chronist hörte angeblich auch die polnischen Heerscharen das Lied vor den Schlachten bei Nakel 1431 und bei Wilkomir 1435 singen. Offenbar wurde die „Bogurodzica“ ebenfalls während der Schlacht gegen die Türken bei Warna 1444 gesungen. Zu diesem Zeitpunkt war der Gesang ein oft und nicht nur an großen Staatsfesttagen vorgetragenes Lied. Es wurde damals auch zu einem Teil der Liturgie, für deren Feier Ablässe gewährt wurden. Noch im 16. und 17. Jahrhundert empfahlen einige Bischöfe das Singen des Liedes vor oder nach dem Hochamt. Es ging auch in das Repertoire von Spielleuten ein. III. Cantilena, carmen patrium, testimonium religiae catholicae Sowohl in der Cronica conflictus Wladislai regis Poloniae cum cruciferis anno Christi 1410 als auch in einer Ansprache von Andrzej Łaskarzyc von Gosławice von 1�11 wird das Lied „Bogurodzica“ mit der Schlacht bei Grunwald verbunden. Dem Sieg bei Grunwald ist es zu verdanken, daß sich die „Bogurodzica“ als Höhepunkt des liturgischen und nationalen Gesangskanons in polnischer Sprache etablierte. Verantwortlich ist hier Długosz. Es waren seine Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae (entstanden um 1�70 bis 1�80), die weiteren Generationen als historisches Kompendium dienten. Sie verbreiteten die Auffassung der „Bogurodzica“ als Carmen patrium und verbanden sie im kollektiven Gedächtnis der Polen untrennbar mit dem Sieg über die Kreuzritter. Die Stellung der „Bogurodzica“ als Kampf- und Staatsgesang wurde endgültig begründet, als Łaski das Lied in seine Druckfassung der Statuten aufnahm. Er schrieb die Autorschaft des Liedes dem hl. Adalbert zu, weshalb die „Bogurodzica“ gelegentlich als dessen „Segnungen“ bezeichnet wurde. Seither wurde der Gesang an den Anfang fast aller Kodifikationen von Adelsrechten (Statuten) der polnischen Adelsrepublik gesetzt. Mit ihrem Text fing 1736 auch Stanisław Konarski den ersten Band seiner später als Volumina legum bekannt gewordenen Edition an. Marcin Kromer (1555) und Joachim Bielski (1597) übernahmen in ihren Chroniken die Beschreibung der Schlacht bei Grunwald aus den Annalen von Długosz, zusammen mit dem Verweis auf die Aufführung der „Bogurodzica“. Von dem Brauch berichtete auch Jakub Wujek (Postylla katoliczna [Katholische Postille], 1575). Hetman Stanisław Żółkiewski beschrieb in einer Broschüre von 1618 (pobudka do cnoty [Anreiz zur Tugend]) den Gesang als ein „altpolnisches Lied, zusammengesetzt vom hl. Adalbert“. Bezeugt ist die letzte Aufführung der „Bogurodzica“ als Kampfhymne vor der Schlacht gegen die Türken bei Chotyn 1621. Die „Bogurodzica“ wurde zum wichtigen „Argument für die Rechtgläubigkeit“, von Katholiken im Rahmen von Polemiken mit Protestanten, zur Verteidigung des Glaubens im Geist der Gegenreformation hervorgebracht, oftmals auf protestantische Kritik des Heiligenkults oder der Verehrung der Muttergottes. Protestanten wie Grzegorz von Żarnowiec (1582), Krzysztof Kraiński (1611) und Efraim Oloff (17��) gaben ihr Beina286

Die Bogurodzica

men wie Bettlerlied, Armenlied, Bettlerkleid. Diese sollten nicht andeuten, daß die „Bogurodzica“ damals nur im Wirken von Spielleuten ihren Platz fand. Sie zeigen vielmehr auf, daß Text wie Lied zu dieser Zeit bereits archaisch und unverständlich waren. Katholische Prediger beriefen sich auf das Lied hauptsächlich in Predigten zum Tag Adalberts, so Wujek, der 1575 und 1579/80 die „Bogurodzica“ als Hauptbeweis für die Rechtgläubigkeit katholischer Polen vorführte. Wujek rief seine Mitbürger auf: „Mit der Bogurodzica gegen Häretiker wie gegen die Tataren!“ Der Jesuit Piotr Skarga hingegen stellte das Lied 1579 als Vorbild eines einfachen, kurzen und rechtschaffenen Gebets dar, mit dem die Vorfahren in den Kampf gegen die Heiden zogen und den Ruhm der polnischen Krone mehrten. Der Dominikanermönch Fabian Birkowski gab dem Gesang Anfang des 17. Jahrhunderts den Beinamen „Banner des altertümlichen polnischen Glaubens“. Er sprach auch davon, daß der Brauch, das Lied vor der Schlacht zu singen, allmählich verschwand. IV. Das Lied nach dem Verlust der Staatlichkeit 1795 Mit dem Jahr 1795 endete die Staatlichkeit Polen-Litauens. Die veränderte Situation führte zur „Bogurodzica“ zurück. Das Lied wurde wieder breiter bekannt und um neue, außerreligiöse Bedeutungen bereichert. Es wurde zum Zeichen der alten Adelsrepublik, zum Symbol einer verlorenen, den Polen aber vermeintlich von Natur aus gebührenden Freiheit. Julian Ursyn Niemcewicz setzte das „heilige, altertümliche Denkmal“ 1816 an den Beginn seiner Śpiewy historyczne (Historische Gesänge). Jahrzehntelang beeinflußte seine Sammlung die kollektive Vorstellung der nationalen Geschichte und schuf Vorstellungsstereotypen, die dann bis hin zu Henryk Sienkiewicz und Jan Matejko das Geistesleben der vermeintlich versklavten Nation beherrschten. Wichtige polnische Romantiker, die vom „christlich-kriegerischen Geist der alten Polen“ fasziniert waren, griffen das Symbol (auch in Verbindung mit den Ereignissen bei Grunwald) auf. Ganz selbstverständlich verwiesen sie auf das Mittelalter. Adam Mickiewicz sprach in seinen Pariser Vorträgen 18�1 von der „Bogurodzica“ als einem großen Altertum, Denkmal, Ritterlied, gesungen „vor jeder Schlacht bis hin ins 16. Jahrhundert, bis zu der Zeit, als Polen Eroberungen aufgab“. Das Lied inspirierte den Dichter Juliusz Słowacki besonders in der pathetischen Hymne Hymn, die er kurz nach dem Ausbruch des Novemberaufstandes (1830) verfaßte, sowie in der am Lebensende des Dichters in Zusammenhang mit dem Gedicht Król-Duch (König-Geist) entstandenen Paraphrase der „Bogurodzica“ (nach 18�5), ähnlich wie im unvollendet gebliebenen Gedicht Zawisza Czarny (Zawisza der Schwarze). Auf das altertümliche Lied berief sich darüber hinaus der Dichter Kornel Ujejski. Der Romantiker, der von der „Bogurodzica“ am meisten fasziniert war, und das jahrelang, war Cyprian Kamil Norwid. Indem er die Entstehung des Liedes mit dem hl. Adalbert verband, suchte er 1873 in seiner Schrift Boga-Rodzica nach Zeugnissen von Leben, Mentalität, Bräuchen und gesellschaftlichen Institutionen aus der Zeit der Christianisierung Polens. Das Zurückgreifen auf das „altertümliche Lied“ 287

Izabela Skierska

in Zusammenhang mit den ruhmreichen Taten polnischer Ritter sollte den Kampfgeist gegen fremde Herrschaft wecken. Die „Bogurodzica“, früher Symbol der Adels, wurde in den ersten Jahrzehnten nach dem Unabhängigkeitsverlust zum Zeichen einer neuen Elite von Intellektuellen, den sozialgeschichtlichen Nachfahren des Adels. Mit dem gesellschaftlichem Umbruch und der allmählichen Erschaffung einer modernen Nation sowie mit der Verschärfung der antipolnischen Politik nach 1870 vor allem in den Gebieten unter preußischer Herrschaft veränderte sich auch die Funktion des Liedes: Die Schlacht bei Grunwald und die Beziehungen von Polen und Kreuzrittern wurden in der Presse der polnischen Gebiete unter russischer, preußischer und österreichischer Herrschaft in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts häufiger aufgegriffen. Besonderen Anreiz bot im Jahr 1860 der �50. Jahrestag der Schlacht. Eine wichtige Rolle spielten wissenschaftliche Publikationen wie das von Józef Muczkowski 1851 herausgegebene Banderia Prutenorum von Jan Długosz sowie das Werk des Lemberger Historikers Karol Szajnocha, Jadwiga i Jagiełło (Hedwig und Jagiełło) (1856). Um 1870 wandelte sich Grunwald auch als Reaktion auf den wachsenden deutschen Nationalismus von einer historischen Begebenheit zu einer gesellschaftlichen Tatsache im nationalen öffentlichen Leben der Polen. Zu einem starken Katalysator dieser neuen Sichtweise wurde das monumentale Schlachtengemälde von Matejko, das dem Publikum erstmals 1878 in Krakau gezeigt wurde. Anläßlich der folgenden Jahrestage der Schlacht bei Grunwald wurde immer öfter auf die Beschreibung der Schlacht von Długosz zurückgegriffen. Entscheidend für das Bild von der Schlacht wurde bis zum heutigen Tage ihre Darstellung, die Sienkiewicz durch seinen Kreuzritter-Roman Krzyżacy (1897–1900) im Bewußtsein der Polen festsetzte. Sienkiewiczs Beschreibung bestärkte die Leser in ihrer Überzeugung von der Altertümlichkeit und Bedeutung des Liedes. In Zusammenhang mit den Vorbereitungen zum 500. Jahrestag der Schlacht 1910 sollte das einzige bekannte bis heute erhaltene Gemälde gesehen werden, das direkt mit dem Lied verbunden ist: Um 1909 schuf Józef Brandt, ein bedeutender Vertreter der historischen Malerei der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, das Bild Bogurodzica. Es stellt die polnischen Husaren kurz vor der Schlacht bei Chotyn 1621 mit den Türken dar. Das Gemälde ist folglich die künstlerische Vision von der letzten bezeugten Aufführung der „Bogurodzica“. Bei der Enthüllung des Denkmals zu Ehren von Jogaila am Krakauer Marktplatz während der großangelegten Jahrestagsfeiern vom 15. bis zum 17. Juli 1910 wurde zwar die Rota vorgetragen, die die Dichterin Maria Konopnicka zu diesem Anlaß gedichtet hatte, aber bei anderen Feierlichkeiten dieses Jahrestages spielte das Singen der „Bogurodzica“ eine prominente Rolle. Das Lied erklang ebenfalls bei der „Volksversammlung“ der Sozialdemokraten, die in Krakau am Sitz der Polnischen Turnergesellschaft „Sokół“ organisiert wurde. Dieser Verein war 1867 in Lemberg für Sport und Bildung geschaffen worden. Das Treffen umfaßte Vorträge „zu den Zielen und der historischen Mission der Arbeiterklasse, dem Streben nach Unabhängigkeit der polnischen Nation und der sozialistischen Bewegung“ sowie zu den „revolutionären Auftritten der Arbeiter und des Bauernvolks im Kongresspolen“ in den Jahren 1905 bis 1907. Der 288

Die Bogurodzica

Gesang eines Arbeiterchors untermalte die Vorträge in den Pausen. Die „Bogurodzica“ wurde hier neben klassischen Liedern der Arbeiterbewegung gesungen. V. Die „Bogurodzica“ in Polen nach 1918 Nach der Wiedererlangung der Unabhängigkeit 1918 gehörte die „Bogurodzica“ weiterhin zum Kern des Kanons polnischer patriotischer Nationallieder. Sie wurde in Betracht gezogen, als es zur Wahl der Staatshymne des souveränen Polen kam. Weiterhin blieb sie in der kollektiven Vorstellung mit der Schlacht bei Grunwald verbunden. Nachdem Hitler im April 1939 den Nichtangriffspakt mit Polen gekündigt hatte, gewannen die Feierlichkeiten zum 529. Jahrestag der Schlacht im gleichen Jahr besondere Bedeutung. Die „Bogurodzica“ erklang in diesem Rahmen im Rundfunk und während kirchlicher Festgottesdienste. Während des Zweiten Weltkriegs diente die „Bogurodzica“ abermals als Symbol des Siegs über die vermeintlichen Kreuzritter – die Deutschen – dazu, polnischen Staatsbürgern Mut zu machen. Bekannt sind ihre Aufführungen etwa im Lager in Seľcy an der Oka, wo sich 19�3 die 1. Division der mit der Roten Armee verbundenen Polnischen Armee formierte. Bekannt ist ferner, daß bei der feierlichen Schwurabnahme der Division, am 15. Juli 1943, am 533. Jahrestag der Schlacht bei Grunwald, der Mazurek Dąbrowskiego (Noch ist Polen nicht verloren) als Staatshymne und die Rota gesungen wurden. Der nächste große Jahrestag des Sieges bei Grunwald, der 550., fiel unter veränderten politischen und ideologischen Bedingungen auf das Jahr 1960. In Berichten von den Feierlichkeiten finden sich keine Spuren von einer Aufführung der „Bogurodzica“. Das Motiv ließ sich jedoch nicht ganz verdrängen: Das Lied erklingt im Film von Aleksander Ford Krzyżacy, der nach Motiven des Romans von Sienkiewicz aufgenommen worden war. Die Uraufführung des Films war am 15. Juli 1960 in Lodz, die offizielle am 22. Juli in Allenstein. Die „Bogurodzica“ erklang zum Höhepunkt des Films, der Schlacht bei Grunwald. Nach dem Wendejahr 1989 erhielten die Grunwaldfeiern neue Bedeutung und Form. Ihr spektakulärstes Element sind seit 1998 Inszenierungen des Schlachtablaufs, die Ritterbruderschaften und Verbände von Liebhabern historischer Rekonstruktionen organisieren. Im richtigen Moment wird die „Bogurodzica“ angestimmt. Das Lied bleibt Teil der nationalen und religiösen Tradition, Symbol alter Zeit, der Ritterkämpfe und des Sieges, assoziiert mit Wendepunkten der polnischen Geschichte. Zeugnisse davon finden sich in Werken mehrerer polnischer Komponisten. Zu der Melodie der „Bogurodzica“ griffen: Andrzej Panufnik, als er 1963 die Sinfonia sacra zum tausendjährigen Jubiläum der Taufe Polens schuf, sowie Krzysztof Meyer, der an der Jahreswende 1981/82, von der Einführung des Kriegszustandes in Polen erschüttert, die 6. Symphonie Polska schrieb. Zum Text der zwei ältesten Strophen der „Bogurodzica“ griff Wojciech Kilar, der 1975 Bogurodzica für gemischten Chor und Orchester komponierte. Die „Bogurodzica“ wird weiterhin in katholischen Kirchen in Polen als religiöses Lied aufgeführt, zu Ehren der 289

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Gottesmutter, doch vor allem zur Begleitung religiöser Feierlichkeiten bei großen historischen Anlässen. Papst Johannes Paul II. beschrieb die „Bogurodzica“ ganz im Geist der Prediger der katholischen Gegenreformation, Wujek und Skarga, nicht nur als historisches Lied, sondern auch als „Dokument christlicher Bildung“. In der kollektiven Auffassung bleibt als stärkste Grundbedeutung des Liedes der Verweis auf den Sieg über die Kreuzritter/die Deutschen beständig. Am Sonntag, dem 8. Juni 2008, wurden nach der Messe im Münster in der Altstadt von Posen die Anwesenden dazu aufgerufen, die „Bogurodzica“ anzustimmen, um den Sieg der Polen über die Deutschen zu erbitten – im nahenden Fußballspiel im Rahmen der damaligen Europameisterschaft. Die Bedeutung der Erinnerung an die Vergangenheit mithilfe der „Bogurodzica“ ist heute stark gefestigt. Entscheidend war hier Sienkiewiczs Roman Krzyżacy in der Verfilmung von Ford. Das Lied besteht im Bewußtsein der Polen nicht als altertümliches Fürbittelied, sondern als Symbol des Kampfes gegen die Deutschen, als eine Art magische Siegesformel. Die Erinnerungsfigur ist von der langen Zeit der Teilungen sowie vom Zweiten Weltkrieg und der Nachkriegspropaganda gestaltet worden, die so gern vor einem neuen deutschen Angriff warnte und den Grunwaldmythos mißbrauchte. Die Denkweise wird in der Gegenwart aufrechterhalten durch politisch verwendete Klischees wie „der Großvater in der Wehrmacht“ oder „die Deutschen kaufen uns wieder auf“. Das Lied bleibt Symbol des siegreichen Kampfes gegen den Feind und wird nicht abstrahiert als ein Denkmal polnischer Literatur und Kultur wahrgenommen. Neben der polnischen Erinnerungsfigur der „Bogurodzica“ besteht auch eine weißrussische Deutung: In der weißrussischen Version der Internetenzyklopädie Wikipedia ist unter dem Stichwort „Baharodzica (Hymne)“ zu lesen, es sei die Staatshymne des Großfürstentums Litauen gewesen. Seit dem 15. Jahrhundert sei das Lied als altertümliches „Vaterlandslied“ bei Krönungen, Hoffesten, „von Heerscharen vor den Schlachten“ gesungen worden. Und weiter zu lesen ist von offenbar altweißrussischen „Archaismen“ im Text des Liedes, wonach es datiert werden könne. Schließlich sei die Hymne mit Jogaila und dessen Umgebung nach Polen gekommen. Gesungen wurde sie vor der Schlacht bei Grunwald von litauischen Kriegern, die dann auf den Feind loszogen. Das Lied fand Verbreitung und wurde zur „Militär- und Staatshymne der Republik“. Das Beispiel zeigt, wie die Suche nach eigenen Wurzeln und der Aufbau einer nationalen Vergangenheit zu Versuchen führt, Elemente der Nachbarsgeschichte für sich selbst zu beanspruchen, um die eigene „ältere Tradition“ hervorzuheben. In diesem Fall besteht wohl auch ein Zusammenhang mit der Schlacht bei Grunwald: Die litauische Historiographie sprach seit dem 16. Jahrhundert den Sieg über die Kreuzritter hauptsächlich den Führungsqualitäten des litauischen Großfürsten Vytautas und dem Kampfgeist der Truppen aus Litauen und Smolensk zu. Für die Darstellung des Liedes als Werk und Denkmal der weißrussischen Kultur war wichtig, daß der Text als Analogie zu den Rechtskodifikationen der polnischen Krone in einen Kodex aus der Zeit um 1529/30 eingeschlossen wurde, mit der Fassung der litauischen Statuten in der ruthenischen Kanzleisprache. Der Text des Gesangs ist dort in einer Mischung von polnischer und weißrussischer Sprache überliefert. Hinzuzufügen ist, daß für einen Teil der weißrussi290

Die Bogurodzica

Beginn des Gesangs „Bogurodzica“ (gr. Theotókos, dt. Gottesgebärerin) in der ältesten erhaltenen Handschrift nach 1400. Das Lied wird für das erste schriftlich gefaßte polnische religiöse Lied gehalten. Vor allem seine zwei ersten, kanonisch genannten Strophen wurden für die Polen zu einem der Symbole des Kampfes gegen die Bedrohung durch die Kreuzritter, den Deutschen Orden, und später allgemein durch die Deutschen. Bildnachweis: Jagiellonische Bibliothek Krakau (Sign. Rkp 1619a).

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schen Geschichtsschreibung der erste Staat der Weißrussen das Großfürstentum Litauen war und daß nach 1991 bis zur Machtübernahme durch Aljaksandr Lukašenka der „Verfolger“ (Pogoń) in der Version Pahonia das offizielle Staatswappen Weißrußlands war. Das Lied ist folglich auch in diesem Zusammenhang ein starkes und attraktives Symbol von „Tradition“ und steht für eine Verbindung Weißrußlands mit der westlichen Kultur. Auf einer von Weißrussen aufgenommenen und in Zusammenarbeit mit der Weißrußlandabteilung des Polnischen Rundfunks 1999 veröffentlichten Audio-CD mit dem Titel Legenden des Großfürstentums (Litauen) fand sich auch Platz für den Gesang zu Ehren der Gottesmutter. Dies ist ein weiterer Hinweis darauf, wie stark die „Rzeczpospolita Obojga Narodów“, die Republik der beiden Völker Polen-Litauen, im kollektiven Gedächtnis verankert ist. VI. Auswahlbibliographie a) Quellen (Zeugnisse von Liedaufführungen) Joannis Dlugossii Annales seu cronicae incliti Regni Poloniae, Liber decimus et liber undecimus. Varsaviae 1997, 71 (9 VII 1�10), 105 (15 VII 1�10); Liber undecimus et liber duodecimus. Varsaviae 2001, �2 (Nakło, 1�31), 158 (Wiłkomierz, 1�35); CeLichoWsKi, Zygmunt (Hg.): Cronica conflictus Wladislai regis Poloniae cum cruciferis anno Christi 1�10. Poznań 1911, 2�; EKdahL, Sven: Die Schlacht bei Tannenberg 1410. Quellenkritische Untersuchungen, Bd. 1. Berlin 1982, 30� (die Ansprache von Andrzej Łaskarzyc, 1�11); OżóG, Krzysztof: Udział Andrzeja Łaskarzyca w sprawach i sporach polsko-krzyżackich do soboru w Konstancji [Die Teilnahme von Andrzej Łaskarzyc an den Angelegenheiten und Streitigkeiten zwischen Polen und Kreuzrittern vor dem Konstanzer Konzil]. In: OżóG, Krzysztof/Szczur, Stanisław (Hg.): Polska i jej sąsiedzi w późnym średniowieczu. Kraków 2000, 159–186, hier 166.

b) Allgemeine Bibliographien WoronczaK, Jerzy: Bogurodzica. Wrocław 1962; BudzyK, Kazimierz (Hg.): Bibliografia literatury polskiej Nowy Korbut [Bibliographie der polnischen Literatur Nowy Korbut], Bd. 1. Warszawa 1963, 197–198.

c) Darstellungen BrücKner, Aleksander: Średniowieczna poezja łacińska w Polsce [Mittelalterliche lateinische Poesie in Polen], Tl. 2. Kraków 1893; FiJałeK, Jan: Bogurodzica. In: Pamiętnik Literacki 2 (1903) 1–27, 163–191, 353–378; BrücKner, Aleksander: Bogurodzica. In: Archiv für Slavische Philologie 29 (1907) 121–135; KopczeWsKi, Jan S./SichunińsKi, Mateusz (Hg.): Grunwald. 550 lat chwały [Grunwald. 550 Jahre des Ruhms]. Warszawa 1960; Grunwald 1410–1960. Olsztyn 1959; UrbańczyK, Stanisław: „Bogurodzica“. Problemy czasu powstania i tła kulturalnego [„Bogurodzica“. Probleme der Entstehung und des kulturellen Hintergrundes]. In: Pamiętnik Literacki 69/1 (1978) 35–70; BisKup, Marian u. a.: Grunwald w świadomości Polaków [Grunwald im Bewußtsein der Polen]. Warszawa/Łódź 1981; Tazbir, Janusz:

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Die Bogurodzica Różnowiercy polscy wobec kultu maryjnego [Andersgläubige Polens und der Marienkult]. In: Studia Claromontana 5 (198�) 22�–2�5; WaLczaK, Bogdan: Dzieje najstarszej polskiej pieśni [Die Geschichte des ältesten polnischen Liedes]. In: Życie i Myśl 33/6 (198�) �7–63; Studia Grunwaldzkie [Grunwalder Studien] 1–3 (1991–1994); Wydra, Wiesław: Dzieje legendy o św. Wojciechu autorze Bogurodzicy [Die Geschichte der Legende über den hl. Adalbert als Autor der Bogurodzica]. In: ŚMiGiel, Kazimierz (Hg.): Święty Wojciech w tradycji i kulturze europejskiej. Gniezno 1992, 191–205; MazurKieWicz, Roman: Deesis. Idea wstawiennictwa Bogarodzicy i św. Jana Chrzciciela w kulturze średniowiecznej [Deesis. Die Idee der Fürsprache durch die Gottesmutter und Johannes den Täufer in der mittelalterlichen Kultur]. Kraków 199�, 170–218; MichałoWsKa, Teresa: Średniowiecze [Das Mittelalter]. Warszawa 1995, 278–293; StarnaWsKi, Jerzy: O Bogurodzicy w dobie renesansu, reformacji i kontrreformacji [Über die Bogurodzica während Renaissance, Reformation und Gegenreformation]. In: StarnaWsKi, Jerzy: Wieki średnie i wiek renesansowy. Studia. Łódź 1996, 123–139; Kobeć, Józef Jerzy: Bogurodzica w kulturze polskiej XVI wieku [Die Gottesmutter in der polnischen Kultur des 16. Jahrhunderts]. Lublin 1997; OKoń, Jan: Św. Wojciech i Bogurodzica jako czynniki kształtowania polskiej świadomości narodowej (do początków renesansu w Polsce) [Der hl. Adalbert und die Bogurodzica als Faktoren der Ausgestaltung eines polnischen Volksbewußtseins (bis zu den Anfängen der Renaissance in Polen)]. In: Ruch Literacki 39/6–231 (1998) 699–719; Hernas, Czesław: Wielka historia literatury polskiej. Barok [Große Geschichte der polnischen Literatur. Der Barock]. Warszawa 51998 [11976], 627–629; Traba, Robert: Konstrukcja i proces dekonstrukcji narodowego mitu. Rozważania na podstawie analizy semantycznej polskich obchodów rocznic grunwaldzkich w XX wieku [Die Konstruktion und der Vorgang der Dekonstruktion des Volksmythos. Überlegungen auf der Basis der semantischen Analyse der jährlichen polnischen Grunwald-Feiern im 20. Jahrhundert]. In: Komunikaty MazurskoWarmińskie �–226 (1999) 515–531; Mazur, Zbigniew: Obchody świąt i rocznic historycznych na Ziemiach Zachodnich i Północnych (19�5–19�8) [Die Begehung von Feierlichkeiten und historischen Jubiläen in den westlichen und nördlichen Ländern (19�5–19�8)]. In: ders. (Hg.): Wspólne dziedzictwo? Ze studiów nad stosunkiem do spuścizny kulturowej na Ziemiach Zachodnich i Północnych. Poznań 2000, 111–162; Wydra, Wiesław: Dlaczego pod Grunwaldem śpiewano Bogurodzicę? Trzy rozdziały o najdawniejszych polskich pieśniach religijnych [Warum wurde bei Grunwald die Bogurodzica gesungen? Drei Beiträge zu den ältesten polnischen religiösen Liedern]. Poznań 2000, 58–82; RadziWiłłoWicz, Dariusz: Tradycja grunwaldzka w świadomości politycznej społeczeństwa polskiego w latach 1910–19�5 [Die Grunwald-Tradition im politischen Bewußtsein der polnischen Gesellschaft in den Jahren 1910–1945]. Olsztyn 2003; DąbróWKa, Andrzej: Średniowiecze. Korzenie [Das Mittelalter. Die Wurzeln]. Warszawa 2005, 153–178; HashoLd, Jean-Philippe: Dlaczego pod Grunwaldem śpiewano „Bogurodzicę“? Czyli duchowa rywalizacja między Krzyżakami a Polakami [Warum wurde bei Grunwald die „Bogurodzica“ gesungen? Oder die geistige Konkurrenz zwischen Kreuzrittern und Polen]. In: Pamiętnik Literacki 96/2 (2005) 39–�9; MazurKieWicz, Roman/WanicoWa, Zofia: Dlaczego „Bogurodzicę“ śpiewano w liturgicznym okresie Bożego Narodzenia? [Warum wurde die „Bogurodzica“ zur liturgischen Weihnachtsfeier gesungen?]. In: Pamiętnik Literacki 96/2 (2005) 19–�1; Binder, Harald: Kirche und nationale Festkultur in Krakau 1861 bis 1910. In: SchuLze Wessel, Martin (Hg.): Nationalisierung der Religion und Sakralisierung der Nation im östlichen Europa. Stuttgart 2006, 121–140; KWiatKoWsKi, Stefan: Śpiewy grunwaldzkie. Dlaczego rycerstwo Władysława Jagiełły miałoby śpiewać Bogurodzicę podczas kampanii w Prusach w 1�10 roku [Die Gesänge von Grunwald. Weshalb die Ritter von Władysław Jagiełło während des Feldzugs in Preußen 1�10 die Bogurodzica gesungen haben sollen]. In: Przegląd Zachodniopomorski 21(50)/� (2006) 107–118.

Izabela Skierska (aus dem Polnischen von Katarzyna A. Chmielewska)

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Der Elisabethdom in Kaschau I. Zusammenfassung. – II. Kult der heiligen Elisabeth in Kaschau und Errichtung der Kirche. – III. Streit um den Besitz der Kirche. – IV. Puristische Rekonstruktion oder neogotischer Neubau? – V. Ungarländische, magyarische oder slowakische Gotik? – VI. Die „Rückkehr“ Fürst Franz’ II. Rákóczi von Siebenbürgen nach Kaschau. – VII. Die Brüche des 20. Jahrhunderts. – VIII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der Elisabethdom in Kaschau ist eines der ersten Sakralobjekte im Königreich Ungarn, das der heiligen Elisabeth von Thüringen geweiht wurde. Seine Rolle im religiösen Gedächtnis besonders Oberungarns, dessen wichtigstes urbanes Zentrum im 16. Jahrhundert Kaschau geworden war, hat sich im Laufe der Jahrhunderte mehrmals verändert. Das spätmittelalterliche Symbol des Reichtums und der Prosperität der Stadt und ihrer Bürger wurde in der Frühen Neuzeit zum Sinnbild der protestantisch-katholischen Gegnerschaft und Konflikte. Seit 1903, als beim feierlichen Gedenken des letzten Ständeaufstands in Ungarn die sterblichen Überreste Fürst Franz’ II. Rákóczi von Siebenbürgen in seiner Krypta beigesetzt wurden, etablierte sich der Dom als ein wichtiger Erinnerungsort im nationalen ungarischen historischen Gedächtnis bis in die Gegenwart. Nach 1918 und besonders seit 19�5 wurde durch staatliche Vorgaben und kirchenpolitische Maßnahmen der römisch-katholischen Kirche der Slowakei vergeblich versucht, den Dom überdies zu einem zentralen nationalen und sakralen Erinnerungsort der slowakischen Nation zu machen. Diese nationalslowakisch konnotierten Versuche finden auch im Rahmen des für ein gesamteuropäisches Publikum konzipierten Programms für Kaschau als Kulturhauptstadt Europas 2013 statt, wobei die kulturelle Bedeutung von Stadt und Elisabethdom in ungarischer Zeit weitgehend negiert wird.

II. Kult der heiligen Elisabeth in Kaschau und Errichtung der Kirche Die Verehrung der heiligen Elisabeth entwickelte sich in Kaschau bereits kurz nach ihrem Tod 1231 und der Heiligsprechung durch Papst Gregor IX. vier Jahre später. Ein Impuls hierzu war die Ankunft deutscher Siedler nach der mongolischen Invasion der Jahre 1241/42. Damals wurde die ältere romanische Kirche im gotischen Stil teilweise umgebaut und das Patrozinium, wahrscheinlich des Erzengels Michael, auf die heilige Elisabeth übertragen. Die erste erhaltene schriftliche Erwähnung der Elisabethkirche stammt aus einer Urkunde von Papst Martin IV. aus dem Jahr 1283. Nach 1290 erscheint das Motiv der heiligen Elisabeth bereits auf dem Stadtsiegel. Der Elisabethkult schlug in der bis in das späte 17. Jahrhundert vorwiegend von Deutschen bevölkerten Stadt tiefe Wurzeln. Die aus dem Land der heiligen Stephanskrone stammende und in Marburg 294

Der Elisabethdom in Kaschau

1231 verstorbene Prinzessin hatte dank ihrer Lebensgeschichte alle Voraussetzungen, um mit Erfolg für eine breitgefächerte, Stände und Sprachen übergreifende Verehrung eingesetzt zu werden. Nach der Einwanderung deutscher Siedler erhielt Kaschau von den ungarischen Landesherren wichtige städtische Privilegien, 1369 auch ein Stadtwappen. Die wirtschaftliche und politische Macht der Stadt wollten ihre Bürger auch in der Errichtung einer neuen Kirche zum Ausdruck bringen. Der neue Sakralbau entstand auf den Fundamenten eines gotischen Kirchenbaus, der Ende des 14. Jahrhunderts einem Stadtbrand zum Opfer gefallen war. Die großzügigen Pläne mußten jedoch mehrmals modifiziert werden, so daß sich der Neubau fast ein Jahrhundert hinzog. Trotz finanzieller Unterstützung durch die ungarischen Könige, das Erlauer Bistum und die päpstliche Kurie blieb der Kaschauer Dom, ähnlich wie viele andere gotische Kathedralen, unvollendet. Von ursprünglich zwei geplanten Türmen am westlichen Portal wurde nur ein Turm erbaut, dessen Ausputz zudem bescheidener erfolgte als an den übrigen Teilen der Kirche. Der reich verzierte südliche Turm ist überdies nur in die Höhe des Hauptschiffs hinaufgezogen und lediglich mit einem einfachen Dach verschlossen worden. Der spätmittelalterliche Elisabethdom in Kaschau stellte ein zentral ausgerichtetes Hallengebäude mit einem Querschiff in Form eines griechischen Kreuzes dar, ergänzt durch verengte, herabgesetzte Nebenräume. In der Mitte der Kirche entstanden ein weitläufiger Raum und im Exterieur drei gleichwertige Schilder mit reich dekorierten Portalen, die zu den Glanzleistungen der mittelalterlichen Steinmetzkunst in Europa zählen. Der spätgotische, in den Jahren 1�7�/77 errichtete Elisabethaltar dominiert das Innere der Kirche bis in die Gegenwart. Die Altarflügel bestehen aus �8 Bildern mit drei thematischen Zyklen: dem Leben der heiligen Elisabeth von Ungarn, dem Passions- und dem Adventszyklus. Das neuerbaute Gotteshaus wurde bereits kurz nach seiner Weihe durch ein polnisches Aufgebot während der Auseinandersetzungen um die Thronfolge nach dem Tod von König Matthias Corvinus von Ungarn 1490 schwer beschädigt. Nach einer ersten Renovierung stellte man Anfang des 16. Jahrhunderts das Presbyterium fertig; der mehr als hundert Jahre dauernde Bau der Kirche war damit abgeschlossen. III. Streit um den Besitz der Kirche Die Geschichte des Doms seit dem 16. Jahrhundert spiegelt anschaulich die Entwicklung der konfessionellen und politischen Verhältnisse in Ungarn wider. Die Reformation hatte im vorwiegend von Deutschen bewohnten Kaschau nach 1520 rasch an Boden gewonnen. Die übergroße Mehrheit der Stadt bekannte sich ab etwa 1550 zur lutherischen Konfession, so daß die wenigen verbliebenen Anhänger des alten Glaubens in eine eindeutige Minderheitenposition gerieten; sie verloren sämtliche Kirchen und blieben etwa fünf Jahrzehnte als Kryptokatholiken ohne seelsorgerliche Betreuung. Anfang des 17. Jahrhunderts leitete der Prager Hof nach seinen militärischen Erfolgen im Langen Türkenkrieg und in Siebenbürgen jedoch eine nachhaltige Rekatholisierung ein. 295

Ingrid Kušniráková

Zunächst zielte man darauf ab, die konfessionellen Verhältnisse in den königlichen Städten zu verändern. Am 7. Januar 160� wurde die Elisabethkirche auf Befehl General Giacomo Barbianos, Graf de Belgioioso, den Lutheranern gewaltsam abgenommen und dem in der Stadt seit 1596 dauerhaft untergebrachten Erlauer Kapitel überreicht. Dieses Ereignis, von hoher symbolischer Bedeutung für beide Konfessionsgruppen, stand am Anfang des von Stephan Bocskai angeführten Ständeaufstands. Nach der Besetzung der Stadt durch Bocskais Truppen verordnete der neue Landesherr, die Elisabethkirche den deutschen und ungarischen Lutheranern zurückzugeben; den slowakischen Lutheranern übertrug man die nahegelegene Michaelskapelle. Der Dom verblieb bis 1671 im Besitz der Lutheraner. In jenem Jahr befahl Kaiser Leopold I. dem Kaschauer Stadtrat, die Elisabethkirche dem römisch-katholischen Erlauer Bischof und dessen Kapitel – diese hatten Kaschau 1649 neuerlich zu ihrem Sitz genommen – zu übergeben. Zum letzten Mal wechselte die Kirche während des Aufstands unter Imre Thőkőly in den Jahren 1682/85 das Bekenntnis, als sie neuerlich der lutherischen Mehrheitsbevölkerung der Stadt übergeben wurde. Nach der Besetzung der Stadt durch kaiserliche Truppen übergab man die Kirche wiederum dem Erlauer Kapitel als provisorische Domkirche, das sie als solche bis 1695, als die Lutheraner nach Erlau zurückkehren konnten, nutzte. Auch beim letzten Ständeaufstand unter Franz II. Rákóczi 1703 bis 1711 wurde die Stadt mehrere Jahre von den Anhängern des siebenbürgischen Adeligen kontrolliert. Der Dom blieb jedoch in den Händen der Katholiken, denn zu dieser Zeit war nicht nur ein wesentlicher Teil der Stadtbevölkerung längst zum Katholizismus konvertiert – auch Rákóczi selbst und etliche seiner adeligen Standesgenossen bekannten sich zur römisch-katholischen Konfession. Nach 1711 begann in Ungarn, das in den folgenden Jahrzehnten Zug um Zug in die Habsburgermonarchie integriert wurde, eine lange Periode innenpolitischer Stabilität und wirtschaftlichen Wachstums, so auch im Raum Kaschau. Die katholische Kirche demonstrierte ihre neuerworbene Vorherrschaft im religiösen Leben durch Kirchenneubauten, Klostergründungen, den Ausbau des kirchlichen Schulwesens, durch Erneuerung und Umgestaltung der alten Sakralbauten nach zeitgemäßen künstlerischen und ästhetischen Kriterien. Die Barockisierung veränderte das Aussehen der Elisabethkirche erheblich; barocke Bänke, eine neue Kanzel, eine Orgel und zusätzliche Altäre ergänzten das Interieur der Kirche. Im Zuge der Aufteilung der ausgedehnten Erlauer Diözese durch Papst Pius VII. im Jahr 180� wurde ein eigenständiges Kaschauer Bistum begründet. Die bekannteste und größte gotische Kirche in Oberungarn wurde zugleich zur bischöflichen Kathedrale erhoben. Bis in das 19. Jahrhundert kann die Kaschauer Elisabethkirche zwar als die größte Kirche des historischen Oberungarn bezeichnet werden, um deren Besitz sich Lutheraner und Katholiken heftige Kämpfe geliefert hatten. Ihr hoher Symbolwert beruht aber eher auf ihrem markanten Erscheinungsbild. Weder spielte die Kirche als Gnadenort im Mittelalter, in der Frühen Neuzeit oder im 19. und 20. Jahrhundert für die Stadtbevölkerung eine besondere Rolle noch wurde sie für besondere religiöse Feierlichkeiten auf regionaler oder überregionaler Ebene herangezogen. 296

Der Elisabethdom in Kaschau

IV. Puristische Rekonstruktion oder neogotischer Neubau? In der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts befand sich der Elisabethdom in einem ausgesprochen schlechten Zustand, da seit 1750 nichts mehr in den Erhalt des Gebäudes investiert worden war. Ein Erdbeben 183�, mehrere Wassereinbrüche sowie die schlechte Qualität des Baumaterials führten zu verschiedenen Beschädigungen der Kirche. Ihr Zustand war nicht zuletzt Spiegelbild der Stagnation der allgemeinen Stadtentwicklung in der Zeit um 1800. Nach dem Vorbild der Kölner Dombauvereinigung von 18�2 entstand in Kaschau ein Verein zugunsten der Elisabethkirche. Er verfolgte das Ziel, eine umfangreiche Wiederherstellung des Gebäudes vorzunehmen und dafür die notwendigen finanziellen Mittel zusammenzutragen. Die Baumaßnahmen der Jahre 1856/63 stellten eines der ersten großen Projekte des Baudenkmalschutzes im Königreich Ungarn dar. Sie wurden in der Tradition der historisierenden Romantik durchgeführt. Bei der Sammlung der Geldspenden stellte man die Elisabethkirche als überkonfessionelles und zentrales Symbol der Erneuerung der Religiosität im Königreich des heiligen Stephan dar, um die Gläubigen so regional wie landesweit zu mobilisieren. Die Mittel reichten dennoch nicht aus. Unsachgemäß durchgeführte Rekonstruktionsarbeiten, bei denen nicht die eigentlichen statischen Bauschäden, sondern nur deren Folgen entfernt wurden, ließen schon nach kurzer Zeit erkennen, daß eine abermalige Generalüberholung des Sakralbaus unvermeidbar war. Der Denkmalschutz wurde nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 zu einem besonders konfliktreichen Bereich in den seit jeher national aufgeladenen Auseinandersetzungen innerhalb Ungarns und Ungarns mit Österreich. Die größte Aufmerksamkeit wurde dabei den gotischen Denkmälern zuteil, ganz nach dem Vorbild der englischen, französischen und deutschen Romantik. Die nationale Historiographie sah in der Gotik die „goldene Zeit“ der nationalen Geschichte, die gotische Sakralarchitektur avancierte entsprechend zum wichtigsten Symbol der als ruhmvoll imaginierten Vergangenheit Ungarns. Die Rekonstruktion des Elisabethdoms in den Jahren 1877/96 mit staatlichen, kirchlichen und privaten Mitteln gilt als ein klassisches Beispiel der Erneuerung der Sakralarchitektur im Einklang mit puristischen Prinzipien und als die größte Rekonstruktion im Geist des reinen Purismus in Ungarn bis 1918. Das architektonische, von Imre Steindl geleitete Projekt realisierte nicht nur den Wiederaufbau der beschädigten Teile des Doms, sondern nahm darüber hinaus auch erhebliche Veränderungen am Bau vor. Die Innenausstattung wurde fast vollkommen ersetzt und entbarockisiert. Von der ursprünglichen Kirche blieben nur Sanktuarium, Umfassungswände und Türme erhalten. Auch bei den Außenwänden nahm Steindl schwerwiegende Eingriffe vor, mit dem Ziel, die sogenannte Corvinische Gotik wiederzubeleben. Der ursprünglich geplante Wiederaufbau der Türme war aus finanziellen Gründen allerdings nicht möglich. Die Neuweihe des Elisabethdoms 1896 gehörte zu den Höhepunkten der Millenniumsfeiern in Ungarn. Der Graner Erzbischof Kolos Ferenc Vaszary weihte somit eine monumentale neogotische Kathedrale, die sich deutlich von dem Sakralbau vor den Restaurierungsmaßnahmen unterschied. 297

Ingrid Kušniráková

Der Erste Wiener Schiedsspruch teilte Kaschau 1938 politisch Ungarn zu. Die zu diesem Anlaß publizierte ungarische Ansichtskarte kombinierte mehrere weltliche und religiöse ungarische Erinnerungsfiguren. Reichsverweser Horthy und Franz II. Rákoczí flankieren die Collage, in deren Zentrum ein Signet mit der von Engeln getragenen Stephanskrone, der Kathedrale und der Aufschrift „zurückgekehrt“ zu liegen kam. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

In den Jahrzehnten zwischen 1850 und 1918 läßt sich zudem ein Bedeutungswandel des Elisabethdoms ausmachen. Aus einer für den oberungarischen Raum übergroßen römisch-katholischen Stadtkirche, die seit 180� als Dom eines neugegründeten regionalen Bistums diente, wurde im Zuge des modernen ungarischen Nationswerdungsprozesses einer der zentralen nationalreligiösen Erinnerungsorte der Magyaren. Weniger als Gnadenort denn als national konnotiertes Symbol sollte der Elisabethdom eine überregionale Bedeutung gewinnen. V. Ungarländische, magyarische oder slowakische Gotik? Der Kaschauer Elisabethdom wurde infolge seiner geographischen Stellung im slowakisch-deutsch-ungarischen Grenzraum nach 1850 zum Objekt intensiver Forschung seitens aller drei nunmehr national ausgerichteten Historiographien. Die Domkirche nahm in diesen Diskursen eine spezifische Stellung ein. Obwohl sie nach der puristischen Rekonstruktion eher neo- als spätgotische Architektur darstellte, war die Forschung lange Zeit durch ihre ursprüngliche, nur noch fragmentarisch erhaltene Gestalt angezogen. 298

Der Elisabethdom in Kaschau

Imre Henszlmann verfaßte 18�6 das Buch Kassa városának ó-német stylű templomairól (Über die Kaschauer Kirchen des altdeutschen Stils), die erste Monographie über den gotischen Aufbau der Kirche und gleichzeitig die erste umfangreiche kunsthistorische Arbeit in ungarischer Sprache überhaupt. Das Buch, sein Verfasser (ein sich zur modernen ungarischen Nation bekennender Kaschauer mit deutschen Wurzeln) und auch der Dom erlangten dadurch erheblichen Widerhall in wissenschaftlichen Kreisen und auch in der breiteren Öffentlichkeit. Henszlmann war zu diesem Zeitpunkt die größte Autorität im Bereich des Denkmalschutzes und der ungarländischen Kunstgeschichte. Der Elisabethdom etablierte sich fortan im öffentlichen Diskurs als eines der wichtigsten nationalen Symbole der Ungarn. Die Autoren aller späteren kunsthistorischen Arbeiten über den Dom, die bis in das späte 20. Jahrhundert veröffentlicht wurden, hielten an der traditionellen Anschauung von der Überlegenheit der Gotik fest. Eine analoge Position nahmen die Vorkämpfer der tschechoslowakischen beziehungsweise slowakischen Kunstgeschichte, Vladimír Wagner und Václav Mencl, ein. Sie bemühten sich, den Kaschauer Dom als ein Denkmal der slowakischen Gotik und als Bestandteil eines von Slawen geprägten künstlerischen Raumes im Donaugebiet darzustellen. In den kunsthistorischen Texten über die gotischen Elemente des Elisabethdoms sowie zum Teil im öffentlichen Diskurs besteht bis in die Gegenwart eine starke Tendenz, einen vermeintlich „nationalen“, ungarländischen/magyarischen, slowakischen oder (bis 1989) tschechoslowakischen Charakter der ursprünglichen gotischen Kirche zu belegen. Die heute dominanten neugotischen Gebäudeteile hingegen ließen sich in den nationalistisch geprägten Auseinandersetzungen kaum nutzen und blieben lange Zeit außerhalb des Interesses der Kunsthistoriker. Auch nach 1989 setzten sich diese ideologisch gefärbten Debatten zwischen slowakischen und ungarischen Kunsthistorikern, Publizisten und Politikern fort. VI. Die „Rückkehr“ Fürst Franz’ II. Rákóczi von Siebenbürgen nach Kaschau Der ungarische romantische Nationalismus revitalisierte in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts die schon fast vergessene Tradition des letzten Ständeaufstands gegen die Habsburger der Jahre 1703 bis 1711 und das Interesse um die historische Person seines Anführers. Trotz der offiziell ablehnenden Haltung Kaiser Franz Josephs I. und der Wiener Regierung, für die Franz II. Rákóczi und seine Anhänger weiterhin als Landesverräter galten, beging man in Ungarn 1903 eine großangelegte Feier zum 300. Jubiläum des Aufstands. Zur gleichen Zeit begann man, eine Überführung der sterblichen Überreste Rákóczis und einiger seiner prominenten Anhänger aus dem Osmanischen Reich, wo diese im Exil gestorben waren, in die Heimat vorzubereiten. Bei der Frage nach dem Ort der letzten Ruhe fiel die Wahl auf den Kaschauer Dom. Um Kaschau hatte sich im ungarischen historischen Gedächtnis schon in den vorangegangenen Jahrzehnten der Mythos einer Kuruzzenstadt gebildet. In der nahegelegenen Jesuitenkirche hatten zudem bereits eine Großmutter und der Vater Rákóczis ihre letzte Ruhestätte gefunden. Im Leben Franz’ II. Rákóczi hatte die Stadt allerdings keine besondere Rolle gespielt. 299

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Die Überführung der sterblichen Überreste der Aufständischen aus dem Osmanischen Reich quer durch Ungarn zum Kaschauer Elisabethdom wurde zu einer gewaltigen nationalen Demonstration der ungarischen politischen Eliten. Nach einer Zwischenstation in der Hauptstadt Budapest fand am 29. Oktober 1906 im Kaschauer Dom eine feierliche Neubestattung des Fürsten und seiner Gefährten statt. An der Inszenierung nahm nahezu die gesamte ungarische politische und kirchliche Elite teil. Die zu diesem Zweck errichtete Krypta unter der Kapelle des heiligen Stephan ist seitdem ein wichtiger Bestandteil des sakralen Raumes. Während des Ersten Weltkriegs fertigte der Maler András Dudics über der nördlichen Kirchenpforte ein Triptychon mit den Szenen aus dem Leben Rákóczis an, das Heiligendarstellungen seiner Zeit entsprach. VII. Die Brüche des 20. Jahrhunderts Der Kult der heiligen Elisabeth, der in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts durch den national-ungarischen Klerus erneuert worden war, verlor in Kaschau auch nach 1918 wenig an Popularität. Dies zeigte sich besonders bei der großangelegten Feier des siebenhundertjährigen Jubiläums des Todestages von Elisabeth im Jahr 1931. Nachdem die seit dem 18. Jahrhundert überwiegend von Magyaren und im 19. Jahrhundert zunehmend von Juden bewohnte Stadt 1919 Teil der neugegründeten Tschechoslowakei geworden war, begannen heftige Konflikte um den Besitz der Kirche. Zeitweise wurde von seiten des neuetablierten slowakischen römisch-katholischen Episkopats jeder ungarischsprachige Gottesdienst verboten. Die Kirche sollte mittelfristig, so das Ziel der Kirchenleitung und der Regierung, entmagyarisiert werden. Dem Dom wurde eine hohe Symbolkraft in den erbitterten slowakisch-ungarischen Auseinandersetzungen der Zwischenkriegszeit zugemessen. Nach dem Ersten Wiener Schiedsspruch von November 1938, der Kaschau politisch wieder an Ungarn brachte, fanden unter Teilnahme des Reichsverwesers Horthy die zentralen Feierlichkeiten und Dankgottesdienste im Elisabethdom statt. Der Holocaust und ethnische Säuberungen in den Jahren 19�5/�7 führten auch in Kaschau zu einem gewaltsamen Bevölkerungsaustausch von rund 90 Prozent und machten die Stadt zu einer dominant slowakischen Stadt (rund 93 Prozent im Jahr 2011). Der Dom wurde damit zu einer Stadtkirche, die eine fast ausschließlich slowakische Gemeinde frequentierte. Nach der politischen Wende von 1989/90 avancierte der Dom zu einer erstrangigen nationalen Gedenkstätte von Ungarn aus aller Welt. In der nationalen Erinnerungskultur der Magyaren in der Nachwendezeit spielt der Elisabethdom neuerlich eine überragende Rolle. Gelegentliche römisch-katholische ungarischsprachige Gottesdienste zeugen von der national aufgeladenen Bedeutung dieses Sakralgebäudes.

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Der Elisabethdom in Kaschau

VIII. Auswahlbibliographie HenszLMann, Imre: Kassa városának ó-német stylű templomairól [Kaschau als oberdeutsche Stadt und der Kirchenbaustil]. Pest 18�6; WaGner, Vladimír: Historick� v�voj architektúry košického dómu [Die historische Entwicklung der Architektur des Kaschauer Doms]. In: Sborník Matice slovenskej 6/1 (1928) 10–30; Tost, Barnabáš: Jubilejné oslavy sv. Alžbety. [Gedenktag der heiligen Elisabeth]. In: Košické katolícke cirkevné správy 11/11 (1931) �–6; ders.: Jubilejná slávnosť sv. Alžbety [Der Gedenktag der heiligen Elisabeth]. In: Košické katolícke cirkevné správy 11/12 (1931) 5–6; ders.: Poriadok jubilejnej slávnosti sv. Alžbety [Das Programm des Gedenktags der heiligen Elisabeth]. In: Košické katolícke cirkevné správy 11/10 (1931) 8–9; WicK, Vojtech: Dóm sv. Alžbety v Košiciach [Der Elisabethdom in Kaschau]. Košice 1936; MencL, Václav/MencLová, Dobroslava: O účasti Slovenska na vzniku pozdněgotické architektury [Über den Anteil der Slowakei bei der Entstehung der spätgotischen Architektur]. In: Umění 11 (1938) 363–38�; HohMann, Rudolf: Sankt Elisabeth, die Heilige aus Preßburg und Schutzfrau der Karpatendeutschen. Wien 1981; HarvlK, Edgar: „Volksbarocke“ Heiligenverehrung und jesuitische Kultpropaganda. In: DinzeLbacher, Peter (Hg.): Heiligenverehrung in Geschichte und Gegenwart. Ostfildern 1990; Hanus, Ladislav: Kostol ako symbol [Kirche als Symbol]. Bratislava 1995; Knapp, Éva/TüsKés, Gábor: Volksfrömmigkeit in Ungarn. Beiträge zur vergleichenden Literatur- und Kulturgeschichte. Dettelbach 1996; VašKo, Imrich: Dóm sv. Alžbety v Košiciach [Der Elisabethdom in Kaschau]. Košice 2000; ciuLisová, Ingrid: Historizmus a moderna v pamiatkovej ochrane [Historismus und Moderne beim Denkmalschutz]. Bratislava 2000; Duchoň, Jozef: František II. Rákoczi a jeho Košice [Franz II. Rákóczi und sein Kaschau]. Košice 2005; LuKáčová, Elena/ Pohaničová, Jana: Rozmanité 19. storočie. Architektúra na Slovensku od Hefeleho po Jurkoviča [Das bunte 19. Jahrhundert. Architektur in der Slowakei von Hefele bis Jurkovič]. Bratislava 2008.

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Die „Schwarze Kirche“ in Kronstadt I. Zusammenfassung. – II. Baugeschichte sowie historische, kulturelle und konfessionelle Implikationen. – III. Die „Schwarze Kirche“ als religiöser Ereignis- und Erinnerungsort. – IV. Das Gotteshaus im rumänischen Nationalkommunismus (1965–1989). – V. Erinnerungskontexte nach 1989. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung In der Erinnerungslandschaft der Kronstädter und seit dem 19. Jahrhundert auch allgemein der Siebenbürger Sachsen nimmt die von ihnen erbaute gotische „Schwarze Kirche“ in Kronstadt einen bedeutenden kulturellen Platz ein. Die Perspektive richtet sich vor allem auf ihre architektonische Bedeutung und verleiht ihr eine einzigartige Sonderstellung gegenüber anderen sakralen und profanen Bauwerken der Siebenbürger Sachsen. Der sich über viele Jahrzehnte hinziehende kostspielige Wiederaufbau nach dem schweren Stadtbrand des Jahres 1689 wird dabei als besonders wichtige historische Leistung der Kronstädter sächsischen Gemeinschaft gewürdigt, die Beständigkeit, Entschlossenheit und gemeinschaftliche Solidarität symbolisiert und nicht zuletzt auch die wirtschaftliche Überlegenheit gegenüber Hermannstadt, dem politischen und kirchlichen Zentrum der Siebenbürger Sachsen, belegt. An zweiter Stelle wird die Stadtpfarrkirche als Erinnerungsort für die lutherische Reformation Siebenbürgens und für das nachhaltige Wirken des sächsischen Reformators und Humanisten Johannes Honterus wahrgenommen. Mit ihm ist zugleich die Einführung des deutschsprachigen Gottesdienstes verbunden, der in Siebenbürgen 1542 erstmals in der ehemals katholischen, nunmehr evangelischen „Schwarzen Kirche“ abgehalten wurde. An dritter Stelle fungiert die Kirche heute als siebenbürgisch-sächsischer Erinnerungsort für die Repressionen im stalinistischen Rumänien: Im sogenannten Schwarze-Kirche-Prozeß 1957/58 statuierte der kommunistische Staat ein Exempel, indem er den damaligen Stadtpfarrer und andere kirchliche Mitarbeiter verurteilte, die in der Sakristei der „Schwarzen Kirche“ zu vermeintlich konspirativen kulturellen und literarischen Veranstaltungen zusammengekommen waren. Insgesamt stellt die Kirche für die in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts größtenteils ausgewanderte siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft ein bleibendes Zeugnis ihrer Kultur und Geschichte in der alten Heimat dar; als ein solches dient es auch anderen Bevölkerungsgruppen als Erinnerungsort für die Siebenbürger Sachsen. Die rumänische Mehrheitsgesellschaft integriert die Kirche seit der nationalkommunistischen Periode nach und nach in den Bestand des eigenen nationalen Kulturerbes und blendet dabei die ethnische Herkunft und Konfession ihrer Erbauer bisweilen aus, betont aber, ebenso wie die Siebenbürger Sachsen, die architektonische Bedeutung des Bauwerks.

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Die „Schwarze Kirche“ in Kronstadt

II. Baugeschichte sowie historische, kulturelle und konfessionelle Implikationen Die Errichtung der Kirche von etwa 1383 bis 1�77 war sowohl von lokalen als auch von überregionalen Faktoren abhängig. Das von Siebenbürger Sachsen am nördlichen Karpatengebirge bewohnte Kronstadt, gegründet zu Beginn des 13. Jahrhunderts, befand sich in exponierter Lage an der südöstlichsten Grenze des Königreichs Ungarn sowie an wichtigen Handelsrouten. Es nahm daher eine tragende wirtschaftliche und militärische Rolle ein. Mit dem Aufstieg der Donaufürstentümer im 14. Jahrhundert sollte diese noch weiter aufgewertet werden. Die Entwicklung Kronstadts wurde aus diesem Grund von den 1350er bis 1380er Jahren durch eine Reihe königlicher Privilegien gezielt gefördert, die seine wirtschaftliche und politische Stellung stark verbessern sollten. Neben Stapelrecht und weitgehenden Handelsprivilegien wurde Kronstadt 1377 als Vorort des umgebenden Distrikts des Burzenlandes anerkannt, 1380 wurde es zum Sitz des Burzenländer Kapitels und damit zum kirchlichen Zentrum des Umlands. Den neugewonnenen Einfluß wollte die finanzstarke, von zahlreichen Kaufleuten bewohnte Stadtgemeinschaft durch einen repräsentativen Sakralbau demonstrieren. Daran war gleichfalls der katholischen Kirche gelegen, die an der Grenze zum griechisch-orthodoxen Raum nicht nur Präsenz zeigen, sondern langfristig auch zur Mission in den Donaufürstentümern übergehen wollte. Wiederholte päpstliche Ablaßbriefe für Spenden zum Bau der Stadtpfarrkirche bezeugen ein konstantes Interesse am Kronstädter Standort. Um 1383 begann der Bau der spätgotischen, der Jungfrau Maria geweihten Hallenkirche, die bis heute der größte Sakralbau Rumäniens und die größte gotische Kirche im südöstlichen Europa ist. Archäologisch konnte an derselben Stelle eine bescheiden ausgeführte romanische Basilika aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts nachgewiesen werden, die für den Neubau abgetragen worden war. 1421 wurde die noch nicht fertiggestellte Kirche ein erstes Mal durch einen türkischen Einfall zerstört und anschließend aufgrund der finanziellen Belastung der Stadt durch gesteigerte Verteidigungsausgaben nach einem reduzierten Plan ausgeführt, wodurch auch das Verhältnis des großen Kirchenchors (31 Meter Länge) zum proportional kleineren Langhaus (42 Meter) erklärbar wird. Um 1�77 muß der Bau größtenteils vollendet worden sein. Überregionale Bedeutung erlangte die Kirche, als sie durch das Wirken des lutherischen Reformators Johannes Honterus ab den 1540er Jahren zum Ausgangspunkt der Reformation der Siebenbürger Sachsen wurde. Im Oktober 1542 wurde in ihr der erste siebenbürgische evangelische Gottesdienst in deutscher Sprache abgehalten. Der Innenraum erfuhr zwei Jahre später mit der Ernennung von Honterus zum Stadtpfarrer Veränderungen, als dieser Bilder und Altäre, die der Durchführung des katholischen Gottesdienstes gedient hatten, entfernen ließ. In der Folgezeit dokumentieren die Quellen weitere Veränderungen infolge von Reparaturarbeiten, die vor allem wegen der zahlreichen Erdbeben in der Region wiederholt zu Schäden führten. Dies war auch der Hauptgrund für die geringe Höhe des Kirchturms. Während der großen Pestepidemie von 1602 und 1603 wurden Hunderte Tote in der Kirche begraben. Das bedeutendste Ereignis in der Geschichte des Bauwerks war jedoch der große Stadtbrand vom 21. April 1689, dem die Kirche und fast ihre gesamte Einrichtung, dar303

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unter zahlreiche Kunstgegenstände, zum Opfer fielen. Nachdem habsburgische Truppen das Fürstentum Siebenbürgen, das seit Mitte des 16. Jahrhunderts osmanischer Vasall war, wieder unter österreichische Oberherrschaft gebracht hatten, weigerte sich die Kronstädter Bevölkerung, die katholischen Truppen als Besatzer in die Stadt einzulassen. Mutmaßliche Folge der daraus entstandenen Spannungen zwischen Habsburgern und Kronstädtern war, so vermuteten bereits zeitgenössische Quellen, die spätere Brandstiftung an der Stadt durch habsburgische katholische Soldaten. Ein Großteil der mittelalterlichen Bausubstanz wurde innerhalb weniger Stunden zerstört, die evangelische Stadtpfarrkirche brannte aus und stürzte ein. Wegen ihrer durch den Brand geschwärzten Mauern wurde der ursprünglich Marienkirche genannte Sakralbau im Volksmund zur „Schwarzen Kirche“, eine Bezeichnung, die dann im 20. Jahrhundert zu ihrem offiziellen Namen wurde. Der Wiederaufbau im 18. Jahrhundert gestaltete sich aufgrund der schwierigen wirtschaftlichen Situation äußerst langwierig und materiell belastend. Erst 1772 erhielt die Kirche ein neues Gewölbe, die Inneneinrichtung erreichte insgesamt aber nicht mehr den früheren künstlerischen Wert. Als Ersatz für die zahlreichen, in der Kirche befindlichen und verbrannten orientalischen Teppiche wurde im Laufe des 18. Jahrhunderts durch Schenkungen von Kronstädter Bürgern eine neue Teppichsammlung geschaffen, die noch heute eine der weltweit wichtigeren dieser Art ist. Die schönsten Teppiche werden im Kirchenraum ausgestellt, womit der früheren Bedeutung Kronstadts als Handelsstadt mit Verbindungen bis nach Anatolien gedacht wird. Der größte Beitrag, den das 19. Jahrhundert der Kirche brachte, war die Installation einer 1836 bis 1839 in Deutschland gebauten großen Orgel. Hinzu kam die fast sechseinhalb Tonnen schwere große Glocke. Das 20. Jahrhundert stand vor allem im Zeichen der Restaurierung, die den künftigen Erhalt des Kirchengebäudes garantieren sollte. In den Jahren vor 1914 begannen mit Unterstützung des ungarischen Staates umfangreiche Restaurierungsarbeiten, die jedoch durch den Ersten Weltkrieg unterbrochen und erst ab 1923 wieder fortgesetzt wurden. 1937 wurde die Aktion „Für unsere Schwarze Kirche“ gegründet, die bis 19�� insbesondere für die Restaurierung des Chores tätig wurde. Größere Arbeiten im Innenraum wurden in kommunistischer Zeit in den Jahren 1969 bis 1977 durch den rumänischen Staat finanziert. Die Direktion für historische Baudenkmäler führte zahlreiche Reparaturen durch, mußte jedoch ihre Aktivität einstellen, als sie nach dem Bukarester Erdbeben 1977 aufgelöst wurde und man alle staatlichen Beihilfen strich. 1981 bis 1999 wurden die Restaurierungsarbeiten mithilfe von Spenden aus dem In- und Ausland weitergeführt. Seither leuchten die Sandsteine des seit Jahrhunderten rußgeschwärzten Baus wieder in unterschiedlichen Farbnuancen. III. Die „Schwarze Kirche“ als religiöser Ereignis- und Erinnerungsort Im Vergleich zu anderen großen Sakralbauten ist der Mangel an historischen Ereignissen in direkter Verbindung mit dieser Kirche auffallend; er ist jedoch erklärbar durch den 304

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Umstand, daß die „Schwarze Kirche“ seit ihrem Entstehen die Funktion der Kronstädter katholischen und später evangelischen Stadtpfarrkirche einnahm und niemals zu einer Bischofskirche erhoben wurde, an der überregional Bedeutendes geschehen konnte. Vier größere Ereigniskomplexe sind identifizierbar: Im ungarisch-osmanischen Konflikt wurden Kronstadt sowie die noch nicht fertiggestellte Kirche 1421 teilweise zerstört. Der damalige Stadtpfarrer und Hauptverantwortliche des Bauwerks, Thomas Sander, wurde womöglich in der Kirche beim Versuch erschlagen, diese vor Plünderung und Zerstörung zu bewahren. Für die Zeitgenossen scheint dieses Ereignis von untergeordneter Bedeutung gewesen zu sein, da eine der ältesten Chroniken der Stadt – die sogenannte Wandchronik, die bis ins 18. Jahrhundert an der Chorwand der „Schwarzen Kirche“ aufgemalt war – von anderen mit dem osmanischen Einfall verbundenen Ereignissen erzählt, etwa der Verwüstung des Burzenlandes, der Verschleppung des Stadtrates oder der Rettung der Bevölkerung in der Kronstädter Fluchtburg. Aufgrund dieses Quellenmangels für die damalige „Schwarze Kirche“ bot das Ereignis für spätere Jahrhunderte keine klaren Anhaltspunkte und fand daher keinen wichtigen Platz in der Erinnerung. Von Bedeutung wurde jedoch, daß in der Folgezeit die Befestigungen stark ausgebaut wurden, um Kronstadt künftig vor Zerstörungen wie 1421 zu schützen. Für den Kirchenbau standen somit weniger Mittel durch die Kronstädter Bürger zur Verfügung, weswegen die Kirche bescheidener und kleiner ausgeführt wurde als ursprünglich geplant. Neben anderen Veränderungen erhielt die Turmanlage letztlich nur einen statt zweier Türme. Ohne diese kriegerische Bedrohung wäre die „Schwarze Kirche“ wahrscheinlich in noch außergewöhnlicheren Ausmaßen ausgeführt worden. Hier erscheint in der heutigen Erinnerung ansatzweise das in Südosteuropa häufiger anzutreffende Narrativ des antemurale Christianitatis, jedoch umgestaltet und mit einer fast durchweg positiven Aussage: Kronstadt habe wichtige, opferreiche Abwehrleistungen gegen die expandierenden Osmanen vollbracht, womit Westeuropa geschützt wurde und sich leichter entwickeln konnte. Anders als in südosteuropäischen Erinnerungslandschaften ist bei den Kronstädtern und insgesamt bei den Siebenbürger Sachsen damit jedoch nur in geringem Maße eine viktimisierende Verlustgeschichte verbunden. Es herrscht die Perspektive vor, daß die eigene Entwicklung nicht entscheidend gehemmt worden sei, wofür gerade die „Schwarze Kirche“ als Beleg stehe, die trotz aller historischer Beeinträchtigungen in den imposanten Dimensionen westeuropäischer Kathedralen errichtet und erhalten wurde. Die Kirche stelle somit für die Gemeinschaft eine beachtenswerte Erfolgsgeschichte dar. Zu weiteren osmanischen Einfällen in das Weichbild von Kronstadt kam es dank der ausgebauten Verteidigungsanlagen nicht, so daß auch die „Schwarze Kirche“ physisch nicht mehr direkt von den Ereignissen des ungarisch-osmanischen Konflikts betroffen war. Die Reformation, als zweiter großer Ereigniskomplex von europäischer Bedeutung, war weniger stark mit der „Schwarzen Kirche“ verbunden, sondern weicht größtenteils der personenbezogenen, bisweilen mit hagiographischen Elementen versehenen Erinnerung an den Kronstädter Humanisten und Reformator Johannes Honterus. Nach Studienreisen im deutschsprachigen Raum und in Ostmitteleuropa, auf denen er sich eine 305

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umfassende humanistische Bildung angeeignet hatte und mit Luthers Reformationsbestrebungen in Kontakt gekommen war, kehrte Honterus nach Kronstadt zurück. Dort betrieb er einerseits ein Bildungsprogramm durch Aufbau eines zeitgemäßen Kronstädter Schulsystems, einer Druckerei und einer Bibliothek, andererseits setzte er sich ab Beginn der 1540er Jahre verstärkt für die Verbreitung reformatorischen Gedankenguts nach Wittenberger Prägung in ganz Siebenbürgen ein. Seine Bemühungen hatten unter den Siebenbürger Sachsen Erfolg: Seit 1542 war der Gottesdienst in der „Schwarzen Kirche“ deutschsprachig, zwei Jahre später wurde Honterus zum ersten evangelischen Stadtpfarrer ernannt und ließ katholische Heiligenbilder und Altäre aus der Kirche entfernen. Von Kronstadt ausgehend und gefördert von Honterus’ reformatorischen Schriften, etablierte sich die Reformation unter den Siebenbürger Sachsen innerhalb von nur einem Jahrzehnt. Die Sachsen gedenken der Verdienste des Honterus um Bildung und Konfession in besonderer Weise – so nennt sich die evangelische Gemeinschaft Kronstadts „Honterus-Gemeinde“; auch das Gymnasium sowie der Kirchhof, ein Verein, ein Fest und ein Ehrenpreis wurden nach ihm benannt. Die „Schwarze Kirche“ wird dabei jedoch zu einem beinahe passiven Wirkungsort dieser Persönlichkeit und nur ansatzweise zur Mutterkirche der siebenbürgisch-sächsischen Reformation erhoben. Gegenüber dem Bauwerk wird eindeutig der Person der Vorzug gegeben, wohl auch deshalb, weil sie sich eher als die Kronstädter Kirche als Identifikationsfigur für alle Siebenbürger Sachsen eignet und über zahlreiche, leicht idealisierbare Facetten verfügt. Honterus’ Wirken ist gleichzeitig mit anderen Gebäuden in Kronstadt verbunden, mit dem Gymnasium, der Druckerei und der Bibliothek, die konkrete und nachhaltige Ergebnisse für ganz Siebenbürgen erbrachten, vor allem für die Schulbildung. Das Schulsystem spielt bis heute für die Siebenbürger Sachsen eine herausragende Rolle in ihrem Verständnis als Kulturträger. Dies wird durch das 1898 am Eingang der „Schwarzen Kirche“ aufgestellte Honterus-Denkmal in besonderer Weise unterstrichen: Honterus weist nicht auf die Kirche, sondern auf das 1541 von ihm gegründete Gymnasium. Auch in der Kirche selbst ist er vertreten: Eine der beiden Dauerausstellungen ist ihm gewidmet – die andere veranschaulicht die Baugeschichte der Kirche – wie auch ein Gemälde (1898), das den Kronstädter Rat beim Schwur auf Honterus’ Reformationsschrift zeigt. Schließlich ist die „Schwarze Kirche“ ein Erinnerungsort für Honterus, der dort in einem Grab vor dem Altar beerdigt wurde, das mit Versen versehen ist, die seine Verdienste um die Gemeinschaft hervorheben. Der dritte, anders als die vorherigen jedoch nur lokal bedeutende Ereigniskomplex ist zweifellos der einschneidendste sowohl in der Geschichte als auch in der Erinnerung an die „Schwarze Kirche“: Der Stadtbrand vom 21. April 1689 stellt eine der wichtigsten Zäsuren in der Geschichte Kronstadts dar, da er den Verlust eines Großteils der mittelalterlichen Bausubstanz und eine verheerende Zerstörung der Kirche zur Folge hatte. Der Wiederaufbau belastete die wirtschaftlich niedergegangene Stadt fast das gesamte 18. Jahrhundert in empfindlicher Weise. Umso erstaunlicher ist, daß in der mit dem Brand verbundenen Erinnerung kaum der Brandstifter gedacht wird, der katholischen Kaiserlichen, sondern der Brand in der sächsischen Erinnerung annähernd wie eine Naturkatastrophe bewertet 306

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wird. Die „Schwarze Kirche“ wurde für die Siebenbürger Sachsen nicht zu einem Erinnerungsort an katholische Intoleranz und Aggression und forderte auch nicht zur Vergeltung auf, sondern vielmehr zu einem Denkmal für deren Aufbauwillen und Unbeugsamkeit gegenüber historischen Gewaltakten und widrigen Zeitumständen. Die Kirche reiht sich damit in das Selbstverständnis der Sachsen als bedeutendste Baumeister Siebenbürgens ein, deren zahlreiche Befestigungsanlagen und Kirchenburgen für sie nicht nur architektonische Leistung, sondern auch Wehrhaftigkeit, Dauerhaftigkeit und Gemeinschaftssinn und insgesamt einen konstruktiven Beitrag zu ihrer Heimatregion bedeuten. Der vierte Ereigniskomplex, das allgemein als „Schwarze-Kirche-Prozeß“ bezeichnete Gerichtsverfahren im rumänischen Stalinismus (1957/58), ist erinnerungskulturell äußerst vielschichtig und wie die zuerst genannten Ereignisse weniger direkt mit der „Schwarzen Kirche“ verbunden. Die Erinnerung konzentriert sich insbesondere auf den unrechtmäßig verurteilten Stadtpfarrer Konrad Möckel sowie auf 19 andere Siebenbürger Sachsen, darunter drei weitere Mitarbeiter der „Schwarzen Kirche“. Diese hatten Kulturveranstaltungen in der Sakristei der „Schwarzen Kirche“ durchgeführt und Lesekreise gegründet und dabei versucht, siebenbürgisch-sächsische Jugendliche anzusprechen, um der Erziehung durch das totalitäre kommunistische System kulturell und moralisch entgegenzuwirken. Diese Tätigkeiten wurden von den Parteianklägern zu nationalistisch-faschistischer Agitation und zu Hochverrat erklärt. Daß einige der Angeklagten früher erklärte Gegner des Nationalsozialismus gewesen waren, spielte für das Regime keine Rolle, da die tatsächliche politische Schuld oder Unschuld für das Urteil nicht ausschlaggebend war. Die Verurteilung gehörte zu einer Reihe von Schauprozessen im Rahmen der Repressionswelle nach dem Ungarnaufstand 1956, die darauf abzielte, ähnliche Revolten in Rumänien zu verhindern und präventiv die Bildung regimefeindlicher Gruppierungen zu unterbinden. Der Gruppenprozeß gegen die vom rumänischen Geheimdienst Securitate konstruierte „Gruppe Möckel“ sollte die deutsche Minderheit einschüchtern und ideologisch auf Parteikurs bringen. Die schwere Bestrafung einer prominenten Persönlichkeit wie dem Stadtpfarrer der „Schwarzen Kirche“ sollte deutlich machen, daß im kommunistischen Staat jeder Bürger für eine auch nur scheinbare oppositionelle Haltung verfolgt werden konnte. Die „Schwarze Kirche“ als Erinnerungsort für die siebenbürgisch-sächsische Geschichte und Kultur spielte hierbei eine eher untergeordnete Rolle, da in den Securitate-Akten gewöhnlich die Bezeichnung „Gruppe Möckel“ verwendet wird; die Personen und nicht die Kirche standen im Mittelpunkt der Repression und Propaganda. Wie und wann genau die heute gängige Bezeichnung des Prozesses und der Gruppe in Verbindung mit der Kirche entstand, ist ungewiß; es scheint sich aber um eine in der Kronstädter Bevölkerung im Rückblick entstandene Titulierung zu handeln, die wegen der Verurteilung des Stadtpfarrers gewählt wurde und allgemein eine Christen- beziehungsweise Kirchenverfolgung nahelegen sollte. Im Zusammenhang mit dem Vorwurf des Nationalismus ist darauf einzugehen, wie die „Schwarze Kirche“ im national geprägten siebenbürgisch-sächsischen Selbstverständnis bis zum Zweiten Weltkrieg erinnerungskulturell verortet wurde. Hierfür bietet sich die Kronstädter Literatur des Zeitraums 1900 bis 1939 an. In den Werken dieser 307

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Die einem Kirchengesangbuch beigefügte Abbildung zeigt die „Schwarze Kirche“ überproportional groß im Stadtzentrum von Kronstadt. Ihre Vergrößerung und der Zusammenhang mit der Veröffentlichung in einem konfessionellen Gesangbuch bekräftigten die Funktion des Kronstädter Sakralbaus als ein zentraler religiöser Erinnerungsort. Bildnachweis: Geistreiches Cronstädtisches Gesang-Buch. Kronstadt 1751. In: Roth, Harald (Hg.): Kronstadt. Eine siebenbürgische Stadtgeschichte. München 1999, 14.

Autoren, die nachgerade zu Klassikern avanciert sind, verdichtete sich exemplarisch ideologisches Gedankengut. In vier Romanen mit zeitgeschichtlichem Hintergrund, in einem Historienroman sowie in zwei lyrischen Texten bildet die Kirche den Gegenstand der Beschreibung und Erörterung. Die nachfolgenden Zitate belegen eine Überspitzung im nationalen Sinn, aber keine tiefgehende wesentliche Abänderung der mit der Kirche verbundenen traditionellen Erinnerungsmechanismen. Zu beobachten ist jedoch eine Distanzierung von ihrer religiös-konfessionellen Bedeutung sowie bei Egon Hajek eine deutsche Semantisierung des Kirchenbaus, der bei Adolf Meschendörfer, Heinrich Zillich und Erwin Neustädter vorrangig zur Markierung siebenbürgisch-sächsischer Identität diente: „Noch ungeheuerlicher als dies größte sächsische Unglück ist der Mut und die Kraft, mit der unsere Väter in bösester Zeit diese Stadt noch einmal erbauten. Der Fluch ward uns zum Segen. [...] Hier war der letzte Zufluchtsort für alles sächsische Blut, ob gläubig oder ungläubig, hier sammelte sich ein Volk. [...] Dies war keine Glaubenskirche, dies war die sächsische Kirche; [...] das größte Bauwerk, das Sachsenhände je schufen“ (Meschendörfer, Die Stadt im Osten). „Aus dem Opferwillen und Arbeitsschweiß längst verstaubter und namensverschollener Geschlechter unseres Blutes ist es 308

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gleichsam als Frucht erwachsen, deren wir nun genießen und daran wir jene und damit unser eigen Wesen erkennen können“ (Neustädter). „Unter unsäglichen Mühen war das schwere Werk gediehen, der letzte gotische Dombau an den Pforten des Orients und gerade deshalb deutschen Blutes, mit deutscher Kraft hochgetürmt, von deutscher Seele durchhaucht jedes Profil, jede Kannelierung“ (Hajek). Von einer Schlüsselposition der „Schwarzen Kirche“ in der nationalistischen Ideologisierung der sächsischen Gemeinschaft kann insgesamt aber nicht die Rede sein – die hier wiedergegebenen Autoren stellten als Kronstädter oder Burzenländer die Rolle der „Schwarzen Kirche“ womöglich etwas überschwenglich dar –, weswegen sie auch nicht zum unmittelbaren Ziel des kommunistischen Regimes wurde. Erst zehn Jahre nach der Machtergreifung Hitlers 1933 kam es zum Prozeß gegen den Stadtpfarrer und einige wenige Mitarbeiter. In der Nachkriegszeit wurde die „Schwarze Kirche“ schließlich in der rumäniendeutschen Literatur größtenteils aus ihrer mythisch-heroischen Aura herausgelöst und auch von Nicht-Siebenbürgern lyrisch verarbeitet. Aufgrund der stark reduzierten ideologischen Einflüsse und des allgemein höheren literarischen Niveaus wurde der Sakralbau dabei in mannigfaltiger Weise poetisch neugestaltet und der Schablonenhaftigkeit nationalisierender literarischer Muster entzogen. V. Das Gotteshaus im rumänischen Nationalkommunismus (1965–1989) Nach der stalinistischen Prozeßwelle propagierte das kommunistische Regime ab Mitte der 1960er Jahre eine eingeschränkte Öffnung des Landes, die bis 1971 andauern sollte. Für die folgenden Jahrzehnte und auch nach 1989 sollte besonders prägend werden, daß unter Staats- und Parteichef Nicolae Ceauşescu diese vermeintliche Liberalisierung mit einer Rehabilitation nationalistischer Ideologie verbunden war. In der Regierungszeit Ceauşescus wurde die Schaffung eines einheitlichen Nationalstaats betrieben. Gleichzeitig übte man Druck auf die ethnischen Minderheiten aus, sich sprachlich und kulturell an die Staatsnation anzupassen oder auszuwandern. Für die Kirchen der Minderheiten kam es dabei zu einer doppelten Diskriminierung: einerseits weil ihre Mitglieder nicht zur Staatsnation gehörten und die Kirchen kulturelle, institutionelle und organisatorische Bedeutung für die Minderheiten besaßen (zahlreiche Kirchenvertreter unterhielten überdies ein Netzwerk mit Kontakten ins Ausland, die dem kommunistischen Geheimdienst allerdings stets verdächtig waren), andererseits wurden die Kirchen, einschließlich der rumänisch-orthodoxen „Staatskirche“, aufgrund der Religionsfeindlichkeit des kommunistischen Systems als Verbreiter von Mystizismus, Antimodernismus und „unproduktiven Lebenseinstellungen“ angefeindet. Historische Kirchengebäude wurden von der propagandistischen Verbindung mit dem Zeitalter des Feudalismus belastet und sollten, so die offizielle Darstellung, an die Ausbeutung durch den Klassenfeind erinnern. Daß die „Schwarze Kirche“ in diesem Kontext in den Jahren 1969 bis 1977 dennoch unter größerem Einsatz staatlicher Mittel aufwendig restauriert wurde, ist nicht durch ihre Rolle als Erinnerungsort, sondern vor allem durch Kronstadts touristische Bedeu309

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tung zu erklären. Die Region wurde von zahlreichen ausländischen Touristen besucht, die wertvolle Devisen ins Land brachten. Zudem wurde Kronstadt von zahlreichen Rumänen aufgesucht, die dank der wachsenden Wirtschaft und der aufgebauten Infrastruktur erstmals in größerer Zahl auch das eigene Land bereisen konnten. Angesichts der beeindruckenden Ausmaße und des gotischen Stils der „Schwarzen Kirche“, der in anderen Landesteilen nicht vorhanden ist und daher eine besondere Sehenswürdigkeit darstellt, lag es nahe, diese durch eine gründliche Restaurierung zu erhalten. Neun Jahre lang wurden fachmännisch und zur Zufriedenheit der sächsischen Minderheit einige der wichtigsten Wiederherstellungsarbeiten durchgeführt. Die Einstellung der staatlichen Hilfen 1977 nach dem großen Erdbeben in Bukarest erfolgte anscheinend auf Anordnung des Parteichefs. Ceauşescu ließ sogar die Direktion für Baudenkmäler im Rahmen seiner geplanten sozialistischen Umgestaltung der historischen Altstädte auflösen. Die weitere Restaurierung der „Schwarzen Kirche“ wurde gewissermaßen privatisiert und war seither auf Spenden angewiesen. Da die benötigten Summen nur zu einem Teil aus dem Inland aufgebracht werden konnten, griffen die Kirchenvertreter auf ihre Kontakte zur westdeutschen evangelischen Kirche zurück und warben genügend Mittel ein, um von 1981 bis 198� weitere Arbeiten durchzuführen. Das kommunistische Regime, das ansonsten empfindlich auf ausländische Kontakte der evangelischen Kirche reagierte, opponierte nicht, vermutlich gerade mit Blick auf die dringend benötigte Deviseneinfuhr. Welche langfristigen Pläne die Parteiführung für die Kronstädter Altstadt und implizit auch für die „Schwarze Kirche“ im Rahmen der sozialistischen Umgestaltung des Stadtraums hegte, bleibt offen. V. Erinnerungskontexte nach 1989 Nach dem Sturz des kommunistischen Regimes 1989 wanderte ein Großteil der noch im Land verbliebenen siebenbürgisch-sächsischen Gemeinschaft nach Deutschland aus. Für das architektonische Erbe in der alten Heimat – darunter zahlreiche Erinnerungsorte der Sachsen – bedeutete dieser Exodus, daß für diesen Komplex nun stärker als zuvor der rumänische Staat verantwortlich sein würde. Wegen der schwierigen wirtschaftlichen Entwicklung Rumäniens während der Systemtransformation sowie gegensätzlicher Vorstellungen über den Denkmalschutz und angesichts rumänischer Kommerzialisierungsbestrebungen kam es zu Spannungen mit den Sachsen bezüglich der „Verwertung“ ihres architektonischen Kulturerbes durch die Rumänen; vor allem die Törzburg bei Kronstadt sowie Schäßburg sind als Streitfälle zu nennen. Die sächsische Empfindlichkeit wird noch durch den Umstand gesteigert, daß viele Sachsen sich durch die Auswanderung am Ende ihrer Geschichte sehen und die Erinnerung durch den Erhalt und die historisch korrekte Zuordnung ihres architektonischen Erbes gesichert sehen wollen. Ihre Bauwerke sollen nicht nur für die eigene Gemeinschaft als Erinnerungsorte fungieren, sondern auch für andere Bevölkerungsgruppen sowie für die Erinnerung der Binnendeutschen an die Siebenbürger Sachsen. 310

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Für die „Schwarze Kirche“, die als wichtigstes Bauwerk hervorragt, gilt diese Problematik jedoch größtenteils nicht. Gründe hierfür sind, daß ihre Restaurierung aus einer Kombination von umfangreichen staatlichen sowie privaten Förderungen seit den 1960er Jahren prioritär und erfolgreich durchgeführt wurde und ihr Fortbestand gesichert ist. Hinzu kommt, daß in Kronstadt eine sächsische Gemeinschaft verblieben ist, die das Kirchengebäude und die Erinnerung daran intensiv betreut und verwaltet. Hervorzuheben sind ferner, neben den beiden im Kircheninneren befindlichen, fachlich konzipierten Ausstellungen zur Baugeschichte (seit 198�) sowie zu Johannes Honterus (seit 1973), die professionellen Führungen durch die Kirche. Die „Schwarze Kirche“ kann geradezu als Modell für die Erhaltung eines architektonischen siebenbürgisch-sächsischen Erinnerungsortes gelten. Daß die Kirche dennoch einer Rumänisierung beziehungsweise einer Integration in das nationale Kulturerbe der Rumänen ausgesetzt wurde, ist angesichts des Anteils der Staatsnation an der Bevölkerung Rumäniens von über 90 Prozent nicht erstaunlich, sondern gerade in Verbindung mit der sächsischen Auswanderung konsequent. Entscheidender Faktor hierfür ist die im Nationalkommunismus bis zum Beginn der 2000er Jahre kanonisierte Schulbildung, welche die Kultur und Geschichte der ethnischen Minderheiten zugunsten des Bildes eines homogenen Nationalstaats weitgehend unbeachtet ließ. Das hieraus bis heute resultierende geringe Wissen über die deutsche Minderheit des Landes fördert die Perspektive gerade der Rumänen aus dem sogenannten Altreich, daß sämtliche Bauwerke auf dem Gebiet Rumäniens rumänisch oder zumindest in sehr enger Verbindung zu den Rumänen stehen müssen. Bei Führungen durch die „Schwarze Kirche“ wird häufig deutlich, daß nicht wenige Besucher diese bis dahin für rumänisch hielten. Meist ist unbekannt, daß die Kirche und die Siebenbürger Sachsen evangelisch waren, womit auch eine Unkenntnis über deren historische Einordnung einhergeht. Die Rumänen richten daher ihre Perspektive insbesondere auf zwei Aspekte: auf die architektonische Bedeutung der Kirche, die aufgrund ihrer Größe offensichtlich ist, sowie auf ihren westeuropäischen Architekturstil, der als wichtige und erwünschte Verbindung zur westlichen Kultur wahrgenommen wird. Insgesamt erfreut sich die Kirche großer Beliebtheit bei den Rumänen, die einen Großteil der Besucher ausmachen: 2008 wurden über 170.000 Eintrittskarten verkauft. Die deutschsprachigen Kronstädter betonten die architektonische Bedeutung ihres größten Sakralbaus und die damit verbundene materielle Leistung stärker, als dies andere Gemeinschaften mit ihren Bauwerken zu tun pflegen. In der stetigen Konkurrenz zwischen Kunst und Krieg sahen sie ihre Hauptkirche als Zeugnis letztlich erfolgreicher Bemühungen um Erhalt und Erinnerung. Ein Grund für die außergewöhnlich starke Betonung der architektonischen Bedeutung, die eine materielle Perspektive verrät, mag aber auch begründet liegen in der innersächsischen Konkurrenz mit Hermannstadt, dem politischen und kirchlichen Zentrum der Siebenbürger Sachsen, das geradezu als ihre Hauptstadt gelten kann. Die „Schwarze Kirche“ diente in diesem Spannungsverhältnis als Beleg für die Überlegenheit der Kronstädter auf wirtschaftlichem Gebiet. Daß die Kirche in der Folge als wichtigstes sächsisches Bauwerk wahrgenommen wurde, spricht 311

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für den Erfolg des Kronstädter Vorhabens. Seit dem 20. Jahrhundert bezeichnen die Siebenbürger Sachsen die „Schwarze Kirche“, den größten Sakralbau Rumäniens, aber auch gern und zu Recht als hervorragendes Beispiel architektonischer Leistung auf dem Gebiet des rumänischen Staates. VI. Auswahlbibliographie KühLbrandt, Ernst: Die evangelische Stadtpfarrkirche A. B. in Kronstadt, Bd. 1–2. Kronstadt 1898, 1927; ziMMerMann, Franz u. a. (Hg.): Urkundenbuch zur Geschichte der Deutschen in Siebenbürgen, Bd. 1–�. Hermannstadt 1892–1937, Bd. 5–6. Bukarest 1975–1981; Gross, Julius/nussbächer, Gernot (Hg.): Quellen zur Geschichte der Stadt Kronstadt (Brassó), Bd. 1 (11�3–1867). Kronstadt/ Brassó 1903; roth, Victor: Geschichte der deutschen Baukunst in Siebenbürgen. Straßburg 1905; ziLLich, Heinrich: Kronstadt. Mit acht Zeichnungen von Fritz Kimm. Kronstadt 1925; haJeK, Egon: Ein gotischer Dom Südosteuropas. In: Ostland. Vom geistigen Leben der Auslanddeutschen 2/� (1927) 113–120; Meschendörfer, Adolf: Die Stadt im Osten. Roman. Hermannstadt 1931; ders.: Der Büffelbrunnen. Roman. München 1935; ziLLich, Heinrich: Zwischen Grenzen und Zeiten. München 1936; GeissLer-nussbaecher, Trude: An die Schwarze Kirche in Kronstadt. In: roth, Hermann (Hg.): Herz der Heimat. Deutsche Lyrik aus Siebenbürgen. München 1937, 25; haJeK, Egon: Meister Johannes. Aus dem Werdegang der Deutschen in Siebenbürgen. Graz/Leipzig 1938; neustädter, Erwin: Der Jüngling im Panzer. Eine Dichtung in Prosa. Stuttgart 1938; Kronstädter Zeitung. Festausgabe zum hundertjährigen Bestehen vom 24. Mai 1936; scherG, Maria: Schwarze Kirche. In: dies.: Jahr und Leben. Gedichte. Aus ihrem Nachlaß ihren Freunden dargeboten. Kronstadt 19�3, 29; vătăşianu, Virgil: Istoria artei feudale în ţările Romîne [Geschichte der feudalen Kunst in den rumänischen Ländern]. Bucureşti 1959; adrian, Victor: Die Schwarze Kirche. Bukarest 1968; fabini, Hermann: Die Stadt und ihr Bauwerk. 600 Jahre seit dem Baubeginn der Schwarzen Kirche. In: Neuer Weg, 31. Dezember 1983; Myss, Walter: Kunst in Siebenbürgen. Innsbruck 1991; phiLippi, Maja: Kronstadt. Historische Betrachtungen über eine Stadt in Siebenbürgen. Aufsätze und Vorträge. Bukarest 1996; nussbächer, Gernot: Johannes Honterus. Sein Leben und Werk im Bild. Bukarest 71999 [11973]; zeidner, Helmut: Die Schwarze Kirche. In: roth, Harald (Hg.): Kronstadt. Eine siebenbürgische Stadtgeschichte. München 1999, 150–160; Motzan, Peter: Dingsymbol kollektiver Identität. Die Schwarze Kirche als „Gegenstand“ der siebenbürgisch-deutschen Literatur (1919–1944). In: 50 Jahre Südostdeutsches Kulturwerk – Südostdeutsche Vierteljahresblätter 1951–2001. München 2001, 55–64; nussbächer, Gernot: Kleiner Führer durch die Schwarze Kirche in Kronstadt. Kronstadt 2007; franKe, Arne: Kronstadt – Braşov. Ein kunstgeschichtlicher Rundgang durch die Stadt unter der Zinne. Regensburg 2008; ders.: Städte im südlichen Siebenbürgen. Zehn kunsthistorische Rundgänge. Potsdam 2010, 52–6�; roth, Harald: Kronstadt in Siebenbürgen. Eine kleine Stadtgeschichte. Köln/Weimar/Wien 2010; von herrMann, George Michael Gottlieb: Das alte Kronstadt. Eine siebenbürgische Stadt- und Landesgeschichte bis 1800. Köln u. a. 2010; brenndörfer, Karl-Heinz/şindiLariu, Thomas (Hg.): Der Schwarze-Kirche-Prozess 1957/58: Erlebnisberichte und Dokumentation. Kronstadt/Heidelberg 2011; cLeWinG, Konrad/schMitt, Oliver Jens (Hg.): Geschichte Südosteuropas. Vom frühen Mittelalter bis zur Gegenwart. Regensburg 2011; heiGL, Bernhard/şindiLariu, Thomas (hg.): Kronstadt und das Burzenland. Beiträge von Studium Transylvanicum zur Geschichte und Kultur Siebenbürgens. Kronstadt 2011, 121–138; pintiLescu, Corneliu: Justiz und politische Repression im kommunistischen Rumänien: der Schwarze-Kirche-Prozess in Kronstadt/Braşov 1958. In: Gräf, Rudolf/voLKMer, Gerald (Hg.): Zwischen Tauwettersozialismus und Neostalinismus. Deutsche und andere Minderheiten in Ostmittel- und Südosteuropa 1953–1964. München 2011, 133–146.

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Die Prager Betlehemskapelle I. Zusammenfassung. – II. Geschichte der Kapelle vor dem Abbruch. – III. Gestalt und Ausstattung des ursprünglichen Gebäudes. – IV. Moderner Wiederaufbau. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die den unschuldigen Kindern von Betlehem geweihte Kapelle wurde in den Jahren 1391 bis 139� in der Altstadt Prags errichtet und war für die Predigten der ersten böhmischen Reformer aus dem Umkreis der Prager Universität bestimmt. 1�02 bis 1�13 wirkten hier Jan Hus, Jakob von Mies sowie weitere wichtige Persönlichkeiten der tschechischen Reformbewegung. Nach der Hinrichtung und Verbrennung von Hus 1415 auf dem Konstanzer Konzil diente die Kapelle auch als Ersatz für die fehlenden Reliquien und das Grab des Märtyrers. Im Zuge der Rekatholisierung Böhmens und Mährens wurde die Betlehemskapelle 1622 zusammen mit der Universität an die Jesuiten übergeben. Als Folge der Säkularisation riß man sie 1786 ab und überbaute das Grundstück mit einem Wohnhaus. Als man in den 1920er Jahren begann, das Hussitentum zur Legitimierung der neuen demokratischen Staatsordnung der Tschechoslowakei zu instrumentalisieren, setzte die wissenschaftliche Untersuchung der Geschichte und der Überreste der Kapelle ein. Auf der Basis der in diesem Zusammenhang erzielten Befunde wurde sie 1954 durch das kommunistische Regime nicht nur als Denkmal neu errichtet, sondern auch als Erinnerungsort etabliert. Obwohl eine Gedenktafel über den Wiederaufbau informiert, gilt die Kapelle im Bewußtsein der breiteren Öffentlichkeit als originales historisches Monument. II. Geschichte der Kapelle vor dem Abbruch Südwestlich des Altstädter Rings in einem von tschechischsprachigen Handwerkern und Händlern bewohnten Teil der Prager Altstadt gelegen, wurde die Betlehemskapelle 1391 von dem Altstädter Händler Václav Kříž und dem Adeligen Hanns von Mühlheim gestiftet. Letzterer stand dem Kreis der Ratgeber König Wenzels IV. nahe. Die Kapelle sollte den Theologen der Prager Universität als Predigtort dienen. Sie grenzte an das der Universität angegliederte Kolleg des heiligen Wenzel an und befand sich in der Nähe jener Stelle, an der in den 1370er Jahren der Reformer Jan Militsch von Kremsier eine Besserungsanstalt für Prostituierte („Jerusalem“) unterhalten hatte. Das 1�12 von Kříž gegründete und der Kapelle angegliederte Kolleg „Nazareth“ bot Studenten, die eine wesentliche Triebkraft der religiösen Reformbewegung darstellten, Unterkunft in Prag. Ab 1�02 waren Jan Hus und seine Anhänger als Prediger in der Betlehemskapelle tätig. Hus selbst mußte Prag jedoch 1�13 verlassen. Nach seinem Tod zwei Jahre später begann man hier mit der utraquistischen Kommunion, das heißt mit der Gewährung 313

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des Abendmahls in beiderlei Gestalt (sub utraque species). Während der hussitischen Revolution wurde die Kapelle zu einer gewöhnlichen Pfarrkirche, deren Patronat der Altstädter Rat zusammen mit der Universität innehatte. In dieser Zeit wirkte Johann von Pribram an der Betlehemskapelle, ein Vertreter des Prager Kompaktaten-Utraquismus, der, wie vor ihm bereits Jakob von Mies, in der Kapelle auch bestattet wurde. 1435 gaben Verwandte des einstigen Stifters, Václav Kříž, die Reliquie eines unschuldigen Kindes von Betlehem, die sie während der Revolutionsjahre zu Hause verwahrt hatten, an die Kapelle zurück. 1�51 richtete man neben der Kapelle das große Louda-Kolleg ein. In den Jahren 1536 bis 1538 erfuhr der Kirchenraum eine aufwendige Überwölbung, die aus dem Nachlaß der Altstädter Bürgerin Anna Zvoková finanziert werden konnte; auch sonst standen der Kapelle reiche Renten zur Verfügung. 1550 bis 1568 wirkte hier Jan Mystopol, Administrator des utraquistischen Konsistoriums und höchster Vetreter der hussitischen Kirche. Durch den Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. von 1609 ging die Kapelle in einem symbolischen Akt von der Universität an die Böhmischen Brüder über, die hier bis zu ihrem Verbot im Jahr 1620 tätig waren. 1622 bis 1661 hatten die Jesuiten das Patronatsrecht inne. Sie nutzten das Gebäude aber lediglich als Schulkapelle für die Studenten des benachbarten Wenzelskollegs und übertrugen auch die einflußreiche Weinbruderschaft St. Isidor hierher. Erlöschendes Interesse an der Kirche führte nach der Auflösung der Societas Jesu in der Zeit der Säkularisation dazu, daß die Betlehemskapelle verkauft und schließlich abgerissen wurde. III. Gestalt und Ausstattung des ursprünglichen Gebäudes Informationen über die ursprüngliche Gestalt der Kapelle sind lediglich zeitgenössischen Stadtansichten zu entnehmen, die vor dem Hintergrund archäologischer Befunde allerdings kritisch zu bewerten sind. Die Kapelle wurde auf einem unregelmäßigen, leicht trapezförmigen Grundriß ohne Presbyterium als unausgerichtete Halle erbaut. Konzipiert für Predigten, soll sie zeitweise bis zu 3.000 Besucher aufgenommen haben. Der ungewöhnliche Grundriß war nicht ganz einzigartig. In kleinerem Maßstab und mit einem aufwendigen Gewölbe über einem Mittelpfeiler weist die Bartholomäuskirche des Klosters des Deutschen Ritterordens im westböhmischen Eger eine ähnliche Disposition auf. Die Decke der Betlehemskapelle war jedoch ursprünglich flach und aus Holz gebildet, der Dachstuhl formte zwei Satteldächer mit Giebeln. Dieser Verzicht auf architektonischen Anspruch scheint gezielt als Ausdruck einer aktuellen Dienlichkeit und bescheidenen Funktionalität gewählt worden zu sein. Infolge der Stiftung der Anna Zvoková konnte 1536 bis 1538 ein historisierendes Netzgewölbe über 15 Pfeilern in die Kapelle eingezogen werden, wodurch der Bau seine charakteristische Form erhielt. Der Raum war aber immer noch nicht in Kirchenschiffe unterteilt, sondern blieb unausgerichtet und ungegliedert; die drei nachgewiesenen Altäre waren schlicht an der Ostwand aufgestellt. Zum Kapelleninneren im 15. Jahrhundert ist aus Textquellen bekannt, daß die Wände anstelle figürlicher Wandbilder lateinische Zitate nach den Traktaten von Jan Hus und Ja314

Die Prager Betlehemskapelle

kob von Mies führten. Die Darstellung nach Nikolaus’ von Dresden antithetischen Tabule veteris et novi coloris scheint nicht in Gestalt von Wandmalereien, sondern vielmehr auf mobilen Bildträgern Umsetzung und ihm Rahmen des öffentlichen Unterrichts wie auch bei agitatorischen Veranstaltungen Verwendung gefunden zu haben. Nach Darstellung der 1609 erschienenen Druckschrift Hußiten Krieg. Darinnen begriffen/ Das Leben/ die Lehr und Tod/ M. Johannis Hussii des Zacharias Theobald befand sich angeblich vor der Rekatholisierung in der Kapelle die ursprüngliche Kanzel von Hus. Sie zeigte Darstellungen der Verbrennung des Reformators sowie des Hieronymus von Prag auf dem Konstanzer Konzil und ebenso das Martyrium des Evangelisten Johannes in kochendem Öl. Neben der in einem Schrein gefaßten Reliquie eines der unschuldigen Kinder zu Betlehem wurde auch der schwarze Talar von Hus als Reliquie bewahrt und verehrt. Ebenso konnte ein Gesangbuch von 1587 – es befindet sich heute in der Bibliothek des Prager Nationalmuseums – identifiziert werden, das zum Eigentum der Kapelle gehört hatte. Darin ist auf einer Darstellung der utraquistischen Kommunion auch der Innenraum der Betlehemskapelle wiedergegeben, deren Ausstattung zu jener Zeit ein verschließbares Altarretabel und – daneben – ein steinernes Sakramentshaus (archa) aufwies. IV. Moderner Wiederaufbau Archäologisches, historisches und kunstgeschichtliches Interesse für die 1786 abgerissene Prager Betlehemskapelle kam bei der Vorbereitung für das 500jährige Jubiläum der Verbrennung von Hus 1915 auf und erstarkte in den 1920er Jahren. Der Archäologe Karel Guth und der Architekt Alois Kubíček deckten die materiellen Überreste im Keller und die Umfassungsmauern auf. Darüber hinaus konnte Zdeněk Wirth in den Archiven Pläne aus der Zeit vor dem Abbruch auffinden. František M. Bartoš und Ferdinand Hrejsa rekonstruierten die Geschichte der Kapelle aufgrund archivalischer Quellen, die später von Josef Teige veröffentlicht wurden. Die hussitische Tradition war ein umstrittener Teil der nationalen Selbstfindung und bildete einen Gegenpol zur römischkatholischen Tradition. Die Auffassung des ersten Staatspräsidenten Tomáš G. Masaryk schloß an das historische Konstrukt František Palack�s an, demzufolge das Hussitentum der deutlichste Ausdruck eines slawischen, das heißt ethnisch-tschechischen Anteils an der böhmischen Gesellschaft sei. Vor diesem Hintergrund avancierten die Hussiten zum wohl wichtigsten historischen Bezugspunkt der modernen demokratischen Tradition der tschechoslowakischen Nation. Der vordergründig wissenschaftlich abgesicherte Neubau der Kapelle in den Jahren 19�9 bis 1952 war ein voll und ganz ideologisch geprägtes Projekt des kommunistischen Regimes. Beschlossen auf einer Kabinettssitzung im Juli 19�8, wurde der Wiederaufbau zu keinem Zeitpunkt von einer öffentlichen Diskussion begleitet. Die von Jaroslav Fragner durchgeführte Rekonstruktion behielt zwar den ursprünglichen Grundriß sowie die Verteilung der Volumina beziehungsweise der Baumassen bei, der Haupteingang wurde jedoch an die gegenüberliegende Seite, hin zum heutigen Betlehemsplatz, verlagert. 315

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Die Kanzelwand der Betlehemskapelle, vor der der tschechoslowakische Kulturminister Zdeněk Nejedl� am 5. Juli 195� seine Rede zur Neuerrichtung hielt. Rechts im Hintergrund ein als Fresko aufgebrachtes Liedzitat aus dem breiten Korpus hussitischen Liedguts, in der weiteren Wandgestaltung ergänzt um Darstellungen aus dem sogenannten Jenaer Kodex. Obgleich ein historisches Gebäude vorgebend, bieten Architektur und Ausstattung lediglich eine von nationalromantischen und kommunistischen Motiven geleitete Interpretation des Erinnerungsortes. Bildnachweis: Wolfgang Sauber.

Das Ausstattungskonzept geht auf den kommunistischen Kulturminister Zdeněk Nejedl� zurück, der unter anderem eine Reihe wissenschaftlicher Studien zur Geschichte des hussitischen Gesangs publizierte (Počátky husitského zpěvu, 1907; Dějiny husitského zpěvu, 1913), was möglicherweise auch die Einführung von Zitaten nach hussitischen Liedern als Element der Wanddekoration erklärt. Den Innenraum prägen weite Wandflächen mit Darstellungen nach den Miniaturen des um 1500 entstandenen Jenaer Kodex. Dabei handelt es sich um einen Sammelband, der spätere Varianten angeblich frühhussitischer allegorischer Bilder enthält. Schon die Wahl dieser Vorlagen aus jagiellonischer Zeit läßt erkennen, daß es sich um einen recht freimütigen interpretatorischen Zugriff auf ikonographische Vorlagen wie auf architektonisches Formengut im Sinn eines politisch motivierten Historismus des 20. Jahrhunderts handelt. So erfolgte auch der Bau in klarem Widerspruch zu den andernorts eingehaltenen Regeln der staatlichen Denkmalpflege, die in der Tradition Alois Riegels und Max Dvořáks entschieden die Errichtung historischer Repliken etwa von kriegszerstörten Denkmälern ablehnte. Demgegenüber manifestiert sich im Wiederaufbau der Betlehemskapelle in 316

Die Prager Betlehemskapelle

der Konzeption Nejedl�s eine Synthese zwischen romantischer Nationalideologie und Marxismus. Man projizierte die Ideen der kommunistischen Gleichheit und der massenhaften Revolutionsbewegung kurzerhand auf das Hussitentum. Die fiktive materielle Gestalt der rekonstruierten Kapelle verlieh der Parole, nach der die Kommunisten Erben der besten nationalen Traditionen seien, effektiv an Glaubwürdigkeit. Entsprechend hatte der Neubau keinerlei kirchliche Funktionen, sondern einzig den Status eines Museumsdenkmals inne. Seit 1987 befindet sich die Betlehemskapelle im Besitz der Technischen Hochschule Prag, von der sie als feierliche Aula, Konzert- und Konferenzraum genutzt wird. Die Tschechoslowakische Hussitische Kirche hält hier alljährlich Gottesdienste, bei denen Jan Hus gedacht wird. Seit im Jahr 1990 der 6. Juli als Gedenktag an Hus als Staatsfeiertag begangen wird, haben diese liturgischen Feiern wiederum einen offiziellen, staatlich repräsentativen Charakter. Im Jahr 1991 erinnerte eine 50 Heller-Briefmarke an die 600 Jahre zurückliegende Errichtung des historischen Bauwerks. Statt die architektonische Replik des 20. Jahrhunderts ins Bild zu setzen, zeigt sie den predigenden Jan Hus nach einem Holzschnitt etwa aus der Zeit um 1520/30. Die Darstellung verdeutlicht ein weiteres Mal, daß die mit der Kapelle und ihren Protagonisten verbundenen Vorstellungen vielfach erst durch die Interpretationen nachfolgender Epochen geprägt sind. V. Auswahlbibliographie haMMerschMid, Jan Florian: Prodromus gloriae Pragenae. Praga 1723, 126–132; neJedLý, Zdeněk: Počátky husitského zpěvu [Die Anfänge des hussitischen Gesanges]. Praha 1907; ders.: Dějiny husitského zpěvu [Geschichte des hussitischen Gesanges], Bd. 1. Praha 1913; teiGe, Josef: Základy starého místopisu pražského [Grundlagen zu einer Topographie der Stadt Prag], Bd. 2. Praha 1915, 795–871; bartoš, František M. u. a.: Betlémská kaple. O jejích dějinách a zachovan�ch zbytcích [Die Betlehemskapelle. Über ihre Geschichte und die erhaltenen Reste]. Praha 1922; Wirth, Zdeněk: Betlemská kaple [Die Betlehemskapelle]. In: Památky archeologické 33 (1922/23) 5�–69; bartoš, František M.: Z dějin kaple betlémské [Aus der Geschichte der Betlehemskapelle]. Praha 1951; ryba, Bohumil: Betlemské texty [Die Texte von der Betlehemskapelle]. Praha 1952; čapeK, Jan Blahoslav: Betlémska kaple v české literatuře [Die Betlehemskapelle in der tschechischen Literatur]. Praha 1952; KubičeK, Alois: Betlémská kaple [Die Betlehemskapelle]. Praha 1953; neJedLý, Zdeněk: Husův Betlém a nás dnešek [Hus’ Betlehem und unsere Gegenwart]. Praha 195�; ryneš, Václav: Z kroniky Betlemské kaple v 17. a 18. století [Aus der Chronik der Betlehemskapelle im 17. und 18. Jahrhundert]. In: Časopis Společnosti přátel starožitnostní 6� (1956) 209–213; KubičeK, Alois: Betlémská kaple v Praze [Die Betlehemskapelle in Prag]. Praha 195�; ders.: Betlémská kaple [Die Betlehemskapelle]. Praha 1960; vávra, Jindřich: Betlémská kaple [Die Betlehemskapelle]. Praha 1968; neJedLý, Zdeněk: Dědici velk�ch tradic českého národa [Die Erben der großen Traditionen des tschechischen Volkes]. Praha 1978; benešovsKá, Klára: Betlémská kaple [Die Betlehemskapelle]. In: vLčeK, Pavel (Hg.): Umělecké památky Prahy. Staré Město a Josefov. Praha 1996, 58–61; čorneJ, Petr: Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 5. Praha/Litomyšl 2000, 8�–109; royt, Jan: Die utraquistische Ikonographie der Jagiellonenzeit. In: Wetter, Evelin (Hg.): Die Länder der Böhmischen Krone und ihre Nachbarn zur Zeit der Jagiellonenkönige (1�71–1526). Kunst – Kultur – Geschichte. Ostfildern 200�, 2�3–250; paces, Cynthia: Prague Panoramas. National Memory and Sacred Space in the Twentieth Century. Pittsburgh 2009, 189–209; hidin, Adam S.: Ethni-

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Milena Bartlová sche Bedeutungen der sakralen Baukunst. „Deutsche“ und „Tschechische“ Pfarrkirchen und Kapellen in Böhmen und Mähren (1150–1420). In: schLotheuber, Eva/seibert, Hubert (Hg.): Böhmen und das Deutsche Reich. Ideen und Kulturtransfer im Vergleich (13.–16. Jahrhundert). München 2009, 11–33; horníčKová, Kateřina/šroněK, Michal (Hg.): Umění české reformace [Kunst der böhmischen Reformation]. Ausstellungskatalog. Praha 2010, ��0–��3, Kat. Nr. XIV/5 [Martina Šárovcová].

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Ungarische Kirchenschätze I. Zusammenfassung. – II. Bestand, Zerstörungen und Rettungsversuche. – III. Einschreibungen der Zeitgenossen in das einzelne Objekt. – IV. Schatzobjekte im Spiegel hagiographischer Quellen und Predigten. – V. Der Kirchenschatz im öffentlichen Bewußtsein des 19. und 20. Jahrhunderts. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung In der gesamten abendländischen Kultur sind Kirchenschätze Erinnerungsorte par excellence. Sie versammeln die liturgische Ausstattung zur Feier der Eucharistie und ebenso die Überreste der Heiligen, derer im Verlauf des Kirchenjahres gedacht wird. Im historischen Königreich Ungarn, das im 16. Jahrhundert neben konfessionellen Umbrüchen infolge der osmanischen Expansion auch weitreichenden Gebietsverlusten ausgesetzt war, zeigt sich im Umgang mit den kirchlichen Schätzen eine jeweils spezifische konfessionelle wie auch ständische beziehungsweise nationale Identität. Diese gründet, abgesehen von einer Fortführung oder Ablehnung des Reliquienkults, in einer Ausdifferenzierung des Eucharistie- und Abendmahlsverständnisses, mit dem sich zugleich das Verhältnis zum Meß- und Abendmahlsgerät änderte. Für protestantische Kirchen sind umfangreiche Einschmelzungen der Kirchenschätze kennzeichnend. Lediglich ausgewählte Werke blieben erhalten: in reformierten Gemeinden als Erinnerungsstücke, in jenen Augsburger Bekenntnisses als Ausdruck einer lutherischen Identität. Die Preziosen aus katholischen Kirchen charakterisiert demgegenüber ein stetes Bemühen um deren Erhalt durch Evakuierung und Reparaturen sowie durch Neustiftungen und Ausbau dieser als nationales Erbe begriffenen Schätze. Die wissenschaftliche Erforschung setzte im Verlauf des 19. Jahrhunderts ein, als die Objekte auf nationalen Ausstellungen eine breite Öffentlichkeit fanden. In der sich formierenden Kunstgeschichtsschreibung Ungarns nahmen Goldschmiedewerke als Zeugnisse nationaler Kunstproduktion eine Schlüsselstellung ein. Über die Jahrhunderte betrachtet, ist die Rezeption ungarischer Kirchenschätze ambivalent: Neben verheerenden Zerstörungen spiegeln die Schätze ebenso große Anstrengungen zu ihrer Rettung wider. Mit ihrer Einbindung in den nationalen Diskurs sind sie in ihrer Gesamtheit damit auch Ausdruck einer gesteuerten Erinnerung im plurikonfessionellen wie multiethnischen Ungarn. II. Bestand, Zerstörungen und Rettungsversuche Die Notwendigkeit der Türkenabwehr bewirkte im 16. Jahrhundert eine weitreichende Einschmelzung kirchlicher Schätze in Ostmitteleuropa. 15�2 heißt es in der Chronik zu Leutschau: „Ist eine grosse Schatzung auf Edell, und unedell, auf Arm, und reich in der Böhemischen, und Ungerischen Kron, von wegen des Türcken, welcher vermeinte die 319

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gantze Christenheit zu vertilgen, und umzu bringen.“ In protestantischen Pfarrgemeinden erleichterten ein gewandeltes Abendmahlsverständnis und eine Abkehr von der mittelalterlichen Reliquienpraxis den Zugriff auf die reichen Schätze. In der Regel wurden sie der Ratskasse zugeschlagen. Im siebenbürgischen Kronstadt dokumentiert das unter Anwesenheit des Rats, also auch des Ratsherrn, Stadtpfarrers und Reformators Johannes Honterus, erstellte Protokoll des Jahres 15�� eine Schätzung auf annähernd �00 Mark Silber und eine Verwendung für die diplomatischen Belange der Stadt: als Geschenke an die verschiedenen Landesherren beziehungsweise als Tribut an die Hohe Pforte. Allein vier mittelalterliche Kelche samt Patenen blieben in Kronstadt erhalten. In Hermannstadt wurden unter der Ägide des Bürgermeisters Petrus Haller nicht nur die Güter der Klöster und weiterer kirchlicher Einrichtungen veräußert, sondern auch der pfarrkirchliche Schatz zu Pokalen umgewandelt. Werden 1��2 noch 51 Kelche, neun Monstranzen sowie diverse Reliquiare und weiteres Altargerät gezählt, sind heute lediglich zwei vorreformatorische Kelche zu verzeichnen. Der Bestand der Bistritzer Pfarrkirche wurde im Zuge der Belagerung der Stadt durch den Moldaufürsten Petru IV. Rareş 15�2 verwertet. Sukzessive Einschmelzungen lassen sich an Inventaren und Visitationsprotokollen ablesen, die kleinere Gemeinden betreffen. Die Schätze katholischer Kirchen, bemühte man sich, in aufwendigen Evakuierungsmaßnahmen zu erhalten. Aus dem Schatz der siebenbürgischen Bischofskirche zu Weißenburg etwa gelangten der berühmte Sukikelch über Tyrnau nach Gran und ein Kelch mit antiken Münzen als Stiftung des Pál Bornemisza nach Neutra. Einzig diese beiden lassen sich von den einst dreißig im Inventar von 1531 genannten Kelchen identifizieren; der Rest ist verloren. Die heute in der siebenbürgischen Kathedrale greifbaren gotischen Kelche wurden erst im 18. Jahrhundert angekauft. Bezeichnend ist die Versprengung der Schätze aus der Kapelle der königlichen Burg zu Ofen, die bereits 1526 geplündert worden war. Verbliebene Schatzstücke konnte gen Westen in Sicherheit gebracht werden. 1541 und 1542 tauchten einzelne Objekte in Eperies auf. 1545 gestattete König Ferdinand I. dem dortigen Stadtrat, einige Preziosen zur Begleichung seiner Schulden zu veräußern. Andere wurden verkauft, um mit dem Erlös den Ausbau der Stadtbefestigungen in Wien und Komorn zu finanzieren. 155� bestätigte Ferdinand dem Rat von Eperies, den bis dahin verbliebenen Rest vollständig übernommen zu haben. Weitere Teile des Schatzes wurden 1626 in Preßburg in zwei Verzeichnissen erfaßt. Das zweite Inventar diente als Grundlage für ein Verlustprotokoll angesichts der Rückgabe im Jahr 1712. Der 1785 durch Kaiser Joseph II. bewilligte Verkauf der „Kirchen-Pretiosen und dere[n] Verwendung für die Dotierung der Ofener Pfarrkirche in der Festung“ zeitigte das Aus dieser vormals überaus reichen Sammlung. Allein Bemühungen des Neutraer Bischofs Pál Bornemisza, der von 153� bis 15�9 auch die Ofener Propstei innehatte, ist es zu verdanken, daß einzelne Gegenstände zumindest nominell der Ofener Propstei zugedacht wurden: darunter der oben genannte Kelch mit antiken Münzen aus Weißenburg sowie zwei Altarleuchter, die später allerdings dem Neutraer Schatz einverleibt wurden. 320

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Wenig ist über den Verbleib der Schätze von Tschanad, Fünfkirchen und Waitzen bekannt. Das Kapitel von Waitzen evakuierte den Bestand 1541 auf die Burg Neograd, die allerdings von den osmanischen Truppen eingenommen wurde. Der Schatz der Kathedrale von Weszprim wurde, nachdem auch ihm Bestände zur Finanzierung der Türkenabwehr entnommen worden waren, auf die Feste Schimeck und später nach Ödenburg verbracht. Nach einem letzten, 1591 in Preßburg aufgestellten Inventar verliert sich die Spur. Lediglich eine bereits 1571 genannte Mitra gelangte über Pál Bornemisza, der ebenso Bischof von Weszprim war, nach Raab. Eine regelrechte Odyssee erfuhren die Reliquien aus Wardein, kirchliches Zentrum der Diözese Bihar. Nachdem infolge Zerschlagung der kirchlichen Institutionen die Wardeiner Kapitulare nach Gran, Erlau und Preßburg gezogen waren, transportierte man einen Großteil des Schatzes in das weiter nördlich gelegene Esced. Jedoch war 1557 in Wardein immer noch ein umfangreicher Bestand zu verzeichnen, darunter das Büstenreliquiar des heiligen Ladislaus und weitere mit diesem Heiligen verbundene Reliquien, ferner Objekte, die ursprünglich aus der Erzkathedrale Kalocsa und dem Zisterzienserkloster Egresch stammten. Bis 1615 scheinen einzelne der genannten Werke nach Kaschau gelangt zu sein, von wo aus sie 1617 auf verschiedene Kirchen und Kapellen in katholischer Nutzung aufgeteilt wurden. Die Ladislausbüste ist dagegen 1600 in Weißenburg zu finden. Mit dem Weißenburger Bischof Demeter Naprágyi gelangte sie über Preßburg nach Raab, wo sie sich heute noch befindet. Über die Wege des ursprünglichen Schatzes von Raab sowie über die Hintergründe seiner heutigen Zusammensetzung ist nur wenig bekannt. Unter den älteren Meßkelchen tauchen Objekte auf, die wie anderes erst im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts hierher gestiftet wurden. Charakteristisch für die beschriebene Entwicklung ist desgleichen das Schicksal des Schatzes der Erzkathedrale zu Gran, das 1543 von den Osmanen erobert wurde. Mit der Verlegung des Kapitels nach Tyrnau gelangten auch Archivalien und Schatzbestände dorthin. Schon im Vorfeld gab es Evakuierungen auf die Burg Drégely. Verluste sind dennoch offenkundig: Erzbischof Georg III. Szakmary ließ auf Geheiß König Ludwigs II. 1523 die Bestände aus dem Nachlaß von Kardinal Thomas Bakócz, die zur Ausstattung von dessen Kapelle bestimmt waren, als Subsidie gegen die Türken aushändigen. 1526 mußte man erneut 1� ½ Mark Silber aus dem Kathedralschatz abgeben. Weitere Forderungen folgten 1529 und 1530. Erstaunlich ist vor diesem Hintergrund, daß der wertvolle Kalvarienberg, die sogenannte Matthias-Kalvarie, die Wirren unbeschadet überstand: Erstmals im Nachlaß von Erzbischof Pál Várday greifbar, führte seine Rettung ebenfalls über die Stationen Preßburg und Tyrnau. Angesichts der Bocskayschen Überfälle wurden diverse Objekte aus dem Graner Schatz ins mährische Olmütz gebracht, von dort ging es 1619 weiter nach Graz und schließlich 1623 zurück nach Tyrnau. Erst 1820 kehrte das Kapitel samt Archivalien und Schatz auf den ungarischen Sion zurück.

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III. Einschreibungen der Zeitgenossen in das einzelne Objekt Die häufigen Transporte hinterließen Spuren auf den Objekten selbst. Ohnehin diente die Inschrift eines Stifters auf einem Gefäß, das im Zentrum der Meßgeschehens zum Einsatz kam, stets dessen Memoria: „Calice[m]/ istu[m] fecit/ fieri/ b[e]nedictvs de Swk/ nobilis/ t[ra]nssylvanvs/ per/ ip[su]m q[ue] huic/ ec[cle]si[a]e/ co[n]/ donatvs“ heißt es auf dem Kelch des Benedikt Suki (um 1�37/�0) aus der Kathedrale zu Weißenburg. Neben einer Betonung des gesellschaftlichen Standes dienen Inschriften bei Nennung von Würden vielfach der Aufrechterhaltung von Ansprüchen, auch wenn diese angesichts einer protestantischen Glaubenslandschaft, die sich unter der Herrschaft der Osmanen mehr und mehr etabliert hatte, als solche kaum mehr wahrgenommen werden konnten. So nennt sich der Neutraer Bischof Pál Bornemisza auf einem Kelch, den er 1569 als Legat der verlassenen Weißenburger Kathedrale vermachte: „PAVLVS ABSTEMIVS + Q[IN]Q[ECCLESIE]NSIS + EP[ISCOP]VS + TRANSILVANE[NSIS]“. Den Titel eines Bischofs von Siebenbürgen hielt er in der Tat nur mehr nominell. Dennoch stiftete er der Kathedrale diesen wertvollen Kelch, den er in zwei Teilen von dem General der Franziskaner erworben hatte und ihn um den Nodus und die Perlen ergänzen ließ. Ein weiteres Beispiel ist der Kelch des Zipser Propstes Martinus Pethe mit einer applizierten Plakette mit Wappen und Initialen, die sich folgendermaßen auflösen lassen: „M[ARTINUS] P[ETHE] D[E] H[ETESI] A[RCHIEPISCOPUS] C[OLOCENSIS]“. Ausdrücklich wird der Kelch als Martins Stiftung 1617 genannt, wie auch die Visitationsprotokolle seine Bemühungen um den Ausbau des Schatzes betonen. Bezeichnend ist wiederum die Bezugnahme auf das Erzbistum Kalocsa, das zu jener Zeit nicht nur im von den Osmanen besetzten Ungarn lag, sondern auch in einer Hochburg der reformierten Kirche. Neben Stiftungen dieser Art, bei denen offenbar bewußt auf älteres Gerät zurückgegriffen wurde, sind Zustiftungen und Reparaturen inschriftlich ausgewiesen. Prominentes Beispiel ist die auf 1600 datierte Krone auf dem Büstenreliquiar des heiligen Ladislaus, die Demeter Naprágyi in Prag herstellen ließ, wobei möglicherweise ältere Bestandteile wiederverwendet wurden. Die Inschrift nimmt auf Naprágyis Titel als Kanzler und Bischof von Siebenbürgen Bezug. Damit dürfte es bei diesen Maßnahmen stellvertretend auch um einen konfessionellen Anspruch auf streitig gemachte Würden gegangen sein, nicht zuletzt um räumliche Bezugnahmen auf das zwischenzeitlich verlorene Territorium beziehungsweise um ein Aufzeigen der Tradition. Erkennbar wird ein Bemühen des Klerus um das Erbe einer Nation, die sich weniger nach ethnischen Gruppen als vielmehr von (verlorenen) Landesteilen ausgehend definierte. In Siebenbürgen, seit 1542 selbständiges Fürstentum, brachte das lutherische Abendmahlsgerät vor dem Hintergrund dortiger Konfessionskulturen ganz ähnliche Rezeptionsweisen hervor. Hier war es die Ethnie der Siebenbürger Sachsen, die sich im 19. und 20. Jahrhundert auf das in Gestalt des Abendmahlsgeräts erhaltene ‚nationale Erbe‘ berief. Während sich die Sachsen auf die Wittenberger Linie der Reformation verständigten und 1572 geeint das Augsburger Bekenntnis annahmen, tendierten weite Teile des ungarischen Adels der Helvetischen Richtung zu. Aus dieser ging spätestens 1571 das 322

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antitrinitarische (unitarische) Bekenntnis hervor, das neben der reformierten, der katholischen und der lutherischen Kirche als vierte „rezipierte“ Konfession anerkannt wurde. Der Umgang mit mittelalterlichen vasa sacra oder auch neuzeitlichem Abendmahlsgerät ist vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung der Bekenntnisse in Siebenbürgen ein sicheres Indiz für das jeweilige Abendmahlsverständnis in der betreffenden Gemeinde. Tatsächlich ist das Spektrum der überlieferten Goldschmiedewerke infolge einer Ablehnung der Realpräsenz in den reformierten Kirchen Siebenbürgens beziehungsweise des historischen Ungarns recht schmal. Demgegenüber verpflichtete das am Wortsinn der Einsetzungsworte festhaltende und damit die Gegenwart des realen Blutes und realen Leibes Christi einbeziehende Abendmahlsverständnis lutherischer Prägung zu einer würdigen Ausstattung des Vorgangs. Demonstrativ wurde in der siebenbürgisch lutherischen Kirche das kostbare alte Gerät weiter genutzt, begleitet von dem bis ins 19. Jahrhundert nachweisbaren Gebrauch von Meßgewändern und der Elevation von Kelch und Hostie, die somit zum Ausdrucksträger für das Festhalten an der Realpräsenz wurden. Die Forcierung dieser Zeichen entsprang einem Abgrenzungsbestreben gegen die Auffassungen der Reformierten und Antitrinitarier. Insbesondere in Krisenzeiten ging es dabei vielfach auch um eine Vergewisserung der eigenen Konfession, der eigenen Identität. Dies belegt ein Blick auf die Kontexte der an Abendmahlsgerät durchgeführten Maßnahmen. Ein um 1500 entstandener Kelch aus Dürrbach wurde 1694 umgestaltet und mit Stifterinschriften versehen. 1703 wird eine Patene zugestiftet. Bezeichnend sind die Umstände der Verehrung, die in Dürrbach wie ein letztes Aufbegehren gegen ein Schwinden der Gemeinde anmuten. Analog zu den dokumentierten Stiftungen auf katholischer Seite schreiben sich auch auf lutherischem Gerät die intellektuellen Eliten unmittelbar in die Objekte ein. Zu dieser Gruppe gehört ein Kelch in Birthälm mit der Inschrift „VERERUNG KATARINA KLUSIN HINDERLASSENE VITVE DES HERN GEORGI THEILESII GEVESEN BISCHOF“. Hier wie auch in diversen Pfarrersstiftungen wird ein bekenntnisorientierter Beweggrund für die Schenkung greifbar: Georg Theilesius war von 1627 bis 16�6 Bischof der siebenbürgischen Landeskirche, die ihre Repräsentanz in Birthälm hatte. In kirchlichen Angelegenheiten hatte er sich vor allem mit dem aufkommenden Kryptocalvinismus auseinanderzusetzen, der Thema mehrerer von ihm einberufener Synoden war. Über seine den Kelch verehrende Ehefrau Katharina ist abgesehen davon, daß aus dieser Ehe die gleichnamigen Kinder Georg und Katharina hervorgingen, die ihrerseits die Pfarrerslaufbahn einschlugen beziehungsweise Pfarrer ehelichten, nichts bekannt. Dennoch bringt die Inschrift ein entsprechendes Selbstbewußtsein über den Status einer Bischofswitwe zum Ausdruck. Darin ist sie vergleichbar den Sgraffiti an der Unterseite eines Kelches aus Schaas, die jeweils mit Jahreszahlen verbundene Monogramme darstellen und auf Pfarrer Bezug nehmen, die im Verlauf des 17. und 18. Jahrhunderts die Pfarrstelle innehatten. Eher eine konkrete Verehrung anläßlich des Amtsantritts von Michael Benedict als Pfarrer in Deutsch Tekes könnte der dort überlieferte Kelch sein. Die Inschrift auf den glatten Paßfeldern des Fußes lautet: „MICHAE BENEDIC PASTOR ECCLESI[E] 323

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TICHKOS 1650“. Seit diesem Jahr ist Benedict als Pfarrer in Deutsch Tekes nachweisbar. Damit sind derartige Inschriften zum einen Beleg der Ordination und Ausdruck des Amtsbewußtseins der betreffenden Pfarrer. Zum anderen zeugen sie von einer pastoralen Seelsorge, die wiederum vor dem Hintergrund einer Ausdifferenzierung der Konfessionen beziehungsweise der Debatten um das Abendmahlsverständnis zu erklären ist. Darauf deutet die früheste Inschrift auf einem vorreformatorischen Kelch in Schirkanyen, auf dem es heißt „Laurentius Scholtz Grohsauien. Pastor Ecl[?] Evangely Chris“. Der Bezug auf die evangelische Kirche Christi war Programm: Laurentius Scholz hatte seine theologische Bildung an den Universitäten Rostock und Wittenberg erworben. Erst 1573 wurde er Pfarrer in Schirkanyen, wo er noch im gleichen Jahr verstarb. Die Inschrift entstand damit just zur Zeit der großen Debatten um das Abendmahlsverständnis, mithin der Aufspaltung der evangelischen Kirchen Siebenbürgens, im Rahmen derer es sich zu positionieren galt. Darüber hinaus fallen immer wieder Objekte auf, die demonstrativ den lutherischen Wahlspruch der Reformation Verbum Domini manet in aeternum zeigen. Während dieses Motto auf das Evangelium als Glaubensfundament und auf das rechte Abendmahlsverständnis im Sinne der Gewährung des Laienkelchs bezogen wird, klingt in den Einsetzungsworten, wie sie sich wiederum auf einigen Patenen des 17. Jahrhunderts finden, noch einmal dezidiert die Debatte um das Abendmahlsverständnis an, die angesichts der Blütezeit des Calvinismus in Siebenbürgen im 17. und 18. Jahrhundert keinesfalls ausgefochten war. Dem entsprechen auch die zwei außergewöhnlichen Abendmahlstafeln in Hermannstadt von 1628 und 1717. Aus Silber beziehungsweise Zinn gearbeitet, dienten sie zum repräsentativen Verlesen der Einsetzungsworte „Das ist mein Leib […]“, „Dieser Kelch ist das Neue Testament in meinem Blut […]“, so daß über deren Echtheit kein Zweifel aufkommen konnte. IV. Schatzobjekte im Spiegel hagiographischer Quellen und Predigten Ist es einerseits der konservative Zug des Luthertums, der den Fortbestand der Werke sicherte, so hatten die Schatzstücke aus den Sakristeien und Heiltumskammern der Kathedralen andererseits bereits durch den Glauben an die Wirkmacht der Reliquien eine Sonderstellung inne. Beim heiligen Ladislaus, dem athleta patriae, ist eine schützende Wirkmacht der Reliquie so evident, daß sie das Reliquiar wiederholt sogar zum Selbstschutz befähigte. Nach einer franziskanischen Chronik des Jahres 1�79 soll die gefaßte Schädelreliqiue anläßlich der Schlacht der Szekler gegen die Tataren 13�5 ihren angestammten Ort auf dem Altar verlassen und laut Augenzeugen in Gestalt eines riesenhaften Ritters auf ehernem Roß, begleitet von der Jungfrau Maria und eine Streitaxt schwingend, die Feinde in die Flucht geschlagen haben. Nach gewonnener Schlacht soll das Reliquiar wieder aufgetaucht und sichtlich von Anstrengung gezeichnet gewesen sein. Doch nicht nur als Schlachtenhelfer, sondern auch tatsächlich sich selbst und andere schützend erweist sich die Reliquie angesichts eines Feuers zwischen 1403 und 324

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1405 und eines Gewölbeeinsturzes der Wardeiner Kathedrale 1443; Grund genug, den Heiligen anläßlich des Erdbebens von 1763 auf Geheiß des Raaber Oberhirten Ferenc Zichy in einer Prozession durch die Bischofsstadt zu tragen, wie dies zum Ladislaus-Tag seither jährlich wiederholt wird. Mit Blick auf lutherische Sakristeien, sei es in Siebenbürgen oder Oberungarn, wo die Pfarrgemeinden im Verlauf des 17. Jahrhunderts allerdings wiederum katholisiert wurden, spiegeln vor allem Synodalprotokolle und Kirchenordnungen einen entsprechenden Umgang mit den dort bewahrten Schätzen. Im weiteren waren es öffentlichkeitswirksame Predigten, die eine Identifikation mit dem vorreformatorischen Erbe herbeiführten. In einer Sammlung von Predigten aus den 1560er Jahren, verfaßt von Damasus Dürr, Pfarrer im siebenbürgischen Kleinpold, stellt sich die Bindung an den Kirchenschatz und das allgemeine Festhalten an vorreformatorischen Bräuchen als gezielte Abgrenzung der Lutheraner zu radikaleren Bekenntnissen wie Reformierten, Antitrinitarien oder Wiedertäufern dar. Die orthodoxe Kirche spielt in dieser Diskussion keine Rolle. Auch die Kirchengeschichtsschreibung des 17. und 18. Jahrhunderts knüpft an diese Tradition an, die zu einem bis heute greifbaren konfessionellen Gruppenbewußtsein geführt hat, das sich zwar in Anknüpfung an die vorreformatorische Praxis ausbildete, tatsächlich aber ein Resultat der Konfessionsbildung in Siebenbürgen ist. V. Der Kirchenschatz im öffentlichen Bewußtsein des 19. und 20. Jahrhunderts Anknüpfend an das Engagement des katholischen Klerus der Zeit um 1600, wurden auch im 19. Jahrhundert umfangreiche Reparaturen an den teils schadhaften Preziosen vorgenommen. Der Graner Kathedralschatz erfuhr vor allem durch Primas Johannes Simor umfassende Erneuerung, sowohl durch Restaurierungsprojekte als auch durch Zustiftungen von Artefakten, die nach historischen Vorbildern gefertigt wurden. Für Restaurierungen scheinen insbesondere jene Objekte ausgewählt worden zu sein, die sich mit bedeutenden Persönlichkeiten in Verbindung bringen ließen. Bezeichnend ist etwa die komplettierende Ergänzung der beiden Hörner zur Aufnahme der heiligen Öle, die traditionell mit Kaiser Sigismund von Luxemburg in Verbindung gebracht werden. Beide ergänzte man um spätgotisch anmutende Deckel, einer erhielt einen neuen Fuß. Neben heraldischen Veränderungen, die man vornahm, werden auch die Restaurierungen dieser Art inschriftlich ausgewiesen. Dies gilt zum Beispiel für den Kelch des 1465 verstorbenen Kardinal Dénes Széchy, in dessen Nachfolgerschaft sich Simor durch die ergänzte Inschrift setzt: „Hunc. Dyonis[ius] Card[inal] de Szech Prim[as] et A[rci]ep[iscopus] Strigoniensis Calicem renovari. Iussit. Successor. Johannes Simor. + 1868“. Davon abgesehen sind es aber auch historistische Neustiftungen, die eine Anbindung an die ruhmreiche Vergangenheit sicherstellen sollen. So erhielt Johannes Simor anläßlich seines fünfzigjährigen Priesterjubiläums 1886 einen Bischofsstab aus der Werkstatt des Budapester Goldschmieds Károly Zitterbarth, der hier Formen der Romanik, Spätgotik und Renaissance miteinander verband. Schon 1872 präsentierte sich der kunstsinnige 325

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Gelehrte Arnold Ipolyi anläßlich seiner Weihe zum Bischof von Neusohl „in einem zu seinen archäologischen Studien passenden, mittelalterlichen geistlichen Gewand, auf einen Hirtenstab nach altem Geschmack gestützt“. Eine Förderung historistischer Kunstproduktion und eine kunsthistorische Erforschung der ungarischen Denkmäler gingen bei ihm Hand in Hand. Seit den 1870er Jahren wurden die mittelalterlichen Objekte auf Ausstellungen einer breiten Öffentlichkeit präsentiert, wobei sich ganz unterschiedliche Schwerpunkte abzeichneten. Zielten die große Goldschmiedeausstellung in Budapest 188� sowie die Ausstellung kirchlicher Gegenstände vom Mittealter bis zur Gegenwart im k. k. Österreichischen Museum für Kunst und Industrie in Wien 1887 mit dem Zeigen historischer Vorbilder auf eine Förderung des zeitgenössischen Kunstgewerbes, so beleuchteten die „Ausstellung kunstgewerblicher und historischer Denkmäler“ in Budapest 1876 sowie die Millenniumsausstellung ebenda 1896 insbesondere den geschichtlichen Zeugniswert der Werke. Auffällig ist eine Einbindung der Objekte in die nationale Geschichtserzählung, vielfach unter Bezugnahme auf Matthias Corvinus, aber auch im Rückgriff auf weitgespannte Überlieferungskontexte. Der Reigen der Exponate erstreckt sich von den Schatzstücken der Ungarischen Kapelle des Aachener Münsters über die Ladislausbüste aus Raab bis hin zur massenhaften Präsentation von Meß- und Abendmahlsgerät, letzteres sinnfällig zusammengeführt im sogenannten Rittersaal der gotischen Gebäudegruppe von Ignácz Alpár, der in historistischer Manier Elemente der Abtei zu Jáak, der Burg Eisenmarkt und der Kapelle von Donnersmark kombinierte. Über die Geschichtserzählung hinaus wurde durch vielsagende architektonische Bezugnahmen auf diese Weise erstmals ein nationales Gehäuse für den Erinnerungsort „ungarischer Kirchenschatz“ geschaffen. Parallel zur Etablierung des Erinnerungsortes im Bewußtsein einer breiten Öffentlichkeit erfolgte die wissenschaftliche Aufarbeitung der Objektgruppe. Eine Ausstellung ungarischer Kirchenkelche in Budapest 1913, auf der neben katholischen Meßkelchen auch lutherisches Abendmahlsgerät aus Siebenbürgen gezeigt wurde, widmete sich noch überkonfessionell der Überlieferung in Ungarn als Staat. Die Erschließung des Materials in Zeitschriften, aber auch in eigenständigen Publikationen war schließlich vielfach konfessionell geleitet. 1869 definierte Tivadar Zérich die Aufgabe der in Gran herausgegebenen Zeitschrift Magyar Sion mit Blick auf eine Darstellung der Geschichte der ungarischen (katholischen) Kirche, die doch mit der ungarischen Heimat eng zusammenhinge. Der auf Betreiben von Johannes Simor 1880 von Joseph Dankó publizierte Inventarband zum Schatz der Kathedrale in Gran, der in positivistisch bester Manier in erster Linie Material zu erschließen suchte und damit ein heute noch gültiges Referenzwerk ist, beschrieb den Graner Kathedralschatz gleichfalls als „die reichste Fundgrube der vaterländischen Geschichte“. Waren es in Gran der kultur- und geschichtsbewußte Mäzen Johannes Simor und mit ihm ein mächtiges Erzbistum, die den Werken einen Weg in die Öffentlichkeit bahnten, so engagierte sich in Siebenbürgen die evangelische Landeskirche. Umfangreiche Abhandlungen wie die von Victor Roth, Pfarrer im siebenbürgischen Mühlbach und 326

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Als Schatzkammer der Nation erweist sich der Rittersaal der historischen Gebäudegruppe auf der Millenniumsausstellung in Budapest 1896. Die Abteilung umfaßte mehr als 1�0 Objekte aus Kirchenschätzen und war damit auch eine nationale Leistungsschau auf dem Gebiet der Goldschmiedekunst. So hatte der Gesetzestext das Anliegen der Ausstellung formuliert: „Was wir aber zeigen können und werden, muß unser sein, aus eigener Kraft stammen“. Bildnachweis: Reproduktion nach: Czobor, Béla/Szalay, Imre (Hg.): Magyarország történeti emlékei az 1896 évi ezredéves orsz. kiállításon [Die historischen Denkmäler Ungarns in der 1896er MillenniumsLandesausstellung], Bd. 1–2. Budapest 1897, hier Bd. 1, 129.

Nestor einer siebenbürgisch-sächsischen Kunstgeschichtsschreibung, zur Geschichte des Abendmahlskelches (1914) oder die mit Hilfe der Landeskirche erschlossenen Kunstdenkmäler aus den sächsischen Kirchen Siebenbürgens (1922) sprechen für sich. Deren erster und einzig erschienener Band war den Goldschmiedearbeiten, dem Abendmahlsgerät also, gewidmet und anläßlich „der vierhundertsten Wiederkehr des Thesenanschlags und des Reichstags zu Worms“ erschienen. Neben diesen kirchlichen Inventarisationsprojekten trieb die zentrale staatliche Denkmalpflege die Erfassung kirchlicher Goldschmiedewerke voran: Von 1877 an sind systematische Zeichnungen der verschiedenen Werke im Archiv des Amts für den Schutz des Kulturellen Erbes greifbar. Um die Jahrhundertwende folgen großangelegte 327

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Photokampagnen. Sie dienten einer topographisch flächendeckenden Sicherung des nationalen Erbes, das bereits in der Formierungsphase einer Kunstgeschichtsschreibung in Ungarn im Fokus stand. Von besonderem Interesse war eine spezifische Emailtechnik, das sogenannte Drahtemail. Obgleich im gesamten ostmitteleuropäischen Raum und in den ältesten Beispielen besonders in Italien nachweisbar, wird die Technik „ungarisches Drahtemail“ genannt. Vor allem Protagonisten wie der Herausgeber des „Archaeológiai Értesítő“ (Archäologischer Anzeiger), Joseph Hampel, sahen in ihr eine autochthone Dekorationsform, entsprungen in einer Alltagskultur, von der bis in die Gegenwart die Stickmuster etwa der siebenbürgischen Szekler zeugen. Dabei scheint es nicht unwesentlich, daß gerade zwei der kapitalsten Kathedralschatzstücke, die Ladislausbüste und der Sukikelch, eben diese Technik aufweisen. Nach Sándor Mihalik (1958) zeigen die mit Drahtemail geschmückten Werke „in der Verwendung charakteristischer volksverbundener Verzierungsmotive ungarische Züge“. Einer Gemengelage aus hagiographischen Topoi, Überlieferungszusammenhängen wie auch einer nationalen Ausdeutung des Dekors ist es zuzuschreiben, daß das Ladislausreliquiar im Rahmen des Eucharistischen Kongresses im Emmerich-Jubiläumsjahr 1930 auf dem Hősök tér in Budapest präsentiert wurde. In vergleichbarer Weise entwickelt sich der Sukikelch durch seine Herkunft aus Weißenburg und seine Überlieferungsodyssee, mit der er zuletzt in den Graner Kathedralschatz Eingang fand, wie auch durch seine jüngste Nutzungsgeschichte zu einem Stellvertreter für den Erinnerungsort „Ungarische Kirchenschätze“: Vor dem Hintergrund der Verhandlungen um den Zweiten Wiener Schiedsspruch des Jahres 1940, mit dem Nordsiebenbürgen Rumänien entzogen und Ungarn zugeschlagen werden sollte, konstatiert etwa Tibor Gerevich unter Verweis auf das Drahtemail des Sukikelches eine „stilistische Einheit“ der Kunst Ungarns und Siebenbürgens: Als ein in Siebenbürgen entstandenes Werk sei dieses prächtigste und größte Exemplar vor allem ein ungarischer Kelch. Dieser nationalen Deutung entspricht nicht zuletzt seine Nutzung durch Papst Johannes Paul II. bei dessen erster Messe im nachwendezeitlichen Ungarn 1991. Eine gemeinschaftsbildende Funktion hat ferner ein Kelch aus dem nordsiebenbürgischen Deutsch Budak, der im Schatz der evangelischen Gemeinde Dinkelsbühl bei den jährlich dort stattfindenden Sachsentreffen zum Einsatz kommt. Mit der Evakuierung der siebenbürgisch-sächsischen Bevölkerung Nordsiebenbürgens über Österreich in die Bundesrepublik Deutschland im Jahr 1945 wurden auch die Kirchenschätze mitgeführt. Neben dem Dinkelsbühler Silber befinden sich größere Bestände als Leihgabe der Rechtsnachfolger der Gemeinden im Nürnberger Germanischen Nationalmuseum. Nach der massenhaften Auswanderung der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien zu Beginn der 1990er Jahre wurden die Schätze ungenügend gesicherter Kirchen einem zentralen landeskirchlichen Depot zugeführt. Eine Auswahl der Preziosen wird heute in einer Dauerausstellung des landeskirchlichen Museums im Friedrich-Teutsch-Haus in Hermannstadt gezeigt. Im Konzept vergleichbar den Schatzkammern der Kathedralen in Gran, Raab, Neutra oder auch Preßburg, knüpft die museale Präsentation in Hermannstadt vor allem an den konfessionellen Zeugniswert der Werke an. Die bekenntnisorientier328

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ten und nach wie vor nationalen Deutungsmuster treten dabei um so deutlicher hervor, wenn es sich bei den Exponaten hier und da um Erzeugnisse aus ein und derselben Goldschmiedewerkstatt handelt.

VI. Auswahlbibliographie a) Quellen (Inventare) beKe, Antal: Az Erdélyi székesegyház készlete [Der Bestand der siebenbürgischen Kathedrale]. In: Magyar Sion 5 (1867) 188–199; seiWert, Gustav: Das älteste Hermannstädter Kirchenbuch. In: Archiv des Vereins für siebenbürgische Landeskunde N.F. 11 (1873) 323–�10; Rechnungen aus dem Archiv der Stadt Kronstadt, Bd. 3: Rechnungen aus (1�75) 15�1–1550 (1571). Kronstadt 1896; taKáts, Sándor: A budavári királyi szent János kápolna kincsei [Die Schätze der königlichen St. Johannes-Kapelle auf der Burg zu Ofen]. In: Archaeológiai Értesítő 21 (1901) 287–288; bunyitay, Vince u. a. (Hg.): Egyháztörténelmi emlékek a magyarországi hitújítás korából/Monumenta Ecclesiastica tempora innovatae in Hungaria religionis, Bd. 1–5. Budapest 1902–1912; taKáts, Sándor: A budai várkápolna kincseiről [Über die Schätze der Kapelle der Ofener Burg]. In: Archaeológiai Értesítő 23 (1903) 173–179; tKaLčić, Ivan K.: Povijesni spomenici slob. kralj. grada Zagreba/Monumenta historica civitatis Zagrabiae, Bd. 11. Zagreb 1905; binder, M.: Aus den Kirchenbüchern von Weisskirch (Reps). In: Korrespondenzblatt des Vereins für siebenbürgische Landeskunde 33 (1910) 17–19; LuKinović, Andrija: Arhivalija [Archivalien]. In: MunK, Zdenka (Hg.): Riznica zagrebačke katedrale. Ausstellungskatalog. Zagreb 1983–1987, 249–256; MiKó, Árpád: Várday Pál Esztergomi érsek hagyatéki levéltára (1959) és az esztergomi egyház kincseinek sorsa Mohács után [Das Erbschaftsinventar des Graner Erzbischofs Pál Várday (1959) und das Schicksal des Kirchenschatzes von Gran]. In: Ars Hungarica 20 (1993) 61–88; MiKó, Árpad: Bornemisza (Abstemius) Pál püspök végrendelete 1577-ből. Adatok a nyitrai, az obudai, a veszprémi és a gyulafehérvári egyház középkori kincseinek sorsához [Das Testament des Bischofs Pál Bornemisza (Abstemius) aus dem Jahr 1577. Angaben zum Schicksal der mittelalterlichen Schätze der Kirchen in Neutra, Alt-Ofen, Weszprim und Weißenburg]. In: Művészettörténeti Értesítő �5 (1996) 203–221; MiKó, Árpád/MoLnár, Antal: A középkori váradi székesegyház kincstárának inventáriuma [Das Inventar der mittelalterlichen Kathedrale von Wardein]. In: Művészettörténeti Értesítő 52 (2003) 303–318.

b) Darstellungen bocK, Franz: Der Schatz der Metropolitankirche zu Gran in Ungarn. In: Jahrbuch der k. k. CentralCommission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 3 (1858/59) 107–1�6; ipoLyi Arnold: Magyar ereklyék [Ungarische Reliquien]. In: Archaeológiai közlemények 3 (1863) 67–126; Knauz, Nándor: Régi egyházi ékszerek [Alte Kirchenschätze]. In: Magyar Sion 2 (186�) 216–238; A magyarországi árvizkárosultak javára Budapesten gróf Károly Alajos palotájában 1876. évi májusban rendezett műipari és történelmi kiállitás kitünöbb tárgyainak lajstroma/Katalog der hervorragenden Objekte der zum Besten der Ueberschwemmten Ungarns zu Budapest im Palais des Grafen Alois Károly im Mai 1876 veranstalteten Ausstellung kunstgewerblicher und historischer Denkmäler. Ausstellungskatalog. Budapest 1876; danKó, József: Törtélnelmi műirodalmi és okmánytári részletek az Esztergomi főegyház kincstárából főmagasságú herczeg prímás Esztergomi érsek Símor János úrnak a Római sz. Egyház bíbornoka megbízásából és költségén/Geschichtliches, Beschreibendes und Urkundliches aus dem Graner Domschatze im Auftrage und auf Kosten seiner Eminenz des Hochwürdigsten Herrn Jo-

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Evelin Wetter

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Siebenbürgische Kirchenburgen I. Zusammenfassung. – II. Entwicklung der siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgenlandschaft. – III. Die Kirchenburgen der Székler. – IV. Die siebenbürgischen Kirchenburgen vor dem Hintergrund der Modernisierungskrisen im langen 19. Jahrhundert. – V. Im politisch radikalisierten Klima der Zwischenkriegszeit. – VI. Zwischen nationaler Verklärung und realem Zerfall (1945–1989). – VII. Die Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen nach dem Systemwechsel 1989. – VIII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Kirchenburgen sind aus mehreren Regionen Europas seit dem Hochmittelalter bekannt. In besonderer Dichte sind sie in Siebenbürgen erhalten, wo infolge wiederholter Angriffe seitens der Osmanen auf verhältnismäßig engem Raum eine Vielzahl entsprechender Anlagen entstand. Der Großteil der Kirchenburgen wurde von den dörflichen Gemeinschaften der Siebenbürger Sachsen erbaut, eine kleinere Gruppe befestigter Kirchen seitens der Székler. Die zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert errichteten Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen avancierten vor dem Hintergrund des Ende des 18. Jahrhunderts einsetzenden Abbaus der Gruppenprivilegien durch die jeweiligen Landesherren – die Habsburger ab 1699, Ungarn ab 1867 und ab 1918 Rumänien – zu einer wichtigen Bezugsgröße der Gruppenidentität. Diese war seit der geschlossenen Annahme der Reformation durch die Siebenbürger Sachsen im 16. Jahrhundert stark konfessionell geprägt und erfuhr in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine deutliche Ausrichtung nach Deutschland. Vor diesem Hintergrund stilisierte man die Kirchenburgen zu symbolischen Bindegliedern zur deutschen „Urheimat“. In der Zwischenkriegszeit wurde diese Vorstellung chauvinistisch zugespitzt, indem die Kirchenburgen in Publikationen der Siebenbürger Sachsen und ebenso in den Schriften diverser reichsdeutscher Stellen als Bollwerke einer abendländischen Kultur gedeutet wurden. Zur Zeit des Kalten Krieges wurde dieses Bild im Kreise der Siebenbürger Landsmannschaften in der Bundesrepublik Deutschland und in Österreich weitertradiert. Zeitgleich verfielen in Siebenbürgen immer mehr Kirchenburgen als Folge der Enteignungspolitik der neuen kommunistischen Machthaber und der sukzessiven Auswanderungen der Siebenbürger Sachsen aus Rumänien. Die Emigration von rund 90 Prozent der deutschen Bevölkerung zu Beginn der 1990er Jahre und die damit verbundene Auflösung der Dorfgemeinschaften stellen die vielleicht größte Herausforderung für den Erhalt der siebenbürgischen Kirchenburgen dar. Jüngste Initiativen zu deren Rettung zeigen punktuelle Erfolge und bewirken gleichzeitig eine Wende in der Wahrnehmung der Monumente: Vormals Ausdruck einer genuin ständisch und konfessionell geprägten Geschichte und Kultur der Siebenbürger Sachsen, geraten sie nun zunehmend zu bedeutenden Bezugspunkten einer multiethnisch-regionalen Identität in Rumänien. 333

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II. Entwicklung der siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgenlandschaft Die Wehrbarmachung von Kirchen oder Klöstern ist seit dem 10. Jahrhundert für mehrere Gegenden des europäischen Kontinents belegt. Beispiele finden sich in Skandinavien und Frankreich, ebenso in Deutschland. Eine hohe Dichte an Sakralbauten, die zusätzlich eine Verteidigungsfunktion erfüllten, begegnet in den Regionen, die zwischen dem 15. und 17. Jahrhundert wiederholt osmanischen Angriffen ausgesetzt waren, darunter Niederösterreich, die Steiermark, Kärnten, Slowenien, Slawonien, Kroatien und vor allem Siebenbürgen. Die Anlagen befinden sich in der Regel in einer leicht erhöhten Position in der Nähe beziehungsweise im Zentrum der jeweiligen Siedlungen. Dabei gilt es zwischen Wehrkirchen und Kirchenburgen zu unterscheiden. Bei der erstgenannten Gruppe handelt es sich um Sakralbauten, bei denen der Turm oder der Chorbereich erhöht und mit Wehrgängen oder Pechnasen ausgestattet wurde. Kirchenburgen hingegen sind komplexere Ensembles, bei denen die Kirche von einer oder mehreren Wehrmauern mit Türmen und einem Torgebäude umgeben wurde. Das dichteste Netz an solchen Denkmälern ist in Siebenbürgen anzutreffen, wo insgesamt 215 Kirchenburgen kartiert wurden, von denen etwa 150 verhältnismäßig gut erhalten sind. Die Anlagen in den Dörfern der Siebenbürger Sachsen und Székler entstanden in mehreren Wellen zwischen dem 14. und 16. Jahrhundert. Bau, späterer Unterhalt und Verteidigung erfolgten in dorfgenossenschaftlicher Trägerschaft. Die Baukomplexe bilden somit wichtige Dokumente für den rechtlich wie auch wirtschaftlich autonomen Status der einzelnen Ortschaften im Siedlungsgebiet der Siebenbürger Sachsen beziehungsweise der Székler, die einst im Zuge des Landesausbaus durch die Arpaden-Herrscher an der Peripherie des Königreichs Ungarn angesiedelt wurden. Während man den Széklern und den Petschenegen Boden im Osten Siebenbürgens zuwies, erhielten die aus den Gebieten der Erzdiözese Köln eingewanderten Bauern und Handwerker Siedlungsland im Süden der Region. Für die letztgenannte Gruppe, die in den Quellen Flandrenses, Teutonici, Latini, Saxones genannt werden, hat sich später verallgemeinernd die Bezeichnung Sachsen eingebürgert. Diese von König Géza II. angeworbenen Siedler gründeten noch vor 1200 im Gebiet um Hermannstadt als Siedler auf freiem Königsboden privilegierte Siedlungsverbände. Im Gegensatz zu den Sachsen, deren Ansiedlung auf eine Landerschließung und einen damit einhergehenden Technologietransfer in den Bereichen Landwirtschaft und Bergbau abzielte, übernahmen die Székler rein militärische Aufgaben. Ein weiteres Instrument zur Herrschaftssicherung war die Ansiedlung geistlicher und militärischer Orden wie Zisterzienser und Deutscher Ritterorden, der im Burzenland zwischen 1211 und 1224 eine Reihe von steinernen Verteidigungsanlagen errichtete. Nach dem mißlungenen Versuch der Etablierung einer autonomen Herrschaft waren die Ordensritter jedoch gezwungen, Siebenbürgen zu verlassen. Von dem angespannten Verhältnis zwischen dem ungarischen König und dem dem Papst unterstellten Deutschen Orden profitierten die Siebenbürger Sachsen als Verband unter der Leitung einer starken Oberschicht, den sogenannten Grefen, da man ihnen die 334

Siebenbürgische Kirchenburgen

noch nicht vollendeten Burgen im Burzenland übertrug. Im Jahr 122� erweiterte schließlich König Andreas II. durch einen Goldenen Freibrief, das Andreanum, die von König Géza II. den Siebenbürger Sachsen gewährten Freiheiten zu einem Gruppenprivileg. In dem Dokument wurde den Einwanderern neben dem Eigentumsrecht an Grund und Boden und dem Recht auf Markthaltung auch das Recht auf eine freie Wahl der Pfarrer im Bereich des sogenannten Königsbodens zugesichert. Als Gegenleistungen wurden die Heeresfolge und finanzielle Abgaben an den ungarischen König festgeschrieben. Unter König Matthias Corvinus erfolgte 1�68 eine Übertragung der Privilegien des Andreanum auf die übrigen Siedlungsbereiche der Siebenbürger Sachsen jenseits des Königsbodens. Diese Sanktionierung der Sächsischen Nationsuniversität (Universitas Saxonum), die als rechtliche und politische Einheit eine Verwaltungsautonomie besaß, ermöglichte es den Siebenbürger Sachsen, den beiden anderen Ständen in Siebenbürgen, dem ungarischen Adel und den Széklern, als gleichberechtigter Partner entgegenzutreten. Die Unionen der drei Nationes bewirkten noch im 15. Jahrhundert eine Verselbständigung der Provinz Siebenbürgen innerhalb des Königreichs Ungarn. Eines der wichtigsten Anliegen der drei Stände bildete die Verteidigung des Landes, die gleichzeitig einen zentralen Faktor für die Stabilität des Königreichs Ungarn darstellte. Bereits 1241 wurden Siebenbürgen wie andere Gebiete Ostmitteleuropas durch den Mongoleneinfall schwer in Mitleidenschaft gezogen. Vor dem Hintergrund dieses traumatischen Ereignisses kam es zu einer Mobilisierung der finanziellen Ressourcen für den Burgenbau. Die Dorfgemeinschaften im Süden errichteten zunächst Fluchtburgen mit einer großen Fläche ohne Bergfriede wie diejenige in Săsciori. Als weitere Bauprojekte aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts sind die königlichen Grenzburgen in Răşinari, Budenbach und Talmesch am strategisch bedeutsamen Rotenturmpass sowie die Bergfriede des Adels in Kokelburg und Kelling anzuführen. Letztgenannte Anlage im Unterwald (Westsiebenbürgen) dürfte um 1260 fertiggestellt worden sein – sie ist als einziger Vertreter dieses Typs erhalten geblieben. Der Komplex, bestehend aus einem dreigeschossigen Wohnturm und einer kleinen Kapelle, war ursprünglich von einem ovalen Mauerring umgeben. 1430 wurde die Anlage von den Nachkommen der Grefen-Familie an die freie Dorfgemeinschaft veräußert, die in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts die Befestigungsanlagen um einen äußeren Mauerring und eine halbrunde Bastion erweiterte. Parallel zum Wiederaufbau und der Wehrbarmachung der Kirchen entstanden in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts auch eine Reihe von Fluchtburgen und die ersten Stadtumfriedungen. Die Bautätigkeit erreichte in der Phase der inneren Stabilität unter den Anjou-Herrschern auf dem ungarischen Thron einen ersten Höhepunkt. Der Handel und das Gewerbe wurden vor allem unter König Ludwig dem Großen gefördert, der 1376 eine neue Zunftordnung für die siebenbürgischen Städte ausarbeiten ließ. Auf ökonomischem Wohlstand basierend, setzte eine intensive Bautätigkeit ein, in deren Verlauf die Stadtpfarrkirchen in Mühlbach, Klausenburg und Hermannstadt errichtet wurden. Die Bauhütten aus diesen Städten waren zugleich an zahlreichen Sakralbauten in Kirchenburgen beteiligt. In den meisten Fällen handelte es sich um gotische Saal- oder Hal335

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lenkirchen, die ältere romanische Architekturen ersetzten. Ebenso wirkten Baufachleute aus dem Umfeld der religiösen Orden an der Gestaltung der Kirchen mit: Die Kirche in Michelsberg und vor allem diejenige in Tartlau weisen deutliche Bezüge zu zisterziensischen Bauten wie der Abteikirche in Kerz auf. Die 1218 begonnene Tartlauer Kirche bildete den Nukleus für die Entwicklung einer der beeindruckendsten Kirchenburgen in Siebenbürgen. Der im 15. Jahrhundert fertiggestellte Komplex vermittelt eine plastische Vorstellung von den vielfältigen Funktionen, die Kirchenburgen für die jeweiligen Dorfgemeinschaften übernehmen konnten. Neben fortifikatorischen Elementen wie dem hohen Bering mit einem überdachten Wehrgang und Schießscharten besaß die Anlage auf der Innenseite über 200 Zellen. Diese sind wabenartig auf bis zu vier Stockwerken angeordnet und dienten als Zufluchtsort der Familien oder Unterrichtsräume für die Kinder in Zeiten der Bedrohung beziehungsweise als Lagerort für Vorräte in Friedenszeiten. Die Tartlauer Anlage entstand ähnlich wie eine Vielzahl anderer Kirchenburgen als Reaktion auf die seit 1395 sich mehrenden Einfälle der Tataren und marodierender osmanischer Reiterverbände, den „Rennern und Brennern“. Diese Situation änderte sich auch nach der Anbindung des Fürstentums Siebenbürgen als Tributärstaat an das Osmanische Reich in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts nicht grundlegend. Einen bildlichen Reflex dieser Bedrohungssituation stellen die im 15. Jahrhundert gemalten Fresken in der Kapelle der Kirchenburg in Honigberg dar, die den Anführer der Sünder in der Szene des Jüngsten Gerichts als Osmanen zeigen. Zusätzlich zur äußeren Bedrohung war es die Reformation, durch die die Wahrnehmung der Kirchenburgen langfristig geprägt wurde. Entscheidende Wegmarken bei der Durchsetzung der reformatorischen Ideen waren die Ratifizierung des Reformationsbüchleins des Johannes Honterus als Kirchenordnung durch die Nationsuniversität 1550 und die Annahme des Augsburger Bekenntnisses durch die Sachsen als Standesgemeinschaft auf der Synode von Mediasch im Jahr 1572. Damit wurde der Charakter der siebenbürgisch-sächsischen Kirche als Volkskirche begründet und die Bedeutung der Kirchenburgen als Gemeinschaftsbauten zusätzlich verstärkt. Nur in ganz seltenen Fällen sind Nutzungen von Kirchenburgen durch verschiedene ethnische und konfessionelle Gruppen überliefert. So beanspruchten in Broos, wo Sachsen und Ungarn seit 1491 abwechselnd das Richteramt innehatten, die calvinistischen Ungarn die in der Kirchenburg gelegene, vormals katholische Kirche des heiligen Nikolaus. Die kleinere Gemeinde der sächsischen Lutheraner zelebrierte ihre Gottesdienste zunächst in der Sakristei dieser Kirche und ab 1622 in einem daran angrenzend erbauten Bethaus innerhalb der Umfriedung. Abgesehen von ihrer Bedeutung als Wehrbauten, hatten die Kirchenburgen in Friedenszeiten in vielerlei Hinsicht Zentrumsfunktion. Ohnehin waren die Kirchen genuiner Versammlungsort der Gemeinde, weiter standen die Räume innerhalb der Umfriedungen häufig in schulischem Gebrauch. Wichtige kollektive Nutzungen stellten die Aufbewahrung der Familientruhen und die Lagerung von Vorräten in den Gaden beziehungsweise in den „Specktürmen“ dar. Ihrer funktionalen Vielfalt entsprechend erfuhren diese Bau336

Siebenbürgische Kirchenburgen

ten eine besondere Pflege durch die jeweiligen Dorfgemeinschaften. Diese waren institutionell in sogenannten Nachbarschaften organisiert, die durch sozialdisziplinierende Maßnahmen auch gemeinschaftsbildend wirken konnten. III. Die Kirchenburgen der Székler Kirchenburgen begegnen in Siebenbürgen auch im Siedlungsgebiet der Székler. Während im Stuhl Oderhellen nur wenige Anlagen wie diejenigen in Dersch und Homoródszentmárton erhalten sind, zeichnet sich in der südöstlichen Region der Drei Stühle mit etwa einem Dutzend Kirchenburgen eine gewisse Massierung dieses Bautyps ab, der von der Székler Bevölkerung auch Krähenburg genannt wird. Die als Grenzwächter angesiedelten Székler verfügten ab dem 12. Jahrhundert als territorial gebundene Rechtsgemeinschaft über eine innere Autonomie, vergleichbar derjenigen der Siebenbürger Sachsen, sowie über ein eigenes Rechtssystem. Allerdings war das gesellschaftliche Leben der Székler ab dem 16. Jahrhundert nicht monokonfessionell geprägt. Dies illustrieren die Kirchenburgen in den Drei Stühlen, die von jeweils einer der in diesem Gebiet verbreiteten drei Konfessionen (calvinistisch, unitarisch, römisch-katholisch) genutzt wurden. Vereinzelt kam es jedoch auch zu Auseinandersetzungen zwischen den Konfessionen: So stritten etwa 1732 in Nagyajta Unitarier und Calvinisten um das Nutzungsrecht an der Kirche. Die ersten bewehrten Kirchen in den Stuhlbezirken der Székler entstanden im 12. und 13. Jahrhundert. Zu den frühesten archäologisch faßbaren Bauten zählt die befestigte Kapelle in Szentkert. Die Mehrzahl der Kirchenburgen in den Székler Stühlen wurde in der Nachfolge des verheerenden Mongoleneinfalls von 1241 und in einer zweiten Welle vor dem Hintergrund der osmanischen und tatarischen Einfälle des 15. Jahrhunderts errichtet. Die von den jeweiligen Gemeinden finanzierten und in Eigenleistung erbauten Anlagen standen häufig auf dem Hauptmarkt und bildeten somit eine Dominante der jeweiligen Siedlungen. Insgesamt lassen sich zwei größere Gruppen von befestigten Kirchen ausmachen. Bei der ersten handelt es sich um die sogenannten umzäunten Kirchen, deren Umfriedungen verhältnismäßig niedrig (maximal 3–� Meter) und ohne überdachte Wehrgänge gestaltet waren. Der Eingangsbereich war in der Regel durch einen Turm gesichert. Anlagen dieses Typs standen in Kálnok, Középajta und Gälänz. Die zweite Gruppe von Kirchenburgen weist aufwendigere Befestigungen mit hohen Mauern mit mehreren Türmen und überdachten Wehrgängen sowie durch Türme und Barbakane gesicherte Zugänge auf. Baukomplexe dieses Typs entstanden in Nagyajta, Alsócsernáton sowie in Lennen und dokumentieren die umfangreichen finanziellen und materiellen Möglichkeiten dieser Orte in der Frühen Neuzeit. Im Gegensatz zu den Anlagen der Siebenbürger Sachsen wurde bei den Kirchenburgen im Széklergebiet die Kirche nur in Ausnahmefällen als Wehrkirche mit umlaufender Befestigung erbaut, zum Beispiel in Dersch. Somit besitzen die Kirchenburgen der Székler ein einheitlicheres Erscheinungsbild als diejenigen der Sachsen. 337

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Weitere Gestaltungsmerkmale, durch die sich die Kirchenburgen der Székler von denjenigen der Siebenbürger Sachsen absetzen, bilden die zu Beginn des 17. Jahrhunderts errichteten Basteien, die sich an zeitgenössischen italienischen Fortifikationen orientierten. Eine außergewöhnliche Anlage dieses Typs mit einer zehneckigen Mauer und runden Zwergtürmen steht in Kézdiszentlélek. Die Rezeption von Fortifikationsmodellen aus den zeitgenössischen italienischen Architekturtraktaten in Árkos und Ilgendorf sprechen für eine Einbindung von auswärtigen Spezialisten in die Planung. Trotz gewisser Unterschiede bildeten die Kirchenburgen in Siebenbürgen vermutlich auch die Vorbilder für die Wehrbarmachung der orthodoxen Klöster Putna, Voroneţi oder Suceviţa im Fürstentum Moldau. IV. Die siebenbürgischen Kirchenburgen vor dem Hintergrund der Modernisierungskrisen im langen 19. Jahrhundert Die Eingliederung Siebenbürgens in den Herrschaftsbereich der Habsburger am Ende des 17. Jahrhunderts markierte eine einschneidende Zäsur im politischen Leben des Fürstentums und beeinflußte auch die Nutzung und Wahrnehmung der Kirchenburgen, die von Johann Tröster 1666 zu den charakteristischen Elementen dieser Landschaft gezählt wurden. Noch nachdem die Habsburger die Bedrohung durch osmanische und tatarische Verbände erfolgreich eingedämmt hatten, dienten die Anlagen dem Schutz der dörflichen Gemeinschaften. Die letzte große Bewährungsprobe für die Kirchenburgen stellten die Auseinandersetzungen während der Kurruzen-Erhebung in den Jahren 1703 bis 1711 unter Franz II. Rákóczi dar. Erst durch die Einrichtung der Székler und Walachischen Regimente der Siebenbürger Militärgrenze (ab 176�) und die Verbreitung der neuen, effektiveren Kanonentypen büßten die Kirchenburgen ihre Schutzfunktion ein. Doch auch unter diesen veränderten Bedingungen bemühten sich die Gemeinden, die Anlagen instandzuhalten. So errichtete man im ausgehenden 18. Jahrhundert in Hamruden einen Wehrgang und in Meschen eine Ringmauer. Diese baulichen Maßnahmen dokumentieren ein hohes Maß an Identifikation mit den Kirchenburgen, die nicht auf die jeweiligen Gemeinden begrenzt war. 1715 veranstaltete die Evangelische Kirche Siebenbürgens beispielsweise eine Spendensammlung zur Unterstützung der Reparaturen an der Kirchenburg von Deutsch-Weißkirch. Im Széklergebiet kam es zunächst zu Erneuerungen der baufälligen Befestigungen in Blumendorf (1798) und Székelyiderzs (1830). Zusätzlich dazu entstanden ab dem 18. Jahrhundert in einer Reihe von Székler Kirchenburgen hölzerne Glockentürme, die zu markanten Elementen dieser Gruppe von bewehrten Kirchen avancierten. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts hielt ferner der Steinbau Einzug in die siebenbürgischen Dörfer. Die als Ersatz für die alten Holzbauten errichteten gemauerten Häuser waren durch große Toreinfahrten miteinander verbunden, wodurch das geschlossene Erscheinungsbild der Orte verstärkt wurde. Dies illustrieren vor allem die Dörfer der Siebenbürger Sachsen, die durch ihre regelmäßige Anlage aufs engste mit den Kirchenburgen verbunden waren. 338

Siebenbürgische Kirchenburgen

Diese Strukturen innerhalb der Gemeinden der Siebenbürger Sachsen wie auch der Székler gerieten im Zuge der Modernisierung, ausgehend von den Reformen Kaiser Josephs II. Ende des 18. Jahrhunderts und vor allem der 1867 erfolgten Auflösung des ständischen Verfassungs- und Verwaltungssystems, zunehmend in Gefahr. Durch die administrativen Reformen wurden gleichzeitig wirtschaftliche Veränderungen eingeleitet, die weitreichende Folgen hatten. Der Anschluß Siebenbürgens an das Eisenbahnnetz ab 1868 und die damit einhergehenden Wareneinfuhren aus der österreichischen Reichshälfte schwächten die handwerkliche Produktion entscheidend, diese aber war ein wichtiger Pfeiler des Wohlstands in der Region. Bedingt durch die sich verschärfende ökonomische Situation setzten Auswanderungen von Siebenbürger Sachsen in die Vereinigten Staaten von Amerika ein, wodurch der Unterhalt der Kirchenburgen gefährdet war. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurden einzelne Kirchenburgen vollständig abgetragen, so in Heldsdorf, Hamlesch oder Pruden. In Großpold und Deutsch-Kreuz wurden die Kirchen durch Neubauten ersetzt. Andernorts, zum Beispiel in Broos oder Radeln, riß man die Wehrmauern ein und errichtete mit dem auf diesem Wege gewonnenen Baumaterial ein Schulgebäude. Vergleichbare Eingriffe in die gewachsenen Baustrukturen sind auch für das Széklergebiet überliefert. So wurden zwischen 1823 und 1833 die gotischen Kirchen in Altorja und Sepiárkos durch Neubauten ersetzt, während man in Blumendorf in den Jahren 1893 bis 189� eine neoromanische Architektur anstelle der durch einen Brand zerstörten mittelalterlichen Kirche errichtete. Mitte des 19. Jahrhunderts setzten erste Bemühungen um eine wissenschaftliche Erforschung und die denkmalpflegerische Erhaltung der Kirchenburgen ein. Die Protagonisten dieser frühen Initiativen wirkten zunächst im Rahmen der im Vormärz in Siebenbürgen entstandenen Gelehrtengesellschaften und historischen Vereine mit einem wissenschaftlichen Fokus auf der Landes- oder Vaterlandskunde, später dann unter dem Dach der Wiener beziehungsweise nach 1870 der ungarischen staatlichen Denkmalpflege. Bereits 1866 hatte der Statistiker László Kőváry eine erste Zusammenstellung der Baudenkmäler in Siebenbürgen in ungarischer Sprache vorgelegt, in der sowohl die siebenbürgischsächsischen als auch die Székler Kirchenburgen aufgeführt wurden. Wenige Jahre später behandelte Balázs Orbán die Kirchenburgen der Székler ausführlich in seiner mehrbändigen Darstellung der Geschichte und der historischen Denkmäler der Székler Stühle. Die bei Exkursionen in diesem Gebiet entstandenen photographischen Aufnahmen sind wichtige Dokumente, geht es um das Erscheinungsbild der Kirchenburgen im 19. Jahrhundert. Einen weiteren Beitrag zur Erforschung der Ausstattung der Kirchenburgen leistete Jószef Huszka, der in den 1880er Jahren Material zur Volkskunst der Székler sammelte. Hierbei dokumentierte er auch die Wandmalereien in den Székler Kirchenburgen zeichnerisch und setzte sich wie im Fall der Anlage in Dersch für deren Konservierung ein. Im Gegensatz zu den drei genannten Lokalforschern, die sich um eine ausgeglichene Präsentation des Bestands an Kirchenburgen in Siebenbürgen bemühten, tendierten die professionelle Forschung in Ungarn und Lokalforscher unter den Siebenbürger Sachsen zu dezidierteren Positionen. So sprach der Budapester Professor Julius Pasteiner im 339

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1902 erschienenen Siebenbürgen-Band des „Kronprinzenwerks“ den Kirchenburgen der Sachsen jeglichen Kunstwert ab und hob gleichzeitig die ungarischen Könige als treibende Kräfte bei der Ausbildung der Kulturlandschaft Siebenbürgen hervor. Diese Akzentsetzung entsprach einer breiteren Strömung, die nach dem österreich-ungarischen Ausgleich von 1867 und vor allem im Umfeld der Millenniumsfeier im Jahr 1896 ihren Höhepunkt hatte, als die Stephanskrone und die damit verbundene Vorstellung einer Staatsnation zu zentralen Bezugspunkten der Politik in Ungarn wurden. Die Studien aus dem Umkreis der Siebenbürger Sachsen waren exklusiv auf die Kirchenburgen in den Gebieten mit einer deutschsprachigen Bevölkerung ausgerichtet. Bereits in den frühesten Äußerungen zu den Anlagen zeichnen sich zwei unterschiedliche Interpretationsmodelle ab, die bis in die Gegenwart die Wahrnehmung dieser Bautengruppe mitbestimmen. So deutete Johann Michael Ackner diese als Dokumente der Kulturleistungen der sächsischen Nation in ihrem Vaterland Siebenbürgen, während Friedrich Müller mit Nachdruck auf die Verbindung zwischen den siebenbürgischsächsischen Kirchenburgen und der Baukunst im „deutschen Mutterland“ verwies. Die Orientierung der Siebenbürger Sachsen nach Deutschland intensivierte sich nach der Gründung des Deutschen Reiches 1871 und vor allem in Reaktion auf Initiativen der Budapester Zentralregierung – darunter die Umwandlung der Sächsischen Nationsuniversität in eine Stiftung 1876, durch die der Königsboden endgültig zerschlagen wurde, und die Ortsnamen- und Schulgesetze, die auf eine Magyarisierung des gesellschaftlichen Alltags zielten. Vor diesem Hintergrund interpretierte man die Kirchenburgen bisweilen als „Volksburgen“ (Victor Roth). Auf diesem Wege knüpfte man an die Vorstellung einer sich sowohl weltlich als auch kirchlich selbst verwaltenden Gemeinschaft an, die gemeinsam mit den naturräumlichen Faktoren als konstitutive Elemente der Kunstlandschaft Siebenbürgen angesehen wurden. Dabei erhielt die spätestens seit dem 18. Jahrhundert, ausgehend von der Grenzlage und den umlaufenden Gebirgszügen geprägte Vorstellung von Siebenbürgen als Festung immer mehr Raum. Gleichzeitig rückte die Region, die ab 1916 zum Schauplatz von verlustreichen Kämpfen zwischen deutschen, österreich-ungarischen und rumänischen Einheiten war, verstärkt in die Wahrnehmung der Öffentlichkeit im Deutschen Reich. Noch vor dem Ende des Ersten Weltkriegs errichtete man in der befestigten Kirche in Michelsberg ein Denkmal, durch das den im Feld verstorbenen Gemeindemitgliedern wie auch den deutschen Soldaten, die an der Front in Siebenbürgen gefallen waren, gemeinsam gedacht wurde. V. Im politisch radikalisierten Klima der Zwischenkriegszeit Die nach dem Ende des Ersten Weltkriegs erfolgte Eingliederung Siebenbürgens in das nach 1920 neu geschaffene Groß-Rumänien brachte einschneidende Veränderungen für die dort lebenden ethnischen und konfessionellen Minderheiten. Im Fall der ungarischen Bevölkerung, die bis 1918 zur staatstragenden Schicht in Siebenbürgen gezählt hatte, 340

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lassen sich bezüglich der Kirchenburgen zwei unterschiedliche Perspektiven ausmachen. József Biró und Géza Entz interpretierten die Székler Kirchenburgen, ausgehend von ihrer formal einheitlichen Erscheinung, als Zeugnisse eines ungarisch geprägten Stilempfindens. Jolán Balogh unterstützte diese Filiationslinie durch typologische Vergleiche mit mittelalterlichen Anlagen in Ungarn. Eine zweite Deutungslinie bildeten die ungarischen Vertreter des sogenannten Transsilvanismus, einer Bewegung, die zunächst politisch für eine regionale Autonomie Siebenbürgens eintrat. Später verstärkten die Transsilvanisten, etwa der Althistoriker Árpad Buday und vor allem der Architekt Károly Kós, der zahlreiche Széklerburgen zeichnerisch dokumentiert hatte, ihre Aktivität im kulturellen Bereich und propagierten hierbei das Bild einer vermeintlich siebenbürgischen Seele, die durch die lange, konfliktreiche Geschichte der Region und deren Landschaft geprägt worden sei. Unter dem Schutz der umgebenden Berge hätten die Bewohner Siebenbürgens eine besondere Spiritualität entwickelt, zu deren herausragenden Eigenschaften die Fähigkeit zähle, eine Balance zwischen entgegengesetzten politischen Loyalitäten zu finden. Darüber hinaus schildert Kós Siebenbürgen als eine Region mit einer einmaligen Synthese architektonischer Elemente aus allen Bevölkerungsgruppen. Daher könnten die rumänischen, ungarischen und sächsischen Kirchen lediglich untereinander verglichen werden und weniger mit Sakralbauten in anderen Ländern. Diese Vorstellung visualisierte Kós in einer Serie von Linolschnitten, die berühmte Baudenkmäler, darunter auch Kirchenburgen und Stadtansichten, sowie die einzelnen Ethnien in ihrer traditionellen Kleidung zeigen. Zusätzlich zum Verlust der Kollektivrechte wurden die Siebenbürger Sachsen von der Bodenreform von 1921 besonders schwer getroffen. Es kam nicht nur zu einer Konfiszierung des Vermögens der Stiftung Nationsuniversität, sondern auch zu entschädigungslosen Enteignungen des Gemeinschaftsbesitzes auf dem vormaligen Königsboden und des Waldbesitzes der Evangelischen Kirche A.B. Dadurch wurde den kulturellen Institutionen der Siebenbürger Sachsen, vor allem dem von der Kirche getragenen Schulwesen, aber auch dem Unterhalt der Kirchenburgen, die materielle Basis entzogen. Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Gefährdung der Monumente durch die Modernisierung, insbesondere durch den Bau neuer Straßen, wurde mit einer Bestandsaufnahme der siebenbürgisch-sächsischen Baudenkmäler begonnen. An den Arbeiten waren Siebenbürger Sachsen wie Gustav Treiber, Walter Horwath und Hermann Phleps beteiligt, die als Architekturspezialisten in der Region selbst, aber auch in Deutschland tätig waren. Die notwendigen baulichen Eingriffe an den Kirchenanlagen mußten durch die Gemeinden oder über die Einnahmen aus der Kirchensteuer finanziert werden. Zusätzliche Mittel für die Erhaltung der Sakralbauten der Siebenbürger Sachsen wurden ferner von reichsdeutschen Institutionen wie dem Verband der Deutschen im Ausland (VDA) bereitgestellt. Das prominenteste Projekt der Zwischenkriegszeit bildete die Wiederherstellung eines steilen Daches und des Chorwehrgangs der Kirche in Birthälm im Jahr 19�0 nach den Plänen von Hermann Phleps. Die anläßlich der 800-Jahrfeier der Einwanderung deutscher Siedler nach Siebenbürgen durchgeführte Restaurierung wurde durch den Mitteleuropäischen Wirtschaftstag (MWT) finanziert. Hierbei handelte es sich um 341

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einen Interessenverband der führenden deutschen Konzerne, Banken und Wirtschaftsverbände, zu dessen Zielen die wirtschaftliche und politische Beherrschung des mitteleuropäischen Marktes zählte. Ein weiteres Feld der Zusammenarbeit zwischen reichsdeutschen und siebenbürgischen Behörden stellte die Pflege der Kriegsgräber dar. Zwischen 1923 und 1930 errichtete man in vielen der Kirchenburgen Gedenktafeln für die zwischen 1916 und 1918 gefallenen Soldaten. Nach 1923 intensivierte sich ferner die Zusammenarbeit zwischen den Organisationen der Siebenbürger Sachsen, die nunmehr den zahlenmäßig größten Teil der „deutschen Minderheit Rumäniens“ bildeten, und staatlichen Stellen sowie „völkischen“ Einrichtungen in Deutschland. Unter diesen gewandelten Voraussetzungen gewann die Volkstumspolitik und -forschung unter den Siebenbürger Sachsen an Gewicht. Ab 1933 präsentierten Publikationen, die sich an siebenbürgisch-sächsische beziehungsweise an eine auslandsdeutsche Öffentlichkeit richteten, ein zunehmend verengtes Bild der Kirchenburgen als „deutsche Bollwerke“. Dazu zählt auch der Bildband von Hans Retzlaff von 1939, zu dem Sachsenbischof Viktor Glondys ein Geleitwort beisteuerte. Dieser interpretiert die Kirchenburgen als Materialisierung eines bäuerlichen Charakters der Siebenbürger Sachsen und als ein Symbol des „selbstbewußten, wehrhaft-trotzigem Willens dieser deutschen Bauern“, „durch blutige Jahrhunderte hindurch [die] deutsche Heimat zu verteidigen“. Gleichzeitig hätte der „Volkssplitter“ der Sachsen Siebenbürgen sein Gepräge gegeben. In Abstimmung mit dieser Aussage Glondys zeigt der Band nur Aufnahmen von Kirchenburgen und Trachten der Siebenbürger Sachsen und evoziert auf diesem Wege den Eindruck einer ethnischen Homogenität. Mit der typisierenden und idealisierenden Präsentation seiner Bildmotive argumentiert der Band ganz im Sinn der in Deutschland aufkommenden Blut- und Bodenideologie, zugleich sucht er ein einseitiges Eigenbild der Siebenbürger Sachsen zu zementieren. Diese Tendenz verstärkte sich während der nationalsozialistischen Gleichschaltung der Siebenbürger Sachsen in der sogenannten Volksgruppenzeit, das heißt in den Jahren 1940 bis 1944. Dabei stilisierte man die Kirchenburgen nicht nur zu Denkmälern, in denen germanische Bautraditionen seit der Spätantike überdauert hatten, sondern auch zu integralen Komponenten der Festung Siebenbürgen. Das Bild der Region als Festungswerk wurde unter dem Topos des Kampfes zur Verteidigung des Abendlandes mehrfach für die aktuellen Kriegsziele instrumentalisiert. Zu den bekanntesten diesbezüglichen Publikationen zählen die Bände Siebenbürgen von Hans Wühr und Siebenbürgen und seine Wehrbauten aus der Reihe Die Blauen Bücher von Heinrich Zillich und Hermann Phleps, von denen letzterer ab 19�1 mehrfach als Feldpostausgabe aufgelegt worden war. Das Abbildungsmaterial beider Publikationen stammt von Oskar Netoliczka und weist durch seine Tendenz zur Idyllisierung und Typisierung deutliche Parallelen zu den in den 1930er Jahren im völkischen Milieu populären Bildbänden auf. Die 1940 von dem siebenbürgisch-sächsischen Schriftsteller Erwin Wittstock formulierte Gleichsetzung der siebenbürgischen Kirchenburgen mit dem Eisernen Kreuz als „Ehrenzeichen des deutschen Krieges“ fand bereits 1942 in der zentralen Gedenkstätte in der romanischen Kirche in Michelsberg ihre bauliche Entsprechung. In diesen ältesten 342

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befestigten Sakralbau in Siebenbürgen überführte man auf Betreiben deutscher Stellen die Gebeine und Grabsteinplatten der im Ersten Weltkrieg gefallenen Soldaten aus den Militärfriedhöfen von Talmesch, Heltau und Hermannstadt. Den besonderen Stellenwert der Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen für die reichsdeutschen Stellen verdeutlicht auch die im Auftrag der Reichsbildstelle im Frühjahr 1944 durchgeführte Kampagne zur statistischen und fotografischen Erfassung der „deutschen Kirchenburgen“. VI. Zwischen nationaler Verklärung und realem Zerfall (1945–1989) Die Vorstellung von den siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgen als integrale Bestandteile eines Antemurale des Abendlandes überdauerte den Zusammenbruch des nationalsozialistischen Regimes und wurde von Autoren wie Retzlaff, Wühr, Zillich und Phleps an die nach 19�5 in Westeuropa bestehenden neuen politischen Konstellationen angepaßt. So stilisierte Wühr die Kirchenburgen zu Sinnbildern einer abendländischen Gesittung, die einen Gegenpol zur „Maßlosigkeit, Zuchtlosigkeit, Willkür, Tyrannis und Sklaverei des Ostens“ bildete. Die Vorstellung vom christlichen Abendland als Bollwerk gegen die kommunistische Bedrohung, ein wichtiger ideologischer Referenzpunkt in der Bundesrepublik der Adenauerzeit, begegnet auch in den ab 1957 veröffentlichten Nachkriegsauflagen der Publikation von Zillich und Phleps. Die durch den neuen Titel Siebenbürgen. Ein abendländisches Schicksal inszenierte Tragik ist symptomatisch für das verklärte Siebenbürgen-Bild, das durch die von Zillich ideologisch beeinflußte Landsmannschaft der Siebenbürger Sachsen bis in die 1980er Jahre in Westdeutschland propagiert wurde. In Rumänien selbst deutete die Forschung die Kirchenbauten als Zeugnisse der Epoche des Feudalismus und folgte damit den von den neuen kommunistischen Machthabern etablierten Leitlinien. Dem allgegenwärtigen Paradigma des historischen Materialismus entsprechend, wurde die bäuerliche Herkunft der Erbauer dieser Anlagen stets positiv hervorgehoben. Dabei standen die Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen im Vordergrund, während diejenigen der Székler kaum Erwähnung fanden. Abgesehen von den Würdigungen durch Virgil Vătăşianu zeichnete insbesondere das 1956 erschienene Buch von George Oprescu ein überaus positives Bild von der Sakral- und Wehrarchitektur der Siebenbürger Sachsen. Deren Lage und somit auch die Situation der Kirchenburgen hatten sich gegen Ende des Zweiten Weltkriegs dramatisch verschärft. Verantwortlich hierfür war zunächst die Evakuierung von etwa 50.000 Personen durch die sich zurückziehende deutsche Wehrmacht aus dem Gebiet um Bistritz im Herbst 1944. Nach dem Verschwinden der deutschsprachigen Bevölkerung aus diesem nördlichsten Bereich des Siedlungsgebiets der Siebenbürger Sachsen verfielen die zwei Dutzend Kirchenburgen in dieser Region zusehends, so daß heute nur noch die Reste von fünf Anlagen erhalten sind. Weitere einschneidende Ereignisse bildeten die Kriegsgefangenschaft und die Verschleppung mehrerer Tausend Siebenbürger Sachsen zur Zwangsarbeit in die Sowjetunion sowie besonders die durch die erstarkte rumänische Kommunistische Partei bestimmte (zweite) 343

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Agrarreform (Dekretgesetz Nr. 187 vom 23. März 19�5), in deren Folge zunächst der gesamte Grund- und Hausbesitz enteignet wurde. Zwar wurde 1958 ein Teil der Gebäude an die sächsische Bevölkerung zurückgegeben; die Konsequenzen erwiesen sich dennoch langfristig als schwerwiegend, da zwischenzeitlich ein großer Teil der vormalig in der Landwirtschaft beschäftigten Siebenbürger Sachsen in die Städte abgewandert war. Durch den Schwund der Kirchengemeinden fehlten an den jeweiligen Orten die personellen und institutionellen Ressourcen für den Unterhalt der Kirchenburgen. Ein zusätzliches Problem stellten ferner die Engpässe bei der Lieferung von Baumaterialien dar. Umfangreichere Restaurierungen waren daher nur durch die staatlichen Stellen möglich. Unter der Ägide der Direktion für Denkmalpflege Bukarest wurden in den 1960er und 1970er Jahren Restaurierungsarbeiten an mehreren Kirchenburgen durchgeführt. Hierbei handelt es sich vor allem um die prominenten Anlagen in Tartlau (1962–1970), Honigberg (1975–1978) und Wurmloch (1968–1977), die als Ziele für auswärtige Touristen erschlossen werden sollten. Ebenso wurden nach dem schweren Erdbeben im März 1977 zum Beispiel an den Kirchenburgen in Birthälm, Ilgendorf und Dálnok Konsolidierungsarbeiten durchgeführt. Parallel zu diesen staatlich geförderten Maßnahmen wurden Kirchenburgen wie diejenige in Großkopisch unter Beteiligung der jeweiligen Gemeinde renoviert. Dies waren jedoch Ausnahmen, zumal sich die allgemeine Situation der Denkmäler nach der Auflösung der staatlichen Denkmalbehörde in Rumänien im Dezember 1977 noch verschlechterte. Trotz allgemein fortschreitenden Verfalls waren die Kirchenburgen in den deutschsprachigen Medien in Rumänien stets sehr präsent. Sie waren Thema zahlreicher Beiträge in den Almanachen und Reiseführern, herausgegeben von der einzigen überregionalen Zeitung für die deutsche Minderheit Neuer Weg, die direkt dem Zentralkomitee der rumänischen Kommunistischen Partei unterstellt war. Konstanter noch waren die Darstellungen der Kirchenburgen auf den von der evangelischen Landeskirche A.B. in Rumänien herausgegebenen Kalendern und Reihen. So bildete die Kirchenburg in Birthälm seit den frühen 1980er Jahren für zwei Jahrzehnte das Titelbild der offiziellen Monatsschrift Kirchliche Blätter. Auf diesem Wege wurde das mit der konfessionellen und ethnischen Identität der Siebenbürger Sachsen aufs engste verbundene Motiv zu einem Signum der evangelischen Kirche in Rumänien. Die wohl größte Bedrohung für die Kirchenburgen in Siebenbürgen bildete die ab Mitte der 1980er Jahre vom rumänischen Staat geplante und punktuell auch umgesetzte „Systematisierung“ des ländlichen Bereichs, in deren Verlauf landesweit bis zu 8.000 Dörfer zugunsten landwirtschaftlicher Anbauflächen hätten abgetragen werden sollen. Die Bevölkerung der betroffenen Orte sollte in neuerrichtete agroindustrielle Zentren umgesiedelt werden. Gegen dieses Vorhaben regte sich Widerstand nicht nur im Kreis der Dissidenten in Rumänien. Auch im Ausland, vor allem in Ungarn, kam es zu massiven Protesten gegen eine solche systematische Zerstörung des kulturellen Erbes. Eine vom Internationalen Rat für Denkmalpflege (ICOMOS) konzipierte Wanderausstellung, die zu beiden Seiten des Eisernen Vorhangs gezeigt wurde, rückte die stark gefährdeten Kulturdenkmäler in das Bewußtsein einer internationalen Öffentlichkeit. 344

Siebenbürgische Kirchenburgen

Die Kirchenburg in Deutsch-Weißkirch mit der Gemeinde am Ende des Gottesdienstes. Das von Oskar Netoliczka (1897–1970) gewählte Motiv kombiniert die generationenübergreifende Darstellung der Mitglieder der Gemeinde in traditionellen Trachtenporträts mit der Architektur der Kirchenburg. Durch diese suggestive Inszenierung einer deutschen bäuerlichen Welt, die in archaischer Ursprünglichkeit in den Kirchenburgen konserviert zu sein scheint, zeigt die in mehreren Publikationen der Zwischenkriegszeit veröffentlichte Aufnahme deutliche Parallelen zu den Bildbänden aus dem Umfeld der völkischen Bewegung. Bildnachweis: Reproduktion nach Zillich, Heinrich: Siebenbürgen und seine Wehrbauten. Mit einer Darstellung der Baugeschichte von Hermann Phleps. Königstein im Taunus/Leipzig 1941, 65.

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VII. Die Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen nach dem Systemwechsel 1989 Paradoxerweise leitete der im Dezember 1989 sich ankündigende Wechsel des politischen Systems die vielleicht bedrohlichste Phase für die siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgen ein. Beim Sturz des kommunistischen Regimes von Nicolae Ceauşescu befand sich ein Großteil der siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgen in einem schlechten, bisweilen sogar kritischen baulichen Zustand. Folgenreich war die 1990 in Rumänien neu eingeführte allgemeine Reisefreiheit, die von den Siebenbürger Sachsen zur Übersiedlung in die Bundesrepublik Deutschland genutzt wurde. Durch die Emigration von annähernd 90 Prozent der in Siebenbürgen lebenden deutschen Bevölkerung wurde eine Vielzahl von Gemeinden im ländlichen Raum nahezu vollständig aufgelöst. Da die noch vor Ort verbliebene, zumeist ältere Bevölkerung nicht für die Erhaltung der Kirchenburgen sorgen kann, bemühen sich die Bezirkskonsistorien der evangelischen Landeskirche in Zusammenarbeit mit den staatlichen Stellen in Rumänien sowie in- und ausländischen Institutionen, nachhaltige Lösungen für die durch die Auflösung der Gemeinden entstandenen Probleme auszuarbeiten. Zu den bisher ergriffenen Maßnahmen zählen die Überführung und Inventarisierung von Altären und mobilen kirchlichen Kulturgütern in die Depots und Archive in Hermannstadt, Mediasch, Schäßburg sowie Kronstadt. Einen weiteren Komplex stellt die Ausarbeitung von Nutzungskonzepten für die Kirchen und deren bauliche Sicherung dar. Wichtige Grundlage hierfür ist die seit Anfang der 1990er Jahre in Kooperation deutscher und rumänischer Architekturhistoriker erstellte Dokumentation der siebenbürgisch-sächsischen Baudenkmäler, die von dem in Deutschland ansässigen Siebenbürgisch-Sächsischen Kulturrat angeregt und durch die deutsche Bundesregierung finanziert wurde. Nach der Neueinsetzung der Nationalkommission für Denkmäler, Ensembles und historische Stätten und der Erarbeitung eines Denkmalschutzgesetzes in Rumänien zu Beginn der 1990er Jahre wurden insgesamt 116 Kirchenburgen der höchsten Denkmalkategorie zugeordnet. Einen öffentlichkeitswirksamen Erfolg stellte schließlich der aus einer deutsch-rumänischen Gemeinschaftsinitiative erwachsene Vorschlag zur Aufnahme der Kirchenburg und des Ortskerns von Birthälm in die Welterbeliste der UNESCO dar. Ergänzend zu dem 1993 zum Kulturerbe der Menschheit deklarierten Birthälmer Ensemble wurden 1999 sechs weitere Kirchenburgen-Komplexe in die UNESCO-Weltkulturerbeliste aufgenommen. Hierbei handelt es sich um fünf bedeutende Beispiele unterschiedlicher Typen von Anlagen aus verschiedenen, ehemals deutschen Siedlungsgebieten einschließlich der Ortschaften Deutsch-Weißkirch, Wurmloch, Keisd, Kelling und Tartlau. Als sechster Komplex fand die im Széklergebiet gelegene unitarische Kirchenburg von Dersch Aufnahme in die UNESCO-Liste. Die Kirchenburgen in den Széklergebieten werden in Teilen weiterhin durch die jeweiligen Gemeinden genutzt, die trotz Abwanderungen in die Städte weitestgehend Bestand haben. Mehrere Anlagen in den vormaligen Székler Stühlen wurden seit 1995 durch Spezialisten aus Rumänien und Ungarn inventarisiert und restauriert. Schwerpunkte der Arbeiten bildeten neben der Sicherung der Bausubstanz die Konservierung der Fresken und bemalten Holzdecken der Kirchen. 346

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Einen wichtigen Schritt hinsichtlich der Erhaltung der Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen als kulturhistorisches und architektonisches Erbe bildete die Einrichtung einer Leitstelle Kirchenburgen als Projektbüro beim Landeskonsistorium der Evangelischen Kirche A.B. in Rumänien im Mai 2007. Die Förderung der neugeschaffenen Einrichtung erfolgte zunächst durch Mittel des Bundesministeriums für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ) und durch die Deutsche Gesellschaft für Technische Zusammenarbeit (GTZ). In den ersten Jahren ihres Bestehens brachte die Leitstelle Kirchenburgen eine Reihe von Initiativen auf den Weg, die auf eine denkmalgerechte Erhaltung der Kirchenburgen abzielten. Hierzu zählten die mit Fördermitteln der Europäischen Union und des Nationalen Restaurierungsplans in Rumänien finanzierte Sicherung der Dächer von insgesamt dreißig Kirchenburgen. Verstärkt widmet man sich auch der Ausarbeitung von nachhaltigen Nutzungskonzepten, durch die ein weiterer Verfall der bedrohten Anlagen gestoppt werden soll. Zu den möglichen Strategien gehört die Überantwortung einzelner Kirchen zur liturgischen Nutzung an andere Konfessionen. So wurden die vormalig siebenbürgisch-sächsische Kirchenburg in Weilau von der vor Ort ansässigen evangelischen Roma-Bevölkerung und die vormalig evangelische Kirche in Sommerburg durch eine ungarischsprachige unitarische Gemeinde übernommen. Alternativ werden profane Nutzungen praktiziert, so im Fall von Schönberg, wo durch die Bukarester Ion-Mincu-Universität für Architektur und Städtebau ein Forschungszentrum für ländliche Architektur eingerichtet wurde, oder der Kinderschutzburg in Radeln. Zusätzlich wird für eine Vielzahl von weiteren Anlagen eine Erschließung für einen ökologisch nachhaltigen Tourismus erwogen. Wichtige Schritte in diese Richtung wurden bereits in den vom Mihai-Eminescu-Trust aus England geförderten Projekten rund um Schäßburg unternommen. Zusammenfassend ist vor diesem Hintergrund festzuhalten, daß sich der Erhalt der Kirchenburgen, die häufig als Chiffre für das Siedlungsgebiet der Siebenbürger Sachsen benutzt wurden, nach und nach zu einem internationalen regionalen Gemeinschaftsprojekt entwickelt. VIII. Auswahlbibliographie tröster, Johannes: Das alt- und neu-teutsche Dacia das ist: Neue Beschreibung des Landes Siebenbürgen. Nürnberg 1666 [ND Köln 1981]; acKner, Johann Michael: Die römischen Alterthümer und deutschen Burgen in Siebenbürgen. In: Jahrbuch der k. k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 1 (1856) 3–50; MüLLer, Friedrich: Die Vertheidigungskirchen in Siebenbürgen. Ein Beitrag zur Provinzialkunstgeschichte. In: Mitteilungen der k.k. Central-Commission zur Erforschung und Erhaltung der Baudenkmale 2 (1857) 211–216, 227–231, 262–271; orbán, Balázs: A székelyföld léirasa: történelmi, régészeti, természetrajzi s népismei szempontból [Beschreibung des Széklerlandes unter Berücksichtigung der Geschichte, der Altertümer der Natur- und Volkskunde], Bd. 1–4. Pest 1868–1873; bieLz, Eduard Albert: Die Burgen und Ruinen in Siebenbürgen. Hermannstadt 1899; siGerus, Emil: Siebenbürgisch-sächsische Burgen und Kirchenkastelle. Hermannstadt 1900; roth, Victor: Geschichte der deutschen Baukunst in Siebenbürgen. Straßburg 1905; siGerus, Emil: Unsere Kirchenburgen in der kunstwissenschaftlichen Literatur. In: Die Karpathen 1/1–6 (1907) 172–175;

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Robert Born Konnerth, Hermann: Unsere Kirchenburgen. In: Die Karpathen 3/10 (1909) �93–�98; siGerus, Emil: Siebenbürgisch-sächsische Kirchenburgen. Hermannstadt 1909 [51923]; reiMesch, Fritz Heinz: Die Bedeutung der Kirchenburgen für die Siebenbürger Sachsen. Eine historische Betrachtung. In: Die evangelische Diaspora insbesondere des Auslandsdeutschtums. Zeitschrift des Gustav-Adolf-Vereins 7/2 (1925) 106–11�; phLeps, Hermann: Die siebenbürgisch-sächsischen Kirchenburgen. In: Ostdeutsche Monatshefte 7 (1926) 239–2�6; Kós, Károly: Erdély. Kultúrtörténeti vázlat [Siebenbürgen. Ein kulturhistorischer Abriß]. Kolozsvár 1929; MöcKesch, Viktor: Die Tartlauer Kirchenburg: Ein deutsches Bollwerk in Südosteuropa. Kronstadt 1936; retzLaff, Hans: Bildnis eines deutschen Bauernvolkes. Die Siebenbürger Sachsen. Mit erläuterndem Text von Misch orend und einem Geleitwort von Bischof V. GLondys. Berlin 1939; horWath, Walter: Siebenbürgisch-sächsische Kirchenburgen baugeschichtlich untersucht und dargestellt. Hermannstadt 21940; phLeps, Hermann: Die Bauern- und Kirchenburgen der Siebenbürger Sachsen. In: Der Deutsche im Osten 3 (1940) 643–650; WittstocK, Erwin: Land der Kirchenburgen. Deutsche Landschaft Siebenbürgen. In: Berliner Börsenzeitung, Morgenausgabe, Nr. 449 vom 22. September 1940, 11; phLeps, Hermann: Kirchenburgen in Siebenbürgen und ihre Verwandten in Skandinavien und im Reich. In: Germanen-Erbe. Monatsschrift für Deutsche Vorgeschichte 6/7–8 (19�1) 98–101; ziLLich, Heinrich: Siebenbürgen und seine Wehrbauten. Mit einer Darstellung der Baugeschichte von Hermann phLeps. Königstein im Taunus/Leipzig 1941; Wühr, Hans: Siebenbürgen. Berlin 1942; phLeps, Hermann: Wiederherstellungsarbeiten an der Kirchenburg in Birthälm in Siebenbürgen. In: Zentralblatt für Bauverwaltung 5/6 (1942) 61–65; entz, Géza: Székely templomerődök [Kirchenfestungen im Széklerland]. In: Szépművészet 5/� (19��) 120–126; ders.: A középkori székely művészet kérdései [Zu Fragen der mittelalterlichen Kunst der Székler]. Kolozsvár 1943; Wühr, Hans: Deutsche Kunst in Siebenbürgen. In: ziLLich, Heinrich (Hg.): Wir Siebenbürger. Salzburg 1949, 329–339; ders.: Siebenbürgische Kirchenburgen. Kitzingen/Neckar 1951; oprescu, George: Bisericile cetăţi ale saşilor din Ardeal [Die Kirchenburgen der Sachsen in Siebenbürgen]. Bucureşti 1956; ziLLich, Heinrich: Siebenbürgen. Ein abendländisches Schicksal. Mit einer geschichtlichen Darstellung der siebenbürgischen Wehrbaukunst von Hermann phLeps. Königstein im Taunus 1957; retzLaff, Hans: Die Siebenbürger Sachsen. Antlitz eines deutschen Bauernstammes. Ein Bildbuch. Stuttgart 1959; treiber, Gustav: Mittelalterliche Kirchen in Siebenbürgen. Beiträge zur Baugeschichte aufgrund der Raumverhältnisse. München 1971; Machat, Christoph: Die Wehrkirchen Siebenbürgens im europäischen Vergleich. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 21/1 (1978) 88– 98; veLescu, Oliver: Cetăţi ţărăneşti din Transilvania [Bauernburgen aus Siebenbürgen]. Bucureşti 1964; fabini, Hermann: Denkmalpflege an siebenbürgischen Kirchenburgen. In: Forschungen zur Volks- und Landeskunde 21 (1978) 101–108; baLoGh Jolan: Középkori építészetünk kérdéseiről [Über Fragen zu unserer mittelalterlichen Baukunst]. In Műveszettörteneti Éresitő 33/1–2 (198�) �6–50; Machat, Christoph: Kunst und Denkmalpflege. In: schuster, Oskar (Hg.): Epoche der Entscheidungen. Die Siebenbürger Sachsen im 20. Jahrhundert. Köln u. a. 1983, 28�–300; KoLb, Karl: Wehrkirchen in Europa. Eine Bild-Dokumentation. Beispiele aus allen Ländern Europas. Würzburg 1983; fabritiusdancu, Juliana: Die Kirchenburg – Identifikationssymbol der Siebenbürger Sachsen. In: Zeitschrift für Siebenbürgische Landeskunde 6/1 (1983) 30–3�; Kroner, Michael: Reichsdeutsche und siebenbürgisch-sächsische Zusammenarbeit auf dem Gebiet der Denkmalpflege in der Zwischenkriegszeit. In: Machat, Christoph (Hg.): Beiträge zur Siebenbürgischen Kunstgeschichte und Denkmalpflege. München 1983, 55–69; fabini, Hermann/fabini, Alida: Kirchenburgen in Siebenbürgen. Abbild und Selbstdarstellung siebenbürgisch-sächsischer Dorfgemeinschaften. Leipzig 1985 [21991]; horedt, Kurt: Siebenbürgen im Frühmittelalter. Bonn 1986; ICOMOS Pro Romania. Katalog der Ausstellung Paris, London. München, Budapest, Kopenhagen, Stockholm 1989–1990. München 1989; aGhné KoroMpay, Katalin: Építészeti népi diplomácia Erdélyert [Öffentliche Diplomatie der Architekten für Siebenbürgen]. In: Magyar èpitőműveszet 81/5 (1990) 18–20; LaMpinG, Heinrich. Kirchenburgen in Siebenbürgen. Geographische Analysen, Kurzbeschreibungen, Bilddokumentation. Frankfurt/Main 1991; Machat, Christoph: Die kunsthistorische Forschung und Bestrebungen zur Kunst- und Denkmalpflege in

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Der Croy-Teppich I. Zusammenfassung. – II. Der Bildteppich. – III. Bedeutung in der Erinnerungskultur. – a) Konfessionelles Zeitalter. – b) Von der herzoglichen zur regionalen Erinnerungskultur. – c) Der Croy-Teppich in der deutschen und der polnischen Gedenkkultur nach 1945. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der Croy-Teppich, ein monumentaler Bildteppich, auf dem Vertreter des pommerschen und des sächsischen Herzogshauses zusammen mit solchen der Reformation dargestellt sind, wurde 155� auf Veranlassung des pommerschen Herzogs Philipps I. angefertigt und nach dem Aussterben des Greifenhauses von dessen letztem Mitglied, Ernst Bogislaw von Croy, 1681 testamentarisch der Universität Greifswald zur Pflege des Gedenkens seiner Mutter vermacht. Nachdem der Teppich seit dem 18. Jahrhundert einer breiteren Öffentlichkeit bekannt geworden war, wurde er zu einem der markantesten Symbole der regionalen lutherischen konfessionellen Identität und später in unterschiedliche Erinnerungskontexte eingebracht.

II. Der Bildteppich Die Annahme des evangelischen Glaubens im Herzogtum Pommern durch den Landtag zu Treptow an der Rega im Dezember 153� eröffnete eine neue Perspektive für die lutherische Reformation, die im Nordosten des römisch-deutschen Reiches schon früh Aufnahme gefunden hatte. Die relativ homogene lutherische Konfessionskultur artikulierte ein deutliches Bestreben, das neue Bekenntnis nicht nur mit Hilfe des verkündigten Wortes, sondern auch mit visuellen Medien auszudrücken. Dabei ging es den Herzögen darum, sich als führende und bedeutendste Instanz bei der Durchsetzung der neuen Kirchenverhältnisse darzustellen. Eine wesentliche Rolle bei der Gestaltung der mit dem evangelischen Bekenntnis verbundenen Ikonographie spielten in Pommern Bildideen, die aus dem ernestinischen Sachsen als Zentrum der lutherischen Reformation vermittelt wurden. Philipp I., seit 1531 Herzog von Pommern-Wolgast, gab einen monumentalen Bildteppich (�,�6 Meter hoch und 6,90 Meter breit) in Auftrag, der 1554 in der Stettiner Werkstatt des niederländischen Meisters Peter Heymans angefertigt wurde. Im Zentrum seiner explizit programmatischen Komposition, die einen engen Zusammenhang der Staatspolitik mit der Religion versinnbildlicht, figuriert Martin Luther, der auf einer mit den Evangelistensymbolen verzierten Kanzel predigt und auf den gekreuzigten Christus weist. Unter dem Predigtstuhl gruppieren sich die Vertreter der pommerschen und sächsischen Fürstenhäuser, die 350

Der Croy-Teppich

sowohl durch ihre Wappen als auch durch entsprechende Inschriften kenntlich gemacht sind. Rechts sind die ernestinisch-sächsischen Wettiner, unter anderem mit Friedrich III., Johann dem Beständigen und Johann Friedrich dem Großmütigen mit seiner Gattin und seinen Söhnen, abgebildet; links sind die pommerschen Greifenherzöge porträtiert, neben dem noch altgläubigen Georg I. stehen seine ersten lutherischen Nachfolger, Barnim IX. und Philipp I. als Stifter mit seiner Ehefrau und seinen Kindern. Der politische Gehalt des Werkes besteht in der Präsentation der zwei Herrscherfamilien, die durch die Eheschließung Philipps I. mit Maria, der Tochter Kurfürst Johanns des Beständigen, seit 1536 verbunden sind; diese politische Allianz wird mit der konfessionellen Aussage des Bildprogramms verknüpft. Dabei handelt es sich nicht ausschließlich um die ständische Repräsentation, wie die zentrale Stellung Luthers zeigt, dessen Geste das christozentrisch orientierte Bekenntnis der Christenheit de cruce sichtbar macht. Dazu kommt, daß die beiden Gruppen von Herzögen von weiteren Reformatorendarstellungen ergänzt werden: Hinter der Gruppe der sächsischen Herzöge steht Philipp Melanchthon, hinter den pommerschen Johannes Bugenhagen. Auch die Inschriften, die im oberen Teil der Bordüre und in den Kartuschen angebracht sind, bekräftigen die theologische Aussage des Bildprogramms. Neben den Bibelzitaten, die auf Christus als Erlöser der Menschheit verweisen (Johannes 1,29; Johannes 3,14–15 und Jesaja 53,12), wird an die entscheidenden Ereignisse aus der Reformationsgeschichte in beiden Ländern erinnert. Es wird der Thesenschlag Luthers und dessen Tod erwähnt sowie die Verkündigung der neuen Lehre in Pommern durch Bugenhagen. Weil es sich bei dem sächsischpommerschen Bündnis um eine Allianz von Herzogshäusern handelt, die sowohl das Bekenntnis zur Augsburgischen Konfession als auch die Zugehörigkeit zum Schmalkaldischen Bund verband, gilt der Teppich als eines der wichtigsten Bekenntnisbilder und Manifeste aus der frühen Reformationszeit schlechthin. Die Bekenntnisaussage des Werkes wird um so deutlicher, als die Komposition tief in der frühen reformatorischen Ikonographie verwurzelt ist. Als Vorlagen dienten dem Künstler markante Konzepte aus der Cranachschen Werkstatt, wie der Altar der Wittenberger Pfarrkirche (15�7) oder der polemische Holzschnitt Abendmahl der Evangelischen und der Höllensturz der Papisten (um 1540), beide mit der Luthergestalt, die auf den Erlöser als Gotteslamm zeigt. Nicht ohne Bedeutung für das Gesamtprogramm ist auch die Art und Weise, wie Johann Friedrich I. von Sachsen abgebildet wird: Der Herzog steht direkt unter dem Gekreuzigten und neben einer der Säulen und wird mit einer unverkennbaren Gesichtswunde abgebildet, die an seine Niederlage in der Schlacht zu Mühlberg 15�7, seine Gefangennahme und den Verlust seiner Kurwürde erinnert. Weil man ihn damit nicht nur als einen Schützer der Reformation, sondern auch als Märtyrer für den neuen Glauben auszeichnet, gewinnt die Beziehung der pommerschen Landesherren zu den Wettinern umso größere Bedeutung.

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III. Bedeutung in der Erinnerungskultur a) Konfessionelles Zeitalter Der Teppich war entweder als Geschenk für den damals in Weimar residierenden ehemaligen Kurfürsten Johann Friedrich den Großmütigen entstanden und wurde wegen dessen Ableben 155� nicht nach Weimar geschickt, oder er war von Anfang an von Philipp I. für sich selbst gedacht; er blieb jedenfalls nach seiner Fertigstellung im Wolgaster Schloß. Der genaue Aufbewahrungsort des Objekts, das zu einer ansehnlichen Sammlung von Wandteppichen in der Hauptresidenz Philipps I. gehörte, läßt sich nicht mehr feststellen. Es ist auch unbekannt, wie man das Werk in der Herzogszeit gebrauchte, präsentierte und wahrnahm. Allerdings lassen sowohl seine ungewöhnliche Größe als auch sein ausführliches Bildprogramm annehmen, daß der Teppich einen besonderen Stellenwert in der Kommunikation zwischen dem Herzog und dessen Gästen eingenommen hat. Zweifelsohne handelte es sich um ein wichtiges Element der landesherrlichen Bildpropaganda und Repräsentation und nicht zuletzt um eine bestimmte Konstruktion der Vergangenheit, sowohl in ihrem politischen als auch in ihrem religiösen Sinn. Einerseits spielte das Werk auf die Rolle der Greifenherzöge bei der Verbreitung der als „angezündetes Licht der Gnade“ verstandenen evangelischen Glaubenslehre an. Andererseits betonte es die enge Beziehung zu Sachsen und zu Wittenberg als dem Zentrum der lutherischen Reformation, die durch die ernestinische Linie der Wettiner mit Kurfürst Johann Friedrich vertreten wird. Insbesondere angesichts der unsicheren Zeit des protestantischen Lagers zwischen dem Augsburger Interim von 15�8 und der endgültigen Kodifizierung des Status quo im Reich im Augsburger Religionsfrieden von 1555 vertrat die Bildkonstruktion eine eindeutige Aussage. Auf diese Weise kam die enge Beziehung der Pommernherzöge zu den Ernestinern, deren wichtigster Repräsentant, Johann Friedrich, als Verteidiger der Augsburgischen Konfession, aber zugleich auch als Märtyrer für das „wahre und unverfälschte Evangelium“ angedeutet wurde, zum Ausdruck. Damit stellten sich auch die pommerschen Herzöge als Überbringer des „rechtschapenen licht der warheit“ selbst dar und propagierten ihre theologische Eigensicht. b) Von der herzoglichen zur regionalen Erinnerungskultur Nachdem die Wolgaster Greifenlinie mit Philipp Julius 1625 ausgestorben war, erwarb der letzte pommersche Herzog, Bogislaw XIV., den Teppich und ließ ihn wahrscheinlich in das Stettiner Schloß überführen. Allerdings erwähnen die nach seinem Tod angefertigten Schloßinventare das Kunstwerk nicht. Es wird daher angenommen, daß der Teppich noch zu Lebzeiten seiner Schwester Anna von Croy – sie starb 1660 – für deren Witwensitz in Stolp übergeben wurde. Im Stolper Schloß verblieb das Objekt auch, nachdem es Annas einziger Sohn, Ernst Bogislaw von Croy, geerbt hatte. In seinem Testament vom 3. Juni 1681 verschrieb er den Teppich der Universität Greifswald zum Zweck besonde352

Der Croy-Teppich

rer Feierlichkeiten, die dort alle zehn Jahre am 7. Juli, dem Todestag seiner Mutter, abgehalten werden sollten. Ernst Bogislaw bestimmte diese Feste sowohl zur Erinnerung an seine Mutter als letzter Vertreterin des Greifengeschlechts als auch zum Gedächtnis an das ganze pommersche Fürstenhaus – und nicht zuletzt an sich selbst. Ernst Bogislaw von Croy wollte eine reich ausgestattete Tradition von Erinnerungsfeierlichkeiten zum Andenken an Anna von Croy begründen. Entsprechende Feierlichkeiten hielt die Universität zuerst 1663 in der Schloßkirche zu Stolp und dann 1680 in Greifswald ab. Angesichts der Tatsache, daß in den künstlerischen Stiftungen Ernst Bogislaws nicht nur dessen Standesidentität, sondern auch dessen konfessionelles Selbstbewußtsein in pointiertem Gegensatz zum reformierten Bekenntnis zum Ausdruck kam, konnte die Wahl des Objekts keineswegs zufällig sein. Das konfessionelle Charakteristikum dieser Memoria wurde umso bedeutender, als in dem zu Brandenburg gehörenden Landesteil die Rolle des als Staatsreligion geltenden reformierten Glaubens an Bedeutung gewann. Um entsprechende finanzielle Mittel für diese Memoria zu sichern, bestimmte Ernst Bogislaw bereits 1680, für die künftigen Feiern die Zinsen in Höhe von 100 Reichsthalern aus einem der Stadt Stralsund verliehenen Legat zu verwenden. Die ersten Feiern, bei denen der Teppich präsentiert werden sollte, sah der Herzog für das Jahr 1690 vor. Da sich jedoch wegen der angespannten politischen Lage zwischen Schweden und Brandenburg die Verhandlungen über den Nachlaß Ernst Bogislaws verlängert hatten, konnte der Teppich erst 1707 nach Greifswald gelangen. Eine markante Rolle bei diesen Verhandlungen spielte Baron Johan Rosenhane, der als schwedischer Gesandter am kurfürstlichen und später königlichen preußischen Hof tätig war. Nachdem die ersten Feierlichkeiten gemäß dem Testament Ernst Bogislaws im Jahr 1710 stattgefunden hatten, wurden sie zu einem festen Bestandteil des akademischen Lebens und seither regelmäßig gepflegt. Den Anfang der Feier kündigte die große Glokke im Turm der Sankt Nikolaikirche an, worauf sich der Senat im Sitzungssaal versammelte. Unter den Klängen von Trauermusik auf Trompeten und Pauken traten die Senatsmitglieder unter Leitung des Rektors in die große Aula ein, in der an der Wand gegenüber der Tür der Teppich aufgehängt war. Da das Kunstwerk hinter dem Katheder ausgestellt wurde, bildete es durch sein Bildprogramm einen bedeutungsvollen Rahmen für den Hauptteil des Festprogramms. Der Katheder, an dem die Festrede gehalten wurde, war mit einem schwarzen Tuch mit der silbernen Inschrift aus dem in der Stolper Schloßkirche befindlichen Marmorepitaph der Herzogin bedeckt; der Teppich selbst, aus dem wohl während seiner zeitweiligen Aufbewahrung in Berlin nach dem Tod Ernst Bogislaws 168� ein Fragment neben dem Bildnis Luthers herausgeschnitten worden war, wurde anläßlich der ersten Feier mit einem Lobgedicht auf Anna ergänzt. Dem Gedenken an die verstorbenen Personen dienten noch andere von Ernst Bogislaw geschenkte Gegenstände: eine goldene Halskette mit Medaillenkleinod (nach 1619), das seine Eltern, Ernst von Croy und Anna, porträtiert, sowie der Siegelring Bogislaws XIV. (nach 1620), die beide als Insignien der Rektorwürde Verwendung fanden. Auf Initiative der Universität kamen noch weitere gemalte Bildnisse von Ernst Bogislaw und Anna hinzu, die man an den Wänden der Aula aufhängte. 353

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Der Croy-Teppich (155�), in der Stettiner Werkstatt Peter Heymans fertiggestellt (Eigentum der Universität Greifswald, heute im Pommerschen Landesmuseum Greifswald ausgestellt). Der prachtvolle, von Philipp I. von Pommern-Wolgast bestellte Bildteppich, auf dem der predigende Luther samt Vertretern sächsisch-ernestinischer und pommerscher Herzogshäuser sowie zwei weitere Reformatoren der beiden Länder – Philipp Melanchthon und Johannes Bugenhagen – dargestellt sind, präsentiert ein ausnahmsweise eminentes Beispiel eines Glaubensbekenntnisses zur Augsburgischen Konfession aus der Reformationszeit. Unter den vorhandenen Bildwirkereien stellt er insofern eine Ausnahme dar, als ihn Landesherren des Konfessionellen Zeitalters in Auftrag gegeben haben. Das Werk, das ein sowohl politisch als auch konfessionell motiviertes Bündnis zwischen den Wettinern und den Greifen illustriert, wurde im Laufe der Zeit zu einem der wichtigsten Bildzeugnisse der regionalen und religiösen Identität Pommerns. Bildnachweis: Zossen, Ortsteil Wünsdorf, Brandenburgisches Landesamt für Denkmalpflege und Archäologisches Landesmuseum, Meßbildarchiv.

Im Laufe der Zeit erfolgte eine Akzentverschiebung, was die Wahrnehmung der Rolle betrifft, die dem Teppich in der Memoria zugeschrieben wurde. 1820 stellte man an der Stelle des mit dem Lobgedicht auf Anna ergänzten Teils wieder eine Lücke fest, weshalb der Teppich nicht in seinem vollem Maß präsentiert werden konnte. Um die Lücke zu füllen, entschied man sich diesmal dazu, ein Bibelzitat zum Lobpreis Gottes (Psalm 66,1) einzufügen. Die Themen der Festvorträge der Gedenkveranstaltungen betrafen auch nicht mehr die Person Annas, sondern wurden wichtigen Kapiteln der regionalen Geschichte gewidmet. So hielt etwa im Jahr 1830 der Greifswalder Altphilologe Georg Friedrich Schömann einen Vortrag über das Leben Bogislaws X. als Würdigung einer großen Zeit der Geschichte Pommerns. Da der Teppich im Laufe der Zeit zu einem be354

Der Croy-Teppich

deutenden Element des Erbes der Greifswalder Alma mater wurde, brachte man ihn 1856 anläßlich des vierhundertjährigen Jubiläums der Universität in die Nikolaikirche. Seit dem frühen 19. Jahrhundert erfolgte eine breitere Rezeption des Werkes, das während der ersten Feierlichkeiten nur auf eine sehr eingeschränkte Weise zugänglich war. Dazu kam, daß man den Bildteppich in größerem Maß als zuvor als historisches Monument und Kunstwerk wahrzunehmen begann. Für diese neue Perspektive steht eine 1822 gedruckte Veröffentlichung, in der der Bericht über die Gedenkfeiern durch eine detaillierte Beschreibung des Teppichs, verfaßt vom Greifswalder Literaturwissenschaftler Christian Wilhelm Ahlwardt, ergänzt wurde. Die Publikation wurde durch eine Lithographie illustriert, die auf einem Aquarellbild des Teppichs beruhte. Die Lithographie, durch die die Rezeptionsweite des Teppichs erheblich erweitert wurde, hatte der Maler Hermann von der Lancken hergestellt. Noch größere Bekanntheit erlangte das Kunstwerk durch den Besuch König Friedrich Wilhelms IV. von Preußen in Greifswald 1853. Das große Interesse des kunstliebenden Herrschers an dem Werk, das man speziell für ihn ausgestellt hatte, hatte zur Folge, daß der Teppich auf Wunsch des Königs 185� nach Berlin gesandt wurde. Dort sollte eine gemalte Kopie hergestellt werden. Die vom Hofmaler Georg Friedrich Bolte 185� angefertigte Kopie befand sich bis zum Tod Friedrich Wilhelms IV. in dessen Berliner Residenz. Mit königlicher Genehmigung wurden Photographien des Gemäldes angefertigt, vervielfältigt und in den Handel gebracht, wodurch das Objekt einem wachsenden Publikum auch außerhalb Pommerns bekannt wurde. Das zunehmende Interesse an dem Teppich als Kunstwerk äußerte sich ferner erstmals in umfassenden wissenschaftlichen Studien (so von Julius Mueller 1877 oder von Julius Lessing 1892) und darüber hinaus in Bestrebungen, den Teppich in verschiedenen Ausstellungen zu zeigen. Diese Ausstellungen, etwa die „Kunst- und Kunstindustrie-Ausstellung alter und neuer deutscher Meister sowie der deutschen Kunstschulen“ in München 1876, sollten bestimmte Aspekte der deutschen Kunst präsentieren. Aus konservatorischen Gründen wurde die erbetene Ausleihe des Teppichs jedoch abgelehnt. Das betraf auch die 1907 im Städtischen Kunstgewerbe-Museum zu Leipzig organisierte „Ausstellung von Goldschmiede-Arbeiten Leipziger Ursprungs und aus Leipziger Besitz sowie von deutschen Bildwirkereien des 16. Jahrhunderts“. Den hohen Stellenwert des Objekts als Kunstgegenstand bestätigte die in den Jahren 1891 bis 1895 vorgenommene durchgehende Restaurierung, die im Berliner Kunstgewerbemuseum unter Leitung von Julius Lessing durchgeführt wurde. Bei dieser Gelegenheit wurde 1893/9� von dem Berliner Kunstmaler August Grimmer eine in Originalgröße gemalte Kopie des Teppichbildes hergestellt. Die Restaurierungsarbeiten ließen erstmals ein politisches Konfliktfeld erkennen zwischen dem Interesse, das pommersche Landesbewußtsein zu fördern, und der von der Berliner Regierung vertretenen nationalen Staatsräson. Die Kontroverse betraf die Art und Weise, wie die am fehlenden Teppichstück beim Lutherbildnis vorgesehene neue Inschrift zum Andenken des Stifters formuliert werden sollte. Die von Rektor und Senat konzipierte und letztlich angebrachte Fassung, in der Ernst Bogislaw „der letzte unsers alten Fürstenhauses“ genannt wird, brachte eine Übernahme der regionalen Deutung des 355

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Kulturerbes zum Ausdruck. Diese Formulierung, die nicht mit der Berliner Sichtweise übereinstimmte, führte zu einer kritischen Stellungnahme des Ministeriums der geistlichen, Unterrichts- und Medizinalangelegenheiten, das den dynastiegeschichtlichen Akzent reduziert sehen wollte, um die hohenzollernsche Anbindung an die pommersche Landesgeschichte zu erleichtern. Die breite Anerkennung des Teppichs in seiner historischen und künstlerischen Bedeutung brachte es überdies mit sich, daß er nicht nur bei akademischen Feiern, sondern auch bei anderen Anlässen präsentiert wurde, so zum Beispiel auf dem Pommerschen Ärztetag 1898 oder bei der Tagung des Gustav-Adolf-Vereins 1923. Ein besonderes Ereignis, zu dem der Teppich einer breiteren Öffentlichkeit präsentiert wurde, war das im Jahr 1937 begangene dreihundertjährige Jubiläum des Todes von Bogislaw XIV., des letzten Greifenherzogs. Hierzu organisierte das Pommersche Landesmuseum Stettin eine Ausstellung, die das Vermächtnis der ausgestorbenen Dynastie popularisierte. In diesem Zusammenhang erschienen zahlreiche wissenschaftliche und heimatkundliche Veröffentlichungen, die oftmals eine Abbildung des Kunstwerkes enthielten. Das Bedürfnis, das Bildprogramm und den künstlerischen Wert des Teppichs dem Publikum der Provinzialhauptstadt Stettin näherzubringen, zeigte sich auch darin, daß die von August Grimmer ausgeführte Kopie – sie war seit 1895 Eigentum der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde – im Rahmen ihrer Sammlung (vor 1913 am Stettiner Schloß, 1913 bis 1927 im Stadtmuseum an der Hakenterrasse) ausgestellt wurde. Seit 1928 wurde diese Kopie im ehemaligen Alten Landeshaus in Stettin in einer neuen Abteilung des Landesmuseums dauerhaft der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Doch obwohl der Teppich damals zu einem allgemein geschätzten Kulturgut geworden war, erfolgte nach dem 1930 begangenen 26. Croy-Fest für lange Zeit keine Wiederholung dieser Aktion. Offensichtlich hielt die nationalsozialistische Regierung die Pflege des regionalen Kulturerbes nicht für opportun. c) Der Croy-Teppich in der deutschen und der polnischen Gedenkkultur nach 1945 Im Jahr 19�2 wurde der Teppich zum Schutz vor Kriegshandlungen zuerst nach Schloß Karlsburg bei Greifswald, zum Ende des Krieges dann nach Lübeck und Celle ausgelagert, so daß er sich in der Folge auf der westlichen Seite des Eisernen Vorhangs befand. Es gab zunächst keine Anstrengungen der Regierung der Deutschen Demokratischen Republik, das Werk wieder an die Greifswalder Alma mater zurückzuholen. Durch die Bemühungen der Universität unter Leitung von Rektor Gerhardt Katsch und des Bischofs der Pommerschen Evangelischen Kirche, Friedrich-Wilhelm Krummacher, erfolgte 1956 jedoch die Rückführung. Ein wesentliches Argument, das die Rückkehr des Teppichs nach Greifswald ermöglichte, war das 500. Jubiläum der Gründung der Universität, in dessen Rahmen das Werk präsentiert wurde. Die kommunistische Staatsmacht duldete zwar den Gebrauch des Objekts anläßlich der Universitätsjubiläen, zuletzt noch 1981, hob aber stets „die Tradition der sozialistischen Universität” deutlich 356

Der Croy-Teppich

hervor. Demselben Zweck diente die Ausstellung des Teppichs 1969 im Zusammenhang der Feiern zum 20. Jahrestag der Gründung der Deutschen Demokratischen Republik. Die Croy-Feste waren für die Ost-Berliner Regierung allerdings nicht mehr tragbar und wurden eingestellt. Immerhin nutzte man den Bildteppich allgemein im Zusammenhang mit der deutschen Reformationsgeschichte. Dieser breitere Kontext verband sich jedoch weniger mit der regionalen Geschichte, sondern wurde in erster Linie im Rahmen der Kunst-, Kultur- und Sozialgeschichte dieser Epoche verstanden. So präsentierte man den Teppich 1958 im Rahmen der Feierlichkeiten zum �00. Todestag von Johannes Bugenhagen in Wittenberg. Auch das 1972 begangene Cranach-Jahr bot eine Gelegenheit, das Werk in Greifswald auszustellen. Im Lutherjahr 1983 wurde es in der Ausstellung „Kunst der Reformationszeit“ im Alten Museum in Berlin gezeigt. Nach langer Unterbrechung lebten auch die Croy-Feste nach der Wiedervereinigung Deutschlands wieder auf. Bereits 1992 hatten Rektor und Senat der Universität Greifswald beschlossen, die alte Tradition wiederaufzunehmen und in das akademische Leben zu integrieren. Das am 16. Oktober 1992 veranstaltete 27. Croy-Fest wurde von dem Bestreben geleitet, sowohl den ikonographischen Gehalt des Teppichs als Bekenntnisbild als auch seinen künstlerischen Wert hervorzuheben. Diesem Zweck diente nicht zuletzt der Festvortrag des Greifswalder Theologen Hans-Georg Thümmel. Anläßlich des 28. Croy-Festes, das am 17. Oktober 2000 gefeiert wurde, übergab man die monographische, bereits 1983 verfaßte Studie zum Teppich von Horst-Diether Schroeder feierlich der Öffentlichkeit. Die identitätsstiftende Rolle des Teppichs als Symbol des kirchlichen und regionalen geschichtlichen Bewußtseins des Landes Mecklenburg-Vorpommern, aber auch als wichtiges Bildzeugnis der deutschen Reformation und Renaissancekunst im allgemeinen führte zu dem Entschluß, das Werk der Öffentlichkeit dauerhaft zugänglich zu machen. Der Teppich, der dem 2005 eröffneten Pommerschen Landesmuseum in Greifswald als Dauerleihgabe der Universität übergeben wurde, wird seither in der Dauerausstellung zur Landesgeschichte präsentiert. An diesem neuen Ort fand am 7. Juli 2006 das 29. CroyFest statt, das mit den Feiern zum 550. Jahrestag der Gründung der Universität verbunden war. Auch das 30. Croy-Fest im Jahr 2010, erneut am 7. Juli, wurde dort abgehalten. In diesem Zusammenhang stehen ferner andere Initiativen, den Teppich in einen breiteren Kontext der pommerschen Geschichte der Herzogszeit einzubringen. Erwähnt sei eine von Lehrern und Schülern des Greifswalder Humboldt-Gymnasiums sowie von der Universität vorbereitete theatralisch und musikalisch inszenierte Präsentation ausgewählter Passagen aus dem Tagebuch der europäischen Reise Herzog Philipp Julius’ von 1602/03. Begleitet wurde diese Aktion durch eine Ausstellung von Dokumenten, die die Geschichte der Croy-Feste im 17. und 18. Jahrhundert illustrierten. Der vom Greifswalder Mediävisten Karl-Heinz Spieß gehaltene Festvortrag zur Erinnerung an Anna von Croy deutete eine Rückkehr zu den vom herzoglichen Stifter veranlaßten Gedächtnisfeiern an. Da Hinterpommern nach dem Zweiten Weltkrieg an Polen gefallen war, fand der Croy-Teppich seither auch dort, wenn auch in geringerem Maße, Eingang in die regionale Erinnerungskultur. Obwohl die kommunistische Regierung für das kulturelle 357

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und historische Erbe des frühneuzeitlichen Hinterpommern wenig Interesse zeigte und entsprechende Forschungs- und Popularisierungsarbeiten kaum förderte, wurde die Geschichte der Greifenherzöge zu einem Untersuchungsgebiet, auf dem entsprechende Arbeiten aufgegriffen werden konnten. Einschlägige wissenschaftliche Studien, in denen dem Teppich größere Aufmerksamkeit gewidmet wurde, nahmen seit den späten 1980er Jahren deutlich zu. Als man 1986/87 aus Anlaß des 550. Todesjahres von Bogislaw XIV. die Ausstellung „Die Kunst am pommerschen Hof im 16. und 17. Jahrhundert“ im Stettiner Nationalmuseum und im Königlichen Schloß in Warschau organisierte, wurde der Teppich im Begleitkatalog zwar als eines derjenigen Objekte genannt, die aus organisatorisch-technischen Gründen nicht gezeigt werden könnten. Die Bedeutung des Teppichs wurde jedoch durch die Präsentation der in Originalgröße gemalten Kopie von August Grimmer unterstrichen, und zwar in der Dauerausstellung, die der frühneuzeitlichen Kunst am Hof der Greifen gewidmet ist. Dieser Ausstellungsteil, den man nach einer umfassenden Neustrukturierung im Jahr 2011 mit dem bedeutungsvollen Titel „Das goldene Zeitalter Pommerns“ versah, liefert ein auffälliges Pendant zu dem Kontext, in dem das Original im Pommerschen Landesmuseum in Greifswald heute präsentiert wird. IV. Auswahlbibliographie schiLdener, [Karl]/ahLWardt, [Christian Wilhelm]: Beschreibung des Festes zur Erinnerung an die Herzogin Anna, insonderheit aber des großen gewirkten Teppiches, womit bey dieser Gelegenheit die Hauptwand des academischen Hörsaals verziert ist. In: Greifswaldische Academische Zeitschrift 1 (1822) 79–138; GöscheL, Carl Friedrich: Der Croy-Teppich in Greifswald. Berlin 185�; ders.: Der Croy-Teppich in Greifswald. Ein Bild aus dem siebzehnten Jahrhundert zur Erinnerung an das sechzehnte. Eine Weihnachtsgabe. Berlin 185�; voiGt, [Karl August Traugott]: Der Croy-Teppich der Universität Greifswald. In: Pommersches Jahrbuch 2 (1868) 1–22; MueLLer, Julius: Neue Beiträge zur Geschichte der Kunst und ihrer Denkmäler in Pommern. In: Baltische Studien A.F. 27/1 (1877) 1–62; LessinG, Julius: Der Croy-Teppich im Besitz der Königlichen Universität Greifswald. In: Jahrbuch der Königlich-Preussischen Kunstsammlungen 13 (1892) 1�6–160; schuLtze, Viktor: Der Croy-Teppich der Königlichen Universität Greifswald. Greifswald 1896; ders.: Geschichts- und Kunstdenkmäler der Universität Greifswald. Zur 450jährigen Jubelfeier im Auftrage von Rektor und Senat herausgegeben. Greifswald 1906; WehrMann, Martin: Der Meister des Croy-Teppichs. In: Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde 2� (1910) 2�–26; bernheiM, Ernst: Das Testament des Herzogs Ernst Bogislav von Croy vom 3. Juni 1681. In: Pommersche Jahrbücher 11 (1910) 195–218; seMrau, Max: Der Croy-Teppich der Universität Greifswald. In: Unser Pommernland 15/1 (1930) 21–24; hofMeister, Adolf: Der Kampf um die Ostsee vom 9. bis 12. Jahrhundert. Rede gehalten bei der 26. Croy-Feier der Univ. Greifswald am 7. Juli 1930. Greifswald 1931; GöbeL Heinrich: Wandteppiche. Tl. 3: Die germanischen und slawischen Länder, Bd. 2: West-, Mittel-, Ostund Norddeutschland, England, Irland, Schweden, Norwegen, Dänemark, Russland, Polen, Litauen. Leipzig 1934; schuLtze, Victor: Neues vom Croyteppich. In: Monatsblätter der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde �8 (193�) 2�–25; bethe, Hellmuth: Die Bildnisse des pommerschen Herzogshauses. In: Baltische Studien N.F. 39 (1937) 71–99; ders.: Die Kunst am Hofe der pommerschen Herzöge. Berlin 1937; GräbKe, Hans Anton: Der Reformationsteppich der Universität Greifswald. Berlin 19�7; schuLz, Kurd: Zur 500-Jahrfeier der Ernst-Moritz-Arndt-Universität. Der Croy-Teppich wieder in Greifswald. In: Ostdeutsche Monatshefte. Kulturzeitschrift für den Osten 23/5 (1956/57) 279; schMidt, Roderich: Der Croy-Teppich der Universität Greifswald, ein Denkmal der

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Der Croy-Teppich Reformation in Pommern. In: rautenberG, Werner (Hg.): Johann Bugenhagen. Beiträge zu seinem �00. Todestag. Berlin 1958, 89–107 [ND: ders.: Fundatio et confirmatio universitatis. Von den Anfängen deutscher Universitäten. Goldbach 1998, 307–32�]; Gerhardt, Joachim: Der Croy-Teppich in Greifswald. In: Luther. Zeitschrift der Luthergesellschaft 29/2 (1958) 91–93; ziMMerMann, Heinrich: Der Kartonnier des Croy-Teppichs. In: Jahrbuch der Berliner Museen 1 (1959) 155–160; fafius, Zofia/GLińsKa, Maria/radacKi, Zbigniew: Mecenat artystyczny książąt Pomorza Zachodniego w XVI i XVII wieku [Das Kunstmäzenatentum der pommerschen Herzöge im 16. und 17. Jahrhundert]. In: Funkcja dzieła sztuki. Materiały Sesji Stowarzyszenia Historyków Sztuki, Szczecin, listopad 1970. Warszawa 1972, 135–18�; zasKe, Nikolaus: Der Greifswalder Croy-Teppich. Cranachs Beitrag zur Entwicklung des monumentalen Historien- und Gruppenbildes. In: Feist, Peter H./ULLMann, Ernst/ BrendLer, Gerhard (Hg.): Lucas Cranach. Künstler und Gesellschaft. Berlin 1973, 107–111; thüMMel, Hans Georg: Der Greifswalder Croy-Teppich und das Bekenntnisbild des 16. Jahrhunderts. In: Theologische Versuche 11 (1979) 187–21�; ZasKe, Nikolaus: Peter Heymanns Croy-Teppich 155�. In: fLüGeL, Katharina/KroLL, Renate: Kunst der Reformationszeit. Ausstellung im Alten Museum vom 26. August bis 13. November 1983. Staatliche Museen zu Berlin. Berlin 1983, 368; hannes, Hellmut: Der Croyteppich – Entstehung, Geschichte und Sinngehalt. In: Baltische Studien N.F. 70 (198�) �5–80; brassat, Wolfgang: Tapisserien und Politik. Funktionen, Kontexte und Rezeption eines repräsentativen Mediums. Berlin 1992; thüMMeL, Hans Georg: Der Greifswalder Croy-Teppich. In: Der Greifswalder Croy-Teppich. 27. Croy-Fest – 16. Oktober 1992. Greifswald 1992, 8–28; dahLenburG, Birgit: Kulturbesitz und Sammlungen der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. Rostock 1995; KochanoWsKa, Janina: Kultura artystyczna na dworze książąt szczecińskich w XVI wieku [Die künstlerische Kultur am Hof der pommerschen Herzöge im 16. Jahrhundert]. Szczecin 1996; schMidt, Roderich: Bildnisse pommerscher Herzöge des 15. bis 17. Jahrhunderts. In: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 34. 3 (1996) 1–33 [ND: ders., Das historische Pommern. Personen – Orte – Ereignisse. Köln/Weimar/ Wien 2007, 179–223]; schroeder, Horst-Diether: Der Croy-Teppich der Universität Greifswald und seine Geschichte. Greifswald 2000; dahLenburG, Birgit: Der Croy Tepppich der Ernst Moritz-ArndtUniversität Greifswald. Schwerin 2000; thüMMeL, Hans Georg: Der Greifswalder Croy-Teppich. In: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 38/3 (2000) 9–13; dahLenburG, Birgit: Herzlich willkommen zum Croy-Fest! Die Greifswalder Alma mater zeigt zum letzten Mal den Croy-Teppich in der Aula. In: Pommern. Zeitschrift für Kultur und Geschichte 38/3 (2000) 7; WisłocKi, Marcin: Wpływ Saksonii jako centrum reformacji luterańskiej na sztukę Pomorza XVI wieku [Der Einfluß Sachsens als Zentrum der lutherischen Reformation auf die Kunst Pommerns im 16. Jahrhundert]. In: LipińsKa, Aleksandra (Hg.): Centrum i peryferie. Materiały III. Ogólnopolskiej Studenckiej Sesji Naukowej. Wrocław 2003, 31–51; osten-sacKen, Peter von der: Die Gesetzestafeln auf dem Croy-Teppich in Greifswald. Ein Beitrag zur Geschichte der Ikonographie der Zehn Gebote. In: KrochMaLniK, Daniel/ SchuLtz, Magdalena (Hg.): Wie gut ist unser Anteil. Gedenkschrift für Yehuda T. Radday. Heidelberg 2004, 105–134; GöLLner, Dieter: Der Croy-Teppich hat endlich ein würdiges Domizil. Das neue Pommersche Landesmuseum in Greifswald. In: Kultur-Report. Vierteljahreshefte des Mitteldeutschen Kulturrats 43/44 (2005) 19; Müller, Matthias: Der Croy-Teppich als Sühnebild des pommerschen Herzogs Philipp I. In: ehLer, Melanie/Müller, Matthias (Hg.): Unter fürstlichem Regiment. Barth als Residenz der pommerschen Herzöge. Begleitbuch zur gleichnamigen Sonderausstellung (24. Juni – 25. September 2005) im Vineta-Museum Barth. Berlin 2005, 216–221; dahLenburG, Birgit: Der Croy-Teppich an der Ernst-Moritz-Arndt-Universität Greifswald. In: höLL, Rainer (Hg.): Wolgast. Festschrift 750 Jahre Stadt Wolgast 1257–2007. Geschichte und Geschichten aus unserer Stadt. Wolgast 2007, 39–�6; reinitzer, Heimo: Tapetum Concordiae – Peter Heymans Bildteppich für Philipp I. von Pommern und die Tradition der von Mose getragenen Kanzeln. Hamburg 2011; dahLenburG, Birgit: Kopia Gobelinu Croya – Kopie des Croy-Teppichs. In: MaKała, Rafał (Hg.): Złoty wiek Pomorza. Sztuka na dworze książąt pomorskich w XVI i XVII wieku – Das goldene Zeitalters Pommerns. Kunst am Hofe der pommerschen Herzöge im 16. und 17. Jahrhundert. Stettin 2013, 115–122.

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Die Kralitzer Bibel I. Zusammenfassung. – II. Die Kralitzer Bibel und die Brüder-Unität. – a) Die Entstehung der Kralitzer Bibel. – b) Die Kralitzer Bibel und Johann Amos Comenius. – III. Die Rezeption der Kralitzer Bibel. – a) Die Kralitzer Bibel im Exil und in der Zeit der nationalen Erneuerung. – b) Die Kralitzer Bibel bei den tschechischen Protestanten im 19. und 20. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Kralitzer Bibel ist die bedeutendste Bibelübersetzung des tschechischen Humanismus und die erste vollständige Übersetzung der Bibel ins Tschechische aus dem hebräischen und griechischen Urtext. Sie entstand in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts innerhalb der Brüder-Unität. Initiator des Übersetzungsprojekts war der humanistisch gebildete Brüderbischof Jan Blahoslav, der das Neue Testament übersetzte (im Druck erschienen 156� und 1568). Seine Arbeit wurde von einer Gruppe brüderischer Priester und Gelehrter fortgesetzt, die in den folgenden Jahren das Alte Testament übersetzten, Blahoslavs Übersetzung des Neuen Testaments revidierten und beides mit fortlaufenden kommentierenden Anmerkungen versahen. Die Übersetzung wurde zwischen 1579 und 1594 in sechs Bänden in der brüderischen Druckerei in Kralitz an der Oslawa gedruckt. Im Zeitalter der Rekatholisierung wurde die Kralitzer Bibel zu einem identitätsstiftenden Symbol des tschechischsprachigen Protestantismus, das die böhmischen und mährischen evangelischen Exulanten im Ausland, die Kryptoprotestanten im Mutterland und die slowakischen Protestanten miteinander verband. Im Kontext der „nationalen Wiedergeburt“ übte die Sprachgestalt der Kralitzer Bibel einen maßgeblichen Einfluß auf die tschechische Schriftsprache aus. Auch im 19. Jahrhundert trug die Kralitzer Bibel wesentlich zur konfessionellen Identität der tschechischsprachigen Protestanten bei. Im gottesdienstlichen Gebrauch bei den tschechischen und slowakischen Protestanten trat die Kralitzer Bibel im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts infolge der Veröffentlichung der tschechischen ökumenischen Bibelübersetzung (1961–1979) und der neuen slowakischen evangelischen Bibelübersetzung (1977) in den Hintergrund.

II. Die Kralitzer Bibel und die Brüder-Unität a) Die Entstehung der Kralitzer Bibel Der Entstehung der Kralitzer Bibel gingen frühere Übersetzungen biblischer Texte in die tschechische Volkssprache voraus, deren Anfänge bis in die zweite Hälfte des 13. Jahrhunderts zurückreichen. Zunächst entstanden Übersetzungen einzelner biblischer Bücher (Psalmen). Mit der Fertigstellung einer tschechischen Vollbibel in den 1350er Jah360

Die Kralitzer Bibel

ren lag erstmals eine vollständige Übersetzung der Bibel in eine vom Volk gesprochene slawische Sprache vor. Im 15. Jahrhundert führte der Hussitismus zu einem gesteigerten Interesse an biblischen Texten. Neben paraphrasierenden Bearbeitungen entstanden mehrere neue Übersetzungen. Seit den grundlegenden Forschungen Josef Dobrovsk�s werden vier Gruppen oder Redaktionen der handschriftlichen alttschechischen Bibelübersetzungen unterschieden. Aus der Tradition der auf dem lateinischen Vulgata-Text beruhenden mittelalterlichen und hussitischen Bibelübersetzungen gingen die gedruckten Bibelausgaben der tschechischen Utraquisten hervor, deren bekannteste 1549 in der Prager Druckerei des Bartoloměj Netolick� (später Jiří Melantrich von Aventin) erschien. Die in der Mitte des 15. Jahrhunderts entstandenen Böhmischen Brüder entwickelten das bereits im Hussitismus angelegte Schriftprinzip konsequent weiter und betrachteten das in der Heiligen Schrift geoffenbarte Wort Gottes als einzige Grundlage der Glaubenslehre. Bis in die 1520er Jahre waren die Brüder auf utraquistische Übersetzungen angewiesen. 1518 veröffentlichte der Arzt und Drucker Mikuláš Klaudyán, ein Anhänger der Brüder-Unität, in Jung-Bunzlau eine Übersetzung des Neuen Testaments, bei der es sich wohl um eine private Arbeit Klaudyáns handelte. Dagegen hatte die Übersetzung des Neuen Testaments, die der Brüderbischof Lukas von Prag 1525 in den Druck gab, kirchenamtlichen Charakter und war zum liturgischen Gebrauch bestimmt. Lukas von Prag stand dem humanistischen Grundsatz ad fontes und seiner Anwendung auf den Bibeltext distanziert gegenüber. In seiner Auseinandersetzung mit Martin Luther verwarf er sogar ausdrücklich das Studium des Griechischen und Hebräischen und trat für die Autorität des lateinischen Vulgatatextes ein. Diese konservative Haltung, die einer generellen Skepsis des Lukas von Prag gegenüber dem humanistischen Bildungsideal entsprang, führte dazu, daß sich in den folgenden Jahrzehnten der Unität die Frage einer Neuübersetzung der Bibel aus dem Urtext zunächst nicht stellte. Jedoch setzte nach dem Tod des Lukas von Prag ein engerer Kontakt zwischen den Brüdern und der Universität Wittenberg ein, der schließlich zu einem Wandel in der Haltung der Unität zur humanistischen Bildung führen sollte. Maßgeblich an diesem Prozeß beteiligt war Jan Blahoslav (seit 1557 Bischof der Unität), der von seinen Studien in Wittenberg, Königsberg und Basel als Anhänger des humanistischen Bildungsideals in dessen von Melanchthon geprägter protestantischer Ausformung zurückgekehrt war. Mit Zustimmung seiner Mitbischöfe erarbeitete Blahoslav eine neue Übersetzung des Neuen Testaments, die 156� und 1568 im mährischen Eibenschitz gedruckt wurde. Blahoslavs Übersetzung beruht auf einer zeitgenössischen griechisch-lateinischen Textausgabe und ist grundsätzlich am griechischen Text orientiert, ist aber gleichzeitig um Nähe zur tschechischen Übersetzungstradition bemüht. Blahoslavs Neues Testament ist der direkte Vorläufer der Kralitzer Bibel und nimmt deren charakteristische Sprachgestalt in morphologischer, orthographischer und stilistischer Hinsicht vorweg. Seine Überlegungen zur sprachlichen Form legte Blahoslav ausführlich in der 1571 verfaßten „Böhmischen Grammatik“ dar, die zugleich eine theoretische Vorarbeit für die noch anstehende Übersetzung des Alten Testaments darstellte. Mit der Wahl eines ästhetisch anspruchsvollen, hohen literarischen Stils setzte sich Bla361

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hoslav bewußt von Luthers volkstümlicher Ausdrucksweise ab. Dazu erklärte er: „Das Gesetz des Herrn [...] ist nicht dazu ins Tschechische übersetzt worden, damit es die Ochsentreiber allein für sich auf der Weide lesen [...], sondern vielmehr dazu, damit es in öffentlicher Versammlung gottesfürchtiger Leute allerlei Standes mit großem Ernst als Wille und Gebot des allerhöchsten Kaisers und Herrn aller Schöpfung gelesen werde und würdevoll in ihren Ohren klinge.“ Blahoslav starb 1571, bevor er an die Übersetzung des Alten Testaments gehen konnte. Nach ihm nahm sich sein Nachfolger im Eibenschitzer Bischofsamt, Ondřej Štefan, der Fortsetzung des Werks an. Unter seiner Leitung wurde eine Gruppe von brüderischen Priestern und Gelehrten gebildet. Ihre Aufgabe war nicht nur die Ausarbeitung einer vollständigen Bibelübersetzung, sondern auch eine eingehende Kommentierung des Textes, um den brüderischen Predigern, die bisher auf exegetische Hilfsmittel in fremden Sprachen angewiesen waren, eine Handreichung für die Auslegung zur Verfügung zu stellen. Die Arbeit an dem großen Vorhaben fand zunächst in Eibenschitz statt, wo bereits seit 1562 eine brüderische Druckerei bestand. 1578 wurden die Druckerei und die Arbeit der Übersetzergruppe aus Sicherheitsgründen ins nahe Kralitz an der Oslawa auf der Grundherrschaft Johanns des Älteren von Žerotín verlegt. Im folgenden Jahr erschien als erster Band der neuen Übersetzung eine Ausgabe des Pentateuch. Bis zum Erscheinen des letzten der sechs Bände, der revidierten Ausgabe von Blahoslavs Neuem Testament, sollten weitere fünfzehn Jahre vergehen. Nach dem Erscheinungsort wird die Übersetzung als Kralitzer Bibel bezeichnet. Die in 1.000 Exemplaren gedruckte Erstausgabe wird nach der Zahl der Bände die „Sechsteilige“ Kralitzer Bibel (Šestidílka) genannt. Laut Vorrede war das umfangreiche Bibelwerk in erster Linie zum Gebrauch des brüderischen Klerus bestimmt. Der praktische Zweck der Kralitzer Übersetzung spiegelt sich in der graphischen Gestaltung des Textes und der Beigaben wider. In der Mitte des Seitenspiegels ist mit größeren Lettern der biblische Text abgedruckt, wobei jedem Buch und jedem einzelnen Kapitel eine Inhaltsangabe vorangestellt ist. Rechts, links und unten sind dem Bibeltext die durch Trennlinien abgesetzten Anmerkungsapparate beigegeben. Diese enthalten sprachliche und philologische Anmerkungen und Varianten anderer Übersetzungen, Verweise zu Parallelstellen und eine auslegende Kommentierung im Sinn der zum Calvinismus tendierenden brüderischen Theologie des letzten Drittels des 16. Jahrhunderts. In einer Kolumne auf dem inneren Rand jeder Seite sind den einzelnen Perikopen homiletische Dispositionen beigegeben. Mit besonderer Sorgfalt kennzeichneten die Übersetzer diejenigen Wörter im Bibeltext, die keine direkte Entsprechung im hebräischen und griechischen Original haben, sondern um der Verständlichkeit willen ergänzt sind. Sie sind in der sechsteiligen Erstausgabe mit kleineren Lettern gesetzt, in späteren Ausgaben stehen sie in eckigen Klammern. Die sechsteilige Kralitzer Bibel ist auch der erste tschechische Bibeldruck, der die 1551 von Robertus Stephanus (Robert Estienne) eingeführte Verszählung enthält. Im Gegensatz zu den mit zahlreichen Holzschnitten ausgestatteten zeitgenössischen Ausgaben der Lutherbibel und der oben erwähnten utraquistischen Melantrich-Bibel sind brüderische Bibeldrucke grundsätzlich nicht illustriert, weisen aber sorgfältig gestaltete Initialen, Vignetten und 362

Die Kralitzer Bibel

andere Zierstücke mit Floral- und Tierornamentik auf. In technischer und ästhetischer Hinsicht stellt die Kralitzer Bibel zusammen mit den zeitgenössischen brüderischen Gesangbüchern die bemerkenswerteste Leistung des tschechischen Buchdrucks des 16. Jahrhunderts dar. Über den Verlauf der eigentlichen Übersetzungsarbeit liegen kaum Nachrichten vor. Auch die direkten Textvorlagen sind nur in wenigen Fällen angegeben. Als formales Vorbild ist vor allem die kommentierte und wie die sechsteilige Kralitzer Bibel in sechs Teilbänden erschienene lateinische Bibelausgabe der Heidelberger reformierten Theologen Immanuel Tremellius und Franciscus Junius des Älteren von 1576 bis 1579 zu nennen. Die Fülle der bei der Kommentierung zur Verfügung stehenden Literatur dokumentiert ein erhaltenes zeitgenössisches Verzeichnis der theologischen Bibliothek der Böhmischen Brüder in Kralitz. Unter den dort genannten 900 Titeln befinden sich an die 200 Bibelkommentare und andere exegetische Hilfsmittel. Die Namen der Kralitzer Übersetzer sind erstmals in dem 1652 postum erschienenen kirchengeschichtlichen Werk des Andrzej Węgierski (Pseudonym Adrianus Regenvolscius) genannt. Neben brüderischen Priestern, die auf Akademien und Universitäten im Ausland (Wittenberg, Heidelberg, Tübingen, Zürich, Genf) studiert hatten, waren an der Übersetzergruppe auch zwei Hebraisten beteiligt, die keine Brüderpriester waren, zum einen der zu den Böhmischen Brüdern konvertierte Jude Lukas Helitz (Lukáš Helic) aus Posen und zum anderen der Schlesier Nikolaus Albert von Kamenek (Mikuláš Albert z Kaménka), der nach der Gewährung des Majestätsbriefs Rudolfs II. (1609) als erster ordentlicher Professor der hebräischen Sprache an die Prager Karlsuniversität berufen wurde. b) Die Kralitzer Bibel und Johann Amos Comenius Die kommentierte Ausgabe der Kralitzer Bibel war ursprünglich nicht für den freien Verkauf bestimmt, sondern wurde von den Bischöfen der Unität an den brüderischen Klerus ausgegeben. Die Leitung der Unität entschied jedoch schon bald, für die Bedürfnisse einer weiteren Leserschaft eine weniger aufwendige einbändige Vollbibel ohne Anmerkungen sowie ein Neues Testament drucken zu lassen. Beide Ausgaben erschienen 1596. Fünf Jahre später folgte eine revidierte Ausgabe des Neuen Testaments mit den Anmerkungen, 1613 eine großformatige einbändige Vollbibel mit revidiertem Text. Diese Ausgaben waren vor allem für Laien bestimmt und traten in Konkurrenz zur verbreiteten Melantrich-Bibel (letzte Nachdrucke 1577 und 1613). Auskunft über die zeitgenössischen Leser der Kralitzer Bibel geben die Besitzereinträge und die Einbände erhaltener Exemplare, die zugleich bemerkenswerte kulturgeschichtliche Zeugnisse darstellen. So läßt sich ein besonderes Interesse des brüderischen Adels und wohlhabender Bürger an der sechsteiligen Erstausgabe beobachten, wobei der Besitz des kostspieligen Bibelwerks offenbar auch mit dem Repräsentationsbedürfnis der Oberschicht verbunden war. Aufwendige zeitgenössische Einbände weisen häufig Vergoldung und Supralibros mit Wappen auf. In Exemplaren aus dem Besitz brüderi363

Jiří Just

scher Priester finden sich häufig handschriftliche Marginalien, die von der intensiven Arbeit mit den Texten zeugen. Gelegentlich sind auf leeren Seiten autobiographische Notizen der Besitzer oder Familienchroniken über mehrere Generationen eingetragen. Innerhalb der Brüder-Unität wurde die Kralitzer Bibel für die gottesdienstlichen Lesungen benutzt. In einigen brüderischen Bethäusern (sbory) wurden Bibeltexte im Wortlaut der Kralitzer Übersetzung als Wandschmuck verwendet, so in der Sankt Martinskirche in Kralitz und im ehemaligen Brüderbethaus in Jung-Bunzlau. Auch über die konfessionellen Grenzen der Brüder-Unität hinaus diente die Kralitzer Bibel in Böhmen und Mähren der privaten Bibellektüre und der häuslichen Frömmigkeit. Im Jahr 1613 erschien die letzte Revision der Kralitzer Übersetzung. Diese Ausgabe galt in den folgenden Jahrhunderten als Höhepunkt der Bibelphilologie der Böhmischen Brüder und als normative Textgestalt. Dagegen blieben andere Projekte der Kralitzer Bibelgelehrten ohne die erhoffte Wirkung. So war bereits 1594 eine umfangreiche Wortkonkordanz zur Kralizer Bibel begonnen worden, die jedoch mangels finanzieller Mittel nicht gedruckt werden konnte. An ihr wurde noch 1632 gearbeitet, das fertige Manuskript ging jedoch 1656 bei einem Brand in Lissa, dem Zentrum des polnischen Zweigs der Unität, verloren. Auch ein 1618 beschlossener Nachdruck der vollständigen sechsteiligen kommentierten Ausgabe mußte nach Ausbruch des Dreißigjährigen Krieges unterbleiben. Nach der Niederlage der protestantischen böhmischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (1620) und infolge der bald darauf in Böhmen und Mähren einsetzenden habsburgischen Rekatholisierungspolitik konnte sich die Brüder-Unität nur im polnischen Exil weiterhin als eigenständige Kirche behaupten. Dort wurde 1635 der Beschluß gefaßt, die vollständige kommentierte Ausgabe der Kralitzer Bibel neu aufzulegen. Auch dieses Vorhaben konnte jedoch nicht realisiert werden. Mit dem Westfälischen Frieden (16�8) wurden die Ergebnisse des Dreißigjährigen Krieges dauerhaft festgeschrieben. Damit war die Hoffnung auf eine politische Wende zugunsten des Protestantismus in Böhmen und Mähren endgültig verloren. Unter dem Eindruck dieser politischen Entwicklungen verfaßte Johann Amos Comenius, seit 1632 Bischof der Brüder-Unität im Exil, im Jahr 1650 seine Schrift „Testament der sterbenden Mutter Brüder-Unität“ (Kšaft umírající matky Jednoty bratrské), in der die Kralitzer Bibel symbolisch als Vermächtnis der Brüder-Unität an das tschechische Volk bezeichnet wird. Damit trug Comenius dazu bei, daß das ursprünglich für den Gebrauch des brüderischen Klerus bestimmte Bibelwerk in späteren Generationen zunehmend als kollektives kulturelles Erbe und Symbol der nationalen Identität der Tschechen galt. Comenius verfaßte darüber hinaus eine stark gekürzte freie Bearbeitung des Kralitzer Bibeltextes, das „Handbüchlein oder Kern der ganzen Heiligen Schrift“ (Manualník aneb Jádro celé biblí svaté), dessen Textauswahl und Umfang darauf ausgerichtet waren, brüderischen Laien im Exil als Handbuch zu dienen, das aber auch als Schulbuch und für den theologischen Anfangsunterricht geeignet war. Das 1623 abgeschlossene Manuskript ging 1656 in Lissa in den Druck, die Auflage verbrannte aber noch vor der Fertigstellung. Erst zwei Jahre später konnte das „Handbüchlein“ in Amsterdam erscheinen. 364

Die Kralitzer Bibel

III. Die Rezeption der Kralitzer Bibel a) Die Kralitzer Bibel im Exil und in der Zeit der nationalen Erneuerung Die Rekatholisierung Böhmens und Mährens setzte nach der Niederlage des Ständeheeres 1620 ein und wurde nach dem Ende des Dreißigjährigen Krieges noch weiter intensiviert. Ein besonderes Anliegen der katholischen Missionare war die Unterdrückung des nichtkatholischen Schrifttums. Insbesondere im 18. Jahrhundert wurde anhand spezieller Indices tschechischer nichtkatholischer Werke (Clavis, 1729, 17�9; Index, 1770) systematisch nach „ketzerischen“ Büchern gefahndet. In die Kategorie der zu „korrigierenden“ Druckwerke – diese durften ihren Besitzern zurückgegeben werden, nachdem die beanstandeten Passagen entfernt oder geschwärzt worden waren – gehörte beispielsweise die Melantrich-Bibel. Dagegen fielen brüderische Drucke, und damit auch die Kralitzer Bibel, grundsätzlich in die Kategorie der zu vernichtenden Schriften. Trotz des erheblichen Ausmaßes der Zerstörung des brüderischen Schrifttums in der seit dem 19. Jahrhundert als „Finsternis“ (temno) bezeichneten Epoche der Rekatholisierung blieben zahlreiche Exemplare der Kralitzer Bibel erhalten, nicht zuletzt in den Bibliotheken katholischer kirchlicher Institutionen, in denen Belegexemplare „ketzerischer“ Bücher zu Studienzwecken gesammelt wurden. Unter den heute noch vorhandenen brüderischen Drucken stehen Exemplare der Kralitzer Bibel zahlenmäßig an erster Stelle. Trotz der systematischen Konfiskation und Vernichtung von Exemplaren der Kralitzer Bibel erfuhr ihr Text in sprachlicher Hinsicht auch auf katholischer Seite Wertschätzung. Als in den 1670er Jahren jesuitische Gelehrte mit der Ausarbeitung einer katholischen Bibelübersetzung auf der Grundlage der offiziellen Editio Sixto-Clementina der Vulgata begannen, der sogenannten Sankt Wenzels-Bibel (erschienen zwischen 1677 und 1715), nahmen sie die Kralitzer Übersetzung neben der Melantrich-Bibel in lexikalischer Hinsicht zum Vorbild. Die Kralitzer Bibel wurde in der Epoche der Rekatholisierung zu einem wichtigen Bindeglied zwischen den tschechischen Exulanten im protestantischen Ausland und den in Böhmen und Mähren fortbestehenden kryptoprotestantischen Kreisen. Während die Rezeption der auf dem Vulgatatext beruhenden Melantrich-Bibel bei den tschechischsprachigen Exulanten bald in den Hintergrund trat, begann mit dem 18. Jahrhundert eine neue Phase der Rezeption der – den protestantischen Erwartungen entsprechend aus den Ursprachen übersetzten – Kralitzer Bibel. Adressaten der in hohen Auflagenzahlen gedruckten Vollbibeln und Neuen Testamente waren neben den tschechischsprachigen Exulanten (die sich teilweise den lutherischen oder reformierten Landeskirchen ihrer Gastländer angeschlossen hatten, teilweise an der Confessio Bohemica von 1575/1609 oder an den Traditionen der Brüder-Unität festhielten) die slowakischen Lutheraner in Oberungarn. Bei diesen war die Kralitzer Bibel bereits seit dem frühen 17. Jahrhundert in Gebrauch, sie pflegten die archaisierende Schriftsprache der Kralitzer Bibel als liturgische Sprache und als konfessionsspezifische Sprachform des evangelischen Schrifttums (die sogenannte bibličtina). Ein Teil der Auflagen wurde ferner von Bibelkolporteuren 365

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aus verschiedenen Reichsterritorien nach Böhmen und Mähren zu den dort verbliebenen Kryptoprotestanten geschmuggelt, die zunehmend unter den Einfluß der von Deutschland ausgehenden pietistischen Frömmigkeitskultur gerieten. Zentrum der fremdsprachigen Publizistik des lutherischen Pietismus war Halle, das zahlreiche Studenten aus Oberungarn anzog und wo im Kreis um den Theologieprofessor August Hermann Francke auch die Werke von Comenius besondere Wertschätzung erfuhren. Dort erschien 1709 ein Nachdruck des Kralitzer Neuen Testaments, an dessen Herausgabe der spätere Rektor des Preßburger Evangelischen Lyzeums, Matthias Bél, der ebenfalls aus Oberungarn stammende spätere Teschener Rektor Johann Kogler und der Dresdner böhmische Prediger Franz Rühr beteiligt waren. Eine weitere Ausgabe des Kralitzer Neuen Testaments mit einer Vorrede über die Geschichte der tschechischen Bibelübersetzungen gab 1720 der böhmische Exulant Václav Klejch in Zittau heraus. An Klejchs Ausgabe war ebenfalls ein slowakischer Lutheraner, der oberungarische Superintendent Daniel Krman, beteiligt. 1722 wurde in Halle eine Kralitzer Vollbibel in 5.000 Exemplaren gedruckt. 1730 erschien eine weitere Ausgabe des Neuen Testaments auf Initiative von Jan Liberda, Pastor der böhmischen Exulantengemeinde in Großhennersdorf in der Oberlausitz. Daß es sich bei den Ausgaben des 18. Jahrhunderts nicht bloß um mechanische Nachdrucke des Kralitzer Texts von 1613 handelte, wird besonders an der in Halle 1766 von Johann Gottlieb Elsner, Prediger der böhmisch-reformierten Gemeinde in Berlin, herausgegebenen Vollbibel deutlich, deren Text in Anlehnung an die deutsche Lutherbibel revidiert ist. Elsner verfaßte überdies einen gelehrten „Versuch einer böhmischen Bibelgeschichte“ (1765). Ein Nachdruck der Ausgabe Elsners für den Bedarf der slowakischen Lutheraner erschien 1787 in Preßburg, betreut von Michal Semian, Pfarrer in Pezinok. Die im 18. Jahrhundert publizierten Nachdrucke der Kralitzer Bibel übten, trotz der Mängel einiger Ausgaben, einen großen Einfluß auf die Entstehung der modernen tschechischen Schriftsprache aus. Der tschechischen Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts diente die Sprachgestalt der brüderischen Bibelübersetzung und der Melantrich-Bibel als Vorbild für die Sprachreform. In der Slowakei gab es vergleichbare Bestrebungen, die „Bibelsprache“ (bibličtina) zur Grundlage der Schriftsprache zu machen; sie waren jedoch ohne Erfolg. Bei den slowakischen Protestanten blieb die Kralitzer Bibel bis ins 20. Jahrhundert im Gottesdienst und in der privaten Frömmigkeit in Gebrauch. Als ein Tschechen und Slowaken verbindendes Erbe spielte sie eine nicht unwichtige Rolle bei der Konstruktion einer gemeinsamen, tschechoslowakischen kulturellen und politischen Identität. b) Die Kralitzer Bibel bei den tschechischen Protestanten im 19. und 20. Jahrhundert Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts, als die Spannungen zwischen den miteinander konkurrierenden Nationalbewegungen innerhalb des Habsburgerreiches immer deutlicher zutage traten, stand die Beschäftigung mit der brüderischen Literatur aus der Zeit vor 366

Die Kralitzer Bibel

1620 zunehmend unter einem nationalistischen Vorzeichen. Die Kralitzer Bibel galt als nationales Vermächtnis, die Alte Brüder-Unität wurde als Manifestation einer spezifisch tschechischen Spiritualität und Kultur interpretiert. Zunächst hatte die Erinnerung an die Tradition der Böhmischen Brüder, die im volkstümlichen Kryptoprotestantismus noch nachgewirkt hatte, in den evangelischen Kirchen Augsburgischen und Helvetischen Bekenntnisses, die nach der Toleranzgesetzgebung Josephs II. (1781) in Böhmen und Mähren entstanden waren, keine besondere Rolle gespielt, zumal die Toleranzgemeinden in den ersten Jahrzehnten hauptsächlich von lutherischen und reformierten Geistlichen oberungarischer Herkunft geprägt wurden. Dies änderte sich jedoch nach 1850, als unter dem Einfluß der liberalen Theologie und der Erweckungsbewegung die lutherischreformierten Konfessionsunterschiede in den Hintergrund traten. Für die tschechischen Protestanten beider Konfessionen, in deren Frömmigkeit und liturgischer Praxis die Kralitzer Bibel gleichermaßen verankert war, wurde die Tradition der Brüder-Unität zum historischen Bezugspunkt für die Ausbildung einer gemeinsamen religiösen und nationalen Identität. Im Revolutionsjahr 18�8 wurde die Forderung erhoben, das historische Bekenntnis der Brüder-Unität als gemeinsame Bekenntnisschrift anzunehmen. 1863 gab Josef Růžička, Prediger der deutschen evangelischen Gemeinde in Prag, anläßlich der Tausendjahrfeier der Bekehrung der Slawen durch die Slawenapostel Kyrill und Method eine Vollbibel nach der Kralitzer Übersetzung als „Jubiläumsbibel“ heraus. In der Vorrede hob Růžička hervor, er lege die Kralitzer Bibel als die Standardübersetzung der tschechischen und slowakischen Protestanten „auf den Altar der Kirche und der Nation, auf den Tisch aller Familien in Böhmen, Mähren und der Slowakei, die ihr Seelenheil in der evangelischen Kirche suchen“. 1875 gab der Prager reformierte Pfarrer Ludvík Bohumil Kašpar einen Nachdruck des Kralitzer Neuen Testaments von 1601 heraus, in dem nicht nur der eigentliche Bibeltext, sondern erstmals auch der umfangreiche Anmerkungsapparat wiedergegeben wurde. In den Freikirchen, die seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts tschechischsprachige Gemeinden in Böhmen und Mähren und unter den tschechischen Minderheiten in Polen und Südosteuropa gründeten, galt die Kralitzer Bibel ebenfalls als Standardübersetzung. Eine direkte Kontinuität zur historischen Brüder-Unität beanspruchte die Herrnhuter Brüdergemeine (Obnovená Jednota Bratrská). Auch die aus der Erwekkungsbewegung hervorgegangene Freie Reformierte Kirche (heute „Brüderkirche“, Církev bratrská) leitete ihre konfessionelle Identität von der Tradition der Böhmischen Brüder her. Ihr Prediger Josef Kostomlatsk� edierte 1885 in Tabor als Handkommentar für Prediger und Bibelleser den Anmerkungsapparat der sechsteiligen Kralitzer Bibel zu allen Büchern des Alten Testaments. Als Arbeitszweig der frei-reformierten Gemeinden entstand die „Tschechische Bibelarbeit“ (Česká biblická práce) in Kuttenberg, die zeitweilig an die Stelle der Tschechischen Bibelgesellschaft trat, die während der deutschen Besatzung Böhmens und Mährens im Zweiten Weltkrieg verboten war. Die Bibelgesellschaft gab 1940/41 die Kralitzer Bibel im ursprünglichen, von den redaktionellen Eingriffen des 18. und 19. Jahrhunderts gereinigten Wortlaut von 1579 bis 1593 heraus, die auch einen Teil der kommentierenden Beigaben der sechsteiligen Erstausgabe ent367

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Anfang des Buches Exodus im ersten Band (1579) der sechsteiligen Kralitzer Bibel; unter der Überschrift die Inhaltsangabe des ganzen Buches Exodus, dann die Inhaltsangabe des Kapitels Exodus 1 und der Anfang des Bibeltextes mit der Zierinitiale „T“; am äußeren Rand kommentierende Anmerkungen zum Text, am inneren Rand homiletische Dispositionen und Verweise auf Parallelstellen. Das Exemplar weist als Supralibros das Monogramm I-CH-F auf. Der Vorbesitzer ist wahrscheinlich mit dem Brüderpriester Jan Chodníček Fulneck� zu identifizieren, der 1650 von Johann Amos Comenius zum Senior der Unitätsgemeinden im Exil ordiniert wurde. Von ihm stammen vermutlich auch die zahlreichen handschriftlichen Marginalien, die von intensiver Arbeit mit dem Text zeugen. Bildnachweis: Biblj České Djl prwnj Totiž, Patery Knihy Mogžjssowy [Der böhmischen Bibel erster Band, nämlich Fünf Bücher Mose]. Ivančice (Druckerei der Böhmischen Brüder) 1579, Bl. 80a. Exemplar: Franckesche Stiftungen Halle – Studienzentrum August Hermann Francke, Archiv und Bibliothek, Sign. Canst: 2023-1 (Bild: Franckesche Stiftungen Halle).

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hielt und die als der philologisch zuverlässigste der bis dahin erschienenen Neudrucke gelten kann. Ausschlaggebend für die freikirchliche Inanspruchnahme der theologischen Tradition der Brüder-Unität und die Neuedition ausgewählter Schriften der historischen Brüder-Unität waren jedoch nicht wissenschaftliche Interessen, sondern in erster Linie missionarische Absichten und der Kampf gegen den theologischen Liberalismus, zu dem ein großer Teil des tschechischen Protestantismus tendierte. Seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert wurde unter den tschechischen Protestanten das Problem diskutiert, daß der erhebliche Abstand zwischen der archaischen Sprachform der Kralitzer Bibel und der modernen tschechischen Alltagssprache für viele Leser das Textverständnis erschwerte. Der reformierte Pfarrer Jan Karafiát hatte bereits in den 1880er Jahren eine modernisierende Revision der Kralitzer Bibel vorbereitet. Aus Ehrfurcht gegenüber dem überlieferten Text setzte Karafiát in seinen Druckausgaben jedoch nur einen Teil seiner Änderungsvorschläge um. Karafiáts zurückhaltend revidierte Textfassung wurde später von der Britischen Bibelgesellschaft und der als Tochtergründung entstandenen Tschechischen Bibelgesellschaft in großen Auflagen zu Missionszwecken nachgedruckt. Ein letzter Versuch einer modernisierenden Revision des Kralitzer Textes ging in den 1980er Jahren von der Evangelischen Comenius-Fakultät in Prag aus. Das Projekt wurde jedoch abgebrochen, nachdem lediglich einige alttestamentliche Bücher als Probeausgaben erschienen waren. Im Verlauf des 20. Jahrhunderts wurden mehrere Neuübersetzungen der Bibel ins Tschechische veröffentlicht. Dennoch behauptete sich die Kralitzer Bibel im gottesdienstlichen Gebrauch der protestantischen Kirchen, bis diese in den 1970er und 1980er Jahren die Tschechische Ökumenische Übersetzung als Standardübersetzung für die liturgischen Lesungen einführten. Auf die Kralitzer Übersetzung wird jedoch weiterhin gern als alternative Textfassung zurückgegriffen. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert setzte die moderne wissenschaftliche Erforschung der Kralitzer Bibel von theologischer, philologischer und bohemistischer Seite ein. Besonders hervorzuheben sind die Arbeiten des Philologen Jaroslav Konopásek aus den 1930er Jahren, der durch minutiöse textkritische Analysen die Abhängigkeit der Kralitzer Übersetzer von der zeitgenössischen protestantischen Bibelphilologie der Nachbarländer nachwies. Damit trug er maßgeblich zur Revision des Mythos von der Einzigartigkeit und dem spezifisch nationalen Charakter der Kralitzer Bibel bei. Konopásek gab 1931 auch ein Faksimile der 1568 gedruckten Übersetzung des Neuen Testaments von Jan Blahoslav heraus. Der Ausgabe sollte ein Faksimile der sechsteiligen Kralitzer Bibel folgen, dessen Druck aber angesichts der Weltwirtschaftskrise aus finanziellen Gründen unterbleiben mußte. Erst 1997 erschien als Gemeinschaftsleistung deutscher und tschechischer Slawisten ein vollständiges Faksimile der sechsbändigen Erstausgabe, dem ein Sammelband mit Studien zu Entstehung und Sprache der Kralitzer Bibel beigegeben ist. Im 20. Jahrhundert wandte sich das Interesse auch der mährischen Ortschaft Kralitz als dem Entstehungsort der Kralitzer Bibel zu. 1936 wurde dort ein Denkmal für die Kralitzer Bibel eingerichtet, das im „Guinness-Buch der Rekorde“ als das erste Denkmal der Welt verzeichnet ist, das einem einzigen Buch gewidmet ist. Am Ort des Kralitzer 369

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Schlosses, wo sich einst die brüderische Druckerei befand, fanden seit 1956 archäologische Untersuchungen statt, bei denen überraschenderweise eine große Menge des ursprünglichen Letternmaterials geborgen werden konnte. Als Ergebnis dieser Forschungen wurde 1967 bis 1969 das Museum der Kralitzer Bibel (Památník Bible kralické) errichtet, durch das die Entstehung und Geschichte der Kralitzer Bibel einer breiteren Öffentlichkeit nahegebracht wird. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen KoMensKý, Jan Amos: Manualník aneb Jádro celé biblí svaté [Handbüchlein oder Kern der ganzen Heiligen Schrift]. Hg. v. Jindřich hrozný. Brno 1926; Blahoslavův Nov� zákon z roku 1568 [Das Neue Testament des Jan Blahoslav von 1568]. Hg. v. Jaroslav KonopáseK. Praha 1931; bohatcová, Mirjam (Hg.): Bratrská knihovna kralická [Die Kralitzer Brüderbibliothek]. In: Slavia 39 (1970) 591–610; Biblí svatá podle původního vydání kralického z let 1579–1593 [Die Heilige Schrift nach der ursprünglichen Kralitzer Ausgabe von 1579–1593]. Hg. v. Pavel Josef chrásKa u. a. Kutná Hora 1949; Kralitzer Bibel. Kralická bible, Bd. 1–6: Facsimile. Bd. 7: Kommentare. Hg. v. Hans rothe u. a. Paderborn u. a. 1995.

b) Darstellungen šMaha, Josef: Kralická bible, vliv a důležitost její v literatuře české [Die Kralitzer Bibel, ihr Einfluß und ihre Bedeutung in der böhmischen Literatur]. In: Časopis Musea Království českého 52 (1878) 252–266, 361–380, �81–�99; KonopáseK, Jaroslav: Řeckolatinská předloha Blahoslavova Nového zákona. Prolegomena textové kritiky kralického textu Nového Zákona [Die griechisch-lateinische Vorlage des Neuen Testaments des Jan Blahoslav. Prolegomena zur Textkritik des Kralitzer Neuen Testaments]. Praha 1932; součeK, Josef Bohumil: Theologie v�kladů kralické šestidílky [Die Theologie der Anmerkungen der sechsteiligen Kralitzer Bibel]. In: Věstník Královské české společnosti nauk. Třída filosoficko-historická. Ročník 1932. Praha 1933, Nr. �; daňKová, Mirjam: Bratrské tisky ivančické a kralické (156�–1619) [Brüderdrucke aus Eibenschitz und Kralitz (156�–1619)]. Praha 1951; Winter, Eduard: Die tschechische und slowakische Emigration in Deutschland im 17. und 18. Jahrhundert. Beiträge zur Geschichte der hussitischen Tradition. Berlin 1955; Merell, Jan: Bible v česk�ch zemích od nejstarších dob do současnosti [Die Bibel in den böhmischen Ländern von der ältesten Zeit bis zur Gegenwart]. Praha 1956; fiaLová, Vlasta (Hg.): Kralice [Kralitz]. Brno 1959; rösel, Hubert: Die tschechischen Drucke der hallenser Pietisten. Würzburg 1961; auty, Robert: The Bible in East-Central Europe. In: GreensLade, Stanley L. (Hg): The Cambridge History of the Bible, Bd. 3. Cambridge 1963, 129–135; součeK, Bohuslav: Česká apokalypsa v husitství. Z dějin textu Zjevení Janova – od Konstantina ke Komenskému [Die tschechischen Übersetzungen der Apokalypse in der Hussitenzeit. Aus der Geschichte des Textes der Johannes-Offenbarung – von Kyrill bis Comenius]. Praha 1967; MáneK, Jindřich: Die Bibel in den böhmischen Ländern. In: fiLipi, Pavel u. a. (Hg.): Tschechischer Ökumenismus. Historische Entwicklung. Praha 1977, 257–328; bohatcová, Mirjam: Die Kralitzer Bibel (1579–159�) – die Bibel der böhmischen Reformation. In: Gutenberg-Jahrbuch 67 (1992) 238–253; petrů, Eduard: Kralická bible [Kralitzer Bibel]. In: forst, Vladimír u. a. (Hg.): Lexikon české literatury. Osobnosti, díla, instituce, Bd. 2/2. Praha 1993, 917–918; pavLincová, Helena/papoušeK, Dalibor (Hg.): The Bible in cultural context. Brno 1994; Kyas, Vladimír: Česká bible v dějinách národního pí-

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Die Kralitzer Bibel semnictví [Die tschechische Bibel in der nationalen Literaturgeschichte]. Praha 1997; nešpor, Zdeněk R.: Bible česk�ch exulantů a tajn�ch nekatolíků v 18. století [Die Bibel der böhmischen Exulanten und der Geheimprotestanten im 18. Jahrhundert]. In: Religio. Revue pro religionistiku 13 (2005) 231–258; MitáčeK, Jiří (Hg.): Kralice nad Oslavou [Kralitz an der Oslawa]. Kralice nad Oslavou 2010; dittMann, Robert: Dynamika textu Kralické bible v české překladatelské tradici [Die Textdynamik der Kralitzer Bibel in der böhmischen Übersetzungstradition]. Olomouc 2012.

Jiří Just (Aus dem Tschechischen von Martin Rothkegel)

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Die Bibel von Vizsoly I. Zusammenfassung. – II. Entstehungsgeschichte der Bibelübersetzung. – III. Rezeption und Verehrung. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die erste vollständige Bibelübersetzung in ungarischer Sprache erschien 1590 in der nordostungarischen Ortschaft Vizsoly. Sie war das Werk des reformierten Geistlichen Gáspár Károlyi und mehrerer, namentlich nicht bekannter Helfer. Die später mehrfach überarbeitete Übersetzung wurde zur Textgrundlage der Bibel der ungarischen Protestanten. Rechnet man die verschiedenen Varianten des Textes zusammen, ist sie das am häufigsten und in der größten Auflage verlegte Buch in ungarischer Sprache. Die letzte verbesserte Ausgabe erschien im Jahr 1908 – sie ist, neben einer Reihe anderer Übersetzungen, bis heute im kirchlichen Gebrauch. Die Bibel von Vizsoly ist darüber hinaus eines der bedeutendsten ungarischen Sprachdenkmäler, das neue Impulse für die Entwicklung sowohl der Volks- als auch der literarischen Sprache gab. II. Entstehungsgeschichte der Bibelübersetzung Gáspár Károlyi – auf dem Titelblatt der Bibel später Károli – wurde um 1530 in Großkarol geboren. Seine Familie gehörte der ländlichen Bürgerschicht an. Die Mittelschule besuchte er höchstwahrscheinlich ab 1549 im siebenbürgischen Kronstadt. Seine Studien setzte er 1556 an der Universität Wittenberg fort. Spätestens 1562 kehrte Károlyi in seine Heimat zurück und übernahm ein Jahr später in der nordostungarischen Stadt Gönc die seelsorgerische Betreuung der Gläubigen. Nachdem sich die Protestanten auch in Nordostungarn in zwei Lager aufgespalten hatten, orientierte sich Károlyi zu den Calvinisten. Er nahm an der Konstituierung der reformierten Kirchenorganisation teil und wurde Senior des unabhängigen Kirchenbezirks Kassavölgy mit den Rechten eines Superintendenten. Mit Erfolg ging er gegen die sich in Nordostungarn verbreitende radikale Reformation, den Antitrinitarismus, vor. 1563 veröffentlichte er in Debrecen auf Ungarisch eine in Form einer Predigt verfaßte Geschichtsbetrachtung, die stark von den einschlägigen Vorträgen Philipp Melanchthons zu diesem Thema beeinflußt war. Seit 158� bekleidete Károlyi das Amt des Stadtpfarrers in Tállya, kehrte aber im Frühjahr 1587 nach Gönc zurück, wo er nach der Übersetzung und dem Druck der Bibel Ende 1591 starb. Aus dem Mittelalter blieb keine vollständige Bibelübersetzung in ungarischer Sprache erhalten. Mit der Verbreitung der Reformation wurden zwar Teile der Bibel neu übersetzt, doch stellte sich kein Theologe der großen Herausforderung einer vollständigen Übersetzung. Gáspár Károlyi und seine Helfer waren um 1570 die ersten, die eine 372

Die Bibel von Vizsoly

solche Arbeit in Angriff nahmen. Sie zogen die von reformierten Theologen in Genf und Heidelberg verlegten lateinischen Bibeln beziehungsweise Textfassungen von Robert Estiènne, Franciscus Junius, Immanuel Tremellius und Théodore de Bèze sowie den Kommentar zum Buch des Propheten Samuel von Peter Martyr Vermigli heran. Randbemerkungen und Parallelverweise in der Bibel von Vizsoly entstanden auf der Basis der Kommentare der Schweizer Theologen. Károlyi war bemüht, vor jedes Kapitel eine inhaltliche Zusammenfassung zu stellen. Seine Übersetzung enthielt auch die von den Protestanten nicht kanonisierten apokryphen Schriften des Alten Testaments. Nach der Übersetzungsarbeit begann Károlyi 1586, den Text zu redigieren und für den Satz vorzubereiten. Von seinem Manuskript blieben zwei Blätter erhalten, an denen sich der Arbeitsablauf und das Druckverfahren gut nachvollziehen lassen. Über die Ausführung des Druckes waren zunächst mit weiter entfernt gelegenen Druckereien Verhandlungen geführt worden. Man verständigte sich schließlich darauf, daß eine geeignete Druckerei nach Gönc geholt werden müsse. Die Druckerei von Bálint Mantskovit zog 1588 aus dem westlichen Teil Ungarns in das Dorf Vizsoly in der Nähe von Gönc. Die finanziellen Mittel hierfür stellten anfänglich zwei Adelige zur Verfügung, Gáspár Mágocsy und sein Neffe András. Nach dem Tod dieser Mäzene 1586 beziehungsweise 1587 übernahm Sigismund Rákóczi, der ihren Besitz geerbt hatte, diese Aufgabe und stellte der Druckerei in Vizsoly ein leer stehendes Gebäude zur Verfügung. Man erweiterte die Ausstattung und die Gerätschaften der Offizin, so daß im Februar 1589 vier Pressen mit dem Druck der Bibel beginnen konnten. Nach anderthalb Jahren, im Juli 1590, lag der Gesamttext vollständig im Druck vor. Die Größe des Druckes zeigt, daß er in erster Linie für den kirchlichen Gebrauch gedacht war. Die Namen der Übersetzer wurden auf dem Titelblatt nicht genannt; nur beiläufig erwähnte Gáspár Károlyi in der Einleitung seine namenlosen Helfer. Die Auflage des Erstdrucks ist nicht bekannt; es sind rund 60 Exemplare überliefert, die heute in verschiedenen Bibliotheken und Privatsammlungen liegen. Károlyi und seine Helfer versuchten bei der Übersetzung so nah wie möglich am Ursprungstext zu bleiben, so daß sich in der ungarischen Ausgabe zahlreiche hebräische, griechische und lateinische Begriffe und Formulierungen wiederfinden. Dennoch hatte die Sprache der Bibelübersetzung von Vizsoly große Auswirkungen auf die weitere Entwicklung der ungarischen Sprache. So stammen nicht nur zahlreiche Ausdrücke und Redewendungen biblischen Ursprungs in der ungarischen Volkssprache aus der Bibel von Vizsoly. Károlyi und seine Mitarbeiter waren auch die ersten, die die orthographischen Richtlinien, die der protestantische Autor, Übersetzer und Drucker Gáspár Heltai Mitte des 16. Jahrhunderts erarbeitet hatte, konsequent anwandten – von der Akzentverwendung bei den Vokalen bis hin zur Anwendung von Doppelkonsonanten. Dieses Regelwerk wurde aufgrund des Einflusses, den die Bibel von Vizsoly gewann, später auch von katholischen Übersetzern der Bibel übernommen, so daß sich die ungarische Orthographie in der Folge weitgehend einheitlich zu entwickeln vermochte. Die Sprache der Bibel von Vizsoly hatte zudem erheblichen Einfluß auf die Ausformung der Literatursprache und die Entwicklung des Nationalbewußtseins in Ungarn. So benutzte der Dichter Ferenc Kölcsey beispielsweise 1823 bei der Abfassung der ungari373

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schen Nationalhymne, die ihrer Gattung nach ein Hymnus ist, ebenfalls die Bibelübersetzung Gáspár Károlyis. III. Rezeption und Verehrung Bereits im 17. Jahrhundert war die Bibel von Vizsoly nur noch selten zu erwerben. Der aus Ungarn gebürtige reformierte Theologe, Humanist und Sprachwissenschaftler Albert Molnár, der einen großen Teil seines Lebens in deutschen Territorien tätig war, entschied sich daher zu einer Neuausgabe. Diese erschien, in deutlich kleinerem Format, 1608 in Hanau und dann nochmals vier Jahre später in Oppenheim. Seit der Oppenheimer Ausgabe findet sich der Name des Übersetzers Gáspár Károlyi bereits auf dem Titelblatt. Zu dieser Zeit, als in Ungarn die Gegenreformation an Boden gewann, wurde die Bibel von Vizsoly allerdings zunehmend von der katholischen Partei angegriffen. Als Wortführer trat dabei der Jesuit György Káldi hervor, der 1626 als erster Katholik eine Bibel in ungarischer Sprache vorgelegt hatte und diese zum Maßstab seiner Kritik an den älteren Bibelausgaben evangelischer Provenienz machte. Deren überarbeitete Ausgaben erschienen während des 17. und 18. Jahrhunderts zum Großteil außerhalb Ungarns, und zwar überwiegend in Deutschland, den Niederlanden und der Schweiz. Die Hintergründe, die zur ersten vollständigen Übersetzung der Bibel in Ungarn geführt hatten, gerieten daher mit der Zeit in Vergessenheit. Der Name des Bibelübersetzers wurde auf den Titelblättern bald mit „Károli“ angegeben; eine erste Abhandlung über die Druckgeschichte der Bibel bezeichnete sogar einen anderen reformierten Adeligen, István Báthory von Ecsed, als den Mäzen Károlyis, da man ihn für den Besitzer von Vizsoly hielt. Dieser Irrtum hielt sich hartnäckig bis in das 20. Jahrhundert. Mit dem Aufschwung der ungarischen Geschichtswissenschaft im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts erschienen in kurzer Folge mehrere für die Entstehungsgeschichte der Übersetzung relevante Quelleneditionen, wobei besonders viele Quellen aus dem Stadtarchiv in Kaschau stammten. Das von der ungarischen reformierten Kirche feierlich begangene dreihundertjährige Jubiläum der Drucklegung der Bibel im Jahr 1890 hatte nicht nur zur Folge, daß der nordostungarische Kirchendistrikt die Einrichtung einer Gedenkstätte für Gáspár Károlyi in Gönc beschloß, sondern gab auch der Forschung spürbare Impulse. Obwohl man kein Porträt von Károlyi besaß, entschied man sich für die Aufstellung einer Statue. Sie wurde von dem Bildhauer Lajos György Mátrai angefertigt und konnte noch 1890 im Garten der reformierten Kirche in Gönc aufgestellt werden. Da diese Kirche erst nach dem Tod Károlyis erbaut worden war und zudem das Grab des Bibelübersetzers in der alten Kirche von Gönc (der heutigen katholischen Kirche) nicht mehr erhalten war, wurde neben der Statue in Gönc auch Vizsoly zu einem wichtigen Bezugspunkt des sich langsam festigenden Erinnerungskults. Im Jahr 19�0, anläßlich des dreihundertfünfzigjährigen Jubiläums der Drucklegung, erhielt Vizsoly eine Erstausgabe der Bibel geschenkt und wurde damit auch von offizieller Seite in den Kreis der Gedenkstätten aufgenommen. 37�

Die Bibel von Vizsoly

Die in Vizsoly gedruckte Bibel des Gáspár Károlyi, die erste vollständige Übersetzung der Bibel in ungarischer Sprache, ist nicht nur das am häufigsten und in der größten Auflage verlegte Buch in ungarischer Sprache. Sie ist auch eines der bedeutendsten ungarischen Sprachdenkmäler, das neue Impulse für die Entwicklung sowohl der Volks- als auch der literarischen Sprache gab. Bildnachweis: Privatarchiv András Szabó.

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Ein öffentlich begangener Erinnerungskult und auch die wissenschaftliche Auseinandersetzung mit der Bibel von Vizsoly wurden erst nach dem ungarischen Volksaufstand von 1956 wieder möglich. Zur Zeit der Lockerung der kommunistischen Diktatur erschien im Verlag „Magyar Helikon“ eine Faksimile-Ausgabe der Bibel. Seit den 1960er Jahren bildet die restaurierte Kirche von Vizsoly den zentralen Ort der Erinnerung. Die Forschung hat das Ihre dazu beigetragen, um die Entstehungsgeschichte und die Bedeutung der Bibel wissenschaftlich aufzuarbeiten und der ungarischen Öffentlichkeit über die Konfessionsgrenzen hinaus bekanntzumachen. In die Zeit der politischen Wende von 1989/90 fiel auch das vierhundertjährige Jubiläum der Drucklegung der Bibel, zu dessen Anlaß ein weiteres Mal eine Faksimile-Ausgabe erschien. Im Rahmen von Festlichkeiten, Konferenzen und Festschriften wurde die Bibelübersetzung ausführlich gewürdigt. Im rumänischen Carei weihte man 1990 ein Museum ein, das dem Leben und Werk von Károlyi gewidmet ist; in seiner Geburtsstadt erinnert bereits seit 1929 eine Gedenktafel an den Bibelübersetzer. In Gönc wurden darüber hinaus 1999 das Gáspár Károlyi Museum sowie eine Bibelausstellung eröffnet. IV. Auswahlbibliographie Kenessey, Béla (Hg.): Károli-emlékkönyv [Károli-Gedenkbuch]. Budapest 1890; vasady, Béla (Hg.): Károlyi emlékkönyv [Károli-Gedenkbuch]. Budapest 1940; csűry, Bálint: Károlyi Gáspár bibliafordításának nyelvi hatásához [Zu den sprachlichen Auswirkungen der Bibelübersetzung von Gáspár Károlyi]. In: Magyar Nyelv (19�0) 238–2�8; varGha, Balázs (hg.): Károli Gáspár válogatott munkái [Ausgewählte Werke Gáspár Károlyis]. Budapest 1958; szántó, Tibor/szabó, András (Hg.): Biblia. Vizsoly 1590 [Bibel. Vizsoly 1590]. Budapest 1981 [Faksimileausgabe]; bottyán, János: A magyar biblia évszázadai [Jahrhunderte der ungarischen Bibel]. Budapest 1982; szabó, András: Károlyi Gáspár (1530 k.–1591) [Gáspár Károlyi (um 1530–1591)]. Budapest 198�; ders. (Hg.): Károlyi Gáspár a gönci prédikátor [Gáspár Károlyi, der Prediger von Gönc]. Budapest 198�; barcza, József (Hg.): Emlékkönyv a vizsolyi Biblia megjelenésének �00. évfordulójára [Gedenkbuch anläßlich des �00. Jubiläums des Erscheinens der Bibel von Vizsoly]. Budapest 1990; MoLnár, Ferenc A.: A biblia és a magyar nyelv [Die Bibel und die ungarische Sprache]. In: ders.: Anyanyelv, vallás, művelődés. Kolozsvár 1999, 7–10; MiháLy, Imre: A vizsolyi Biblia egyik forrása: Petrus Martyr [Eine Quelle der Bibel von Vizsoly: Petrus Martyr]. Debrecen 2006; vásárheLyi, Judit P.: Szenci Molnár Albert és a Vizsolyi Biblia új kiadásai [Albert Szenci Molnár und die neuen Ausgaben der Bibel von Vizsoly]. Budapest 2006.

András Szabó

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Das Bild der Muttergottes in Wilna I. Zusammenfassung. – II. Das Bild und die Stadt. – III. Ikonographie und Ikonologie. – IV. Geschichte der Verehrung. – a) Der Kult vor 1795. – b) Der Kult bis zum Ersten Weltkrieg. – c) Nationalismus und Verehrung seit dem Ersten Weltkrieg. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Bild der Muttergottes befindet sich im östlichen Stadttor Wilnas, das litauisch seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts das „Tor der Morgenröte“ genannt wird, in slawischen Sprachen aber als „Spitzes Tor“ bekannt ist: Wilna hatte seit dem späten Mittelalter mehrheitlich eine orthodoxe ostslawische und eine wachsende katholische polnische Bevölkerung. Erst später wuchs die jüdische Gemeinde sowie im 19. Jahrhundert auch die russische. In der Volkszählung von 1897 bekannten sich nur zwei Prozent der Stadtbewohner als Litauer. Das Bild ist berühmt für die zahlreichen ihm zugeschriebenen Wunder und Gnadentaten, während das Stadttor selbst einen wichtigen Wahlfahrtsort für die Bevölkerung eines großen Teils des polnisch-litauischen Unionsstaates im 18. Jahrhundert darstellte. In den 1720ern angefertigt, wuchs die Bedeutung des Bildes gegen Ende des 18. Jahrhunderts immer stärker an. Es erwies sich von Beginn an auf engste verbunden mit der katholischen Verehrungspraxis, aber auch der politischen, bürgerlichen und wirtschaftlichen Geschichte Wilnas sowie der gesamten Region. Dank seiner Popularisierung in Wunderberichten, der Nennung in der Liturgie, seiner vielfachen Kopien und Beschreibungen in Literatur und mündlicher Tradition ist das Tor der Morgenröte ein lebendiger Ort der Erinnerung und Andacht. II. Das Bild und die Stadt Das einzige noch erhaltene Stadttor der ehemaligen Stadtmauer von Wilna ist zugleich der Wallfahrtsort des wundertätigen Bilds der Heiligen Jungfrau Maria. Das MedininkaiTor am sogenannten spitzen Ende der Stadt wurde 1514 zum ersten Mal erwähnt. Der ursprüngliche Name des Tores bezog sich auf die Richtung der durchs Tor hindurchführenden Straße, die über die Ortschaft Medininkai nach Osten Richtung Minsk und Moskau führte. Allerdings sollte die Topographie der Stadt eine größere Rolle für die Namensgebung des Stadttors spielen; so wird es in lateinischen (Porta Acialis), polnischen (ostra brama) und ruthenischen oder weißrussischen (vostra brama) und litauischen Quellen (Aštrieji vartai) das „Spitze Tor“ genannt. Sein litauischer Name veränderte sich jedoch um 1900: Seitdem heißt es „Tor der Morgenröte“ (Aušros vartai). Aller Wahrscheinlichkeit nach ist dies auf den Jungfrauenkult zurückzuführen, denn die Morgenröte ist eines der weltlichen Attribute der Gottesmutter. 377

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Das Tor der Morgenröte bot den eindrücklichsten Zugang zur Stadt: Von hier aus führte die Straße über das Rathaus und den Marktplatz zum Schloß sowie zur Burg und zur Kathedrale. Zugleich teilte die Straße die Stadt in einen östlichen Teil, der als „ruthenische Stadt“ bekannt und von orthodoxer Bevölkerung bewohnt war, und einen westlichen Teil, der als „deutsche Stadt“ hauptsächlich von Katholiken, Protestanten und Juden bewohnt war. Diese topographisch-konfessionelle Teilung der Stadt fiel an ihrem spitzen Ende, dem engsten Gebiet innerhalb der historischen Stadtmauer, weniger klar aus. Das 1597 auf der östlichen Seite der Straße angelegte orthodoxe Kloster des Heiligen Geistes bewahrt die Gebeine der heiligen Märtyrer Antonij, Ioann und Evstafij auf, die auf Geheiß des Großfürsten Algirdas im Jahr 13�7 hingerichtet worden waren. Die orthodoxe Kirche der Dreifaltigkeit auf der westlichen Seite der Straße wurde 151� erbaut und 1608 den Mönchen des unierten Ordens der Basilianer übertragen. 1626 wurde das in unmittelbarer Nähe des Tores gelegene Grundstück auf der östlichen Straßenseite an den Orden der Unbeschuhten Karmeliten gegeben, die ihre Kirche der „Heiligen Theresa von Ávila und Johannes vom Kreuz“ unmittelbar am Stadttor errichteten. Auf diese Weise waren seit dem 17. Jahrhundert bis zum Verbot der Union von Brest im Russischen Reich 1827 alle drei christlichen Glaubensgemeinschaften am spitzen Ende der Stadt am Tor der Morgenröte vertreten, die allesamt das Bild der Jungfrau Maria auf der Innenseite der Stadttormauer verehrten. III. Ikonographie und Ikonologie Die schriftlichen Quellen schweigen bezüglich der Frage, ob es im 16. Jahrhundert ein Bild der Jungfrau auf dem Tor der Morgenröte gegeben hat. Wenngleich die Praxis, Orte des Übergangs durch Heiligenbilder zu weihen, weit verbreitet war und Wilna in dieser Hinsicht keine Ausnahme darstellte, ist dennoch kein glaubwürdiger Beleg für ein Bild am Stadttor aus dieser Zeit überliefert. Daher hat die Geschichte des Gemäldes bei den Befunden kunsthistorischer Untersuchungen zu beginnen, um von dort aus zu der Vielzahl von zusammenhängenden Narrativen überzugehen, in denen die Erinnerung aufrecht erhalten und die Verehrung gepflegt werden. Das Bild der Jungfrau (Öl auf Eiche, 162 x 200 x 2 cm) folgt einer Zeichnung des im 16. Jahrhundert tätigen flämischen Malers Marten de Vos und wurde aller Wahrscheinlichkeit nach einem Kupferstich von Thomas de Leu aus den 1580er Jahren angefertigt. Zusammen mit seinem Gegenstück, einer Darstellung des Heiland, wurde das Bild in den 1620er Jahren speziell für das Tor angefertigt, das nach dem Brand von 1610 renoviert worden war. Das Gemälde zeigt die Jungfrau Maria mit auf der Brust gekreuzten Händen und leicht nach rechts geneigtem Kopf. Die Ikonographie der Gottesmutter erschließt sich allerdings erst unter Berücksichtigung des dazugehörigen Heiland-Gemäldes: Sie lehnt sich an die Deesis an, die Fürbitte der Jungfrau und Johannes des Täufers für die Menschheit. In diesem Fall ist die Deesis, wie auch im niederländischen Prototyp, auf ein Diptychon beschränkt, das die Jungfrau im Gebet und Christus in göttlicher Herr378

Das Bild der Muttergottes in Wilna

lichkeit darstellt. Die Darstellung der Jungfrau weist daneben auch Merkmale auf, die anderen ikonographischen Typen wie der Mater Dolorosa, der Mater Misericordia und der Immaculata entliehen sind. Letztere erklärt auch das Fehlen des Christuskinds auf dem Gemälde und die Maria umgebenden Strahlen, womit auf die apokalyptische Frauengestalt aus der Offenbarung des Johannes angespielt wird. Mit der Aufhängung der Gemälde am Stadttor – der Heiland an der Außenseite, die Jungfrau an die Innenseite – wurden die beiden Teile des Diptychons visuell getrennt. Dabei vereinte die Stadtmauer der Idee nach die beiden Bilder – während der Heiland strengen Blicks aus der Stadt heraus „blickte“, hielt die Jungfrau für die Bürger innerhalb der Stadt Fürbitte ab. Das nach außen gerichtete Christusbild wurde jedoch bald beschädigt und in die Kirche verlagert. Dort wurde im 18. Jahrhundert ein Fresko mit dem Antlitz des Heilands angefertigt. Das Originalgemälde befindet sich heute im Litauischen Kunstmuseum in Wilna. IV. Geschichte der Verehrung a) Der Kult vor 1795 Der Kult um das Bild nahm aller Wahrscheinlichkeit nach seinen Anfang von der Predigt des Jacek Liberiusz, die 1650 in Krakau gedruckt wurde. In dieser Predigt wurde eine Parallele zwischen der Jungfrau und dem Stadttor gezogen: Die Jungfrau kam dem Himmelstor gleich. Ihr Abbild auf einem Stadttor stellte deshalb den irdischen Spiegel einer himmlischen Realität dar. Die Predigt fügte sich anscheinend nicht nur sehr gut in die urbane Landschaft Wilnas ein, sondern veranlaßte auch die Karmeliter, in die Verehrung des Bilds am Tor zu investieren. So übertrug der Stadtmagistrat von Wilna 1668 das Recht und die Verpflichtung zur Pflege des Stadttors an die Karmelitermönche, die eine hölzerne Kapelle zum Schutz der Jungfrau errichteten. Der Bildkult verstärkte sich nun, das Jahr 1670 ist auf dem ältesten Stück der Silberfassung eingetragen. Nur ein Jahr später soll sich gemäß der Relacja o cudownym obraze Najświętszay Maryi Panny (Bericht über das wundertätige Bild der Heiligen), die der Priester Hilarius von St. Georg 1761 zusammenstellte, das erste Wunder, die Wiederauferstehung eines toten Kindes, zugetragen haben. Da die neu errichtete Kapelle allein vom Konvent aus zugänglich war, mußte sich die Schar der Verehrer auf der Straße vor dem Tor versammeln. 1711 zerstörte ein Feuer die hölzerne Kapelle. Die Tatsache, daß ein Karmeliternovize das Gemälde vor dem Feuer gerettet hat, wurde als ein Wunder angesehen. Seitdem wird die Jungfrau auch als Schutzheilige der Stadt gegen Feuer angesehen. Mehrere volkstümliche Holzschnitte verliehen dieser Vorstellung einen visuellen Charakter, was zugleich den Beginn der Verbreitung von Kopien des Bildes markierte. Die 1715 am Tor errichtete Ziegelsteinkapelle steht mit geringfügigen Veränderungen bis heute. Das 18. Jahrhundert erlebte die Blüte privater und kollektiver Verehrung des Bilds, wie dies Predigten, fromme Berichte, Devotionalien, Hymnen, Wunderberichte und Kopien eindrucksvoll bezeugen. 379

Giedrė Mickūnaitė

b) Der Kult bis zum Ersten Weltkrieg 18�� ließ die zaristische Regierung das Karmeliterkloster schließen und seine Besitztümer den orthodoxen Mönchen übertragen. Da dabei der Zugang zur Kapelle im Tor versperrt wurde, wurde eine neue Treppe an der Kirche der „Heiligen Theresa von Ávila und Johannes vom Kreuz“ errichtet, die den Zugang zur Kapelle von der Straße aus ermöglichte. Dieser öffentliche Zugang war dem Bildkult sogar noch förderlicher. Darüber hinaus erlangte die Verehrung der Jungfrau vom „Tor der Morgenröte“ nationale und politische Konnotationen, die in den anti-zaristischen Erhebungen von 179�, 1831 und 1863 besonders lebhaft zum Ausdruck kamen. Die berühmten polnischen Dichter des 19. Jahrhunderts, Adam Mickiewicz, Juliusz Słowacki, Władysław Syrokomla, verfaßten Verse über das Bild der Jungfrau und dessen Anmut, während Stanisław Moniuszko Litaneien zu ihren Ehren komponierte. Die Anrufung in Adam Mickiewiczs Versepos Pan Tadeusz von 183� mit den Worten „An die heilige Jungfrau, die das Spitze Tor überstrahlt“ (Panny Świętej, co w Ostrej świeci Bramie) sowie die Selbstidentifizierung des Dichters mit der Tradition des Großfürstentums Litauen und die patriotischen Töne seiner höchst populären Dichtung stellten das Bild in einen Zusammenhang mit der nationalen Befreiungsbewegung. Die zunehmende katholische Verehrung mit ihrer engen Bindung an den patriotischen Geist der Zeit hatte ihren nicht minder politisierten orthodoxen Gegenpart. In der orthodoxen Vorstellungswelt des 19. Jahrhunderts wurden mehrere Erzählungen wiederaufbereitet, die sich auf diese und andere Bilder der Gottesmutter bezogen, und zur Legende verschweißt, wonach das Gemälde 1363 von Großfürst Algirdas aus Cherson auf der Halbinsel Krim mitgebracht und von seiner orthodoxen Gemahlin dem Kloster der Heiligen Dreifaltigkeit gestiftet worden war. 1431 wurde diese Ikone dann in einer Kapelle am „spitzen“ oder „russischen“ Ende der Stadt aufgestellt. Nach der Errichtung der Stadtmauer wurde die Ikone aus Cherson an der Außenseite des Stadttors aufgehängt. Im Laufe des 17. und 18. Jahrhunderts, so die Erzählung weiter, eigneten sich die Katholiken die Ikone an, doch ist ihre wahre Herkunft durch die russische Inschrift unterhalb der Fassung bewiesen, die die Hymne der Jungfrau zitiert, die unter den Orthodoxen als čestnejšaja (magnificata unter den Katholiken) bekannt ist. Aufgrund dieses Zitats sind die Orthodoxen der Auffassung, daß das Bild Mariä Verkündigung darstellt. Die orthodoxen Legenden wurden durch zahlreiche Stiche visuell untermauert, die die heilige Jungfrau als Ikone mit kyrillischen Inschriften abbildeten. Daneben wurden auch Andachtsmedaillons mit dem Antlitz der Jungfrau und der drei Märtyrer von Wilna gegossen. Die Legende von Cherson wird hauptsächlich von zwei Quellen gespeist: Die Erzählung von Algirdas Schlacht am „Blauen Gewässer“ (wahrscheinlich die Synjucha, ein linker Zufluß des südlichen Bug) im Jahr 1362 sowie die Erzählung von der Ikone der Gottesmutter, die Elena, die moskowitische Gemahlin von Großfürst Alexander, als Mitgift mitbrachte. Diese Ikone stand bis 1915 in der Kirche der Heiligen Dreifaltigkeit in der Nähe des Tors der Morgenröte. Obwohl die Truppen von Algirdas die Krim niemals erreichten, erschien durch diesen Verweis die vermeintliche Ikone von Cherson älter, 380

Das Bild der Muttergottes in Wilna

während die tatsächliche Ikone aus Elenas Mitgift die notwendigen Details für den legendenhaften Bericht zur Verfügung stellte. c) Nationalismus und Verehrung seit dem Ersten Weltkrieg Unter den Katholiken wurden die Kopien des Bildes zu einem Bekenntnis ihres Glaubens und ihrer Hingabe an die besetzte Heimat. Kapellen, die der Jungfrau Maria vom „Tor der Morgenröte“ gewidmet waren, gab es an zahlreichen Kirchen auf dem Gebiet der ehemaligen polnisch-litauischen Union, aber auch im Ausland. Die verschiedenen Nationalismen zu Beginn des 20. Jahrhunderts überlagerten den Kult um das Bild, der dann in der Zwischenkriegszeit zu neuer Blüte gelangte. Als 1919 die Truppen von Józef Piłsudski über die Rote Armee triumphierend durch das „Tor der Morgenröte“ in die Stadt einzogen, hinterließen sie der Tradition gemäß Votivplaketten mit der Inschrift „Mutter, Dank sei dir für Wilna“ (Matko, dzięki Ci za Wilno). Von da an wurden alle größeren öffentlichen und religiösen Ereignisse (so die Wiedereröffnung der Universität 1919, der 400. Jahrestag der Heiligsprechung Kasimirs 1922) mit dem Bild der Gottesmutter verknüpft und als Ausdruck ihrer Gnade betrachtet. Der Höhepunkt dieser Entwicklung war 1927 erreicht, als Papst Pius XI. dem Bild der Jungfrau Maria den Titel „Mutter der Barmherzigkeit“ verlieh und seine Krönung anordnete. Selbstverständlich wurde dieser Krönungsvorgang im Zwischenkriegslitauen als ein Versuch angesehen, den Kult um das Bild zu polonisieren. Aller Wahrscheinlichkeit war dies auch der Zeitpunkt, an dem die Vorstellung Fuß faßte, daß die Jungfrau die Züge von Barbara Radziwiłł, der Gemahlin des Großfürsten Sigismund II. August, trage. Barbaras Glaube und insbesondere ihr Tod kurz nach ihrer Krönung zur Königin von Polen beflügelten die politische, romantische und nationale Vorstellung bereits im 16. Jahrhundert. Volkstümliche Deutungen litauischer Geschichte hielten die Behauptung aufrecht, sie sei von Polen vergiftet worden. So würde die Aneignung des Kults um die Jungfrau erneut einen polnischen Verrat darstellen. Der litauische Nationalismus sah in der Jungfrau vom „Tor der Morgenröte“ eines der zentralen Elemente des „verlorenen“ Wilna und betrachtete ihren Kult von polnischer Seite als eine unberechtigte Aneignung. Der Zweite Weltkrieg führte zu einer dramatischen Veränderung der Situation: 1939 wurde das Gebiet Wilna an die Republik Litauen abgetreten. Allerdings fand die einsetzende Litauisierung der historischen Hauptstadt durch die Abfolge von sowjetischer, nationalsozialistischer und erneuter sowjetischer Besatzung ein jähes Ende. In diesem Zusammenhang wurde das Bild einmal mehr zum Symbol der nationalen Befreiung, und die Partisanentruppen der polnischen Armija Krajowa erkoren die Jungfrau zu ihrer Schutzpatronin. Die Ausweisung vieler Polen aus Wilna, der damaligen Hauptstadt der Litauischen Sozialistischen Sowjetrepublik, im Jahre 1946 führte zu einer neuen Verehrungswelle und zur Verbreitung des Bildes in Polen. Im sowjetischen Litauen blieb das „Tor der Morgenröte“ wahrscheinlich der einzige Ort religiöser Andacht unter freiem Himmel. Obwohl das Abhalten der Messe in der Kapelle verboten war, versammelten 381

Giedrė Mickūnaitė

Die Darstellung zeigt den Innenraum der Kapelle im sogenannten Spitzen Tor. Die Illustration wurde nach einem Stahlstich angefertigt, den ein unbekannter Künstler einer in Warschau erscheinenden illustrierten polnischen Wochenzeitung zugesendet hatte, wo sie 186� veröffentlich wurde. Während des Januaraufstands 1863/6� verstärkte sich die Verehrung der Wilnaer Mariendarstellung unter polnischnationalen Vorzeichen. Bildnachweis: „Tygodnik Illustrowany“ (Illustrierte Wochenzeitschrift), Warschau 2. April 1864, 125, Nr. 236.

sich die Gläubigen vor dem Tor und in der Kapelle vor dem Bild. Mit der Wiedererlangung der litauischen Unabhängigkeit 1990 wurde das „Tor der Morgenröte“ dann erneut zu einem Ort öffentlicher Verehrung. Die Berühmtheit des Schreins nahm weiter zu, insbesondere nachdem Papst Johannes Paul II. 1993 in der Kapelle gebetet hatte. Die intensive Rezeption des Bildkultes bezeugen Tausende von Weihgaben, die die Wand der Kapelle schmücken, sowie die fortwährende Anwesenheit von Gläubigen zum Gebet an die jungfräuliche Muttergottes der Barmherzigkeit unter der Fassadeninschrift Mater Misericordiae, sub Tuum Praesidium confugimus. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Liberiusz,

Jacek: Gospodyni Nieba i Ziemie Nayświetsza Panna Marya dwudziesta kazan Na Hymn Koscielny O Gloriosa Domina […] [Zwanzig Predigten über die liturgische Hymne O Gloriosa Domina, gewidmet der Herrin des Himmels und der Erde, der heiligsten Jungfrau Maria (…)]. Kraków 1650;

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Das Bild der Muttergottes in Wilna hiLaryon od Św. Grzegorza: Relacja o cudownym obraze Najświętszay Maryi Panny, który w Wilnie na Bramie Ostrey […] [Bericht über das wundertätige Bild der Heiligen Jungfrau Maria, das in Wilna am Spitzen Tor angebracht ist]. Wilno 1761; [KirKor, Adam Honoriusz:] Przechadzki po Wilnie i jego okolicach przez Jana ze Śliwina [Spaziergänge in Wilna und seiner Umgebung von Jan von Śliwin]. Wilno 21859 [Wilno 11856]; JušKevičius, Adomas/MaceiKa, Juozas: Vilnius ir jo apylinkės [Wilna und seine Umgebung]. Vilnius 1937 [ND 1991]; batJušKov, Pompej N.: Belorussija i Litva. Istoričeskie suďby Severo-Zapadnogo kraja [Weißrußland und Litauen. Historische Schicksale der Nordwestlichen Provinz]. Sankt Petersburg 1890 [ND Minsk 200�].

b) Darstellungen MinKevičius, Jonas: Lietuvos architektūros istorija/Istorija architektury Litvy [Geschichte der litauischen Architektur], Bd. 1–3. Vilnius 1987–2000; KałaMaJsKa-saeed, Maria: Ostra Brama w Wilnie [Das Spitze Tor in Wilna]. Warszawa 1990; DrėMa, Vladas: Dingęs Vilnius/Lost Vilnius/Ischeznuvshyi Vilnius. Vilnius 1991; GarnieWicz, Janusz: Wileńskie świątynie od czasów najdawniejszych do obecnych. Przewodnik historyczny [Heilige Orte in Wilna von ältester Zeit bis zur Gegenwart]. Kędzierzyn-Koźle u. a. 1993; KałaMaJsKa-saeed, Maria: Aušros vartų Dievo Motinos paveikslas XVIII–XIX amžių grafikoje [Das Bild der Gottesmutter am Tor der Morgenröte in der bildenden Kunst des 18. und 19. Jahrhunderts]. In: JanKausKas, Vidmantas: Lietuvos grafikos istorijos šimtmečiai. Vilnius 1996, 61–108; širMuLis, Alfredas (Hg.): Švč. Marijos Gailestingumo Motinos paveikslas [Das Bild der Hl. Jungfrau Maria am Tor der Morgenröte]. Vilnius 1997; ALišausKas, Vytautas u. a. (Hg.): Lietuvos Didžiosios Kunigaikštijos kultūra. Tyrinėjimai ir vaizdai [Kultur des Großfürstentums Litauen. Forschung und Bilder. Vilnius 2001; LanGer, Andrea/StošKus, Kęstutis/popp, Dietmar (Hg.): Barocke Sakralarchitektur in Wilna. Verfall und Erneuerung. Marburg/Lahn 2002; račiūnaitė, Tojana: Vizijos ir atvaizdai: Basųjų karmelitų palikimas [Visionen und Bilder: das Erbe der Unbeschuhten Karmeliter]. Vilnius 2003; DMitrieva, Marina: Drei Gesichter Wilnas. Eine deutsche, eine polnische, eine jüdische Stadt. In: Born, Robert/Labuda, Adam (Hg.): Visuelle Erinnerungskulturen und Geschichtskonstruktionen in Deutschland und Polen 1800–1939/Wizualne konstrukcje historii i pamięci historycznej w Niemczech i w Polsce 1800–1939. Warszawa 2006, �07–�19; Tauber, Joachim/TuchtenhaGen, Ralph: Vilnius. Kleine Geschichte der Stadt. Köln/Weimar/Wien 2008; schuLze WesseL, Martin/Götz, Irene/MaKhotina, Ekaterina: Vilnius. Geschichte und Gedächtnis einer Stadt zwischen den Kulturen. Frankfurt am Main u. a. 2010.

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Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien I. Zusammenfassung. – II. Entstehungsgeschichte im Überblick. – a) Die drei Friedenskirchen nach 1648. – b) Die sechs Gnadenkirchen nach 1707. – III. Die Friedenskirchen in der deutschen Gedenkkultur bis 1945. – IV. Die Gnadenkirchen als Erinnerungsorte im Spannungsfeld zwischen PreußenDeutschland, Österreich und Schweden. – V. Die Friedens- und Gnadenkirchen als Gegenstand deutscher und polnischer Gedenkkultur nach 1945. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Mit den insgesamt drei Friedens- und sechs Gnadenkirchen in Schlesien sind im folgenden zwei Gruppen von Sakralbauten zu betrachten, die Mitte des 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts in einem jeweils unterschiedlichen historischen Kontext entstanden sind und deren Stellenwert in der religiösen beziehungsweise nationalen Erinnerungskultur daher jeweils unter gesonderten Prämissen zu analysieren ist. Gemeinsam ist den genannten Kirchen erstens, daß ihr Bau auf der Grundlage international abgesicherter Verträge erfolgte, und zweitens, daß ihre Existenz in der Erinnerungskultur im weitesten Sinn als Ausdruck einer Selbstbehauptung des schlesischen Protestantismus im Widerstand gegen habsburgische Rekatholisierungsbestrebungen gedeutet wurde. Die hohe symbolische Bedeutung, die den Friedens- und Gnadenkirchen von Beginn an zugeschrieben wurde, findet ihren Niederschlag in den besonderen Umständen ihrer Errichtung außerhalb der Stadtmauern sowie den – behördlich verordneten – architektonischen Besonderheiten. In der Intention der habsburgischen Obrigkeit sollten diese Auflagen den Status der schlesischen Protestanten als einer lediglich geduldeten Glaubensgemeinschaft minderen Rechts demonstrieren, sie markierten aber zugleich die symbolischkünstlerischen Alleinstellungsmerkmale der Kirchenbauten und machten sie so erst recht zu den Kristallisationskernen protestantischen Selbstbewußtseins. Eine entsprechende Gedenkkultur manifestierte sich vor allem anläßlich der runden Jubiläen, zu denen der Grundsteinlegung der Kirchenbauten gedacht wurde. Als das Medium des Gedenkens sind in erster Linie die anläßlich dieser Jubiläen veröffentlichten Denkschriften zu nennen; in einzelnen Fällen kam es zudem zur Prägung von Gedenkmünzen. Neben der Erinnerungskultur im protestantisch geprägten Preußen, das sich 17�0 den größten Teil Schlesiens gewaltsam aneignete, ist im Zusammenhang mit der bei Habsburg verbliebenen Stadt Teschen und der dortigen Gnadenkirche auch der Protestantismus in Österreich im Blick zu behalten, ferner die besondere Rolle Schwedens als Garantiemacht protestantischer Rechte. Seit 19�5 wiederum befinden sich die betrachteten Sakralbauten sämtlich auf dem Territorium Polens; sie sind damit heute zunehmend Gegenstand eines gemeinsamen deutsch-polnischen Gedenkens und gemeinsamer Denkmalschutzprojekte.

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Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien

II. Entstehungsgeschichte im Überblick a) Die drei Friedenskirchen nach 1648 Die Verstrickung der evangelischen Stände Schlesiens in den gescheiterten böhmischen Ständeaufstand von 1618 bis 1620 hatte der Phase einer leidlich funktionierenden konfessionellen Koexistenz zwischen Katholiken und Protestanten im Oderland ein jähes Ende gesetzt. Zwar war das 1621 mit dem „Dresdner Akkord“ über die Schlesier verhängte Strafgericht noch vergleichsweise moderat ausgefallen, doch glaubte sich Kaiser Ferdinand II. zumindest in seinen schlesischen Erbfürstentümern Glogau, Sagan, Schweidnitz-Jauer und Münsterberg im Recht, von seinem ius reformandi nunmehr energischen Gebrauch zu machen. Der Westfälische Frieden von 16�8 legitimierte die Politik der Rekatholisierung im Grundsatz, indem er die strittigen Konfessionsfragen prinzipiell zur inneren Angelegenheit der Einzelstaaten erklärte. Als Rettungsanker für die schlesischen Protestanten erwies sich indes der Umstand, daß schwedische Truppen seit 1639 größere Teile des Oderlandes militärisch besetzt hielten und Stockholm somit in den Verhandlungen über ein gewichtiges Faustpfand verfügte. Zwar blieb Schlesiens territoriale Einheit im Friedensvertrag ungeschmälert erhalten, doch war es zugleich das einzige habsburgische Territorium, in dem Ferdinand III. am Ende doch konfessionspolitische Zugeständnisse machen und das Königreich Schweden in dieser Hinsicht als Garantiemacht anerkennen mußte. Artikel V des Westfälischen Friedens gestattete die Ausübung des evangelischen Bekenntnisses in einigen ausgewählten Städten und räumte den protestantischen Adeligen mitsamt ihren Untertanen in den übrigen schlesischen Gebieten das Recht ein, den evangelischen Gottesdienst in benachbarten Orten jenseits der Landesgrenze zu besuchen, ersparte ihnen also die alleinige Entscheidung zwischen Konversion und Auswanderung. Darüber hinaus mußte der Kaiser seinen lutherischen Untertanen in den Erbfürstentümern den Neubau dreier Kirchen bei Schweidnitz, Jauer und Glogau bewilligen, für die sich folgerichtig rasch der Begriff „Friedenskirchen“ einbürgerte. Überschattet wurde ihr Bau vom Wirken der kaiserlichen „Reduktionskommission“, die nach 1650 kreuz und quer durch Schlesien zog und dabei über 600 vormals evangelische Kirchen in katholische Gotteshäuser umwidmete. Die Verhandlungen wegen Überlassung geeigneter Bauplätze für die Friedenskirchen, die außerhalb der Stadtmauern liegen mußten, kamen überhaupt erst nach dem Abzug der letzten schwedischen Besatzungstruppen in Gang und zogen sich noch geraume Zeit hin. Strenge Bauauflagen gestatteten ausschließlich die Verwendung von Holz und Lehm, und selbst das Klebewerk durfte, in den Worten einer königlichen Instruktion vom November 1651, „nicht etwa zu dick oder schussfest“ sein. Auch blieben die Friedenskirchen nach außen zur Lautlosigkeit verdammt, da die Errichtung eines Glockenturms beziehungsweise der Einbau eines Glockenspiels bis 1707 strikt untersagt blieb. Entgegen der kaiserlichen Intention, den Friedenskirchen ein isoliertes Schattendasein zuzuweisen und sie durch die erzwungene Holzbauweise einem raschen Verfallsprozeß auszusetzen, entstanden zwischen 385

Roland Gehrke

1652 und 1657 drei beeindruckende Fachwerkbauten: im einzelnen die „Friedenskirche zur Hütten Christi“ bei Glogau, die „Friedenskirche zum Heiligen Geist“ bei Jauer und schließlich die „Friedenskirche zur heiligen Dreifaltigkeit“ bei Schweidnitz, die als größte und prächtigste der drei nicht weniger als 7.500 Gottesdienstbesuchern Platz bot. Ihre enorme Bedeutung für das protestantische Selbstbewußtsein auch über Schlesien hinaus bezogen die Friedenskirchen nicht zuletzt aus ihrer Spendenfinanzierung, mit der sich eine grenzüberschreitende protestantische Solidarität erfolgreich bewährt hatte. Daß die Friedenskirchen ihre herausgehobene Rolle im seelsorgerischen Leben des Oderlandes auch noch über das Jahr 17�0 hinaus spielen konnten, ist der umsichtigen, auf eine möglichst reibungslose Integration auch des katholischen Bevölkerungsanteils abzielenden Religionspolitik Friedrichs II. zuzuschreiben; dem Wunsch der Lutheraner nach einer vollen Restitution aller ihnen seit 1650 weggenommenen Kirchen entsprach der neue Landesherr nicht. Von kleineren baulichen Ergänzungen abgesehen, sind die Fachwerkkirchen in Jauer und Schweidnitz in ihrer ursprünglichen Gestalt bis auf den heutigen Tag erhalten geblieben, wobei letztere im Siebenjährigen Krieg 1761 erheblich beschädigt und anschließend wiederhergestellt wurde. Lediglich die Glogauer Friedenskirche fiel bereits 1758 einem Stadtbrand zum Opfer und wurde anschließend durch einen unspektakulären steinernen Neubau ersetzt, der seinerseits 1962 abgerissen wurde. b) Die sechs Gnadenkirchen nach 1707 Während sich in den neuen Friedenskirchen nach 1660 rasch so etwas wie ein kirchlicher Alltag einstellte, konnte von einem Konfessionsfrieden in Schlesien auch weiterhin keine Rede sein. Stattdessen ließ Kaiser Leopold I. 1681 weitere gut hundert evangelische Kirchen umwidmen und sprach zudem das – in der Praxis freilich kaum beachtete – Verbot aus, weiterhin die unmittelbar außerhalb des habsburgischen Herrschaftsbereichs gelegenen Grenz- und Zufluchtskirchen zu besuchen. Gründlich durcheinander gerieten die Verhältnisse in Schlesien erst im Zuge des Großen Nordischen Krieges. Die 1707 auf schwedischen Druck hin zustandegekommene Altranstädter Konvention korrigierte die bis dahin auf konfessionelle Homogenisierung zielende österreichische Religionspolitik und bildet somit aus schlesisch-protestantischer Perspektive einen eigenständigen religiösen Erinnerungsort. Im Gegenzug zur Gewährung dringend benötigter Darlehen durch die schlesischen Stände ließ Kaiser Joseph I. 125 umgewidmete Kirchen zurückgeben und bewilligte zudem den Bau sechs weiterer evangelischer Gotteshäuser: im einzelnen die Kirche „Zum Kreuz Christi“ bei Hirschberg, „Zur Heiligen Dreifaltigkeit“ bei Landeshut, ebenfalls „Zur Heiligen Dreifaltigkeit“ bei Sagan, „Zum Weinberg Jesu“ bei Freystadt, „Zum Heiligen Kreuz“ bei Militsch sowie die „Jesuskirche“ vor der oberschlesischen Stadt Teschen. Wie schon ihre drei älteren Vorgänger mußten diese kollektiv als „Gnadenkirchen“ titulierten neuen Gotteshäuser außerhalb der Stadtmauern entstehen, unterlagen sonst jedoch keinen weiteren Baubeschränkungen. Im gleichen Atemzug wurde jetzt auch den 386

Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien

Friedenskirchen der Anbau von Glockentürmen gestattet. Die Grundsteinlegungen der neuen Kirchen erfolgten sämtlich noch 1709 oder im Folgejahr, wobei diejenigen in Freystadt, Militsch und Sagan nach dem Vorbild der Friedenskirchen in Fachwerkbauweise, die übrigen drei als Steinbauten errichtet wurden. Um die Bauten finanzieren zu können, hatten die schlesischen Lutheraner dem Landesherrn erhebliche Donative zu entrichten, die freilich um so niedriger ausfielen, je grenznäher die Kirchen jeweils lagen, schließlich sollte gerade ihre Existenz dem argwöhnisch beäugten Gottesdienstbesuch jenseits der Landesgrenzen endlich ein Ende bereiten. Wie die älteren Friedenskirchen fielen auch fünf der sechs Gnadenkirchen 17�0 unter preußische Herrschaft, während einzig die Teschener Jesuskirche bei Österreich verblieb und damit eine sich auch in der Erinnerungskultur niederschlagende Sonderrolle einnimmt. Sie blieb ebenso erhalten wie die Gotteshäuser in Hirschberg, Landeshut und Militsch. Die Saganer Gnadenkirche hingegen wurde unter den Bedingungen eines dem deutschen protestantischen Kulturerbe gegenüber ignoranten kommunistischen Regimes 1965 gesprengt, die Freystädter Gnadenkirche wiederum 197� bis auf den Turm abgetragen. III. Die Friedenskirchen in der deutschen Gedenkkultur bis 1945 Bereits der Terminus „Friedenskirchen“ sprach für sich, da er hier nicht auf den anzustrebenden Zustand einer konfessionellen Befriedung Schlesiens verwies, sondern ganz konkret auf einen völkerrechtlich bindenden Friedensvertrag, in dem die konfessionspolitischen Zugeständnisse den Habsburgern von einer fremden Macht förmlich abgetrotzt worden waren. Ebenso wie die allsonntäglichen Kirchenzüge tausender Protestanten zu den Grenz- und Zufluchtskirchen waren die stets überfüllten Gottesdienste in den drei Friedenskirchen zugleich eine konfessionspolitische Demonstration, der der Staat letztlich machtlos gegenüberstand. Den Charakter einer seelsorgerischen Zufluchtsstätte für eine große Zahl von Gläubigen unterstrich die architektonische Gestaltung der Friedenskirchen als klassische Predigtkirchen mit Massencharakter, baulich ausgerichtet nicht primär auf den Altar, sondern auf die Kanzel. Entsprechend standen die Friedenskirchen neben den Gläubigen aus der nahen Stadt grundsätzlich auch dem protestantischen schlesischen Adel, der sich im Rahmen der künstlerischen Innenraumgestaltung heraldisch prominent zu repräsentieren wußte, sowie der Bauernschaft offen. Zwar stieß dieser Anspruch einer unter äußerem Druck ständeübergreifend zusammenrückenden religiösen Gemeinschaft in der Praxis rasch an seine sozialen Grenzen, unterstrich aber doch zusätzlich das Leitmotiv der „Selbstbehauptung“ beziehungsweise der „Widerstandskraft“ des schlesischen Protestantismus, wie es die Erinnerungskultur vor allem des 18. und 19. Jahrhunderts maßgeblich prägte. Angesichts der strikten Aufsicht durch die österreichischen Behörden war 1702 an ein öffentlichkeitswirksames fünfzigjähriges Jubiläumsfest der Friedenskirchen noch nicht zu denken. Erst der Herrschaftswechsel von 17�0 bildet diesbezüglich eine klare Zäsur: Auch wenn die Friedenskirchen ihre Auffangfunktion für eine große Zahl protestanti387

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scher Gläubiger noch für ganze eine Weile zu erfüllen hatten, setzte unter den gewandelten Rahmenbedingungen ihre Historisierung ein. Als das mit Abstand größte der drei Gotteshäuser stand die Schweidnitzer Friedenskirche im Rahmen der Gedenkkultur stets im Mittelpunkt: Als erster wurden ihr zum hundertjährigen Jubiläum eine Denkschrift aus der Feder des Schweidnitzer Prorektors Gottfried Langhanss sowie eine eigens geprägte Erinnerungsmedaille („Was Ferdinand 1652 gab, bestätigte Friedrich 1752“) gewidmet; eine Münzprägung zum 100. Jubiläum der Friedenskirche in Jauer folgte drei Jahre später. Zugleich orientierten sich bauliche Ergänzungen oder Restaurierungen fortan gleichfalls am Turnus der Jubiläen, die ein gesteigertes Spendenaufkommen versprachen – in Schweidnitz etwa wurde 1752 die schon länger geplante Erneuerung des Altars verwirklicht. Den Gang der Schweidnitzer Jubiläumsfestlichkeiten skizzierte der vormalige Friedenskirchenpfarrer Hellmuth Bunzel in den 1950er Jahren rückblikkend mit den Worten: „Das Programm der ersten Feier (1752) ist seither stets bei den nämlichen Veranlassungen das gleiche geblieben: Früh Musik vom Ratsturm, dann dreimaliger Gottesdienst, zur Amtspredigt großer Festzug mit den Spitzen der Behörden.“ Wenngleich die Erinnerungsfeiern und die zu diesem Anlaß publizierten Schriften stets nur einer einzelnen Friedenskirche galten, so blieb das Gefühl einer schicksalhaften Verbundenheit doch bestehen, deutlich etwa auf der Zweihundertjahrfeier für Jauer 1855, auf der auch Vertreter der Schwesterkirchen aus Schweidnitz und Glogau auftraten. Je mehr die konfessionellen Gegensätze im Oderland nach 17�0 in den Hintergrund traten – zum 150. Schweidnitzer Jubiläum von 1802 nahmen erstmals auch katholische Geistliche am Festumzug teil und verliehen der Feierlichkeit dadurch ein gewisses ökumenisches Gepräge –, desto stärker machten sich in der Gedenkpublizistik des 19. Jahrhunderts borussisch-nationale Motive bemerkbar: Die den Habsburgern nach 16�8 abgetrotzten Friedenskirchen galten in dieser Perspektive als die Garanten für das Überleben des schlesischen Protestantismus und damit wiederum auf ihre Weise als Wegbereiter der preußischen Herrschaft über das Oderland. Auf der anderen Seite sprachen noch aus der zum 250. Jubiläum der Friedenskirche Schweidnitz 1902 veröffentlichten Festschrift religiös-antimodernistische Affekte, wenn deren Autor Ludwig Worthmann die europäische Aufklärung als „philosophische Kinderkrankheit“ geißelte und zugleich gegen die „seichten Gewässer des Nationalismus“ polemisierte. Dessen ungeachtet nahm die Schweidnitzer Jubiläumsfeier vom September 1902 verstärkt Volksfestcharakter an, indem man die gesamte Stadt nicht nur mit Luther-Bildern, sondern auch mit bunten Fahnen und Girlanden schmückte. Auf der nur gut zwei Monate später angesetzten 250-Jahrfeier für die (in ihrer ursprünglichen Fachwerkbauweise ja längst nicht mehr existierende) Glogauer Friedenskirche wurden zur Unterhaltung des Publikums zudem historische Spielszenen aufgeführt, die die Geschichte der Glogauer Gemeinde von der Reformationszeit bis zum Beginn der preußischen Herrschaft illustrieren sollten. Als nach 1933 die Nationalsozialisten das Gemeindeleben der Friedenskirchen durch die erzwungene Schließung der Konfessionsschulen und der evangelischen Kindergärten sowie die Unterbindung der inneren Mission systematisch zu schwächen begannen, hatte längst schon eine Tendenz eingesetzt, die die Friedenskirchen von Jauer und 388

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Schweidnitz nicht mehr nur als religiöse Erinnerungsorte, sondern auch als herausragende Architekturdenkmäler betrachtete und sie – nicht zuletzt als zunehmend beliebtes Postkartenmotiv – dem Tourismus öffnete. Der Weg zu ihrer Musealisierung oder, in den Worten Hellmut Bunzels, zu „ihrem Versinken ins Museumsdasein“ war damit bereits vor der dramatischen Zäsur von 1945 geebnet. IV. Die Gnadenkirchen als Erinnerungsorte im Spannungsfeld zwischen Preußen-Deutschland, Österreich und Schweden Der Terminus „Gnadenkirchen“ verweist auf den kaiserlichen Gnadenerlaß von 1707 als der gemeinsamen Entstehungsgrundlage der sechs Gotteshäuser, während mit Blick auf die Architektur, die Ausstattung und auch die jeweiligen Auftraggeber von einer einheitlichen Bautengruppe keine Rede sein kann. Jedenfalls hatte sich mit dem Begriff gegenüber den älteren Friedenskirchen eine gewisse Bedeutungsverschiebung ergeben: Zwar spielte das Motiv einer protestantischen „Selbstbehauptung“ in der späteren Gedenkkultur auch hier eine Rolle, doch wurden die Gnadenkirchen stärker als die Symbole eines staatskonformen, die gnädige Fürsorge des Landesherrn betonenden Kompromißluthertums wahrgenommen; anders als bei den Friedenskirchen erschien die habsburgische Obrigkeit also nicht von vornherein als feindseliger Fremdkörper, sondern war in die Gedächtnispolitik gleichsam integriert. Damit korrespondierte bei den meisten Gnadenkirchen eine Innenraumgestaltung, die die Treue zu Wien symbolisch dokumentierte, etwa durch eine Personifikation der kaiserlichen Landesherrschaft oder die Darstellung des habsburgischen Adlers im Kirchenraum. Wie weit der auf unbedingte Loyalität pochende Einfluß der habsburgischen Obrigkeit reichte, erwies sich 1730 in Teschen, wo gleich drei Pfarrer der Gnadenkirche wegen vermeintlich pietistischer Umtriebe des Landes verwiesen wurden. Staatliche Behörden und lutherische Orthodoxie zogen in dieser Angelegenheit an einem Strang, die lutherische Deutungshoheit blieb ungeschmälert erhalten. Mit der Zäsur von 17�0 setzte dann auch bei den fünf niederschlesischen Gnadenkirchen eine Borussifizierung der Erinnerungskultur ein – die zum 50. Jahrestag der Grundsteinlegung der Landeshuter Dreifaltigkeitskirche gestiftete neue Altar- und Kanzelbekleidung trug bereits wie selbstverständlich die Initialen Friedrichs II. Generell waren es auch hier die seit 1759 an den einzelnen Standorten regelmäßig gefeierten runden Jubiläen, die das Gedenken wach hielten und gegenüber denen die Altranstädter Konvention als die vertragliche Grundlage des Kirchbaus in den Hintergrund trat. Das Gedenken verschob sich also gewissermaßen von der abstrakten stärker auf die konkrete, architektonisch wahrnehmbare Ebene. Eine zentrale Rolle in der Erinnerung spielte die als große Erleichterung empfundene Ersatzfunktion der Gnadenkirchen für den zuvor notwendigen und zeitraubenden Besuch der Grenzkirchen. Die zum 50. Jubiläum der Hirschberger Kreuz-Christi-Kirche geprägte Gedenkmünze etwa zeigt auf der Rückseite drei entfernt am Horizont gelegene Kirchbauten, zu denen sich lange Züge von Menschen auf den Weg machen (Aufschrift: „Ach Gott wie weit“), während auf der Vorderseite groß das Hirschberger Gotteshaus prangt („Gottlob wie nah“). 389

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Gedenkmedaille zum 50. Jubiläum der Grundsteinlegung der Gnadenkirche zu Hirschberg, 1759. Vorderseite (Text oben: „Gottlob wie nah“; Text unten: „Hirschbergisches 50jähriges Evangeli[sches] Kirchenjubiläum 1759“): Abgebildet ist die Frontansicht der Hirschberger Gnadenkirche; Rückseite (Text oben: „Ach Gott wie weit“): Sehr anschaulich wird hier dargestellt, wie sich lange Züge von Gläubigen über die Berge zu den aus der Perspektive des Betrachters fern am Horizont gelegenen Grenz- und Zufluchtskirchen in Niederwiese, Harpersdorf[f] und Probsthain auf den Weg machen – eine Strecke, die in der Realität von Hirschberg aus 40 Kilometer und mehr betrug. Die beiden Abbildungen erzeugen einen Gegensatz und illustrieren so die große Erleichterung, die die Altranstädter Konvention von 1707 und die durch sie ermöglichte Errichtung der Hirschberger Gnadenkirche den dortigen Protestanten beschert hatte. Bildnachweis: Universität Stuttgart, Projektbereich Schlesische Geschichte.

Im Gegensatz zum übrigen Oderland verblieb ein kleiner südöstlicher Teil Schlesiens mit den Städten Troppau und Teschen auch nach 17�0 bei Österreich. Die weitere Entwicklung der Teschener Jesuskirche und ihrer Gemeinde koppelte sich von der der übrigen hier behandelten Kirchenbauten also ab: Bis zum Erlaß des Toleranzpatents von 1781 durch Kaiser Joseph II. war das Gotteshaus die einzige rechtlich anerkannte evangelische Kirche in den habsburgischen Erblanden überhaupt und wurde damit, ungeachtet seiner geographischen Lage an der äußersten Peripherie der Monarchie, zur Keimzelle der gesamten späteren evangelischen Kirchenorganisation Österreichs, was ihr einen besonderen Rang als Erinnerungsort des österreichischen Protestantismus zuweist. Zugleich ist die Teschener Jesuskirche unter den hier behandelten neun Kirchenbauten die einzige, die dem evangelisch-lutherischen Bevölkerungsteil ohne Unterbrechung bis heute als Gotteshaus dient. Zu berücksichtigen ist dabei, daß in Teschen neben der deutschsprachigen von Anfang an auch eine polnischsprachige Gemeinde existierte, die zu jeweils genau festgelegten Zeiten ihre eigenen Gottesdienste feierte, daß hier also auch eine ungebrochene polnisch-religiöse Erinnerungskultur besteht. Als 1809 die Hundertjahrfeier 390

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der Teschener Gnadenkirche im großen Stil begangen wurde, erschien die eigens veröffentlichte Denkschrift ganz selbstverständlich ebenfalls in einer polnischen Fassung. Aller öffentlich betonten Dankbarkeit gegenüber dem Gnadenakt Josephs I. von 1707 zum Trotz hatten auch die schlesischen Lutheraner nie wirklich vergessen, daß der jähe Kurswechsel der Habsburger nicht freiwillig, sondern durch den militärisch-politischen Druck einer ausländischen Macht zustandegekommen war. Zwar hatte Schweden als Garantiemacht des Westfälischen Friedens auch schon an der Entstehung der drei Friedenskirchen nach 16�8 entscheidenden Anteil gehabt, doch war an dem in der Folgezeit vermeintlich zu geringen Engagement Stockholms für die bedrängten Glaubensbrüder im Oderland aus schlesisch-protestantischen Kreisen heraus auch immer wieder Kritik geübt worden. Erst im Kontext der Ereignisse von 1707 kam dann so etwas wie echte Begeisterung auf. Daß die entscheidende Rolle Schwedens bei der „Rettung“ der schlesischen Lutheraner in der Erinnerungskultur im wahrsten Sinn des Wortes stets sichtbar blieb, ist schon der demonstrativ gewählten Architektur geschuldet. Es unterstreicht das Gefühl der Dankbarkeit, daß der aus Reval gebürtige Architekt Martin Frantz sowohl die Hirschberger als auch die Landeshuter Gnadenkirche nach dem architektonischen Vorbild der Stockholmer Katharinenkirche errichtete. Daß das schwedische Engagement auch im Zeitalter nationaler Exklusivitätsansprüche in der historischen Erinnerung lebendig blieb, zeigt die Aufstellung einer Büste Karls XII. in der Teschener Gnadenkirche im Jahr 1935, versehen mit der Inschrift: „Durch seine Fürsprache erhielten wir 1707 diese Jesuskirche.“ Umgekehrt blieb auch die Kirche Schwedens sich dieser Verbundenheit bewußt; zur 250-Jahr-Feier der Teschener Jesuskirche 1959 ließ sie einen ihrer Vertreter in Teschen ein Schwert überreichen, versehen mit der Inschrift: „Das schwedische Volk hat schon lange das Kriegsschwert aufgegeben und führt seit 150 Jahren eine Politik des Friedens. Es will nur ein Schwert in Ehren halten: das Schwert des lebendigen Christuswortes.“ V. Die Friedens- und Gnadenkirchen als Gegenstand deutscher und polnischer Gedenkkultur nach 1945 Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung Schlesiens ab 1944 machten aus den Friedens- und Gnadenkirchen gleichsam unterbrochene Erinnerungsorte. Sie fanden ihren Platz in der populären „Heimatbuch“-Literatur der deutschen Vertriebenen in der Nachkriegszeit sowie in speziellen, zumeist von Geistlichen der vormaligen deutschen Gemeinden verfaßten Erinnerungsschriften, die erwartungsgemäß von einem elegischen Grundton des Verlusts und des Abschieds durchzogen waren. Dabei vollzog sich das Ende des Gemeindelebens keineswegs überall auf einen Schlag. In Schweidnitz etwa war die Zahl der Gläubigen bis 1949 auf etwa 300 abgesunken, doch konnte noch das dreihundertjährige Kirchenjubiläum 1952 – wenngleich in sehr bescheidenem Rahmen – feierlich begangen werden; der letzte vor Ort amtierende deutsche Friedenskirchenpfarrer Herbert Rutz starb 1957. Zu diesem Zeitpunkt hatte sich in Schweidnitz neben 391

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der schwindenden deutschen längst auch eine kleine polnische Gemeinde evangelischlutherischen Bekenntnisses etabliert, deren seelsorgerischer Mittelpunkt die Friedenskirche bis heute ist. Das Gotteshaus hat sich also in ganz neuer Art auch in die Erinnerungskultur des stets in einer Minderheitensituation existierenden polnischen Protestantismus eingeschrieben und entzieht sich somit erst recht einer Nationalisierung des historischen Gedenkens. Die Exzeptionalität ihrer Bauweise bewahrte die Kirchen in Jauer und Schweidnitz vor Abrißmaßnahmen, wie sie nach 19�5 den Neubau in Glogau oder die Gnadenkirchen von Sagan und Freystadt trafen. Daß die beiden erhaltenen Friedenskirchen Ende der 1950er Jahre von den polnischen Behörden zu Baudenkmälern erklärt wurden, bewahrte sie zunächst freilich nicht vor dem schleichenden Verfall. Erst die politische Wende der Jahre 1989/90 hat in dieser Hinsicht einen gemeinsamen deutsch-polnischen Neuanfang ermöglicht. Das „Deutsche Zentrum für Handwerk und Denkmalpflege“ in Fulda sowie die Nikolaus-Kopernikus-Universität in Thorn begannen als Projektpartner 1992 mit der aufwendigen Restaurierung der Schweidnitzer Friedenskirche, die pünktlich zum 350. Jubiläum im Jahr 2002 abgeschlossen werden konnte und dem Bauwerk einen Eintrag in die Weltkulturerbeliste der UNESCO bescherte. Die ungebrochene Bedeutung des Gotteshauses für die evangelisch-lutherische Glaubenswelt verdeutlichte die große Jubiläumsfeier, bei deren Festgottesdienst der amtierende Präsident des Lutherischen Weltbundes in Genf, Bischof Christian Krause, die Predigt hielt. In der gleichfalls zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärten Friedenskirche von Jauer wurde 2002 mit der Restaurierung begonnen, während an die nicht mehr existierende Friedenskirche in Glogau seit 2003 eine Gedenkstätte erinnert, deren niedrige Mauern den Grundriß des Gebäudes (in seiner Neubaufassung von 1773) nachzeichnen. Auf der wissenschaftlichen Ebene sind die Friedens- und Gnadenkirchen seit einiger Zeit Gegenstand primär kunsthistorisch ausgerichteter Publikationen deutscher und polnischer Autoren geworden, während vor allem die außergewöhnlichen Fachwerkbauten von Schweidnitz und Jauer heute wieder bevorzugte Touristenmagneten darstellen. Einerlei, ob heute noch begeh- und erlebbar oder nicht mehr existierend, ob Fachwerk- oder Steinbauten, ob nach 1945 zu katholischen Gotteshäusern umgewidmet (so in Landeshut und Militsch) oder als Mittelpunkte eines evangelisch-lutherischen Gemeindelebens fortbestehend: Die verbindende Gemeinsamkeit der schlesischen Friedens- und Gnadenkirchen als Erinnerungsorte liegt primär auf einer abstrakten Ebene. Sie sind spezifische Hinterlassenschaften des konfessionellen Zeitalters, das in Schlesien länger währte als anderswo. VI. Auswahlbibliographie a) Quellen (Jubiläumsdenkschriften und Predigttexte) soMMer, Christoph: Gratia Dei et Caesaris Gloriosa, Gottes und des Kaysers glorwürdigste Gnade, An MDCCIX. den V. Jun. vor Landeshutt, bey Legung des Grund- und Ersten Steins, zu der aldar von

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Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien Ihro Röm. Kayser- und Königl. Majestät Josepho I., […] Augspurgischen Confession-Verwandten, Evangelischer Bürgerschafft […] allergnädigst erlaubten […] zu erbauen […] Evangelischen GnadenKirche. Breslau 1709; LanGhanss, Gottfried: Kurtzgefasste Nachricht: Von der, mit Kayserl. Allergnäd. Concession, nunmehr vor hundert Jahren erfolgten Auffrichtung Der Evangelischen Kirche A. C. zur H. Dreyfaltigkeit vor Schweidnitz Wie Solche Nachricht Bey dem vor e. Jahre Anno 1752, d. 25. Sept. […] gehalten Jubelgedächtniss: Zuerst ans Licht gegeben, Itzl. aber […] Von neuen übersehen, u. […] verb. worden. Schweidnitz 1753; Denckmahl der Güte Gottes, bey feyerlicher Begehung des Evangel. Jubel-Fests: wegen der unserm Hirschberg vor funfzig Jahren verliehenen Gnaden-Kirche und Schule, welches nach der Vorbereitung, I. eine kurtzgefaßte Kirchen-Geschichte, II. die Lebens-Beschreibungen derer sämtl. Lehrer bey hiesiger Kirche und Schule, III. eine Anzeige der den 7. May, 1759 einfallenden, allerhöchst genehmigten, Fest-Feyer enthält und […] hiermit aufgerichtet wird. [Hirschberg] 1759; KLette von KLettenhof, Georg Friedrich Erdmann: Denkschrift zur öffentlichen Feyer des am 2�. Mai 1809 eintretenden hundertjährigen Jubilaeums der Gnadenkirche augsburgischen Bekenntnisses vor Teschen […]. Brünn 1809 [poln. u. d. T.: Pamiętniki kościoła ewangelickiego z łaski danego przed Cieszynem, przed stema laty założonego, przy świętobliwem obchodzeniu miłościwego lata 2�. maja 1809]; Drey Predigten gehalten am hundertjährigen Jubelfeste der Evangel. Gnadenkirche zur heiligen Dreifaltigkeit vor Landeshut, am 1ten und 2ten May 1809, vom Ministerio daselbst. Landeshut 1809; Fortsetzung der im Jahre 1809 erschienenen kurzen Geschichte der evangelischen Gnadenkirche zu Hirschberg. Nebst einer Anzeige, wie es mit der hundertjährigen Jubelfeier der Einweihung dieser Kirche gehalten werden soll. Hirschberg [nach 1817]; GoGueL, Ed[ouard]: Geschichtliche Denkschrift, betreffend die evang. Friedenskirche zur heiligen Dreifaltigkeit vor Schweidnitz. Schweidnitz 1852; haacKe, G[ustav] A[dolf]: Das 200jährige Jubelfest der evangelischen Friedenskirche „zur heiligen Dreifaltigkeit“ vor Schweidnitz (nebst sämmtlichen bei demselben gehaltenen Predigten). Schweidnitz 1852; schMidt, Friedrich Julius: Geschichte der Begründung des Protestantismus in Schweidnitz und der Schicksale der daselbst errichteten evangelischen Friedenskirche. Schweidnitz 1852; anders, Eduard: Die zweihundertjährige Jubelfeier der Evangelisch-Lutherischen Friedenskirche zu Groß-Glogau. Glogau 1853; bierMann, Gottlieb: Geschichte der evangelischen Kirche Oesterr[eichisch] Schlesiens mit besonderer Ruecksicht auf die der Gnadenkirche vor Teschen. Denkschrift zum 150jährigen Jubelfeste der evangelischen Jesuskirche vor Teschen. Teschen 1859; hänseL, E[rnst]: Sechs Gesänge, betreffend die Geschichte der evangelischen Gnadenkirche zum Kreuze Christi vor Hirschberg. Hirschberg 1859; reyMann, [Friedrich] (Hg.): Die Feier des 150jährigen Jubelfestes der Evangelischen Gnadenkirche zur heiligen Dreifaltigkeit zu Sagan, am 24, 25. und 26. September 1859. Breslau 1859; Die evangelische Gnadenkirche zur heiligen Dreifaltigkeit zu Sagan. Sagan 1859; Die evangelische Gnadenkirche zum Kreuz Christi vor Hirschberg. Eine Festgabe zum 150 jährigen Jubiläum dieser Kirche den �. Juli 1859. Hirschberg 1859; WorthMann, L[udwig]: Die Friedenskirche zur heiligen Dreifaltigkeit vor Schweidnitz. Festgabe zur Vierteljahrtausend-Feier am 22. September 1902. Schweidnitz [1902]; heuber, G[otthard]: Die Evangelische Friedenskirche in Jauer genannt zum heiligen Geist. Festschrift zur Feier des 250jährigen Bestehens der Kirche. Jauer 1906; Meurer, Edwin: Predigt an der 250jährigen Jubelfeier der Friedenskirche zu Jauer, geh. 1906. Jauer 1906; Kunert, Herman: Denkschrift über die 250jährige Jubelfeier der evangelischen Friedenskirche in Jauer. Jauer 1907; [zapKe, Alfred]: Gnadenkirche zum Kreuze Christi, Hirschberg i. Rsgb. Festschrift zur Feier des 200jährigen Bestehens der Gnadenkirche im Jahre 1909. Hirschberg 1909 [ND 1928]; Andenken an das 200jährige Jubiläum der Gnadenkirche in Teschen. Teschen [um 1909]; KoLbe, Johannes: 50 Jahre evangelische Gnadenkirche vor Freystadt 1883–1933. Mit kurzer Geschichte der Kirche. Festschrift zum 225jährigen Jubiläum. Freystadt 1933.

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b) Darstellungen anders, Eduard: Geschichte der evangelischen Kirche Schlesiens. Breslau 1886; bierMann, G[ottlieb]: Geschichte des Protestantismus in Österreichisch-Schlesien. Prag 1897; Wasner, Adolf: Die Schweidnitzer Friedenskirche zur heiligen Dreifaltigkeit. Schweidnitz 21924 [11903]; GrundMann, Günther: Die Baumeisterfamilie Frantz. Ein Beitrag zur Architekturgeschichte des 18. Jahrhunderts in Schlesien, Schweden und Polen. Breslau 1937; horst, Walter: Die Gnadenkirche in Hirschberg. Berlin [um 1939]; Maync, Siegfried: Die Gnadenkirche in Hirschberg. Berlin [um 1939]; Wiesenhütter, Alfred: Der Evangelische Kirchbau Schlesiens von der Reformation bis zur Gegenwart. Hg. v. Gerhard huLtsch. Düsseldorf 21954 [Breslau 11926]; Kuhn, Walter: Die Teschener Gnadenkirche. Die evangelische Mutterkirche Oberschlesiens und die Keimzelle der evangelischen Kirche Österreichs. In: Heimatjahrbuch Ostsudetenland 2 (1955) 392–395; prüfer, Erich: Die Hirschberger Gnadenkirche. Ulm 1957; bunzeL, Hellmuth (Bearb.): Die Friedenskirche zu Schweidnitz. Geschichte einer Friedenskirche von ihrem Entstehen bis zu ihrem Versinken ins Museumsdasein. Ulm 1958; eberLein, Werner: Die Friedenskirche zu Glogau. Das Schifflein Christi. Ulm 1966; brüGMann, Martin: Die Gnadenkirche zur Heiligen Dreifaltigkeit vor Landeshut in Schlesien. Düsseldorf 1969; GrundMann, Günther: Der evangelische Kirchenbau in Schlesien. Frankfurt am Main 1970; GLeisberG, Fritz: Die Gnadenkirche zum Heiligen Kreuz vor Militsch in Schlesien. Düsseldorf 1971; huLtsch, Gerhard: Schlesische Dorf- und Stadtkirchen. Lübeck 1977; hutter-WoLandt, Ulrich: Die evangelische Kirche Schlesiens im Wandel der Zeiten. Studien und Quellen zur Geschichte einer Territorialkirche. Dortmund 1991; ders.: Die evangelische Friedenskirche „Zum Heiligen Geist“ zu Jauer-Jawor. Meckenheim 1994; sKoczyLas-stadniK, Barbara: Kościół Pokoju w Jaworze [Die Friedenskirche in Jauer]. Jawor 199�; hutter-WoLandt, Ulrich: Tradition und Glaube. Zur Geschichte evangelischen Lebens in Schlesien. Dortmund 1995; Gerner, Manfred/schaaf, Ulrich/traPP, Tobias: Kościół Pokoju w Świdnicy – Die Friedenskirche in Schweidnitz. Świdnica 1996; Gerner, Manfred: Restauracja Kościoła Pokoju w Świdnicy – Restaurierung der Friedenskirche in Schweidnitz. Fulda 1997; bahLcKe, Joachim: Religion und Politik in Schlesien. Konfessionspolitische Strukturen unter österreichischer und preußischer Herrschaft 1650–1800. In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 13� (1998) 33–57; [hutter-WoLandt, Ulrich]: Friedenskirche Jauer – Kościoł Pokoju Jawor. Regensburg 1998; schott, Christian-Erdmann: Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die Evangelischen in Schlesien. In: hey, Bernd (Hg.): Der Westfälische Frieden 16�8 und der deutsche Protestantismus. Bielefeld 1998, 99–111; bienecK, Norbert/Pytel, Waldemar: Schweidnitz. Die Friedenskirche – Świdnica. Kościół Pokoju. Świdnica 2002; LanGer, Andrea: Die Gnadenkirche „Zum Kreuz Christi“ in Hirschberg. Zum protestantischen Kirchenbau Schlesiens im 18. Jahrhundert. Stuttgart 2003; noWotny, Sobiesław: Historia Kościoła Pokoju w Świdnicy – Geschichte der Friedenskirche zu Schweidnitz. Świdnica 2003; bronieWsKi, Maciej: Borokowy prospekt organowy w Kościele Łaski w Jeleniej Górze [Der barocke Orgelprosepekt der Gnadenkirche in Hirschberg]. Poznań 200�; harasiMoWicz, Jan: Protestantischer Kirchenbau im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. In: hartMann, Peter Claus (Hg.): Religion und Kultur im Europa des 17. und 18. Jahrhunderts. Frankfurt am Main u. a. 200�, 327–370; LanGer, Andrea: Die Visualität der lutherischen Konfession in der Kunst der schlesischen Territorien (16.–18. Jahrhundert). In: Garber, Klaus (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit. Bd. 2, Tübingen 2005, 819–865; noWotny, Sobiesław: Auf den Spuren des schlesischen Protestantismus – am Beispiel der Friedenskirche in Schweidnitz/Świdnica. In: czapLińsKi, Marek/hahn, Hans-Joachim/WeGer, Tobias (Hg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005, 59–77; harasiMoWicz, Jan/oszczanoWsKi, Piotr/ WisłocKi, Marcin (Hg.): Po obu stronach Bałtyku. Wzajemne relacje między Skandynawią a Europą Środkową – On the Opposite Sides of the Baltic Sea. Relations between Scandinavian and Central European Countries, Bd. 1. Wrocław 2006; Metasch, Frank: 300 Jahre Altranstädter Konvention. 300 Jahre Schlesische Toleranz. Begleitpublikation zur Ausstellung des Schlesischen Museums zu Görlitz. Dresden 2007; sörries, Reiner: Von Kaisers Gnaden. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger

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Die Friedens- und Gnadenkirchen in Schlesien Reich. Köln/Weimar/Wien 2008; WoLf, Jürgen Rainer (Hg.): 1707–2007 Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Europa. Halle/Saale 2008, 88–107; reichenbach, Heinrich von: Die Emporenbilder in der Friedenskirche zu Jauer in Schlesien – Obrazy na emporach w Kościele Pokoju w Jaworze na Śląsku. Jawor 2006; staWiaK, Tomasz: Ewangelicki Kościół Pokoju w Jaworze [Die evangelische Friedenskirche zu Jauer]. Jawor 2008; berGerhausen, Hans-Wolfgang (Hg.): Die Altranstädter Konvention von 1707. Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte und zu ihrer Bedeutung für die konfessionelle Entwicklung in Schlesien. Würzburg 2009; caspary, Hans: Die schlesischen Friedenskirchen in Schweidnitz und Jauer. Ein deutsch-polnisches Kulturerbe. Potsdam 22009 [12005]; bahLcKe, Joachim: Glaubenssolidarität und Öffentlichkeit. Antworten auf religiöse Diskriminierung und Verfolgung in Ostmitteleuropa. In: bahLcKe, Joachim/dybaŚ, Bogusław/rudoLph, Hartmut (Hg.): Brückenschläge. Daniel Ernst Jablonski im Europa der Frühaufklärung. Dößel 2010, 202–219.

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Marien- und Dreifaltigkeitssäulen I. Zusammenfassung. – II. Genese und Charakteristika des Denkmalstypus. – III. Entwicklung und Verbreitung der Mariensäulen. – IV. Dreifaltigkeitssäulen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts. – V. Renaissance des Denkmalstypus im 19. Jahrhundert. – VI. Demontagen und Rekonstruktionen in jüngerer Zeit. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die zwischen der Mitte des 17. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts in mehreren Wellen als Großmonumente wie auch als Flurdenkmale realisierten Marien- und Dreifaltigkeitssäulen bilden ein landschaftliches Charakteristikum Ostmitteleuropas. Der Denkmalstypus Mariensäule wurde in entscheidendem Maße durch die engen Verbindungen zwischen den Herrscherhäusern der Habsburger und der Wittelsbacher geprägt. Vor dem Hintergrund der konfessionellen Auseinandersetzungen im Verlauf und im Anschluß an den Dreißigjährigen Krieg avancierten zunächst die Marien- und – etwas zeitversetzt – auch die Dreifaltigkeitssäulen zu effektiven Medien bei der Implementierung eines dynastisch geprägten Frömmigkeitsmodells, dessen Resonanzboden die Volksfrömmigkeit bildete. Die effektive Verzahnung dieser beiden Ebenen vor dem Hintergrund der Bedrohungen durch Seuchen und äußere Feinde, wie das Osmanische Reich, beförderten eine flächendeckende Verbreitung dieser Denkmäler. Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gerieten einzelne Monumente in den Fokus der Kritik der nationalen Emanzipationsbewegungen. Einen negativen Höhepunkt der Polemik gegenüber diesen Denkmälern, die als Zeugnisse der gewaltsamen habsburgischen Rekatholisierung gebrandmarkt wurden, bildete der Sturz der Mariensäule auf dem Prager Altstädter Ring im Dezember 1918. Vergleichbare ideologisch motivierte Abtragungen, die jedoch nicht zu irreversiblen Schädigungen der Denkmale führten, bildeten die von den kommunistischen Machthabern veranlaßten Verlagerungen von Marien- und Dreifaltigkeitssäulen, die jedoch nach dem Systemwechsel von 1989 wieder rückgängig gemacht wurden. II. Genese und Charakteristika des Denkmalstypus Die Mariensäulen bilden gemeinsam mit den Dreifaltigkeits- und den Nepomuksäulen die markanteste Gruppe von Monumenten in Mittel- und Ostmitteleuropa, die mit den Habsburgern verbunden waren. Diese traten bisweilen als Stifter in Erscheinung oder waren bei Grundsteinlegungen und Weihezeremonien zugegen. Inschriftliche Nennungen wie in Klosterneuburg, die Anbringung des kaiserlichen Wappens wie in Jermer, Linz oder Glatz und nicht zuletzt die mehrfach überlieferte Rudolphinische Hauskrone auf dem Haupt der Gottesmutter bekräftigen die Funktion dieser Votivdenkmale als Signa der katholischen Sache und der Zugehörigkeit zum habsburgischen Machtbereich. 396

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Für gewöhnlich wurden die zwischen der Mitte des 17. und dem Beginn des 20. Jahrhunderts geschaffenen Marien- und Dreifaltigkeitssäulen als städtebauliche Dominanten inszeniert. Vielfach weisen sie mit Wolkenszenerien samt Engeln und Heiligenfiguren auch Elemente auf, die deutlich an Bühnendekorationen angelehnt sind. Weitere Parallelen zum Theater bilden die Illuminationen und Dekorationen im Rahmen von Prozessionen und religiösen Festen. Diese performativen Akte leisteten einen wichtigen vermittelnden Beitrag zwischen den dynastisch geprägten Konzepten der Pietas Austriaca beziehungsweise der Pietas Bavarica und der Frömmigkeit der Bevölkerung. Die Ursprünge der Mariensäule als Denkmalstypus sind nur ansatzweise rekonstruierbar. Zu den möglichen Wurzeln zählt die Praxis der erhöhten Aufstellung von Statuen von Heiligen, vor allem der Stadtpatrone, auf Säulen. An diese Praxis knüpfte man vermutlich auch in Regensburg aus Anlaß der 1519 vom Magistrat initiierten Wallfahrt zur „Schönen Madonna“ an, als man vor der Kapelle mit dem Kultbild eine bereits 1516 von dem Dombildhauer Erhard Heyderich geschaffene Marienstatue auf einer Säule aufstellte. Diese wurde von Pilgern umringt und verehrt, wie dies auf Michael Ostendorfers Holzschnitt von 1519 zu sehen ist. Einen programmatischen Rekurs auf die antiken Triumph- und Ehrensäulen leistete das 161� im Auftrag Papst Pauls V. vor der prominentesten Marienkirche Roms, Santa Maria Maggiore, errichtete Monument, bei dem eine Säule aus der Maxentiusbasilika am Forum Romanum als Stütze für das Standbild der Gottesmutter dient. Ein weiteres mögliches Vorbild für die im Herrschaftsbereich der Habsburger und der Wittelsbacher errichteten Mariensäulen könnte schließlich die in Saragossa seit dem Spätmittelalter verehrte Nuestra Señora del Pilar dargestellt haben, die bereits früh mit dem Glaubenssatz von der Unbefleckten Empfängnis assoziiert wurde. Eine Schlüsselrolle bei der Verbreitung der Mariensäulen in Mittel- und Ostmitteleuropa übernahmen die in München und Wien errichteten Monumente. Hierbei bildeten die Initiativen Herzog Maximilians I. von Bayern, dem Vetter und Verbündeten Kaiser Ferdinands II., zur Instaurierung einer politisch motivierten Marienverehrung eine wegweisende Vorstufe. Am Anfang stand die Weihe der Hofkapelle an die Immaculata (1601) und deren prominente Inszenierung mittels einer von Hans Krumper 1616 angefertigten Bronzestatue an der westlichen Hauptfront der Münchener Residenz. Durch eine Inschrift wird diese als Patrona Boiariae (Bavariae) charakterisiert. Eine vergleichbare politische Botschaft transportierte auch die heute nicht mehr erhaltene Inschrift auf der Rückseite des 1620 von Peter Candid geschaffenen Hochaltarretabels in der Münchener Frauenkirche. Die monumentale Darstellung der Aufnahme Mariä in den Himmel war eine Dankesgabe Maximilians I. nach der Rückkehr aus Böhmen und kommemorierte durch die Inschrift den bayerisch-österreichischen Sieg über die protestantischen Landstände in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag. Der Text preist die Gottesmutter als Schutzherrin des Landes, Beschützerin der herzoglichen Familie und Schlachtenhelferin. Ein ähnliches Konzept verfolgte man bei der Errichtung der Mariensäule auf dem vormaligen Schrannenmarkt (heute Marienplatz) in München. Das am 7. November 1638 geweihte Monument war ein Votiv für die Verschonung Münchens und Landshuts vor den Schweden 1632. Die Dedikation besiegelte gleichzeitig die Weihe Bayerns an 397

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die Gottesmutter. Der feierliche Akt erfolgte bewußt am Vorabend des Jahrestags der Schlacht am Weißen Berg. Die Verbindung zu den Ereignissen von 1620 blieb noch bis ins ausgehende 18. Jahrhundert durch die alljährlich stattfindende Prager Prozession lebendig, die eine ihrer wichtigsten Stationen vor der Mariensäule hatte. Die enge Verzahnung von privater Frömmigkeit mit Initiativen zur dynastischen Legitimation sowie zur Festigung der landesherrlichen Position illustriert ferner die Mariensäule auf dem Platz Am Hof in Wien. Das erste Denkmal an diesem Ort wurde 16�6 im Auftrag Kaiser Ferdinands III. nach dem Vorbild der Mariensäule in München von Johann Jacob Pock aus Sandstein und Granit geschaffen und auf dem Platz vor der Kirche „Zu den neun Chören der Engel“, die seit 1554 von den Jesuiten betreut wurde, aufgestellt. Durch diese Stiftung löste Ferdinand III., der wie sein Vater Mitglied in einer Mariensodalität war, ein Gelübde ein, das er am 29. März 1645 nach dem Abzug des schwedischen Heeres vor Wien abgelegt hatte. Aus diesem Anlaß erfolgte die Übertragung der mittelalterlichen Statue „Unserer Lieben Frau zu den Schotten“ nach Sankt Stephan im Rahmen einer feierlichen Bittprozession unter Beteiligung des gesamten Hofstaates. Gleichzeitig mit dem feierlichen Versprechen, ein Standbild der Gottesmutter aufzustellen, gelobte der Kaiser die Einführung des Festes der Unbefleckten Empfängnis. Bei der Weihe der Mariensäule am 18. Mai 16�7 stellte Ferdinand III. dann „das gantze Land under den schutz, schirm und patrocinium glorwürdigster Jungfrauen Mariae“. Die Proklamation der Gottesmutter zur Herrin und Patronin Österreichs erfolgte mit Zustimmung der Landstände Österreichs unter der Enns und des Wiener Magistrats. Im Rahmen dieses politischen Akts rief man auch den 8. Dezember zum Fest der Unbefleckten Empfängnis aus, wodurch eine bereits bestehende Praxis sanktioniert wurde. In Abstimmung auf die Funktion der Säule als Denkmal der ecclesia militans et triumphans wählte man für die Marienfigur den Typus der Purisima, also der Figur der Maria ohne Kind, aber mit Sternenkranz, die der Schlange den Kopf zertritt. Ähnlich wie in München wurden um den Sockel Figuren der kämpfenden Engel gruppiert, deren Gegner typengeschichtlich in der Tradition der spätmittelalterlichen Plagendarstellungen (Hunger, Krieg, Pest und Häresien) stehen. Das Wiener Denkmal entwickelte sich schnell zu einer Stadtdominante. So wurde die 1662 im Auftrag Eleonoras von Gonzaga, der Witwe Kaiser Ferdinands III., errichtete Fassade des Profeßhauses der Jesuiten durch ihre markante Terrasse deutlich auf die Säule bezogen. Diese selbst wurde später durch ein neues, dauerhafteres und von den Bildhauern Martino Carlone und Carlo Canevale im Auftrag Kaiser Leopolds I. gefertigtes Bronzewerk ersetzt. Die alte Säule überlies man Ludwig Graf Sinzendorf, der eine Neuaufstellung im oberösterreichischen Wernstein am Inn veranlaßte. Am 8. Dezember 1667 erfolgte die Weihe der neuen Wiener Säule an die Immaculata, deren Patronat laut Auskunft der Sockelinschrift die habsburgischen Erbländer unterstellt wurden. Unter den Mariensäulen in Ostmitteleuropa kann das von Johann Georg Pendel 1650 fertiggestellte und ursprünglich auf dem Prager Altstädter Ring aufgestellte Denkmal den prominentesten Rang beanspruchen. Die Weihe der Säule, die den Abzug der Schweden aus Prag sowie den Friedensschluß von Münster 16�8 kommemoriert, erfolgte in An398

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wesenheit Ferdinands III. am 13. Juli 1652, dessen Geburtstag. Der Standort der Säule nimmt Bezug auf die Stelle, an der 1621 die Anführer des Aufstands der protestantischen Stände in Böhmen hingerichtet wurden („Prager Blutgericht“), sowie zur Teynkirche, an deren Fassade bereits 1626 das Standbild Georgs von Podiebrad durch Statuen Ferdinands II. und der Gottesmutter ersetzt worden war. Insbesondere die Tatsache, daß der Strahlenkranz der Gottesmutter aus dem Gold des dort angebrachten goldenen Kelchs gegossen wurde, charakterisierte das Standbild als ein Symbol der Rekatholisierung Böhmens. Im Sinne eines Anknüpfens an die vorreformatorischen Traditionen der Verehrung der Gottesmutter wurde in den Sockel der Prager Säule auch eine Kopie des Gnadenbildes von Altbunzlau, des Palladium Bohemiae, eingelassen. Die Kombination der habsburgischen sakralen Ideologie mit Elementen des böhmischen Landespatriotismus illustriert auch das nach einer Zeichnung von Karel Škreta von Melchior Küsel 1661 gestochene Thesenblatt für den späteren Erzbischof von Prag, Johann Friedrich Graf Waldstein, auf dem die Prager Mariensäule als geistiger Mittelpunkt Europas erscheint, der von einer Glorie der böhmischen Landesheiligen gerahmt wird. Eine vergleichbare Konstellation begegnet bei der 1736 von Ferdinand Maximilián Brokof fertiggestellten Mariensäule mit den böhmischen Landespatronen Wenzel, Veit und Adalbert vor dem Schwarzenbergpalais auf dem Hradschinplatz. III. Entwicklung und Verbreitung der Mariensäulen Die Wiener Mariensäule erfuhr noch während der Herrschaft Kaiser Leopolds I. eine breite Nachfolge. Hierbei handelte es sich jedoch nur zum Teil um kaiserliche Stiftungen wie im Fall des Monuments in der damaligen ungarischen Hauptstadt Preßburg, das 1675 als Votiv nach der Niederschlagung der sogenannten Magnatenverschwörung (166�–1671) errichtet wurde. Das im Auftrag Leopolds I. als Kaiser und gleichzeitig ungarischer König errichtete Denkmal wird von einer Statue der Gottesmutter mit dem Jesuskind bekrönt, während auf einem der Sockelreliefs zwei Engel eine Monstranz präsentieren. Die Verzahnung der beiden Hauptelemente der Pietas Austriaca war Teil einer symbolischen Inbesitznahme des Platzes, an dem neben dem Stadthaus auch die vormalige evangelische Stadtpfarrkirche stand, die 1672 den Jesuiten übertragen worden war. Eine besondere Gruppe unter den während der Herrschaft Leopolds I. errichteten Mariensäulen stellen die Stiftungen anläßlich der militärischen Erfolge gegen die Osmanen dar. Eine erste Welle solcher Denkmalsetzungen erfolgte im Anschluß an den Sieg bei St. Gotthard/Mogersdorf (1664) in der Steiermark mit den Säulen in Graz (1664, Neuaufstellungen 1671, 1796 und 1928), Fürstenfeld (166�), Pischelsdorf (166�) und Ilz (1666). Die Abwehr der zweiten Wienbelagerung 1683 und die nachfolgenden Erfolge in Ungarn und Slawonien wurden im gesamten habsburgischen Herrschaftsgebiet kommemoriert, so zum Beispiel mit den unmittelbar nach 1683 geweihten Mariensäulen in Konstanz am Bodensee und im böhmischen Landskron. Das prominenteste Denkmal in Ungarn wurde 1687 vom Raaber Bischof Leopold Kollonitsch aus Anlaß der Befreiung Ofens von den 399

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Osmanen gestiftet. Abweichend von den Vorbildern in München und Wien ersetzte man bei der Raaber Mariensäule die vier kämpfenden Putti durch Standbilder Johannes des Täufers, des heiligen Antonius von Padua sowie des heiligen Leopold und König Stephans I., des Heiligen, von Ungarn. Die programmatische Verbindung der Immaculata mit dem Namenspatron des Kaisers und der heiligen Vorfahren der Habsburger einerseits und mit dem ersten kanonisierten König von Ungarn andererseits diente propagandistisch der Absicherung der habsburgischen Herrschaft über die gerade von den Osmanen befreiten Territorien. Hierbei wurde das eng mit der Figur des heiligen Stephan assoziierte politisch-theologische Konzept von Ungarn als einem Regnum Marianum in den Dienst gestellt. Dies entsprach der Position des Bischofs und späteren Primas von Ungarn Graf Kollonitsch, der zu den einflußreichsten Beratern des Kaisers zählte und eine Schlüsselrolle bei der politischen und konfessionellen Neuordnung der ungarischen Gebiete in den ersten Jahren der habsburgischen Herrschaft innehatte. Die Visualisierung der Loyalität zum Kaiserhaus bildete auch außerhalb Ungarns einen der wichtigsten Antriebsfaktoren für die Stiftung von Mariensäulen. Zum Kreis der Auftraggeber der neuerbauten Monumente zählten vor allem Mitglieder des Hochadels und des Klerus, die auf diesem Wege auch ihre katholische Glaubens- und Standesidentität öffentlich dokumentierten. 1660 stiftete der böhmische Oberburggraf Bernhard Ignaz von Martinitz eine Säule, die von einer Pietà-Gruppe bekrönt wird (heute auf der Rampe zum Hradschin). Die Mariensäulen im oberschlesischen Friedek (ab 1665) und in Oberglogau (1677) entstanden im Auftrag Franz Eusebius von Oppersdorffs, dessen Familie sich erst unter den Habsburgern in Schlesien niedergelassen hatte. Eine vergleichbare politische Konstellation ist auch bei dem im Auftrag der Grafen von Würben und Freudenthal ab 167� bezeichnenderweise vor der Jesuitenkirche von Troppau erbauten Säulendenkmal überliefert, dessen Sockel ursprünglich wie das Wiener Vorbild von vier kämpfenden Putti umgeben war. Die Votive der habsburgischen Parteigänger umfaßten nicht nur die Denkmale, sondern auch die davor gelesenen Messen, so im Fall der Mariensäule im mährischen Deutsch-Hause (1698), einer Stiftung des Kaiserrichters Franz Ferdinand von Zirckendorff. Zusätzlich zu den Dedikationen weltlicher Herren entstand eine Reihe von Mariensäulen im Auftrag kirchlicher Stellen. Zu den frühesten Beispielen zählt die 1661 vor der Mariä Himmelfahrtskirche auf dem Heiligen Berg bei Přibram errichtete Säule. Deren bekrönende Figurengruppe der Gottesmutter mit dem Jesuskind wurde in bewußter Anlehnung an die vor Ort verehrte und von dem ersten Prager Erzbischof Ernst von Pardubitz gestiftete mittelalterliche Holzskulptur gestaltet. Die Errichtung der Mariensäule war Teil des Ausbaus des Heiligen Bergs durch die Jesuiten zur bedeutendsten MarienWallfahrtsstätte in Böhmen nach 1659. Neben den Jesuiten ließen auch die Zisterzienser Mariensäulen errichten, so 1670 vor dem Kloster in Leubus, dem ersten Monument dieser Art in Niederschlesien. Eine prominente Stiftung aus dem Kreis des Klerus stellt die von dem bereits genannten Bischof Leopold Kollonitsch in Wiener Neustadt dedizierte Mariensäule dar. Diese war ein Erinnerungsmal an die im Jahr 1678 erfolgten Hochzeiten der Schwestern Kaiser 400

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Leopolds I., die der Stärkung der dynastischen Bande zu den Häusern Lothringen und Pfalz-Neuburg dienen sollten. Um die Säule herum wurden die vier Sandsteinstatuen der heiligen Johannes des Täufers, Leopold, Antonius von Padua und Florian angeordnet. 171� erweiterte man diese Gruppe um die Pestheiligen Rosalia, Karl Borromäus, Franz Xaver, Sebastian, Rochus und Benno. Vergleichbare Akzentverlagerungen sind von anderen Monumenten bekannt. Zu den frühesten Beispielen zählen die um 1680 fertiggestellten Mariensäulen im schlesischen Glatz und im böhmischen Pilsen. Einen gewissen Höhepunkt erreichte die Errichtung von Mariensäulen beziehungsweise der damit eng verwandten Dreifaltigkeits- und Nepomuksäulen während der Herrschaft Kaiser Karls VI. Zu den Antriebsfaktoren zählten die militärischen Erfolge gegen das Osmanische Reich und die damit zusammenhängenden Territorialgewinne (Siebenbürgen, Banat) sowie die in Wellen in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts grassierenden Pest- und Choleraepidemien. Unter den Denkmälern aus dieser Periode befindet sich eine Reihe von Projekten, wie die Mariensäule in Palermo (1725–1727), die vom Kaiserhaus mitfinanziert wurden. Die Säule wie auch die Platzgestaltung dienten einer Inszenierung des religiösen Staatskults der Habsburger, die seit 1723 über Sizilien herrschten. Eine vergleichbare symbolische Markierung des Herrschaftsbereichs dokumentiert die unter Kaiserin Maria Theresia im Auftrag der Wiener Hofkammer 1750 in Temeswar installierte Säule, die eine Statue der Immaculata bekrönt, während die Sockelzone Episoden aus dem Leben des heiligen Johannes Nepomuk zeigt. Neben diesen imperial geförderten Projekten ist gerade für die südöstliche Peripherie des Habsburgerreichs eine Reihe von Monumenten überliefert, die durch die dortigen katholischen Eliten oder dem Jesuitenorden nahestehende Sodalitäten angeregt wurden. Dazu gehört die 17�� vor der Kirche und dem Jesuitenkolleg im calvinistisch dominierten Klausenburg aufgestellte Mariensäule, ein Votiv des Grafen Antal Kornis. Parallel wurden auch weiterhin Monumente im Auftrag der politischen Vertretungen der Stände errichtet. So stifteten an der westlichen Grenze des Habsburgerreichs 1719 die Breisgauer Landstände eine Mariensäule vor dem Freiburger Münster, die von den Stadtpatronen Lambert und Alexander flankiert wurde. Zusätzlich zu lokalen Elementen wurden bisweilen national-patriotische Konzepte amalgamiert, etwa bei der Mariensäule in Kopisch (1770), auf der die Gottesmutter das ungarische Wappen präsentiert und somit auf das Regnum Marianum anspielt. Auf dem Gebiet des Königreichs Polen entstanden ebenfalls Denkmäler, die durch die Mariensäulen im habsburgischen Herrschaftsraum, vor allem diejenigen in Wien und Prag, beeinflußt wurden. Ein prominentes Beispiel ist das von dem Architekten und Bildhauer Giuseppe Simone Belotti entworfene Mariendenkmal in der Krakauer Vorstadt in Warschau, durch das der Entsatz von Wien (1683) kommemoriert wurde. Die Figurengruppe der Gottesmutter mit dem Jesuskind erscheint nach dem Vorbild des Passauer Mariahilf-Gnadenbildes konzipiert, das selbst aufs engste mit der Entscheidungsschlacht am Kahlenberg verbunden war. Ein den Mariensäulen vergleichbares Ensemble entstand 1756 durch die Aufstellung einer vergoldeten Statue der Gottesmutter auf dem Minarett der vormaligen Moschee in Kam’’janec’-Podil’s’kyj, einer strategisch wichtigen Fe401

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stung, die bis 1699 Teil des Osmanischen Reiches war. Als weitere Mariensäulen des 17. und 18. Jahrhunderts sind jene in Kobylepole sowie in Borek, Buk und Rydzyna in der Region Posen sowie im östlichen Teil des Königreichs diejenigen im Umfeld der Zentren Lemberg und Lublin zu nennen. Eine Sondergruppe bilden die im Auftrag des polnischen Starosten Fürst Theodor Lubomirski aufgestellten Mariensäulen in Georgenberg und Deutschendorf in der Zips, also der heutigen Slowakei. Beide Städte waren bis 1772 an den polnischen König verpfändet. IV. Dreifaltigkeitssäulen bis zum Ende des 18. Jahrhunderts Die typologisch eng mit den Mariensäulen verwandten Dreifaltigkeitssäulen sind fast ausschließlich auf die vormals habsburgischen Territorien in Mittel- und Ostmitteleuropa verteilt. Wichtige Impulse für deren Entwicklung und Verbreitung kamen aus dem Kreis der habsburgischen Herrscher, für die die intensive Verehrung der Trinität einen integralen Bestandteil ihres herrschaftlichen Selbstverständnisses (Pietas Austriaca) darstellte. Prägnant illustriert dies die Dreifaltigkeitssäule am Graben, dem prominentesten Wiener Stadtplatz, der als Bühne für eine Vielzahl von zeremoniellen Inszenierungen diente. In unmittelbarer Nachbarschaft befand sich darüber hinaus die Peterskirche, Sitz der einflußreichen Dreifaltigkeitsbruderschaft, der auch Kaiser Leopold I. angehörte. Dieser gelobte 1679 vor dem Hintergrund der grassierenden Pest die Errichtung eines Votivdenkmals, das noch im selben Jahr von Joseph Frühwirt fertiggestellt wurde. Das durch den Wiener Magistrat finanzierte Denkmal – eine Holzsäule, die von einer Gnadenstuhlstatue bekrönt wurde – wies deutliche Parallelen zur 1667 eingeweihten bronzenen Mariensäule Am Hofe auf. Durch einen abermaligen Ausbruch der Pest veranlaßt, erneuerte Leopold I. am 25. Oktober 1682 sein Gelübde und versprach bei dieser Gelegenheit die Errichtung eines steinernen Denkmals. Dessen Realisierung verzögerte sich jedoch aufgrund der osmanischen Belagerung Wiens 1683 und den darauf folgenden Krieg in Ungarn. Nach dessen Ende konnten das neue Dreifaltigkeitsdenkmal schließlich 1693 eingeweiht und ihm auf diesem Wege weitere Bedeutungsebenen wie die Siege über die Häresien, die Osmanen und die Todsünden eingeschrieben werden. Das komplexe Programm erarbeiteten die Jesuiten und der kaiserliche Beichtvater Franz Menegatti. Umsetzung fand es in einem von dem Bildhauer und Architekten Johann Bernhard Fischer von Erlach in Zusammenarbeit mit dem kaiserlichen Theateringenieur Ludovico Burnacini entworfenen Wolkenobelisken. Dessen drei Ansichtsflächen versah man mit Reliefs und vollplastisch gearbeiteten Figuren, für deren Ausführung die Bildhauer Matthias Rauchmiller, Paul Strudel, Johann Ignaz Bendl und Matthias Gunst verantwortlich zeichneten. Mittels einer außergewöhnlichen Komposition wurden die irdische und himmlische Sphäre einander gegenübergestellt. Als Verbindungsglied zwischen den beiden Bereichen fungieren neun Engel, stellvertretend für die himmlischen Chöre. Auf diesem Wege erfolgte eine inhaltliche Verzahnung der bekrönenden Dreieinigkeit von Vater, Sohn und Heiligem 402

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Geist mit den an den drei Seiten angebrachten Wappenfolgen, die für die Einheit der habsburgischen Territorien stehen. Ein besonderer Rang wurde der Figur Leopolds I. durch ihre erhöhte Position zugewiesen. Die von Paul Strudel angefertigte Statue des knienden Kaisers, der die Krone abgelegt hat, ersetzte die ursprünglich vorgesehene Figur der Gottesmutter und übernahm somit die Funktion als Vermittler zwischen den Menschen und der göttlichen Trias. Eine vergleichbare Konstellation zeigt Johann Ludwig Schönlebens Stich von 1696, auf dem die Dreifaltigkeitssäule als Verbindungsglied zu der Glorie der 365 habsburgischen Hausheiligen fungiert. Die Darstellung Leopolds als Fürbitter für seine Untertanen und Länder markierte einen Wendepunkt in der Repräsentationspolitik des Kaisers. Zeitgenössische Autoren stilisierten die modestia und pietas Leopolds auf dieser einzigen öffentlichen Statue des Kaisers und dessen Intercessor-Rolle zu einem Gegenentwurf zu den Monumenten König Ludwigs XIV. von Frankreich in Paris. Die in dem Denkmal am Wiener Graben angelegten Invektiven gegen die Osmanen bilden ein wiederkehrendes Motiv. Das gilt zum Beispiel für die Klagenfurter Trinitätssäule, die 1689 fertiggestellt wurde. Deren Sockel zeigt eine Gnadenstuhl-Darstellung, während der Säulenschaft von einem Doppelkreuz über einem Halbmond bekrönt wird. Bei dem Kreuz, dessen Enden die Form von Distelblüten haben, handelt es sich um ein Caravaca-Kreuz, dessen Kult ausgehend von Spanien im 17. Jahrhundert durch die Jesuiten und die Franziskaner nach Mitteleuropa verbreitet wurde. Neben der Funktion als Schutz vor Plagen wurde dem Kreuz auch die Konversion eines islamischen Herrschers zum Christentum zugeschrieben. Die dichten Setzungen von Dreifaltigkeitssäulen in Niederösterreich und den vormals zum Königreich Ungarn gehörenden Territorien kann nicht allein durch die in diesen Gebieten herrschende osmanische Bedrohung erklärt werden. Dies legt ein Vergleich mit Böhmen und Mähren nahe, die sich in einer weniger exponierten Position befunden haben. Für die Verbreitung der Dreifaltigkeitssäulen zeichneten demnach unterschiedliche Gruppen von Akteuren verantwortlich. Neben dem Kaiserhaus, das durch Zuwendungen Projekte wie die 1712 auf dem Oberen Markt in Ofen aufgestellte Säule finanzierte, förderten auch Geistliche die Errichtung von Dreifaltigkeitssäulen. Mit Blick auf Ungarn ist es der eng mit dem Kaiserhaus verbundene Erzbischof Kollonitsch, der bei dem gerade genannten Denkmal in Ofen wie auch bei der 1701 in Ödenburg aufgestellten Säule vermittelnd agierte. Deren Errichtung erfolgte durch Spenden ungarischer Adeliger und interessanterweise mit der Zustimmung der mehrheitlich protestantischen Stadtbevölkerung. Hierbei handelt es sich um eine Ausnahme, denn für gewöhnlich entstanden die Dreifaltigkeitsdenkmäler im Rahmen der Initiativen zur Rekatholisierung. Dies verdeutlicht die Massierung der Säulensetzungen ab der Mitte des 17. Jahrhunderts in Niederschlesien und der Grafschaft Glatz, etwa in Freiwalde (1677), Schweidnitz (1693), Naumburg am Queis (169�) und Glatz (1712). Vorangetrieben wurde die Errichtung dieser Denkmäler durch die Bruderschaft der heiligen Dreifaltigkeit. Einer der wichtigsten Förderer dieser Sodalität, Abt Heinrich III. Kahlert, veranlaßte 1698 403

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auch die Errichtung einer Dreifaltigkeitssäule auf dem Ehrenhof der Prälatur des Zisterzienserklosters Heinrichau. Unter den in der ersten Hälfte des 18. Jahrhunderts in Dörfern, Märkten und Städten in Österreich, Böhmen und Ungarn aufgestellten Dreifaltigkeitssäulen dominieren Stiftungen von wohlhabenden Bürgern, Handwerkern, Beamten und Militärs. Eine Vielzahl von Großprojekten wie im österreichischen Perchtoldsdorf und Linz oder im mährischen Olmütz wurden durch Spenden der Bürgerschaft finanziert. Das zwischen 1717 und 175� in Olmütz erbaute Monument, das in Anwesenheit der Kaiserin Maria Theresia und ihres Gatten Franz I. Stephan von Lothringen eingeweiht wurde, markiert den Höhepunkt in der Entwicklung der Dreifaltigkeitssäule als Denkmalstypus. Auf einer Höhe von 35 Metern wurden mehr als dreißig Statuen und zwanzig Reliefs sowie eine begehbare Kapelle im Sockel zu einem einzigartigen Ensemble kombiniert. Das hier wie auch im Fall des Monuments am Graben in Wien variierte Motiv der Wolkenpyramide bildete gleichzeitig den am weitesten verbreiteten Typus unter den Dreifaltigkeitssäulen. In dem dabei inszenierten Theatrum Sacrum wurde den Darstellungen der Immaculata ein beträchtlicher Raum zugewiesen, etwa durch die Einbindung der Gottesmutter, meist auf der Weltkugel oder über der Schlange stehend, in die narrative Komposition der Denkmäler. Hierzu zählen die Schilderungen der Marienkrönung wie in Karlsbad (1716) und dem Zisterzienserstift Heiligenkreuz (1737–1739) oder die Einbindung der Immaculata in eine Himmelfahrtsszene wie auf der Linzer Pestsäule (1717 und 1723). Die Einfügung der Figur der Maria illustriert deren Anteil am Erlösungswerk, ein Moment, das gerade durch die Protestanten verneint wurde. Einen weiteren repräsentativen Typus bilden die Ädikula-Architekturen mit bekrönenden Dreifaltigkeitsgruppen und flankierenden Standbildern von Heiligen. Drei tragende Säulen verweisen auf die Trinität. Zu den frühen Vertretern dieses Typs zählt das 172� fertiggestellte Denkmal im mährischen Nikolsburg. Die architektonische Gestalt der nachfolgend in Krems an der Donau (1736–1738) und zwischen 1755 und 1762 in Schemnitz errichteten Anlagen orientierte sich an dem von Kaiser Karl VI. gestifteten Vermählungsbrunnen (1732) in Wien. Wie auch im Fall der Mariensäulen wurde auch bei den Dreifaltigkeitsmonumenten der Kreis der Helferheiligen (Rochus, Sebastian, Karl Borromäus und Rosalia) durch Landesheilige erweitert. In Böhmen waren dies vor allem die heiligen Wenzel, Veit und Adalbert, während man in Ungarn primär die heiligen Stephan und Emmerich um die Säulen gruppierte und auf diesem Wege an lokale Traditionen der Volksfrömmigkeit anknüpfte. V. Renaissance des Denkmalstypus im 19. Jahrhundert Nach einer kurzen Stagnationsphase, die durch die Reformen Kaiser Josephs II. eingeläutet wurde, erlebte die Praxis der Aufstellung von Marien- und Dreifaltigkeitssäulen eine Renaissance, wobei die Stiftungen unterschiedlich motiviert waren und phasenverschoben erfolgten. Eine erste Welle von Denkmalsetzungen resultierte aus der ver404

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heerenden Cholera-Epidemie, die Europa zwischen 1830 und 1837 heimsuchte. Daran erinnern die Dreifaltigkeitssäulen im ungarischen Jászberény (1831) oder im österreichischen Breitenbrunn (1832) sowie die 1909 in Bozen errichtete Mariensäule. Neben den neu aufgestellten Säulen standen auch die alten Monumente im Fokus der Hilfesuchenden. 185� fand zur Abwehr der Cholera vor der Münchener Mariensäule ein Massengottesdienst statt. Der zweite wichtige Impuls für die Wiederbelebung der Denkmalstiftungen in Österreich, Böhmen, Mähren und Ungarn war dogmatischer Art. In der Nachfolge der Verkündung des Dogmas von der Unbefleckten Empfängnis durch Papst Pius IX. am 8. Dezember 185� rückten die alten Säulen der Immaculata in den Fokus der Öffentlichkeit, so etwa bei dem am 8. Dezember 1855 im Beisein Kaiser Franz Josephs I. vor der Wiener Mariensäule gefeierten Festakt. Von dieser Veranstaltung versprach man sich eine Festigung der Positionen des Kaiserhauses und der Kirche, die durch die revolutionären Erhebungen von 18�8/�9 geschwächt waren und durch das am 18. August 1855 geschlossene Konkordat auf eine neue Basis gestellt wurden. Vergleichbare Huldigungsfeiern fanden 1904 vor der Immaculata-Säule Am Hof statt. Die Weihe einer neuen Mariensäule vor dem Palazzo di Propaganda Fide in Rom durch Papst Pius IX. 1857 fand auch in Ostmitteleuropa Nachfolge. Ein Jahrzehnt später enthüllte man am 8. Dezember vor der Rochus-Kirche in Pest die von dem Prälaten Miklós Lengyel der Stadt gestiftete Säule mit einer gußeisernen Figur der Immaculata. Zu den jüngsten Exemplaren im Bereich der Donaumonarchie zählen die Denkmäler im böhmischen Mlázovice (1898) und die 1905 vor der Kathedrale in Gran über einen säulenartigen Sockel aufgestellte Statue der Gottesmutter mit dem Jesuskind auf der Mondsichel, die durch die Stephanskrone als Patrona Hungariae ausgewiesen wird. VI. Demontagen und Rekonstruktionen in jüngerer Zeit Ab dem Ende des 19. Jahrhunderts gerieten sowohl die Marien- also auch die Dreifaltigkeitssäulen zunehmend in den Fokus nationaler Auseinandersetzungen. Zu den am weitesten verbreiteten Protestformen gehörte das Entfernen der heraldischen Elemente, die an die Habsburger erinnerten. Entsprechende Aktionen sind nach 1919 aus Polen, Ungarn und Rumänien bekannt. Die schärfste Zuspitzung nationaler Gegensätze zeichnete sich mit Blick auf die Mariensäule in Prag ab. In der böhmischen Hauptstadt kam es bereits um 1900 zu Kontroversen zwischen den katholischen Kräften und den Jungtschechen um die Errichtung des Denkmals für Jan Hus auf dem Altstädter Ring. Während katholische Organisationen den Platz vor der Säule als Ort für ihre öffentlichen Kundgebungen nutzten, bildete das Denkmal der Immaculata für die Nationalbewegung ein Symbol der Gegenreformation, durch die es zum Niedergang der tschechischen Kultur gekommen war. Diese Vision der Ereignisse, die durch den Roman Temno (Finsternis) des Schriftstellers und Historikers Alois Jirásek nach 1914 eine weite Verbreitung erfahren hat, bestimmte die Wahrnehmung des Barock in Böhmen für mehrere Jahrzehnte. 405

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Eine Gruppe Schaulustiger bestaunt die am Abend des 3. November 1918 auf dem Prager Altstädter Ring gestürzte Mariensäule. Der Sturm auf das 1650 fertiggestellte Denkmal, eine Stiftung Kaiser Ferdinands III., die den Abzug der Schweden aus Prag sowie den Friedensschluß von Münster 16�8 kommemorieren sollte, erfolgte durch eine kleine Gruppe tschechischer Nationalisten, die in der Säule ein Dokument für die Unterdrückung der tschechischen Kultur nach dem Sieg der katholischen Partei in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 sah. Die seit nunmehr fast einem Jahrhundert geführten Auseinandersetzungen um die Wiedererrichtung des Denkmals sind ein Spiegel der Debatten zur religiös-politischen Neudefinition der staatlichen Autorität der Ersten Tschechoslowakischen Republik, der ČSSR wie auch der Tschechischen Republik. Bildnachweis: Reproduktion nach Šorm, Antonín/Krajča, Antonín: Mariánské sloupy v Čechách a na Moravé. Příspěv́ky k studiu barokní kultury [Mariensäulen in Böhmen und Mähren. Beiträge zum Studium der Barockkultur]. Praha 1939, 16, Abb. 4.

Unmittelbar nach der Veröffentlichung von Jiráseks Roman kam es 1915 am 500. Jahrestag der Verbrennung von Jan Hus zur Enthüllung des ihm geweihten Denkmals, das nunmehr einen bewußten Gegenakzent zur Mariensäule darstellte. Das konfrontative Gegenüber war allerdings nur von kurzer Dauer, denn bereits wenige Tage nach der Ausrufung der Ersten Tschechoslowakischen Republik kam es am 3. November 1918 zur Zerstörung der Mariensäule durch eine kleine Gruppe von radikalen Nationalisten, die auf dem Rückweg von einer Kundgebung am Weißen Berg waren, wo aus Anlaß des Jahrestags der Schlacht von 1620 eine erste Massenkundgebung im noch jungen Nationalstaat stattgefunden hatte. Der Bildersturm richtete sich primär gegen die Verbindung des Denkmals mit dem Dreißigjährigen Krieg und die damit assoziierte Unterdrückung der tschechischen Kultur. Entsprechend blieben die im 18. Jahrhundert aufgestellten Prager Mariensäulen vor dem Schwarzenbergpalais und diejenige bei St. 406

Marien- und Dreifaltigkeitssäulen

Nikolaus auf der Kleinseite verschont. Die Interpretation des Säulensturzes wie auch die seit den 1920er Jahren geführten Debatten um die Wiedererrichtung des Denkmals bildeten ein wichtiges Moment im Rahmen der Auseinandersetzungen zur religiös-politischen Neudefinition der staatlichen Autorität der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Die Zerstörung der Mariensäule und die Gründung der Tschechoslowakischen Kirche, deren Geschichtsauffassung hussitisch geprägt war, stellte die katholische Kirche – der zwar die Mehrheit der Bevölkerung angehörte, die aber im neu gegründeten Nationalstaat marginalisiert erschien – vor große Herausforderungen. Ein wichtiger Schritt im Rahmen der Bemühungen, sich unter den neuen politischen Gegebenheiten national zu positionieren, war die Gründung der „Tschechoslowakischen Volkspartei“ (Československá strana lidová) im Januar 1919. Deren erster Vorsitzender, Jan Šrámek, setzte sich ab 1923 verstärkt für die Wiedererrichtung der Mariensäule ein, wobei er betonte, daß die tschechische Nation mehrheitlich katholisch sei. Eine Wiedererrichtung wurde trotz der durch Spendensammlungen gesicherten Finanzierung von der Prager Stadtverwaltung abgelehnt. Die Originalteile verblieben somit im Lapidarium des Nationalmuseums. Die ursprünglich am Fuß der Säule aufgestellte Kopie des Altbunzlauer Gnadenbildes wurde auf einen Seitenaltar der Teynkirche transloziert. Ende der 1930er Jahre fertigte man eine Kopie der Marienstatue an, die hinter dem Hauptaltar der neu erbauten Kirche St. Maria Friedenskönigin im Prager Stadtteil Lhotka aufgestellt wurde. Anders als in der Hauptstadt der Tschechoslowakischen Republik kam es in einem anderen Teilbereich der vormaligen Doppelmonarchie nach 1918 sogar zur Neuaufstellung einer Mariensäule. Dabei handelte es sich um die 1679 in Laibach von den Landständen des Herzogtums Krain nach den Siegen über die Osmanen und dem Ende der Pest gestiftete und 1682 geweihte Mariensäule, die 18�� aus statischen Gründen abgetragen worden war. Sie wurde 1938 auf dem Jakobsplatz im Zuge der von dem Architekten Jože Plečnik konzipierten Neugestaltung des Laibacher Stadtraums prominent auf einem neuen klassizistisch anmutenden Unterbau in Szene gesetzt. Eine vergleichbare Neueinrichtung erfuhr die Laibacher Dreifaltigkeitssäule, die vor der Ursulinenkirche aufgestellt wurde. Die kommunistischen Machtübernahmen in Ostmitteleuropa brachten weitere Veränderungen für die Marien- und Dreifaltigkeitssäulen mit sich. Unabhängig von deren mehrheitlich anerkannten Status als historische Denkmale kam es wiederholt zum Abbau und anschließenden Auslagerungen in weniger exponierte Bereiche oder Museen. Von solchen Maßnahmen betroffen waren die Immaculata-Statue vor der Budapester Rochus und Rosalia-Kirche (1949), die Mariensäulen im rumänischen Klausenburg (1959) und im tschechischen Brüx (1976) oder die Pestsäule in Alt-Ofen (1956). Vereinzelt, etwa im Fall der bereits 1918 zerstörten Prager Mariensäule, entwickelte sich die Erinnerung an die nicht mehr vorhandenen Denkmäler zu Chiffren der Opposition gegen die herrschende politische Unterdrückung durch die kommunistischen Machthaber. Dies gilt insbesondere für den Kreis der tschechischen Katholiken im Exil. In diesem Umfeld begann man in den 1950er Jahren auf Betreiben des emigrierten Benediktiners Lev Ondrák mit den Planungen zur Errichtung eines Mahnmals für die Opfer der religiösen Verfolgungen in den kommunistischen Staaten in Form einer Re�07

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plik der zerstörten Prager Mariensäule. Zur Unterstützung dieses Vorhabens initiierten tschechische Studenten eine Geldsammlung, die jedoch schnell von den kommunistischen Machthabern unterbunden wurde. Die Statue der Gottesmutter – eigentlich eine künstlerische Paraphrase des schwerbeschädigten Originals – wurde schließlich durch den im Auftrag des Vatikans tätigen päpstlichen Bildhauer Alessandro Monteleone fertiggestellt und 195� im Benediktinerkloster Sankt Prokop in Lisle, Illinois, aufgestellt, wo sie bis zu ihrer Überführung in ein Prager Kloster 1993 verblieb. Derweil wurde in der Tschechoslowakei die Erinnerung an die Mariensäule in literarischen Werken im Samisdat aufrecht erhalten. Dazu zählen insbesondere die Gedichte von Zdeněk Rotrekl und Jaroslav Seifert, vor allem Morový sloup (Die Pestsäule, 1968–1970), sowie Ludvík Vaculíks Roman Český snář (Tagträume, 1980). Eine Wiedererrichtung der Prager Mariensäule unter Verwendung der im Lapidarium des Nationalmuseums aufbewahrten Originalfragmente wurde nach dem politischen Umbruch von 1989/90 verstärkt diskutiert. Die Initiativen der 1990 gegründeten „Gesellschaft für die Wiedererrichtung der Mariensäule“ zeigten bisher jedoch keinen Erfolg. Gleiches gilt auch für das als Alternative zur Rekonstruktion der Mariensäule vorgeschlagene Mahnmal für die Opfer der nationalsozialistischen und kommunistischen Herrschaft in Form eines Obelisken. Parallel zu der kontroversen Debatte rund um die Prager Mariensäule wurde 1999 in Brüx die Mariensäule wieder aufgebaut. Vergleichbare Restitutionen erfolgten nach 1989 in der ungarischen Hauptstadt, wo die Säule der Immaculata an ihrem angestammten Platz vor der Rochus und Rosalia-Kirche (1991) und die Dreifaltigkeitssäule in Alt-Ofen (1998) wieder aufgebaut wurden. Ein öffentlichkeitswirksames Signal für die neue Akzeptanz der Denkmalgruppe nach 1989 war nicht zuletzt die im Jahr 2000 erfolgte Aufnahme der Olmützer Dreifaltigkeitssäule in die Welterbeliste der UNESCO.

VII. Auswahlbibliographie hauser, Alois: Die Dreifaltigkeitssäule am Graben in Wien. In: Mitteilungen und Berichte des Altertumsvereins zu Wien 21 (1882) 82–10�; baruchsen, Lydia: Die schlesische Mariensäule. Ursprung, Wesen und Beziehungen zu verwandten Denkmalgruppen. Breslau 1931; šorM, Antonín/KraJča, Antonín: Mariánské sloupy v Čechách a na Moravé. Příspěvky k studiu barokní kultury [Mariensäulen in Böhmen und Mähren. Beiträge zum Studium der Barockkultur]. Praha 1939; MatzKe, Josef: Religiöse Barockdenkmäler im Ostsudetenland, Bd. 1–3. Limburg a. d. Lahn/Königstein im Taunus 195�–1972; coreth, Anna: Pietas Austriaca. Österreichische Frömmigkeit im Barock. München 1959; dipLich, Hans: Die Pestsäule auf dem Domplatz in Temeswar. In: Südostdeutsche Vierteljahrsblätter 20 (1971) 1�2–1�8; adaMczeWsKa, Agnieszka: Die Dreifaltigkeitssäulen in Schlesien. In: KaLinoWsKi, Konstanty (Hg.): Studien zur europäischen Barock- und Rokokoskulptur. Poznań 1985, 273–287; schiKoLa, Gertrud: Das öffentliche sakrale Denkmal in den habsburgischen Ländern. Die Auswirkungen der Wiener Pestsäule. Ebd., 253–271; Matsche, Franz: Ostmitteleuropa als barocke Kulturlandschaft. Grundsätzliche Überlegungen. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte �� (1986) 107–113; WoecKeL, Gerhard P.: Pietas Bavarica. Wallfahrt, Prozession und Ex-voto-Gabe im Hause Wittelsbach in Ettal, Wessobrunn, Altötting und der Landeshauptstadt München von der Gegenreformation bis zur Säkularisa-

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Marien- und Dreifaltigkeitssäulen tion und der „Renovatio Ecclesiae“. Weißenhorn 1992; tipton, Susan: „Super aspidem et basiliscum ambulabis ...“. Zur Entstehung der Mariensäulen im 17. Jahrhundert. In: breuer, Dieter (Hg.): Religion und Religiosität im Zeitalter des Barock, Bd. 1. Wiesbaden 1995, 375–398; boecKL, Christine M.: Vienna’s Pestsäule. The Analysis of a Seicento Plague Monument. In: Wiener Jahrbuch für Kunstgeschichte �9 (1996) �1–56; Die Dreifaltigkeits- oder Pestsäule in Temeswar. Stationen einer Wiederentdeckung. München 1996; poLLeross, Friedrich B.: Pro deo & pro populo. Die barocke Stadt als „Gedächtniskunstwerk“ am Beispiel Wien und Salzburg. In: Barockberichte 18/19 (1998) 1�9–168; royt, Jan: Obraz a kult v Čechách v 17. a 18. století [Bild und Kult in Böhmen im 17. und 18. Jahrhundert]. Praha 1999; John, Sabine: Unserer lieben Frauen Säul... Mariensäulen: ein programmatischer Präsentationstypus im Spannungsfeld von Religion, Kunst und Politik. In: niehoff, Franz (Hg.): Maria allerorten. Die Muttergottes mit dem geneigten Haupt 1699–1999. Das Gnadenbild der Ursulinen zu Landshut – altbayerische Marienfrömmigkeit im 18. Jahrhundert. Ausstellungskatalog. Landshut 1999, 16�–177; ziMMerMann, Wolfgang: Die „siegreiche“ Frömmigkeit des Hauses Habsburg. Tridentinische Reform und dynastische Selbstdarstellung in Vorderösterreich. In: Rottenburger Jahrbuch für Kirchengeschichte 19 (2000) 157–175; paces, Cynthia J./WinGfieLd, Nancy: The Sacred and the Profane: Religion and Nationalism in the Bohemian Crownlands, 1880–1920. In: Judson, Pieter/rozenbLit, Marsha (Hg.): Constructing Nationalities in East Central Europe. New York 200�, 107–125; WinKeLbauer, Thomas: Ständefreiheit und Fürstenmacht 1522–1699. Länder und Untertanen des Hauses Habsburg im konfessionellen Zeitalter, Tl. 2. Wien 2003, 185–239; schuLze WesseL, Martin: Die Konfessionalisierung der tschechischen Nation. In: haupt, Heinz-Gerhard/LanGeWiesche, Dieter (Hg.): Nation und Religion in Europa. Mehrkonfessionelle Gesellschaften im 19. und 20. Jahrhundert. Frankfurt a. M./New York 2004, 135–150; GorzeLiK, Jerzy: Unter den Fittichen des österreichischen Adlers: Pietas Austriaca in der Barockkunst Oberschlesiens. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 64 (2006) 23–44; WinGfieLd, Nancy: Flag Wars and Stone Saints: How the Bohemian Lands Became Czech. Cambridge, Mass. 2007; GorzeLiK, Jerzy: Katolicka axis mundi w dobie trydenckiej konfesjonalizacji. Kolumny maryjne na Górnym Śląsku do roku 17�0 [Katholische Axis mundi in der Ära der tridentinischen Konfessionalisierung. Mariensäulen in Oberschlesien bis 17�0]. In: Portret – rocznik głogówecki/Muzeum Regionalne w Głogówku 3 (2009) 117–136; Louthan, Howard: Converting Bohemia. Force and Persuasion in the Catholic Reformation. Cambridge u. a. 2009; GorzeLiK, Jerzy: Zwischen demonstratio catholica und Selbstdarstellung. Künstlerische Stiftungen des katholischen Adels in Oberschlesien im Zeitalter der Konfessionalisierung. In: harasiMoWicz, Jan/Weber, Matthias (Hg.): Adel in Schlesien, Bd. 1: Herrschaft – Kultur – Selbstdarstellung. München 2010, 101–114; Grönert, Alexander: Independence in the Imperial Realm. Political Iconography and Urbanism in Eighteenth-Century Palermo. In: chasteL-rousseau, Charlotte (Hg.): Reading the Royal Monument in Eighteenth-Century Europe. Farnham 2010, 131–152; sLouKa Jiří: Mariánské a morové sloupy Čech a Moravy [Die Marien- und Pestsäulen Böhmens und Mährens]. Praha 2010; Kovács, Zsolt: Coloana Mariei Immaculata din Cluj. Un tip de monument central-european în Transilvania barocă [Die Maria Immaculata-Säule in Klausenburg. Ein mitteleuropäischer Denkmalstypus im barocken Siebenbürgen]. In: Studia Universitatis Babeş-Bolyai. Seria Historia Artium 1 (2010) 7–2�; Karner, Herbert: Der Kaiser und seine Stadt: Identität und stadträumliche Semantik im barocken Wien. In: hirschbieGeL, Jan/paravicini, Werner/WettLaufer, Jörg (Hg.): Städtisches Bürgertum und Hofgesellschaft. Kulturen integrativer und konkurrierender Beziehungen in Residenz- und Hauptstädten vom 1�. bis ins 19. Jahrhundert. Ostfildern 2012, 1�1–160.

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Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna I. Zusammenfassung. – II. Geschichte des Bildes. – III. Religiöse und nationale Reflexion der Barmherzigkeit Gottes. – a) Eigenwahrnehmung der „Stadt der Barmherzigkeit“. – b) Das Barmherzigkeitsbild und die nationalen Feindseligkeiten des 20. Jahrhunderts. c) Die aktuellen Bedeutungen und Formen der Barmherzigkeitsfrömmigkeit. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der ikonographische Typ des segnenden Jesus, der aus seinem offenen Herzen Gnade fließen läßt, und sein Urbild – das in Wilna verehrte Bild des Barmherzigen Jesus – haben neben der allgemein religiösen auch eine lokale Bedeutungsdimension. Das in der ganzen Welt seit dem Ende des 20. Jahrhunderts intensiv verbreitete Bildnis als ein Sinnbild der Frömmigkeit und der Barmherzigkeit Gottes wird mit der Person von Johannes Paul II. verknüpft und ist somit Ausdruck der geistlichen Verbundenheit zu diesem Papst. Mit der Enzyklika Dives in misericordia von 1980 forderte Johannes Paul II. dazu auf, die Idee der Barmherzigkeit nicht aus dem Leben des modernen Menschen zu verdrängen. Im Jahr 2000 verlieh er dem ersten Sonntag nach Ostern im allgemeinen liturgischen Kalender der katholischen Kirche den Titel des Sonntags der Barmherzigkeit Gottes; die Seherin, die zu diesem Kult Anlaß gegeben hatte, Maria Faustyna Kowalska, wurde heiliggesprochen. In Polen und Litauen wird diese Abbildung ganz speziell im Kontext des historischen Wandels in der Mitte des 20. Jahrhunderts gesehen. Sie erinnert an die fünf Jahrzehnte andauernde Verfolgung der Gläubigen unter dem Nationalsozialismus und in der Sowjetunion und an das bei der Erscheinung von Jesus gegebene Versprechen, daß „eine Seele, die dieses Bild verehrt, nicht verloren geht“. Die Visionen werden lokal nicht nur als Versprechen des persönlichen Rettens interpretiert, sondern auch als die erfüllte Erwartung der Volksbefreiung; denn Jesus habe versprochen, auch Städte und Dörfer zu schützen, in denen dieses Bild verehrt wird. In der katholischen Gemeinde in Wilna wird ein weiteres Bedeutungsmotiv des Bildnisses vom Barmherzigen Jesus immer stärker, das die vom Nationalismus angefeindeten benachbarten Völker einander näher bringt. Die aus der Provinz zugezogenen neuen Städter entdecken dank dieses gemeinsamen Glaubenszeichens die Geschichte der Stadt Wilna während der Vorkriegszeit, sie erinnern sich gleichsam daran, indem sie das Erbe der früheren Bewohner zunehmend als ihr eigenes akzeptieren. II. Geschichte des Bildes Die Entstehung des Bildes des Barmherzigen Jesus geht auf die Mystikerin Maria Faustyna Kowalska zurück, die 1905 als Helena Kowalska geboren wurde. Sie trat nach 410

Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna

einer Vision im Jahr 1924 der Kongregation der Schwestern der Muttergottes von der Barmherzigkeit in Warschau bei, lebte von 1933 bis 1936 im Kloster in Wilna und starb 1938 im Krakauer Kloster Lagiewniki an Tuberkulose. Nach den Recherchen der Kongregation der Heiligsprechung und den Daten der Restaurierungsanalyse des Bildes von 2003 gelten die wichtigsten Angaben zur Entstehung des Bildes des Barmherzigen Jesus und dessen weiterer Schicksale als gesichert. Der wichtigsten Quelle, dem Tagebuch von Schwester Faustyna, zufolge, erschien ihr Jesus zum ersten Mal am 22. Februar 1931 in Płock und dann 1933/3� noch einige Male in Wilna. Er zeigte sich dabei in einer weißen gebundenen Tunika, seine rechte Hand zur Segnung erhoben, mit der linken auf die Herzfläche weisend, von der rote und milchige (Blut und Wasser) Strahlen ausgingen. Unter mehreren Dingen, die Jesus bei der Erscheinung gesagt haben soll, gab es eine Anweisung, ein Bild der Vision zu malen, die Stunde seines Todes als die Stunde der Barmherzigkeit Jesu zu begehen, den Barmherzigkeitsrosenkranz zu sprechen und den Barmherzigkeitssonntag zu feiern. Faustyna berichtete in der zweiten Hälfte des Jahres 1933 dem Beichtvater des Ordens, Michał Sopoćko, von der Erscheinung. Dieser beschloß daraufhin, die Aufträge der Vision umzusetzen. Der Priester beauftragte den Maler Eugeniusz Marcin Kazimirowski, der damals im selben Haus in der Altstadt wohnte und meistens für Kirchen malte. Das Bild des Barmherzigen Jesus wurde in der ersten Hälfte des Jahres 1934 geschaffen, wobei Schwester Faustyna regelmäßig das Atelier des Malers besuchte und von ihrer Erscheinung erzählte. Das fertige Bild wurde zunächst in der Wohnung von Michał Sopoćko, später dann im Nonnenkloster der Bernhardiner an der St. Michaelskirche aufbewahrt. Der Öffentlichkeit wurde es zum ersten Mal in einer Andacht in der Kapelle am Tor der Morgenröte in Wilna an drei Tagen des Jahres 1935, am Karfreitag, Karsamstag und am Sonntag nach Ostern, dem Weißen Sonntag, gezeigt; am Weißen Sonntag 1937 wurde es dauerhaft rechts vom Hochaltar in der St. Michaelskirche aufgehängt. Im Jahr 19�8 schlossen die sowjetischen Behörden die St. Michaelskirche. Das Bild des Barmherzigen Jesus wurde den von den Behörden angestellten Wächtern abgekauft und dann beim Priester der Kirche des Heiligen Geistes, Jonas Ellert, aufbewahrt. 1956 überführte es Priester Józef Grasewicz in die Kirche von Novaja Ruda nach Weißrußland. Auch diese Kirche wurde 1970 von den kommunistischen Machthabern geschlossen. Man verlegte die religiöse Ausstattung in eine andere Pfarrei, das Bild des Barmherzigen Jesus selbst verblieb ganz oben auf dem den Altarteil trennenden Balken im verwüsteten Gebäude. 1986 wurde es heimlich nach Wilna transportiert und im Seitenaltar der Kirche des Heiligen Geistes aufgehängt, wobei man es vor der möglichen Aufmerksamkeit der sowjetischen Behörden durch die laufende Renovierung verbarg. 2003 erfolgte in Wilna eine fachkundige Restaurierung durch Edyta Hankowska-Czerwińska aus Leslau. Mit dem Dekret vom 8. März 200� gab Kardinal Audrys Juozas Bačkis bekannt, daß in Wilna ein Wallfahrtsort der Barmherzigkeit Gottes gegründet werde, um das Bild des Barmherzigen Jesus zu verehren. Als Zentrum der Wallfahrt wurde die aus dem 15. Jahrhundert stammende, im 19. Jahrhundert zu einer orthodoxen Kirche umgewandelte Dreifaltigkeitskirche in der Altstadt von Wilna ausgewählt. Die Kirche war in der zwei411

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ten Hälfte des 20. Jahrhunderts von den sowjetischen Behörden geschlossen worden; ihre kirchliche Ausstattung hatte man entfernt. In den Hauptaltar des restaurierten und nur minimal dekorierten Gebäudes wurde Ende September 2005 das Originalbild des Barmherzigen Jesus eingebracht. Michał Sopoćko hatte am Vorabend des Zweiten Weltkriegs zwar ursprünglich den Plan ins Auge gefaßt, eine neue Kirche der Barmherzigkeit Gottes zu errichten, allerdings lediglich den Entwurf fertigstellen können. III. Religiöse und nationale Reflexion der Barmherzigkeit Gottes a) Eigenwahrnehmung der „Stadt der Barmherzigkeit“ Seit Anfang des 21. Jahrhunderts wird Wilna in religiösen und touristischen Texten immer häufiger als die „Hauptstadt der Barmherzigkeit“ bezeichnet; zuvor tauchte dieser Titel allenfalls sporadisch auf. Die Bezeichnung vergrößert nicht nur die Zahl der Pilger nach Wilna, sie beeinflußt auch die Gefühle der Glaubensgemeinschaft der lokalen Bevölkerung. Darüber hinaus verstärkt sie das Nachdenken über den Umgang mit der Vergangenheit und wirft die Frage auf, wie man zu einer allgemeinen Versöhnung finden könne. Der Ursprung des Begriffs der „Hauptstadt der Barmherzigkeit“ gründet in der Verehrung des als Mater Misericordiae bezeichneten Bildnisses der Heiligen Jungfrau Maria aus dem 17. Jahrhundert. Die der Madonna gewidmete Kapelle ist über dem östlichen Stadttor eingerichtet. In diesem Fall verweist sogar der Wandel in der Toponymik auf die Entwicklung und den Aufbau des historischen Gedächtnisses: von alten geographischen Namen Krėvos, Medininkų, Ašmenos (nach den Orten, zu denen man durch das Tor gelangte) über den bildhaften Namen „Spitzes Tor“ im 17. Jahrhundert bis zum symbolischen Namen „Tor der Morgenröte“ im 19. Jahrhundert zur Zeit des nationalen Erwachens. Schon zu Beginn des Kults um das Bild des Barmherzigen Jesus wurde es mit dem Bild der Muttergottes der Barmherzigkeit verknüpft. Diese Verbindung bildete schon bald eine Einheit im Raum des religiösen Gedächtnisses. In typologischer Hinsicht sind beide Bilder höchst aufschlußreich: Durch den dunklen Hintergrund der beiden Darstellungen wird der Blick nicht von der Hauptfigur abgelenkt. Die Madonna am Tor der Morgenröte ist ohne Kind dargestellt und bildet daher ein symmetrisches Maria-undJesus-Paar mit der Vision Faustynas. Die Arme der Mutter der Barmherzigkeit sind auf ihrer Brust gekreuzt; sie deuten zwar nicht direkt aufs Herz, doch liegt die linke Hand fast genauso wie auf dem Bild des Barmherzigen Jesus. Es ist sehr wahrscheinlich, daß der Vergleich und die Verbindung der Bilder der Mutter der Barmherzigkeit und des Barmherzigen Jesus bei der Andacht sowie in ihren pastoralen Auslegungen von einer anderen Andacht inspiriert oder zumindest verstärkt wurden: von der schon früher bekannten Andacht der Vereinten Herzen Jesu und Mariä. Deutlicher Ausdruck dieser Andacht war das Bilderpaar des Allerheiligsten Herzens Jesu und des Unbefleckten Herzens Mariä, die Anfang des 20. Jahrhunderts die beliebte412

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sten Bilder in katholischen Häusern waren. Über gedruckte Vervielfältigungen verbreiteten sie sich rasch, besonders nachdem Papst Pius X. 1908 das Ritual der Weihe von Familien an das Allerheiligste Herz Jesu eingeführt und dazu aufgefordert hatte, daß dem Bild des Allerheiligsten Herzens Jesu der ehrenvollste Platz im Haus gewidmet werden solle. Diese Form der Frömmigkeit hatte ihren Ursprung in den Erscheinungen der heiligen Marguerite Marie Alacoque im 17. Jahrhundert. Beide ikonographischen Typen – der des Allerheiligsten Herzens Jesu und der des Barmherzigen Jesus – sind geprägt vom Motiv des Heilands, der Gnade aus seinem Herzen ausstrahlt und der sie verbindet. In beiden Fällen der Tradition – der vereinten Herzen und der Barmherzigkeit – ist die Abbildung der Muttergottes bedeutend, die eine gewisse Symmetrie zum Bild Jesu darstellt. Es ist zu vermuten, daß gerade dieses Bilderpaar sich im Gedächtnis etablierte und dies der Grund ist, warum die Anzahl der Abbildungen des Barmherzigen Jesus in katholischen Haushalten zeitgleich mit denjenigen der Mutter der Barmherzigkeit zunahm. Die Verbindung zwischen den Bildern der Barmherzigkeit Mariä und Jesu wurde ganz besonders hervorgehoben, als Ende des 20. Jahrhunderts von jungen Katholiken in Wilna eine Idee Gestalt annahm, die auch vom Ordinarius des Erzbistums unterstützt wurde: die Idee, die Vigilie des Barmherzigkeitssonntags mit einer „Weg des Lichts“ genannten Prozession, einer Kerzenprozession durch die Straßen von Wilna vom Tor der Morgenröte bis zum Wallfahrtsort der Barmherzigkeit Gottes, einzuleiten. Seit 2000 – in diesem Jahr hatte die Kongregation für den Gottesdienst verkündet, daß der Weiße Sonntag von der katholischen Kirche als Barmherzigkeitssonntag begangen werden solle – wird eine solche Prozession nunmehr regelmäßig durchgeführt. Das Besondere daran ist, daß sich an dieser Prozession nicht nur die katholischen Bischöfe beteiligen (der Erzbischof von Wilna, der Bischofsvikar, der Militärordinarius, der Apostolische Nuntius, teilweise auch Gastbischöfe), sondern auch andere Geistliche: der lutherische Bischof Litauens, russisch-orthodoxe sowie griechisch-katholische Geistliche, Ordensbrüder und -schwestern sowie verschiedene Laienvereine, die üblicherweise nicht mit der katholischen Seite zusammenarbeiten. Während der Prozession wird an den Hauptkirchen aller beteiligten Konfessionen zu Gebet und Andacht angehalten. Für eine derart konsequente Ökumene muß nicht nur der entsprechende Wille vorhanden sein; alle Seiten müssen auch auf einen Teil ihrer spezifischen Glaubensvorstellungen und Traditionen verzichten und den universellen Gedanken der Barmherzigkeit Gottes in den Mittelpunkt rücken. Die Orthodoxen beispielsweise verehren seit jeher die Madonna vom Tor der Morgenröte, sind jedoch im allgemeinen skeptisch gegenüber neuen Bildnissen. Den Protestanten wiederum ist der Kult der Allerheiligsten Jungfrau Maria fremd. Auch unter einem anderen Aspekt ist die Teilnahme der Vertreter der griechisch-katholischen Gemeinde bemerkenswert, die wegen verschiedener Kränkungen in der Vergangenheit praktisch gar nicht zu einem Kontakt mit der orthodoxen Kirche neigten. Die außergewöhnliche Einigkeit der Christen auf dem „Weg des Lichts“ halten denn auch die katholischen Vertreter der Idee der „Hauptstadt der Barmherzigkeit“ für einen weiteren Beweis des Wunders der Barmherzigkeit Gottes. 413

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b) Das Barmherzigkeitsbild und die nationalen Feindseligkeiten des 20. Jahrhunderts Ihr Tagebuch, das auch Eindrücke aus früheren Jahren enthält, verfaßte Faustyna ab 1933 heimlich. Als nach ihrem Tod 1938 die Texte ihren Ordensschwestern, ihrem Beichtvater und anderen Geistlichen zugänglich wurden, kam es zur Veröffentlichung einzelner Auszüge. Das gesamte Tagebuch wurde erst 1981 in der Originalsprache – auf Polnisch – veröffentlicht. Nachdem die Entstehung des Bildes des Barmherzigen Jesus durch das Tagebuch deutlich geworden war, erlaubten die Kirchenfürsten in Krakau und Wilna, daß Michał Sopoćko die Geschichte des Bildes öffentlich machte und Andachtstexte verbreitete. So erschienen noch vor dem Zweiten Weltkrieg die ersten Publikationen zu diesem Zweck: ein Gebetbuch der Barmherzigkeit Gottes mit einem Abdruck des Bildes des Barmherzigen Jesus, ein Rosenkranz der Barmherzigkeit Gottes und ein Andachtsbildchen. Nach 1939 wurde das Faustyna gegebene Versprechen Jesu, die Orte, an denen das Bild der Barmherzigkeit Gottes verehrt werde, zu beschützen, vor allem in mündlicher Form weiter verbreitet. Man fertigte massenweise Abdrucke des Bildes an, die besonders unter Soldaten beliebt waren. Am Original des Bildes in der St. Michaelskirche in Wilna erschienen die ersten Votivgaben. Es war die Zeit, als die polnischsprachige Bevölkerung, die in Wilna die Mehrheit bildete, schwere Erschütterungen erleben mußte, die nicht nur ihre nationalen Gefühle, sondern auch ihre religiösen Empfindungen zutiefst verletzten. Nachdem das Deutsche Reich 1939 Polen angegriffen hatte, besetzten sowjetische Truppen ihrerseits die östlichen Gebiete Polens. Wilna blieb von den Deutschen besetzt, bis sowjetische Truppen die Stadt 19�� zurückeroberten. 19�5 bis 19�7 wurden die polnischen Bewohner des Gebietes um Wilna dazu genötigt, in die neugewonnenen westlichen Gebiete Polens umzusiedeln, während in die Stadt Wilna massenweise Litauer aus anderen Orten Litauens zogen. Unter diesen Umständen kam unter den einfachen Gläubigen die Deutung auf, die Strahlen, die auf dem Bild des Barmherzigen Jesus aus dem Herzen Christi kommen, wären in den polnischen Nationalfarben (Rot und Weiß) gehalten, und das Bildnis selbst sei ein Zeichen einer besonderen göttlichen Gunst gegenüber den Polen. In Wilna hängt ein Teil der polnischsprachigen Bevölkerung bis heute an dem Bild als an einem Nationalsymbol, das Schutz und Belohnung für die Qualen verheißt, die die Polen in der Vergangenheit erleiden mußten. Vor diesem Hintergrund ist zweierlei bemerkenswert. Zum einen, daß bereits beim Entstehen des Kults um das Bild des Barmherzigen Jesus der polnische Priester Michał Sopoćko eine litauische Fassung des Flugblattes mit dem Barmherzigkeitsrosenkranz veranlaßte; zum anderen, daß auch das erste imprimatur in Wilna 1942 vom damaligen provisorischen Diözesanverwalter, dem litauischen Bischof Mečislovas Reinys, erteilt wurde. Neben der nationalen Interpretation entstand parallel ein Diskurs religiöser Erinnerung, der deutlich macht, daß das Bild für alle katholischen Völker wichtig sei und es unter Litauern und Polen eine Einigung beflügele. So wird in Geschichten über das Schicksal des Bildes, nachdem die sowjetischen Behörden mit der aggressiven Atheisierung begonnen hatten, betont, daß das Bild 1951 dem Wächter der geschlossenen St. 414

Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna

Michaelskirche von zwei Frauen abgekauft wurde – einer Polin und einer Litauerin. Die Beziehung des Bildes zu Wilna und dessen multiethnischer Bevölkerung kommt in der Geschichte zum Ausdruck, als das „apokryphe“ Geständnis der Person zitiert wird, die noch 19�8 – zu einem Zeitpunkt also, als Sopoćko schon nach Polen umgesiedelt war – das Bild heimlich nach Polen schaffen wollte, es sich dann aber anders überlegte: „Mir wurde klar, daß ich damit ein Sakrileg begehe.“ In den 1950er Jahren gab es in Polen etwa 130 Orte, an denen das Bild der Barmherzigkeit Gottes verehrt wurde. Sopoćko bemühte sich darum, daß der Heilige Stuhl die Feiern der Göttlichen Barmherzigkeit bestätigte. Rom verbot allerdings die Verbreitung des Kults, vor allem als Reaktion auf eine Broschüre des Krakauer Jesuiten Józef Andrasz, der die Symbolik des Bildes unzweifelhaft polnisch-nationalistisch gedeutet hatte. Dennoch ließ der Krakauer Erzbischof Eugeniusz Baziak das Bild von Adolf Hylo im Kloster in Krakau-Łagiewniki aufstellen. Am 15. April 1971 zog der Heilige Stuhl aufgrund der Bemühungen des Krakauer Erzbischofs Karol Wojtyła die Erklärung von 1959 zurück. Als Papst Johannes Paul II. förderte Wojtyła später den Kult während seines Pontifikats in hohem Maße. Nachdem das Bild 1986 von Weißrußland nach Wilna zurückgebracht worden war, gelangte es in die Heilig-Geist-Kirche, die nach dem Zweiten Weltkrieg zum Haupttreffpunkt der national engagierten Polen geworden war. In den meisten Pfarrkirchen in Wilna wurden Messen in zwei Sprachen, auf Litauisch und auf Polnisch, zelebriert. In wenigen Kirchen war Litauisch die alleinige Gottesdienstsprache, und nur in der HeiligGeist-Kirche wurde der Gottesdienst ausschließlich auf Polnisch gefeiert. Diese Praxis ging auf Anweisungen der sowjetischen Behörden zurück, die der Auffassung waren, die religiöse Aktivität einer nationalen Minderheit an einem einzigen Ort besser kontrollieren zu können als an verschiedenen Orten. Wie verunsichert die polnische Gemeinde nach der Wiederherstellung der Unabhängigkeit Litauens 1990 war, läßt sich auch daran ablesen, wie demonstrativ die polnischen Gläubigen nicht nur betonten, eifrigere Katholiken zu sein als die Litauer, sondern auch das Bild des Barmherzigen Jesus als eines vermeintlich exklusiven Symbols der Polen in Wilna hervorhoben. Für die Aussöhnung zwischen Litauern und Polen auf religiöser Ebene spielte Papst Johannes Paul II. eine zentrale Rolle. Mit seinem Wirken hängt auch zusammen, daß das Bild des Barmherzigen Jesus nicht länger als nationales Symbol gilt, sondern in seiner universellen Bedeutung verehrt wird. Während seiner apostolischen Reise nach Litauen 1993 sprach der Papst die in der Heilig-Geist-Kirche versammelten Gläubigen als „Litauer polnischer Herkunft“ an und rief vor dem Bild des Barmherzigen Jesus dazu auf, in der Zukunft auf nationale Antagonismen zu verzichten. Bereits schwer von seiner Krankheit gezeichnet, wies Johannes Paul II. die zahlreichen Beschwerden zurück, die Rom erreicht hatten, nachdem der Erzbischof von Wilna beschlossen hatte, das Bild in den extra für seine Anbetung gewidmeten Wallfahrtsort der Barmherzigkeit Gottes zu verlegen. Der Papst unterstützte die Anweisung im Dekret des Ordinarius, „daß an dieser Stätte jeden Tag auf Litauisch und Polnisch gebetet werden soll, außerdem sollen Bedingungen geschaffen werden für Pilger aus allen Ländern, in ihrer Muttersprache zu beten und die Barmherzigkeit Gottes zu lobpreisen“. 415

Paulius V. Subačius

Obwohl es noch an der historischen Distanz fehlt, um über die Nachhaltigkeit der angedeuteten Bemühungen urteilen zu können, gibt es doch schon jetzt Anzeichen dafür, daß das Bild des Barmherzigen Jesus in Wilna, das zum Zeichen der Selbstidentifizierung einer Nation geworden war, immer mehr die Rolle eines Vermittlers der religiösen und lokalen Identität übernimmt. Die multinationale Gemeinde der Barmherzigkeit Gottes, in der junge Menschen überwiegen und die sich erstaunlich schnell nach der Gründung des neuen Wallfahrtsorts zusammengefunden hat, pflegt nicht nur den Kult um das Bild, sondern auch die Verehrung der heiligen Faustyna und des seligen Michał Sopoćko sowie die Erinnerung an die Geschichte des Bildes. Dies motiviert wiederum Litauer der jüngeren und mittleren Generation, die in der litauischen Provinz verwurzelt sind, sich an die Bevölkerung von Wilna in früheren Epochen zu erinnern. Dank der gemeinsamen Verehrung des Bildes und dank der Bezugnahme auf die gemeinsame katholische Identität wird allmählich ein Verständnis dafür gefestigt, daß die Tradition des Kults um die Barmherzigkeit Gottes, die für Litauer immer vertrauter und wertvoller wird, von den vorwiegend polnischsprachigen Stadtbürgern übernommen wurde, die Mitte des 20. Jahrhunderts zerstreut worden waren. Obwohl dieses Erkunden der Stadtgeschichte über Züge kollektiver Erinnerung verfügt, die erst nachträglich neu gestiftet wird, ist es aus christlicher Perspektive als Aufbruch und ermutigendes Signal zu betrachten, weil die Kontinuität des Glaubens immer stärker über die nationalen Grenzen hinweg betont und im Alltag gelebt wird. c) Die aktuellen Bedeutungen und Formen der Barmherzigkeitsfrömmigkeit In den Zeugnissen zu den Erscheinungen des Heilands im Tagebuch von Faustyna findet sich der Hinweis, daß auf dem beziehungsweise am Bild des Barmherzigen Jesus auch der Leitspruch des Gebets angebracht werden soll: „Jesus, ich vertraue Dir“. Bis zum Verlegen des Bildes in den Wallfahrtsort der Barmherzigkeit Gottes in Wilna standen diese Worte unter dem Bild in polnischer Sprache (Jezu ufam Tobie) und kamen in dieser Form in vielen verbreiteten Abdrucken vor. In den Bildern, die seit Anfang des 21. Jahrhunderts verbreitet werden, erscheint der Spruch in verschiedenen Sprachen; im Wallfahrtsort selbst, auf der Apside des Presbyteriumgewölbes, steht er auf Lateinisch (Jesu, in Te confido). Bei der Ausstattung des Wallfahrtsortes wurde der Leitspruch in elf Sprachen – in denen der Nachbarländer Litauens sowie der wichtigsten Weltsprachen – angebracht. Während die Losung in der polnischen Ausführung des Bildes als integraler Teil erscheint, sticht nun das mündliche Gebet, das von den Gläubigen in ihrer jeweiligen Sprache gesprochen wird, im öffentlichen Raum hervor. Dies ist mit dem an Bedeutung gewinnenden Brauch verbunden, den Barmherzigkeitsrosenkranz zu sprechen, der ebenfalls die Grenzen der polnischsprachigen Gemeinde überschreitet und am Wallfahrtsort stets präsent ist, wo er täglich in mehreren Sprachen gesprochen oder gesungen wird; er ist auch unter litauischen Familien verbreitet. Gesungen von den Gebetsgruppen vor allem junger Menschen und verbreitet durch die von ih416

Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna

Plakat für das Jahr der Göttlichen Barmherzigkeit 2011, das einen Ausschnitt des Visionsbildes von Maria Faustyna Kowalska verwendet und die ursprünglich polnische Losung Jezu ufam Tobie in litauischer Sprache wiedergibt. Bildnachweis: Privatbesitz Paulius V. Subačius.

nen aufgenommenen CDs, wurde der Rosenkranz in einer Umgebung beliebt, in der die Tradition des herkömmlichen Rosenkranz-Sprechens kaum noch präsent war. Das vom zeitgenössischen litauischen Komponisten Algirdas Martinaitis 2007 verfaßte Oratorium Gailestingumo altorius (Altar der Barmherzigkeit), dessen Aufführung bei den Feiern der Barmherzigkeit Gottes sowie die eingespielte Aufnahme etablieren zunehmend die litauische Fassung der Worte. �17

Paulius V. Subačius

Weder das Leben der heiligen Faustyna noch ihr Tagebuch, das in mehrere Sprachen übersetzt wurde, können als im kollektiven Gedächtnis verankerte Narrative bezeichnet werden. Einerseits sind in Faustynas Biographie lediglich die Erscheinungen Jesu von Interesse, zumal ihr Tagebuch einen literarisch wenig anspruchsvollen Text darstellt, andererseits erscheint das Bild des Barmherzigen Jesus und der damit verbundene Kult als der einzige Zweck des irdischen Lebens der Heiligen. Daher werden der Lebenslauf der Seherin und ihre Schriften als eine Marginalie, als ein Anhang zu dem Bild gleichsam, gesehen, nicht als eine Sache, die an sich wichtig und attraktiv ist. In Wilna wird den Pilgern angeboten, das kleine Haus zu besuchen, in dem die heilige Faustyna wohnte und wo ihre Zelle wiederhergestellt wurde, ferner das Gebäude, wo das Bild des Barmherzigen Jesus gemalt wurde und das jetzt von Schwestern vom Barmherzigen Jesus bewohnt ist, und nicht zuletzt die Kirche, in der Michał Sopoćko als Priester tätig war. Der maßgebliche Ort jedoch, auf den sich das Hauptinteresse konzentriert, ist das Bild des Barmherzigen Jesus: Im Bewußtsein der Gläubigen ist sein Bezug zu Wilna zwar vielfach gegenwärtig, er ist aber nicht auf einen bestimmten Raum in der Stadt oder auf eine bestimmte Route fixiert. Ein zweites Bild des Barmherzigen Jesus, das sich vom ersten durch eine expressivere Stilistik unterscheidet, malte 1943 der Künstler Adolf Hylo nach dem Tagebuch der heiligen Faustyna sowie nach einem Andachtsbild der Barmherzigkeit Gottes, einer Kopie vom Bild in Wilna, in Krakau. Es wird in der Kapelle des Klosters der Schwestern der Barmherzigen Muttergottes in Kraków-Lagiewniki angebetet, wo Schwester Faustyna ihre letzten Lebensjahre verbrachte. Kopien und Abdrucke des Krakauer Bildes wurden nach dem Zweiten Weltkrieg in Polen und im Ausland verbreitet. Hierzu trug auch die Verteilung von Reproduktionen des Krakauer Bildes durch die polnischen beziehungsweise des Wilnaer Bildes durch die litauischen Pfarreien im Jahr 2011 bei. Man kann gewissermaßen von einem stillen Wettbewerb zwischen den beiden Bildfassungen sprechen, der gerade diese geographische Zuordnung verstärkte (Bild von Wilna versus Bild von Krakau). Darüber hinaus sind noch weitere Fassungen des Barmherzigkeitsbildes bekannt – mehr oder weniger entfernte Kopien, in denen das Bild nationalen oder regionalen Motiven und Traditionen angepaßt wird. So wurde im Frühjahr 2008 in El Salvador, Misamis Oriental auf der philippinischen Insel Mindanao eine 15 Meter hohe Christus-Statue nach dem Bild von Faustyna Kowalska errichtet, wobei die vom Herzen Jesu kommenden Strahlen in weiß-rot und blau gehalten sind. IV. Auswahlbibliographie KoWaLsKa, Faustyna bł. s. M.: Dzienniczek. Miłosierdzie Boże w duszy mojej [Tagebuch. Die göttliche Barmherzigkeit in meiner Seele]. Warszawa 1993; siePaK, Elżbieta s. M./dłubaK Nazaria s. M.: Duchowość Świętej Faustyny [Die Spiritualität der heiligen Faustyna]. Kraków 2000; baronas, Darius u. a. (Hg.): Christianity in Lithuania. Vilnius 2002, 127–162; Grabytė, Jūratė (Hg.): Jesus, I Trust in You. Vilnius 2004; dies. (Hg.): Jėzau, pasitikiu Tavimi [Jesus, ich vertraue auf Dich]. Vilnius 2004; faustyna, św. s.: Listy [Briefe]. Kraków 2005; KoWaLsKa, Faustina šv. ses. M.: Dienoraštis. Dievo

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Das Abbild des Barmherzigen Jesus in Wilna gailestingumas mano sieloje [Tagebuch. Die göttliche Barmherzigkeit in meiner Seele]. Vilnius 2005; sopoćKo, Michał ks.: Miłosierdzie Boga w dziełach Jego [Die Barmherzigkeit Gottes in seinem Werk]. Białystok 2005; szczepaniec, Stanisław ks.: Sanktuarium Bożego miłosierdzia. Przewodnik i modlitewnik pielgrzyma [Das Heiligtum der göttlichen Barmherzigkeit. Führer und Gebetbuch für Pilger]. Kraków 2005; aLišausKas, Vytautas (Hg.): Krikščionybės Lietuvoje istorija [Die Geschichte des Christentums in Litauen]. Vilnius 2006, 341–569; ciereszKo, Henryk kun.: Mykolas Sopočka. Dievo Gailestingumo apaštalas [Mykolas Sopočka. Der Apostel der göttlichen Barmherzigkeit]. Vilnius 2006; ciereszKo, Henryk ks.: Życie i działalność księdza Michała Sopoćki (1888–1975). Pełna biografia apostoła miłosierdzia Bożego [Leben und Wirken des Priesters Michał Sopoćko (1888–1975). Vollständige Biographie des Apostels der göttlichen Barmherzigkeit]. Kraków 2006. caMe, David: Pope Benedict’s Divine Mercy Mandate. Stockbridge, MA 2009. Prayers and History of Divine Mercy: Divine Mercy Apostolate Worldwide. Maryville, Skerries 2010. Dievo Gailestingumo maldos grupė: Įstatai [Cluster for prayer to Divine Mercy: Statute]. Vilnius 2011.

Paulius V. Subačius (aus dem Litauischen von Kristina Sprindžiūnaitė)

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Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ I. Zusammenfassung. – II. Herkunft, Profil und Thematik der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“. – a) Die Anfänge der Unabhängigkeitsbewegung. – b) Berichterstattung und Grundsätze. – III. Geschichte der Verbreitung und Verfolgung. – IV. Gedenkfeiern. – a) Die persönliche Dimension. – b) Die historische Dimension. – c) Die sozialpsychologische Dimension. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die von Priestern und Ordensgeistlichen in den Jahren 1972 bis 1989 herausgegebene Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika (Chronik der Litauischen Katholischen Kirche) war dasjenige Untergrundperiodikum, das innerhalb der Sowjetunion die längste Zeit ununterbrochen erschien. Seine Herstellung und Verbreitung konnte auch durch Sondereinsätze und Repressalien des Komitees für Staatssicherheit beim Ministerrat der UdSSR (KGB) nicht verhindert werden. Die Chronik, eine zuverlässige Quelle für die Zeitgeschichte, ist aber nicht nur ein historisches Phänomen. Sie erfüllt mit ihrem Bild in der Öffentlichkeit, weniger durch ihren Inhalt oder die Ausgaben selbst, auch eine andere Funktion, und zwar die eines Vermittlers zwischen Vergangenheit und Gegenwart. Mit der Chronik der Litauischen Katholischen Kirche als einem Symbol der Widerstandsfähigkeit, des Frömmigkeitsbewußtseins der Gläubigen und des Sieges gegen ein zutiefst atheistisches System identifizieren sich heute viele praktizierende, aber auch traditionelle oder „abgekühlte“ Katholiken. Ein Teil dieser Gläubigen hatte als Leser keinen direkten Kontakt oder Bezug zu der Chronik, als diese herausgegeben wurde, beziehungsweise konnte ihn aufgrund des eigenen Alters gar nicht haben. Daher kann man von einem ausgeprägten Gedächtniskonstrukt a posteriori sprechen, in dem die religiöse Identität verstärkt und die Einzigartigkeit der Gemeinde durch einen symbolischen Ort untermauert wird, wobei sein konkreter historischer Ursprung immer mehr verschwimmt.

II. Herkunft, Profil und Thematik der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ a) Die Anfänge der Unabhängigkeitsbewegung Unmittelbar nach der ersten Besetzung Litauens durch die Sowjetunion im Jahr 1940 leitete die kommunistische Verwaltung Repressionen gegen Priester, Ordensbrüder und engagierte Laien ein. Während der Herrschaft Stalins wurde mehr als ein Drittel der Geistlichen ermordet oder vertrieben, andere sahen sich zur Flucht gezwungen; die Priesterausbildung wurde allgemein sehr erschwert. Nachdem der sowjetische Parteichef Nikita Chruščev 1956 den „Personenkult“ verurteilt hatte, gab es Hoffnungen, die 420

Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“

Kirche werde sich freier betätigen dürfen. Anfang der 1960er Jahre zeigte sich jedoch, daß die vermeintliche Tauwetter-Periode den militanten Atheismus nicht gebändigt, sondern nur die Mittel der Religionsverfolgung geändert hatte. So wurden beispielsweise die nach Stalins Tod (1953) geweihten Bischöfe Vincentas Sladkevičius und Julijonas Steponavičius, die sich bei der Sowjetmacht nicht einschmeicheln wollten, in den Jahren 1959 beziehungsweise 1961 gezielt in entlegene Pfarreien versetzt, damit sie ihre bischöflichen Aufgaben nicht erfüllen konnten. Als Reaktion auf die sich weiter verschlechternde pastorale Lage, aber auch mit Blick auf die Katechese und das Priesterseminar begann sich ein Dutzend damals junger, nach dem Zweiten Weltkrieg geweihter Priester regelmäßig heimlich zu treffen, um über Mittel und Wege zu einer Konsolidierung der Anhänger und zum Widerstand gegen Aktionen der Staatsmacht nachzudenken. Ein Teil der Mitglieder dieser informellen Gruppe knüpfte Verbindungen zu den mit der Zeit immer aktiver werdenden russischen intellektuellen Dissidenten. Hauptsächlich auf Initiative dieser Priester wurden seit 1968 wiederholt Unterschriften unter Petitionen gesammelt, die sich an lokale oder Moskauer Behörden und später auch an internationale Organisationen richteten, in denen mehr Rechte für religiöse Gemeinschaften gefordert wurden. 1972 unterzeichneten beispielsweise in Litauen über 17.000 Menschen ein Memorandum, das an den sowjetischen Parteichef Leonid Brežnev sowie an den Generalsekretär der Vereinten Nationen gerichtet war. Darin wurden die Freilassung der verhafteten Priester, die Rückkehr der vertriebenen Bischöfe und allgemeine Glaubensfreiheit gefordert. Zur gleichen Zeit bildeten sich Gruppen und Netzwerke, die für gleichgesinnte Laien religiöse und philosophische Literatur illegal vervielfältigten und verbreiteten. Das war der Hintergrund, vor dem sich Sigitas Tamkevičius, Mitglied der im Untergrund tätigen Gesellschaft Jesu und engagierter Organisator der erwähnten Priestertreffen, entschloß, eine periodisch erscheinende Untergrundveröffentlichung ins Leben zu rufen. Am 19. März 1972 wurden rund hundert Exemplare der ersten Ausgabe der Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika hergestellt. In der Zeit bis zu Gorbačevs Perestroika gab es in Litauen Versuche, weitere zwanzig Titel illegaler, zumeist christlicher Periodika herauszugeben. Die Chronik jedoch konnte mit der größten Regelmäßigkeit, alle zwei bis drei Monate, vorgelegt werden, ohne von der Staatsmacht bezwungen zu werden. In den Jahren 1972 bis 1989 erschienen insgesamt 81 Ausgaben, die jeweils einen Umfang von 60 bis 80 Seiten hatten. Die Chronik informierte stets auch über andere Untergrundveröffentlichungen, sie publizierte Zusammenfassungen und Auszüge aus entsprechenden Publikationen und gab Einzelheiten der Kirchenverfolgung bekannt. Sie kann insofern als repräsentativ für das gesamte illegale Verlagswesen gelten. Alle diese Tätigkeiten in den 1960er Jahren können rückblickend als Elemente einer um religiöse Unabhängigkeit bemühten Bewegung im Untergrund bewertet werden. Ende der 1970er Jahre beteiligten sich, jedenfalls nach Einschätzungen des KGB, bereits mehr als 20.000 katholische Aktivisten an ihr, die bis zum öffentlichen Aufbruch der nationalen Unabhängigkeitsbewegung im Jahr 1988 kontinuierlich an Stärke und Einfluß gewann. 421

Paulius V. Subačius

b) Berichterstattung und Grundsätze Aus Gründen der Geheimhaltung zog Tamkevičius keine anderen Geistlichen in die Arbeit an der Chronik mit ein; er besaß jedoch die Erlaubnis des Ordensprovinzials, Jonas Danyla SJ, und das Einverständnis von Bischof Sladkevičius für seine Tätigkeit. Sladkevičius werden das Konzept der Veröffentlichung und die Titelidee zugeschrieben. Bei dem Titel orientierte man sich zum einen an polnischen Untergrundperiodika, zum anderen an der von russischen Dissidenten herausgegebenen Chronika tekuščich sobytij, Chronika Archipelaga Gulaga (Chronik des aktuellen Geschehens, Chronik des Archipel Gulag). Eine Veröffentlichung, die keine katechetischen und theologischen Inhalte enthielt, benötigte keine offizielle Zustimmung der Kirchenleitung, es war lediglich eine Genehmigung der kirchenrechtlich Vorgesetzten einzuholen, zumindest der beteiligten Geistlichen und Ordensleute. Dies war nicht zuletzt für die kirchliche Legitimation wichtig. Im Gegensatz zu anderen mittel- und osteuropäischen Staaten gab es in Litauen keine Spaltung zwischen dem Untergrund und der legal tätigen Kirche. Die Chronik besaß insofern, obwohl sie nicht wenige Hinweise auf die Anpassung geistlicher Würdenträger an die Staatsmacht oder sogar Informationen über deren Kollaboration lieferte, auch eine integrierende Wirkung. Die Texte bestanden mehrheitlich aus Meldungen über Verstöße gegen die Menschenrechte. Die meisten Nachrichten betrafen Verfolgungen im Bereich der religiösen Erziehung, es ging um Schüler und deren Eltern, um die Observierung und Bestrafung von Katecheten sowie die öffentliche Bloßstellung von Religionslehrern. Angeprangert wurden Akteure des Kommunistischen Jugendverbands, der Partei und der Strafverfolgungsbehörden. Weitere Nachrichten betrafen die Schicksale von Gläubigen, die wegen ihrer Teilnahme an kirchlichen Beerdigungen oder Prozessionen verhört und bestraft wurden, organisierte Störungen von kirchlichen Umzügen und Andachten, die Beseitigung von Kreuzen und anderen religiösen Symbolen, Behinderungen der Tätigkeit des Priesterseminars und der Bischöfe und andere Vorfälle. Dabei bemühte man sich stets um knappe, nüchterne Zusammenfassungen und faktographische Genauigkeit; viele Meldungen umfaßten nur wenige Zeilen, die nicht mehr als Daten, Zahlen, Orte und Personen nannten. Insgesamt wurden in den Bänden der Chronik über 4.000 Namen und rund 750 Orte genannt. Darüber hinaus enthielt die Chronik zusammenfassende geschichtliche Abhandlungen oder auch summarische Übersichten, beispielsweise Listen mit nach Bistümern geordneten Geistlichen, die den Repressalien der Staatsmacht zum Opfer gefallen waren. In der Chronik fanden sich ferner Materialien, die Dokumentationszwecke erfüllten: Dokumentiert wurden zum einen politische Gerichtsverhandlungen, insbesondere Reden von Angeklagten vor Gericht, in denen diese die Glaubensfreiheit verteidigten, zum anderen kollektive Appelle an staatliche Behörden, kirchliche Vorsteher und internationale Organisationen, sowie schließlich Leserbriefe von Priestern und Laien an die Redaktionen verschiedener Presseorgane. Meist wurde in solchen Fällen genau darauf hingewiesen, welche Rechte im einzelnen verletzt worden waren. Besonderes Augenmerk galt 422

Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“

der Lage und Aktivität der Katholiken und anderer Christen in der Sowjetunion, wobei zweierlei Berichtsformen im Vordergrund standen: Zum einen dokumentierte man den Kampf für die Glaubensfreiheit, zum anderen die Repressalien gegen die Gläubigen. Alle diejenigen, die sich im Westen für Menschenrechte engagierten, fanden in der Chronik präzise und aussagekräftige Informationen. In jeder Ausgabe gab es wohl mehr Fakten zu offensichtlichen Verstößen gegen die Glaubensfreiheit und zu religiös motivierter Verfolgung, als Auslandsjournalisten und Diplomaten über ihre jeweiligen Kanäle zu recherchieren vermochten. Meldungen in der Chronik konnten überdies nicht einfach ignoriert werden, weder von den sowjetischen Behörden noch von denjenigen, die in auswärtigen Regierungen um gute Beziehungen mit Moskau bemüht waren. III. Geschichte der Verbreitung und Verfolgung Vom Original einer Ausgabe der Chronik konnten die wenigen Ordensschwestern, die Tamkevičius zur Hand gingen, auf einer mechanischen Schreibmaschine mit Durchschlagpapier höchstens 24 Durchschriften produzieren. Die tatsächlich hergestellte Anzahl der Exemplare kann jedoch nicht ermittelt werden, da die meisten Empfänger der ursprünglichen Auflage ihr Einzelstück wiederum vervielfältigten – auf Schreibmaschine oder mit der Hand, auf Kleinoffsetdruckern oder Fotokopierern. Dadurch ergab sich eine Gesamtauflage von wenigstens einigen hundert Exemplaren. Der KGB stellte bei Durchsuchungen ganz unterschiedliche Fassungen der Chronik sicher. Noch schwieriger ist es herauszufinden, wie groß der Leserkreis der Chronik war. Die Forschung geht von mindestens 100.000 Lesern aus, denn der Aufforderung auf der Titelseite – „Gelesen – dem nächsten geben! Reproduziere wenn möglich!“ – wurde konsequent Folge geleistet. Russische Dissidenten brachten ihrerseits in den selbstverlegten Samizdat-Publikationen Zusammenfassungen und übersetzte Auszüge der Meldungen aus der Chronik. Die größten Erfolge ergaben sich jedoch durch die erfolgreichen Bemühungen der Herausgeber, die Chronik im Westen Europas bekannt und publik zu machen, üblicherweise in der Form von Mikrofilmen. Die litauischen katholischen Vereine in westeuropäischen Staaten reproduzierten die einzelnen Hefte der Chronik in Auflagen von etwa tausend Kopien und Sammelheften von sieben bis acht Ausgaben, in geschätzten Auflagen von 5.000 Exemplaren, auf Litauisch. Außerdem vertrieben andere Organisationen die Materialien oder zumindest Zusammenfassungen auf Englisch, Französisch, Italienisch, Deutsch, Spanisch, Portugiesisch und Russisch in 138 Ländern in einer Gesamtauflage von 75.000 Exemplaren. Die auf diese Weise verteilte Chronik kam nach Litauen und andere Gebiete der Sowjetunion durch Sendungen von Voice of America (VoA), Radio Free Europe/Radio Liberty, BBC, Deutsche Welle, Radio Vatikan und anderen Rundfunkanstalten. Die Chronik erreichte damit ein ausgesprochen großes Publikum, denn im Baltikum wurden die Auslandssender mindestens in jedem dritten Haushalt regelmäßig gehört. Auch wenn es wegen der Ostpolitik des Heiligen Stuhls Anweisungen an die einzelnen Redaktionen von Radio Vatikan gab, nicht direkt aus Untergrundpublikationen 423

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zu zitieren, so wurde doch ein großer Teil des Materials aus der Chronik in litauischen Sendungen als Nachrichten über Litauen aus der Auslandspresse gesendet, und diese (The Tablet, The Times, Frankfurter Allgemeine Zeitung, El Mundo) bezog sich in der Tat ausgiebig auf laufende Informationen des Untergrunds hinter dem Eisernen Vorhang. Folglich wußte Ende der 1970er Jahre lediglich eine Minderheit der litauischen Bevölkerung nicht, was es mit der Chronik auf sich hatte. Allein die Tatsache, daß die Chronik derart lange im Untergrund zu kursieren vermochte, machte sie zu einem wichtigen Symbol im Widerstandsdiskurs. Die Verfolgung der Herausgeber, der Verteiler, der Korrespondenten und der Leser wurde zu einem der zentralen Elemente im Narrativ des Ringens zwischen Gut und Böse. Der Anfang für solche Lesarten wurde von der Chronik selbst sowie von anderen Samizdat-Publikationen gemacht, die ausführlich über Gerichtsverhandlungen und die Inhaftierung der Verteiler der illegalen Presse berichteten. Für die mit der Herstellung und Verteilung der Chronik verbundenen Tätigkeiten verurteilte und inhaftierte man 18 Geistliche, Ordensangehörige und Laien; mehrere hundert Hausdurchsuchungen wurden vorgenommen, knapp tausend Personen verhört. Die Hauptverdächtigen wurden von KGB-Mitarbeitern observiert. Als der Priester Alfonsas Svarinskas, der bei der Chronik aushalf, und Sigitas Tamkevičius, den der KGB zu Recht als wichtigste Person im Hintergrund identifizierte, im Jahr 1983 verhaftet wurden, tat dies dem Erscheinen der Zeitschrift keinen Abbruch. Eine Ausgabe wurde von Gerarda Elena Šuliauskaitė und Bernadeta Mališkaitė, Schwestern der Kongregation Jesu in der Eucharistie (Sorores Jesu Eucharistici, 19�7 im Untergrund gegründet) erstellt, danach war der Priester Jonas Boruta SJ bis zum Ende als Chefredakteur tätig. Obwohl die „extremistischen Priester“ zehn Jahre inhaftiert waren, erschien die Zeitschrift kontinuierlich weiter. Zwar wußte nur ein enger Kreis im Untergrund von den Hintergründen, doch konnten alle Leser aus der Tatsache, daß die Chronik weiter erschien, ableiten, daß andere Personen die Herausgabe übernommen hatten. In kommunistischer Zeit wurde dies als Triumph der treuesten Kirchenangehörigen gegen das totalitäre System, als Symbol der Überlegenheit gegenüber allen Ausgrenzungen und Verfolgungen wahrgenommen. IV. Gedenkfeiern a) Die persönliche Dimension Ein entscheidender Durchbruch, die Chronik im Bewußtsein der Gläubigen in der postsowjetischen Zeit zu verankern, waren die kirchlichen Berufungen der beiden Redakteure der Chronik – Sigitas Tamkevičius wurde Erzbischof von Kaunas, Jonas Boruta Bischof von Telšiai. In den Augen der Öffentlichkeit, der mögliche andere Motive des Heiligen Stuhls nicht bekannt sein konnten, bedeutete dies eine Anerkennung und Auszeichnung für die Herausgabe der Chronik während der vergangenen Jahrzehnte. Darüber hinaus war einer der einflußreichsten Männer in der katholischen Hierarchie im 424

Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“

Die Abbildung zeigt das Veranstaltungsplakat für eine Konferenz in Wilna, im litauischen Parlament sowie für Gedächtnismessen in Simnas und Kaunas anläßlich des �0. Jahrestages der Erstausgabe der Chronik der Litauischen Katholischen Kirche vom 16. bis 18. März 2012. Den Hintergrund bildet die Illustration des ersten Bandes des Nachdrucks der Chronik, Chicago 197�, gestaltet vom litauischen Künstler Paulius Jurkus. Es handelt sich um einen Bildstock mit der Figur der heiligen Jungfrau Maria, deren Herz von sieben Dolchen durchstoßen wird. Unten sind Titelblätter verschiedener Nachdrucke der Chronik und ähnlicher Untergrundpublikationen abgebildet. Bildnachweis: Privatarchiv Paulius V. Subačius.

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postsowjetischen Litauen, der Wilnaer Erzbischof Audrys Juozas Kardinal Bačkis, diejenige Person, die von 197� bis 1988 bei der Sektion für Allgemeine Angelegenheiten im Staatssekretariat des Vatikan tätig war und Papst Johannes Paul II. aufgrund der Meldungen der Chronik über die Lage der Katholiken in den baltischen Ländern informiert hatte. Bei staatlichen Auszeichnungen und Ehrentiteln verschiedener Universitäten für die Verleger des Untergrunds sowie bei etlichen religiösen wie weltlichen Feierlichkeiten, an denen dieser Personenkreis teilnahm, wurde indirekt stets auch der Chronik gedacht. Diese persönliche Dimension wurde auch bei Konferenzen und Feiern deutlich, die einzelnen Jubiläen der Chronik gewidmet waren; sie werden seit 1992 alle fünf Jahre offiziell im Gebäude des litauischen Parlaments und darüber hinaus in mehreren Pfarreien in ganz Litauen begangen. Die Erinnerungen der Herausgeber und anderer Beteiligter sowie Einzelheiten zur Verfolgung aus den KGB-Archiven füllen die Seiten zahlreicher Bücher, Beiträge und Artikel über die Chronik – allein auf litauischen Internetseiten sind über fünfzig umfangreiche Texte zu finden. Die Autorität von Erzbischof Tamkevičius und das Gewicht seiner öffentlichen Äußerungen sind weniger durch seinen kirchlichen Status zu erklären als vielmehr durch die Identifizierung mit der Arbeit an der Chronik. Der 1999 von Erzbischof Tamkevičius ausgesetzte Preis der Kirchenchronik-Stiftung geht jedes Jahr an eine oder mehrere Personen, die sich in kirchlichen oder auch weltlichen Medien erfolgreich für christlich-humane Werte eingesetzt haben. Die Auszeichnung versteht sich als Zeichen des Einspruchs in Zeiten eines kommerzialisierten und liberalistischen Journalismus. Ihre Verleihung an dem von der Kirche begangenen Welttag der sozialen Kommunikationsmittel (24. Januar) ist eine ständige Erinnerung an die Chronik. b) Die historische Dimension Das Material der Chronik, das nicht nur historischen Forschungen als Quelle dient, sondern auch zur Durchleuchtung ehemaliger sowjetischer Beamter und Agenten, ist weiterhin aktuell und wird es auch bleiben. In der Gegenwart wird die Chronik vermutlich sogar häufiger als Register politischer Diskriminierungen und Verfolgungen denn als Dokument des Widerstands gelesen. Seit dem Jahr 2006 ist eine eigenständige Webseite der Chronik in Betrieb, auf der die vollständigen Ausgaben, detaillierte Indizes sowie zusätzliche Materialien frei zugänglich sind. Dennoch ist die Chronik für sehr viele Menschen keine Quelle im unmittelbaren Sinn, sondern ein symbolisches Zeichen, das eine emotionale und sinnstiftende Bindung herstellt. Eines der wichtigsten Elemente in der historischen Meistererzählung des modernen Litauen sind das von der zaristischen Verwaltung 186� erlassene Verbot, das Litauische in lateinischen Lettern zu drucken, und die erfolgreichen Proteste dagegen, die in erster Linie von illegalen Verlegern ausgegangen waren. Da dieser Widerstand von Bischof Motiejus Valančius initiiert worden war und die religiöse Literatur den Großteil der heimlich vertriebenen Presse ausmachte, erfolgte die nationale und kirchliche Sinngebung parallel. Der Verteiler illegaler Presseerzeugnisse – für eine solche Person wurde 426

Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“

im Litauischen ein eigenständiges Wort geschaffen – „knygnešys“, der Buchschmuggler – war im öffentlichen Bewußtsein als eine Heldenfigur verankert. Im Zuge der Neubewertung der Erfahrungen der Jahre der sowjetischen Besetzung wurden die Untergrundpresse der antisowjetischen Guerilla, ein von einem nach Sibirien verbannten Litauer handschriftlich aus dem Gedächtnis niedergeschriebenes Gebetbuch (das später in großer Auflage verteilt wurde) und die Chronik als Kontinuität und Fortsetzung der Tradition der Buchschmuggler des 19. Jahrhunderts wahrgenommen. Mit anderen Worten: Die Chronik wurde als Wiederholung von Heldentaten der alten Schmugglerfiguren, die von der schöngeistigen Literatur und von der Monumentalkunst symbolhaft erhöht worden waren, in einen der wichtigsten nationalen Mythen eingeschrieben. Die Vereine Knygnešių ainiai (Buchschmugglerahnen) und Valančiukai (Die kleinen Anhänger von Bischof Valančius), die mittlerweile seit mehr als zwanzig Jahren tätig sind, schaffen hierbei die Voraussetzungen, um die Chronik als religiösen Erinnerungsort an die jüngere Generation weiterzugeben. Auch wenn kein öffentlicher oder religiöser Verein gegründet wurde, der explizit an die Tradition der Zeitschrift anknüpft, so sind doch viele, gerade junge Christen von der gefährlichen Tätigkeit der Mitarbeiter der Chronik regelrecht fasziniert; Rebellion gegen „das System“ entspricht offenbar der Mentalität vieler Jugendlicher. c) Die sozialpsychologische Dimension Die hervorgehobene Stellung der Chronik im Gedächtnis der breiten litauischen Öffentlichkeit ist in gewisser Weise paradox. Wird die Zeitschrift heute gelesen oder analysiert, so erinnert die Berichterstattung den Großteil derjenigen, die zur Zeit der Sowjetherrschaft lebten, zwangsläufig daran, daß er sich den Verhältnissen weitgehend angepaßt, vielleicht sogar kollaboriert hatte, daß er sich nicht den Aktionen einer gläubigen Minderheit angeschlossen, ja unter Umständen nicht einmal gewagt hatte, zum Gottesdienst zu gehen. Die Chronik aber, die in Erinnerungen und Erzählungen als abstraktes Symbol religiösen Ungehorsams in den Jahren der Besetzung fungiert, erlaubt es jedem, in dessen Familie wenigstens gelegentlich ein ausländischer Rundfunksender gehört wurde, der wenigstens einmal illegal reproduzierte Druckerzeugnisse in die Hand genommen hatte, sich mit ihr zu identifizieren. Das Augenmerk der Chronik auf die Katechese, die bei Jubiläumsveranstaltungen immer wieder angesprochen wird, belebt die in Familienalben steckende Erinnerung an die erste Kommunion. Die Identifikation vergrößert insofern retrospektiv den Maßstab der Glaubenstreue und des Ungehorsams gegenüber der sowjetischen Staatsmacht; der Chronik als Erinnerungsort wird gleichsam die Aufgabe einer sozialen Therapie zugeschrieben, die in der posttotalitären Gesellschaft von hoher Bedeutung ist. Die Verfechter von Transparenz und journalistischer Freiheit greifen ebenfalls von Zeit zu Zeit auf die Chronik zurück, als Argument für die präventive Aufgabe der Medien. Genauso wie jeder aktive Atheist zu Chronik-Zeiten sich Sorgen machte, daß die �27

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Stimme Amerikas über seine Aktivität berichten könnte, so soll in der demokratischen Gesellschaft jeder korrumpierte Politiker damit rechnen müssen, daß er sich früher oder später auf den Titelseiten der freien Presse wiederfinden kann. Die Chronik-Route – Litauen, Vereinigte Staaten, Litauen – ist nicht nur durch Hörfunkmeldungen, sondern auch auf der visuellen Ebene verwurzelt. Die Art und Weise, wie die Zeitschrift ursprünglich hergestellt wurde, verhinderte die Aufnahme von Abbildungen. Als Ikone der Chronik etablierte sich deshalb die Zeichnung auf dem Schutzumschlag des Sammelbandes mit den Ausgaben 1 bis 7, der 197� in Chicago herausgegeben wurde. Die Zeichnung zeigt einen Bildstock mit der Figur der heiligen Jungfrau Maria, deren Herz von sieben Dolchen durchstoßen wird. Bei der Rückkehr in die freie Welt mußte Litauen, einst eine der reichsten und sozioökonomisch am weitesten entwickelten Republiken der Sowjetunion, die Erfahrung machen, eines der ärmsten und rückständigsten Länder Europas zu sein. Daher war im ersten postsowjetischen Jahrzehnt die Erinnerung an ältere und neuere religiöse Traditionen von besonderer Bedeutung. Die Chronik der Litauischen Katholischen Kirche hatte bei der Konstruktion dieses Mythos eine wichtige Funktion – als Symbol des ausgesprochenen Gottvertrauens unter schwersten Umständen und der Hilfe Gottes für die Gläubigen. Leitmotive des Gedenktags „20 Jahre unabhängiges Litauen“, der 2010 begangen wurde, des von den litauischen Bischöfen angekündigten „Jahres des Danks für die Freiheit“ und des 2012 organisierten vierzigsten Jubiläums der Chronik bestätigen, daß die Erinnerung an die Befreiung des Landes eng mit der Symbolik der religiösen Befreiungsbewegung im Untergrund verbunden ist. Obwohl die Chronik zu ihrer Zeit unter Dissidenten in der Sowjetunion als religiöser Erinnerungsort gut bekannt war, handelt es sich dabei um ein offensichtlich regional begrenztes Phänomen, das heutzutage nur noch Wissenschaftler und Fachleute für die Geschichte der Menschenrechte interessiert.

V. Auswahlbibliographie Lietuvos Katalikų Bažnyčios kronika/Chronicle of the Catholic Church in Lithuania 1–81 (1972–1997); Chronicle of the Catholic Church in Lithuania 1–13 (1972–1989); Chronik der Litauischen Katholischen Kirche 1–78/81 (1973–1991); čeGinsKas, Kajetonas J.: LKB Kronikos dešimtmetis, 1972–1982 [Zehn Jahre Chronik der Litauischen Katholischen Kirche, 1972–1982]. Lampertheim 1983; Die Chronik der Litauischen Katholischen Kirche. München 1983; dauKnys, Pranas: The Resistance of the Catholic Church in Lithuania against Religious Persecution. Rome 198�; reMeiKis, �omas: omas: Dissent in the Baltic Republics. A Balance Sheet. In: Lituanus 30/2 (198�) 5–23; sadūnaitė, Nijolė: A Radiance in the Gulag. Manassas, Va 1987; lieKis, Algimantas (Hg.): Nenugalėtoji Lietuva. Antisovietinis pogrindis. Kalba dokumentai [Das unbesiegte Litauen. Der antisowjetische Untergrund. Dokumente berichten], Bd. 2. Vilnius 1993; tininis, Vytautas: Sovietinė Lietuva ir jos veikėjai [Das sowjetische Litauen und seine Akteure]. Vilnius 1994; virbaLas, Lionginas SJ: Katalikų dvasinė patirtis ateistinio persekiojimo metais Lietuvoje (1972–1998) [Die geistliche Erfahrung der Katholiken in den Jahren der atheistischen Verfolgung in Litauen (1972–1998)]. In: LKMA Metraštis 9 (1995) 225–272; vardys, Vytautas S. (Hg.): Krikščionybė Lietuvoje [Das Christentum in Litauen]. Chicago 1997; bLozneLis, Mindaugas (Hg.): Kronika, Lietuvos Katalikų Bažnyčios Kronika [Chronik, die Chronik der Litauischen Katholi-

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Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ schen Kirche]. Vilnius 1997; spenGLa, Vidas: Lietuvos Katalikų Bažnyčios kronika. 11-as tomas [Die Chronik der Litauischen Katholischen Kirche, Bd. 11]. Kaunas 1997; JaKubčionis, Algirdas: Bažnyčios pasipriešinimas 1970–1980 m. [Widerstand der Kirche 1970–1980]. In: LKMA Metraštis 12 (1998) 157–163; sadausKas, Vytautas SJ: „LKB Kronikos“ medžiaga dvasinio ugdymo teologijos šviesoje [Das Material der „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ im Lichte der Theologie der geistlichen Erziehung]. In: LKMA Metraštis 12 (1998) 19–2�; vaišviLaitė, Irena: Apie Rytų politiką ir vyskupų skyrimus. Interviu su Agostino Casaroli [Zur Ostpolitik und zu den Ernennungen der Bischöfe. Ein Interview mit Agostino Casaroli]. In: Naujasis Židinys-Aidai 5–6 (1998) 287–290; JaseLiūnas, Egidijus: „Lietuvos Katalikų Bažnyčios kronika“ kaip pogrindžio periodikos leidybos istorijos šaltinis [Die „Chronik der Litauischen Katholischen Kirche“ als Quelle zur Geschichte der Herausgabe von Untergrundperiodika]. In: LKMA Metraštis 1� (1999) �25–�35; spenGLa, Vidas: The Church, the „Kronika“, and the KGB web. Vilnius 2002; narKutė, Vilma: The Chronicle of the Catholic Church in Lithuania in Defence of Religious Liberty (1972–1989). In: Soter 7, 9, 12 (2002–200�) 159–181, 1�5–161, 151–177; boruta, Jonas SJ: Lietuvos Katalikų Bažnyčios kronika ir žmogaus teisių sąjūdis Vakaruose [Die Chronik der Litauischen Katholischen Kirche und der Menschenrechtsbewegung im Westen]. In: LKMA Metraštis 22 (2003) 627–638; streiKus, Arūnas: Lithuanian Catholic Clergy and the KGB. In: Religion, State & Society 3�/1 (2006) 63–70; ders.: Antykościelna polityka władzy sowieckiej na Litwie (19��–1990) [Die antikirchliche Politik der Sowjetmacht in Litauen (19��–1990)]. Kraków 2010.

Paulius V. Subačius (aus dem Litauischen von Kristina Sprindžiūnaitė)

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Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad I. Zusammenfassung. – II. Die Bedeutung von Medvedgrad für die kroatische Geschichte. – a) Ergebnisse der Feldforschung. – b) Politische Vereinnahmung der Geschichte. – c) Impuls zur „Geistigen Erneuerung Kroatiens“. – III. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ (auch „Altar der Heimat“, Oltar Domovine) ist eine Installation des kroatischen Künstlers Kuzma Kovačić in den Ruinen einer mittelalterlichen Festung hoch über Zagreb auf halber Höhe des Bergmassivs Medvednica, das den Übergang von der Pannonischen Tiefebene zum Voralpenland bildet. Dort wurden von 1979 bis 1987 die Überreste einer 1590 von einem Erdbeben zerstörten mittelalterlichen Burganlage, Medvedgrad, ausgegraben. Diese war zwischen 1249 und 1254 offensichtlich zum Schutz der Saveebene gegen Einfälle der Mongolen erbaut worden. Um 1250 entstanden in den Königreichen Kroatien und Slawonien zahlreiche Burgen. Sie bildeten die Fortsetzung eines Festungssystems, das König Béla IV. nach den Mongolenstürmen in Nordostungarn errichten ließ. Medvedgrad bildete den Kern, um den sich die mittelalterliche Handels- und Bürgersiedlung Gradec – eine der drei Städte, die dann im 19. Jahrhundert zum späteren Zagreb zusammenwuchsen – entwickelte. Als Bauherren werden der 12�7 inthronisierte Zagreber Bischof Philipp von Türje und ein Domherr namens Benko genannt. Die Eigentümer waren sowohl der ungarisch-kroatische König als auch der Bischof und das Domkapitel von Zagreb. Laut einer Überlieferung sollten auf Medvedgrad bei einem Vordringen der Mongolen, die bereits 1241 Kroatien verwüstet hatten, der Domschatz, einer anderen Tradition zufolge die königlichen Insignien verwahrt werden. Wechselnde Eigentümer und nachlässige Verwalter ließen die Burg verfallen, bis sie durch das Erdbeben weitgehend zerstört wurde. Als 1992 die internationale Gemeinschaft Kroatien als neuen Staat anerkannte, ließ der damalige Staatspräsident Franjo Tuđman – trotz zahlreicher Appelle von Kunsthistorikern und anderen Wissenschaftlern, die Ruinen als Zeugen der mittelalterlichen Befestigungs- und Burgenarchitektur unangetastet zu lassen – die Ausgrabungsstätte „revitalisieren“ und zum zentralen Repräsentationsbau für künftige Staatsbesuche ausbauen. Ein „Altar“ mit einem „Ewigen Feuer“ bildet die Gedenkstätte für die in allen Kriegen gefallenen Kroaten. Experten sprachen sich in einer engagierten öffentlichen Diskussion gegen die politische Instrumentalisierung eines historischen Denkmals und für die Erhaltung der authentischen Überreste aus. Der Umbau und die Nutzung zu protokollarischen Zwecken wurden jedoch durchgesetzt. Allerdings stellte man die Nutzung der Anlage nach dem Tod Tuđmans am 10. Dezember 1999 ein. 2006 wurde die mittlerweile verwahrloste und mutwillig beschädigte Anlage als Bestandteil des Erholungs- und Nationalparks „Medvednica“ renoviert. 430

Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad

II. Die Bedeutung von Medvedgrad für die kroatische Geschichte a) Ergebnisse der Feldforschung Um die Ruinen im dichten Laubwald der Medvednica ranken sich Sagen von einer „verwunschenen Festung“ (ukleta utvrda). Die Ruinen, in denen die ungarisch-kroatische Königin und römisch-deutsche Kaiserin Barbara von Cilli aus dem im 14. und 15. Jahrhundert bedeutenden Geschlecht der Grafen von Cilli ihre Seele dem Teufel verschrieben haben und nachts als „Schwarze Königin“ (Crna kraljica) durch den Wald geistern soll, reizten nicht nur die Phantasie der romantischen Dramatiker und Romanschriftsteller, sondern auch die allgemein historisch interessierter Kreise. Der Zagreber Geschichtsforscher und Archivar Ivan Kukuljević Sakcinski, der sich 18�3 als Abgeordneter des Kroatischen Parlaments (Sabor) zum ersten Mal auf Kroatisch statt in lateinischer Sprache an das Parlament wandte, ließ die Ruinen von Beamten des Kroatischen Staatsarchivs, Mijat Novak und Mijat Sabljak, kartographieren und topographische Skizzen von Medvedgrad anlegen. Sie werden im Archiv der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste verwahrt. Quellen zur Baugeschichte und zum Aussehen von Medvedgrad fanden sich im Archiv der Bischöfe von Zagreb: zum Beispiel die Chronik des Zagreber Erzdiakons und Domherrn Ivan Gorički aus dem Jahr 133� (Sbornik pravah i povlasticah kaptola zagrebačkoga) oder der Liber acclavatus, eine Sammlung von Statuten des Domkapitels und Rechtsgutachten über Besitzverhältnisse des Zagreber Domkapitels, in dem auch Medvedgrad zum Grundbesitz der Zagreber Bischöfe gezählt wird. Als Bauherr eines castrum Medue wird darin der Zagreber und nachmalige Bischof von Gran, Philipp von Türje, genannt, der 12�7 in Zagreb inthronisiert und 1262 nach Gran berufen wurde. Auch ein Domherr namens Benko erscheint als Bauherr. Die Burg sollte – so bemerkte Ivan Gorički – bei einem neuerlichen Einfall der Mongolen, die 12�1 die ursprünglich romanische Domkirche schwer verwüstet hatten, den Domschatz aufnehmen (pro conservando thezauro ecclesiae metu Thartarorum). In einer Urkunde im Graner erzbischöflichen Archiv bestätigt Papst Innozenz IV. Bischof Philipp, daß der ungarische König Béla IV. Baugrund zur Errichtung einer Festungsanlage zum Schutz des Suffraganbistums Zagreb (castrum episcopi) geschenkt habe. Diese Schenkung von königlichem Grundbesitz hängt mit den Bestimmungen des Konzils von Lyon zusammen, das 12�5 alle christlichen Fürsten verpflichtete, ihre Länder gegen die Mongolen zu schützen. Das Archiv der Bischöfe von Zagreb enthält spätere Dokumente, denen zufolge Medvedgrad drei Eigentümer hatte: die Bischöfe von Zagreb, das Domkapitel und die jeweiligen ungarisch-kroatischen Könige. König Béla IV. und sein Sohn Stephan II. hielten ihr Eigentumsrecht an Medvedgrad noch hoch, zumal sie die Burg als Stützpunkt im Krieg gegen die Parteigänger König Přemysl Ottokars II. von Böhmen benötigten. Aber nach dem Friedensschluß mit dem Přemysliden, dem Tod König Bélas IV. (1270) und Bischof Philipps (1272) kam Medvedgrad 1273 an das Bistum Zagreb und das Domkapitel „zu ewigem Gebrauch“. Besitzstreitigkeiten der vom Kapitel eingesetzten und rasch wechselnden Verwalter (insgesamt 107 bis zur Zerstörung der Festung durch das Erdbeben im Jahr 1590) brachten Medvedgrad bald in 431

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Verruf; schon in Ivan Goričkis Dokumentensammlung von 133� wird Medvedgrad als maledictum castrum bezeichnet. Als Verteidigungsbastion mußte sich Medvedgrad nie bewähren. Der nahezu 600 Meter hohe, steil abfallende Felsen war weit genug von der Hauptkette der Medvednica entfernt, so daß die Burg von dieser Seite nicht angegriffen werden konnte. Von der Festung aus konnten die ganze südlich gelegene Saveniederung, die Handelswege und die sich zu Füßen von Medvedgrad entwickelnde Stadt ohne Schwierigkeiten kontrolliert werden. Doch diese strategische Lage verlor infolge der Entwicklung von Feuerwaffen in der Frühen Neuzeit ihre Bedeutung. Medvedgrad wurde nach dem Ende der Kämpfe gegen den König von Böhmen nicht mehr auf die Probe gestellt. Die Osmanen drangen auf ihrem ersten Zug nach Wien bis weit östlich von Zagreb vor, was die Verlagerung der Festungsbauten ins Flußdreieck Save-Drau-Mur erforderte. Im „Großen Türkenkrieg“, als die Osmanen von Bosnien aus Sisak belagerten und damit auch Zagreb bedrohten, hatte ein Erdbeben die längst verwahrlosten Festungsmauern bereits einstürzen lassen. Das stärkste Erdbeben in Zagreb – einer Zone erhöhter seismischer Aktivität – ereignete sich 1880. Wie schwer Medvedgrad dabei beschädigt wurde, ist nicht bekannt, da die Anlage zu diesem Zeitpunkt verlassen war. Zwischen 1979 und 1981 fanden, nach Luftaufnahmen des waldbedeckten Areals, archäologische Grabungen statt, die dann allerdings infolge der politisch-wirtschaftlichen Krise in Jugoslawien nicht fortgesetzt werden konnten. Bis dahin hatten die Ausgrabungen einen Langbau aufgedeckt, der an die Bodenkonfiguration angepaßt war. Reste von drei Toren und zwei Wachttürmen kamen ebenfalls zutage. Schlecht ausgeführte Grundmauern deuten auf Eile beim Bau hin und erhärten die Annahme, daß Medvedgrad tatsächlich zur Verteidigung gegen weitere erwartete Mongoleneinfälle errichtet worden war. Die Überreste der Mauern zeigen jedoch auch sorgfältig bearbeitete Steinblöcke und Steinummantelungen der Ziegelwände in den Wohnobjekten. Die Burgkapelle, den Namenspatronen des bischöflichen Bauherrn Philipp, den Aposteln Philipp und Jakob, geweiht, hatte einen achteckigen Grundriß und stellt damit einen Sonderfall unter den zahlreichen kroatischen und slawonischen Festungen aus dem Mittelalter dar. Teile des romanischen Portals und der romanischen Säulen an den Eckpunkten des Achtecks, Verzierungen der Kapitelle und des frühgotischen Netzrippengewölbes sowie Überreste der Wandfresken im Stil der italienischen Maniera bizantina wurden zur Konservierung ins Archäologische Museum in Zagreb gebracht. Vom Burgpalas wurden nur wenige Mauerreste gefunden. Das bedeutet, daß dieser weitgehend zerstört wurde, weil das Gemäuer schon vor dem Beben brüchig war und Medvedgrad nicht kontinuierlich saniert wurde, obwohl eine Renovierung durch italienische Baumeister nach einem Erdbeben 157� bezeugt ist. Nach den schweren Zerstörungen durch das Beben 1590 verließen die damaligen Verwalter, die kroatischen Grafen Gregorianc, Medvedgrad endgültig. Insgesamt spielte Medvedgrad laut den historischen und archäologischen Befunden in der kroatischen Geschichte keine bedeutende Rolle. Es ragt auch bau- und kunstgeschichtlich nicht aus der großen Zahl von Festungsbauten des 13. und 1�. Jahrhunderts heraus. Medvedgrad war weder eine Bischofs- noch eine königliche Residenz. 432

Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad

b) Politische Vereinnahmung der Geschichte Die begründete Annahme, daß Medvedgrad keine historische Bedeutung beigemessen werden kann, wurde durch kroatische Politiker ignoriert, die für die am 15. Januar 1992 von der internationalen Staatengemeinschaft anerkannte Republik Kroatien nach einem repräsentativen Bau für künftige ausländische Staatsbesuche Ausschau hielten. Präsident Tuđjman selbst bestimmte einen ausgewählten Kreis von Historikern, Kunsthistorikern und Architekten, die Medvedgrad in dieser Hinsicht beurteilen sollten. Er philosophierte darüber, wie er den mit der Anerkennung Kroatiens zögernden europäischen Politikern „beweisen“ könne, daß die Kroaten schon im Mittelalter eine „politische Nation“ dargestellt hätten, „zu den ältesten Völkern Europas“ gehörten, sich mit der Taufe und dem Treuebekenntnis gegenüber dem Papst in Rom für den lateinisch-christlichen Kulturkreis entschieden, dem byzantinischen Erbe eine Absage erteilt und sich als eine der ersten „Kulturnationen“ Europas profiliert hätten. Daher könne Kroatien mit vollem Recht Anspruch auf die Gewährung der Eigenstaatlichkeit erheben, zumal die neu anerkannte Republik Kroatien in direkter Linie die Kontinuität vom frühmittelalterlichen Staat fortsetze. Die Revitalisierung der Überreste von Medvedgrad sei gewissermaßen die materielle Entsprechung zur Erfüllung des tausendjährigen Traumes der Kroaten von einem eigenen Staat. Ende Februar 1992 berief der Präsident Architekten, Urbanisten und Historiker ein und eröffnete ihnen den Plan, eine kroatische Gedenkstätte für alle Opfer des tausendjährigen Ringens um die Eigenstaatlichkeit und zugleich ein materielles Symbol des „verwirklichten Traumes“, einen kroatischen „Altare nazionale“ zu errichten und zu diesem Zweck die Ruine Medvedgrad wiederzubeleben. Den Einwand der Experten, der „Altare nazionale“ sei ein Projekt des faschistischen Italien, seines Opfer- und Totenkultes, sowie der Vergötzung des Staates, konterte der Präsident mit dem Argument, der „Altare nazionale“ sei auch ein Denkmal der italienischen Einigung, die viele Gemeinsamkeiten mit der kroatischen Staatswerdung habe. Wenn es für Medvedgrad kaum Quellen für seine tatsächliche Funktion gebe, sei dies eher ein Vor- als ein Nachteil, denn umso freier könne man dessen Vergangenheit interpretieren und adaptieren. Medvedgrad sollte nach dem Willen des Präsidenten als Sitz im Leben für die „geistige Erneuerung“ (duhovna obnova) Kroatiens, für die Wiedererweckung des verschütteten nationalen Selbstbewußtseins und der nationalen Identität dienen. c) Impuls zur „Geistigen Erneuerung Kroatiens“ Der Begriff „Geistige Erneuerung“ erwies sich in der ersten Zeit nach der Erlangung der Unabhängigkeit als starke Motivation für die kroatische Bevölkerung. Er existierte als religiöser Begriff, in dem die Vorstellung mitschwang, der Krieg sei eine Strafe Gottes für Sünden der Vergangenheit – die Abkehr vom Glauben zur Zeit des staatlich verordneten Atheismus zwischen 1945 und 1990 – gewesen. Die staatliche Führung Kroatiens 433

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griff die ursprünglich religiöse Idee der „Geistigen Erneuerung“ unbesehen auf, hatte aber keine anderen Inhalte anzubieten als die Empfehlung, sich auf die nationale Bedeutung des Christentums für die Kroaten zu besinnen. Kirche und Staat wußten sich einig in der Überzeugung, daß das kroatische Volk, die kroatische Nation und damit die Republik Kroatien nur mit einer eindeutig bestimmten nationalen Identität Bestand und Zukunft haben könnten und sie sich mit nationalem Selbstbewußtein zum Beitritt zu überstaatlichen Organisationen entscheiden sollten. Diese eindeutige Identität konnte auf folgende Formel gebracht werden: Bekenntnis als nationale Kroaten und Bekenntnis als Katholiken. Diese Konzepte beweisen, daß die Bewußtseinslage der politischen Eliten des neuen Staates Kroatien viel Unvermitteltes, Unausgegorenes und Widersprüchliches enthielt: Ernst Kilian konstatierte ein „Minderwertigkeitsgefühl [...], Bedürfnis nach Selbstlegitimation [...], das Bedürfnis, an [...] große Traditionen der Vergangenheit anzuknüpfen“. Der Präsident dachte an eine Nutzung der Anlage in der Weise, daß künftige ausländische Staatsgäste dort die protokollarischen Ehrenbezeugungen leisten sollten und hierfür ein „Altar des Vaterlandes“ errichtet werden solle. Die „Ewige Flamme“ sollte jener gedenken, die seit dem Untergang des ersten kroatischen Staates im frühen Mittelalter ihr Leben für sein Wiedererstehen geopfert hatten. Kunsthistoriker, Archäologen und Denkmalschützer rieten dem Präsidenten inständig von der „Revitalisierung“ der Ruinen von Medvedgrad ab, da eine protokollarische Verwendung Eingriffe in die historische Bausubstanz in einem Maße erforderten, welche die Authentizität des Bauwerks zerstören würden. Gegen die Instrumentalisierung von Ruinen zu Repräsentationszwecken führten sie zu Jahresbeginn 1992 ins Feld, daß der Krieg noch nicht zu Ende sei: Es galt nur ein Waffenstillstand vom 3. Januar 1992 (de facto wurde der Krieg 1998 beendet). Kroatien habe noch den Wiederaufbau zu bewältigen. Die kroatischen Soldaten hätten für ein lebenswertes Land gekämpft, nicht für pompöse Denkmäler. Von der Idee, Kroatien durch einen „Altar des Vaterlandes“ zu repräsentieren, distanzierte sich sogar die katholische Kirche Kroatiens in einer Veröffentlichung der katholischen Nachrichtenagentur IKA am 20. Mai 1994. Kurz vor der geplanten Enthüllung des „Altars“ verwendete sie dabei eine Formulierung, die angeblich der Primas der Katholischen Kirche Kroatiens, der Zagreber Erzbischof Franjo Kardinal Kuharić, in einer vertraulichen Vorsprache beim Präsidenten gegen den Altar vorgebracht hatte: Dies sei eine Profanierung des liturgischen Elements und des Opfergedankens, ja eine blasphemische Anmaßung, da Opfer nur Gott dargebracht werden sollten. Schließlich meldete sich auch der Bildhauer Alem Korkut, selbst Kriegsteilnehmer, zu Wort: Unter den kroatischen Kriegsteilnehmern gebe es Atheisten und Indifferente, deren Motive für die Teilnahme am Krieg nicht unbedingt etwas mit Kroatien und seinen Bestrebungen zu tun hatten. Sie alle mit einem christlichen Symbol zu vereinnahmen, bedeute eine Instrumentalisierung von Religion und Nation. Eine lebhafte Medienkampagne zur Erhaltung der authentischen Ausgrabungsstätte von Medvedgrad hatte keinen Erfolg. 1993 wurden die Türme und ein Teil des Palas aufgebaut, weil darin die Auflage eines Goldenen Buches zur Eintragung für die Staats434

Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad

gäste vorgesehen war. Zwischen der südlichen Ringmauer und dem Südturm wurde der eigentliche „Altar des Vaterlandes“ mit der Ewigen Flamme errichtet. Den Auftrag erhielt – unter Umgehung einer öffentlichen Ausschreibung – ein akademischer Bildhauer aus Split, Kuzma Kovačic. Er hatte sich bis dahin mit Altären für Kirchenneubauten als religiöser Künstler profiliert und sich auch öffentlich als solcher bekannt. Sein „Altar des Vaterlandes“ auf Medvedgrad ist der Mittelpunkt eines Stelenfeldes mit schachbrettartiger Anordnung. Diese ahmt das Schachbrett im Wappen der Republik Kroatien nach. Den „Altar“ bildet ein weißer Sandsteinblock. Er und die umgebenden Stelen tragen Flechtbandornamente, wie sie vorromanische Kirchenbauten aus dem 8. bis 10. Jahrhundert aufweisen; wegen der zahlreichen, in Dalmatien erhaltenen Bauwerke aus dieser Zeit bezeichnen kroatische Kunsthistoriker sie als „altkroatische Kunst“. Den „Altar“ ziert die Nachbildung des Kreuzes auf dem Taufbecken des kroatischen Fürsten Višeslav aus dem 8. Jahrhundert in der Heiligenkreuzkirche in Nin bei Zadar. Damit soll nicht nur an eines der bedeutendsten altkroatischen vorromanischen Werke, sondern auch an die Christianisierung der Kroaten und die Vermittlung der Schriftkultur durch die Missionare erinnert werden. In die Stelen und die Mauern wurden tropfenförmige Glasperlen in den Farben der kroatischen Fahne – rot, weiß, blau – eingelassen, die „Tränen Kroatiens“ (suze hrvatske). Der Künstler des „Altars“ sieht in seinem Werk keine Profanierung des liturgischen Altars, zumal die Liturgiereform des Zweiten Vatikanischen Konzils den Altar in den Mittelpunkt der Gemeinde gerückt und ihn nicht nur als Ort des Mysteriums, sondern auch des gemeinsamen Vollzugs der Gedächtnisfeier bestimmt habe. Daher bringe der „Altar“ auf Medvedgrad den Gedanken der Gemeinschaft aller Menschen und die neue Schöpfung zum Ausdruck. Der „Altar des Vaterlandes“ wurde am 30. Mai 1994, dem damaligen kroatischen Nationalfeiertag, enthüllt und in der Folge vor allem für nationale Gedenkfeiern genutzt. Nur ein ausländischer Politiker, aus Bosnien-Herzegowina, besuchte Medvedgrad. Die letzte staatliche Kranzniederlegung nahm an Allerheiligen 1999 der schon sichtlich von seiner schweren Erkrankung gezeichnete Präsident Tuđman vor. 2001 beschloß die Stadtregierung von Zagreb, Medvedgrad mit allen baulichen Veränderungen zu erhalten, weil auch die an Medvedgrad begangenen Bausünden Zeitzeugen einer abgelaufenen Ära, der schwierigen Anfangszeit der Republik Kroatien und des damaligen Bewußtseinsstandes der Bevölkerung darstellten. Zwischen 1999 und 2001 wurde der „Altar“ demoliert, die Glaskörper im kniehohen Gras verstreut. Das Museum der Stadt Zagreb übernahm 2006 die Sanierung der zwischen 1999 und 2006 vernachlässigten und mutwillig beschädigten Anlage. Als einzige Neuerung wurde die Nachtbeleuchtung der Anlage eingeführt. Sie steht jetzt wieder den Besuchern des Naturparks Medvednica, der das gesamte Areal des Medvednica-Gebirges umfaßt, offen. Die offiziellen Gedenkfeiern finden nun, wie vor der Adaptierung von Medvedgrad, wieder auf dem 1876 an einem Abhang der Medvednica angelegten Zentralfriedhof Mirogoj statt. Die kuppelgekrönte Mauer ist von Arkaden unterbrochen, in denen sich die Ehrengräber von Künstlern, Schriftstellern, Politikern, Militärs und Wohltätern der Stadt und des Landes – Christen des lateinischen und griechischen Ritus, Juden und 435

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Atheisten – befinden. Die Planung geht zurück auf den Architekten Hermann Bollé, der auch in Wien und anderen Städten der Habsburgermonarchie wirkte. Mirogoj gilt nicht nur als europäisches Erbe der Friedhofsarchitektur, sondern auch als Symbol der Toleranz unter den verschiedenen Nationalitäten und Bekenntnissen. Da der Oltar Domovine von den Angehörigen der Kriegsopfer nicht als Gedenkstätte akzeptiert wurde, improvisierten sie selbst eine „Klagemauer“ vor dem Zagreber Hauptquartier der UN-Schutztruppen aus aufgeschichteten Ziegeln mit Namen und Fotos der Vermißten. 1992 waren es mehr als 3.000, derzeit sind es noch immer fast 1.000 ehemalige Soldaten und Zivilisten. Vor ihr versammelten sie sich zu stillem Protest gegen die Passivität der internationalen Staatengemeinschaft und aufgrund der erfolglosen Suche nach ihren vermißten Angehörigen. Die „Klagemauer“ war aber auch ihre deutliche Absage an die kroatische Politik, die Kriegsopfer mit der Repräsentation in Medvedgrad zu vereinnahmen. Passanten, die dort Blumen niederlegten und Kerzen anzündeten, solidarisierten sich mit den Angehörigen – nicht nur im Gedenken an die Vermißten, sondern auch in der Ablehnung der „Vermarktung“ der Kriegsopfer über den „Altar des Vaterlandes“. Die improvisierte „Klagemauer“ wurde als Verkehrshindernis abgebaut und auf dem Zentralfriedhof Mirogoj neu errichtet. Auch dieser, von der städtischen Verkehrsplanung erzwungene Akt ist umstritten und gilt als Zeichen der Pietätlosigkeit. Medvedgrad und der „Altar des Vaterlandes“ markieren damit eine neue Stufe der kollektiven Memoria bei den Kroaten: Sie sind selbst wieder zu einem Erinnerungsort geworden – nicht so sehr der weiter entfernten kroatischen Vergangenheit, sondern der noch frischen kroatischen Vergangenheitspolitik. In den Augen vieler symbolisieren sie einen problematischen Umgang der offiziellen Politik mit dem eigenen kulturellen Erbe. Archäologen, Architekten und Denkmalschützer, die an der umstrittenen Umwidmung von Medvedgrad mitgewirkt haben, bekennen sich heute nicht mehr gern zu ihrer Beteiligung. Wie ist dieser fehlgeschlagene Versuch, einen kroatischen Erinnerungsort neu zu schaffen, in seinem (post-)jugoslawischen Kontext zu bewerten? Im Vergleich mit einer der bekanntesten Gedenkstätten im 1991 zerfallenen Staat, dem Grab des „Unbekannten Soldaten“ auf dem Berg Avala bei Belgrad, sind bezeichnende strukturelle Gemeinsamkeiten erkennbar. Sowohl der Oltar Domovine in Medvedgrad als auch das vom kroatischen Bildhauer Ivan Meštrović entworfene und 1938 vollendete Monument zum Gedenken an die Kriege von 1912 bis 1918 auf dem Avala befinden sich in exponierter Lage auf einem Bergrücken, unweit der Hauptstadt. Beiden Gedenkstätten ist neben dem ausdrücklich bellizistischen Charakter auch das implizite religiöse Moment in Form des „Nationalismus als ziviler Religion“ gemeinsam. Der Oltar Domovine scheint sich in seiner Struktur und Erinnerungspraxis an diesen bereits bestehenden und weitbekannten Erinnerungsort angelehnt zu haben. Diese Ähnlichkeit mit einem zentralen ex-jugoslawischen und heute serbischen Denkmal, aber auch mit dem römischen Pendant, das Erinnerungen an den Terror des italienischen Faschismus weckt, trug zur gesellschaftlichen Ablehnung des kroatischen „Altar des Vaterlandes“ bei. 436

Der kroatische „Altar des Vaterlandes“ in Medvedgrad

Anläßlich des „Tags der Verteidiger Zagrebs“, aber auch anläßlich anderer herausgehobener Feiertage werden jährlich Feiern begangen, bei denen Generäle und Führer von Veteranenverbänden einer Kranzniederlegung auf dem „Altar des Vaterlandes“ in der Burg Medvedgrad beiwohnen. Bildnachweis: „Udruga Branitelja i veterana Vojne policije iz Domovinskog rata“ (Verband der Verteidiger und Veteranen der Militärpolizei des Vaterländischen Krieges), Zagreb.

III. Auswahlbibliographie a) Quellen tKaLčić, Ivan Krstitelj/LaszoWsKi, Emilij/dobronić, Lelja (Hg.): Monumenta historica civitatis Zagrabiae, Bd. 1–21. Zagreb 1889–1975; tKaLčić, Ivan Krstitelj: Monumenta historica Episcopatus Zagrabiensis, Bd. 1–2. Zagreb 1873–187�; KuKuLJević saKcinsKi, Ivan: Codex diplomaticus Regni Croatiae, Dalmatiae et Slavoniae, Bd. 1–16. Zagreb 190�–1976; KrčeLić, Baltazar Adam: Annuae ili Historija, 17�8–1767. Zagreb 1952; novaK, Mijat/sabLJaK, Mijat: Grundrisse und Zeichnungen. Im Nachlaß von Ivan Kukuljević Sakcinski, aufbewahrt im Archiv der Kroatischen Akademie der Wissenschaften und Künste (HAZU), Signatur: XV 23 D VI 87.

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b) Literatur KuKuLJević saKcinsKi, Ivan: Dogadjaji [sic] Medvedgrada s obrisom [Skizze der Geschichte Medvedgrads]. In: Arkiv za povjestnicu jugoslavensku 3 (185�) 31–132; MiLetić, Drago/vaLJato-fabris, Marina: Kapela Sv. Filipa i Jakova na Medvedgradu [Die Kapelle der hl. Philipp und Jakob auf Medvedgrad]. Zagreb 1987; tuđMan, Franjo: Bespuća povijesne zbiljnosti. Rasprava o povijesti i filozofiji zlosilja [Die Ausweglosigkeit der historischen Realität. Eine Diskussion zur Geschichte und Philosophie der Gewalt]. Zagreb 1989; ders.: Hrvatska pred duhvonom obnovom [Kroatien vor der geistigen Erneuerung]. In: Nedjeljni vjesnik v. 1. März 1992, 11; Dobronić, Lelja: Biskupski i kaptolski Zagreb [Das Zagreb der Bischöfe und Domherren]. Zagreb, 1991; Macan, Trpimir: Povijest hrvatskoga naroda [Die Geschichte des kroatischen Volkes]. Zagreb 1992; ivančević, Radovan: Umjetničko blago Hrvatske [Die Kunstschätze Kroatiens]. Zagreb 1993; tuđMan, Franjo: Spomen obilježje hrvatske slobode i nezavisnosti [Ein Gedenkort der kroatischen Freiheit und Unabhängigkeit]. In: Vjesnik v. 9. Mai 1994, 2; budaK, Neven (Hg.): Kroatien. Landeskunde – Geschichte – Kultur – Politik – Wirtschaft – Recht. Wien u. a. 1995; GoLdstein, Ivo: Croatia. A History. London 1999; čoraK, Željka: Oltar Domovine [Der Altar des Vaterlandes]. In: Vijenac Nr. 17� v. 2. November 2000; Maroević, Ivo: Konzervatorsko novo iverje [Neue konservatorische Kleinigkeiten]. Sisak 2001; fLaJniK, Vedran: Sjednica gradskoga poglavarstva. Medvedgrad posjetiteljima i turistima. Izgrađeno ostaje kao odraz povijesti [Sitzung der Stadtverwaltung. Medvedgrad den Besuchern und Touristen. Das Erbaute bleibt als Ausdruck der Geschichte]. In: Vjesnik v. 12. Januar 2001, 10; ivančevic, Radovan: Blitzkrieg za muzej koštanih figura [Blitzkrieg für ein Museum der Skelette]. In: Za Zagreb (suprotiva mnogim). Abdruck aus Feral Tribune, Split, v. 1. September 2001. Zagreb 2007, 2�3f.; MiLetić, Drago: O obnovi Medvedgrada (1979–1999). Kronika s komentarom (1979–1999) [Über die Erneuerung Medvedgrads (1979–1999). Eine Chronik mit Kommentar (1979–1999)]. In: Peristil �� (2001) 131–157; tanta, Ivan: U daljini svijetli Medvedgrad … [In der Ferne leuchtet Medvedgrad ...]. In: Vjesnik v. 9. August 2001; Mašić, Boris: Zdenac iz razdoblja dok su Medvedgrad posjedovali hrvatski velikaš [Ein Brunnen aus der Zeit, als kroatische Magnaten Medvedgrad besaßen]. In: Nedjeljni vjesnik v. 17. Februar 2002; nadiLo, Boris: Medvedgrad i druge zagrebačke utvrde [Medvedgrad und andere Zagreber Festungen]. In: Časopis hrvatskog saveza građevinskih inženjera 55 (2003) �79–�85; GaLović Krešimir: Žrtvovanje vala. Razgovor: Alem Korkut, Kipar [Die Opferung der Welle. Ein Gespräch mit Alem Korkut, Bildhauer]. In: Vijenac Nr. 293 v. 26. Mai 2005; barić, Daniel: Auf der Suche nach einer vergessenen österreichischen Literatur in Kroatien. Das schwarze Kreuz auf Medvedgrad von Joseph Schweigert. In: Zagreber Germanistische Beiträge, Beiheft 9 (2006) 123–130; ivančevic, Radovan/ivanišević Lieb, đurđica: Razgovor: Akademski kipar Kuzma Kovačić. Oltar je moj naglašeni kiparski interes [Ein Gespräch: Der akademische Bildhauer Kuzma Kovačić. Der Altar stellt mein betontes bildhauerisches Interesse dar]. In: Glas koncila 31 Nr. 1675 v. 30. Juli 2006; živKo, Ivana: Zagreb: Medvedgrad će biti uređen za tri godine [Medvedgrad wird in drei Jahren zurechtgemacht sein]. In: Jutarnji list v. 22. August 2006; KontLer, Laszlo: Povijest Madžarske. Tisuću godina u Srednjoj Europi. Zagreb 2008 [zuerst englisch u. d. T.: Millennium in Central Europe. A History of Hungary. Budapest 1999].

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Das Mariensanktuarium von Licheń I. Zusammenfassung. – II. Kultanfänge bis zum Zweiten Weltkrieg. – III. Ikonographie der Maria von Licheń. – IV. Die Phase vom Zweiten Weltkrieg bis 1989. – V. Licheńs Ausbau und Aufstieg nach 1989. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Sanktuarium von Licheń gehört zu den größten Marienheiligtümern Europas und ist nach Tschenstochau der bedeutendste Wallfahrtsort Polens. In Licheń Stary, einem kleinen zentralpolnischen Dorf in der Nähe von Konin, entstand ab der Mitte des 19. Jahrhunderts ein weiträumiger Komplex mit einer Grundfläche von mittlerweile rund 100 Hektar, der heute aus drei Kirchen (Kirche der heiligen Dorothea, Kirche der Gottesmutter von Tschenstochau, Basilika der Schmerzhaften Gottesmutter Königin von Polen), zahlreichen Kapellen und Kreuzwegen sowie einem Ensemble aus über hundert Denkmälern und Skulpturen besteht. Zu diesem Komplex gehört der nahe Licheń gelegene Grąbliner Wald, in dem die Geschichte des Sanktuariums ihren Anfang nahm. Die in den Jahren 1994 bis 2004 errichtete monumentale Basilika von Licheń – der größte Sakralbau des Landes, der siebtgrößte Europas und elftgrößte der Welt – ist heute das weit sichtbare Wahrzeichen der Kultstätte, in der ein kleines Marienbildnis (9,5 x 15,5 cm) verehrt wird. Mit dem Ölgemälde, das Maria als Brustbild ohne Christuskind zeigt, verbinden sich mehrere Erscheinungswunder im Jahr 1850. Ein weißer Adler auf Marias Brust gibt der Darstellung eine unverwechselbar polnische Implikation und macht sie für nationale Deutungen besonders anschlußfähig. Der Marienkult von Licheń entwickelte sich vor dem Hintergrund der Teilungen Polens. Deshalb gehören der nationale Freiheitskampf und die Martyrologie zu den Leitgedanken in der Entstehungsgeschichte und dem Ausstattungsprogamm des Sanktuariums. Darauf nimmt auch der von Papst Paul VI. anläßlich der Bildkrönung im Jahr 1967 verliehene Ehrentitel der „Schmerzhaften Königin Polens“ Bezug. Seit den 1970er Jahren wurde der Ausbau der Kultstätte zu einer reich bebilderten Erinnerungslandschaft sukzessive vorangetrieben. Hierbei kam vor allem den Opfernarrativen eine besondere Bedeutung zu, die im Zusammenhang mit den Freiheitskämpfen des 19. Jahrhunderts, dem Zweiten Weltkrieg und dem stalinistischen Terror stehen. Auf diese Weise wird die Marienverehrung in Licheń zunehmend in einen nationalen Kontext eingebunden. Sie steht für einen im Patriotismus wurzelnden, traditionellen Katholizismus, der für einen Teil der Gläubigen ein hohes Identifikationspotential besitzt.

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II. Kultanfänge bis zum Zweiten Weltkrieg Die Gründungslegende des Licheńer Sanktuariums geht auf die Völkerschlacht bei Leipzig 1813 zurück und ist auf symbolische Weise sowohl mit dem Freiheitskampf der Polen während der Teilungen des Landes als auch mit der polnischen Nationalikone, der Gottesmutter von Tschenstochau, verbunden. In der Völkerschlacht erlebte der verwundete polnische Soldat Tomasz Kłossowski aus Izabelin bei Licheń eine Marienvision, als er in Erwartung des nahenden Todes nach seinem Kettenanhänger mit der Tschenstochauer Gottesmutter griff. Maria hielt in seiner Erscheinung statt des Christuskindes das polnische Wappentier, einen weißen gekrönten Adler, in der Hand. Dieses sinnstiftende Detail sollte später im Kult der Gottesmutter von Licheń eine zentrale Bedeutung erhalten. Nach seiner wundersamen Heilung und der Rückkehr nach Licheń suchte Kłossowski lange nach einer Mariendarstellung, die seiner Vision entsprach. Erst 1836, während einer Pilgerfahrt nach Tschenstochau, entdeckte er sie unweit seines Ziels an einem Baum befestigt. Die Darstellung, die Maria mit dem polnischen Adler auf der Brust zeigte, nahm Kłossowski mit und hängte sie an einen Baum im Grąbliner Wald bei Licheń auf. Nach seinem Tod 18�8 übernahm der Hirte Mikołaj Sikatka die Bildpflege. Ihm soll die Gottesmutter im Jahr 1850 gleich dreimal erschienen sein. In ihren Botschaften forderte sie die Gläubigen zum Beten des Rosenkranzes und zur Kontemplation der Leiden Jesu Christi auf und prophezeite Kriege und Epidemien. Bei ihrem letzten Erscheinen soll sich Maria in den polnischen Nationalfarben gekleidet gezeigt haben, um von einem kommenden Krieg zu berichten, der Millionen Opfer fordern würde. Sie verwies in diesem Zusammenhang auf die besondere Rolle Polens als Hoffnungsträger anderer Nationen und auf die Schutzwirkung eines Gebets vor ihrer Abbildung. Nach dem Ausbruch der Cholera in Zentralpolen 1852 nahm der Pilgerstrom zum Grąbliner Wald deutlich zu. Im gleichen Jahr wurden die Erscheinungen durch die katholische Kirche überprüft und für echt erklärt. Daraufhin wurde das Marienbild zunächst in eine gemauerte Friedhofskapelle überführt, die der Gottesmutter von Tschenstochau geweiht war; gleichzeitig begann man mit finanzieller Unterstützung der Grafen von Kwilecki mit dem Bau der steinernen Dorotheenkirche in Licheń, in der ab 1858 die Mariendarstellung Platz fand. Nach der polnischen Erhebung gegen die russische Teilungsmacht im Januaraufstand des Jahres 1863 wurde das Marienbild auf Initiative des damaligen Pfarrers mit einer Silberauflage versehen, um dessen patriotische Motive zu verbergen und es somit vor dem Zugriff der Behörden zu schützen. III. Ikonographie der Maria von Licheń Zwei in ihrer Wirkungskraft bereits ausgewiesene Mariendarstellungen – die Gottesmutter von Tschenstochau und die Maria von Rokitten (bei Meseritz) – spielten im Formierungsprozeß des neuen Kultes eine wichtige Rolle. Das Narrativ der Licheńer Entstehungslegende nimmt, und zwar sowohl bei der Marienerscheinung von 1813 als auch bei der 440

Das Mariensanktuarium von Licheń

Bildfindung 1836, direkten Bezug auf Tschenstochau. Das Marienbild von Rokitten dagegen hat bedeutenden Anteil an der Bildtradition der Licheńer Darstellung. Diese ist eine geringfügig veränderte und verkleinerte Kopie der rokittnianischen Madonna, die als „Geduldig Zuhörende“ seit dem 17. Jahrhundert große Verehrung genoß und bei Kriegshandlungen als ein Hilfe spendendes Palladium Marianum mitgeführt wurde. In Rokitten befindet sich der polnische Adler auf einer Metallapplikation, die König Michael Korybut Wiśniowiecki 1671 dem Gnadenbild als Votivgabe beigefügt hatte. Das Wappentier auf dem Licheńer Bild ist dagegen fester Bestandteil der Mariendarstellung. Diese scheinbar kleine Veränderung hat weitreichende inhaltliche Folgen, denn in der Verbindung mit dem Staatswappen büßt Maria ihren übernationalen Charakter zugunsten einer unverwechselbar polnischen Konnotation ein. Im geteilten Polen des 19. Jahrhunderts erfüllten Darstellungen wie diese eine wichtige identitätsstiftende Funktion. Zu Beginn der 1970er Jahre entwickelte Jan Molga in zwei Gemälden einen neuen Bildtypus der Maria von Licheń, der großen Zuspruch fand. In seinen Darstellungen der Visionen des Soldaten Kłossowski (1971) und des Hirten Sikatka (198�), die sich heute in der Licheńer Kirche der Gottesmutter von Tschenstochau befinden, wird Maria ganzfigürlich als ephemere Gestalt in fließenden weißen Kleidern gezeigt und damit ein seit dem 19. Jahrhundert bekannter Typus der Erscheinungsmaria aufgegriffen. Der in einer älteren Bildtradition verankerte Kult von Licheń wird auf diese Weise in einen moderneren, weitgespannten Frömmigkeitskontext übertragen. Die Darstellung der Erscheinung des Hirten verweist mit konkreten ikonographischen Details auf die Vorbildwirkung der berühmten Marienstatue von Fatima, deren Kult in der Nachkriegszeit antikommunistisch geprägt war. Aus zweierlei Gründen ist dieser Bezug von programmatischer Bedeutung: Die Erinnerungen an die Greuel des Zweiten Weltkrieges und der kommunistischen Diktatur gehören zu den zentralen Gedanken der reichen Ausstattung der Kultstätte und dienen zugleich als Interpretationsfolie für den Ehrentitel der Licheńer Maria als „Schmerzhafte Königin von Polen“. Darüber hinaus gewann der Fatima-Kult in Polen nach dem Attentat auf Papst Johannes Paul II. am 13. Mai 1981, dem Jahrestag der Erscheinung von Fatima, sprunghaft an Popularität. Molgas Darstellungen beider Erscheinungswunder aktualisieren somit nicht nur die Wahrnehmung der Maria von Licheń, sondern erweitern auch deren Interpretationsrahmen. Sie sind in zahlreichen gemalten und plastischen Kopien in Licheń präsent und verdrängen allmählich das originale Gnadenbild. IV. Die Phase vom Zweiten Weltkrieg bis 1989 Der Ausbruch des Zweiten Weltkrieges 1939 bedeutete für die Geschichte des Sanktuariums einen tiefen Einschnitt. Nach der Deportation des Pfarrers Jan Przydacz ins Konzentrationslager Dachau 19�0, der Plünderung der Dorotheenkirche und der Zerstörung des Archivs wurden die Sakralgebäude an die Hitlerjugend übergeben. Das Marienbild konnte während des Krieges in Sicherheit gebracht werden. Mit der Fremdnutzung des Sanktuariums verbindet sich ein bedeutendes Ereignis: 19�� schoß die Erzieherin Berta 441

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Bauer, um die Abwesenheit Gottes zu beweisen, auf ein Kruzifix; ihr Tod nach einer Schußverletzung wenige Stunden später wurde als Gottesstrafe und Wunder angesehen. Das beschädigte Kruzifix wird heute in einer eigenen Kapelle im Untergeschoß der Kirche der Gottesmutter von Tschenstochau verehrt. Im Jahr 1949 begann ein neues Kapitel in der Geschichte des Sanktuariums von Licheń. Der Marianer-Orden (Regularkleriker Mariens von der Unbefleckten Empfängnis) übernahm die Pflege der Pfarrei und stellte fortan den Sanktuariumskustos. Dieses Amt übernahm zunächst Józef Glinka; ihm folgten 1957 Kazimierz Oksiutowicz, 1960 Piotr Grochowski, 1967 Eugeniusz Makulski und 200� Wiktor Gumienny. Mit zwei Namen ist der Aufstieg des Sanktuariums zum internationalen Pilgerzentrum in besonderer Weise verbunden: mit dem langjährigen Kustos Eugeniusz Makulski und mit Stefan Kardinal Wyszyński, in den Jahren 19�8–1981 Primas von Polen. Für Wyszyński war möglicherweise die persönliche Heilerfahrung einer Tuberkulose-Erkrankung während eines Aufenthaltes in Licheń im Jahr 1921 Anlaß, das Sanktuarium in sein Programm der geistigen Erneuerung Polens einzubeziehen, das er 1956 initiierte. Es umfaßte eine Reihe von Maßnahmen, die die mehrheitlich katholische Bevölkerung im Zeichen des Marienkultes mobilisieren und auf die Feier des tausendjährigen Jubiläums der Christianisierung Polens im Jahr 1966 vorbereiten sollte. Trotz staatlicher Versuche, die Feierlichkeiten zu verhindern, erreichte die katholische Kirche eine große Breitenwirkung, nicht zuletzt dank verschiedener Maßnahmen auf regionaler Ebene, zu denen päpstlich sanktionierte Krönungen von jeweils einem ausgesuchten marianischen Gnadenbild in jeder Diözese gehörten. Damit wurde auf Zentren kirchlicher Präsenz aufmerksam gemacht, auf die sich in Zukunft die Frömmigkeitspraxis der Region konzentrieren sollte, so auch auf das Sanktuarium von Licheń. Die Bestätigung der Wundertätigkeit des Marienbildnisses von Licheń mit dem Krönungsdekret vom November 1965 sowie die feierliche Bildkrönung mit päpstlich geweihten Insignien am 15. August 1967 (Mariä Himmelfahrt) leiteten den jahrzehntelangen Ausbau der Kultstätte ein. In Vorbereitung der Bildkrönung wurde 1966/67 unter reger Beteiligung der Ortsbevölkerung mit dem Bau des Klosters begonnen sowie ein zwei Hektar großes Gelände als Zeremonienplatz geebnet und mit 15 Rosenkranzkapellen bestückt. In unmittelbarer Nähe entstanden erste Denkmäler, mit denen zunächst die Aufständischen des Jahres 1863 und Tomasz Kłossowski geehrt wurden. Bereits diese erste Gestaltungsphase setzte inhaltliche Schwerpunkte und ästhetische Maßstäbe für die künftige Erweiterung des Sanktuariums, das ganz im Zeichen der Erinnerung an den Freiheitskampf und die Martyrologie der polnischen Nation stehen sollte. Eine stetig wachsende Zahl von Monumenten und Gedenktafeln verdeutlicht dies. Pater Eugeniusz Makulski war maßgeblicher Förderer und Ideengeber des reichen Ausstattungsprogramms der wachsenden Kultstätte. Er konzipierte, initiierte und überwachte den Bau der meisten Denkmäler und sorgte in seinen Predigten und zahlreichen Publikationen für deren „richtiges“ Verständnis. Von Anfang an zeichnete sich die Tendenz ab, eine Vielzahl suggestiv wirkender Bildwerke zu schaffen, die den Raum strukturieren und den Betrachter durch ihre Präsenz direkt einbeziehen sollten. Dabei wurden einfache 442

Das Mariensanktuarium von Licheń

ästhetische Lösungen mit starkem symbolischem Potenzial vorgezogen, die allgemein verständlich waren und von lokalen Künstlern beziehungsweise Handwerkern umgesetzt wurden. Außer zahlreichen Kapellen und Monumenten, unter anderem mehrere für den Seher Mikołaj Sikatka, wurde in den Jahren 1976 bis 1985 ein 25 Meter hoher Golgatha-Hügel mit Stationen der Passion errichtet, dessen lebensgroße Figuren von Olga Bajkowska durch ihre plakative Expressivität und volkstümliche Wirkung einen tiefen Eindruck bei den Pilgern hinterlassen. In den 1970er Jahren entwickelte sich das Gedenken an den Zweiten Weltkrieg und dessen Folgen zum Schwerpunkt des Ausstattungsprogramms der Kultstätte. Erstmals wurde dieses Thema unter Rückgriff auf eine lokale Geschichtserfahrung behandelt: Ein 1975 errichtetes Gedenkkreuz erinnert an die im Frühjahr 1945 geplante Massenexekution der Bewohner Licheńs, s, die im letzten Moment durch den Einmarsch der Roten Armee verhindert werden konnte. Die Gedenkwand, die 1980 an der langen Mauer zum angrenzenden kommunalen Friedhof gestaltet wurde, nimmt dagegen die Weltkriegserfahrungen Gesamtpolens in den Blick und bildet den Auftakt eines größeren Ensembles von thematisch zusammenhängenden Denkmälern. Sie ist den Konzentrationslagern, Schlachtfeldern der polnischen Armee, Partisanenkämpfen sowie dem Martyrium der Geistlichkeit gewidmet. Dabei wurde auch die zum damaligen Zeitpunkt politisch verfolgte „Polnische Heimatarmee“ (Armia Krajowa) berücksichtigt. Mehrere flankierende Kapellenanbauten, Mausoleen, Gedenk- und Inschriftentafeln thematisieren die namenlosen Märtyrer des Zweiten Weltkrieges, den Heldenmut und die Opferbereitschaft militärischer und geistlicher Führer, aber auch die Greueltaten an der Zivilbevölkerung. Eine deutliche Schwächung des Staatsregimes bei gleichzeitiger Stärkung der Position der Kirche nach der Wahl Karol Wojtyłas zum Papst 1978 und der damit eingeleiteten Gründung der Solidarność-Bewegung 1980 machte ab Mitte der 1980er Jahre einen zunehmend offeneren Umgang mit Themen möglich, die bisher im kommunistischen Polen tabuisiert worden waren. In Licheń wird der Opfer stalinistischer Repressionen unter anderem mit einem „Fenster der nach Sibirien Deportierten“ sowie mehreren Katyń-Denkmälern gedacht. Weitere Monumente erinnern an wichtige Kirchenvertreter wie Papst Johannes Paul II., Primas Stefan Kardinal Wyszyński oder Priester Jerzy Popiełuszko, der 198� im Auftrag der Staatssicherheit ermordet wurde. Gewürdigt werden aber auch Militärvertreter der Zweiten Polnischen Republik, die sich im Freiheitskampf Verdienste erworben haben, sowie Persönlichkeiten aus der Politik wie Wincenty Witos, dreifacher Premierminister Polens in der Zwischenkriegzeit und Hauptvertreter der polnischen Bauernbewegung. Sein 1986 aufgestelltes Denkmal richtet sich insbesondere an die Landbevölkerung, die schätzungsweise die Hälfte aller Besucher Licheńs ausmacht. Auch bei der ästhetischen Gestaltung des Sanktuariums spielte die Nähe zum Volk eine wichtige Rolle. Eine dramatische Attitüde, symbolische Überfrachtung, Theatralisierung und Monumentalität gehören seit den späten 1980er Jahren, besonders aber nach der politischen Wende von 1989 zu den Hauptmerkmalen der rapide steigenden Anzahl der Denkmäler in Licheń. 443

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V. Licheńs Ausbau und Aufstieg nach 1989 Der Zusammenbruch der kommunistischen Nomenklatur 1989 und die ersten freien Wahlen leiteten für die katholische Kirche in Polen eine neue Ära ein, in der die Befreiung von staatlichen Restriktionen zu einem Aufschwung der Bautätigkeit im sakralen Sektor führte. Die Vergrößerung des Sanktuariums von Licheń 1991 um 25 Hektar schuf die Voraussetzungen für den künftigen Ausbau sowie die Errichtung einer neuen Basilika in den Jahren 1994 bis 2004, die der polnische Episkopat zu einer Votivgabe für das dritte Millennium des Jahres 2000 erklärte. Getragen von der Atmosphäre des Triumphs über den Kommunismus, folgten viele Menschen dem Aufruf der Kirche, das ambitionierte Bauvorhaben mit Geldspenden zu unterstützen. Ein Großteil der Finanzierung übernahmen Exilpolen aus Übersee (USA, Australien), deren Namen sich auf den 17.000 Spendertafeln an den Wänden der geräumigen Unterkirche wiederfinden. Innerhalb eines Jahrzehnts entstand ein Sakralbau, der alle bisherigen Bauten an Größe und symbolischer Verdichtung übertraf – ein Tempel nicht nur des katholischen Glaubens und der in Polen hierfür signifikanten Marienverehrung, sondern auch der Nationalgeschichte. Das Gotteshaus setzt damit einen vorläufigen Höhepunkt in der Entstehungsgeschichte des Sanktuariums, dessen vielschichtiges Erinnerungsprogramm sich in diesem verdichtet und zu einer ausgereiften Form gefunden hat. Das Bauwerk – mit einer Fläche von 23.000 Quadratmetern, einer Länge von 139 Metern und einer Höhe von 85 Metern – besteht aus einer Unter- und Oberkirche und präsentiert sich als dreischiffige Basilika auf dem Grundriss eines lateinischen Kreuzes mit einer kuppelüberwölbten Vierung. Die Architektin Barbara Bielecka beabsichtigte mit dem Bau, der zweitausendjährigen Architekturgeschichte ein Denkmal zu setzen. Nicht alle der intendierten symbolischen Bezüge, die den gesamten Mittelmeerraum umspannen und zeitlich von Altägypten über die römische Antike bis hin zur christlichen Zivilisation und dem gegenwärtigen Polen reichen sollen, sind nachvollziehbar. In der Fassadengestaltung ist die Anlehnung an Sankt Peter in Rom am hohen Säulenportikus und an der Kuppel augenscheinlich. Im Inneren der geräumigen, dank zahlreicher Fenster lichtdurchfluteten Hauptkirche wird der Blick vom wandartigen Hauptaltar in der Zentralapsis angezogen, der das Licheńer Marienbildnis birgt, das 2006 aus der Dorotheenkirche überführt wurde. Das angesichts der Kirchenproportionen geradezu winzig wirkende Gnadenbild wird durch mehrere vergoldete Rahmungen hervorgehoben. Der großzügige Raum sowie die Verwendung edler Materialien wie Marmor und Bronze lassen den Eindruck von Reichtum und Pracht entstehen. Die floralen Motive der Kapitelle, die Ährenform der Fenstersprossen sowie die überreiche Verwendung von Gold sollen den Anschein vermitteln, das Gotteshaus sei ein wogendes Getreidefeld. Dadurch soll ein Gefühl von Vertrautheit und Heimat erzeugt werden, das nationale Identität weckt. In der Ausstattung des neuen Gotteshauses findet der Besucher viele Hinweise auf die polnische Nationalgeschichte, beispielsweise im Zyklus der großen Wandgemälde im Transept der Oberkirche. Hier werden die Licheńer Bildkrönung von 1967 und der 444

Das Mariensanktuarium von Licheń

Die Basilika von Licheń wurde in den Jahren 199� bis 200� auf Initiative des Kustos des Wallfahrtsortes, Eugeniusz Makulski, nach Plänen der Gdingener Architektin Barbara Bielecka als größtes Sakralbauwerk Polens errichtet. Verehrt wird hier das wundertätige Marienbildnis der Schmerzhaften Königin Polens, das seit 2006 im Hauptaltar des neuen Gotteshauses ausgestellt ist. Bildnachweis: Privatarchiv Agnieszka Gąsior.

Papstbesuch von 1999 historischen Ereignissen von staatstragendem Charakter gegenübergestellt: der Christianisierung Polens 966 und dem Eid König Johann II. Kasimirs in der Lemberger Kathedrale im Jahr 1656. Die übrige Ausstattung der Basilika zeigt ebenfalls symbolische Bezüge, so beispielsweise das Fußbodenmosaik, auf dem Licheń neben Tschenstochau und Warschau als eines der drei wichtigsten Zentren auf der religiösen Karte Polens erscheint, oder die Gestühlwangen, die in Form von Husarenflügeln auf eine genuin polnische Militärerfindung des 17. Jahrhunderts anspielen, die König Johann III. Sobieski 1683 zum Sieg bei Wien verholfen haben sollen. Die geräumige Unterkirche birgt einen Hauptraum, von dem mehrere Kapellen abgehen. Neben der großen Kapelle der Heiligen Dreifaltigkeit sei die für die 1999 selig gesprochenen 108 polnischen Märtyrer des Zweiten Weltkrieges erwähnt, in der sich eine Kopie des von Berta Bauer 19�� zerschossenen Kreuzes befindet. Der Hauptraum beherbergt einen ungewöhnlichen sechsundzwanzigteiligen Gemäldezyklus. In Paaren angeordnete Porträts verdienter, teilweise weniger bekannter polnischer Persönlichkeiten 445

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fügen sich zu einer Art neuem nationalen Pantheon, das einen Überblick über die Errungenschaften Polens auf dem Gebiet der Kulturgeschichte gibt. In der engen Verknüpfung der Marienverehrung mit Themen der Nationalgeschichte in Licheń ist deutlich die Vorbildwirkung des Sanktuariums von Tschenstochau, auf das sich die Oppositionsbemühungen der katholischen Kirche in der Nachkriegszeit konzentrierten, zu erkennen. Licheń pflegt jedoch nicht nur alte Traditionen wie die Opposition gegen verschiedene politische Regime, sondern inszeniert auch deren Überwindung. Unter Rückgriff auf tradierte Leidens- und Opfernarrative wird der Topos von der auserwählten Nation und die Idealvorstellung vom konfessionell kohärenten, im Katholizismus wurzelnden Polentum wieder aktualisiert und aufgewertet. Dadurch wird ein klares Bild von Polen als einer erfolgreichen Nation, von seiner Position in der Welt in der Vergangenheit wie in der Gegenwart entworfen und didaktisch kommuniziert. Das wirkt zu Zeiten gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umwertungsprozesse identitätsstiftend. Das weiträumige Gelände, dessen Mittelpunkt die prachtvolle Basilika bildet, sowie die zahlreichen religiösen Angebote kommen dem Bedürfnis der Gläubigen nach einem angemessenen Rahmen ihrer katholischen Spiritualität entgegen. Nicht zuletzt erhöhen das farbenfrohe, emotional bindende, an der Populärkultur orientierte umfangreiche Bildaufgebot, die ausgedehnten Grünanlagen sowie das breite gastronomische Angebot die Attraktivität des Wallfahrtsortes. Pilgerzahlen, die mit Tschenstochau konkurrieren und jährlich die Millionen-Marke überschreiten, drücken den Zuspruch der Gläubigen für dieses Konzept aus. Die in ihrem Ideengehalt konservative Anlage setzt ein sichtbares Zeichen für den auf Patriotismus basierenden und sich gegen die aktuellen Säkularisierungstendenzen wendenden traditionellen Katholizismus. Mit ihrem Gestaltungskonzept und ihrer medienwirksamen Vermarktung hat die Kultstätte für den Sakralbau in Polen Impulse gesetzt, die von neuen, ebenfalls spektakulären Projekten, wie beispielsweise dem Tempel der Göttlichen Vorsehung in Warschau, aufgegriffen werden. Entscheidend für die Rezeption Licheńs ist laut Umfragen sein dezidiert polnischer Charakter. Während Tschenstochau trotz seiner starken nationalen Prägung als Erbe der katholischen Universalkirche gilt, wird das vorrangig von Polen und Exilpolen frequentierte Licheń laut Umfragen als „unser“ beziehungsweise „heimelig“ empfunden. Zu dieser Wahrnehmung trägt neben der polnischen Ikonographie des verehrten Gnadenbildes das volksnah gestaltete Bildprogramm des Sanktuariums bei. Auch wenn Intellektuelle wie zum Beispiel Architekturhistoriker an den ästhetischen Maßstäben Licheńs offen Kritik üben, tragen sie durch ihre Auseinandersetzung mit dem Wallfahrtsort ebenfalls zu dessen Popularisierung bei. Licheń polarisiert, dennoch leistet es mit seiner Verbindung einer genuin polnischen Ausprägung der Marienfrömmigkeit und den Bezugnahmen auf aktuelle gesellschaftliche Diskurse und Bedürfnisse einen bedeutenden Beitrag zur nationalen Selbstvergewisserung der Polen nach 1989.

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Das Mariensanktuarium von Licheń

VI. Auswahlbibliographie MarciniaK, Katarzyna: Licheń i jego świat [Licheń und seine Welt]. Poznań 1999; dies.: Religious Folk Art and Kitsch. The Case of the Virgin Mary Sanctuary at Licheń, Poland. In: Ethnologia Polona 21 (2000) 87–102; dies.: Licheńskie peregrynacje [Licheńer Wallfahrten]. In: brencza, Andrzej (Hg.): Szkice etnologiczne dedykowane profesor Annie Szyfer. Poznań 2002, 109–120; KLeKot, Ewa: Święte obrazki, Licheń i sąd smaku [Heilige Bildchen, Licheń und das Geschmacksurteil]. In: Konteksty 56 (2002) 1–2, 117–119; MaKuLsKi, Eugeniusz: Licheń – Kronika Budowy Sanktuarium [Licheń – Die Chronik des Sanktuariumsbaus]. Licheń Stary 2002; dzienisieWicz, Izabella: Wizerunek Lichenia w mediach i w oczach pielgrzymów [Das Bild Licheńs in den Medien und in den Augen der Pilger]. In: Konteksty 56 (2002) 1–2, 1�9–158; bieLecKa, Barbara: Świątynia Matki Bożej Licheńskiej [Das Gotteshaus der Gottesmutter von Licheń]. Wrocław 200�; prusoWsKi, Wojciech: Współczesny ruch pątniczy do sanktuarium Matki Bożej Licheńskiej [Die gegenwärtige Wallfahrtsbewegung zum Sanktuarium der Gottesmutter von Licheń]. In: Peregrinus Cracoviensis 17 (2006) 1�9–162; seKerdeJ, Kinga/pasieKa, Agnieszka/Warat, Marta: Popular Religion and Postsocialist Nostalgia. Licheń as a Polysemic Pilgrimage Centre in Poland. In: Polish Sociological Review 160 (2007) �31–���; oMiLanoWsKa, Małgorzata: The Marian Sanctuary in Lichen. Architecture and Art as an Instrument of Historical, Religious and National Identification in Post-communist Poland. In: Konteksty 62/2 (2008) 129–139; Gąsior, Agnieszka: Nationale Selbstvergewisserung im Polen der Nachwendezeit: das Marienheiligtum Licheń. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57 (2008) 292–328.

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III. Menschen: Die personale Dimension der Erinnerung

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Der heilige Demetrios I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Frühbyzantinische Zeit. – b) Mittelbyzantinische Zeit. – c) Spätbyzantinische Zeit. – d) Im Osmanischen Reich. – e) Im 20. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Zum Leben und zur Person des heiligen Demetrios gibt es fast keine historisch gesicherten Angaben. Seine Verehrung beruht auf Legenden, die später auftraten und erst im 6. Jahrhundert faßbar werden. Zu den wichtigsten Quellen zählen zwei Passiones (Martyrologia), Berichte über Wundertaten des Heiligen aus dem 7. Jahrhundert, die Thaumata oder Miracula, einige Viten, zum Beispiel von Photios aus dem 9. Jahrhundert oder von Symeon Metaphrastes aus dem 10. Jahrhundert, und zahlreiche Enkomien (Lobreden) auf Demetrios aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert. Ungemein eng ist der Bezug des Heiligen zur Stadt Saloniki, dem Ort seines Märtyrertodes und dem Zentrum seiner Verehrung. Die ihm geweihte, fünfschiffige Basilika bietet dort mit Emporen und Lichtgaden über den Seitenschiffen und insbesondere mit den Mosaiken ein eindrucksvolles Zeugnis seines Kultes. Die vom Bau der Kirche im 4. Jahrhundert bis in das 9. Jahrhundert angefertigten Mosaiken zeigen Demetrios einerseits als Wunderheiler und andererseits, neben Sergios, Nestor, Theodoros und Georgios, als Kriegerheiligen, der der Stadt Schutz gewährte und sie aus vielen Nöten befreite, insbesondere im 7. Jahrhundert, der Epoche massiver slawischer und awarischer Angriffe. Als wehrhafter Verteidiger Salonikis gegen feindliche Angreifer, aufrecht stehend auf den Zinnen der Stadt dargestellt, übernahm Demetrios die Rolle des Gottes Kabeiros. Die Verehrung des Demetrios ist bei all ihrer weiten Verbreitung in vielen Aspekten ein Stück Stadtgeschichte von Saloniki. II. Leben Den zwei Passiones und den späteren Enkomien zufolge soll Demetrios um 300 den Märtyrertod unter Kaiser Maximianus in Saloniki erlitten haben. In den Enkomien begegnet zusätzlich zu Maximianus auch der Name Herculius. Allgemein wird vermutet, daß es sich bei diesem Maximianus um Gaius Galerius Valerius Maximianus handelte, der gleichzeitig mit Constantius Chlorus das Amt eines Caesar bekleidete und sich längere Zeit in Saloniki aufgehalten hat. Das Martyrium des Heiligen wird gemeinhin auf den 26. Oktober des Jahres 306 datiert. Der Überlieferung nach wurde Demetrios gefangengenommen, da er sich vor Maximianus geweigert hatte, sein Bekenntnis zu Christus zu widerrufen. Nestor, ein junger Soldat, der von Demetrios bekehrt worden war, bat diesen um seinen Segen für einen Gladiatorenkampf gegen Lyaeus, einen Günstling Maximians. Nestor, später oft als zweiter David bezeichnet, gewann den Kampf und tötete 451

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Lyaeus im Namen Christi. Darüber erzürnt, ließ Maximianus Demetrios und Nestor töten. Die Passiones berichten, Maximianus habe, nachdem er das Stadion eilig verlassen hatte und in den Palast zurückgekehrt war, Befehl gegeben, Demetrios mit Lanzenhieben zu töten, und zwar dort, wo er inhaftiert war, in den Gewölben der Öfen des öffentlichen Bades in der Nähe des Stadions. Einige Varianten erwähnen Lupos, den Diener des Demetrios, der nach dessen Tod mit dessen Ring und Gewand Wunderheilungen vollbrachte, bis er selbst das Martyrium erlitt. In der Ikonographie, nicht aber in den literarischen Varianten, sind manchmal Demetrios und Lupos dargestellt. III. Verehrung a) Frühbyzantinische Zeit Nach dem Ende der Christenverfolgungen soll eine kleine Kirche (oikiskos) mit dem Grab des Demetrios errichtet worden sein; dort soll es auf wunderbare Weise Krankenheilungen gegeben haben. Sollte diese Überlieferung historisches Geschehen widerspiegeln, könnte es den Kult des heilenden Demetrios bereits im 4. Jahrhundert gegeben haben. Die Existenz einer Memorialbasilika mit Enkainion in der Mitte der Apsis bereits in konstantinischer Zeit ist jedoch archäologisch nicht nachweisbar. Der Bau der Basilika erfolgte offenbar in der Nähe des großen öffentlichen Bades, wo Demetrios der Überlieferung nach gefangen gehalten und nach seinem Märtyrertod begraben worden war. Die erwähnte kleine Kirche soll von Leontios, der in den Miracula als Präfekt von Illyricum bezeichnet wurde, durch eine Basilika ersetzt worden sein. Überliefert ist, daß Leontios, durch Anrufung des heiligen Demetrios genesen, eine (erste?) Kirche unter dessen Patrozinium errichten ließ. Wer dieser Leontios war, steht allerdings nicht eindeutig fest. Die Forschung neigt dazu, ihn mit jenem Leontios zu identifizieren, der in der Zeit um ��1/��2 Präfekt des Illyricum war. Der Sitz der Präfektur wurde damals von Sirmium, das durch die Hunnen geplündert worden war, nach Saloniki verlegt. Es gibt Hinweise auf einen alten Kult des selben Demetrius oder eines gleichnamigen in Sirmium, jetzt Sremska Mitrovica. Die Bezeichnungen der römischen Stadt Sirmium als Dimitrovci, Mitrovica (altserbisch), Szavaszentdemeter (ungarisch) und civitas S. Demetrii in lateinischen Quellen des 13.–15. Jahrhunderts, wo bis 1344 ein dem Demetrios geweihtes monasterium Grecorum erwähnt ist, scheinen an den alten Kultort zu erinnern. Damals könnten Reliquien von Sirmium nach Saloniki gebracht worden sein. Möglicherweise wurde erst damals Saloniki zum Zentrum der Verehrung des heiligen Demetrios. Auf die Parallelität dieser beiden Kultorte könnten auch die zwei Festtage – 9. April und 26. Oktober – zurückgehen. Zu diesen hier angedeuteten frühen Ereignissen gibt es nur Quellen aus wesentlich späterer Zeit, und Kirchengründungen in jener Epoche durch einen Leontios sind weder für Sirmium noch Saloniki bestätigt. Für die Errichtung des zentralen Kultortes, der Basilika des Demetrios, gibt es keine gesicherte Datierung. Die Ansätze liegen zwischen 450 und 550. Die Kirche, eine fünf452

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schiffige Basilika mit Querschiff und Emporen, steht in Saloniki in zentraler Lage mit ihrer Südfront an einer von Westen nach Osten verlaufenden Hauptstraße (decumanus). Nördlich der Basilika lagen Nebengebäude, Zisternen, Räume des vermutlich um 600 eingerichteten Hospitals, das der Darstellung in den Mosaiken der Kirche zufolge besonders auf Kinder und Gebärende spezialisiert war, und des römischen Bades. Überreste dieser Bauten bestätigen Überlieferungen zu Demetrios archäologisch. Unterhalb der Nische des Altarraumes im Osten der Basilika befindet sich eine Krypta, die ursprünglich auf Straßenniveau lag und von der östlich der Kirche verlaufenden Straße aus zugänglich war. Die Krypta war eine Art Nymphäum, wo in spätbyzantinischer Zeit das mit Wasser versetzte, heilkräftige, duftende Myron (myron-hagiasma) genannte Öl, das vom Körper des Heiligen abgesondert wurde, floß. Die Mosaiken der Basilika des Demetrios sind verschiedenen Perioden zuzuordnen und reichen von der Gründungszeit bis in das 9. Jahrhundert. Die räumliche Anordnung der Mosaiken entspricht einem Pilgerweg vom südseitigen Eingang über den Narthex, den Raum für die Kranken, wo das Grab des Demetrios lag, in das erste nördliche Seitenschiff, den nördlichen Flügel des Querschiffes und schließlich in den Altarraum. Wie die Themen der Darstellung der Mosaiken zeigen, erhofften die Gläubigen von Demetrios und seiner Kirche die Heilung Kranker, insbesondere kranker Kinder, und die Rettung und das Heil für die Stadt. Petros Deboles ist vor kurzem mit der Ansicht hervorgetreten, die ursprüngliche Demetrios-Basilika habe sich südöstlich der späteren und heutigen Basilika in der Nähe der Hagia Sophia befunden: Ausgehend von der berühmten, 1918 in der Demetrios-Basilika entdeckten Wandmalerei, die links den triumphalen Einzug eines berittenen Kaisers mit Heiligenschein und rechts die innere Säulenreihe der Basilika mit der Inschrift He hagia ekklesia he en to Stadio zeigt, identifiziert Deboles die ursprüngliche Demetrios-Basilika mit den Ruinen der Basilika A am westlichen Rand der Reste des Theater-Stadions aus den ersten Jahren des 4. Jahrhunderts, die unter der Hagia Sophia liegen. Das in der Überlieferung zu Demetrios erwähnte Stadion vermutet Deboles zwischen dem Palast und der Hagia Sophia – nicht im Komplex der Agora südlich des hagios Demetrios – und verbindet das Nymphäum beziehungsweise Baptisterium südlich der Hagia Sophia mit den Legenden von hagios Demetrios. Diese Theorie steht jedoch im Widerspruch zu vielen Elementen der Überlieferung zu dem Heiligen. b) Mittelbyzantinische Zeit Um 620 wurde die Basilika Opfer einer Brandkatastrophe, die in den Miracula S. Demetrii sowie in einer Inschrift im Gebäude selbst erwähnt wurde. Nach der folgenden Restaurierung wurde die Kirche mit dem Grab des Heiligen ein wichtiger Ort der Verehrung für Pilger in Ost und West. Zentrum der Verehrung war zunächst das Ziborium im Mittelschiff der Basilika, das als „Haus“ des Heiligen angesehen wurde. Dieses ersetzte gleichsam das Grab des Demetrios, dessen genaue Lage geheim gehalten wurde. Auf diese Weise sollte eine Teilung der Reliquien und deren teilweise Verlegung nach Konstantinopel 453

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verhindert werden. Dies hatten bereits die Kaiser Justinian I. und Maurikios angestrebt. Das ursprüngliche Ziborium war sechseckig gewesen und bestand aus Marmor, wie ein Mosaik sowie eine Beschreibung durch Erzbischof Niketas von Saloniki aus der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts zeigen. Es wurde wohl im 7. Jahrhundert ersetzt durch ein mit Silber verkleidetes Ziborium aus Holz. Als seitens Konstantinopels keine Ansprüche auf die Gebeine des Demetrios mehr erhoben wurden, wurde ab dem Ende des 7. Jahrhunderts die Lage des Grabes in zwei Räumen an der nordwestlichen Ecke der Basilika nicht weiter verheimlicht. Auf das Ziborium nehmen spätere Texte zu Demetrios keinen Bezug mehr. Um das Grab erblühte, erstmals nachweisbar in der Zeit zwischen 904 und 1040, ein Kult um das Myron. Daher trat das griechische Epitheton Myroblytes zum Namen des Heiligen (Myroblytes Martyr). Das Ausströmen des Myron hatte die Existenz eines Grabes mit einem einigermaßen unversehrten Körper des Heiligen zur Voraussetzung. Das Myron trat zu den anderen Substanzen, wie der wohlriechenden Erde aus dem vermuteten Grab des Heiligen, dem Blut des Märtyrers und dem heiligen Wasser (Hagiasma), das in der Krypta der Basilika hervorströmte. Die Verehrung des Heiligen fand immer weitere Verbreitung, insbesondere in den von slawischen Völkern bewohnten Gebieten. Bereits in den Miracula S. Demetrii gibt es Hinweise auf das Vorhandensein eines Hospitals (xenon) bei der Demetrios-Basilika. Auf dieses nehmen die Bezeichnungen der Basilika als iamatikos, iamatoklytos, iamatophoros, hygiodoros naos oder als pege ton iamaton Bezug. Die Rolle des Demetrios als Wunderheiler ist unter anderem Thema eines Hymnos des Patriarchen Germanos Homologetes aus dem 7. oder 8. Jahrhundert. Nach Vorstellung der Gläubigen heilte Demetrios auf wunderbare Weise, indem er die Patienten, denen er im Heilschlaf (incubatio) erschien, auf der Stirne bekreuzigte. Die Rolle als Retter der von Slawen und Awaren existenziell bedrängten Bewohner Salonikis, die dem Demetrios unter anderem in den im 7. Jahrhundert verfaßten Miracula S. Demetrii zugeschrieben wurde, steigerte das Prestige des Heiligen enorm. Als sich Kaiser Justinian II. im September 688 durch damals feindliches Land nach Saloniki durchgekämpft hatte, übertrug er der Kirche des heiligen Demetrios die Einkünfte aus einer Saline in der Nähe der Stadt. Dem Eingreifen des bewährten Kriegerheiligen wurden auch zahlreiche militärische Erfolge zugeschrieben, zum Beispiel der Sieg von Basileios II. über Bardas Phokas in Ägypten 989 und die Aufhebung der Belagerung Konstantinopels während der Revolte Peter Deljans um 10�0. Die Eroberungen Salonikis durch Araber im Jahr 90� und durch Normannen 1185 infolge des Ausbleibens der Unterstützung durch den Stadtpatron wurden mit der Sündhaftigkeit der Bewohner erklärt. Die Slawen-Apostel Konstantin-Kyrill und Method führten den Kult des Demetrios im 9. Jahrhundert in Mähren und Pannonien ein, indem Method 882–88� einen liturgischen Kanon in altkirchenslawischer Sprache zu dessen Ehren verfasste, der in einer russischen Handschrift von 1096 erhalten ist. In der Kiewer Rus’ nahm der Kult des Demetrios einen Aufschwung unter Fürst Izjaslav-Dmitrij, der 1052 das erste russische Kloster unter das Patrozinium des Demetrios stellte. Beeinträchtigt wurde der Demetrios-Kult durch die Plünderung der Stadt durch die Normannen 1185. Dabei wurde auch das Grab des Heiligen nicht verschont. Das wohl454

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riechende Myron wurde zum Braten von Fischen und Einschmieren von Lederschuhen verwendet. Byzantinische Historiker wie Niketas Choniates bestätigen die Legende, daß die Normannen Saloniki deshalb erobern konnten, weil Demetrios die Stadt verlassen habe und in der Folge die Bulgaren unterstützte: Abbildungen des Demetrios schmückten Münzen und Siegel der Aseniden. Es wurde behauptet, Demetrios habe seine Kirche, Saloniki und die Romäer verlassen und sei nach Tărnovo in die Hauptstadt des Zweiten Bulgarischen Reichs gezogen, wo die Bulgaren eine Kirche zu seinen Ehren errichtet hatten. 1197 brachte der russische Fürst Vsevolod liturgische Geräte aus Saloniki in die von ihm gegründete Demetrios-Kirche in Vladimir. c) Spätbyzantinische Zeit Während der fränkischen Herrschaft über Saloniki (1204–1224) wurden die Reliquien zur Gänze oder teilweise in den Westen gebracht. Sie gelangten in die Abtei von San Lorenzo in Campo bei Sassoferrato. Mit welcher „Geschichte“ die Entfernung der Reliquien verschleiert wurde, ist in den auf den Heiligen verfassten Enkomien des Nikephoros Gregoras, der Metropoliten Isidoros und Symeon und bei dem russischen Mönch Isaias zu lesen. Bereits Gregoras, der um 1330 in seinem Enkomion das Fest genau beschrieb, erwähnte die damals verbreitete Ansicht, der Körper des Heiligen sei in die Tiefen eines Brunnens geworfen worden, aus welchem dann das Myron entnommen wurde. Eine Folge der Entfernung der Demetrios-Reliquien war, daß das Myron nur in einer mit Wasser verdünnten Form an die Gläubigen verabreicht werden konnte; dies ließ verständlicherweise den Verdacht aufkommen, daß das Myron „künstlich“ hergestellt sei. Vermutlich gelangte das mit Wasser verdünnte Myron in der Paläologenzeit aus dem Brunnen über das Hagiasma zur Krypta an der östlichen Front der Basilika und füllte die dort befindlichen Behälter. Das Myron-Öl des Hochmittelalters musste durch Myron-Wasser ersetzt werden. Die erhaltenen Fläschchen, in denen Pilger das Myron mitnahmen, datieren frühestens ins 11./12. Jahrhundert. Das Enkomion des Demetrios Chrysoloras (Anfang 15. Jahrhundert) hatte offenbar den Zweck, Zweifel an der Authentizität der mit Wasser vermischten Substanz zu zerstreuen. Ioannes Staurakios hatte bereits in der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts Zweifel über das Myron überhaupt bekundet. Im späten 14. und im frühen 15. Jahrhundert war der Demetrios-Kult in Saloniki stärker denn je. Dieses Phänomen ist vor dem Hintergrund zu sehen, daß die Stadt und ihr Hinterland mehr oder minder losgelöst vom Rest des Byzantinischen Reichs gleichsam unabhängig regiert wurden. Infolge dieser Unabhängigkeit und durch den forcierten Kult um den Stadtpatron stand Saloniki weit weniger als früher im Schatten der Reichshauptstadt. So spiegelt die Demetrios-Verehrung im spätbyzantinischen Saloniki die Autonomie der Stadt wider. Natürlich war in dieser Zeit der Kult nicht auf Saloniki beschränkt. Pilger verehrten zum Beispiel eine Phiole des Myron im Studiu-Kloster in Konstantinopel, und Demetrios war auch Patron der in Konstantinopel herrschenden Paläologen-Dynastie. Auch die Demetrios-Kirche in der Reichshauptstadt besaß ein Ziborium. 455

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Das Mosaik aus dem 6. oder 7. Jahrhundert in der Basilika des Demetrios in Saloniki, dem Hauptort der Verehrung des Stadtheiligen, zeigt ihn zwischen Stifter und Erneuerer der Kirche. Bildnachweis: Cutler, Anthony/Spieser, Jean-Michel. Das mittelalterliche Byzanz 725–1204. München 1996, Abb. 3.

Das Fest des heiligen Demetrios am 26. Oktober (einen Tag später wurde das Fest des Nestor gefeiert) war fester Bestandteil im Leben der Stadt Saloniki. Litanei und Vergegenwärtigung des Martyriums des Demetrios fanden an diesem Tag statt. Im Zuge dieses Festes wurde auch eine Handelsmesse, die Demetria, abgehalten. Diese Ereignisse werden in der im Stile Lukians verfaßten Satire Timarion im 12. Jahrhundert verarbeitet. Den größten Teil des Oktobers hindurch wurde zu Ehren des Demetrios gefeiert. Jedes Jahr wurden Enkomien verfaßt, die am Fest vorgetragen wurden. Erhalten sind nicht weniger als 26 Enkomien auf den heiligen Demetrios aus dem 14. und frühen 15. Jahrhundert, mehr als für jeden anderen Heiligen. Das erste Enkomion wurde von einem Laien am (Vor)Abend des Tages des Heiligen in der Acheiropoietos-Kirche vorgetragen, die der Jungfrau Maria und dem Demetrios geweiht war. Ein weiteres Enkomion wurde am Festtag des Demetrios selbst in der Demetrios-Kirche vom Erzbischof vorgetragen. Das früheste erhaltene stammt von Theodoros Metochites aus dem 14. Jahrhundert, das späteste geht auf Georgios Kurtesis Scholarios, den späteren Patriarchen Gennadios Scholarios, in das 15. Jahrhundert zurück. Diese Enkomien auf Demetrios sind zumeist 456

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literarische Erzeugnisse auf höchstem Niveau, deren Autoren der intellektuellen Elite ihrer Zeit angehörten, sie sind reich an Informationen über die Verehrung des Heiligen und waren gleichzeitig Instrumente und wichtige Bestandteile der Verehrung, welche die städtische Öffentlichkeit zur Teilnahme am Fest anleiteten. d) Im Osmanischen Reich Im Zuge der Eroberung Salonikis durch die Osmanen 1430 kam es laut Ioannes Anagnostes zu Plünderungen der Demetrios-Kirche. Der Autor erwähnt aber auch, daß manche Türken die unübertreffliche Heilkraft schätzten. Da sich bereits 1387 Türken in Saloniki etablierten, kamen sie mit den Christen vor Ort in Kontakt und wurden von ihren Gebräuchen beeinflußt. Hier liegen offenbar die Wurzeln des muslimischen hagios DemetriosKasım-Kultes. Als Murad II. 1430 die Basilika hagios Demetrios betrat, opferte er zum Zeichen seines Respekts einen Widder und ordnete an, daß die Basilika in christlichen Händen bleiben solle (Dukas, Hist. c. 29). Die Entdeckung spätbyzantinischer und frühnachbyzantinischer Keramik in der Grabungsmasse in der Krypta bedeutet, daß dieser Teil der Basilika nach 1430 nicht mehr benützt wurde. Die letzten Erwähnungen des Myron datieren wenige Jahre, bevor die Basilika 1�93 in die Kasımiye Camii umgewandelt wurde. Das Demetrios-Grab wurde von den übrigen Baulichkeiten der Kirche abgetrennt und seither als Stätte der Verehrung von einem Derwisch-Orden gepflegt. e) Im 20. Jahrhundert Die Eroberung Salonikis durch griechisches Militär im Jahr 1912 erfolgte im Oktober am Festtag des heiligen Demetrios, der so angeblich in seine Stadt zurückkehrte. Als in der zweiten Hälfte des Jahres 1913 die bulgarische Gemeinde Saloniki verlassen mußte, konnte dies als weiterer Triumph des Stadtpatrons über die Slawen gedeutet werden. Auf den zypriotischen Volksdichter Christodulos Antonopulos, der als freiwilliger Teilnehmer des Ersten Balkankrieges Augenzeuge wurde, geht ein patriotisches Gedicht in Fünfzehnsilbern zurück, welches das Ende der osmanischen Herrschaft über Saloniki zum Thema hat. Die Verse kursierten mündlich als Volkslied und enthalten Informationen zu Kirche und Reliquienkult des Demetrios in den zwei nordwestlichen Räumen der Basilika: Die Gläubigen konnten die in einem Sarg befindlichen Reliquien nicht sehen, wohl aber durch eine Öffnung mit der Hand berühren und dabei Wärme und Wohlgeruch verspüren; Erde wurde aus dem Inneren des Sarges entnommen, in Wasser aufgelöst und von Frauen, die vor der Geburt standen, getrunken. Es handelt sich dabei um alte Elemente des Demetrios-Kultes, die schon Erzbischof Eusebios um 600 beschrieben hatte. 1917 wurde die Demetrios-Basilika wie auch der Großteil der Stadt Opfer eines Brandes. Nach langwierigen Restaurierungsarbeiten wurde die Kirche 19�8 wieder eingeweiht. 1978/80 wurden die Reliquien aus der Abtei von San Lorenzo in Campo in die Demetrios-Basilika zurückgebracht. �57

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IV. Auswahlbibliographie a) Quellen iberites, Ioakeim (Hg.): Ioannes Staurakios, Logos eis ta thaumata tu h. Demetriu. In: Makedonika 1 (19�0) 32�–376; xynGopuLos, Andreas: Hai peri tu nau tes Acheiropoietu eideseis tu Konstantinu Harmenopulu. In: MichaeLides-nuaros, Georgios (Hg.): Tomos Konstantinu Harmenopulu. Thessalonike 1952, 1–26; Laurdas, Basileios: Byzantina kai metabyzantina enkomia eis ton Hagion Demetrion. In: Makedonika 4 (1955–1960) 49–162; ders. (Hg.): Demetrios Chrysoloras, Logos eis ton megan Demetrion kai eis ta myra. In: Gregorios Palamas 40 (1957) 342–353; tsaras, Giannes (Hg.): Ioannu Anagnostu Diegesis peri tes teleutaias haloseos tes Salonikis. Thessalonike 1958; KyriaKidis, Stilpon (Hg.): Eustazio di Tessalonica. La espugnazione di Tessalonica. Palermo 1961; roMano, Roberto (Hg.): Pseudo-Luciano, Timarione. Testo critico, introduzione, traduzione, commentario e lessico. Napoli 197�; van dieten, Jan-Louis (Hg.): Nicetae Choniatae Historia. Berlin/New York 1975; LeMerLe, Paul: Les plus anciens Recueils des Miracles de saint Démétrius et la pénétration des Slaves dans les Balkans, Bd. 1–2. Paris 1979–1981; MpaKirtzes, Charalampos (Hg.): Hagiu Demetriu Thaumata. Hoi sylloges Archiepiskopu Ioannu kai Anonymu. Thessalonike 1997; Moniu, Nikoleta I.: Saloniki 1423–1430. He Benetokratia kai he teleutaia halose apo tus Turkus. Athena 2006.

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Anastasia, Chrysogonus und Donatus in Zadar I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Religiöse Memoria im Mittelalter. – b) Neueste Zeit. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Anastasia und Chrysogonus (Stošija und Krševan) sind die zwei bekanntesten Schutzheiligen der dalmatinischen Stadt Zadar. Zu Beginn des 9. Jahrhunderts erhielt der Bischof von Zadar, Donatus, vom byzantinischen Kaiser Nikephoros I. die Reliquien der heiligen Anastasia zum Geschenk. Von da an wurde Anastasia in Zadar verehrt. Rund zwei Jahrhunderte später gelangte der Kult des heiligen Chrysogonus in die Stadt. Beide Kulte überstanden Zadars wechselvolle Geschichte bis in die Gegenwart nahezu unangetastet. Donatus wird in Zadar ebenfalls als Heiliger verehrt, obwohl seine Heiligsprechung nie bestätigt wurde. Die vom ihm erbaute und im 15. Jahrhundert nach ihm benannte Rundkirche ist heute das wichtigste Wahrzeichen der Stadt. II. Leben Weder die Herkunft noch die genauen Lebensdaten der beiden christlichen Märtyrer sind bekannt, alle Angaben zu ihnen fußen auf später entstandenen Legenden. Die erste überlieferte Legende über Anastasias Martyrium, die Passio S. Anastasiae, stammt aus dem 6. Jahrhundert. Demnach lebte sie gegen Ende des 3. Jahrhunderts in Rom. Als Ehefrau des Patriziers Publius soll sie ausgesprochen wohlhabend gewesen sein und großes Ansehen genossen haben. Anastasia ist vermutlich früh Christin geworden. Als einer angesehenen Römerin war es ihr möglich, die inhaftierten Christen in den Gefängnissen der Stadt zu besuchen, sie zu unterstützen und ihnen Trost zu spenden. Der Überlieferung zufolge soll sie in einem dieser Gefängnisse den ebenfalls gefangengehaltenen Chrysogonus getroffen haben. Als Anastasias Ehemann von ihrem Einsatz für die Christen erfuhr, ließ er sie zuhause festsetzen. In dieser Zeit soll sie Briefkontakt zu Chrysogonus gehalten haben und von ihm getröstet worden sein. Chrysogonus, der erstmals in der Passio S. Anastasiae erwähnt wird, war vermutlich ein römischer Ritter und christlicher Lehrer, der während der Christenverfolgungen unter Kaiser Diokletian in Rom verhaftet wurde und wahrscheinlich lange Zeit im Gefängnis zubrachte. Später brachte man ihn vor das kaiserliche Gericht in Aquileia, wo er dem christlichen Glauben öffentlich abschwören sollte. Er weigerte sich jedoch und wurde anschließend enthauptet. Seinen Körper warf man ins Meer. Der Priester Zoilus fand den Körper und bestattete ihn in seinem Garten, gemeinsam mit dem Kopf, der sich auf wundersame Weise wieder mit dem Körper verbunden haben soll. Anastasia, deren 459

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Ehemann in der Zwischenzeit in Persien umgekommen war, hatte Chrysogonus nach Aquileia begleiten können. Dort begegnete sie auch den drei Schwestern und späteren Märtyrerinnen Irene, Agape und Chionia aus Saloniki. Gemeinsam mit ihnen und anderen christlichen Gefangenen reiste Anastasia nach Sirmium, dem heutigen Sremska Mitrovica in Serbien und der damaligen Hauptstadt der römischen Provinz Pannonien. Einigen Legenden zufolge soll Anastasia die drei Schwestern weiter nach Saloniki begleitet haben. Nach deren Märtyrertod jedoch ging sie zurück nach Sirmium, wo sie erneut die christlichen Gefangenen besuchte, unterstützte und tröstete. Ihre Aufopferung ließ die Machthaber schließlich Verdacht schöpfen, und bei der Befragung gab Anastasia zu, gleichfalls Christin zu sein. Es folgten Folter und die Forderung, den heidnischen Göttern zu opfern. Anastasia weigerte sich allerdings und wurde verbrannt. In den meisten Schriften wird ihr Todestag mit dem 25. Dezember 304 angegeben. Über den dritten Patron von Zadar, Donatus, gibt es kaum biographische Angaben. Seine Existenz ist aber, im Unterschied zu derjenigen von Anastasias und Chrysogonus, historisch nachweisbar. Donatus, vermutlich norditalienischer Abstammung, war zu Beginn des 9. Jahrhunderts Bischof von Zadar. 805 nahm er an einer Gesandtschaft an den Hof Karls der Großen teil. Weil er jedoch während des Streits zwischen Byzanz und dem Frankenreich in der Zeit zwischen 80� und 812 dem byzantinischen Kaiser die Treue gewahrt hatte, erhielt er – etwa zu jener Zeit – Anastasias Reliquien als Belohnung. Donatus ließ die Reliquien in der Basilika des heiligen Petrus in Zadar aufbewahren und diese schließlich zur Kathedrale ausbauen, die fortan den Namen der Märtyrerin von Sirmium trug. Auf dem ehemaligen Gelände des römischen Forums in Zadar ließ Donatus eine Rundkirche bauen und diese der Heiligen Dreifaltigkeit weihen. In ihr wurde er nach seinem Tod, vermutlich um 850, auch bestattet. Mitte des 15. Jahrhunderts wurde die Rundkirche nach ihrem Erbauer umbenannt. III. Verehrung a) Religiöse Memoria im Mittelalter Infolge der Hunneneinfälle in die Stadt Sirmium und der angerichteten Zerstörungen wurden die sterblichen Überreste Anastasias um die Mitte des 5. Jahrhunderts nach Konstantinopel gebracht. Zu dieser Zeit hatte es in Sirmium vermutlich schon eine Basilika der heiligen Anastasia gegeben. In Konstantinopel fanden die Reliquien zunächst in der Kirche der Heiligen Auferstehung ihren Platz, die bald nach der Reliquienüberführung nach der heiligen Anastasia benannt wurde. Es kann nicht mit Sicherheit festgestellt werden, wo sich der Kult um die heilige Anastasia zuerst ausbreitete. Trotz dieser ersten Kirchen im Osten, die den Namen der Märtyrerin trugen, erscheint es Historikern naheliegender, daß der Kult um die heilige Anastasia seine früheste Verbreitung in Norditalien fand. Zadar, wo sich das Christentum in der zweiten Hälfte des 3. Jahrhunderts ausbreitete, war kirchlich und politisch eng an die norditalienischen Städte gebunden. 460

Anastasia, Chrysogonus und Donatus in Zadar

Die Kirche des heiligen Donat in Zadar in der Form eines vorromanischen Zentralbaus, bestehend aus einem runden Mittelteil, der die Höhe des Baus erfasst. Bildnachweis: Trifunović, Lazar: Jugoslawien. Kunstdenkmäler. Von der Vorgeschichte bis in die Gegenwart. Belgrad 1988, 339.

Es ist daher möglich, daß die heilige Anastasia bereits vor der Reliquienüberführung in Zadar verehrt wurde. Diese Frage ist unter Forschern allerdings umstritten. Es überwiegt die Meinung, daß ihre Verehrung tatsächlich erst ab dem Beginn des 9. Jahrhunderts einsetzte. Seit dem Ende des �. Jahrhunderts stiegen das Ansehen und der Einfluß des Bistums von Zadar. Die geostrategische Lage der Stadt machte sie seit Ende des 7. Jahrhunderts zudem auch politisch bedeutend. Zadar war zu Beginn des Mittelalters gleichwohl eine der wenigen Städte, die keine eigenen christlichen Märtyrer aufweisen konnte. Da diese und vor allem ihre Reliquien seit der spätantiken Zeit wegen ihrer angeblichen Wunderwirkungen verehrt und begehrt waren, nehmen Historiker an, daß sich auch die politische Führung von Zadar um die Reliquienbeschaffung bemüht habe. Die Schenkung von Nikephoros I. muß den Bürgern von Zadar einen gewissen Prestigegewinn eingebracht haben, denn unmittelbar nach ihrer Überführung erhob das Bistum Anastasia zur Schutz461

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heiligen der Stadt. Bis Ende des 12. Jahrhunderts wurde sie als alleinige Patronin Zadars verehrt. Mit dem politischen Aufstieg des lokalen Adels und dessen Machtgewinn innerhalb der Stadt wurde der Anastasia-Kult zwar nicht verdrängt, aber durch die Verehrung des heiligen Chrysogonus ergänzt. Seit dem Beginn des 10. Jahrhunderts bestanden in Zadar die Kirche und das Kloster des heiligen Chrysogonus. Daß diese beiden Einrichtungen Chrysogonus geweiht wurden, hing unzweifelhaft mit der Verehrung der heiligen Anastasia zusammen, deren Martyrium an jenes des Chrysogonus gebunden war. Um die Mitte des 11. Jahrhunderts waren das Kloster und die Kirche im Besitz einiger Körperteile, von denen behauptet wurde, sie gehörten dem heiligen Chrysogonus. Tatsächlich kursierten in den folgenden Jahrhunderten zahlreiche Legenden über das Auftauchen seiner Gebeine in Zadar und der Region. Nach dem Sieg über die Venezianer 1190 und der Rückeroberung der Insel Maun, die um die Mitte des 11. Jahrhunderts vom kroatischen König Petar Krešimir IV. dem Kloster des heiligen Chrysogonus geschenkt worden war, erhob der Adel von Zadar Chrysogonus zum Schutzheiligen der Stadt. Der Stadtmagistrat befand, daß er seinen Sieg dem heiligen Chrysogonus zu verdanken hatte, und erhob auch vor diesem Hintergrund den ehemals römischen Ritter zu seinem Patron. Chrysogonus wurde fortan als Ritter mit Lanze und Kreuz auf dem Stadtsiegel dargestellt – er ziert auch heute noch das Stadtwappen von Zadar. Historiker sind sich einig, daß der Anastasia-Kult durch den Chrysogonus-Kult nicht verdrängt wurde, denn Anastasia blieb die Patronin des Episkopats von Zadar. Die weltliche Macht der Stadt hatte aber den Ritter und nicht die Trösterin als Schutzheiligen gewählt. Bischof Donatus – der nicht mit Donatus von Münstereifel verwechselt werden darf – wird in Zadar ebenfalls als Heiliger verehrt und ist damit der einzige tatsächlich nur Zadar zuzuordnende Heilige. Seine Verdienste um Zadar lagen in der Reliquienbeschaffung und im Kirchenbau. Donatus’ Gebeine wurden 1809, nachdem die gleichnamige Kirche während der napoleonischen Herrschaft über Dalmatien vom französischen Militär zweckentfremdet worden war, in die Kathedrale der heiligen Anastasia verlegt. Zwischen 1880 und 195� beherbergte die Kirche das Archäologische Museum der Stadt. Seit 1960 wird sie für kulturelle Veranstaltungen, besonders für Musikkonzerte, genutzt. Gegenwärtig ist die Kirche des heiligen Donatus, die ihre sakrale Funktion 1798 verloren hat, mehr als die den beiden anderen Schutzheiligen geweihten, ein Wahrzeichen der Stadt Zadar. b) Neueste Zeit Es gibt kaum Untersuchungen zur Entwicklung der Anastasia-, Chrysogonus- und Donatus-Kulte seit dem Hochmittelalter. Es scheint, als ob die Bürger von Zadar, trotz weiterer Heiliger, die in der Stadt verehrt werden, ihren ersten Patronen treu geblieben sind. 1976 schenkte der damalige Erzbischof von Zadar, Marijan Oblak, der Kirche des heiligen Dimitrius in Sremska Mitrovica Teile der Anastasia-Reliquien. Mit einem fest462

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lichen Gottesdienst feierten kroatische Erzbischöfe und Bischöfe – gemeinsam mit dem katholischen Erzbischof von Belgrad, dem katholischen Bischof von Subotica und dem Bischof von Đakovo-Srijem, zu dessen Bistum Sremska Mitrovica gehört – Anastasias Rückkehr in die Stadt. Sie baten um ihren Beistand bei der Festigung der Einheit im Glauben. Papst Johannes Paul II., der während seines Besuches in Zadar 2003 in der Kathedrale der heiligen Anastasia ein Gebet gesprochen hatte, bezeichnete sie als die „Verbindung zwischen den Lungenflügeln der östlichen und westlichen Kirche“. Unter der Schirmherrschaft des Päpstlichen Kulturrats und der Unesco wurde Ende 2006 eine Ausstellung zu Ehren der Schutzheiligen in Zadar gezeigt. Die Ausstellung, die von dem französisch-russischen Maler Pierre Tchakhotine initiiert und bereits in Kiew und in Serbien gezeigt worden war, feierte die heilige Anastasia als „Brücke zwischen dem christlichen Osten und Westen“. In der kroatischen Öffentlichkeit fand die Ausstellung allerdings wenig Beachtung. Tchakhotine war es auch, der 1995 im Rahmen des internationalen Projekts „Heilige Anastasia – Hoffnung auf Frieden“ zwei Ikonen der Heiligen anfertigen ließ. Diese wurden zunächst zur Raumstation Mir gebracht, was als ein symbolhaftes Gebet für den weltweiten Frieden gelten sollte. Anschließend wurden die beiden Ikonen sowohl von Papst Johannes Paul II. als auch vom Moskauer Patriarchen Aleksej II. gesegnet. Es scheint, als ob die gemeinsame Verehrung der heiligen Anastasia sie zu einer Patronin der kirchlichen Einheit zwischen Ost- und Westkirche erheben soll. Zadar wäre vor allem nach den Erfahrungen der jüngsten Geschichte ein passender Ort, an dem Einheit und Verständigung zwischen den christlichen Religionen gefördert werden sollte. Im September 2010 beging das Erzbistum Zadar mit einer festlichen Messe die 1200Jahr-Feier der Reliquienüberführung. IV. Auswahlbibliographie naGy, Josip: Sveti Krševan, njegova crkva i samostan u Zadru [Der heilige Krševan, seine Kirche und sein Kloster in Zadar]. In: Croatia Sacra 3 (1932) 13–26; Granić, Miroslav: O kultu Sv. Krševana zadarskog zaštitnika [Über den Kult des heiligen Krševan, des Beschützers von Zadar]. In: Zadarska revija 2–3 (1990) 1�7–169; vedriš, Trpimir: Nastanak kulta Sv. Anastazije i njegov odraz u Zadru (9.–14. st.) [Die Fortsetzung des Kultes der heiligen Anastasia und sein Widerschein in Zadar (9.–14. Jh.)]. In: Historijski zbornik 40 (2002) 1–30; peričić, Eduard: Sveta Stošija. Uz 1700. godišnjicu njezina mučeništva [Die heilige Stošija. Zum 1700. Jahrestag ihres Märtyrertums]. Zadar 2005; Katalog. Međunarodna izložba. Sveta Anastazija/Stošija. Most između kršćanskog Istoka i Zapada [Katalog. Internationale Ausstellung. Die heilige Anastasia/Stošija. Eine Brücke zwischen dem christlichen Osten und Westen]. Zadar 2006; Glas koncila, Nr. 43 vom 22. Oktober 2006; verdriš, Trpimir: Štovanje Sv. Anastazije u Sirmiju, Carigradu i Rimu u kasnoj antici i ranome srednjem vijeku [Die Verehrung der Heiligen Anastasia in Sirmien, Konstantinopel und Rom in der Spätantike und im frühen Mittelalter]. In: Diadora. Glasilo arheološkog muzeja u Zadru 22 (2007) 191–216; Zadarski list vom 25. September 2009.

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Split, Salona und der heilige Domnius I. Zusammenfassung. – II. Das Leben des heiligen Domnius. – III. Verehrung. – a) Religiöse Memoria bis ins 18. Jahrhundert. – b) Verehrung im 19. Jahrhundert. – c) Verehrung im 20. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Salona (heute Solin) und Split nehmen als christliche Erinnerungsstätten im kollektiven Gedächtnis Dalmatiens eine besondere Stellung ein. Die Wandlung Salonas von einem „heidnischen“ zu einem bedeutenden Zentrum des frühen Christentums vollzog sich bereits Ende des 3. Jahrhunderts. Mit dem Untergang Salonas im 7. Jahrhundert siedelte das Bistum in die in der Nähe gegründete Stadt Split über. Die von der Kirche seitdem durch die Jahrhunderte tradierte Erinnerung an den heiligen Domnius, den Schutzpatron der Spliter Diözesangemeinschaft und der Stadt Split, diente als wichtigstes Integrationsmedium, um ihre Position an der dalmatinischen Küste auszubauen. Domnius, der als Bischof von Salona der römischen Christenverfolgung zum Opfer fiel, erhielt eine regionale identitätsstiftende Rolle. Im Mittelalter wurden einige kroatische Könige zum Teil durch päpstliche Gesandte aus Rom auf den christlichen Trümmern von Salona inthronisiert. All diese Elemente nahm die katholische Kirche in Kroatien seit dem 20. Jahrhundert schließlich auf und machte die beiden symbolischen Erinnerungsstätten zu einem zentralen Ort der kroatischen nationalen Identitätsfindung. Eine Verbindung der Kroaten mit Rom sollte deren westliche Orientierung untermauern und ihre Funktion als antemurale christianitatis stärken. Dies sollte, aus kirchlicher Sicht, dem serbisch und damit orthodox dominierten jugoslawischen Integrationsstreben entgegenwirken. Beide Orte versuchte die katholische Kirche seit dem 20. Jahrhundert symbolisch als religiöse, nationale und regionale Erinnerungsorte zu konstruieren. II. Das Leben des heiligen Domnius Über die Biographie von Domnius lassen sich in den historischen Quellen mehrere Versionen finden, die in vielen Punkten keine Übereinstimmungen aufweisen. Ebenfalls existieren mehrere Varianten seines Namens. Neben Domnius ist noch von Domnio, Domnione, Duymus oder Duima die Rede. Domnius wurde wohl Ende des 3. Jahrhunderts geboren und seit dem 4. Jahrhundert in Salona als christlicher Heiliger verehrt. Einige Quellen deuten auf Antiochien als seinen Geburtsort hin, andere wiederum auf Salona. Genaue Angaben über die Herkunft sowie über sein Wirken sind nicht erhalten. Seit dem frühen Mittelalter vertrat die Kirche von Split die These, der heilige Domnius sei als Schüler des Apostels Petrus mit der Gründung des Bischofssitzes von Salona beauftragt 464

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gewesen. Deshalb wurde sein Märtyrertod in die Zeit von Kaiser Trajan verlegt. Die Kirche von Split betrachtete sich als Nachfolgerin der Kirche von Salona und übernahm dabei die Berufung auf die apostolische Sukzession. Domnius wurde als erster Bischof von Salona verehrt, und jahrhundertlang baute die Kirche auf dieser Sukzession eine geistige Identität auf. Damit stärkten sowohl Split als auch Rom die gegenseitige Bindung, die nicht nur geistiger, sondern auch politischer Natur war. Rom baute seine politische Machtstellung an der dalmatinischen Küste aus. Die Stadt Split, die mit anderen dalmatinischen Städten wie Zadar und Nin um die geistliche Machtstellung rang, gewann aufgrund des Besitzes der Reliquien des heiligen Domnius und der Berufung auf dessen apostolische Sukzession die religiöse Deutungshoheit über die dalmatinische Küste. Erst im 20. Jahrhundert wurde die Annahme, daß Domnius der erste Bischof von Salona gewesen sei, aufgegeben. Sein Tod wird seitdem auf die Phase der letzten Christenverfolgung unter Kaiser Diokletian datiert und um das Jahr 30� angesetzt. Ein solches Todesdatum erwähnt bereits die seit 81� in Köln aufbewahrte Abschrift Prolongi paschae ad Vitalem scripti anno 395. Als erster Bischof von Salona wird nun der heilige Venantius angesehen. Der archäologische Fund einer Grabplatte in Solin von 187� wird Domnius zugerechnet. Der vollständige Name von Bischof Domnius wurde einzig auf einem Sarkophag seines Neffen Primus, ebenfalls Bischof von Salona, überliefert. III. Verehrung a) Religiöse Memoria bis ins 18. Jahrhundert Die römische Handelsstadt Salona übte seit der Spätantike Anziehungskraft auf christliche Prediger aus. Nachdem die ersten Missionare der römischen Christenverfolgung zum Opfer gefallen waren, begann der frühchristliche Erinnerungskult an jene auch in Salona seinen Anfang zu nehmen. Im Jahr 380 wurde das Christentum zur Staatsreligion im Römischen Reich erklärt; Salona, als bedeutendes christliches Zentrum und Sitz des Bischofs, erlebte bis ins 6. Jahrhundert seine Blütezeit. Domnius zu Ehren wurde kurz nach seiner Bestattung auf einem christlichen Friedhof außerhalb der Stadtgrenze von Salona eine Kapelle (cella memoriae) errichtet. Im 5. Jahrhundert erbaute man über seinem Grab eine Basilika. Um diese Basilika herum ließen sich viele Christen und christliche Würdenträger zum Teil in reichverzierten Sarkophagen begraben. Zahlreiche weitere monumentale frühchristliche Basiliken und Märtyrergräber entstanden in unmittelbarer Nähe als Zeichen seiner steigenden Verehrung. Wann genau Domnius zum Heiligen erklärt beziehungsweise ab wann er als solcher verehrt wurde, ist nicht genau festzustellen. Die überlieferten Abschriften des auf das 4. Jahrhundert datierten Martyrologium Hieronymianum erwähnen Domnius jedenfalls bereits als Heiligen. Mit dem Vordringen der Awaren und heidnischer slawischer Stämme im 7. Jahrhundert folgte Salonas Zerstörung und das Ende der christlichen Tradition. Eine Re-Chri465

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stianisierung der neu angesiedelten Stämme erfolgte in erster Linie von der Küste aus. In der modernen kroatischen Historiographie wird die Christianisierung Kroatiens um 800 angesetzt. Der Kampf um die Deutung der Verehrung von Domnius wurde ab dem Mittelalter ausgetragen. Wie die zivile und kirchliche Obrigkeit aus dem zerstörten Salona Zuflucht in dem benachbart gelegenen Diokletianpalast gefunden und dadurch die Gründung von Split eingeleitet hat, schildert der Spliter Erzdiakon Thomas im 13. Jahrhundert. Er verfaßte die älteste überlieferte Chronik der Stadt Split, die Historia Salonitana. In den Abschriften dieser Chronik konstruiert Thomas als erster die Legende, wonach der Apostel Petrus seinen Schüler Domnio (Domnius) als Missionar nach Dalmatien entsandt habe. Bis heute erinnert ein erhaltenes romanisches Relief am Glockenturm der Spliter Kathedrale daran. Der Apostel Petrus wirkte in der Zeit Kaiser Trajans; somit fand Thomas zufolge der erste Bischof von Salona, Domnius, als Märtyrer seinen Tod unter seiner Herrschaft. Gleichzeitig kommt in den erwähnten Abschriften ein Märtyrer ähnlichen Namens, Domnione, vor, der unter Kaiser Diokletian verstarb. In der kirchlichen Erinnerung von Split kommt dem erstgenannten Apostelschüler eine höhere Bedeutung zu. Nach dem Untergang Salonas galt es für die Kirche von Split, sich zur Rechtsnachfolgerin der Kirche von Salona zu erklären. Diese Legitimation sollte im Mittelalter dazu dienen, Split den Status eines Metropolitansitzes zu verleihen beziehungsweise diesen zu verteidigen. Weiter ist bei Erzdiakon Thomas zu lesen, daß ein nicht genannter Papst zu einem ungenannten Zeitpunkt einen Johannes von Ravenna mit der Gründung eines Erzbischofssitzes in Split beauftragt haben soll. Um dieser Gründung eine ununterbrochene apostolische Kontinuität zu verleihen, wurden laut Abschriften des Erzdiakons aus den Trümmern von Salona Domnius’ Reliquien nach Split überführt. Diese ließ der erste Erzbischof von Split, Johannes von Ravenna, in das achteckige Diokletianmausoleum verbringen. Der „heidnische“ Grabestempel des römischen Christenverfolgers Diokletian wurde somit zum christlichen Gotteshaus, ursprünglich der Jungfrau Maria geweiht. Diese Umwandlung der Kaiserresidenz wird als Gründungsakt der Stadt Split betrachtet. Thomas weist dann weiter auf den aus Dalmatien stammenden Papst Johannes IV. hin. Dieser entsandte 641 den Abt Martin, um die heiligen corpora der „salonitanischen Märtyrer“ aus Salona nach Rom in das Oratorium des heiligen Venantius im lateranischen Baptisterium zu überführen. Dort ließ Johannes IV. sich und den „salonitanischen Märtyrern“ zu Ehren ein bis heute erhaltenes Mosaik anfertigen. Obwohl auf diesem zahlreiche Märtyrer, wie der heilige Venantius, abgebildet sind, erwähnte Thomas nur Domnius. Wohin die Reliquien überführt wurden, nach Split, Rom oder in beide Städte, ist laut den Quellen nicht nachzuvollziehen. Der Kampf um den Metropolitansitz wurde auf den Synoden von Split (925, 928) entschieden. Mit päpstlicher Bestätigung erhielt Split, aufgrund der Reliquien von Domnius, den Zuspruch und durfte fortan den Titel Salonitano archiepiscopo tragen. Durch die päpstliche Legitimation fiel Dalmatien somit unter die Jurisdiktion Roms. Mit dem Besuch von Papst Alexander III. im Jahr 1177 in der Domnius-Kathedrale wurde dies zum Ausdruck gebracht. Von nun an konnten die künftigen Bischöfe aus Dalmatien ihren kirchlichen Eid vor dem Reliquienschrein 466

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sowie auf das Evangeliarum spalatense (um 1200), welches laut Thomas im Sarkophag von Domnius vorgefunden wurde und von ihm selbst stammen soll, in der DomniusKathedrale ablegen. Das mittelalterliche Stadtstatut von Split enthielt für das Jahr 1312 eine Anordnung über das Andenken an den Märtyrer Domnius. Offenbar wurde ihm zu dieser Zeit auch die Ehre des Stadtpatrons zuteil. Ein Erlaß der Stadtverwaltung aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts forderte eine stärkere Einbeziehung von fremden Händlern auf dem Markt während der Domnius-Gedenktage. Im überlieferten Goldenen Buch der Stadt Split von 1515 wurde die Wiederbelebung des Marktes gefordert, welcher aufgrund osmanischer Einfälle fast zum Erliegen gekommen war. Das Fest während der DomniusFeierlichkeiten fand unter dem Namen „Sudamja“ statt. Die Verehrung von Domnius erfolgte auch in der glagolitischen Schrift, wie das Missale Hervoiae Ducis um 1404 des sogenannten Herzogs von Split (Hrvoje Vukčić Hrvatinić) bezeugt. Die Berufung Splits auf die ruhmreiche antike, römische und frühchristliche Vergangenheit spielte dabei, wie bereits Ivan Lučić in seinem Werk De regno Dalmatiae et Croatiae libri sex 1666 feststellte, immer eine wichtige Rolle. Sie brachte Split sowohl Ansehen als auch Vorteile in weltlichen und kirchlichen Angelegenheiten. Andere dalmatinische Bistümer wie Dubrovnik, Zadar und Kotor hielten bis ins 20. Jahrhundert das Andenken an Domnius durch liturgische und andere feierliche Akte wach. Einige Klöster und Kirchen an der Küste und auf dalmatinischen Inseln wurden dem heiligen Domnius geweiht. Die italienischen Isole Tremiti in der Adria pflegen bis heute die Erinnerung an Domnius. Den Anspruch als Metropolitansitz für Dalmatien behauptete das Erzbistum Split bis zum 19. Jahrhundert. b) Verehrung im 19. Jahrhundert Mit der Aufklärung kamen Zweifel am kirchlichen Erinnerungsmonopol um die Verehrung des heiligen Domnius auf. Unter den ersten Kritikern tat sich Antun Matijašević Karaman hervor, der 1719 die apostolische Sukzession in Frage stellte. Eine Auseinandersetzung diesbezüglich erfolgte erst im 19. Jahrhundert, dem Zeitalter der europäischen Nationalbewegungen. Als Dalmatien unter die Herrschaft des Kaisertums Österreich kam, verlor Split 1830 den Metropolitansitz an Zadar. Dieser Verlust für die Kirche von Split wurde aber mit der nun einsetzenden kroatischen Nationalisierung der christlichen Erinnerungsstätte von Salona kompensiert. Dalmatien war zu dieser Zeit wegen eines ausgeprägten pränationalen Bewußtseins und der fehlenden ethnischen Eindeutigkeit für die nationalen „Erwecker“ ein umkämpftes Terrain. Katholische Kroaten stellten einerseits eine überwiegende Mehrheit der Bevölkerung dar, doch andererseits zählten zu den Bewohnern Dalmatiens auch andere christliche Gläubige wie orthodoxe Serben und katholische Italiener. Im Habsburgerreich konnten zwar die dalmatinischen Kroaten auf keine eigene kirchliche Organisationsstruktur zurückgreifen, doch viele bedeutende Träger und Vermittler der kroatisch-nationalen Ideen kamen aus den Reihen des katho�67

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Der Diocletianpalast selbst bildet heute die historische Innenstadt von Split. Das Bauwerk ist mit einer Gesamtfläche von etwa 30.000 Quadratmetern in seiner Anlage einmalig. Ursprünglich hatte es nicht nur Wohnräume für den römischen Kaiser und seine Familie enthalten, sondern auch Tempel, das Mausoleum, Unterkünfte für die Diener und Wachen, eine starke Befestigungsanlage sowie eine Schiffsanlegestelle an der zum Meer offenen Seite. In dem ehemaligen Palast hatten die Einwohner Salonas, die vor den Awaren und Slaven geflohen waren, Zuflucht gefunden. Im Lauf der Zeit gestalteten sie aus den einstigen kaiserlichen Gemächern ihre neuen Wohnräume; sie sind bis heute bewohnt. Bildnachweis: Eine pittoreske und historische Reise durch Istrien und Dalmatien. Nach dem Reisebericht von L. F. Cassas bearbeitet und vorbereitet von Joseph Lavallée. Paris 1802. In: Krompotic, Louis (Hg.): Antike Architektur in Kroatien in Berichten von Spon – Adam – Cassas – Lavallée. Hannover 1998, 123–351, hier 329.

lischen Klerus. Einer von ihnen war der Begründer der modernen kroatischen Historiographie, Franjo Rački, der Salona als wichtigste altchristliche Ausgrabungsstätte nach Rom proklamierte. Seine Thesen stützte er auf Forschungsresultate katholischer Priester, welche sich um die Erforschung der antiken Ausgrabungsstätte beziehungsweise der von ihnen als altchristliche oder altkroatische Denkmäler bezeichneten Funde bemühten. Neben dem Pfarrer Stjepan Lujo Marun kommt dem katholischen Priester, Politiker und Archäologen Don Frane Bulić eine zentrale Stellung zu. Bulić hatte in Wien studiert und pflegte wissenschaftliche Kontakte zu anderen europäischen Altertumswissenschaftlern seiner Zeit. Er setzte sich als Abgeordneter im Wiener Parlament für eine Angliederung Dalmatiens an Kroatien ein, das bis 1918 zu Österreich-Ungarn gehörte. Im Jahr 1888 gab er die erste Monographie über die altkroatischen Denkmäler heraus und gründete sechs Jahre später die „Kroatische Gesellschaft für Ausgrabungen der einheimischen Geschichte“. Sein Interesse galt der Erforschung antiker, frühchristlicher und �68

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in erster Linie altkroatischer epigraphischer Denkmäler. Den Fund einer dreischiffigen Basilika auf der Marieninsel 1898, einer Stiftung der frühmittelalterlichen kroatischen Königin Jelena, sowie ihren 976 beigesetzten Sarkophag ließ Bulić bei Glockengeläut verkünden. Des weiteren fand er die Überreste einer Basilika, welche aus seiner Sicht als Krönungs- und Bestattungskirche mehrerer mittelalterlicher kroatischer Könige gedient hatte. Hier soll seinen Erkenntnissen nach 1076 der kroatische König Zvonimir durch einen Gesandten Papst Gregors VII. gekrönt worden sein. König Zvonimir setzte sich, laut moderner kroatischer Geschichtsschreibung, für die Integration des mittelalterlichen Kroatiens in die westkirchlichen Strukturen ein. Durch Ausgrabungen altkroatischer Denkmäler versuchte Bulić, Salona als „Wiege der kroatischen Geschichte“ sowie das vergessene christliche Erbe der katholischen Kroaten „wiederzuerwecken“. So wurde Salona zu einer nationalen kroatischen Erinnerungsstätte. Im Jahr 1901 fiel Bulić bei der kirchlichen Führung in Split jedoch in Ungnade, als er die These vertrat, daß Domnius kein Schüler des heiligen Petrus gewesen sei, weil er nicht während der Herrschaft von Kaiser Trajan starb, sondern der Christenverfolgung unter Diokletian im Jahr 304 zum Opfer gefallen sei. Etwas später stellte er fest, dass nicht Domnius der Gründer und erste Bischof von Salona gewesen sei, sondern der erwähnte heilige Venantius. Auch befänden sich in den Reliquienschreinen nicht die Reliquien von Domnius, sondern Reliquien eines anderen, nicht näher bekannten christlichen Märtyrers. Mit seinen Behauptungen rüttelte Bulić an der bis dahin bestehenden Erinnerungstradition und der Berufung auf die apostolische Sukzession. Die Kirchenleitung von Split drohte ihm mit der Exkommunikation. Der Kirche kamen Bulićs Thesen zudem zu einer ungünstigen Zeit, da sie gerade um eine Wiedergewinnung des Metropolitansitzes kämpfte. Nachdem sich eine Kommission der vatikanischen Kongregation für Glaubenslehre auf die Seite Bulićs gestellt hatte, akzeptierte die Spliter Kirchenleitung jedoch diese Entscheidung. Die Kirchenführung von Split verlieh ihm eine Auszeichnung und unterstützte 189� sein Vorhaben, den ersten Internationalen Kongress für Christliche Archäologie in Solin und Split abzuhalten. c) Verehrung im 20. Jahrhundert Vertreter der katholischen Kirche in Kroatien, das in der Zwischenkriegszeit zum Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen (serbokroatisch Država Slovenaca, Hrvata i Srba, umgangssprachlich daher „SHS-Staat“) gehörte, übernahmen eine besondere Rolle bei der Erschaffung einer nationalen kroatischen Identität. Von der im SHS-Staat privilegierten serbischen orthodoxen Kirche, galt es, sich abzugrenzen. Zu diesem Zweck propagierte die katholische Kirche eine Zugehörigkeit Kroatiens zum „christlichen Abendland“ sowie zur „westlichen Zivilisation“ und wies auf die „jahrhundertealte Treue“ zum päpstlichen Rom hin. In diesem Sinn plante die Kirche unter dem Zagreber Erzbischof Stepinac 1941 ein „1300. Jubiläum der ersten Beziehungen des kroatischen Volkes zum Heiligen Stuhl“. Erinnert werden sollte an das Jahr 6�1, als über Papst Johannes IV. „das 469

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kroatische Volk seine erste Beziehung zum Heiligen Stuhl“ aufgenommen habe. Zum zentralen Erinnerungsort dieser Feierlichkeiten wurden die christlichen Gedächtnisstätten von Salona und Split gewählt. Wegen des Ausbruchs des Zweiten Weltkriegs mußten die Feierlichkeiten jedoch abgesagt werden. In der Nachkriegszeit setzte die kroatische katholische Kirche im sozialistischen Jugoslawien ihre religiös-nationale Mission fort und übernahm nach dem Ende des „Kroatischen Frühlings“ 1971 die „Pflege der national-kroatischen Bestrebungen“. Andererseits fiel diese Rolle auch der Wissenschaft und besonders der Archäologie zu. In Split wurde 1976 das Museum für Kroatische Archäologische Denkmäler eröffnet. Hier wurden Kunstschätze und Fundstücke zusammengetragen, welche an „den hohen kulturellen Stand des mittelalterlichen kroatischen Königreichs“ erinnerten. Im Mittelpunkt der Erinnerungspolitik sollte aus der Sicht der katholischen Kirche nicht das jugoslawische, sondern das kroatische Nationalbewußtsein stehen. Von 1975 bis 198� wurde das „1300 Jahre alte Bestehen des Christentums bei den Kroaten“ gefeiert und in diesem Zusammenhang an historische Ereignisse erinnert. So wurde 1976 als „Jahr des Marienwallfahrtsortes der Jelena“ anläßlich ihres 1000. Todestages ausgerufen. Jelena wurde als Gründerin der ersten kroatischen Marienkirche gefeiert. Auf der Marieninsel in Solin, laut Kirchenführung die „Quelle des kroatischen Christentums und der kroatischen Staatlichkeit“, nahmen an der Abschlußmesse mehrere zehntausend Menschen teil. Gleichzeitig wurde die Verehrung des heiligen Domnius in Split fortgesetzt. Anders als die Erinnerungsstätte von Solin konnte er aber nicht national vereinnahmt werden. Die liturgische Prozession während des Domnius-Festes auf der Hauptpromenade (Riva) von Split wurde von der kommunistischen politischen Führung nicht erlaubt. 1968 lehnte die Spliter Kirche die traditionelle Berufung auf den heiligen Domnius als Schüler von Apostel Petrus ab. Ein Jahr später erhielt Split von Papst Paul VI. den Status als Metropolitan-Erzbistum zurück. Mit Ausbruch des Krieges 1991 begannen eine nationalistisch-religiöse Umdeutung und Ideologisierung der Erinnerungsorte durch die katholische Kirche in Kroatien. Während des Krieges verstand sich die Kirche als „Verteidigerin der kroatischen Nation gegenüber der serbischen Aggression“. Die Sudamja-Feierlichkeiten begannen nun offiziell mit der Besteigung des Kathedralenturms und dem Hissen der kroatischen Nationalflagge. Ein im Jahr 2006 herausgegebenes Kinderbuch stellt dies bildlich dar. 199� fand anläßlich des hundertjährigen Bestehens der 13. Internationale Kongreß für Christliche Archäologie in Split und Poreč statt. Archäologen aus Deutschland protestierten und warnten, einen solchen Kongreß in Kroatien könne die dortige katholische Kirche zu politischen Zwecken instrumentalisieren. Weiter erinnerten die kroatische Historiographie und Archäologie in den 1990er Jahren an das antike Salona und spätere Solin als das „Altkroatische Solin“ und erklärten es zum ältesten kroatischen Marienwallfahrtsort. Während des 1700. Jubiläums der Stadt Split, das von 1995 bis 2005 durch zahlreiche Erinnerungsfeiern begangen wurde, stattete Papst Johannes Paul II. Kroatien zwei Besuche ab. 1998 besuchte er Solin und Split. Sein Besuch auf der Marieninsel in Solin fiel, wie das Archäologische Museum in Split �70

Split, Salona und der heilige Domnius

betonte, mit dem 100. Jahrestag der Entdeckung des Sarkophags der kroatischen Königin Jelena durch Frane Bulić zusammen. Die katholische Kirche verehrt Bulić heute als den „Vater der kroatischen Archäologie“. 2009, anläßlich seines 75. Todestages, hielten kroatische Bischöfe an seinem Sarkophag, der sich unweit des Grabes von Domnius befindet, eine Gedenkfeier ab. Anläßlich des päpstlichen Besuchs in Solin stellte die katholische Wochenzeitung Glas Koncila den Ort als die „Wiege des kroatischen Christentums und der kroatischen Staatlichkeit“ heraus. Der Papst selbst betonte in seiner Rede „die einzigartige Stellung“ dieses Ortes „für die kroatisch-katholische Nation“. Er rühmte ihn als „die Quelle der kroatischen Identität“ und sprach von der „Wiege“ der „tiefen christlichen Wurzeln“ der Kroaten. Ein Besuch des Papstes in der „ältesten Kathedrale der Welt“ solle Kroaten an das „heroische Beispiel des heiligen Domnius“ erinnern, welcher ein „Zeugnis für Christus abgelegt“ habe. Auf einer feierlichen Abschlußmesse an der Küste betonte der Papst die Entwicklung des Christentums in Dalmatien „von den apostolischen Zeiten bis heute“ und hob den Beginn der Christianisierung der Kroaten seit dem 7. Jahrhundert hervor. In der Gegenwart setzen sich nur wenige kroatische Wissenschaftler kritisch mit der Nationalisierung dieser christlichen Erinnerungsstätten auseinander, was einerseits mit der immer noch präsenten Kriegserfahrung der 1990er Jahre, andererseits aber auch mit der propagierten Europäisierung und einem in Kroatien befürchteten Identitätsverlust zusammenhängt. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen archidiaconi, Thomae: Historia salonitanorum atque spalatinorum pontificum, Faksimilno izdanje izrađeno prema izvorniku iz Arhiva splitske prvostolnice, iz druge polovice XIII. stoljeća [Faksimile erstellt nach der erhaltenen Originalschrift aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, Archiv der Kathedrale von Split]. Split 2003; risMondo, Vladimir: Toma arhiđakon. Kronika [Thomas der Erzdiakon. Die Chronik]. Split 1977.

b) Darstellungen KLaić, Vjekoslav: Povjest Hrvata [Geschichte der Kroaten]. Zagreb 1899; franić, Dragutin: S Gjacima kroz Bosnu-Hercegovinu, Crnu Goru, Dalmaciju, Jadransko More, Istru i Hrvatsku [Mit den Schülern durch Bosnien und Herzegowina, Montenegro, Dalmatien, die Adria, Istrien und Kroatien]. Donja Tuzla 1901; buLić, Frano/Katić, Lovre: Stopama hrvatskih narodnih vladara [In den Fußstapfen der kroatischen Volksherrscher]. Zagreb 1929; horvat, Josip: Kultura Hrvata kroz 1000 godina [Die Kultur der Kroaten durch 1000 Jahre]. Zagreb 1939; Hrvatski biskupi svom Hrvatskom narodu prigodom 1300 godišnjice njegovih prvih veza sa Sv. Stolicom [Kroatische Bischöfe an ihr kroatisches Volk anläßlich des 1300. Jahrestags ihrer ersten Beziehungen zum Heiligen Stuhl]. Zagreb 1939; Hrvatska enciklopedija [Kroatische Enzyklopädie], Bd. 1. Zagreb 19�2, 505–507 (F. C. Bulić); dyGGve, Ejnar: History

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Ivan Brčić of Salonitan Christianity. Oslo 1951; Enciklopedija Jugoslavije [Enzyklopädie Jugoslawiens], Bd. 2. Zagreb 1956, 300f. (F. C. Bulić); KLaić, Nada: Historia Salonitana Maior. Beograd 1967; GunJača, Stjepan: Starohrvatska baština [Altkroatisches Erbe]. Zagreb 1976; buLić, Frane: Izabrani spisi [Ausgewählte Schriften]. Split 198�; rapanić, Željko: Wiederkehr zu Salona. Split 198�; Marin, Emilio (Hg.): Starohrvatski Solin [Altkroatisches Solin]. Split 1992; ivanišević, Milan: Salonitanski biskupi [Salonitanische Bischöfe]. In: Vjesnik za arheologiju i historiju dalmatinsku 86 (1993) 223–252; Marasović, Tomislav: Dioklecijanova palača [Der Diokletianpalast]. Zagreb/Split 199�; Marin, Emilio (Hg.): Salona Christiana. Split 1994; vidović, Mile: XIII. kongres za starokršćansku arheologiju [Der XIII. Kongreß für altchristliche Archäologie]. In: Crkva u svijetu 29/� (199�) �60–�65; dražić, Ivan: Proslavljanje svetog Dujma [Die Verehrung des Heiligen Domnius]. Split 1996; haWKesWorth, Celia: Split – A Thousand Years of Literacy/Split – Tisuću godina pismenosti. Zagreb 1997; Ivan Pavao II.: Bit ćete mi svjedoci [Ihr werdet meine Zeugen sein]. Zagreb 1998; dupLančić, Arsen: Crkve kraljice Jelene u Solinu [Die Kirche der Königin Jelena in Solin]. Split 1999; deLonGa,Vedrana/JaKšić, Nikola/JurKović, Miljenko: Arhitektura, skulptura i epigrafika karolinškog doba u Hrvatskoj [Architektur, Skulptur und Epigraphik aus der Zeit der Karolinger in Kroatien]. Split 2001; novaK, Grga: Prošlost Dalmacije [Die Vergangenheit Dalmatiens]. Zagreb 2001; Lipovčan, Srećko (Hg.): Drei Schriften – drei Sprachen: kroatische Schriftdenkmäler und Drucke durch Jahrhunderte [Ausstellungskatalog]. Zagreb 2002; vrandečić, Josip: Uloga Katoličke crkve u razvoju hrvatskog nacionalizma u Dalmaciji [Die Rolle der katholischen Kirche in der Entwicklung des kroatischen Nationalismus in Dalmatien]. In: breMer, Thomas (Hg.): Religija, društvo i politika. Kontroverzna tumačenja i približavanja. Bonn 2002, 194–211; ders.: Kleine Geschichte der Religionen in Jugoslawien. Freiburg 2003; dupLančić, Arsen/ivanišević, Milan/Kovačić, Slavko: Sveti Dujam – štovanje kroz vjekove [Der heilige Domnius – Verehrung über Jahrhunderte hinweg]. Split 2004; KuzMić, Marin (Hg.): Sveti Duje, ća te lipa fjera! 1700. Jubilarna Dujmova godina 30�–200� [Heiliger Domnius, wie schön man dich verehrt! Das 1700. Domnius-Jubiläum 304–2004]. Split 2004; buchenau, Klaus: Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien 1945–1991. Wiesbaden 2004; sKunca, Josip: Papa Ivan IV. Zadranin i misija opata Martina [Papst Johannes IV. aus Zadar und die Mission des Abtes Martin]. Zadar 2006; uJević, Bože: Sveti Duje [Der Heilige Domnius]. Zagreb 2006; boban, Vesna: Don Frane Bulić: čovjek velikih djela [Don Frane Bulić: ein Mann der großen Taten]. In: Slobodna Dalmacija v. 29. Juli 2009; duKić, Josip/Kovačić, Slavko/visić-LJubić, Ema: Salonitansko-splitska crkva u prvom tisućljeću kršćanske povijesti [Die salonitanisch-Spliter Kirche im ersten Jahrhundert des Christentums]. Split 2008; hudeList, Darko: Kako je Gospa srušila SFRJ [Wie die Muttergottes die Sozialistische Bundesrepublik Jugoslawien zerstörte]. In: Globus, Nacionalni tjednik v. 12. September 2008, 3�–�2; Marin, Emilio: Mosaik im Oratorium des heiligen Venantius im lateranischen Baptisterium. In: Prilozi Instituta za arheologiju 2� (2008) 251–256; caMbi, Nenad: Frane Bulić. In: Hrvatska arheologija u XX. stoljeću. Zagreb 2009, 201–220; duKić, Josip: Istraživanje i objavljivanje salonitanskih kršćanskih natpisa [Untersuchungen und Veröffentlichungen der salonitanischen christlichen Inschriften]. In: Tusculum 2/1 (2009) 173–20�.

Ivan Brčić

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Kyrill und Method I. Zusammenfassung. – II. Leben: Kyrill und Method und das Mährische Reich – III. Viten und frühe Verehrung. – IV. Byzantinische und bulgarische Bulgarisierung der Verehrung. – V. Gelehrte Verehrung der Brüder im orthodoxen Europa der Frühen Neuzeit. – VI. Die Verehrung Kyrills und Methods in Böhmen bis um 1800. – VII. Das Kloster Velehrad bis um 1800. – VIII. Großmähren und Velehrad als Teil der Herrschaftslegitimation der Přemysliden und der Luxemburger. – IX. Kyrill und Method als Katalysatoren nationaler Bewegungen in Böhmen, Mähren und der Slowakei nach 1800. – X. (Trans-) Nationale Verehrung der Brüder unter Ukrainern, Slowenen, Kroaten, Serben, Bulgaren, Russen und Makedonen bis 1945. – XI. Kyrill und Method in Makedonien, Bulgarien und Rußland nach 1945. – XII. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Die bald nach ihrem Tod als Heilige verehrten Brüder Konstantin (mit dem Mönchsnamen Kyrill, ca. 826/827–869) und Method (ca. 815–885) wurden in Saloniki als Sprößlinge einer hohen Beamtenfamilie geboren. Sie verbreiteten im 9. Jahrhundert die Liturgie und andere geistliche Texte in slawischer Sprache auf dem Gebiet des sogenannten Großmährischen Reichs und ihre Schüler im bulgarischen Reich. Die bald nach ihrem Tode als Heilige und „Slawenapostel“ verehrten Brüder wurden in byzantinischen Würdigungstexten „bulgarisiert“, sie blieben aber im übernationalen Gedenken der orthodoxen Christen und auch im mährisch-tschechischen Umfeld unter Katholiken sowie in der Frühen Neuzeit im Rahmen der katholischen Gegenreformation weiträumig verehrt. Nach 1800 wurde die Erinnerung an sie zum Rahmen der Ausgestaltung moderner nationaler Identitäten von katholischen mährisch, böhmisch, später tschechisch, slowakisch und slowenisch sowie südslawisch oder kroatisch orientierten Geistlichen, Gelehrten und schmalen bildungsbürgerlichen Eliten. Aber auch orthodoxe bulgarische und serbische Wortführer griffen die Verehrungsdiskurse auf. Die Erinnerung an sie wurde weniger revitalisiert als vielmehr grundlegend neu erfunden. Bis in die Gegenwart lassen sich in den unterschiedlichen nationalen Kontexten mehrere Phasen der Nationalisierung und Säkularisierung ihres Gedenkens unterscheiden. Im europäischen Rahmen werden sie seit dem 19. Jahrhundert als „Apostel Europas“ verehrt, während sie in panslawischrussischen Zusammenhängen zur Abgrenzung gegen „den Westen“ dienen. I. Leben: Kyrill und Method und das Mährische Reich Die Brüder wuchsen in der zweitgrößten Stadt des byzantinischen Reiches möglicherweise in einem mehrsprachigen griechisch-slawischen Umfeld auf und können nicht als Slawen angesehen werden. Im Dienst des oströmischen Kaisers unternahm Konstantin 860/861 eine erfolglose Missionsreise zu den Chazaren. Politische Konflikte mit sei�73

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nem ostfränkischen Nachbarn brachten den mährischen Herzog Rastislav dazu, im Jahr 863 vom byzantinischen Kaiser Michael III. die Entsendung von Missionaren in den mährischen Dukat zu erbeten: Nach einem erfolglosen Ersuchen an Papst Nikolaus I. suchte Rastislav eine Alternative, um sich vom Salzburger Erzbistum, das diesen Raum als Missionsgebiet für sich beanspruchte, zu lösen und die regionale Machtposition gegenüber dem Ostfrankenreich zu stärken. Das Gebiet des heutigen Mähren und der nordwestlichen Slowakei zwischen Waag, Donau und Thaya war bereits um 800 unter anderem durch das Wirken einzelner iroschottischer Missionare teilweise christianisiert. Der Moravia oder mährisches Reich genannte Herrschaftsverband des 9. Jahrhunderts, der sich hier – oder, so eine andere These, weiter südlich, in Pannonien – entfaltete, kann als der erste größere und über eine längere Zeit hinweg bestehende slawische Dukat bezeichnet werden. Das Christentum spielte auch in diesem Fall eine zentrale Rolle bei der Festigung der Herrschaft. Michael III. entsandte Konstantin und Method 863/6� mit den zuvor auf der Krim geborgenen Gebeinen des heiligen Clemens Romanus nach Mähren, wo die Brüder zunächst als Lehrer und Übersetzer tätig waren. Die beiden brachen von dort mit den Gebeinen nach Rom auf, um ihre Schriften vorzulegen und ihre Schüler weihen zu lassen. Papst Nikolaus I. war allerdings 867 gestorben, so daß sie die Wahl Hadrians II. abwarten mußten. Dieser gewährte ihnen die Verwendung der altkirchenslawischen Liturgie und des slawischen Evangeliums. Während des Aufenthalts in Rom verstarb Konstantin jedoch 869 und wurde in der Kirche des heiligen Clemens mit dem Mönchsnamen Kyrill bestattet. Um nach dem Verlust der östlichen Gebiete des Illyricums, namentlich die Bistümer Macedonia und Dacia, an Byzanz und später Bulgarien die römische Präsenz zumindest im westlichen Illyricum wiederherzustellen, weihte Papst Hadrian II. 869 Method zum Erzbischof von Pannonien und Mähren mit Sitz in Sirmium, heute Sremska Mitrovica. Method wurde aber nie vor Ort in sein Amt eingesetzt, sondern geriet in bayerische Gefangenschaft: Laut der Methodvita ernannte Hadrian II. Method auch zum Legaten für die „slawischen Länder“ der Fürsten Rastislav und Svjatopluk. Damit begann ein vehementer Machtkampf zwischen Method und den bayerischen Bischöfen, die unter dem Schutz der ostfränkischen Karolinger ihre geistliche Vorherrschaft über den Ostalpenund Donauraum durchzusetzen versuchten. In der Tradition der bayerischen Herzöge aus dem Agilolfingerhaus und der früheren Karolinger beanspruchten die ostfränkischen Könige die Lehnshoheit auch über den mährischen Dukat. In engem Zusammenhang mit dem Sturz Rastislavs durch Svjatopluk wurde Method bei seiner Rückreise ins Mährische Reich von einer bayerischen Synode zur Kirchenbuße in einem schwäbischen Kloster, vermutlich Ellwangen, verbannt. Nach drei Jahren erwirkte der Einspruch von Papst Johannes VIII. 873 schließlich seine Freilassung und Rückführung in das Mährische Reich. Allerdings entzog Rom Method die gewährten Zugeständnisse bald darauf größtenteils wieder. 880 reiste er abermals an den Tiber, um sich zu verteidigen, worauf die Verwendung der slawischen Schrift und die Liturgie in slawischer Sprache wieder erlaubt wurden. Zudem stellte der Papst das Mährische Reich mit jenem der Ostfranken gleich, indem er es zu einem Lehen �7�

Kyrill und Method

des Heiligen Stuhls erklärte. Nach Jahren der Auseinandersetzungen mit dem fränkischen Klerus unternahm Method 881/883 eine Reise nach Konstantinopel. Dabei suchte er auch den bulgarischen Fürsten Boris I. auf, unter dessen Herrschaft seine Schüler nach seinem Tod Zuflucht fanden. Im Jahre 885 starb Method. Sein Grab konnte nie zweifelsfrei aufgefunden werden. Noch vor seinem Tod untersagte der Papst die Verwendung der slawischen Liturgie abermals: Methods aus dem ostfränkischen Bayern stammende Suffraganbischof Wiching von Neutra, der den lateinischen Ritus vertrat und Methods Nachfolger wurde, erreichte, daß der Papst seine Tätigkeit im Nachhinein verurteilte. III. Viten und frühe Verehrung Konstantins Bruder Method wird häufig als Verfasser seiner ältesten Vita angesehen. Der Text liegt erst und nur in Auszügen in kroatisch-glagolitischen Breviarien des 14. Jahrhunderts sowie in anderen Handschriften seit dem 15. Jahrhundert vor. Die Methodvita stammt von einem seiner Schüler, möglicherweise von Kliment von Ohrid oder von Konstantin von Preslav. Beide Viten entstanden noch im letzten Drittel des 9. Jahrhunderts. Die Konstantinsvita wurde mit dem Untertitel „erster Erzieher und Lehrer des slawischen Volkes“ versehen. Außer Bezeichnungen für das Mährische Reich wurden in der Vita aber keine ethnischen Gruppen innerhalb der Slawen unterschieden. Dem Papst wurde in diesem Text bei der Beschreibung der Beerdigung Konstantins in Rom besondere Wertschätzung entboten. Eine Lobrede zu Ehren Kyrills, die „das strahlende Gedächtnis unseres allerseligsten Vaters Kyrill, des neuen Apostels und Lehrers aller Länder“ fördern sollte, gilt als ein Werk Kliments von Ohrid. Obschon Kliment lange Jahre in der Nähe Ohrids wirkte, wo er vom bulgarischen Herrscher Boris als erster „bulgarischer Bischof“ eingesetzt worden war, machte Kliment die Brüder nicht zum Gegenstand eines lokalen oder bulgarischen Kultes. Zu Ehren Kyrills wie auch Methods entstanden möglicherweise bereits im 9. und 10. Jahrhundert je ein slawisches Offizium sowie ein drittes, das beiden gewidmet war. Das Offizium zu Ehren Kyrills soll bereits in Mähren entstanden sein. Von diesem liegen die meisten Abschriften vor. Die ältesten unter ihnen stammen aus dem 12. und 13. Jahrhundert und sind in der russischen sowie der bulgarischen Redaktion des Kirchenslawischen gehalten. Die Vita Methods und die Lobrede auf Kyrill und Method gelangten im 12. Jahrhundert in der Abschrift einer böhmischen Handschrift im sogenannten Uspenskij Sbornik in die Kiewer Rus’. Die sogenannte Prologvita Methods lag bald in etwa 150 Abschriften altrussischer Redaktion vor. Aus dem 15. Jahrhundert stammt eine serbischbulgarische Redaktion des Offiziums Kyrills. Als Autor des Offiziums zu Ehren Methods ist Konstantin von Preslav anzunehmen. Es liegt in drei Abschriften aus dem 11. oder 12. Jahrhundert vor wie auch in einer bulgarischen Abschrift aus Skopje und einer serbischen aus Saloniki, die beide in das 13. Jahrhundert datiert werden. Die Entstehung und Überlieferung der Texte belegen eine Ausbreitung des Kults der Heiligen bereits im �75

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12. und 13. Jahrhundert über die Grenzen von Herrschaftsgebieten mehrerer orthodoxer Fürsten hinweg. Abgesehen von den Viten ist die Memoria des heiligen KonstantinKyrill am 14. Februar bereits im Assemani-Evangeliar belegt, das in der zweiten Hälfte des 10. Jahrhunderts vermutlich in Ohrid entstand. Auch in der in Sofia aufbewahrten Abschrift des Kyrilloffiziums aus dem 13. Jahrhundert war weder von Bulgaren noch von Serben die Rede. IV. Byzantinische und bulgarische Bulgarisierung der Verehrung Theophylaktos, der aus Euböa gebürtige byzantinische Erzbischof von Ohrid, der Metropole der Kirchenprovinz Bulgarien, gilt als Verfasser einer griechischen Vita des heiligen Kliment von Ohrid, die auch Hinweise auf eine in der Umgebung von Ohrid entstehende religiöse Erinnerungskultur um die beiden Brüder enthält. Theophylaktos brachte den Diskurs über Kyrill und Method erstmals nachhaltig in einen Zusammenhang mit „Bulgarien“: Das Werk Methods und Kyrills betraf laut dem Text allgemein die Slawen, aber zunächst die Bulgaren oder ihr Land, obschon ihr Wirken in Mähren und Pannonien nicht verschwiegen wurde. Indem Theophylaktos Kliment und mit ihm Kyrill sowie Method verehrte, festigte er als Nachfolger Kliments den Status seines Erzbistum und damit der Kirchenprovinz Bulgarien, deren Vorsteher er in Ohrid war. Während der Wiederherstellung eines bulgarischen Reiches zu Beginn des 13. Jahrhunderts festigte sich die „Bulgarisierung“ der Erinnerung an die beiden Brüder. So wurden ihre Leistungen für die Orthodoxie im Sinodik der bulgarischen Kirche von 1211 auf die „bulgarische Sprache“ und das „bulgarische Geschlecht“ bezogen. In einer kurzen Prologvita Kyrills, die als „Entschlafung Kyrills“ bekannt ist und in der neuen bulgarischen Hauptstadt Tărnovo im 13. Jahrhundert entstanden sein dürfte, wurde er nun als Bulgare dargestellt. Fassungen des Textes liegen in einer serbischen sowie einer wallachisch-bulgarischen Sammelhandschrift des 15. oder 16. Jahrhundert vor. Kyrill und Method sind für diese Zeit weniger als Medium einer ethnischen Einigung zu deuten, denn als Mittel zur Festigung der Herrschaft des bulgarischen Zarentums. In einer bulgarischen Redaktion des Kyrilloffiziums, die in den in der damaligen Metropolie von Skopje entstandenen sogenannten Minäen von Skopje aus dem 13. Jahrhundert enthalten ist, wurde nun festgestellt, die beiden Brüder hätten als Apostel der ganzen Welt ihre Mission „mit bulgarischen Büchern“ und ausgehend von Bulgarien ausgeführt. Die Brüder wurden im Spätmittelalter sowohl in Ohrid wie auch in Tărnovo vornehmlich in elitären Kreisen verehrt: Ihr Kult konnte nur über die Buchkultur möglich sein, nicht aber auf wundertätigen Gebeinen beruhen, da diese ja verschollen waren beziehungsweise in Rom lagen. Noch im zweiten bulgarischen Zarenreich ist dabei nach der „Zentralisierung des kirchlichen Gedenkens“ aber bald ein „schrittweises Verschwinden“ Kyrills und Methods sowie der anderen slawischen Heiligen aus den mehr und mehr den Texten der Konstantinopeler Kirche angepassten monatlichen liturgischen Verzeichnissen zu beobachten. Unter der Herrschaft der Osmanen setzte sich diese Gräzisierung fort. �76

Kyrill und Method

Kroatisch-glagolitische katholische Missalien und Breviarien verzeichnen seit dem 14. Jahrhundert ein Fest der heiligen Kyrill und Method am 14. Februar. Vom 14. Jahrhundert an wurde in Vorwörtern von Werken der kyrillomethodianischen Tradition in der altrussischen Redaktion des Kirchenslawischen ein russischer Bezug hergestellt, indem sie auch als „russische Lehrer“ bezeichnet wurden. V. Gelehrte Verehrung der Brüder im orthodoxen Europa der Frühen Neuzeit Über die Verehrung der Brüder durch bulgarische Mönche ist vom 15. bis ins 18. Jahrhundert wenig bekannt. Eine Verehrung durch Bauern und Städter ist auch für diese Zeit nicht nachgewiesen. In einem zu Beginn des 16. Jahrhunderts erstellten Verzeichnis der monatlichen Gedenktage wurde der 1�. Februar als Tag „des heiligen Kyrill des Philosophen, des slawischen Lehrers“ in der bulgarischen Redaktion des Kirchenslawischen festgehalten. Kyrill wurde dabei als „Blitz“ beschrieben, der „die Welt“ erhellte und ganz ohne Verweis auf einen bulgarischen Kontext dargestellt. Die Handschrift, die auch Passagen enthält, die in der serbischen Redaktion des Kirchenslawischen geschrieben wurden, gehört zum Bestand des Klosters Rila. Selbst in diesem im 19. Jahrhundert als Zentrum der Bulgarizität dargestellten Kloster ist damit eher eine allgemeinslawische, konfessionelle Verehrung Kyrills als eine (proto-)nationale bulgarische nachweisbar. Gleiches gilt für die Verehrung der Brüder im neuen Medium gedruckter orthodoxer geistlicher Bücher, die in der Frühen Neuzeit etwa in Cetinje, Venedig, Lemberg, Kiew und Moskau aufgelegt wurden. Nennenswert ist das Aufgreifen der Verehrung Kyrills im erneuerten serbischen Patriarchat von Peć: Das nach 1560 in der Patriarchatskirche gemalte Fresko stellte ihn als „heiligen Kyrill-Philosoph“ ohne Verweis auf einen nationalen Zusammenhang dar. Im serbischen Zusammenhang sind im 16. Jahrhundert mehrere Darstellungen belegt, so 1571 im montenegrinischen Kloster Morača in Kolašin, in Prizren im Kosovo in den 1580er Jahren und 1588 im ungarländischen Sremska Mitrovica sowie im Kloster Hopovo in der Fruška Gora 1608. Für das 17. Jahrhundert sind neue bildliche Darstellungen nur in einer Kirche in Pirin-Makedonien (161�) sowie erneut in Morača (16�0) – gemeinsam mit den heiligen Sava und Simeon ganz im dynastischen Kontext der serbischen Nemanjiden – bekannt. In der weltlichen serbischen Geschichtsschreibung dienten die Brüder zu Beginn des 16. Jahrhunderts zur schematischen Abgrenzung von Epochen: Sie sollten die mit Konstantin dem Großen beginnende Zeitspanne beenden und den Beginn der darauf folgenden Phase bis zum Wirken des ersten serbischen Erzbischofs Sava markieren. Nur schwach ausgeprägt war die Verehrung der sogenannten Siebenzahl, die als eine Erinnerungsfigur Kyrill und Method, Kliment, Naum, Gorazd, Angelarij, Sava und Lavrentij umfaßte – teilweise wenig bekannte Weggefährten Kliments und Naums. Eine Grundlage ihrer Ausgestaltung war die Nennung der Schüler Kyrills und Methods in der Kurzvita Kyrills. Neben Abbildungen in Albanien sind eine Darstellung mit slawischer Legen�77

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de 1612 im Kloster Slimnica am Prespa-See, im serbischen Kragujevac 1735 sowie im Kloster des heiligen Naum 1806 belegt. Für die „Siebenzahl“ war die Verehrung wundertätiger Heiliger entscheidend, wie zu sehen sein wird – Kyrill und Method konnten hierzu nichts beitragen. Um 1700 erschien vermutlich in Venedig eine erste gedruckte Akoluthie zum „Gedenken der heiligen und apostelgleichen „Siebenzahl“ Bulgariens und Dalmatiens Kyrill und Method, Kliment, Naum, Gorazd, Angelarij und Sava“ in griechischer Sprache. Im aromunischen Voskopoje, das heute auf dem Gebiet Albaniens liegt, druckte der Geistliche Griorije Konstantinidis 17�2 die Akoluthie verändert erneut. Kyrill und Method waren aber trotz dieser Verehrung im Rahmen der „Siebenzahl“ insgesamt in Voskopoje als einzelne Heilige kaum vertreten. Wesentlich für die erneuerte Verbreitung des Gedenkens Methods wurde aber seine Darstellung in einem populären Druck von Hristofor Žefarović. Dieser – wie er sich oft selbst nannte – „illyrisch-rasische [serbische] Maler“ übersetzte das 1701 von Paul Ritter veröffentlichte Wappenbuch Stemmatographia […] Illyricorum in die serbische Redaktion des Kirchenslawischen und stellte seinem gemeinsam mit dem Wiener Graveur Thomas Mesmer 17�1 in Wien erstellten Druck der Stematografija Abbildungen voran. Die siebte zeigte Method als „Erzbischof von Mähren“ neben Efrem, einem heiligen serbischen Kirchenfürsten. VI. Die Verehrung Kyrills und Methods in Böhmen bis um 1800 Die Verehrung der Brüder Kyrill und Method war und ist insbesondere mit dem Einsatz der slawischen Liturgie verbunden: Wie das 973 gegründete Prager Bistum, stand auch das 976 schriftlich bezeugte mährische Bistum unter der Obhut des Metropoliten in Mainz. Dennoch mag zunächst neben der lateinischen auch die glagolitische Messe verwendet worden sein. Das sogenannte westliche glagolitische Brevieroffizium, das in Böhmen um die Jahrtausendwende verfaßt worden sein soll, gelangte nach Kroatien. Bischof Adalbert von Prag soll als Missionar der Preußen die slawische Liturgie auch in Polen verbreitet haben. In der 993 bis 996 entstandenen Vita des heiligen Wenzel wurde auch Kyrills sowie seiner Liturgie gedacht. Die lateinische Liturgie setzte sich durch, allerdings ließ Fürst Břetislav I. zur Mitte des 11. Jahrhunderts eine Münze zum Gedenken des heiligen Clemens von Rom prägen. Die Verehrung des dritten römischen Papstes, dessen Gebeine von Kyrill nach Rom gebracht worden waren und der als Patron der kyrillomethodianischen Mission diente, wird als Ersatz für die explizite Verehrung Kyrills und Methods gedeutet. König Vratislav II. erbat sich nach 1080 von Papst Gregor VII. vergeblich die Bewilligung der slawischen Liturgie bzw. die Erneuerung des verschollenen, 1939 „rekonstruierten“ Privilegium ecclesiae moraviensis. Karl IV. rief dalmatinische Mönche nach Prag, um mit der glagolitischen Messe auch Sektierer in Böhmen für den katholischen Glauben zurückzugewinnen. Die Kirche des eingerichteten slawischen Klosters widmete er 1372 unter anderen Adalbert und den heiligen Kyrill und Method. Mit der Übernahme �78

Kyrill und Method

böhmischer Offizien wurden die Brüder auch in Polen als „nostros apostolos et patronos“ verehrt. Wie in Böhmen wurde ihr Fest am 9. März in Polen eingeführt, das Přibík Pulkava von Radenín, der Chronist Karls IV., in eine altmährische Tradition einbettete. Auch Hussiten sowie Böhmische Brüder versuchten, die kyrillomethodianische Tradition und die Volkssprache der slawischen Liturgie zu ihren Zwecken einzusetzen. Jan Amos Comenius, der letzte Bischof der Brüder, entwarf 1660 mit Verweis auf Kyrill und Method eine Vereinigung der reformierten slawischen Kirchen, die sich gegen Rom und die katholische Kirche richtete. Sowohl im Dienste des katholischen Humanismus als auch der katholischen Gegenreformation griffen katholische Gelehrte und Bischöfe die kyrillomethodianische Erinnerung auf. Im 17. Jahrhundert wurden Jesuiten zu führenden Vertretern dieser Bestrebungen. Nach der Schlacht am Weißen Berg diente das Gedenken Kyrills und Methods dem Bischof von Olmütz wie den Erzbischöfen von Prag zur erneuten Legitimierung der Herrschaft. In der Folge wurden auch die Brüder neben Wenzel, Adalbert und anderen in die Votivmesse der Patrone Böhmens aufgenommen. Im 18. Jahrhundert entstanden in Böhmen und Mähren sowie in Wien zahlreiche weitere katholische Schriften und Predigten zur Verehrung Kyrills und Methods. Auch ungarische Slowaken schrieben nun lateinische Apologien der heiligen Brüder und bezeugten Stolz über die Verbreitung der slawischen Sprache in ihrer Liturgie. Das Kloster im mährischen Velehrad erwies sich aber als Ort der intensivsten und am längsten andauernden Verehrung Kyrills und Methods in ganz Europa. VII. Das Kloster Velehrad bis um 1800 Zur Festigung der Eingliederung des heutigen Gebiets Mährens in den böhmischen Staat der Přemysliden richtete König Vratislav II. 1063 in Olmütz einen Bischofssitz ein. Mit dem gleichen Ziel gründete der Přemyslide und mährische Markgraf Ladislaus Heinrich in Velehrad 1205 das erste Zisterzienserkloster auf mährischem Gebiet. Die romanischgotische Basilika „Mariä Himmelfahrt und St. Kyrill und Method“ wurde nach dem Tod Ladislaus Heinrichs im Jahr 1222 auf weiteres Betreiben Ottokars I. fertiggestellt und im Jahr 1228 geweiht. Die Abteikirche sollte bis ins 15. Jahrhundert zum Bestattungsort vieler Markgrafen von Mähren werden. Eine um 1250 errichtete, Kyrill geweihte, frühgotische Kapelle ist noch erhalten. Der in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts errichtete Kreuzgang gehört zu den frühesten Werken der Gotik in den böhmischen Ländern. Mit der Verehrung Kyrills und Methods in Verbindung mit dem Gebietsnamen Moravia (Mähren) stellten sich die Přemysliden als Nachfolger des untergegangenen mährischen Reiches dar und versuchten, ihren regionalen Herrschaftsanspruch mit dem größtmöglichen Prestige zu legitimieren. 1�00 erklärte der Bischof von Olmütz, Jan X. (XI.) Mráz, die Brüder zu mährischen Landespatronen. Neue Legenden machten Kyrill und Method zum Teil der slawischen und mährischen Geschichte. 1421 und 1432 zerstörten die Hussiten das Kloster. Ende des 16. Jahrhunderts wurde es erneuert, aber 1623 durch Gabriel Bethlen und während eines lokalen Aufstandes 1626 �79

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nochmals ruiniert. Es folgte kurz darauf ein Wiederaufbau, bis das Kloster im Jahr 1681 abermals einem Brand zum Opfer fiel. 168�/85 und 1735 wurde das Kloster schließlich nach Plänen von Giovanni Pietro Tencalla in barockem Stil vollendet. Das Innere der Kirche ist mit Wand- und Deckenfresken mit Darstellungen aus dem Leben der Brüder Kyrill und Method geschmückt. Zusätzliche barocke Klostergebäude entstanden 1777. Im Jahr 178� wurde das Kloster im Rahmen der josephinischen Reformen aufgehoben. VIII. Großmähren und Velehrad als Teil der Herrschaftslegitimation der Přemysliden und der Luxemburger Das Kloster Velehrad, das sich im heutigen Velehrad befindet, brachte sich bereits Ende des 13. Jahrhunderts mit dem ehemaligen Sitz des Methodius in Verbindung. Auch dessen Bestattungsort wurde wiederholt dort verortet. Unter strategischer Berufung darauf erlangte der Abt 1379 das Recht zum Gebrauch der Pontifikalien und nahm ab 1�77 den ersten Rang unter den mährischen Prälaten nach dem Bischof von Olmütz ein. Die Gründung des Klosters Velehrad 1205 wurde oft mit der sogenannten großmährischen Tradition in Verbindung gebracht, obschon deren Anfänge erst zu Beginn des 14. Jahrhunderts in der ersten tschechischen Reimchronik von einem gewissen Dalimil bezeugt sind: Der Verfasser verehrte Method als angeblichen Erzbischof von Velehrad. Der Name Velehrad als Sitz des Method entstammt erst dieser Chronik. Auch in der Wenzelslegende Karls IV., einem Propagandisten der Verehrung Kyrills und Methods in Böhmen und Mähren, findet Velehrad als Ort der Taufe der heiligen Ludmilla durch Method Erwähnung. In der Chronik seines Hofhistorikers Příbík Pulkava wurde Velehrad als Hauptstadt Großmährens bezeichnet. Wie die Přemysliden, rechtfertigte auch die sie beerbende Dynastie der Luxemburger ihre Herrschaft über Mähren, indem sie sich als Erben des Reichs Svjatopluks darstellten. Nachdem schon der bayerische Hofhistoriograph Johannes Aventinus in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts die bisherige Verortung Großmährens bezweifelt hatte, führte dies Stephan Salagius 1780 in seinem Werk über die Geschichte des Christentums in Pannonien weiter aus. In sämtlichen Chroniken und Schriften bis hin zum beginnenden 19. Jahrhundert festigte sich die Verbindung Velehrads mit dem Großmährischen Reich einerseits und mit dem Sitz beziehungsweise Sterbe- oder Bestattungsort des Method andererseits. Trotz vereinzelter Gegenmeinungen fand diese Verbindung durch die zahlreichen Wallfahrten weitere Verbreitung. In der Diskussion um die Verknüpfung von Velehrad mit Großmähren sowie dem Wirken der Slawenapostel ist zwischen dem heutigen Velehrad, wo sich auch das Kloster befindet, und Altstadt bei Ungarisch Hradisch zu unterscheiden. Aufgrund archäologischer Funde war der Ort schon im 9. und 10. Jahrhundert eine wichtige Siedlung. Seine Identifikation mit dem großmährischen Veligrad bleibt aber ungewiß, zumal dieser Name begrifflich erst eine Schöpfung des 12. Jahrhunderts ist. Auch die Annahme, daß der Ort 869 in den annales fuldenses als namenlose Burg genannt wurde, ist hypothetisch. Nach �80

Kyrill und Method

dem Untergang des Mährischen Reiches wurde Altstadt 1205 dem Kloster Velehrad übertragen, das dort seine Bauhütte errichtete. Im 20. Jahrhundert wurden schließlich in Altstadt die Überreste einer Siedlung aus der Zeit des Großmährischen Reiches entdeckt und freigelegt, welche seit 1960 als Denkmal für das Großmährische Reich zugänglich sind. Im direkten Umfeld des heutigen Velehrad wurden bisher lediglich in Modrá Überreste einer Anfang des 9. Jahrhunderts errichteten Steinkirche gefunden, die möglicherweise mit der Christianisierung durch Iroschotten beiziehungsweise bayerische Missionare in Verbindung stand. Während die traditionelle Ansicht der Berufung der Slawenapostel in das Mährische Reich in der Barockzeit vor allem in Zusammenhang mit der Rekatholisierung Mährens von Bedeutung war, wurde die Berufung mit Beginn des 18. Jahrhunderts über die konfessionellen Grenzen hinweg von sämtlichen nationalen Strömungen sowohl der Tschechen als auch der Slowaken aufgegriffen, um ihre politischen Ziele zu untermauern. Aus dieser Zeit stammt auch die konkrete Verbindung von Mähren mit dem Begriff Magna Moravia. IX. Kyrill und Method als Katalysatoren nationaler Bewegungen in Böhmen, Mähren und der Slowakei nach 1800 Josef Dobrovsk�, einer der Begründer der wissenschaftlichen Slavistik, ging in seinem Werk Cyril und Method, der Slaven Apostel daran, die seit dem Spätmittelalter entstandenen konfessionellen Erinnerungsdiskurse auszuhebeln: Gemäß seiner sehr restriktiven Deutung der überaus spärlichen schriftlichen frühmittelalterlichen Quellen zu dieser Frage waren Kyrill und Method nie in den heute als Mähren bezeichneten Raum gelangt. Auch die von August Ludwig von Schlözer 1805 vertretene sogenannte russische Legende lehnte er ab. In der Abgrenzung gegen Dobrovsk� festigte sich in deutscher wie in tschechischer Sprache eine neue nationale böhmische Erinnerungskultur. In der Revolution von 18�8 versuchten sowohl katholische wie auch lutherische Wortführer um Ľudovít Štúr, im ungarländischen Kontext die Brüder für nationale slowakische Interessen dienstbar zu machen. Nach 18�8 wurde in Brünn die „Heredität der heiligen Kyrill und Method“ (Dědictví sv. Cyrilla a Methoděje) gegründet, in der sich die Anhänger des Priesters František Sušil vereinigten. Die Gesellschaft stellte sich ganz in den Dienst der katholischen Kirche und der mährischen beziehungsweise tschechischen Nation. Der slowakische Pfarrer Ján Holl� argumentierte im Rahmen der Diskussion von Dobrovsk�s Kritik, Devín bei Preßburg sei das großmährische Velehrad gewesen. In umfangreichen Epen förderte er diese neu erfundene Tradition, mit der er zugleich die Trennung der slowakischen Sprache vom Tschechischen vorantrieb. Bereits nach dem Sturz Metternichs 18�8 wurde die erste neuzeitliche Wallfahrt nach Velehrad geplant, wobei es zunächst seitens des Klerus Befürchtungen gab, diese würde nur für nationalslawische Zwecke instrumentalisiert werden. Velehrad löste dabei allmählich Brünn als Zentrum des mährischen Katholizismus ab. 1858 setzten schließlich die so genannten Massenwallfahrten �81

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nach Velehrad ein. Gleichzeitig argumentierten Slowaken angesichts der Magyarisierungspolitik in Ungarn ebenfalls mithilfe der Brüder auch sprachpolitisch: Im Memorandum národa slovenského (Memorandum der slowakischen Nation) forderten Vertreter der slowakischen Nationalbewegung 1861 politische, kirchliche und kulturelle Autonomie für das Gebiet unter den Nationalpatronen Kyrill und Method. 1862 gründeten katholische Sorben in Bautzen den „Cyrill-Methodius-Verein“. Die 1863 gegründete „Matica slovenská“, die rasch zur wichtigsten kulturellen und nationalen Einrichtung werden sollte, nahm die Brüder in ihr Signet auf. Im selben Jahr fanden erste Wallfahrten nach Devín und erneut nach Velehrad statt. In sich wechselseitig ausschließenden Tausendjahrfeiern wurde die Ankunft der beiden Brüder an dem jeweiligen mutmaßlichen Ankunftsort gefeiert. Die Predigten sollten die sogenannte Kyrill-Method-Idee verständlich machen und sprachen vor allem tschechische Gläubige aus Mähren und der Slowakei an. Die Gedenkjahre 1863, 1869 und 1885, also Ankunft und das jeweilige Todesjahr von Kyrill und Method, führten zu noch größeren Jubiläumsfeierlichkeiten in Velehrad. Bereits im Vorfeld wurde versucht, Auftritte von zu radikalen nationalpolitischen Strömungen mit Forderungen wie etwa einem national-tschechischen Patriarchat zu verhindern. Der Organisator Ignát Wurm hatte bei Papst Pius IX. die Verlegung des Festes der heiligen Kyrill und Method vom 9. März auf den 5. Juli erreicht. Gemeinsam mit den ersten Feierlichkeiten am neuen Datum im Jahr 1863 fanden auch die mährischen Priesterweihen statt, auch slowakische katholische Geistliche nahmen teil. Die Gesamtteilnehmerzahl wurde auf 80 000 bis 100 000 geschätzt. Trotz Predigten auch in deutscher Sprache war der Charakter der Feierlichkeiten von tschechischen und slowakischen Teilnehmern geprägt. Die Verehrung Kyrills und Methods in Velehrad diente dabei unterschiedlichen Interessen. Der deutsche Erzbischof von Olmütz Friedrich Landgraf Fürstenberg legte die kyrillomethodianische Tradition 1863 auch den Deutschen nahe. Es pilgerten aber keine deutschen Massen nach Velehrad. Die großen Feierlichkeiten 1863 und der Status Velehrads als Wallfahrtsort waren dabei ein relevanter Punkt des sogenannten Großmährischen Historikerstreits zwischen Vincenc Brandl, einem mährischen Landesarchivar, und Beda Dudík um die Frage, ob das großmährische Veligrad in Mähren zu suchen sei. Dudík lehnte die Identifizierung des modernen Velehrad mit dem großmährischen Ort ab. Umso hartnäckiger setzte die tschechische Partei die Basilika in Velehrad als symbolischen Ort des sogenannten Wiedererwachens der Nation in Szene. Nach dem Ausgleich 1867 und der damit verbundenen Verschärfung nationaler Gegensätze gehörten zu den Feiern 1869 vor allem auch nationalsprachliche Anliegen. Damals versammelten sich zwischen 60 000 und 80 000 Gläubige. Es wurden auch wiederholt Pilgerbroschüren veröffentlicht. Anton Cyril Stojan, nach 1921 Erzbischof von Olmütz, organisierte die Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 1885. Er versagte dabei russischen slawophilen Strömungen, diese in einen interkonfessionellen, allslawischen Kongress zu verwandeln. Als ein Förderer der sogenannten kyrillomethodianischen Idee, also eines Katholizismus tschechischer oder allgemein slawischer Prägung im Rahmen des Austroslawismus, propagierte er aber die Verehrung der beiden Heiligen in Velehrad. �82

Kyrill und Method

Auch Polen, Slowenen, Kroaten, Slowaken und Sorben, die sich an den Feiern in Velehrad beteiligten, suchten auf diesem Wege die nationalstaatliche Emanzipation voranzubringen. Russischerseits sollte Velehrad zum Zentrum der panslawischen Einigung unter dem orthodoxen Zaren werden – ein Ziel, das von den „Jungtschechen“ unterstützt wurde. Nach der Ankunft der Jesuiten in Velehrad 1890 entwickelte sich der Ort neben seiner Rolle als Ziel von Wallfahrten auch zu einem bevorzugten Tagungsort verschiedener katholischer Gruppierungen und Parteien. 1898 konstituierte sich dort etwa die „Christlich-soziale Partei in Mähren“. 1899 fand der tschechische Katholikentag in Velehrad statt. An den Festlichkeiten zur Erinnerung an das Jubiläumsjahr von 1863 im Jahr 1903 nahm auch der Metropolit der ukrainischen unierten Kirche Galiziens teil. 1891 errichtete er das seit 1885 geplante „Apostolat der heiligen Kyrill und Method unter dem Schutz der allerseligsten Jungrau Maria“ in Velehrad, das den Rahmen für die Unionskongresse bildete und 1893 seine erste Hauptversammlung hatte. Der Verein zählte 1910 mehr als 60 000 Mitglieder und faßte 1909 auch in Slowenien sowie 1910 in Kroatien Fuß. 1900 veranstaltete Stojan Feiern zum 20. Jubiläum der Enzyklika Grande Munus. 1902 initiierte er gemeinsam mit dem Rektor des Jesuitenkollegs von Velehrad die Genossenschaft „Velehrad“, die sich die Erinnerung an Kyrill und Method sowie die Suche nach dem Grab des Method zum Ziel setzte. Stojan rief in Velehrad auch einen Jugendverein ins Leben. Stojan lud 1907 in Velehrad zum ersten Unionskongress ein, an dem 76 Teilnehmer aus allen katholischen slawischen Volksgruppen teilnahmen. Dabei ging es vor allem um die Ökumene zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Ebenso waren Italiener und Deutsche sowie der russische Konvertit und spätere Exarch der russischen katholischen Kirche, Leonid I. Fëdorov, anwesend. Zwischen Velehrad und Ungarisch Hradisch wurde damals sogar eine Omnibusverbindung eingerichtet, die erste ihrer Art in der gesamten Monarchie. Stojan trat für eine Annäherung von Katholiken und Orthodoxen ein, wobei er bemüht war, politische Forderungen hintanzustellen. Die Ökumene mit evangelischen Christen gehörte nicht zum Inhalt der Kongresse. 1910 wurde die Academia Velehradensis begründet, welche den religiösen Austausch mit der slawischen Orthodoxie fördern sollte und auch den institutionellen Rahmen für die weiteren Kongresse bildete. Die Veröffentlichungen der Akademie waren die Acta Academiae Velehradensis sowie die Opera Academiae Velehradensis. Bis zum Ersten Weltkrieg fanden zwei weitere Kongresse in Velehrad statt, 1909 und 1911, an denen auch einige Nicht-Katholiken teilnahmen – insgesamt waren jedoch nur wenige Orthodoxe unter den bis zu 200 Teilnehmern. Die Ergebnisse der Kongresse wurden bis 1937 als Acta conventus Velehradensis in sieben Bänden veröffentlicht. Während des Ersten Weltkriegs errichtete Stojan das „Institut der heiligen Kyrill und Method für die Slawenmission“ am Jesuitenkolleg von Velehrad, das 1919 päpstlichen Rang erhielt und dem Pontificio Istituto Orientale angeschlossen wurde. 1921 und 1922 fanden Unionsberatungen und -gespräche statt. Stojan verstarb 1923 und wurde in der Kirche von Velehrad beigesetzt. Es folgten 192�, 1927, 1932 und 1936 – unter dem Schutz der tschechoslowakischen Regierung – die „Haupt-Unions-Kongres�83

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se“ mit bis zu 500 Teilnehmern, darunter immer weniger Orthodoxen. Der Metropolit der ukrainischen unierten Kirche Galiziens, Andrej Šeptyc’kyj, war von 1910 bis 1939 Vorsitzender der Velehrader Akademie. 1939 hatte die Wallfahrt bereits verstärkt nationalpolitischen Charakter. Die letzte Wallfahrt während des Zweiten Weltkrieges 1940 war eine gesamtnationale tschechische Kundgebung, nach dem Attentat auf Reinhard Heydrich wurden die Wallfahrten nach Velehrad aber verboten. Der Versuch, mithilfe Kyrills und Methods Tschechen und Deutsche zu vereinen, war erfolglos geblieben. Erst 1933 hatte sich auch die Staatsführung des Gedenkens angenommen: Im Rahmen der Feierlichkeiten in Neutra zu Ehren des Fürsten Pribina sollte es dem Ausgleich zwischen Slowaken und Tschechen dienen, allerdings führte die Feier zu einer eigentlichen Autonomieerklärung der Slowakei. Im slowakischen Staat mit völkischer Ausrichtung während des Zweiten Weltkriegs gehörten die Anlässe am 5. Juli in Neutra und Devín zu den wichtigsten staatlichen öffentlichen Feiern. Nach dem Zweiten Weltkrieg folgten 19�6 und 19�7 wiederum Unionsberatungen, bis schließlich das kommunistische Regime den ökumenischen Bemühungen ein Ende machte und die Konvente durch Wallfahrten abgelöst wurden. Das sozialistische Regime griff insbesondere die panslawische Bedeutung der Erinnerungskultur auf. Gleichzeitig entstand eine sogenannte Velehrad-Idee in den USA, zu deren Beratung 1956, 1957 und 1959 unionistische Kongresse abgehalten wurden. Mehrere archäologische Ausgrabungen auf dem Gebiet Mährens und der Slowakei untermauerten damals die dortige Verortung des frühmittelalterlichen Großmähren. In diesem Zusammenhang wurde auch unter dem sozialistischen Regime die sogenannte kyrillomethodianische Tradition aufgegriffen. Im Sinne des marxistischen Materialismus wurde die weltliche kulturelle und staatsbildende Wirkung der Brüder betont. In den Jahren vor und im Prager Frühling fanden jährliche Versammlungen auf der Burg Devín statt, die für slawischen Internationalismus eintraten und dann 1967 explizit eine kyrillomethodianische „Nationalwallfahrt“ darstellen sollten. Bereits 1963 hatte Papst Johannes XXIII. die Bedeutung der Velehrader Unionskongresse hervorgehoben. Papst Johannes Paul II. hatte in seinem Apostolischen Schreiben Egregiae virtutis Kyrill und Method gemeinsam mit dem heiligen Benedikt von Nursia zu Mitpatronen Europas erklärt. 1977 wurde auch im Zusammenhang mit der kyrillomethodianischen Argumentation eine selbständige slowakische katholische Kirchenprovinz eingerichtet. Nach bereits 1980 begonnenen Vorbereitungen fanden 1985 in Velehrad große Jubiläumsfeierlichkeiten mährischer und slowakischer Katholiken zur Erinnerung an den Tod Methods statt, deren politische Bedeutung ihre kirchliche weit überstieg. Auf Einladung Kardinal Tomášeks hatte sich Papst Johannes Paul II. im Vorjahr bereit erklärt, als Vorsitzender an den Feierlichkeiten teilzunehmen. Es war geplant, dort auch die Enzyklika Slavorum Apostoli zu veröffentlichen. Parallel dazu war die ČSSR bestrebt, die Feierlichkeiten für ihre Zwecke einzuspannen. Papst Johannes Paul II. wurde letztlich die Einreise durch die ČSSR verweigert. Als Vertreter des Papstes übergab jedoch Kardinal Casaroli eine Goldene Rose an die Velehrader Kirche. Schätzungen zufolge nahmen zwischen 100 000 und 200 000 Menschen an der Wallfahrt teil, davon viele junge Menschen und auch viele �8�

Kyrill und Method

slowakische Katholiken. Als Beweggründe der Pilger hielten sich Protest und religiöse Motivation die Waage. Zum 1125. Jubiläum der Ankunft von Kyrill und Method in Mähren fanden 1988 auch Pfingstgebetstreffen in Velehrad statt. Nach der politischen Wende 1989 betonte der Papstbesuch 1990 die Bedeutung Velehrads als religiöses Zentrum. Während diesem Aufenthalt wurde auch angedacht, Velehrad zu einem Sitz der Bischofskonferenzen Mittel- und Osteuropas auszubauen. Ein Jahr später wurde beschlossen, dort ein spirituelles Zentrum für Ost- und Westeuropa einzurichten. 1990 kehrten auch die Jesuiten zurück nach Velehrad. 1993 fand dort das tschechische Jugendtreffen statt. Anläßlich des Gedenkens des Tods des heiligen Adalbert von Prag im Jahr 997 besuchte Papst Johannes Paul II. 1997 abermals Velehrad. Heute ist der Ort als Wallfahrtsort vor allem für die Tschechen Mährens als religiöser Erinnerungsort von Bedeutung. Für das Jahr 2013 werden Feiern zum 1150. Jahrestag der Ankunft von Kyrill und Method vorbereitet, zu denen auch ein Besuch des Papstes in Velehrad erwartet wird. In der Slowakei wurden Kyrill und Method nach 1990 endgültig zu Nationalpatronen, die 1992 auch für die politische Unabhängigkeit stehen sollten. X. (Trans-)Nationale Verehrung der Brüder unter Ukrainern, Slowenen, Kroaten, Serben, Bulgaren, Russen und Makedonen bis 1945 18�6 wurde im rußländischen Kiew insgeheim die „Slawische Gesellschaft heilige Kyrill und Method“ eingerichtet, aber bereits im folgenden Jahr wieder aufgehoben. Die illegale politische Organisation, der auch der ukrainische Nationaldichter Taras Ševčenko und der Historiker Mykola Kostomarov sowie der Schriftsteller Pantelejmon Kuliš angeehörten, setzte sich zum Ziel, alle Slawen zu vereinen und zu befreien. Beeinflußt durch die tschechische oder mährische, aber auch die russische nationalromantische, slawophile Wiederbelebung der „Slawenapostel“ verbreitete der Bischof von Ljubljana, Anton M. Slomšek, gleichfalls 18�6 im Zusammenhang mit dem entstehenden nationalen slowenischen Diskurs das Gedenken der Brüder unter den Slowenen als Apostel und Lehrer der Slawen. Im Juni 1851 gründete er unter Geistlichen die „Kyrill-und-MethodBruderschaft“, um die kirchliche Einheit mit den orthodoxen Slawen zu fördern. Der katholische kroatische Bischof von Đakovo, Josip Juraj Strossmayer, propagierte die südslawische Sache im Rahmen des sogenannten Austroslawismus beziehungsweise des Illyrismus. Er forderte 1860, neben Kroaten und Serben auch die Slowenen und die Bulgaren in das Projekt einer südslawischen Akademie einzubeziehen, denn bei ihnen sei die Lehre Kyrills und Methods nicht untergegangen. Auch serbisch orientierte Gelehrte verbanden die Erinnerung an das christliche Missionsziel der Brüder mit dem modernen Projekt des slawischen Nationalismus. Am 12. Februar 1863 ermutigte der Belgrader Metropolit Mihail die „Gesellschaft der serbischen Philologie“, deren Ehrenmitglied er war, wie „die Slaven überall“ die Tausendjahrfeier der Mission der Brüder in Mähren auch in Belgrad zu begehen. �85

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Auch Erzbischof Strossmayer trat gerade mit dem Verweis auf Kyrill und Method für die Einheit der südslawischen Völker ein, jedoch unter der Obhut des Papstes. An der von Strossmayer angeregten „slawischen Pilgerfahrt nach Rom“ beteiligten sich im Juli 1881 neben Gruppen von Polen, unierten Ruthenen, Tschechen und Slowaken auch Slowenen sowie Kroaten aus „Kroatien und Slawonien, aus Bosnien und Herzegowina“. Aber auch „eine größere Anzahl albanesischer Katholiken, welche in ihrer Kirche slawisch sprechen“, war dabei, „auch kam mit ihnen der bekannte türkische Bey İbrağa aus Mostar“. Zudem begab sich eine kleine Gruppe von Bulgaren mit dem unierten Bischof Nil Izvorov von Kilkis im osmanischen Makedonien mit den übrigen Gruppen nach Rom. Die gemeinsame Verehrung vereinte dort Angehörige unterschiedlicher ethnischer Gruppen als römische und griechische Katholiken. In serbischen Texten beschränkte sich die beschworene slawische „Einheit“ umgekehrt oft nachdrücklich auf den orthodoxen Teil der Slawen, um katholischen Bedeutungsaufladungen der Brüder seitens Slowenen oder Kroaten entgegenzuwirken. Auch in Rußland wurden die Jubiläen der Jahre 1863, 1869 und 1885 von meist panslawisch ausgerichteten Gelehrten in immer aufwendiger organisierten Feiern und Prozessionen begangen. Insgesamt wurden bis zu 350 000 gedruckte Viten der Brüder unter der Bevölkerung verteilt, um den Kreis der Verehrer auszuweiten. Im entstehenden nationalen bulgarischen Diskurs veränderte sich die bis ins 19. Jahrhundert weitgehend in Vergessenheit geratene, kirchlich geprägte Erinnerung an Kyrill und Method um 1850 gleichfalls nachhaltig. Mit den Anfängen einer imaginierten „Wiedergeburt“ der bulgarischen Nation machten einige Lehrer der neuen Volksschulen und ihre Mäzene die Brüder zu Schutzheiligen bulgarischer Schulen. Die Feier zu diesem Anlaß wurde für eine sehr schmale, bulgarisch-patriotisch gesinnte Gruppe von Lehrern, Kaufleuten und Geistlichen zum Medium der Vorstellung eines einheitlichen bulgarischen Volkes sowie ethnokonfessionell einheitlicher bulgarischer Städte – auch wenn es sich durchwegs um Vielvölkerstädte handelte. Die Gewichtung der Erinnerung verschob sich dabei vom allgemeinslawischen Tätigkeitsbereich der Brüder auf einen nationalen, bulgarischen Kontext. Der im Sinne des Historismus für das Mittelalter beobachtete Beitrag der Brüder zur „Nationalgeschichte“ wurde zum Spiegel- und Vorbild des zeitgenössischen säkularen „Erwachens“. Es wurde dabei kein Zweifel daran gelassen, daß die Eltern der Brüder Bulgaren waren. Schon 1873 wurde der Tag der Brüder in der in Bukarest erscheinenden bulgarischen Zeitung Nezavisimost’ (Unabhängigkeit) als „Beginn unserer Existenz, der Vorläufer unserer Aufklärung und des Fortschritts“, ja als „der Erlöser unserer Nationalität, der Motor zu unserem zukünftigen Glück und der historische Wegweiser unserer historischen Befreiung“ zum Medium einer sakralisierten säkularen Nationsvorstellung stilisiert. Anders als in Belgrad waren seit der Einrichtung des Staates als Fürstentum 1878 neben geistlichen Führern als Geburtshelfer der Staatlichkeit auch die Staatsspitze an der Inszenierung des Gedenkens beteiligt: Anläßlich der Feiern des tausendsten Todesjahres Kyrills im Jahr 1885 sprach Fürst Alexander zu ihren Ehren im Parlament. Sowohl seine Rede vom „Genie des bulgarischen Volkes“ als auch die vom ewigen, in der Erinnerung zu vergegenwärtigenden „heiligen Vermächtnis“ um�86

Kyrill und Method

rissen neue Horizonte nationaler Romantik und stellten Kyrill und Method als Kern einer staatlichen Leitutopie dar. Nach dem Erringen der kirchlichen Autonomie und der Einrichtung des bulgarischen Fürstentums musste auch der historische Nachweis auf ein Existenzrecht geleistet werden: Ganz im Zeichen der Rezeption des Historismus sollten mit den Worten Vasil Drumevs, Ministerpräsident von 1879 bis 1880, und seit 188� Metropolit von Tărnovo, der 1885 noch vor Fürst Alexander im Parlament gesprochen hatte, die Brüder den Bulgaren als „historisches Volk“ einen „Ehrenplatz in der Menschheitsgeschichte“ sichern. Die Brüder wurden 1885 in bulgarischen Ansprachen auch als „Slawische Apostel“ transnational oder mit Bezug auf die „slawische Nation“ verehrt, aber der bulgarisch-nationale Zusammenhang stand bereits stark im Vordergrund. Die Feiern um Kyrill und Method 1885 sollten die ersten sein, die über regionale Identitäten und Erinnerungspraktiken hinaus mit Nachdruck eine einheitliche Nation inszenierten und dabei von einer breiteren sozialen und institutionellen Trägerschaft getragen wurden. Nur sechs Jahre später wurde 1891 in Sofia eine „Gesellschaft ,heilige Kyrill und Method‘“ ins Leben gerufen, die unter dem Schutz des bulgarischen Fürsten „die Nationalität, den Glauben und die Aufklärung unter allen Bulgaren begünstigen [sollte], die außerhalb der Grenzen des Fürstentums leben“. Auch die Stadtgemeinde Sofia sowie der Sofioter Metropolit Partenij zählten zu den etwa 30 Gründungsmitgliedern. Die Gesellschaft ist mithin als Antwort auf eine parallele Entwicklung in Belgrad zu verstehen: 1886 hatten Wortführer der serbisch orientierten Elite dort die „Heilig-Sava-Gesellschaft“ gegründet, um serbisches Nationalbewusstsein in und außerhalb des bestehenden serbischen Staates zu fördern. Auch für den regionalen makedonischen Zusammenhang ist zunächst die Entstehung einer allgemeinslawischen modernen Verehrung Kyrills und Methods nachzuweisen. Das mehrheitlich jüdische Saloniki sollte gemäß einem anonymen Aufsatz in der bulgarischen Zeitung Nezavisimost’ vom Mai 1873 zum Zentrum der Slawenheit insgesamt werden. Bald war aber die bulgarisch-nationale Aufladung der Erinnerung wichtiger. Am 11. Mai 1909 stellte A. P. Stoilov als Direktor des bulgarischen Knabengymnasiums in Saloniki Kyrill und Method als eine einzige rhetorische Figur im Singular als „zweiten Erlöser“ und „zweiten Messias“ Christus gleich und verschmolz damit das nationale Projekt mit religiösen Vorstellungshorizonten. Die Heiligen wurden auch im Fürstentum Bulgarien als Schulheilige wie der heilige Sava im serbischen Kontext zum zentralen Medium der Schaffung einer sozialen wie territorialen Ausweitung eines bulgarischen Nationalbewusstseins, gerade im Rahmen des entstehenden Volksschulwesens. Zu Beginn des Ersten Weltkrieges ist auch eine serbische Aneignung Kyrills und Methods zu beobachten: Die Erinnerung an die beiden „serbische[n] Apostel“ trug in einer serbisch-orthodoxen Kalenderbroschüre 1913 dazu bei, ein weit gefaßtes slawisches Makedonien zur „Wiege“ des serbischen Volkes werden zu lassen. Nach dem Balkankrieg wurde der 11. Mai in Serbien als Tag der heiligen Kyrill und Method zum staatlichen Feiertag erklärt. Kyrill und Method dienten im Ersten Weltkrieg nicht nur der bulgarischen Kirche, sondern auch der Regierung zur Rechtfertigung der Ausweitung der Staatsgrenzen. Zwi�87

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schen bulgarischen und serbischen Wortführern der sich nach und nach diametral widersprechenden nationalen Diskurse begann sich im ausgehenden 19. Jahrhundert, im Rahmen der Deutung Kyrills und Methods eine zunehmend polemische Auseinandersetzung zu entfalten. Sowohl im serbischen als auch im bulgarischen Zusammenhang setzte sich in der Konkurrenz der sich überlappenden territorialen Erweiterungspläne der nationalstaatlichen Entwürfe gerade in Bezug auf Makedonien eine nationalisierte Erinnerung gegenüber der früheren transnationalen durch. In der Zwischenkriegszeit standen in Jugoslawien unterschiedliche Deutungen der Brüder nebeneinander. Der Slavist Vatroslav Jagić verwehrte sich beispielsweise 1921 klar gegen nationale serbische oder bulgarische Lesarten der Erinnerungskultur um die Brüder, die für ihn wie selbstverständlich aus einer „angesehenen griechischen Familie“ stammten. Dennoch wurden Kyrill und Method zu Beginn der 1930er Jahre als Medium einer teilweise religiös gedeuteten jugoslawischen Identität eingesetzt, wobei diese mitunter auch das bulgarische Volk als Teil einer imaginierten „Rasse“ einschließen sollte. In der katholischen Kirche hingegen wurde die seit dem 19. Jahrhundert bestehende kyrillomethodianische, illyrisch-südslawische Ausrichtung nach den 1920er Jahren immer unwichtiger. Jedenfalls war die Bedeutung des heiligen Sava weitaus größer. Im Schatten des Sava-Kults konnte sogar eine makedonische Aneignung der Brüder gewagt werden: So vertrat Pavle Popović 1936 in einer Belgrader Zeitschrift eine „makedonische Theorie“ und sah ganz von einer serbischen, ja auch von einer südslawischen Interpretation des Wirkens der beiden Brüder ab. In Bulgarien wurden die Brüder nach der Niederlage im Ersten Weltkrieg von Kirche und Staat als ein wichtiger Faktor einer geistigen Konsolidierung des Volkes dargestellt. Bildungsminister Stojan Omarčevski von der regierenden Bauernpartei machte sie in der Einleitung einer ihrem Feiertag beziehungsweise dem Tag des bulgarischen Schrifttums gewidmeten und 1921 von seinem Ministerium herausgegebenen Broschüre zum „Eckstein“ einer nationalen Verteidigungsstrategie gegen die mit dem Ersten Weltkrieg besiegelten territorialen Verluste Bulgariens. Nicht nur auf dem Balkan, sondern auch gegenüber der gesamten „kultivierten Menschheit“ sollte sich Bulgarien hervortun. „Breite Massen“ sollten 1921 für die „Ideale“ der Brüder mobilisiert werden. Neben ihrer Darstellung als staatstragende rhetorische Figuren verstärkte sich aber im Bulgarien der Nachkriegsjahre auch ihr Einsatz für die makedonische Sache. Der Hinweis auf die angebliche Unterdrückung von Bulgaren im jugoslawischen Makedonien, der bis zum Ende der 1920er Jahre nur in den Zeitungen der Exilmakedonen wesentlich war, wurde in den 1930er Jahren zu einem wesentlichen Bestandteil der Erinnerung an die beiden Brüder, sowohl in Publikationen der bulgarischen orthodoxen Kirche wie auch im allgemeinen bulgarischen Zusammenhang, um politischen Forderungen der makedonischen Diaspora den Wind aus den Segeln zu nehmen. Ganz im Kontext mit der politischen Entwicklung in Bulgarien veränderte sich in den Jahren des Autoritarismus unter Boris III. auch die Erinnerung an die Brüder. Ihr Feiertag wurde zum sozialen Rahmen der Mobilisierung von mehr als 10 000 und damit einer ganzen „Armee von Schülern“ und deren Einheit mit Volk, Wissenschaft und Regie�88

Kyrill und Method

Der Kirchenhistoriker Stredowsky stellte auf dem Frontispiz seines Werks Sacra Moraviae historia, sive Vita SS. Cyrilli et Methudii die Brüder Kyrill und Method als apostelgleiche Erzbischöfe und Schutzherren der mährischen Kirchengeschichte dar. Er bezeichnete sie hier und im Buchtitel als Welehradensium Archiepiscoporum. Auch die weltliche Geschichte stand in diesem Bild unter ihrem Schutz: Das zwischen ihnen aufgeschlagene Liber Generationis beginnt mit dem bulgarischen Herrscher [Boris-]Michail und listet die Könige und Herzöge Mährens und Böhmens auf. Bildnachweis: Stredowsky, Johann Georg: Sacra Moraviae historia, sive Vita SS. Cyrilli et Methudii […]. Salisbacum 1710, Frontispiz.

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rung. Kyrill und Method wurden zu Beginn der 1940er Jahre zum Kristallisationspunkt eines entstehenden messianistischen bulgarischen Nationalismus, ja zu „Erlösern“ der Nation der Bulgaren stilisiert. Im Frühjahr 1941 besetzte die bulgarische Armee VardarMakedonien mit deutscher Hilfe. Mit dem Verweis auf Kyrill und Method wurde der Schritt seitens des Regimes wie auch der bulgarischen Kirche legitimiert. Im Kontext des Zweiten Weltkrieges wurde das Handeln der Brüder in rechtsgerichteten Zeitungen zur „Waffe“ in einem „Kampf“ des bulgarischen Volkes um seine „Existenz“ umgedeutet und die Brüder selbst zu „Führern“ ernannt. XI. Kyrill und Method in Makedonien, Bulgarien und Rußland nach 1945 In der jugoslawischen Teilrepublik Makedonien spielte die Referenz auf Kyrill und Method im Prozess der Festigung eines makedonischen Nationalbewusstseins seit dem Zweiten Weltkrieg eine wesentliche Rolle. Die Konsolidierung des makedonischen Staates, der Vorstellung der Nation, der Sprache und einer eigenen kirchlicher Organisation war und ist eng mit den beiden Brüdern verbunden. Wie die bulgarische Nationalbibliothek, ist die 1949 gegründete Universität Skopje seit 1969 Kyrill und Method gewidmet. Die Brüder Kyrill und Method dienten seit den 1960er Jahren der um Anerkennung bemühten makedonischen orthodoxen Kirche und der makedonischen Regierung dazu, ökumenische und politische Kontakte zur römisch-katholischen Kirche und interkonfessionelle Legitimität aufzubauen. 1971 entwickelten sich aus den jährlichen Treffen in Rom die „Römischen Tage der Makedonischen Kultur“. Als Papst Johannes Paul II. die Brüder 1980 und erneut 1985 zu Kopatronen Europas erklärte, wurde dies auch seitens der makedonischen orthodoxen Kirche sehr dankbar aufgenommen. Allerdings spielt der Verweis auf einen ihrer Schüler, Kliment von Ohrid, im makedonischen Kontext ebenfalls eine bedeutende, wenn nicht eine wichtigere Rolle als Kyrill und Method. Sowjetischen sozialistischen Rahmenvorgaben folgend, bewerteten bulgarische Historiker von 1950 bis 1989 den Einsatz des Gedenkens Kyrills und Methods durch die Wortführer der Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts positiv. Auch nach dem Zweiten Weltkrieg blieb der Tag Kyrills und Methods der nationale Feiertag der bulgarischen sowie der allgemeinslawischen Kultur. Beispielsweise verehrte Emil Georgiev, der bereits in den 1930er Jahren sowie während des Zweiten Weltkriegs über die Brüder publiziert hatte, sie 1969 im Zusammenhang mit dem 1100. Todesjahr Konstantin-Kyrills als „Grundleger der Kultur des bulgarischen Volkes, die diesem einen bedeutenden Platz in der allgemeinen Kulturgeschichte der Völker zuteilten“. Die Brüder wurden hier zu Medien der „Freundschaft von Völkern, die geeint sind durch die großen Ideen des Sozialismus“. Nach 1989 erfolgte eine Neuausrichtung der bulgarischen Historiographie nur sehr zögerlich. Die schon 1981 begonnene Arbeit an der Kirilo-metodievska enciklopedija (Kyrillomethodianische Enzyklopädie) wurde fortgeführt. Der erste Band des Prestigeprojektes erschien 1985, die übrigen folgten 1995 und 2003. Kyrill und Method dienen 490

Kyrill und Method

heute zur Stabilisierung und „Europäisierung“ der bulgarischen nationalen Identität, wie etwa die Rede des bulgarischen Präsidenten Georgi Părvanov zum Kyrill-und-MethodTag im Jahr 2004 zeigte. Zudem sind auch Hinweise auf eine Verstärkung der religiösen Verehrung der Heiligen bemerkbar. Ihr Gedenken wird weiterhin jährlich als Tag des Alphabets, der Kultur und der Aufklärung auch mit Umzügen von Schülern gefeiert. In Bulgarien, Makedonien und aus römisch-katholischer Sicht ist seit 1980 bis heute eine europäische Dimension der Verehrung der Brüder deutlich geworden. In Rußland hingegen dienen Kyrill und Method seit dem Untergang der Sowjetunion 1991 der Führung der russisch-orthodoxen Kirche vermehrt zur Verteidigung der kyrillischen Schrift gegen die lateinische und insgesamt gegen westlichen Einfluß. In Moskau und mehreren anderen Städten Rußlands wurden neue Denkmäler zu ihren Ehren errichtet. Der Tag Kyrills und Methods wurde 1991 zu einem kirchlichen und staatlichen Feiertag der slawischen Schrift und Kultur erklärt.

XII. Auswahlbibliographie a) Bibliographien, Zeitschriften, Reihen, Enzyklopädien Acta Academiae Velehradensis 1–19 (1905–19�8); Acta Conventus Velehradensis 1–7 (1908–1927); Opera Academiae Velehradensis 1–8 (1911–1936); Slovak Studies 3/Cyrillo-Methodiana 1 (1963); Slovak Studies 12/Cyrillo-Methodiana 2 (1972); Cyrillomethodianum 1–18 (1971–199�); DineKov, Petăr (Hg.): Kirilo-metodievska enciklopedija, Bd. 1–2. Sofija 1985–1995; Graševa, Liljana (Hg.): Kirilometodievska enciklopedija, Bd. 3–�. Sofija 2003; NiKoLova, Svetlina (Hg.): Kirilo-metodievska bibliografija, 1516–193�. Sofija 2003; dies. (hg.): Kirilo-metodievska bibliografija, 193�–19��. Sofija 2010; Laufende Bibliographie: Byzantinoslavica (1929ff.).

b) Gedruckte Quellen und Editionen StredoWsKy, Johann Georg: Sacra Moraviae historia, sive Vita SS. Cyrilli et Methudii […]. Salisbacum 1710; Ακολουθεία των αγίων και ισαποστόλων επτά φωστήρων της Βουλγαρίας κ’ Δαλματίας Κυρίλλου, Μεθοδίου, Κλήμεντος, Ναούμ, Γοράσδονος, Αγγελαρίου κ’ Σάβα / Νυν πρώτον τυπωθείσα συνεργεία, επιμελεία και δαπάνη των κυρίων Ανδρέου Παπά, Ιωάννου Παπά και των υιών αυτού Νικολάου και Αναστασίου […]. O. O., o. J.; strossMayer, Juraj Josip: Die Heiligen Cyrill und Method. Autorisirte Uebersetzung [sic] aus dem Croatischen [Übersetzung eines nicht zu ermittelnden Hirtenbriefes]. Wien 1881; ŽLoGar, anton: Zborník cerkvenih govorov na slavo ss. Cirilu in Metodu [Sammlung von Kirchenreden zum Ruhm der heiligen Kyrill und Method]. Ljubljana 1886; teodorov-baLan, Aleksandăr: Kiril i Metodi [Kyrill und Method], Bd. 1–2. Sofija 1920–193�; Kurz, Josef/vaJs, Josef (Hg.): Evangeliář Assemanův. [Das Evangelium Assemanianus], Bd. 1–2. Praha 1929–1955; ivanov, Jordan (Hg.): Bălgarski starini iză Makedonija [Bulgarische Altertümer aus Makedonien]. Sofija 21931 [11908]; Milev, Aleksandăr (Hg.): Grăckite žitija na Kliment Ohridski. Uvod, tekst, prevod i objasnitelni beležki [Griechische Vitae des Kliment von Ohrid. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar]. Sofija 1966; BuJnoch, Josev: Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita. Bericht von der Taufe Russ-

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Markus Peter Beham/Stefan Rohdewald lands nach der Laurentiuschronik. Graz/Wien/Köln 21972 [Graz 11958]; vasiliev, Asen (Hg.): Christofor Žefarovič. Stematografija. Faksimilno izdanie [Christofor Žefarovič. Stemmatographie. Faksimile]. Sofija 1986; TunicKiJ, Nikolaj L. (Hg.): Materialy dlja istorii žizni i dejateľnosti učenikov svv. Kirilla i Mefodija/Monumenta ad SS Cyrilli et Methodii successorum vitas resque gestas pertinentia, Bd. 1–2. London 21972 [Sergiev Posad 11918]; stoJčevsKa-antiK, Vera: Vo čest na Svetite Kiril i Metodij [Zu Ehren der heiligen Kyrill und Method]. Skopje 1994.

c) Darstellungen DobroWsKy, Joseph: Cyrill und Method der Slawen Apostel. Ein historisch-kritischer Versuch. Prag 1823; GinzeL, Joseph Augustin: Geschichte der Slavenapostel Cyrill und Method und der slavischen Liturgie. Leitmeritz 1857; RačKi, Franjo: Viek i djelovanje sv. Cyrilla i Methoda slovenskih apostolov [Leben und Taten der heiligen Slawenapostel Kyrill und Method]. Zagreb 1857; SnopeK, František: Konstantinus-Cyrillus und Methodius, die Slavenapostel. Kremsier 1911; Grivec, František: Slovanska Apostola Sv. Ciril in Metod [Die heiligen Slawenapostel Kyrill und Method]. Ljubljana 1927; MasáK, Emanuel: Dějiny Dědictví sv. Cyrila a Metoděje v Brně 1850–1930 [Geschichte der Kyrill-Method-Heredität in Brünn 1850–1930]. Brno 1930; Schaeder, Hildegard: Geschichte und Legende im Werk der Slavenmissionare Konstantin und Method. In: Historische Zeitschrift 152 (1935) 229–255; AnGeLov, Bonju St. (Hg.): Chiljada i sto godini slavjanska pismenost. Sbornik v čest na Kiril i Metodij [1100 Jahre slawische Schriftlichkeit. Sammelband zu Ehren Kyrills und Methods]. Sofija 1963; BöhM, Jaroslav: Das Großmährische Reich. Tausendjährige Staats- und Kulturtradition. Prag 1963; poLenaKoviḱ, Harlampjie: Beleški za kirilometodievskoto prašanje kaj Makedoncite vo XIX vek [Anmerkungen zur Verehrung Kyrills und Methods unter den Makedonen im 19. Jahrhundert]. In: Glasnik na Institut za Nacionalna Istorija 7 (1963) 157–180; PouLíK, Josef (Hg.), Grossmähren. Der erste gemeinsame Staat der Vorfahren des tschechischen und slowakischen Volkes. Ausstellung anlässlich der 1100. Wiederkehr der Ankunft der byzantinischen Mission in unseren Ländern und der Anfänge des slawischen Schrifttums. Prag 1963; anGeLov, Bonju: Borba za deloto na Kiril i Metodij [Der Kampf um das Werk Kyrills und Methods]. Sofija 1969; HošeK, Radislav (Hg.): Magna Moravia. Sborník k 1100. V�ročí příchodu byzantské mise na Moravu [Magna Moravia. Sammelband zum 1100. Jahrestag der Ankunft der byzantinischen Mission in Mähren]. Praha 1965; salajKa, Antonín: Konstantin-Kyrill aus Thessalonike. Würzburg 1969; poLenaKoviḱ, Harlampjie (hg.): Simposium 1100-godišnina od smrtta na Kiril Solunski [Symposium zum 1100. Jahrestag des Todes Kyrills von Saloniki], Bd. 1–2. Skopje 1970; VasiLiev, Asen: obrazi na Kiril i Metodij v Bălgarija [Abbildungen Kyrills und Methods in Bulgarien]. Sofia 1970; butvin, Jozef: Veľkomoravská a cirilometodejská tradícia v slovenskom národnom obrodení [Großmährische und kyrillomethodianische Traditionen in der slowakischen nationalen Wiedergeburt]. In: Historické štúdie 16 (1971) 131–150; Graus, František: Die Entwicklung der Legenden der sogenannten Slawenapostel Konstantin und Method in Böhmen und Mähren. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N. F. 19 (1971) 161–211; MachiLeK, Franz: Welehrad und die Cyrill-Method-Idee im 19. und 20. Jahrhundert. In: Archiv für Kirchengeschichte von Böhmen-Mähren-Schlesien 6 (1982) 156–183; NeMec, Ludvik: Antonin Cyril Stojan. Apostle of Church Unity. Human and Spiritual Profile. New Rochelle 1983; van darteL, Geert: Ćirilometodska ideja i svetosavlje [Die kyrillomethodianische Idee und das Heiligsavatum]. Zagreb 198�; pouLíK, Josef/chropovsKý, Bohuslav (Hg.): Velká Morava a počátky československé státnosti [Großmähren und die Anfänge der tschechoslowakischen Staatlichkeit]. Praha 1986; Vodopivec, Janec: I santi fratelli Cirillo e Metodio compatroni d’Europa. Roma 1985; ZláMal, Bohumil: Svatí Cyril a Metoděj [Die heiligen Kyrill und Method]. Roma 1985; DurKović-JaKšić, Ljubomir: Kult slovenskih apostola Ćirila i Metodija kod Srba [Die Verehrung der Slawenapostel Kyrill und Method unter den Serben]. Beograd 1986; KonesKi, Blaže (Hg.): Kirilometodievskiot (staroslovenskiot) period i kirilo-metodievskata tradicija vo Makedonija [Die kyrillomethodianische (altsla-

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Kyrill und Method wische) Periode und die kyrillomethodianische Tradition in Makedonien]. Skopje 1988; TraJanovsKi, Aleksandar: Odbeležuvanjeto na praznikot na slovenskite prosvetiteli Kiril i Metodij i nivnite učenici Kliment i Naum Ohridski vo Makedonija, osobeno od 60-tite godini na XIX vek [Die Abhaltung des Feiertags der slawischen Aufklärer Kyrill und Method und ihrer Schüler Kliment und Naum von Ohrid in Makedonien, besonders seit den 1860er Jahren]. In: MatevsKi, Mateja (Hg.): Kliment Ohridski i ulogata na Ohridskata kniževna škola vo razvitokot na slovenkata prosveta. Skopje 1989, 371–388; válKa, Josef (Hg.): Středověká Morava [Das mittelalterliche Mähren]. Brno 1991; BaLabanov, Kosta: Sveti Kiril i Sveti Metodji vo delata na zografite 9–19 vek [Die heiligen Kyrill und Method in den Werken der Maler (9.–19. Jahrhundert). Skopje 1993; SiMeonova, Gatja. Problemi na Kirilo-Metodievata Prazničnost [Probleme der kyrillomethodianischen Feierlichkeiten]. Sofija 1993; dies.: Denjat na Kiril i Metodij [Der Tag Kyrills und Methods]. Sofija 199�; eGGers, Martin: Das „Großmährische Reich“. Realität oder Fiktion? Eine Neuinterpretation der Quellen zur Geschichte des mittleren Donauraumes im 9. Jahrhundert. Stuttgart 1995; BirnbauM, Henrik: Zum (hoffentlich) letztenmal über den weitgereisten Method und die Lage Altmährens. In: Byzantinoslavica 57 (1996) 188–193; eGGers, Martin: Das Erzbistum des Method. Lage, Wirkung und Nachleben der kyrillomethodianischen Mission. München 1996; MühLe, Eduard: Altmähren oder Moravia? Neue Beiträge zur geographischen Lage einer frühmittelalterlichen Herrschaftsbildung im östlichen Europa. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropaforschung �6 (1997) 205–223; BahLcKe, Joachim u. a. (Hg.): Handbuch der Historischen Stätten. Böhmen und Mähren. Stuttgart 1998; Hadler, Frank: Der Magna-Moravia-Mythos zwischen Geschichtsschreibung und Politik. In: BehrinG, Eva u. a. (Hg.): Geschichtliche Mythen in den Literaturen und Kulturen Ostmittel- und Südosteuropas. Stuttgart 1999, 275–291; PoLyviannyi, Dmitry: The Cults of Saints in the Political Ideology of the Bulgarian Empire. In: DerWich, Marek/DMitriev, Michel (Hg): Hg): ): Fonctions sociales et politiques du culte des saints dans les sociétés de rite grec et latin au Moyen Age et à l’époque moderne. Wrocław 1999, �01–�17; PodsKaLsKy, Gerhard: Theologische Literatur des Mittelalters in Bulgarien und Serbien 865–1�59, München 2000; ČešMedžiev, Dimo D.: Kiril i Metodij v bălgarskata istoričeska pamet prez srednite vekove [Kyrill und Method im bulgarischen historischen Gedächtnis während des Mittelalters]. Sofija 2001; ALbrecht, Stefan: Geschichte der Großmährenforschung in den tschechischen Ländern und in der Slowakei. Prag 2003; Lis, Izabela: Święci w kulturze duchowej i ideologii Słowian prawosławnych średniowieczu (do XV w.) [Heilige in der geistlichen Kultur und Ideologie der orthodoxen Slawen im Mittelalter (bis zum 15. Jahrhundert)]. Kraków 2004; MachiLeK, Franz: „Velehrad ist unser Programm“. Zur Bedeutung der Kyrill-Method-Idee und der Velehradbewegung für den Katholizismus in Mähren im 19. und 20. Jahrhundert. In: Bohemia 45 (2004) 353–395; KoWaLsKá, Ewa: Kyrill und Method. Ihre Tradition in Politik und Geisteswelt der Slowakei. In: SaMersKi, stefan (Hg.). Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2007, 116–127; RohdeWaLd, Stefan: Figures of (Trans-)National Religious Memory of the Orthodox Southern Slavs Before 1945: An Outline on the Examples of SS. Cyril and Methodius, in: Trames. Journal of the Humanities and Social Sciences 12 (2008) 287–298; KenneWeG, Anne C./Troebst, stefan: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 57/3 (2008). Themenheft: Marienkult, Cyrillo-Methodiana und Antemurale. Religiöse Erinnerungsorte in Ostmitteleuropa vor und nach 1989, 287–385; Bennett, Brian P.: The Myth of Cyril and Methodius and Competing Maps of Europe. In: Journal of Religion in Europe � (2011) 2�5–272

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Kliment von Ohrid I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Religiöse Memoria bis ins 18. Jahrhundert. – b) Verehrung im „langen“ 19. Jahrhundert. – c) Von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Gedenken an Kliment von Ohrid war lange Zeit ausschließlich am Ort seines Wirkens und Schaffens – der Stadt Ohrid – verankert. Seit dem Ende des 13. Jahrhunderts strahlte seine Verehrung stark in benachbarte, in den heutigen Grenzen Albaniens, Kosovos, Serbiens, Bulgariens und Griechenlands liegende Gebiete aus. Bildliche Darstellungen und Buchdruck stärkten die Memoria zu ihm zusätzlich. Besondere Bedeutung gewann er nach 19�5 als Patron und Lehrer im Rahmen der angespannten Beziehungen zwischen der serbischen orthodoxen Kirche und der mazedonischen orthodoxen Kirche. Die jüngste Entwicklung weist ihm eine zukünftige Rolle als völkerverbindenden Heiligen zu.

II. Leben Kliment wurde vermutlich um 8�0 in der historischen Landschaft Makedonien geboren und entstammte der slawischen Bevölkerungsgruppe in der Umgebung der byzantinischen Stadt Saloniki. Sein Taufname ist nicht bekannt. Als biographische Quelle dienen zwei in griechischer Sprache verfaßte Heiligenviten, die auf nicht erhaltenen altslawischen Vorbildern basieren. Die erste schrieb Erzbischof Theophylaktos von Ohrid um 1100 nieder, sie wird in der Wissenschaft Vita Clementis genannt. Die zweite wurde wahrscheinlich von Erzbischof Demetrios Chomatenos von Ohrid in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts verfaßt und trägt die wissenschaftliche Bezeichnung Clementis Vita brevis. Hinzu kommen Angaben zu Kliment in der Vita des Heiligen Naum von Ohrid und eine slawische Liturgie zu Ehren Kliments. Des weiteren nennt der um 1000 entstandene glagolitische Codex Assemanianus seinen Feiertag. Kliment schloß sich in jungen Jahren den Slawenaposteln Konstantin-Kyrill und Method an und begleitete diese zunächst auf die Krim und in anliegende Gebiete, 863 dann auch auf ihrer Mission nach Großmähren. Er zählte zu den Schülern Konstantin-Kyrills, der im Frühjahr 868 mit Erlaubnis von Papst Hadrian II. die Priesterweihe in Rom empfing. Seinen Mönchsnamen erhielt er vom heiligen Clemens Romanus, dessen Reliquien von Konstantin-Kyrill auf der Krim entdeckt und nach Rom in die Kirche S. Clemente gebracht worden waren. Von 869 bis 885 blieb er in Großmähren, das er schließlich auf Druck lateinischer Missionare aus dem Ostfrankenreich verlassen mußte. Kliment wich gemeinsam mit Naum, Angelarij, Gorazd und Sava nach Preslav in das Erste Bulgari494

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sche Reich aus. Dort unterwiesen sie zukünftige Geistliche, förderten unter anderem auf Wunsch der bulgarischen Herrscher die altslawische Sprache als Kirchensprache und leisteten einen wesentlichen Beitrag zur Entwicklung des kyrillischen Alphabets. Um 887/888 wurde Kliment auf Geheiß des bulgarischen Zaren Simeon in das bulgarisch beherrschte Makedonien gesandt, um das kirchliche Leben zu organisieren und die neubekehrte slawische Bevölkerung im Glauben zu bestärken. Er wirkte als Prediger, Lehrer und Schriftsteller und wurde zum Bischof von Dremvitza und Velitza, wie möglicherweise das heutige Veles genannt wurde, erhoben. Zu den wichtigsten Kerngebieten seiner missionarischen Tätigkeit zählten Ohrid und Glavinica, wie der heute in Albanien gelegene Ort Ballsh damals hieß. In Ohrid ließ Kliment auf dem Hügel Plaošnik eine dem hl. Pantelejmon gewidmete Kirche errichten, die später auch „Alter hl. Kliment“ (Star Sveti Kliment) genannt wurde. Ebendort wurde er nach seinem Tode am 27. Juli 916 beerdigt. Kliment wird in der orthodoxen Kirche als Heiliger verehrt und am 27. Juli und 25. November gefeiert. Sein literarisches Œuvre ist mannigfaltig und umfaßt Lobreden auf die Hauptfeste des Kirchenjahres, Kirchendichtung, liturgische Hymnen sowie Übersetzungen hagiographischer Texte aus dem Griechischen. III. Verehrung a) Religiöse Memoria bis ins 18. Jahrhundert Die Verehrung des Heiligen Kliment steht zunächst in engem Zusammenhang mit der Frage der territorialen Ausbreitung seines Bistums im 9. und 10. Jahrhundert. Dieses wird im wesentlichen zwischen Veles und Ohrid verortet, dürfte aber zusätzlich Gebiete des heutigen Albanien wie Devol umfaßt haben. Die Erinnerungskultur an den Heiligen ist eng mit seiner Grablege verknüpft. Zentrum der christlichen Mission Kliments war der Hügel Plaošnik – westlich der Ohrider Altstadt und südlich der Ohrider Festung –, wo er auf den Fundamenten altchristlicher Basiliken seine Kirche des hl. Pantelejmon errichten ließ. Ebendort ruhte sein Leichnam von seinem Tode im Jahre 916 bis zur endgültigen osmanischen Eroberung der Stadt um 1385/95. Der Eroberung folgte eine Translatio seiner Gebeine von der Kirche des hl. Pantelejmon zunächst in die Ohrider Kirche „Kleiner hl. Kliment“ (Mal Sveti Kliment, erbaut 1378), dann in die Ohrider Kirche „Hl. Gottesmutter“ (Sveta Bogorodica Perivlepta, erbaut 1294/95), die auf einer östlich von Plaošnik liegenden Erhebung steht. Die „Sveta Bogorodica Perivlepta“ wurde daraufhin zum Sitz der orthodoxen Erzbischöfe von Ohrid, zumal die Kirche „Hl. Sofija“ (Sveta Sofija, erbaut um 1000) in der Altstadt zu einer Moschee umfunktioniert worden war und „Sveti Pantelejmon“ aufgegeben werden mußte. Die Osmanen errichteten an der prominenten Stelle von „Sveti Pantelejmon“, genauer auf dessen Fundamenten, im 15. Jahrhundert die Moschee „Sultan Mehmed“ (Sultan Mehmed Camii oder İmaret Camii). Dies hatte zwei unmittelbare Auswirkungen auf die lokale Erinnerungskultur. Während sich die Bezeichnung İmaret auch als Flurname für diese Stelle des Hügels Plaošnik 495

Mihailo St. Popović

durchsetzte, erfuhr die Kirche „Sveta Bogorodica Perivlepta“ eine lokale Umbenennung in Sveti Kliment. Somit standen drei Kirchen in Ohrid in direktem Zusammenhang mit der Erinnerungskultur an den Heiligen („Sveti Pantelejmon“ alias „Star Sveti Kliment“, „Mal Sveti Kliment“, „Sveta Bogorodica Perivlepta“ alias „Sveti Kliment“), was bis zum Jahr 2002 in dieser Konstellation bestehen blieb. Bereits Erzbischof Theophylaktos von Ohrid bezeichnete in seiner Vita Clementis Kliment als den „neuen Apostel Paulus“, verglich dessen Werk mit den Taten des Apostels und schuf somit die Grundlage für eine umfassende lokale Verehrung des Heiligen. Diese Verehrung spiegelt sich in der Kunst vom Tod Kliments 916 bis zur Aufhebung des Erzbistums Ohrid 1767 deutlich wider. Ohrid wurde zum Zentrum der künstlerischen Definition des Kanons des Porträts des heiligen Kliment, dessen zur Mitte des 11. Jahrhunderts entstandene älteste Fresko-Darstellung sich in der Kirche „Sveta Sofija“ befindet. Weitere Darstellungen Kliments entstanden vom Ende des 13. Jahrhunderts bis um 1400 in Ohrid, beispielsweise in den Kirchen „Sveti Jovan Kaneo“, „Sveta Bogorodica Perivlepta“, „Sveti Pantelejmon“ und „Sveti Konstantin i Elena“, sowie außerhalb Ohrids in Kirchen und Klöstern am Ohridsee (Radožda, Zaum, Peštani, Kalište), in der Gegend Mariovo, bei Skopje und Kumanovo, im Kosovo (Gračanica, Peć), im Süden Serbiens (Studenica) und im Norden Griechenlands (Saloniki, Kastoria). Im Zuge der Eroberung großer Teile der historischen Landschaft Makedonien durch den serbischen König Stefan Uroš II. Milutin am Ende des 13. Jahrhunderts kam es zu einem Kulturtransfer und zu einer Verbreitung von Kliments Bild im damaligen mittelalterlichen serbischen Staat über die Grenzen der Diözese Ohrid hinaus. Das 14. Jahrhundert sah ein starkes Ausstrahlen der Erinnerungskultur des Heiligen auf Gebiete des heutigen Griechenland, Albanien, Kosovo und Serbien, was sich im Bildprogramm zahlreicher Gotteshäuser widerspiegelt. Aus den betreffenden Bildkompositionen geht hervor, daß Kliment als Schutzpatron der Stadt Ohrid und ihrer Bewohner wahrgenommen wurde. Unbekannt sind trotz dieser Verehrung Datum und Umstände seiner Kanonisierung innerhalb der orthodoxen Kirche. Im 16. Jahrhundert erreichte die bildliche Darstellung Kliments den heiligen Berg Athos. Einen wesentlichen Beitrag zur Erneuerung und Verbreitung der Erinnerungskultur Kliments leistete Hristofor Žefarović aus Dojran mit seiner 17�1 in Wien gedruckten Stemmatographie. In ihr veröffentlichte er Kupferstiche von südosteuropäischen Heiligen, darunter auch von Kliment, die daraufhin künstlerische Vorbildwirkung in Serbien, Bulgarien, Makedonien und auf dem Athos erreichten. b) Verehrung im „langen“ 19. Jahrhundert Die bildliche Darstellung Kliments zur Mitte des 19. Jahrhunderts war im Gebiet zwischen Ohrid und Skopje wesentlich durch die Fresken und Ikonen des Künstlers Dičo Krstevič Rekalija geprägt. Mit der Aufhebung des Erzbistums Ohrid im Jahre 1767 übernahm das Ökumenische Patriarchat von Konstantinopel die kirchliche Administration seines Sprengels. Dies währte bis zur Einrichtung des bulgarischen Exarchats im Jahre 496

Kliment von Ohrid

1870. Die serbische orthodoxe Kirche hatte bereits 1832 die Autonomie der Belgrader Metropolie vom Ökumenischen Patriarchat erwirkt. Der noch osmanische Teil der historischen Landschaft Makedonien, in dem der heilige Kliment seine missionarische Tätigkeit entfaltet hatte, wurde nun gleichzeitig vom Ökumenischen Patriarchat, vom bulgarischen Exarchat sowie von der serbischen Metropolie für sich beansprucht. Es entstanden Schulen des Patriarchats, in denen in griechischer Sprache unterrichtet wurde, und Schulen des Exarchats, in denen die bulgarische Sprache zur Anwendung kam. Im Rahmen dieses Konkurrenzkampfes griff die Erinnerungskultur zu Kliment auf Bulgarien über und gipfelte 1888 in der Gründung der Universität Sofia unter dem Namen „Sveti Kliment Ohridski“. Neben den traditionellen religiösen Funktionen wurde die Verehrung Kliments durch die bulgarische Bildungsschicht des Bürgertums zum Medium des Projekts des Nationalstaates sowie der nationalen Bildung. Im Zuge des Ersten und Zweiten Balkankrieges wurde der vormalige Sprengel des Erzbistums von Ohrid zwischen den Staaten Serbien, Bulgarien und Griechenland aufgeteilt. c) Von der Zwischenkriegszeit bis in die Gegenwart An die serbische orthodoxe Kirche fielen nach 1918 schließlich sieben Eparchien der historischen Landschaft Makedonien, die in insgesamt vier umgeformt wurden. Die Zwischenkriegszeit sah eine Querverbindung des heiligen Kliment zum heiligen Sava, die in einen gemeinsamen Erinnerungsdiskurs mündete. Nach der Eroberung des besagten Gebietes durch deutsche und bulgarische Truppen im Jahre 1941 wurde es durch die bulgarische orthodoxe Kirche bis zum Ende des Zweiten Weltkrieges verwaltet. Dadurch erhielt die Verehrung Kliments durch Vertreter der bulgarischen Elite wieder einen neuen Impuls. Als Angelpunkt diente hierzu die Universität Sofia, deren Patron Kliment war und auch nach 1945 in der Volksrepublik Bulgarien blieb. Mit der Gründung der Föderativen Volksrepublik Makedonien entfalteten sich 1944 neue Aspekte der Memoria um den heiligen Kliment. Der Slawenapostel Kliment wurde 1944 zum Namensgeber der National- und Universitätsbibliothek in Skopje. In den 1950er Jahren nutzten die kommunistischen jugoslawischen Behörden Kliment als wichtiges Legitimierungsmittel, um die orthodoxe Kirche auf dem Gebiet der Teilrepublik Makedonien innerhalb der Föderativen Volksrepublik Jugoslawien als mazedonische orthodoxe Kirche aus dem Schoß der serbischen orthodoxen Kirche in die Autonomie zu führen. Im Sammelband zum offiziellen 1050. Todestag des heiligen Kliment, der von der mazedonischen orthodoxen Kirche herausgegeben wurde, wurde er als „nationaler Held“ und als „erster Heiliger“ der mazedonischen orthodoxen Kirche bezeichnet. 1967 erfolgte die einseitige Erklärung der Autokephalie der mazedonischen orthodoxen Kirche unter dem Widerstand der serbischen orthodoxen Kirche und der anderen orthodoxen Schwesterkirchen, welche die mazedonische orthodoxe Kirche bis jetzt nicht anerkannt haben. Kliment wurde zum „Patron“ der mazedonischen orthodoxen Kirche erwählt. Diese Rolle erfuhr in der Folge eine Ausweitung auf das „Land“ und das „Volk“. Als Ort der Erin�97

Mihailo St. Popović

nerung und der Verehrung etablierte sich neben Ohrid nunmehr die Hauptstadt Skopje. Dort begann man 1972 mit der Errichtung der Kathedrale „Sveti Kliment Ohridski“ als Rotundenbau, die 1990 geweiht wurde und das größte Gotteshaus der mazedonischen orthodoxen Kirche ist. Die im Jahr 1979 in Bitola begründete Universität wurde ebenfalls nach dem Heiligen benannt. Aus Anlaß des 15jährigen Jubiläums der Autokephalie der mazedonischen orthodoxen Kirche wurde 1982 von der „Svetiklimentova Crkva“ (Heilig-Kliment-Kirche) in Anlehnung an die „Svetosavska Crkva“ (Heilig-Sava-Kirche) gesprochen. Damit wurde eine nachhaltige Wirkung der Erinnerungskultur auf breite Gesellschaftsschichten der Sozialistischen Republik Makedonien erzielt. Neue Entwicklungslinien der Memoria kristallisierten sich durch den Zerfall Jugoslawiens heraus. Im Jahre 1991 etablierte sich die vormalige Sozialistische Republik Makedonien als unabhängiger Staat auf der Basis eines Referendums. Der Feiertag des heiligen Kliment wurde daraufhin zum staatlichen Feiertag für alle Staatsbürger jedweden Religionsbekenntnisses erhoben und auf den 8. Dezember gelegt. Kurz zuvor war 1988 eine Expedition bulgarischer Wissenschaftler auf der Livingston-Insel gelandet und hatte eine antarktische Forschungsstation errichtet, die 1993 nach Kliment benannt wurde. Eine neue Dimension der Erinnerungskultur begann mit der Vorbereitung der Feierlichkeiten des 2000jährigen Bestehens des Christentums. Die seit dem 19. Jahrhundert in Ruinen liegende Moschee Sultan Mehmed auf dem Hügel Plaošnik in Ohrid wurde abgetragen, um einerseits umfangreiche archäologische Grabungen auf dem gesamten Plateau in die Wege leiten zu können und um andererseits nach Abschluß der Arbeiten im Bereich İmaret die Kirche „Sveti Pantelejmon“ zu rekonstruieren. Zwischen 2000 und 2002 wurde besagte Kirche wiedererrichtet, und die Gebeine Kliments wurden am 10. August 2002 in feierlicher Prozession aus der Kirche „Sveta Bogorodica Perivlepta“ (alias „Sveti Kliment“) in das neue Gotteshaus überführt, wo sich jetzt der Reliquienschrein des Heiligen befindet. Damit kehrten die Reliquien Kliments an ihren Ausgangspunkt zurück, den sie mit der osmanischen Eroberung am Ende des 14. Jahrhundert verlassen hatten. Die Überführung war damit jedoch noch nicht endgültig abgeschlossen. Ungelöst bleibt trotz staatlicher Unabhängigkeit das Verhältnis der mazedonischen orthodoxen zur serbischen orthodoxen Kirche. Nachdem Verhandlungen zwischen beiden in der Stadt Niš im Jahre 2002 gescheitert waren, unterstellte sich der mazedonische orthodoxe Bischof Jovan von Vardar-Veles dem serbischen orthodoxen Patriarchat. 2005 ernannte der damalige serbische orthodoxe Patriarch Pavle ihn zum Erzbischof von Ohrid und Metropoliten von Skopje und verkündete die Autonomie des Erzbistums von Ohrid. Auf diese Weise stehen seitdem sowohl die mazedonische orthodoxe Kirche als auch die serbische orthodoxe Kirche mit der Memoria Kliments in direkter räumlicher Verbindung. Im November 2008 schenkte die mazedonische orthodoxe Kirche der bulgarischen orthodoxen Kirche eine Reliquie Kliments, womit eine partielle translatio zum Zweck der Festigung internationaler Beziehungen erfolgte. Dieser Aspekt scheint die jüngste Tendenz in der Erinnerungskultur um den heiligen Kliment zu sein. Neben diesem Heiligen gibt es fünf weitere (Prohor von Pčinja, Joakim von Osogovo, Gavrilo �98

Kliment von Ohrid

von Lesnovo, Ivan von Rila und Naum von Ohrid) orthodoxe Heilige der historischen Landschaft Makedonien, deren Verehrung sich zunächst regional entwikkelt hatte und erst seit der zweiten Hälfte des 19. oder noch später in den Dienst nationaler Diskurse gestellt wurde. Das Logo der Universität Sofia zeigt eine Abbildung ihres Schirmherrn, des hl. Kliment von Ohrid, in Abwandlung einer mittelalterlichen Darstellung des Heiligen. Bis zum Ende des Zweiten Weltkriegs und teilweise darüber hinaus waren Historiker und Philologen der Universität nachhaltig mit der Historiographie über Kliment beschäftigt, was im Spiegel des nationalpolitischen Diskurses um die historische Landschaft Makedoniens zu sehen ist. Bildnachweis: „Sveti Kliment“-Universität Sofia.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen ivanov, Jordan (Hg.): Bălgarski starini iză Makedonija [Bulgarische Altertümer aus Makedonien]. Sofija 21931 [11908], 305–307, 322–327; Kurz, Josef/vajs, Josef (Hg.): Evangeliář Assemanův. [Das Evangelium Assemanianus], Bd. 1–2. Praha 1929–1955; Milev, Aleksandăr (Hg.): Grăckite žitija na Kliment Ohridski. Uvod, tekst, prevod i objasnitelni beležki [Griechische Viten des Kliment von Ohrid. Einleitung, Text, Übersetzung und Kommentar]. Sofija 1966; buJnoch, Josef: Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita. Bericht von der Taufe Rußlands nach der Laurentiuschronik. Graz/Wien/Köln 2 1972 [11958], 135–165; vasiLiev, Asen (Hg.): Christofor Žefarovič. Stematografija. Faksimilno izdanie [Christofor Žefarovič. Stemmatographie. Faksimile]. Sofija 1986; iLiev, Ilija G. (Hg.): Grăcki izvori za Bălgarskata istorija IX/2 [Griechische Quellen zur bulgarischen Geschichte IX/2]. Sofija 199�, 10–41.

b) Darstellungen Koco, Dimče: Klimentoviot manastir „Sv. Pantelejmon“ i raskopkata pri „Imaret“ vo Ohrid [Das Kloster Kliments „Sv. Pantelejmon“ und die Grabung beim „Imaret“ in Ohrid]. In: Godišen zbornik na Filozofskiot Fakultet 1 (19�8) 129–182; sneGarov, Ivan: Les sources sur la vie et l’activité de Clément d’Ochrida. In: Byzantinobulgarica 1 (1962) 79–115; buJnoch, Josef: Zwischen Rom und Byzanz. Leben und Wirken der Slavenapostel Kyrillos und Methodios nach den Pannonischen Legenden und der Klemensvita. Bericht von der Taufe Rußlands nach der Laurentiuschronik. Graz/Wien/Köln

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Mihailo St. Popović 1972 [11958], 13–36; apostoLsKi, Mihailo u. a. (Hg.): Ohrid i Ohridsko niz istorijata [Ohrid und die Ohrider Gegend im Lauf der Geschichte], Bd. 1–2. Skopje 1978–1985; Grozdanov, Cvetan: Portreti na svetitelite od Makedonija od IX–XVIII vek [Die Porträts der Heiligen aus Makedonien vom IX. bis zum XVIII. Jahrhundert]. Skopje 1983, 38–10�; Grozdanov, Cvetan: Mesecoslov Asemanovog jevanđelja i starije zidno slikarstvo u Makedoniji [Das Menologion des Evangeliums Assemanianus und die ältere Freskenmalerei in Makedonien]. In: Zbornik za likovne umetnosti 21 (1985) 13–27; Grozdanov, Cvetan: Nepoznati i malku poznati portreti na Slovenskite učiteli vo umetnosta na XIX vek [Unbekannte und wenig bekannte Porträts der Slavenapostel in der Kunst des XIX. Jahrhunderts]. In: Grozdanov, Cvetan (Hg.): Studii za Ohridskiot živopis. Skopje 1990, 181–190; žečević božić, Jure: Die Autokephalieerklärung der Makedonischen Orthodoxen Kirche. Würzburg 1994; popović, Justin Sp.: Žitija Svetih za juli [Heiligenviten für den Monat Juli]. Beograd 1996, 670–681; deLiKari, Angeliki: Der hl. Klemens und die Frage des Bistums von Velitza. Identifizierung, Bischofsliste (bis 1767) und Titularbischöfe. Thessaloniki 1997; noever, Peter (Hg.): Ikonen auf Papier. Wien/ Thessaloniki 1998; popović, Justin Sp.: Žitija Svetih za novembar [Heiligenviten für den Monat November]. Beograd 1998; prinzinG, Günter: Die umstrittene Selbständigkeit der Makedonischen Orthodoxen Kirche in historischer Sicht. In: aLthaMMer, Walter (Hg.): Makedonien. Probleme und Perspektiven eines jungen Staates (Aus der Südosteuropa-Forschung 10). München 1999, 31–43; niKoLova, Bistra: Pravoslavnite cărkvi prez Bălgarskoto srednovekovie (IX–XIV v.) [Orthodoxe Kirchen im bulgarischen Mittelalter (9.–1�. Jahrhundert)]. Sofija 2002; Grozdanov, Cvetan/KuzMan, Pasko/ pasKaLi buntašesKa, Tanja (Hg.): Plaošnik. Vozobnovenata manastirska crkva na Sv. Kliment i Pantelejmon [Plaošnik. Die erneuerte Klosterkirche der Heiligen Kliment und Pantelejmon]. Ohrid 2003; Regional History Museum – Kyustendil (Hg.): Guide. Together along the Holy Places of the Osogovo Mountain. Pătevoditel. Zaedno po sveštenite mesta na planinata Osogovo. Kjustendil/Sofija 200�; opfer, Björn: Im Schatten des Krieges. Besatzung oder Anschluss – Befreiung oder Unterdrückung? Eine komparative Untersuchung über die bulgarische Herrschaft in Vardar-Makedonien 1915–1918 und 1941–1944. Münster 2005; anGeLičin-žura, Goce: Dali vo Ohrid e otkrien katedralniot hram na Samuilovata patrijaršija? [Wurde in Ohrid die Kathedrale des Patriarchats Samuils entdeckt?]. In: Pelagonitisa 16–20 (2005–2008) ��–�8; poposKa, Jana: Church Mother of God Peribleptos (St. Clement). Ohrid 2006; anGeLičin-žura, Goce: Nepoznati likovi na sveti Kliment vo srednovekovni crkvi [Unbekannte bildliche Darstellungen des Heiligen Kliment in mittelalterlichen Kirchen]. In: Uslovi, pojava i razvoj na Slovenskata pismenost. Sv. Kliment Ohridski – život i dejnost. Skopje 2007, 17–36; Jovan vi (vranišKovsKi, Zoran), Archbishop of Ohrid and Metropolitan of Skopje: Brief History of the Ohrid Archbishopric. Ohrid 2007; rohdeWaLd, Stefan: Sava, Ivan von Rila und Kliment von Ohrid. Heilige in nationalen Diensten Serbiens, Bulgariens und Makedoniens. In: saMersKi, Stefan (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln/ Weimar/Wien 2007, 181–216; popović, Mihailo: Denkmalpflege in Südosteuropa am Beispiel der Stadt Ohrid. In: Institut für den Donauraum und Mitteleuropa, Info Europa 1 (2009) 9–11; iliev, Ilija: Sv. Kliment Ohridski. Život i delo [Heiliger Kliment von Ohrid. Leben und Werk]. Plovdiv 2010; fiLiposKi, Toni: Sveti Naum i negovite epiteti: Ohridski i Čudotvorec [Der Heilige Naum und seine Beinamen: Ohridski und Wundertäter]. In: 1100 godini od upokojuvanjeto na Sveti Naum Ohridski, Ohrid, 3–5 oktomvri 2010 godina (Zbornik na trudovi od megjunarodniot naučen simpozium). Ohrid 2011, 153– 17�; fiLiposKi, Toni: Theophylact and the People of Ohrid: the Issue of the „Otherness“. In: Macedonian Historical Review 2 (2011) 87–102; finGarova, Galina/scheLLeWaLd, Barbara/soustaL, Peter: Ohrid. In: Reallexikon zur byzantinischen Kunst 7 (2011) 161–353; ilievsKi, Borče: Makedonsko-srpskite crkovni odnosi 19��–1970 [Mazedonisch-serbische kirchliche Beziehungen 19��–1970]. Skopje 2011. 2

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Wenzel I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Königs- und Ritterheiliger. – IV. Volksverehrung in der Neuzeit. – V. Böhmisch-tschechischer Nationalpatron. – VI. Wenzel nach der politischen Wende von 1989/90. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Wenzel (um 907–935) ist der bedeutendste böhmische Landespatron und als solcher von nahezu allen gesellschaftlichen und religiösen Gruppen der böhmischen Länder bis heute anerkannt. Schon im Hochmittelalter als ewiger Herrscher und Schützer Böhmens und seiner Eliten verehrt, konnte er im Spätmittelalter auch in Konkurrenz zum König treten. Schon in jener Zeit strahlte sein Kult über weite Teile Mitteleuropas aus. Dank seiner regen Volksverehrung konnte sein Kult über die Reformationen hinweg weiter vital bleiben. Seit dem 18. Jahrhundert stark mit dem Tschechentum verwachsen, blieb sein Gedenktag auch nach 1918 ein zentraler nationaler Feiertag. Nach der politischen Wende von 1989/90 tat man sich parlamentarisch schwer, sein Gedenken staatlich zu verankern, kam aber schließlich bei der Besinnung auf das kollektive Gedächtnis nicht ohne diesen ersten christlichen Fürsten aus, dessen Memoria inzwischen stark säkularisiert ist.

II. Leben Wenzel wurde um 907 als ältester Sohn des in Prag residierenden Fürsten Vratislav I. und seiner Frau Drahomira, der Tochter eines Hevellerfürsten (Brandenburg), geboren. Das Christentum war in Böhmen seit einiger Zeit bekannt, aber noch nicht gefestigt. Die anfängliche Christianisierung war aus zwei Richtungen erfolgt: aus dem Osten als großmährisch-kirchenslawische Tradition und aus dem Westen durch das Bistum Regensburg, aber auch aus Passau und Salzburg. Heidnisch-slawische Praktiken waren in Böhmen immer noch aktuell. Wenzel erhielt zunächst eine einfache lateinische Ausbildung, die ihn in die Lage versetzte, Bücher und den Psalter zu lesen. Unzweifelhaft ist ferner seine christliche Erziehung, die vor allem von seiner Großmutter Ludmila an ihrem Hof in Tetín übernommen wurde, denn seine Mutter stand dem lateinischen Christentum fern, obwohl sie vermutlich getauft war. Ob Wenzel in jungen Jahren in die slawische Schrift eingeführt wurde, wie es die russische Bearbeitung der ersten kirchenslawischen Legende angibt, ist unsicher. Er wurde dann in die Schule nach Budeč (Burg mit Peterund-Pauls-Kirche) geschickt und erhielt um 915 von einem Bischof die Haarschur – ein Hinweis auf das klerikal-monastische Ambiente, in dem er erzogen wurde. Nach dem Tod des Vaters Vratislav am 13. Februar 921 wurde Wenzel in Prag als Herrscher zwar anerkannt, konnte aber wegen seiner Unmündigkeit nicht die Regie501

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rungsgeschäfte übernehmen. Unter der Vormundschaft von Drahomira, die eine politisch recht erfolgreiche Regentschaft führte, gewann die antichristliche Partei in Prag die Oberhand, wie die Legenden berichten. Nicht auszuschließen ist, daß es hier um einen Ost-West-Konflikt ging: Der großmährisch-slawische, kyrill-methodianische Einfluß stand in Böhmen gegen die ältere irisch-lateinische Christianisierung der Region. Die Großen des Landes bestimmten, daß Wenzel und sein Bruder Boleslav der Großmutter Ludmila zur Erziehung übergeben wurden, der als Witwensitz Tetín zugewiesen wurde. Wenzel erhielt nun dort eine gründliche lateinische, kirchlich orientierte Bildung. Kurz darauf, am 15. September 921, ließ Drahomira ihre Schwiegermutter Ludmila von zwei Gefolgsleuten ermorden. Als Hauptmotiv ist eindeutig die Erziehung des Kronprinzen auszumachen. Nach der Bluttat entzog die Mutter Wenzel dem geistlichen Einfluß. Die Regentschaft endete mit der Volljährigkeit von Wenzel 924/25. Seine ersten Amtshandlungen betrafen die Mordtat von Tetín: Er ließ den Leichnam seiner Großmutter in das politische und religiöse Zentrum des Landes, den Hradschin in Prag, überführen und damit kanonisieren. Außerdem verbannte Wenzel nun seinerseits Drahomira vom Hof, versöhnte sich aber bald wieder mit ihr, die fortan seine politischen und religiösen Pläne unterstützte. Die Legenden schildern Wenzel als vorbildlichen christlichen Herrscher. Er wird als asketisch-frommer und karitativ engagierter Fürst beschrieben, der die unter der Vormundschaftsregierung vertriebenen Geistlichen nach Böhmen zurückholte. Bei der durchgreifenden christlichen Durchdringung seines Herrschaftsbereichs lehnte er sich kulturell und kirchenpolitisch an den lateinischen Westen an. Innenpolitisch konnte Wenzel offensichtlich die politische Situation befrieden. Er sorgte für die Verteidigung des Landes, indem er die Disziplin und Kampfeskraft des Heeres verstärkte. Außerdem schien er sich mit seinem Bruder Boleslav friedlich geeinigt zu haben, der in Altbunzlau ein eigenes politisches Zentrum jenseits der Elbe errichtete. Obgleich dieser der lateinisch-christlichen Formierung Böhmens eher fern stand, schien es in den ersten Jahren weder zu einer Konkurrenz mit Wenzels Herrschaft noch zu Konflikten zwischen den Brüdern gekommen zu sein. Beide waren sich offensichtlich sogar einig in der Gegnerschaft gegenüber den östlichen Nachbarn. So führte Wenzel Kriegszüge an der Ostgrenze seines Territoriums durch, die den Status quo festigten. Zur Sicherung der Herrschaft nach Westen hatte er bereits 922 unter der Regentschaft seiner Mutter bayerische Einfälle Herzog Arnulfs abgewehrt. Das Jahr 929 bildete einen Wendepunkt in der Geschichte Böhmens, die unmittelbar mit dem Schicksal Wenzels verknüpft war. Von Meißen aus zog König Heinrich I. mit einer kriegserfahrenen Streitmacht nach Prag. Nach verlorener Schlacht erkannte Wenzel die Oberherrschaft des sächsisch-deutschen Herrschers an und verpflichtete sich zur regelmäßigen Zahlung eines Tributum Pacis (500 Pfund Silber, 120 Ochsen). Als äußeres Zeichen dieser Oberhoheit wurde Corveys Sachsenpatron Vitus (Veit) auf die Prager Burg transferiert, der zum ersten Patron und Namensgeber der ersten böhmischen Kathedrale wurde. 502

Wenzel

Nach den kriegerischen Auseinandersetzungen zwischen Heinrich und Wenzel, den Widukinds Sachsenchronik „König“ nannte, schien sich in der Folge eine freundschaftliche Beziehung zwischen den beiden Herrschern entwickelt zu haben. Fest steht jedenfalls, daß Wenzel Heinrich I. bis zum Lebensende politische Gefolgschaft leistete. Dieser Kurswechsel mißfiel ganz offensichtlich dem Bruder Boleslav, der nun in Opposition zu Wenzel trat. Dieser wurde von Boleslav unter einem Vorwand am 26./27. September 935 (Tag der heiligen Kosmas und Damian) nach Altbunzlau gelockt und am Morgen des 28. September vor den Kirchentüren von seinem Bruder und dessen Gefolgsleuten getötet. Darauf usurpierte Boleslav den böhmischen Thron, vertrieb oder erschlug Wenzels Anhänger und regierte bis zu seinem Tod 970. III. Königs- und Ritterheiliger Zunächst in Altbunzlau beigesetzt, wurden Wenzels Gebeine aller Wahrscheinlichkeit nach in den 960er Jahren auf den Hradschin überführt und in der Veitskirche beigesetzt, was nicht ohne Anordnung des Bruders denkbar ist. Seit dem Jahr 995 ist die Feier des Wenzelsfestes am 28. September bezeugt. Schon im 10. Jahrhundert wurden sowohl von slawischer als auch von lateinischer Seite (Otto II.) Legenden abgefaßt, die Wenzel als Urbild des christlichen Herrschers schilderten. Wohl aufgrund dieser Typisierung strahlte seine Verehrung rasch auf die Nachbarländer aus, so daß er schon um das Jahr 1000 zu den bekanntesten und beliebtesten Heiligen Mitteleuropas gehörte. In den böhmischen Ländern galt Wenzel seit dem 10. Jahrhundert als Schlachtenhelfer, als ewiger, übermächtiger Herrscher und als Symbol der böhmischen Staatsgewalt – ausgehend von Prag und den Přemysliden, voll entfaltet unter Karl IV. Damit läßt sich Wenzel dem Typus des Königsheiligen zuordnen, wie etwa Stephan von Ungarn, Olav von Norwegen oder Erik von Schweden, die die Christianisierung ihrer Länder in die Wege leiteten oder vorantrieben, Kirchen und Klöster gründeten und mit dem Klerus des Landes eng zusammenarbeiteten. Viele von ihnen fanden einen blutigen Tod für ihre christliche Gesinnung, dem eine rasch einsetzende Verehrung als dynastische beziehungsweise Landespatrone folgte. Wenzels Todesort Altbunzlau wurde bereits im Mittelalter zu einer landesweiten Memorialstätte; sein Grab auf dem Hradschin wertete das kirchliche und politische Zentrum Prag weiter auf. Neben der politischen Dimension seines Kults lässt sich schon im Mittelalter ein populäres Element beobachten. Wenzels reiche Wundertätigkeit, die bereits Cosmas von Prag um 1120 rühmte, verschaffte ihm als Fürsprecher von Anfang an breiteren Zulauf aus allen Gesellschaftsschichten als den beiden anderen, zum Teil älteren Landespatronen Veit und Adalbert, denen eine derartige thaumaturgische Fähigkeit nicht zugeschrieben wurde. Dadurch wurde Wenzel zu einem volkstümlichen Heiligen. Schon der zweite Prager Bischof Adalbert brachte ihm Verehrung entgegen. Als Landespatron galt Wenzel seit dem 11. Jahrhundert als der „Ewige Herrscher“, der seine Macht an den jeweiligen Monarchen übertrug, ferner als Patron der Primates 503

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Bohemienses, der politischen und gesellschaftlichen Führungsschicht des Landes. Über Wenzels Verbindung zum Herrschergeschlecht weitete sich seine Verehrung auch über andere Landesteile aus, so daß er um 1100 zum Hauptpatron der Olmützer Kathedrale und des mährischen Landesteils aufsteigen konnte; über alle Jahrhunderte lassen sich in der dortigen Domkirche Zeugnisse vitaler Wenzelsverehrung finden. Auch auf die hinzugewonnenen Territorien wie die Lausitzen strahlte der Wenzelskult im Mittelalter aus, ebenso auf Schlesien, das im südlichen Teil zu den Ländern der Wenzelskrone gehörte. Dort verbreitete sich der Kult als dynastischer und als adelsspezifischer seit dem 1�. Jahrhundert intensiv. Wenzel dominierte zwar noch im Hoch- und Spätmittelalter die Gruppe der bereits auf sechs Heilige angewachsenen böhmischen Landespatrone, seine Verehrung mußte jedoch gewisse Einbußen hinnehmen. Immerhin wurden ihm als Staatsheiligen, Träger der Staatsidee und Erbeigentümer des Landes die Krönungsinsignien anvertraut. Die Krone, die Kaiser Karl IV. nach französischem Vorbild gefertigt hatte, wurde nach dem Willen des Herrschers seit 1346 auf dem Reliquienschädel des Heiligen aufbewahrt, wofür sich der Monarch eigens eine päpstliche Bulle erwirkte. Der Kronreif wurde vom König nur bei feierlichen Anlässen ausgeliehen. Karl ließ bis 1366 am Prager Veitsdom die Wenzelskapelle als Aufbewahrungsstätte errichten und das Grab des Landespatrons neu schmücken. Auch in der Burg Karlstein erhielt Wenzel einen prominenten Platz zugewiesen. Schon allein damit rückte der große Reliquiensammler Karl den Namenspatron seines Sohnes Wenzel wieder in den Mittelpunkt des kultischen Interesses. Die zwischen 1355 und 1361 abgefaßte Wenzelslegende stand vollauf für die neue Konzeption des böhmischen Staates, indem der Heilige zum Idealbild des Herrschers schlechthin stilisiert wurde. Die Legende wurde damit zum Fürstenspiegel. Außerdem sorgte der Luxemburger für eine Vermehrung der Wenzelsfesttage im kirchlichen Kalender (27. Juni, 10. September), ließ Wunderheilungen am Grab sorgfältig aufzeichnen und den Kult als Demonstration der bevorzugten Stellung Böhmens im römisch-deutschen Reich sogar bis nach Dänemark fördern. Auf der anderen Seite wurden für die böhmischen Pilger in Rom, Aachen und Nürnberg Wenzelsaltäre als Bindeglieder zur Heimat geweiht. Nach diesem eindeutigen kultischen Höhepunkt geriet die Wenzelsverehrung als Staatskult im ausgehenden Mittelalter immer stärker in Opposition zum König und zum deutschen Stadtpatriziat. Dadurch wurde der Heilige allmählich zum Beschützer des Volkes und konnte in der Zeit der hussitischen und reformatorischen Wirren kultisch überleben. IV. Volksverehrung in der Neuzeit In den Hussitenkriegen ermöglichte Wenzels vieldeutiges Patronat – als persönlicher Helfer, als Symbol des Staatsgedankens, der Herrschaft und des Landes – beiden Seiten eine Inanspruchnahme. Die Altgläubigen riefen ihn als Anwalt bei Gott zur Ausrottung der Häresie an, die Utraquisten bezeichneten ihn als Fürst, Beschützer und Patron. So konnte Wenzel auf Hussitenschilden unter dem Kelch erscheinen und mit dem hoch504

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mittelalterlichen Lied Svatý Václave (Wenzelschoral) in die Schlacht gegen die Altgläubigen ziehen, obgleich der radikale Hussitismus die Heiligenverehrung als solche ablehnte. Nach dem ersten Prager Fenstersturz riefen die aufständischen Hussiten in den Prager Artikeln von 1�20 den Heiligen sogar als Landespatron um Hilfe für die „alten Tschechen“ und glühenden Patrioten an. Auch den böhmischen Lutheranern und den Böhmischen Brüdern des 16. Jahrhunderts galt Wenzel als Identifikationsfigur, als Schutzpatron des Landes. Seine Verehrung versiegte also im Gegensatz zu der Adalberts in der Zeit der Glaubenskämpfe nicht, war aber nicht mehr auf dem Niveau der spätmittelalterlichen Blütezeit. In der Zeit der Konfessionalisierung und der Habsburgerherrschaft in Böhmen wurde Wenzel dann recht früh mit entsprechendem Gedankengut in Verbindung gebracht. Die reich illustrierte Wenzels-Prunkhandschrift, die der Pürglitzer Matthias Hutsk� 1585 dem Statthalter von Böhmen, Erzherzog Ferdinand II. von Tirol, dedizierte, zeigte eindeutige Hinweise auf die Ausrottung der Häresie, das katholische Eucharistieverständnis und sogar Anspielungen auf die Tätigkeit der Jesuiten, wenn Wenzel attestiert wurde, er habe die Priester veranlaßt, das Volk in den Gotteshäusern und die Jugend in den Schulen über Sitte und Kultur zu unterrichten. Immer wieder tauchten in den Kommentaren die Motive der vorbildhaften „neuen Frömmigkeit“ auf und der zum Teil gewaltsamen Verteidigung und Ausbreitung der christlichen Lehre. Nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 und der Rekatholisierung der böhmischen Länder erlebte die Wenzelsverehrung einen bedeutenden Aufschwung. Dies war nicht allein dem habsburgischen Herrscherhaus zu verdanken, sondern auch verschiedenen Orden, allen voran den Jesuiten. Die Augustiner-Eremiten in der Prager Neustadt ließen einen Zyklus von 32 Bildern aus der Wenzelsvita malen; eine geradezu monumentale via sacra mit 44 Kapellen mit Themen aus der Wenzelslegende und dem Marienleben wurde zwischen Prag und Altbunzlau angelegt. Es läßt sich also bereits hier die für die fortgeschrittene Gegenreformation so typische Symbiose von Wenzels- und Marienkult erkennen. Außerdem kamen zwischen 1679 und 1690 drei verschiedensprachige Andachtsbüchlein mit Kupferstichen zur Wenzelslegende heraus. Dennoch trat die Wenzelsverehrung beim tschechischsprachigen Bevölkerungsteil in den Hintergrund. Hier versuchte vor allem der Jesuitenorden seit dem ausgehenden 17. Jahrhundert entgegenzusteuern, und zwar um den Zusammenhang von tschechischem Katholizismus, historischer und politischer Identität des Königsreichs Böhmen und der Loyalität gegenüber dem Haus Habsburg zu propagieren: Im Seminar „St. Wenzel“ sollten Priester für den tschechischsprachigen Bevölkerungsteil ausgebildet werden. Bohuslav Balbín SJ schloß eine Dissertation über die tschechische Sprache mit dem Gebet: „Du bist der vorderste Beschützer des böhmischen Landes […], gib deinen Tschechen den längst vergangenen Ruhm zurück!“ Diese Bitte war umso berechtigter, als die Wenzelskrone, die seit dem Mittelalter als Rechtspersönlichkeit der böhmischen Länder galt, seit der Krönung Maria Theresias 17�3 außer Landes, in Wien, aufbewahrt wurde. Nach dem Tod Kaiser Josephs II. 1790 erbaten und erhielten die böhmischen Stände die Krone zurück, welche in Prag mit frenetischem Jubel empfangen wurde. Es war nicht das letzte Mal, daß die Krone ins Ausland ging. Während des preußisch-österreichischen Krieges von 1866 505

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wurden die Insignien erneut nach Wien überführt und erst im darauffolgenden Jahr mit allen kirchlichen, staatlichen und militärischen Ehren auf den Hradschin nach Prag zurückgebracht. Die Präsenz der Krone in Böhmen war nun sogar noch bedeutender, da während dieser Zeit der Verfassungsberatungen der Kronreif zum Symbol des böhmischen Staatsrechts avancierte, was er tatsächlich zumindest bis zum Zweiten Weltkrieg blieb. Durch diese enge Verknüpfung mit dem böhmischen Staatswesen konnte Wenzel im tschechischen wie im deutschen Bevölkerungsteil präsent bleiben. Jan Hus erreichte jedoch bei den Tschechen im 19. Jahrhundert eindeutig größere Popularität, da er als Personifikation der Opposition gegen das Deutschtum galt. Aber auch Wenzel waren antihabsburgische Elemente nicht fremd. Eine bei der barocken Wenzelsreiterstatue auf dem gleichnamigen Platz zelebrierte Messe gab das Zeichen für die Novemberaufstände von 18�8. Spätestens seit dieser Zeit wurde der Wenzelsplatz zum Ort politischer Demonstrationen schlechthin, die sich dem nationalen Mythos verpflichtet fühlten. Das neue, 1902 fertiggestellte Wenzelsdenkmal verzichtete dann bereits auf tiefere christliche Symbolik. Der Fürst trägt nicht etwa die Kreuzfahne als Siegesbanner, sondern schlicht eine einfache Standarte. Mittelalterliche und barocke Traditionen wurden zwar vom Künstler nicht beiseite gelassen, wohl aber einer politischen Programmatik untergeordnet und dieser eingefügt. Die weltliche Herrschaftsordnung legitimiert sich nicht mehr als Abbild der göttlichen Ordnung. In den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts wurde dann auch die Figur Wenzels in den Strudel der Säkularisierung der böhmischen Gesellschaft gezogen, verlor somit ihr spirituelles Profil und wurde immer stärker zu einem nationalen Symbol. V. Böhmisch-tschechischer Nationalpatron Im Ersten Weltkrieg förderte die habsburgische Fremdherrschaft diese nationalen Tendenzen unbewußt. Die Wiener Regierung ließ den mittelalterlichen Wenzelschoral als Ausdruck nationalen Widerstands verbieten und die Wenzelsfeiern am 28. September einschränken, so daß sich der Heilige in der Ersten Tschechoslowakischen Republik als Staats- und Landespatron etablieren konnte. So trug die erste und einzige, ab 1923 geprägte goldene Münze der jungen Republik das Abbild Wenzels, um auf die Anfänge der böhmischen Staatlichkeit zu rekurrieren. Die Erste Republik verstand sich als liberal und laizistisch und schroff dem die Habsburgerherrschaft stützenden Katholizismus entgegengesetzt. Die Sozialdemokraten wandten sich 1929 gegen Wenzel als nationale Identifikationsfigur, da hier noch der römische Katholizismus präsent sei, der für das fremdbestimmende Habsburg und mangelnden Fortschritt stehe. Sie bevorzugten Hus als bedeutenderen nationalen Märtyrer des tschechischen Staates. Die katholische Kirche tradierte ihn verständlicherweise ungebrochen und kontinuierlich bis über die politische Wende von 1989/90 hinaus. Auch bei den Deutschen der böhmischen Länder zeigte sich eine Identifikation mit den Symbolen des Staates sowie eine Glorifizierung der historischen Helden Přemysl, Wenzel und Jan Hus. 506

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Prager Stich um 1700. Wenzel in der typischen Verehrungsform der vera effigies, die im Barock weite Verbreitung erhielt. Er ist hier mit den seit dem Mittelalter typischen Attributen Herzogskrone, Schild und Speer dargestellt. Bildnachweis: Samerski, Stefan: Wenzel. In: ders. (Hg.): Die Landespatrone der böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart. Paderborn 2009, 243–262, hier 243.

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Höhepunkt des Wenzelskults in der Zwischenkriegszeit waren die Millenniumsfeierlichkeiten der Jahre 1928/29, die in eine wirtschaftliche und politische Blütezeit der jungen Republik fielen, die nun im Modus vivendi einen Ausgleich mit der katholischen Kirche erreicht hatte. Die ersten Jahre eines ausgeprägten Nationalismus und antikirchlichen Kurses waren nach den Parlamentswahlen vom November 1925 vorüber. Die Wenzelsfeiern wurden daher auch weitaus ausladender gefeiert als die Hus-Feiern 1925. Die Millenniumsfeierlichkeiten begannen Ende Oktober 1928 mit dem zehnten Jahrestag der Republikgründung, setzten sich dann in der Vollendung des vom Staat intensiv finanzierten Veitsdoms auf dem Prager Hradschin fort und gipfelten in den Wenzelsfeiern mit der Ausstellung der Insignien, die von allen gesellschaftlichen Schichten interessiert wahrgenommen wurden. Vom Staat eher als kulturell-politische Propaganda der Eigenleistung und -tradition gedacht, wurde die Ausstellung von weiten Teilen der Bevölkerung jedoch als religiöse Heiltumsfahrt betrachtet; selbst die Presse pries die weihevolle religiöse Stimmung und Bedeutung der Staatssymbole. Die öffentliche Beteiligung war außerordentlich. An der Rückführung der Schädelreliquie nach mittelalterlich-sakralem Vorbild am 29. September 1929 nahm eine dreiviertelmillion Menschen teil. Das läßt sich aber nicht als eine Kehrtwendung zum Kirchlichen werten, denn auch der Staatspräsident Tomáš Garrigue Masaryk legte sich eine gewisse Zurückhaltung bei der Beteiligung an den Veranstaltungen auf, da er auf das spezifische Verhältnis von Kirche und Staat Rücksicht nahm. Außerdem ließ er zum Wenzelsjubiläum bewußt nationale Optionen beiseite, stellte vor allem die Humanität und Schriftlichkeit des Nationalpatrons heraus und deutete sie dahingehend, daß „ein gesundes Leben einer Nation in Bildung und Sittlichkeit“ fuße. Im Jahr 1939 besetzten deutsche Truppen die Tschechoslowakei. Wie schon 1918 zur Staatsgründung versammelten sich die Prager spontan auf dem Wenzelsplatz in stillem Protest. Dieser Platz war nun endgültig zur Stätte nationaler Identität und Selbstbehauptung geworden und der mittelalterliche Wenzelschoral zum Fanal des stillen Protests. Die deutsche Besatzung instrumentalisierte Wenzel in ihrem Sinn, indem sie die böhmische Tributzahlung aus der Heiligenvita als tschechische Unterordnung unter das Deutschtum deutete und einen „Wenzel-Adler“ als Auszeichnung für die Zusammenarbeit mit dem nationalsozialistischen Regime verlieh. Schon in den 1920er Jahren hatten faschistische Nationalgemeinden die Wenzelstradition für ihre Zwecke genutzt. Außerdem wurde die Wenzelskrone der Kronkammer des Veitsdoms entnommen und im Palas der Burg des Herzogs Sobĕslav ausgestellt. Diese Aktion diente eindeutig der Entsakralisierung der Insignien und der späteren Verbringung ins Ausland, womit die Identität der Böhmen ausgehöhlt werden sollte. Am Staatsfeiertag nach Kriegsende wurde die Krone daher unter großer Anteilnahme im Veitsdom ausgestellt und im Anschluß wieder in der dortigen Kronkammer aufbewahrt. Am gleichen Tag fanden gemeinsam mit den amerikanischen Truppen die landesweiten Feiern zur Befreiung der Tschechoslowakei statt. Sie verzichteten bewußt nicht auf großen Pomp und kirchliches Gepräge. In den Jahren der kommunistischen Herrschaft fristete Wenzel im öffentlich-politischen Bereich ein Randdasein. So wurde beispielsweise die Vertreibung der Sudeten508

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deutschen nach 1945 von der neugegründeten humoristisch-satirischen Zeitschrift Dikobraz (Stachelschwein) aufs Korn genommen. In einer Karikatur wurden mit der Tributzahlung von 500 Pfund Silber und 120 Ochsen auch die Deutschen außer Landes geschickt. Die Abrechnung mit der Geschichte in geschichtlichem Bewußtstein wurde hier offenkundig. Die offizielle kommunistische Geschichtsinterpretation schob Wenzel als Schwächling beiseite und feierte den Bruder Boleslav als kompromißlosen Verteidiger der vermeintlich nationalen Interessen. Dennoch konnte und wollte auch der kommunistische Staat nicht auf die politisch-staatliche Symbolik des Wenzelsmythos zur eigenen Machtlegitimation verzichten und stellte die Kleinodien drei Mal öffentlich aus, während sie noch im 19. Jahrhundert von niemandem erreichbar und unsichtbar im Veitsdom ruhten. Die Wenzelskrone schmückte den Parteitag von 1955, eine Ausstellung von Archivdokumenten im Hradschin von 1958 sowie die über Kaiser Karl IV. 1978. Bei diesen Anlässen war sie stets das gefragteste Objekt. Auf Seiten der vertriebenen Sudetendeutschen blieb die Wenzelsidee ebenfalls lebendig. Sie stand nicht nur für das über tausendjährige Zusammenleben von Westslawen und Deutschen, sondern wurde in den 1950er Jahren auch für die Heranführung des böhmischen Raumes an das westliche Abendland verwendet: „Durch Herzog Wenzel fiel die Entscheidung für den Westen“ – also gegen den byzantinisch-slawischen Ritus von Kyrill und Method und gegen die damalige Satellitenherrschaft der Sowjetunion. Diese sudetendeutsche Position glich einer Solidarisierung mit den vom kommunistischen Sowjetrußland unterdrückten tschechischen Katholiken. VI. Wenzel nach der politischen Wende von 1989/90 Nach dem Ende der kommunistischen Ära, die durch die „Samtene Revolution“ herbeigeführt wurde, die sich wiederum – wie auch schon 1968 im „Prager Frühling“ – im November 1989 auf dem Wenzelsplatz manifestierte, erlebte der prominenteste Landespatron eine verhaltene Renaissance. Politische Selbstbehauptung und Geschichtsbewußtsein gingen erneut eine Symbiose ein – ähnlich wie in der Ersten Tschechoslowakischen Republik. Es dauerte allerdings einige Zeit, ehe sich Wenzel als Staatspatron durchsetzen konnte. Zunächst mußten im öffentlichen Leben etliche Blockaden abgebaut werden, Vorbehalte etwa wegen deutschfreundlicher Elemente in der Wenzelsvita und die religiös-katholische Komponente der Wenzelsverehrung. Bezeichnend war allerdings, daß der erste Präsident der Tschechoslowakei, Václav Havel, beim Amtsantritt im Dezember 1989 den mittelalterlichen Krönungsweg der böhmischen Könige zum Veitsdom nahm. Auch der Wenzelsplatz wurde noch im Jahr 2000 vom Senatspräsidenten Petr Pithart als „Magnet, der uns zum Landespatron zieht“, bezeichnet: „Er ist es, der uns verbindet, uns zusammenhält, der uns von Zeit zu Zeit das Gefühl verleiht, das etwas wie ein ‚wir‘ existiert.“ Dennoch wurde kurz nach der politischen Wende der Todestag von Jan Hus als erster neuer nationaler Feiertag eingeführt. Der Antrag wurde von der tschechoslowakischen hussitischen Kirche im April 1990 mit der Begründung gestellt, daß die hussitische be509

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ziehungsweise tschechische Reformation zu den Grundlagen der nationalen Tradition und des Staatsverständnisses gehörten. Politische Stabilität und kulturelle Erneuerung waren dementsprechend auch die Hauptbedürfnisse des neuen Staates und seiner Gesellschaft. Denn wie brüchig die aus dem Sozialismus hervorgegangene Tschechoslowakei war, zeigte vor aller Welt das Auseinanderbrechen der beiden Teilrepubliken an der Wende der Jahre 1992/93. Die katholische Kirche als gesellschaftliche Klammer schied durch den enormen Säkularisierungsschub vor allem in der kommunistischen Ära aus, so daß sich Tschechien heute als eines der am weitesten entchristlichten Länder Europas darstellt. Außerdem hatten sich die Erwartungen nicht erfüllt, daß die Kirche nach der politischen Wende an Ansehen gewinnen würde, da sie sich aufgrund ihrer regimekritischen Haltung bis 1989 viele Sympathien in der Gesellschaft erworben hatte. Der nach 1990 einsetzende „kleine Kulturkampf“, bei dem es neben Vermögensfragen auch um eine neue rechtliche Grundlage für das Kirche-Staat-Verhältnis ging, tat ein Übriges zur weiteren Entflechtung von kirchlich-sakralen und politischen Traditionen. Erst Ende der 1990er Jahre diskutierte man auf politischer und gesellschaftlicher Ebene frei und nicht ohne Emotionen über die Einführung des Wenzelstags als Staatsfeiertag. Die Politiker waren sich dabei nicht einig, ob Wenzel als Staatsgründer zu verehren oder als Kollaborateur mit den Deutschen zu verdammen sei. Im linken Teil des politischen Spektrums wurden dementsprechend Befürchtungen geäußert, daß die Aufwertung des 28. September zu einer Stärkung des katholischen Einflusses im Lande führen könne. Nach heftigen Parlamentsdebatten wurde für das Jahr 2000 erstmals der Wenzelstag als staatlicher Feiertag eingeführt – und zwar als „Tag der tschechischen Staatlichkeit“, ohne explizite Namensnennung, wodurch die Säkularisierung des Heiligen zum Abschluß gekommen ist. Das Gesetz vom 29. Juni 2000, das die staatlichen Feiertage neu festlegte, kannte zwei Tage der Staatlichkeit: zum einen den Wenzelstag, zum anderen den 28. Oktober als den „Tag der Entstehung des selbständigen tschechoslowakischen Staates“. Das zeigt zumindest die große Unsicherheit im Umgang mit dem heiligen Märtyrer, wie man ihn in die divergierenden Interessen der Gesellschaft integrieren sollte. Die Debatte machte deutlich, daß man neben der Befreiung vom nationalsozialistischen Regime (8. Mai) und der Beendigung der „Zeit der Finsternis“ (temno) – der Befreiung von der Habsburgerherrschaft (28. Oktober) – auch den Anfang der staatlichen Existenz Tschechiens feiern wollte, den man irgendwo inmitten des von Legenden umrankten Morgenanbruchs der tschechischen Geschichte finden wollte. Allem Anschein nach fand man dafür keinen anderen Tag, der über eine vergleichbare Bekanntheit und geschichtliche Kontinuität verfügte als den Wenzelstag. Tradition und der Wille zum Symbol haben letztlich den Ausschlag für den neuen nationalen Feiertag gegeben, obgleich in allen gesellschaftlichen Gruppierungen – ausgenommen die katholische Kirche – Bedenken blieben, nicht zuletzt, da auch die vertriebenen Sudetendeutschen Wenzel weiterhin als Identifikationsfigur verehrten. Allmählich zeigten sich die Schattenseiten der namenlosen, staatlichen Dekretierung. Umfragen vom Herbst 2004 belegen deutliche kulturelle Erosionserscheinungen. Die meisten Befragten wußten nicht, weshalb der 28. September ein zusätzlicher Feiertag 510

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ist. Viele brachten ihn nicht einmal mit Wenzel und der frühmittelalterlichen böhmischen Geschichte in Verbindung. Eine fortschreitende Werte-Erosion und weitgehende Entchristlichung der tschechischen Gesellschaft veranlaßten kirchliche und politische Eliten des Landes, die Wenzelsfeiern in Altbunzlau am 28. September stark medial zu begehen und sie mit gesellschaftspolitischen Appellen anzureichern. In den letzten Jahren nahm sogar der Staatspräsident regelmäßig teil und forderte dort von den Kirchen mehr Engagement bei gesellschaftspolitischen Diskussionen. VII. Auswahlbibliographie a) Quellen Acta Sanctorum, Sept, Bd. 7. Antverpiae 17�8 [ND Brusseles 1970], 770–8��; Fontes rerum Bohemicarum, Bd. 1. Praha 1983; peKař, Josef: Die Wenzels- und Ludmila-Legenden und die Echtheit Christians. Prag 1906; jileK, Heinrich: Die Wenzels- und Ludmila-Legenden des 10. und 11. Jahrhunderts. Neue Forschungsergebnisse. In: Zeitschrift für Ostforschung 2� (1975) 79–1�8; seibt, Ferdinand: Wenzelslegenden. In: Bohemia 12 (1988) 23–�5.

b) Darstellungen MachiLeK, Franz: Privatfrömmigkeit und Staatsfrömmigkeit. In: seibt, Ferdinand (Hg.): Kaiser Karl IV. Staatsmann und Mäzen. München 1978, 87–101; Graus, František: St. Adalbert und St. Wenzel. Zur Funktion der mittelalterlichen Heiligen-Verehrung in Böhmen. In: Grothusen, Klaus-Detlev/zernacK, Klaus (Hg.): Europa Slavica – Europa orientalis. Festschrift für Herbert Ludat. Berlin 1980, 205–231; třeštíK, Dušan: Počátky Přemyslovců [Die Anfänge der Přemysliden]. Praha 1997; ducreux, MarieElizabeth: Der heilige Wenzel als Begründer der Pietas Austriaca. Die Symbolik der Wallfahrt nach Stará Boleslav (Alt Bunzlau) im 17. Jahrhundert. In: LehMann, Hartmut/trePP, Anne-Charlott (Hg.): Im Zeichen der Krise. Religiosität im Europa des 17. Jahrhunderts. Göttingen 1999, 597–636; třeštíK, Dušan: Die dynastischen Heiligen und Landespatrone: Wenzel, Ludmilla und Adalbert. In: WieczoreK, Alfried/hinz, Hans-Martin (Hg.): Europas Mitte um 1000. Beiträge zur Geschichte, Kunst und Architektur, Bd. 2. Stuttgart 2000, 883–887; schenK, Frithjof Benjamin: Der Heilige und die Nation. Aleksandr Newskij und der heilige Wenzel im russischen beziehungsweise tschechischen kulturellen Gedächtnis. In: Bohemia 45 (2004) 314–352; saMersKi, Stefan: The Quest for a Symbol – Wenceslas and the Czech State. In: KirschbauM, Stanislav J. (Hg.): Central European History and the European Union. New York/London 2007, 81–91; ders.: Wenzel. Altes und neues Staatssymbol der Böhmischen Länder. In: ders. (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2007, 99–115; ders.: Wenzel. In: ders. (Hg.): Die Landespatrone der böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart. Paderborn 2009, 2�3–262; ders.: Die Landespatrone der böhmischen Länder. Funktionswandel religiöser Erinnerungsfiguren seit dem Mittelalter. In: Bayerisches Jahrbuch für Volkskunde (2010) 105–113; Kubin, Petr (Hg.): Svat� Václav. Na památku 1100. v�roči narození knížete Václava Svatého/Saint Wenceslas. On the 1100th Anniversary of the Birth of Duke Wenceslas the Saint. Praha 2010.

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Adalbert I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Pflege der Erinnerung. – a) Verehrung in Mittelalter und Früher Neuzeit. – b) Historismus – das „lange 19. Jahrhundert“. – c) Entkirchlichung und Neuevangelisierung (seit 1945). – IV. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Seit dem 11. Jahrhundert wurde Adalbert als Heiliger und Landespatron in Polen und Böhmen verehrt, er erlangte allerdings aufgrund der starken Konkurrenz durch andere Heilige in der späteren Zeit nicht die Stellung eines alleinigen Nationalheiligen. Durch seine Verankerung im Gründungsmythos des polnischen Staats- und Kirchenwesens erlebte er im 19. Jahrhundert vor allem in der Provinz Posen eine Phase der Historisierung, ohne – wie andere polnische und böhmische weltliche Herrscher und Heilige – zur nationalen Integrationsfigur zu werden. Als Patron des historischen Bistums Samland und des neuzeitlichen Bistums Danzig wurde er darüber hinaus im Preußenland verehrt. Nach dem Zweiten Weltkrieg stilisierten ihn die katholischen Vertriebenen aus Danzig zur Versöhnungsfigur zwischen Deutschen und Polen. In Polen wurde sein Name mit den Gedanken der Mission und der Neuevangelisierung, zuerst im nationalen, seit den 1980er Jahren auch im ostmitteleuropäischen, im Zuge der Osterweiterung der Europäischen Union schließlich im gesamteuropäischen Kontext, verbunden.

II. Leben Vojtěch (poln. Wojciech, um 956–997) war ein Sohn des böhmischen Adeligen Slavnik, der auf der Burg Libice lebte. Die Jahre 972 bis 981 verbrachte er in Magdeburg, wo er an der Domschule ausgebildet wurde. Den Namen Adalbert erhielt er bei seiner Firmung durch den gleichnamigen ersten Erzbischof von Magdeburg. 981 kehrte Adalbert nach Böhmen zurück und wurde in Prag in das Domkapitel aufgenommen. Nach dem Ableben des ersten Prager Bischofs Thietmar 982 wurde er von Fürst Boleslav II. zum Nachfolger ernannt und 983 vom Mainzer Erzbischof Willigis zum Bischof geweiht. Wegen diverser Konflikte seiner Sippe der Slavnikiden mit der Fürstenfamilie der Přemysliden verließ er 988 Prag und ging nach Rom, um vom Papst einen Dispens vom Bischofsamt zu erlangen. Nach einem kurzen Aufenthalt im Kloster Montecassino trat Adalbert 990 in das Benediktinerkloster St. Bonifatius und Alexius in Rom ein. 992 kehrte er auf Betreiben von Boleslav II. und Willigis nach Böhmen zurück, gründete das Benediktinerkloster Braunau bei Prag, konnte sich aber in seinem Bistum nicht behaupten und suchte 99� nach einem kurzen Aufenthalt am Hof des ungarischen Fürsten Géza, wo er missionarisch wirkte, erneut Zuflucht in seinem römischen Kloster. In Rom lernte Adalbert 996 512

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den jungen Kaiser Otto III. kennen. Auf Drängen von Erzbischof Willigis mußte Adalbert, der sich um eine Wiederaufnahme in seiner Diözese bemühen sollte, das römische Kloster jedoch noch im gleichen Jahr verlassen. Da in der Zwischenzeit das Geschlecht der Slavnikiden durch den Überfall der Přemysliden 995 auf die Burg Libice ausgelöscht worden war, erhielt er von Papst Gregor V. die Erlaubnis zur Heidenmission. Aufgrund der ablehnenden Haltung in der Prager Diözese reiste Adalbert von Rom ab und kam mit Otto III. in Mainz zusammen. Über Ungarn, wo er das Kloster Pécsvárad gründete, reiste er an den Hof des polnischen Herzogs Bolesławs I., bei dem auch sein Bruder Soběslav Zuflucht gefunden hatte. 997 unternahm Adalbert eine Missionsreise über Danzig zu den heidnischen Prussen, wo er am 27. April 997 den Märtyrertod erlitt. Der genaue Ort seines Todes ist unbekannt. Er wird in der Gegend von Elbing oder Tenkitten vermutet. III. Pflege der Erinnerung a) Verehrung in Mittelalter und Früher Neuzeit Die Verehrung Adalberts setzte unmittelbar nach dessen Märtyrertod ein. Innerhalb von nur drei Jahren wurden Vorbereitungen getroffen, um die Erinnerung an ihn im europäischen Kontext zu verankern. An der schnellen Kanonisation und der Verbreitung des Kultes wirkten die höchsten weltlichen und kirchlichen Stellen – mit dem Kaiser und der päpstlichen Kurie an der Spitze – mit, unterstützt vom dem polnischen Herrscher Bolesław I. Schon unmittelbar nach Adalberts Tod entstanden seine zwei wichtigsten Lebensbeschreibungen. Das erste Werk, dessen Autorenschaft umstritten ist und entweder dem Abt des aventinischen Klosters in Rom, Johannes Canaparius, oder dem Bischof von Lüttich, Notger, zugeschrieben wird, wurde – basierend auf Berichten des Halbbruders und Begleiters des Heiligen, Gaudentius – vermutlich noch vor 1000 für die von Papst Sylvester II. 999 vorgenommene Heiligsprechung angefertigt. Auf dieser ersten Lebensbeschreibung und auf Aussagen weiterer Zeitzeugen baute Brun von Querfurt auf, der 100� eine zweite Vita des Heiligen verfaßte, die in zwei Redaktionen überliefert ist. Im 11. Jahrhundert entstand, wahrscheinlich in Polen, abermals eine Lebensbeschreibung, die sogenannte Passio von Tegernsee. An diese Viten knüpften in späterer Zeit weitere hagiographische, literarische und künstlerische Werke an. Die Art des Gedenkens hatte zunächst rein religiösen Charakter. Der von Bolesław I. den Prussen abgekaufte Leichnam des Märtyrers wurde in der Marienkirche in Gnesen feierlich beigesetzt. Den Legenden nach wog man den Leichnam mit Edelmetall auf. Während in der zweiten Vita einzig von Geld die Rede ist, berichten spätere Chroniken und Legenden von Gold (Gallus Anonymus) oder von Silber (Jan Długosz). Auch das Gewicht des Leichnams variierte je nach Überlieferung zwischen wundersamer Leichtigkeit und unerklärlicher Schwere. Der Besitz der Reliquie des in der europäischen Öffentlichkeit bekannten Märtyrers und Vertrauten des Kaisers eröffnete dem polnischen 513

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Herzog große politische Chancen. Die symbolträchtig inszenierte Wallfahrt Ottos an das Grab des Märtyrers im März 1000 stellte für den Adalbertkult und für Polen ein im internationalen Maßstab kaum noch zu überbietendes politisches und gesellschaftliches Ereignis dar. Das Herrschaftsgebiet Bolesławs I. erhielt eine unabhängige Landeskirche mit dem Erzbistum Gnesen, das dem Patronat des hl. Adalbert unterstellt wurde. Der erste Amtsinhaber der neuen Metropolitankirche wurde der Halbbruder Gaudentius, der in einer päpstlichen Urkunde als „Erzbischof des heiligen Adalbert“ (archiepiscopus sancti Adalberti) bezeichnet wurde. Von nun an verband die politische Tradition den hl. Adalbert mit einem weiten Kontext: mit der Einrichtung einer eigenständigen Kirchenorganisation und der Aufnahme Polens in die Gemeinschaft der christlichen Länder Europas, aber auch mit der politischen Aufwertung gegenüber dem Römisch-deutschen Reich und vor allem der Unabhängigkeit von dessen kirchlichen Institutionen. Nach dem Gnesener Treffen folgten weitere Maßnahmen, die im Zusammenhang mit dem Adalbertkult und der neuen Reichspolitik standen. Auch in Ungarn wurde 1001 eine eigene Kirchenorganisation eingerichtet, wobei der kirchliche Mittelpunkt in Gran später das Adalbert-Patrozinium erhielt. Mit dem von Otto III. aus Gnesen mitgenommenen Teil einer Reliquie des hl. Adalbert wurden mehrere neue Kirchen, die das Patrozinium des Heiligen erhielten, bedacht, so unter anderem in Aachen, Lüttich und auf der Insel Reichenau sowie südlich der Alpen in Rom, Pereum bei Ravenna und Affile südlich von Rom. Von symbolischer Bedeutung war der von Otto III. angeordnete Bau der Stiftskirche in Aachen, der Krönungsstadt der deutschen Könige, in der Nähe des Kaiserpalastes (Einweihung 1005). Ebenso ließ er in Rom eine Adalbertskirche auf der Tiberinsel errichten. Der frühe Tod des Kaisers im Januar 1002 vereitelte den Plan, den hl. Adalbert als Reichsheiligen zu etablieren. Zwei friedliche Heidenmissionen standen im Zeichen der Verehrung von Adalbert. Die erste fand 1008/09 statt und wurde von Brun von Querfurt, dem Verfasser der Vita und Nacheiferer Adalberts, durchgeführt. Wie sein großes Vorbild starb Brun als der zweite Apostel der Prussen den ersehnten Märtyrertod im Jahr 1009. Die andere Mission, diesmal in Pommern, verlief dagegen erfolgreich. Auf Bitten des polnischen Herzogs Bolesław III. übernahm Bischof Otto von Bamberg in den Jahren 112�/25 und 1128 die Führung der Mission. Von den von Otto in Pommern errichteten Kirchen erhielten zwei, die in Stettin und in Wollin, das Adalbertspatrozinium. Böhmen profitierte zuerst weder von dem Kult noch von der neuen Reichspolitik. Wohl darauf hoffend, mit dem Besitz der Reliquien des hl. Adalbert einen ähnlichen politischen Effekt zu erzielen, überführte der böhmische Herzog Břetislav I. im Zuge eines kriegerischen Überfalls im Sommer 1038 oder 1039 die Gebeine Adalberts und Gaudentius-Radims von Gnesen nach Prag. Zwar avancierte der hl. Adalbert auch zum Schutzpatron von Böhmen, doch war sein Kult hier durch die Dominanz der Verehrung des hl. Wenzel begrenzt. Trotz des Reliquienraubes und der Kriegsverwüstungen konnte Gnesen seinen Rang als die Hauptkultstätte des Heiligen behaupten. Durch den Wiederaufbau und die „wundergleiche“ Auffindung des Schädels des Heiligen 1127 erlangte der Kult in Gnesen 514

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wieder seine materiellen Grundlagen. Damit initiierte Gnesen einen bis in das 20. Jahrhundert andauernden Streit zwischen Polen und Böhmen um die Echtheit der Schädelreliquie. Auch in Prag, wo sich die 1038 überführten Reliquien eigentlich befanden, meldete man 11�3 den Fund des Schädels. Sogar Aachen erwähnte 1�75 urkundlich den Besitz des Schädels des Heiligen. Der Streit ging erst in den 1920er Jahren infolge eines unaufgeklärten Raubes des Gnesener Hauptes zu Ende. Die Entwicklung des Adalbertkultes in Polen und Böhmen zeigt gewisse Parallelen. In beiden Ländern fungierte der hl. Adalbert seit dem 13. Jahrhundert als Landespatron. Auch wurde er in beiden Ländern als Schlachtenhelfer in Anspruch genommen. So rettete der Heilige nach der Chronik des Gallus Anonymus durch sein nächtliches Erscheinen die Burg Gnesen vor dem Überfall der Pomoranen. Bei Schlachten gegen den Deutschen Orden, beispielsweise bei Płowce 1331, wurden der hl. Adalbert und sein Kultrivale, der hl. Stanislaus, um Schutz und Hilfe für das polnische Heer angerufen. Gleiches geschah 1�10 vor der Schlacht bei Tannenberg, nach der der polnische König Władysław II. Jagiełło zum Grab des hl. Adalbert nach Gnesen pilgerte. Das böhmische Heer erfreute sich ebenfalls der Hilfe seiner Heiligen, Wenzel und Adalbert, in siegreichen Schlachten, so etwa 1260 bei Kressenbrunn über die Ungarn. Obwohl Adalbert der Tradition gemäß während der Schlacht im Bischofsgewand erscheinen sollte, wurde er entgegen der ihm sonst zugeschriebenen Milde und Friedensliebe als „ein großer und kräftiger Mann“ (vir magnus et robustus) mit strengen Zügen beschrieben. Fand eine Schlacht an einem Gedenktag (Todestag oder Tag der Übertragung der Gebeine) des Heiligen statt, wurde seiner ebenfalls in der Funktion als Schlachtenhelfer gedacht. Noch Anfang des 17. Jahrhunderts unternahm der Kronhetman Jan Zamoyski eine Wallfahrt nach Gnesen, um den hl. Adalbert für die Hilfe in der Schlacht bei Bucov gegen Michael den Tapferen von der Moldau am 20. Oktober 1600 zu ehren und die erbeuteten Kriegsfahnen am Grab des Heiligen niederzulegen. Dem hl. Adalbert wurde die Autorenschaft von zwei religiösen, für die böhmische beziehungsweise für die polnische Ritterschaft identitätsstiftenden Liedern zugeschrieben: in Böhmen „Hospodine, pomiluj ny“ (Herr, erbarme Dich unser) und in Polen „Bogurodzica“ (Gottesgebärerin). In beiden Fällen handelt es sich um Lieder, die seit dem 14. bzw. 15. Jahrhundert auch als Ritter- und Schlachtenlieder sowie als Krönungshymnen gesungen wurden. Im 12. Jahrhundert kamen in Polen einseitig geprägte Münzen (Brakteaten) mit der Abbildung des hl. Adalbert in Umlauf, die als Zeugnis des Staatskults des Heiligen zu werten sind. Auf einer der Münzen wird der Heilige in Bischofskleidung mit lateinischer Inschrift SCS ADELBIRIAS EPS GNVH (heiliger Adalbert Erzbischof von Gnesen) dargestellt. Dies war Ausdruck des polnischen Beharrens auf der Eigenständigkeit der polnischen Kirchenorganisation zu der Zeit, als das Erzbistum Gnesen auf Betreiben Erzbischof Norberts von Magdeburg durch den Papst zeitweise aufgehoben worden war. Auf einer anderen Münze war der polnische Herzog Bolesław III. vor dem Heiligen kniend zu sehen, während dieser über den Herrscher seine schützende Hand hält. Das Bild spielte auf die öffentlich inszenierte Buße des Herzogs an, nachdem er im innenpolitischen 515

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Machtkampf seinen Halbbruder Zbigniew hatte blenden lassen. Seine ausgedehnte Bußpilgerfahrt endete 1113 in Gnesen am Grab des hl. Adalbert. Die Ikonographie der polnischen Münzen stützt sich teilweise auf böhmische Vorbilder. Mit der Verlagerung des politischen Schwerpunkts Polens von Groß- nach Kleinpolen wuchs die Bedeutung des Krakauer Heiligen, des hl. Stanislaus. Hinzu kam die steigende Konkurrenz von seiten anderer auswärtiger oder regionaler Heiliger in Polen, so daß Adalbert ab dem 1�. Jahrhundert häufig in Begleitung mehrerer anderer Heiliger dargestellt wurde. Im Laufe der Zeit wuchs zudem die Bedeutung der Marienverehrung. Bereits gegen Ende des Mittelalters kristallisierte sich der bis zum heutigen Tag gültige Vorrang der drei Hauptschutzpatrone Polens heraus, wie der obere Teil des Altars von Veit Stoss in der Krakauer Marienkirche mit der Darstellung der Krönung der Muttergottes und der seitlich stehenden Figuren des hl. Adalbert und des hl. Stanislaus bildhaft vor Augen führt. Böhmische Einflüsse werden auch bei dem Bildprogramm der Bronzetür im Gnesener Dom vermutet. Entstanden in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, stellt sie in 18 Reliefs das Leben, die Prussenmission und den Tod des hl. Adalbert dar. Die starke Betonung der Mission und die dreifache Darstellung Herzog Bolesławs I. deuten auf die politischen Inhalte des Denkmals hin: das Anrecht der Piasten auf die Missionierung der heidnischen Nachbarländer. In Ungarn wurde Adalbert ebenfalls mit den staatlichen Anfängen verbunden. In der sogenannten Größeren Legende des Königs Stephan von 1083 wird zum ersten Mal über dessen Taufe durch Adalbert als Prager Bischof berichtet. Dieses Motiv fand daraufhin Eingang in weitere hagiographische und historiographische Werke. In gleicher Weise berichtet die sogenannte Ungarisch-Polnische Chronik aus dem frühen 13. Jahrhundert über die missionierende Tätigkeit Adalberts. Die Verbreitung des Heiligenkultes in dessen ursprünglichem Missionsgebiet, dem Prussenland, begann nach der Eroberung und Christianisierung durch den Deutschen Orden im 13. Jahrhundert. Das neugegründete Bistum Samland, eine der vier preußischen Diözesen, wurde dem Schutz der hl. Elisabeth und des hl. Adalbert unterstellt. Die ersten Kirchen mit dem Patrozinium des Heiligen entstanden um die Wende zum 14. Jahrhundert. Auch der neue Dom in Königsberg (1335) wurde den Schutzheiligen Maria und Adalbert geweiht. Im Auftrag des Komturs von Königsberg übertrug der Ordenspriester Nicolaus von Jeroschin 1320 die älteste Adalbertvita in deutsche Reimpaarverse. In Tenkitten, nahe Fischhausen, der Residenz der samländischen Bischöfe, wurde wahrscheinlich von Bischof Johannes II. um 1420 eine kleine Kapelle zu Ehren des Heiligen gestiftet. Dank der Unterstützung der Bischöfe entwickelte sich Tenkitten in kurzer Zeit zu einem Wallfahrtsort. Auch im Deutschordensland galt Adalbert als Schutzpatron und Schlachtenhelfer. Hier wurde ihm später der Beiname „Apostel der Preußen“ beziehungsweise „Apostel Preußens“ gegeben. Nach der Reformation ging das Interesse an ihm in Preußen allerdings zurück. Das bis 1669 nun evangelisch genutzte Gebäude der Adalbertskirche in Tenkitten rutschte durch Landabbruch ins Meer. 516

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Im nachreformatorischen Preußen beschäftigte sich dann zunehmend die preußische Landesgeschichtsschreibung mit Adalbert. Besonders aus dem Kreis der Lehrer und Schüler der neugegründeten akademischen Gymnasien in Elbing, Danzig und Thorn traten einige Persönlichkeiten hervor, die sich der Biographie und der Prussenmission Adalberts annahmen. Die meisten (unter ihnen Christoph Hartknoch, Joachim Pastorius, Gottfried Lengnich, Johann Uphagen, Daniel Gralath und Coelestin Mislenta) befaßten sich mit ihm im Kontext der Christianisierung des Prussenlandes. Nur wenige Autoren, wie Christian Helwich und Andreas Schott, widmeten ihm umfassende Werke, in denen auch der spätere Kult berücksichtigt wurde. b) Historismus – das „lange 19. Jahrhundert“ Im Zuge des nationalen Erwachens und der europäischen Tendenz zur Schaffung nationaler Gedenkstätten wurde im Posener Dom die Grabstätte der ersten christlichen Herrscher Polens – Mieszko I. und Bolesław I. – neugestaltet. Die 18�1 fertiggestellte Goldene Kapelle zeugt von dem Willen, den hl. Adalbert in den geschichtlichen Kontext Großpolens als dem Kerngebiet der polnischen Länder zu stellen. In dem in byzantinischem Stil ausgeschmückten Mausoleum zeigt ein Bild von Edward Brzozowski (1839) über dem Grabmal den Pilger Kaiser Otto III. und Herzog Bolesław I. am Grab des hl. Adalbert. Das Bild an der Kuppel stellt Gott Vater dar, umgeben von den polnischen Heiligen und Seligen. Darunter finden sich die Kapitelswappen der ersten polnischen Bistümer. In der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts fand die Adalbertthematik gleichfalls Eingang. Auf dem ersten Bild des Zyklus „Geschichte der Zivilisation in Polen“ von 1889 zeigte Jan Matejko unter dem Titel „Die Einführung des Christentums a.D. 965“ die Taufe der Familienmitglieder Mieszkos I. durch den Prager Bischof Adalbert. Das zweite Gemälde des Zyklus stellt eine Krönungsszene am Grab Adalberts in Gnesen dar, in der Bolesław I. vom Halbbruder Adalberts, dem Erzbischof Gaudentius, in Begleitung Kaiser Ottos III. zum König gesalbt wird. Adalbert stellte zwar einen festen Bezugspunkt für den polnischen Gründungsmythos dar, blieb aber stets in der Statistenrolle, ohne selbst zu einem Kristallisationspunkt nationaler Mobilisierung und Identitätsfindung zu werden wie etwa die dynastischen Heiligen in Böhmen und Ungarn. Nach den Napoleonischen Kriegen erwachte in der lokalen Politik Preußens das Interesse an dem Heiligen erneut. 1822 wurde in Tenkitten ein Gedenkkreuz aufgestellt, das in der späteren Zeit mehrmals, zuletzt 1997, ersetzt und erneuert wurde. Eine Sammelaktion für den Wiederaufbau der dortigen Adalbertskirche im 19. Jahrhundert scheiterte infolge des Streites um die konfessionelle Nutzung des zu errichtenden Gebäudes. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts fand eine funktionale Anpassung der Figur des hl. Adalbert an den sozialpolitischen Wandel statt. In Anlehnung an den BonifatiusVerein in Deutschland entstand 1852 im Ermland der katholische Adalbertus-Verein. Sein Zweck war, die außerhalb der Diözese Ermland lebenden Katholiken, vor allem im Memelland und Masuren, seelsorgerisch, finanziell und organisatorisch zu unterstützen. 517

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Um 1870 wurde der Adalbertus-Verein mit dem Bonifatius-Verein vereinigt und hieß seitdem im Ermland Bonifatius-Adalbertus-Verein. 1882 kam es in Gnesen zur Gründung der „Gesellschaft Heilige-Adalbertus-Wacht“ (Towarzystwo Straży Świętego Wojciecha). Neben der Förderung der Kirchenmusik und der Verbreitung religiösen Schrifttums widmete sich der Verein der Unterstützung von Waisenkindern. Seit 1895 beziehungsweise 1897 besteht in Posen die Adalbertus-Drukkerei und die Adalbertus-Buchhandlung, die auf Betreiben des damaligen Erzbischofs von Gnesen und Posen, Florian Stablewski, gegründet worden waren. Eine identitätsbewahrende Rolle spielte der hl. Adalbert für katholische osteuropäische Auswanderer. Migranten aus Ostpreußen, Westpreußen und Großpolen sammelten sich im europäischen Ausland und in Übersee oft um Vereine und Kirchen mit dem hl. Adalbert als Schutzpatron. Entsprechende Kirchen und Vereine entstanden am Ende des 19. Jahrhunderts beispielsweise in Grand Rapids/Michigan und in Buffalo/New York. In diesem Zusammenhang steht auch die 1927 gegründete St. Adalbert-Kirche in Berlin (Spandauer Vorstadt), deren Patrozinium ausdrücklich wegen der meist aus Ost- und Westpreußen sowie Schlesien stammenden Gemeindemitglieder gewählt worden war. Der funktionale Wandel der Kirchenfeste im 19. Jahrhundert von der Glaubensdemonstration und konfessionellen Abgrenzung hin zu teils nationalen und politisierten Festkulturen zeigte sich allmählich auch bei den Adalbert-Feiern. 1897 fanden in vielen Ländern und Orten in Europa und Nordamerika Feierlichkeiten zum 900. Jahrestag des Märtyrertodes statt. In Paris, Antwerpen, Chicago und anderen Orten kamen polnische und tschechische Migranten zusammen, um das Jubiläum ihres Landespatrons gemeinsam zu feiern. In Posen selbst wurden die Jubiläumsfeiern überdies zur Demonstration nationaler Selbstbehauptung genutzt. Es handelte sich um ein koordiniertes und massenwirksames Kirchenfest, das in einer Phase, in der man sich durch Industrialisierung, Migration und Säkularisierung herausgefordert sah, vordergründig den Zusammenhalt und die Tradition der katholischen Gemeinschaft demonstrieren sollte. Florian Stablewski, Erzbischof von Posen und Gnesen, betonte bei dieser Gelegenheit die Bedeutung Adalberts für Polens „Eintritt in die europäische Zivilisation und die Annäherung an den Westen“. Seit den 1860er Jahren, vor allem um das Jubiläumsjahr 1897 herum, entstanden zahlreiche wissenschaftliche und populärwissenschaftliche Abhandlungen zum Leben und Wirken des hl. Adalbert. Gemäß den zeitgenössischen konfessionellen und nationalen Diskursen fiel das Urteil über Adalbert und die Interpretation der historischen Zusammenhänge unterschiedlich aus. Carl Heger, der evangelische Pfarrer in Tenkitten, schrieb beispielsweise in seiner Publikation Zum Gedächtnis Adalberts (1897), daß Luthers Reformation die Vollendung dessen war, was Adalbert begonnen hatte. Der Posener Publizist Józef Chociszewski dagegen klärte in seiner Festabhandlung zum 900. Todestag Adalberts die polnische Leserschaft über den Unterschied zwischen den zeitgenössischen Bewohnern Preußens (den Deutschen) und den alten Prussen auf, die durch den Deutschen Orden bis auf den letzten ausgerottet worden wären. Die Gestalt des hl. Adalbert fand darüber hinaus Eingang in die Belletristik. Kurz nach dem Ersten Weltkrieg, in der Zeit von meist militant ausgetragenen Grenzkonflik518

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ten in Ostmitteleuropa, nahm der Schriftsteller Stefan Żeromski das Thema der Prussenmission auf, um den polnischen Anspruch auf den Zugang zur Ostsee zu dokumentieren. Die Novelle Wind vom Meer (1922), die im selben Jahr mit dem polnischen Staatspreis für Literatur ausgezeichnet wurde, lehnte sich inhaltlich stark an den Text der römischen Adalbertvita an. Adalbert erscheint ferner im Roman Bolesław Chrobry von Antoni Gołubiew, der während des Zweiten Weltkriegs geschrieben wurde und eine Zeit beschwor, in der, wie Czesław Miłosz später kommentierte, Polen stark genug war, um dem Deutschen Reich Niederlagen beizubringen. c) Entkirchlichung und Neuevangelisierung (seit 1945) Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die Erinnerung an den Heiligen den neuen geopolitischen und sozialpolitischen Entwicklungen angepaßt. In Polen nutzte Kardinal August Hlond den 950. Jahrestag des Märtyrertodes des hl. Adalbert im Jahr 19�7, um vor den Gefahren der neuen politischen Ordnung für die polnische Kirche und Nation zu warnen. In seinem Hirtenbrief, der zugleich in der Einleitung des ersten polnischen, wissenschaftlich fundierten Sammelbandes zum hl. Adalbert veröffentlicht wurde, beklagte Hlond in dem Systemwechsel vor allem die Rückkehr des Heidentums, wobei er das vorchristliche, aber gottesfürchtige Heidentum dem neuen und religionsfeindlichen System vorzog. Dabei stellte er Adalbert und dessen Botschaft als einen moralischen Gegenentwurf zur neuen politischen Ordnung mit der Begründung dar, daß das Christentum nicht lediglich den Glauben und die Gottesverehrung, sondern auch moralische Lebensprinzipien umfasse. Anders akzentuierten die deutschen Katholiken bei der Thematisierung von Krieg und Vertreibung die Bedeutung Adalberts. Im Jubiläumsjahr 19�7 wurde auf der Burg Gemen in Westfalen die „Gemeinschaft der Danziger Katholischen Jugend“ zur Betreuung der heimatvertriebenen Danziger Katholiken gegründet, aus der 1960 das AdalbertusWerk e.V., Bildungswerk der Danziger Katholiken, hervorging. Neue Akzente setzte das Adalbertus-Werk nach der Systemwende von 1989/90. Der Krieg und seine Folgen für Europa wurden symbolisch mit dem Leben Adalberts verbunden. Dessen „zerteilter Märtyrerleib“ sei „heute in besonderer Weise ein Symbol für die geistige Einheit Europas“. Hervorgehoben wurde der Umstand, daß der hl. Adalbert lange Zeit seines Lebens ein Heimatvertriebener war, weswegen sich die außerhalb ihrer Heimat lebenden Danziger Katholiken ihrem Patron weiterhin verbunden fühlen könnten. Schließlich stehe der hl. Adalbert für die Versöhnung und Verständigung zwischen Deutschen und Polen, zwischen ehemaligen und heutigen Danzigern. Den eingeläuteten politischen Wandel spiegelt auch der Titel des neuen publizistischen Organs des Adalbertus-Werkes, Adalbertusforum. Zeitschrift für ostmitteleuropäische Begegnung (1994), wider. Im Zeichen des politischen Umbruchs in Ostmitteleuropa stand ferner die Gründung der Adalbert-Stiftung. Sie war ursprünglich nach ihrem Gründer, dem Krefelder Industriellen Paul Kleinewefers, benannt und wurde 1997 in Adalbert-Stiftung Krefeld um519

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benannt. Ihre erklärte Zielsetzung ist es, durch Erarbeitung von Perspektiven einer gesamteuropäischen Gemeinsamkeit, besonders im Hinblick auf Mittel- und Osteuropa, an einem dauerhaften Zusammenwachsen ganz Europas mitzuwirken. Seit 1995 verleiht die Stiftung den internationalen Adalbert-Preis, der bisher prominenten politischen Amtsträgern der sogenannten Adalbert-Länder (Polen, Tschechien, Ungarn, Slowakei, mittlerweile auch Deutschland) zugesprochen wurde. Unter den veränderten Rahmenbedingungen nach 1989 barg die Erinnerung an Adalbert aufgrund der Internationalität des Heiligen ein großes Potential für Kirche und Politik. Bereits vor dem politischen Umbruch rückte das bevorstehende Millennium seinen Todestag in den Fokus der katholischen Kirche in Ostmitteleuropa. Während ährend seiner ersten Pilgerreise nach Polen 1979 sprach Papst Johannes Paul II. am Grab des hl. Adalbert in Gnesen über die geistige Einheit des christlichen Europa. Im Rahmen der Vorbereitungen der Feierlichkeiten von Adalberts 1000. Todestag wandte sich der Prager Erzbischof František Tomášek 1989 an alle europäischen Diözesen und Stätten, die mit dem Kult des Heiligen in Verbindung standen, und forderte sie auf, eine ganz Europa umspannende geistige Gebetsbrücke zu bauen – mit dem Ziel, die Völker Europas moralisch zu erneuern und geistig zu vereinigen. Das Bild des hl. Adalbert als einer geistigen Brücke korrespondierte mit einer Darstellung des Heiligen als „Brückenbauer“ zwischen Ost und West auf dem Deutschen Katholikentag in Aachen 1986. Der Vorschlag des tschechischen Kardinals fand große Unterstützung auf seiten des polnischen Episkopats, vor allem des Erzbischofs von Gnesen, Henryk Muszyński, der sich seitdem um die päpstliche Ausrufung des Heiligen zum Patron Europas bemüht. Im Zeichen der „Neuevangelisierung“ wurde im Juni 1990 in Anknüpfung an die Vorgängerorganisation vom Ende des 19. Jahrhunderts durch den Erzbischof von Gnesen und Primas von Polen, Józef Glemp, die „Gesellschaft des hl. Adalbertus“ neugegründet. Deren Aufgaben sah er neben der Verbreitung des Adalbert-Kultes vor allem in der aktiven Beteiligung an der Evangelisierung, vor allem der Familien. Es sind Postulate, die bereits im Hirtenbrief von Kardinal Hlond 19�7 angesprochen worden waren und die auch in der Zeit des Wirtschaftsliberalismus und der Globalisierung aus der Sicht der Kirche weiterhin Berechtigung haben. Im Millennium-Jahr 1997 fanden besonders in Polen groß angelegte Feiern statt. In Gnesen organisierte man das 2. Gnesener Treffen mit Beteiligung von Papst Johannes Paul II. und sieben Staatspräsidenten aus den weit gefaßten „Adalbert-Ländern“. Da im selben Jahr gleichfalls die Stadt Danzig ihr tausendjähriges Bestehen feierte, fand in diesem Rahmen auch der hl. Adalbert als Missionar und Schutzpatron der Danziger Diözese eine entsprechende Würdigung. Neben den zahlreichen, nicht zuletzt als Marketing für Stadt und Region konzipierten Festivitäten erfolgte die Uraufführung einer dazu eigens komponierten Hymne an den heiligen Adalbert von Krzysztof Penderecki im Oktober 1997 in Danzig. Anläßlich des Jubiläums wurden ferner verschiedene Adalbert-Auszeichnungen ins Leben gerufen. Neben dem touristischen Heiliger-Adalbert-Abzeichen wird seit 1997 durch den Danziger Stadtrat die in Silber ausgefertigte Adalbert-Medaille an Personen, 520

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Szene aus der romanischen Bronzetür am Südportal des Gnesener Doms aus der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunderts, die 18 Szenen aus dem Leben des hl. Adalbert zeigt. In der abgebildeten Szene (Nr. XVI) kauft Herzog Bolesław Chrobry den Leichnam Adalberts von den Prussen. Bildnachweis: Michał Walicki (Hg.): Sztuka polska przedromańska i romańska do schyłku XIII wieku [Die polnische vorromanische und romanische Kunst bis zum Ausgang des 13. Jahrhunderts]. Warszawa 1971, Bd. 1/1, 653, Il. 1184.

Institutionen und Organisationen verliehen, die sich international um die Stadt Danzig verdient gemacht haben. Eine andere Heiliger-Adalbert-Medaille wird seit 2008 vom Erzbischof von Prag an bedeutende Persönlichkeiten des kirchlichen, kulturellen und politischen Lebens verliehen. 2010 wurde mit der Medaille Franz Olbert, der ehemalige Generalsekretär der Ackermann-Gemeinde in München, einer Organisation der katholischen Heimatvertriebenen aus Böhmen, ausgezeichnet. Der politische Anspruch Polens auf Gleichrangigkeit mit den alten EU-Ländern, insbesondere dem deutschen Nachbarn, zeigt sich in der neuen polnischen Denkmal-Kultur, die sich thematisch häufig auf die Piastenzeit und das Treffen von Gnesen bezieht. Zu nennen ist das Reiterdenkmal Bolesław Chrobrys, das 2007 an der Stelle des Reiterdenkmals Kaiser Wilhelms II. in Breslau aufgestellt wurde und die Zugehörigkeit Schlesiens zur Piastendynastie veranschaulichen soll. Das Bolesław-Denkmal enthält Reliefs mit Darstellungen der Hauptakteure des Akts von Gnesen: Adalbert, Sylvester II. und Otto III. Das neue, grundsätzlich kirchlich fundierte Gnesener Treffen entwickelte sich nach 1997 zu einer Institution und wird seit 2002 von einer Vereinigung namens Adalbert-Fo521

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rum organisatorisch betreut. Die Initiatoren und Träger des Adalbert-Forums sind christliche Bewegungen und Vereine in Polen, die in enger Verbindung mit dem Erzbischof von Gnesen und dem Primas von Polen sowie den Vertretern anderer Konfessionen kooperieren. Das gemeinsame Ziel der beteiligten Institutionen ist die Pflege eines Forums, auf dem Christen über ihre Verantwortung im Rahmen des sich vereinigenden Europa diskutieren können. Seit 1997 fanden in Gnesen acht Treffen zu aktuellen kirchen-, verfassungs- und gesellschaftspolitischen Themen im breiten europäischen Kontext statt, stets unter prominenter internationaler Beteiligung. Die Themen spiegeln zugleich die noch nicht gelösten Kontroversen zwischen den christlichen Kirchen und der Europäischen Union, vor allem hinsichtlich der angestrebten europäischen Verfassung, wider. Ähnliche Zielsetzungen verfolgen seit 200� die Ackermann-Gemeinde und das DeutschTschechische Begegnungszentrum St. Adalbert in Rohr (Niederbayern) mit ihrer Symposienreihe „Patrone Europas“. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen batoWsKi, Alexander (Bearb.): Passio Sancti Adalperti martiris. In: bieLoWsKi, August (Hg.): Pomniki dziejowe Polski. Lwów 186�, 153–156; KarWasińsKa, Jadwiga (Hg.): Św. Wojciecha biskupa i męczennika żywot pierwszy / S. Adalberti Pragensis episcopi et martyris vita prior. Warszawa 1962; dies. (Hg.): Św. Wojciecha biskupa i męczennika żywot drugi. S. Adalberti Pragensis episcopi et martyris vita altera. Warszawa 1969; Weinrich, Lorenz (Hg.): Heiligenleben zur deutsch-slawischen Geschichte. Adalbert von Prag und Otto von Bamberg – Vitae sanctorum episcoporum Adalberti Pragensis et Ottonis Babenbergensis historiam Germanicam et Slavicam illustrantes. Darmstadt 2005; hoffMann, Jürgen: Vita Adalberti. Früheste Textüberlieferungen der Lebensgeschichte Adalberts von Prag. Essen 2005.

b) Darstellungen heGer, Carl: Zum Gedächtnis Adalberts, des ersten Apostels der Preußen. Festschrift zum neunhundertjährigen Todestage des Märtyrers. Königsberg i. Pr. 1897; voiGt, Heinrich Gisbert: Adalbert von Prag. Ein Beitrag zur Geschichte der Kirche und des Mönchtums im zehnten Jahrhundert. Westend-Berlin 1898; Święty Wojciech 997–19�7 [Der hl. Adalbert 997–19�7]. Gniezno 19�7; uhLirz, Mathilde: Die älteste Lebensbeschreibung des heiligen Adalbert. Göttingen 1957; KarWasińsKa, Jadwiga: WojciechAdalbert. In: GustaW, Romuald (Hg.): Hagiografia Polska. Słownik bio-bibliograficzny, Bd. 2. Poznań/ Warszawa/Lublin 1972, 572–589 [ND: dies.: Święty Wojciech. Wybór Pism (Der heilige Adalbert. Ausgewählte Schriften). Warszawa 1996, 21–37]; Graus, František: St. Adalbert und St. Wenzel. Zur Funktion der mittelalterlichen Heiligenverehrung in Böhmen. In: Grothusen, Klaus-Detlev/zernacK, Klaus (Hg.): Europa slavica, Europa orientalis. Festschrift für Herbert Ludat zum 70. Geburtstag. Berlin 1980, 205–231; fried, Johannes: Otto III. und Bolesław Chrobry. Das Widmungsbild des Aachener Evangeliars, der „Akt von Gnesen“ und das frühe polnische und ungarische Königtum. Eine Bildanalyse und ihre historischen Folgen. Stuttgart 22001 [11989]; ŚMiGieL, Kazimierz (Hg.): Święty Wojciech w tradycji i kulturze europejskiej [Der hl. Adalbert in der Tradition und Kultur Europas]. Gniezno 1992; WyrozuMsKi, Jerzy: Legenda pruska o świętym Wojciechu [Die preußische Legende vom hl. Adalbert]. Kraków 1997; henrix, Hans Hermann (Hg.): Adalbert von Prag – Brückenbauer zwischen dem

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Brun von Querfurt I. Zusammenfassung. – II. Leben und Werk. – III. Verehrung und Pflege der Erinnerung. – a) Verehrung im Mittelalter. – b) Erneuerung der Erinnerung seit dem 16. Jahrhundert. – c) Intensivierung und Differenzierung des Gedenkens seit Mitte des 19. Jahrhunderts. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Brun von Querfurt war neben Adalbert von Prag die wichtigste Gestalt der frühen sächsischen Ostmission. Trotz der nach seinem Märtyrertod früh erfolgten Kanonisation geriet er schon im Hochmittelalter in Vergessenheit. Erst die Arbeit am Martyrologium Romanum im 16. Jahrhundert und die kritische Sichtung der hagiographischen Überlieferung seit Mitte des 17. Jahrhunderts erneuerten seinen Kult vor allem im Mönchtum in Polen und in Litauen. Im Zuge der Entdeckung seines literarischen Werkes im späten 19. Jahrhundert erfolgte eine regionale Belebung seines Kultes an mehreren Orten im polnisch-preußisch-litauischen Grenzgebiet.

II. Leben und Werk Brun, geboren um 97�, stammte aus einer vermögenden, mit den Ottonen verwandten sächsischen Familie. Er erhielt seine Ausbildung in der Magdeburger Domschule in den Jahren 985–99�. 995 wurde er Domherr in Magdeburg. Wenig später fand er sich als Kaplan am Hof des jungen Kaisers Otto III. In Rom verzichtete er, sicher unter dem Eindruck der Nachricht vom Tod Adalberts von Prag 997, auf die sich abzeichnende Hofkarriere und trat 998 in das Benediktinerkloster Bonifatius und Alexius auf dem Aventin ein, wo sich auch Adalbert zeitweise aufgehalten hatte. Dort erhielt er den Mönchsnamen Bonifatius. Im Aventinskloster lernte Brun den Eremiten Romuald, den Schöpfer der benediktinischen Einsiedlerregel, kennen. 1001 folgte er ihm über Tivoli und Monte Cassino zur Einsiedelei in Pereum, in der Po-Ebene. Abermalige Kontakte mit Kaiser Otto III. führten zum Wunsch, sein Leben der Mission zu widmen. Deshalb verließ er Pereum und begab sich im Herbst 1002 nach Rom, um das päpstliche Missionsmandat und die Bischofswürde zu erhalten. Schon früher hatten sich seine Gefährten Benedikt und Johannes, die im November 1003 bei einem Raubüberfall zusammen mit drei anderen Begleitern ermordet wurden, nach Polen begeben. Sie sind als die „Fünf Märtyrerbrüder“ bekannt geworden, denen Brun 1005/06 sein Werk Das Leben der fünf Brüder widmete. Von Papst Silvester II. zum archiepiscopus gentium ernannt, war die Realisierung seines Missionsvorhabens mit Schwierigkeiten verbunden, da sich nach dem Tod Ottos III. 1002 der neue König, Heinrich II., in heftigem Streit mit Bolesław Chrobry befand. Dies 524

Brun von Querfurt

machte es Brun unmöglich, nach Polen zu gelangen. Im Winter 1002/03 hielt er sich in Regensburg und im heimatlichen Sachsen auf, wo er schließlich die Zustimmung des Königs zur Bischofsweihe erhielt, die ihm Erzbischof Tagino von Magdeburg 1004 in Merseburg erteilte. Bei seinem Aufenthalt in Querfurt gründete er dort möglicherweise ein Stift, sicher aber die Schloßkapelle. Über Regensburg begab er sich zuerst nach Ungarn, wo er bei den sogenannten Schwarzen Ungarn im Gebiet zwischen Donau, Marosch und Karasó (Karasica) missonierte. In dieser Zeit schrieb er auch die Lebensbeschreibung des heiligen Adalbert. Wenig später (Ende 1005/Anfang 1006) gelangte er zum ersten Mal an den Hof Bolesław Chrobrys, von wo er sich erneut nach Ungarn begab. Die Mission war erfolglos und brachte ihn sogar in Lebensgefahr. Gegen Ende 1007 kam er dann vermutlich ein weiteres Mal an den Hof Bolesław Chrobrys. Ende Januar 1008 war er in der Kiewer Rus’, wo er schließlich die Unterstützung des Kiewer Großfürsten Vladimir für die Mission bei den Petschenegen erhielt. Sie dauerte fünf Monate, hatte aber nur insofern Erfolg, als er einen Friedensvertrag zwischen den Petschenegen und der Kiewer Rus’ vermittelte. Im Herbst kehrte Brun nach Polen zurück. Dort verfaßte er seine letzte Schrift, den Brief an Heinrich II., in dem er dessen Politik gegenüber Bolesław Chrobry scharf kritisierte. Mit Unterstützung des polnischen Herrschers begab er sich auf seine letzte Mission ins Gebiet der Prußen, auf der er am 9. März 1009 starb. Was den Ort seines Todes betrifft, so sind die Nachrichten in den Quellen nicht eindeutig. Thietmar von Merseburg (vor 1019) schrieb über die Lage des Gebietes seiner letzten Mission an der Grenze zu Rußland, allerdings ohne dieses genauer zu benennen. Wipert, ein überlebender Teilnehmer der Missionsfahrt, erwähnte in seinem Bericht nur das Prußenland, dagegen schrieb Petrus Damiani um 10�0 in seiner Lebensbeschreibung des heiligen Romuald von der Rus’, kannte aber sicherlich nicht das Prußenland. Andere zeitgenössische Quellen, wie die Annales Quedlinburgenses (um 1020) und die Gesta archiepiscoporum Magdeburgensium (12. Jahrhundert), bezeichneten den Ort als Grenzgebiet zwischen Litauen und der Rus’. III. Verehrung und Pflege der Erinnerung a) Verehrung im Mittelalter Die Körper der Märtyrer wurden nach einer gewissen Zeit durch Bolesław Chrobry ausgekauft, der Ort ihrer Beerdigung konnte allerdings bisher nicht festgestellt werden. Sehr wahrscheinlich wurden sie irgendwo in den östlichen Gebieten des Herrschaftsbereichs Bolesław Chrobrys beerdigt. Der Bestattungsort befand sich jedoch spätestens zu Beginn der 1030er Jahre in russischer Hand. Das erklärt die Gerüchte, die damals in Westeuropa über die Verbindung Bruns, seines Begräbnisses und Kultes mit der Kiewer Rus’ (Petrus Damiani, Ademar von Chabannes) auftauchten. Das würde auch den schnellen Untergang der Erinnerung an Brun in Polen erklären, denn die damalige Kultpraxis war 525

Grzegorz Białuński

an das Vorhandensein von Reliquien gebunden. Darüber hinaus verschwanden nach der heidnischen Reaktion der 1030er Jahre die Eremiten, die Träger des frühesten Kultes, aus Polen. Dies hatte zur Folge, daß die Erinnerung an Brun in Polen zurückging. Der einzige Hinweis auf sie ist die Erwähnung seines Todes in den Annalen des Krakauer Domkapitels und in den Großpolnischen Annalen. Zugleich wurde Brun rasch als Heiliger anerkannt. Es spricht viel dafür, daß die Kanonisation zwischen 1019 und 1025 in seiner Heimatdiözese Halberstadt erfolgte. Anfangs entfaltete sich sein Kult hauptsächlich unter den Eremiten (Kamaldulensern) – dies bezeugt seine Erwähnung im Heiligenkatalog von Petrus de Natalibus aus der zweiten Hälfte des 14. Jahrhunderts – sowie in Querfurt und im Bistum Halberstadt, dafür spricht die Tätigkeit des von Brun gegründeten Kollegiatkapitels in Querfurt. Das zu Beginn des 12. Jahrhunderts in Ludesburg bei Querfurt gegründete Benediktinerkloster, das 11�7 nach Eilwardesdorf verlegt wurde, erhielt das Patrozinium von Maria und Brun. Im Kalender der Diözese Halberstadt wurde am 8. März die Feier des Märtyrers Brun begangen. Vom Rang des Heiligen zeugt ein Brevierformular von 1515, in dem sechs Lesungen über das Leben und die Wunder des heiligen Brun abgedruckt sind. Wenig später jedoch bewirkte die Reformation das Ende seines Kultes. Ausdruck der Erinnerung an den Heiligen waren aber Legenden, die seine Gestalt betrafen. Eine der ältesten, bereits vor 1561 aufgezeichneten Legenden ist die von Brun und den Neunlingen. Ihr zufolge soll er die Kinder seines Bruders, die dessen Frau ertränken wollte, gerettet haben. Diese Legende, die sich auf den im europäischen Kulturkreis verbreiteten Topos der Rabenmutter bezieht, erfreute sich großer Verbreitung, in Preußen ist sie im 16. Jahrhundert bei Simon Grunau und Lukas David belegt. Eine andere Legende betraf den Esel, auf dem Brun zu seiner letzten Reise nach Preußen aufgebrochen sein soll. Der Esel aber wollte sich nicht von der Wiese bewegen, auf der er weidete. Später, nach 1209, wurden auf dieser Eselswiese bei Querfurt jährliche Ostermärkte abgehalten, und man erbaute hier eine Kapelle. Obwohl diese Legende erst im 16. Jahrhundert aufgezeichnet wurde, finden sich Hinweise auf sie schon in den Gesta episcoporum Halberstadensium aus dem 13. Jahrhundert und in der Vita et passio S. Brunonis aus dem 15. Jahrhundert. In beiden wird der Abdruck des Eselsfusses auf dem Felsen erwähnt, wo Brun das heimatliche Sachsen verließ. In Polen hingegen entwickelte sich die Verehrung Bruns nicht, und auch im Preußen der Ordenszeit war sie unbekannt. Bruns Werke blieben im Mittelalter ebenfalls unbekannt; erst im 19. Jahrhundert wurden sie allmählich rezipiert. Auffällig ist jedoch die Popularität Bruns unter seinem Mönchsnamen Bonifatius. Schon Petrus Damiani (um 10�0) und Petrus de Natalibus (1�. Jahrhundert) kannten ihn nur unter diesem Namen. Während des 16. Jahrhunderts kam es irrtümlich zur Verehrung des Heiligen unter zwei verschiedenen Namen – Brun und Bonifatius (Caesar Baronius, 1583). Dieser Fehler wurde zwar zu Beginn des 18. Jahrhunderts erkannt und korrigiert, tauchte aber noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts verschiedentlich auf. 526

Brun von Querfurt

b) Erneuerung der Erinnerung seit dem 16. Jahrhundert Die Renaissance von Bruns Memoria setzte zu Beginn des 16. Jahrhunderts ein, als sein Name unter dem 9. Juni in den Kalender der Kamaldulenser eingetragen wurde, und als 1513 der Florentiner Erstdruck der Vita Romualdi erschien (wo Brun freilich als Bonifatius behandelt wird). 1580 und 1600 folgten die Erstdrucke der Chronik von Thietmar von Merseburg, in der Brun erwähnt ist. Dadurch wurde er in der einschlägigen regional- und kirchengeschichtlichen Chronistik dem Vergessen entrissen, aber auch doppelt in das offizielle Martyrologium Romanum in der Redaktion von Caesar Baronius aufgenommen, als Brun und als Bonifatius. In Preußen findet sich die erste Erwähnung von Brun in der Historia Prussiae, die bereits 1626/29 von Johannes Leo verfaßt worden war, aber erst 1725 im Druck erschien. Unabhängig von Leo schrieb Christoph Hartknoch in seiner Preußischen Kirchen Historie von 1686 über Brun. Auf ihn geht auch die Ableitung des Namens der Stadt Braunsberg von Brun von Querfurt zurück, entgegen der bislang herrschenden Meinung, nach der sich der Name von Bruno von Olmütz herleitet. Entsprechend der damaligen Auffassung beschrieb Hartknoch nach Petrus Damiani die Preußenmissionen von Brun und von Bonifatius als verschiedene Vorgänge. Darüber hinaus verdient die etwas spätere Prussia christiana von Andreas Schott aus Danzig (1738) Beachtung, der bereits wußte, daß Brun und Bonifatius dieselbe Person waren. Wichtiger war Brun anfangs in der Querfurter Ortsgeschichtsschreibung. An erster Stelle ist seine Berücksichtigung in der Querfurtischen Chronica von Cyriacus Spangenberg von 1590 zu erwähnen. Der Autor gab einen knappen, jedoch an vielen Stellen verwirrenden und chronologisch verdrehten Lebenslauf des Märtyrers. Zu Beginn des 18. Jahrhunderts berücksichtigte ihn Christian Webel in seiner lange ungedruckten Querfurter Chronik. Zeitgleich, 171�, lieferte der lutherische Diakon von Querfurt, David Sigismund Büttner, ein genaueres Bild von Brun und beschrieb Leben, Tod und die Entwicklung der Verehrung dieses Heiligen. Mit Brun befaßte sich auch die hagiographische Forschung der Bollandisten in ihren Acta Sanctorum. Anfänglich beschrieben sie, entsprechend den damaligen Ansichten, den heiligen Brun und den heiligen Bonifatius getrennt. Über Brun schrieb Jean Bolland selbst (1658), zu Bonifatius lieferte Franciscus Verovius 1701 eine Skizze. Allerdings gelang schon 1715 einem weiteren Bollandisten, Conrad Janning (Janninck), der Nachweis, daß es sich bei Brun und Bonifatius um einen Heiligen handelte, was kurz zuvor, 1707, bereits Jean Mabillon zur Diskussion gestellt hatte. Dieser Beweis war möglich dank des Zugriffs auf neue Quellen, in denen der Heilige unter beiden Namen auftrat. Janning stellte überdies einen recht zutreffenden Lebenslauf des Heiligen zusammen. In Polen wurden erste Aufzeichnungen über Brun erst mit der Verbreitung seines Kultes um 1600 angefertigt, vor allem unter Benediktinern und Kamaldulensern, sowie im Ermland. Er wurde sogar zu Beginn des 17. Jahrhunderts von Marcin Baronius als „Patron Polens“ bezeichnet. Auf dieser Welle der Erneuerung der Erinnerung an Brun tauchte sein Kult im Benediktinerkloster Heiligkreuz auf dem Berg Łysiec auf. Bis heute 527

Grzegorz Białuński

erhielt sich ein Fragment des Freskos, das Bischof Brun mit der lateinischen Inschrift darstellt: „Sanctus Bruno epis[copus] hic Ruthenis Evangelium praedicat“. Man kann vermuten, daß das Fresko und die Inschrift unter dem Einfluß der Texte von Caesar Baronius entstanden sind, also frühestens zu Beginn des 17. Jahrhunderts, und wahrscheinlich erst in Verbindung mit der literarischen Tätigkeit des polnischen Benediktiners Stanisław Szczygielski nach Mitte des 17. Jahrhunderts. Der heilige Brun erlangte darüber hinaus bei den Benediktinern anderer Länder Bekanntheit, so etwa in Österreich durch das benediktinische Kalendarium von Joseph Mezger (1672). Ähnlich verhielt es sich ungefähr zur gleichen Zeit mit der Verehrung des heiligen Brun bei den Kamaldulensern, bei denen der Kult als Verehrung des heiligen Bonifatius 1656 erneuert wurde. So entstand im 1662 neugegründeten Kamaldulenserkloster Pažaislis in Litauen, das durch den litauischen Kanzler Krzysztof Zygmunt Pac ausgestattet worden war, 1678 bis 1685 ein großartiger Freskenzyklus, der die Mission und das Martyrium des Heiligen darstellt. Der Maler war der Florentiner Michelangelo Palloni. Auch in der Benediktskapelle des 1605 gegründeten Kamaldulenserklosters Bielany bei Krakau befanden sich Bilder, die die Geschichte des heiligen Brun erzählten, ferner im 1669/73 errichteten Kloster Bielany bei Warschau, wo sich ein Bild von ihm befand und zu seinen Ehren feierliche Prozessionen stattfanden. Der Heilige war auch unter den italienischen Kamaldulensern populär. Im Kloster Sacro Eremo Tuscolano in Frascati entstand nach 1607 eine Brunkapelle mit einem Altarbild, das eine Szene aus dem Leben des heiligen Brun zeigt. Im Kloster Eremo di Monte Giove bei Fano, nördlich von Ancona, entstand nach 1609 eine Skulptur von ihm, in der Kapelle San Severo in Perugia 1521 ein Fresko von Pietro Perugino. Zusammengefaßt läßt sich beobachten, daß sich die Verehrung des heiligen Brun seit dem Ende des 16. Jahrhunderts erneut zu entwickeln begann, allerdings in doppelter Form: unter dem Geburtsnamen als preußischer Märtyrer und unter dem Ordensnamen als Apostel der Kiewer Rus’. Die letzte Entwicklungsstufe des Kultes des heiligen Brun (Bonifatius) bekräftigte die Herausgabe des Officium durch den Heiligen Stuhl am 21. Januar 1673, in dem sein Fest in den Rang eines semiduplex erhoben wurde (offizielles Kirchenfest niederer Ordnung). c) Intensivierung und Differenzierung des Gedenkens seit Mitte des 19. Jahrhunderts Ein wichtiger Ansatzpunkt für die Belebung von Bruns Verehrung war die Entdeckung und Edition seines literarischen Werkes in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Es wurde vor allem in den „Monumenta Germaniae Historica“ (18�1, 1888) und in den „Monumenta Poloniae Historica“ (186�) ediert. Vor diesem Hintergrund entwickelten sich verschiedene neue Erinnerungsorte an Brun. Manche stellten nur kurzfristige Episoden dar, andere jedoch, die von örtlichen Kreisen aufgegriffen und entsprechend unterstützt wurden, gewannen größere Bedeutung, zum Beispiel in Bartenstein, Lötzen oder in Łomża. 528

Brun von Querfurt

Das vermutlich in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts entstandene Fresko in der Kirche des ehemaligen Benediktinerklosters Heiligkreuz auf dem Berg Łysiec im Heiligkreuzgebirge (heute Kloster der Oblaten der unbefleckten Jungfrau Maria) zeigt im Hintergrund Brun im benediktinischen Ordensgewand, der von zwei Soldaten ergriffen wird. Im Vordergrund kniet der Heilige in Gebetshaltung vor seinem abgeschlagenen Haupt. Daneben sind die Insignien seiner Bischofswürde, der Bischofsstab und die Bischofsmütze (Mitra), abgebildet. Die Bildunterschrift lautet: „Sanctus Bruno epis[copus] hic Ruthenis Evangelium praedicat“. Bildnachweis: Privatarchiv Grzegorz Bialunski.

In Bartenstein, in der katholischen Diaspora, fanden durch den Militärseelsorger von Rastenburg seit 1872 regelmäßige katholische Messen statt. Schließlich kauften die Gläubigen ein Grundstück, auf dem in den Jahren 1882/83 eine Kirche errichtet wurde. Sie wurde am 10. September 1889 durch den Bischof von Ermland, Andreas Thiel, dem heiligen Brun geweiht. In der Kirche befindet sich eine dem Heiligen geweihte Glocke sowie im Chor ein Glasfenster mit seinem Bild. Das Glasfenster stammt vom Beginn des 20. Jahrhunderts, es stellt Brun im Bischofsgewand mit Bischofsstab und nach oben gerichtetem Schwert dar. Zu seiner Rechten befindet sich der heilige Bonifatius, der Apostel der Deutschen, zu seiner Linken der heilige Adalbert. 1980 erhielt die Kirche die Möglichkeit eines vollständigen Ablasses am Tag des heiligen Brun, 2002 erhob man sie in den Rang eines Sanktuariums des heiligen Brun. 2009 stieg Brun zum offiziellen Patron der Stadt Bartenstein auf; auf dem Platz neben der Stadtverwaltung enthüllte man ein Denkmal zu seinen Ehren. 529

Grzegorz Białuński

Besondere Bedeutung gewann die Legende über den Tod Bruns in Lötzen. 1907/09 stellte Heinrich Gisbert Voigt zum ersten Mal eine Verbindung zu diesem Ort her. Der Hallenser Historiker versuchte, die Angaben der zeitgenössischen Quellen zum Todesort Bruns zu identifizieren. Er ging von der Annahme aus, daß das Prußenland Galinden, Litauen Nadrauen und die Kiewer Rus’ Sudauen seien und behauptete, daß das Zusammenstoßen aller drei Länder bei Lötzen zu verorten sei. Die Hypothese wurde von der Lötzener städtischen Elite mit dem örtlichen Pastor und Stadtchronisten Ernst Trincker an der Spitze aufgegriffen. Dies führte 1910 zur Errichtung eines Kreuzes durch die evangelische Gemeinde zu Ehren des Missionars auf einem Hügel am Ufer des Lötzener Sees. Schon ein Jahr zuvor war dort eine katholische Kapelle errichtet worden, die Brun geweiht und 1937 zur Pfarrkirche erhoben wurde. Heute befindet sich auf dem Giebel dieser Kirche ein Mosaik von 1975, das den heiligen Brun in der Begleitung prußischer Krieger zeigt. In deren Inneren befindet sich ein großes Bild, das ihn im Bischofsgewand am Ufer eines Sees darstellt. Dieses Bild des Breslauer Malers Julian Wałdowski schmückte schon seit etwa 1911 die alte Kapelle. Als Krönung der bisherigen örtlichen Bemühungen zur Erinnerung an den heiligen Brun kann man seine Ernennung zum Stadtpatron durch den Stadtrat von Lötzen im Jahr 1999 ansehen. Ähnlich wie in Lötzen und Bartenstein datiert auch die Brun-Tradition in Łomża aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Ihr unabsichtlicher Begründer war wahrscheinlich einer der Mitautoren der „Encyklopedia Powszechna“ von Samuel Orgelbrand. Im Lemma „Łomża“ (186�) wurde Brun irrtümlicherweise die Gründung der dortigen Laurentiuskirche zugeschrieben. Ein Zeugnis der schnellen Entwicklung der Tradition in Łomża ist ein Bildnis des heiligen Brun, das wohl Ende des 19. Jahrhunderts entstanden ist und sich heute in der Kapelle des Priesterseminars in Łomża befindet. Am 19. Juni 2009 gab die polnische Post eine Brun-Briefmarke heraus, die dieses Bild zeigt. Nach dem Zweiten Weltkrieg trugen zur Bekanntmachung von Łomża im Zusammenhang mit der Mission Bruns vor allem zwei Lehrer am Priesterseminar in Łomża bei, Antoni Roszkowski und Wincenty Krajewski. Sie schlugen vor, Brun zum ersten Patron der Diözese zu erheben, was 1963 dann auch erfolgte. Eine neu errichtete Pfarrkirche in Łomża erhielt 1982 das Brun-Patrozinium. Im rechten Schiff der Erzengel Michael-Kirche ließ man ein Brun gewidmetes Kirchenfenster ein, in der Kapelle der Schmerzhaften Gottesmutter wurde eine Skulptur aufgestellt. Zuletzt fand der litauische Aspekt der letzten Missionsreise Bruns Beachtung, auf den schon Adam Naruszewicz (1803) und nach ihm Jan Kurczewski (1912/13) hingewiesen hatten. Eingehende Beachtung wurde Brun in der litauischen Geschichtswissenschaft allerdings erst seit den 1990er Jahren geschenkt. In Litauen nimmt er heute insofern eine besondere Rolle ein, weil der Landesname im Zusammenhang mit seiner Mission zum ersten Mal erwähnt wurde („Columbus entdeckte Amerika und der heilige Brun Litauen“, betonte der litauische Historiker Alfredas Bumblauskas). Vereinzelte Hinweise auf seine Verehrung – als heiliger Bonifatius – finden sich zwar schon im 17. Jahrhundert, verstärkt aber erst im Zusammenhang mit den Jahrtausendfeiern seiner Missionsreise. Zu diesem Zeitpunkt, 2007 und 2009, wurden ihm auch in Memel und Olita die ersten Pfarrkirchen geweiht. 530

Brun von Querfurt

An Kultorten muß man neben den oben erwähnten noch die St. Brun-Pfarreien in Elbing (1992) und Hohenstein (1888, jetzt Herz-Jesu-Pfarrei) sowie Darstellungen des Heiligen in den Kirchen in Ostrolenka und Meseritz (Kirchenfenster), in Frauenburg (Bild) sowie in Hohenstein und Passenheim bei Ortelsburg (Skulpturen) anführen. Ein wichtiger Erinnerungsort des Heiligen blieb sein Geburtsort Querfurt. Hier befanden sich in der Burgkapelle Gegenstände, die über die Jahrhunderte hinweg mit ihm in Verbindung gebracht wurden: ein eiserner Schuh sowie ein kleiner Kessel. Hier hielten sich auch Legenden über ihn. Im 19. Jahrhundert wurden auf dem Querfurter Jahrmarkt Keramikpfeifen mit einer charakteristischen Reiterfigur mit einem runden Hut auf einem Esel populär, die von Vorstellungen über den heiligen Brun beeinflußt waren. Verbreitung fanden ferner Ansichtskarten und andere Druckerzeugnisse mit seiner Darstellung. Der Höhepunkt seines Gedächtnisses war 2009 die ihm gewidmete Ausstellung in der Burg Querfurt. Seine Verehrung entwickelte sich hier jedoch schwächer, es gibt lediglich Glasmalereien mit Bildern aus seinem Leben in der Salvatorkirche in Querfurt (1910). Diese Pfarrei wurde 2010 mit anderen nahegelegenen katholischen Pfarreien im Gemeindeverbund St. Brun von Querfurt zusammengefaßt. Hinzuweisen ist überdies auf die St.-Bruno-Kirche in Langeneichstädt bei Mücheln (1955). Dort befindet sich eine Skulptur des heiligen Brun, die ihn bei der Feuerprobe zeigt. Von den übrigen Zeugnissen seines Kultes sollen noch das Glasfenster in der St. Bartholomäus-Kirche in Kail in der Eifel, das Brun als dem Apostel Preußens gewidmet ist (1903), sowie die Skulptur in der St. Franziskus- und St. Elisabeth-Kirche in Halle (1906) erwähnt werden. Der Gedenktag Bruns ist seit der Liturgiereform von 1965 der 9. März, zuvor war es lange Zeit der 15. Oktober. Allerdings gedenkt man des heiligen Brun in der polnischen Kirche – bis 2009 auch in Litauen – am 12. Juli. Besondere Bedeutung hat dieses Datum in der Diözese Łomża, wo der Tag der Feiertag des Hauptpatrons ist, außerdem im Erzbistum Ermland, wo Brun zweiter Patron ist. Eine Besonderheit ist, daß bis zum 20. Jahrhundert – außerhalb des Ermlands und des Benediktinerordens – in Polen und Litauen nicht der Tag des heiligen Brun (15. Oktober), sondern der Tag des heiligen Bonifatius (19. Juni) gefeiert wurde. Das Millenniumsjahr von Bruns Tod 2009 erscheint als Wende zu einer breiteren Rezeption, vor allem angesichts ökumenischer Feierlichkeiten in Polen und internationaler, deutsch-polnisch-litauischer wissenschaftlicher Konferenzen in Querfurt, Allenstein und Pułtusk. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen Breviarium Halberstadense per Georg Stüchs. Nurnberge 1515; baronius, Caesar: Martyrologium Romanum. Romae 1583; spanGenberG, Cyriacus: Quernfurtische Chronica. Erffurdt 1590; MezGer, Josephus: Annus Mariano-Benedictinus. Salisburgi 1672; verovius, Franciscus: De sancto Bonifacio archiep. Apostolico circa Russiam. In: Acta Sanctorum. Junii, Bd. 3. Antverpiae 1701; b[üttner], Da-

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Der heilige Stephan, König von Ungarn I. Zusammenfassung. – II. Biographie. – III. Staatliche und kirchliche Formen der Verehrung: Heilige Krone und „Heilige Rechte“. – IV. Weitere Formen der Erinnerungskultur. – V. Stephan in der Volkstradition. – VI. Der Stephanstag. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Stephan I. ist eine der am meisten verehrten historischen Gestalten der ungarischen Geschichte. Der Tag seiner Heiligsprechung, der 20. August, ist bis heute der höchste Staatsfeiertag Ungarns. Während er in der Geschichtsschreibung vor allem als Begründer des ungarischen Staates gewürdigt wird, verehrt ihn die katholische und orthodoxe Kirche als Landesapostel, der Ungarn christianisierte, und nicht zuletzt als Schutzpatron des Landes. Die Erinnerung an ihn wird gleichermaßen in der ungarischen Eliten- als auch in der Volkskultur wachgehalten. Seine Verehrung ist allerdings nicht auf Ungarn beschränkt, sie läßt sich auch bei anderen mitteleuropäischen Völkern nachweisen. Stephan I. ist, seitdem ihn die Synode der orthodoxen Kirche im Jahr 2000 ebenfalls heilig gesprochen hat, zudem der einzige Heilige, der nach der Trennung der West- und der Ostkirche im Jahr 1054 von beiden christlichen Kirchen als Heiliger verehrt wird.

II. Biographie Stephan wurde unter dem Namen Vajk um 975 in der Nähe von Gran geboren. 997 folgte er seinem Vater Géza als Fürst an die Spitze Ungarns. Bei seiner Taufe bekam Vajk den Namen Stephan (ungarisch István) und genoß eine christliche Erziehung, weil ihn seine Eltern bewußt zu einem christlichen Herrscher ausbilden wollten. Als Stephan die Volljährigkeit erreichte, brach sein Vater mit dem bis dahin gültigen Senioratsprinzip in der Erbfolge des regierenden Stammes der Árpáden und sicherte seinem Sohn das Fürstentum. Auch mit der Annahme des Prinzips der Erstgeburt wählte Géza bewußt das Beispiel des im christlichen Westeuropa allgemein verbreiteten Rechts. Ein weiterer Schritt in dem Annäherungsprozeß an den Westen war die zwischen Stephan und der Nichte des römisch-deutschen Kaisers Otto III., der bayrischen Herzogin Gisela, arrangierte Hochzeit. Nach dem Tod Gézas 997 mußten sich Stephan und das noch junge Christentum in Ungarn allerdings vielen Herausforderungen stellen. Koppány, der Älteste des Stammes der Árpáden und die treibende Kraft des alten Naturglaubens der Ungarn, berief sich auf die althergebrachte Erbfolgeregelung und meldete eigene Thronansprüche an, die er mittels Waffengewalt durchzusetzen versuchte. Aus dem Konflikt ging allerdings Stephan als Sieger hervor, der innerhalb weniger Jahre seinen Machtbereich auf das gesamte Karpatenbecken ausdehnen konnte. Ende des Jahres 1000 534

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(nach anderen Quellen am 1. Januar 1001) ließ er sich mit einer Krone, die er mit Genehmigung des römisch-deutschen Kaisers von Papst Silvester II. erhalten hatte, zum König krönen. Während der vier Jahrzehnte seiner Herrschaft konnte er nicht nur die Außengrenzen seines Herrschaftsgebiets erfolgreich festigen, sondern auch eine starke Monarchie aufbauen. Nachdem er den Widerstand der alten Stammesfürsten überwunden hatte, organisierte er mit der Errichtung von bis heute bestehenden Komitaten die Verwaltung des Landes. Mit der Gründung von zehn Bischofssitzen stärkte er der Landeskirche mit lateinischem Ritus den Rücken. Eine der wichtigsten Handlungen Stephans auf europäischer Ebene war, daß er den Pilgerweg, der durch Ungarn nach Jerusalem führte, öffnete, was zugleich Ungarns Stellung unter den europäischen Mächten stärkte. Stephan starb am 15. August 1038; er wurde in der von ihm gebauten Basilika von Stuhlweißenburg beerdigt. III. Staatliche und kirchliche Formen der Verehrung: Heilige Krone und „Heilige Rechte“ Der Kult um König Stephan I. verstärkte sich durch seine Kanonisierung im Jahr 1083, die von König Ladislaus I. vorangetrieben wurde. Ladislaus hielt Stephans Wirken als Staatsgründer und als Kirchenorganisator für beispielhaft, doch zugleich wollte er mit der Heiligsprechung die Herrschaft der Árpádendynastie und seine eigene Macht festigen. Er erkannte frühzeitig den Legitimationswert des religiösen Kults und des dynastischen Heiligenkults; neben Stephans Heiligsprechung bewirkte er auch eine Kanonisierung von anderen Mitgliedern der Dynastie, etwa von Stephans Sohn Emmerich, und von Kirchenmännern wie dem Bischof von Tschanad, Gerhard. Die Heiligsprechung Stephans durch Rom hatte den entscheidenden Anstoß gegeben, daß dieser schon nach kurzer Zeit zum Symbol des Landes wurde. Einiges weist jedoch darauf hin, daß sein Kult bereits vor seiner Kanonisierung begonnen hatte. Stephans Grab in Stuhlweißenburg, wo in den Legenden beschriebene Wunder stattgefunden hatten, wurde schon kurz nach seinem Tod zum Ziel von Pilgern. Darüber hinaus wurden jedes Jahr an Stephans Todestag, am 15. August, in Stuhlweißenburg königliche Gerichtstage abgehalten. Im Zuge der Verflechtung des religiösen Erinnerns und des rechtlichen Aktes wurden die von Stephan erlassenen Gesetze bereits vor 1083 als leges beati Stephani bezeichnet. Die Grabstätten von Stephan und seinem Sohn in Stuhlweißenburg wurden während des Mittelalters zu den wichtigsten Kultstätten Ungarns. Die von Stephan nach dem Beispiel der Aachener Palastkapelle errichtete Kirche mit hervorgehobenen Rechten bildete das sakrale Zentrum des Königreichs, wo sich die meisten ungarischen Könige bis zur osmanischen Eroberung der Stadt 1543 neben den heiligen Reliquien des Staatsgründers bestatten ließen. Wie in der Stephanslegende des Bischofs Hartvik zu lesen ist, öffnete man bei den Feierlichkeiten der Heiligsprechung Stephans das Grab des Königs und bestattete seine Gebeine in einem weißen Marmorsarkophag in der Mitte der Kirche neu. 535

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Auch wenn die Kirche unter der osmanischen Besatzung vollständig zerstört wurde, blieb der leere Sarg doch bis heute erhalten. Durch seine Ikonographie verweist er eindeutig darauf, daß er einst die Gebeine Stephans enthielt. Auf die starke Verflechtung von religiösen und staatlichen Inhalten im Kult des Heiligen Stephan wies besonders die Krönung der ungarischen Könige mit der Stephanskrone hin. Bis zum 14. Jahrhundert entfaltete sich das Gewohnheitsrecht, wonach erstens die Krönung mit der Stephanskrone durch den Erzbischof von Gran, Oberhaupt der ungarischen römisch-katholischen Kirche, vollzogen werden mußte, sonst konnte die Krönung rechtlich für ungültig erklärt werden. Zweitens hatte die Krönung möglichst vor dem Altar des heiligen Stephan in der Basilika von Stuhlweißenburg stattzufinden. Die gekrönten ungarischen Herrscher wurden durch diese Zeremonie nicht nur rechtmäßig anerkannt, ihnen wurde auch ein Teil des Charismas Stephans und seiner Krone zuteil. Bei anderen Nationen ist in ähnlicher Weise zu beobachten, daß die Königskrone von einer Herkunftslegende umgeben und durch eine in der Krone eingefaßte Reliquie mit Heiligkeit aufgeladen wird. Andernorts wird jedoch bei der Krönungszeremonie lediglich der Träger der Krone mit Heiligkeit erfüllt, wohingegen in Ungarn der Gegenstand selbst zum Heiligtum wurde. Im Laufe der Jahrhunderte ging aus dieser Auffassung die Verehrung der Krone des heiligen Königs als eine juristische Person hervor. Die erste bekannte Urkunde, in der die Krone als heilig bezeichnet wird, stammt aus dem Jahr 1256. Die Stephanskrone verkörpert seitdem nicht nur die königliche Gewalt, sondern auch die ungarische Monarchie beziehungsweise Mitglieder der Monarchie; seit der bürgerlichen Revolution von 18�8 ferner die gesamte Bevölkerung des Landes, ungeachtet ethnischer, sprachlicher oder konfessioneller Unterschiede. Auch nach der Abschaffung der Monarchie 1920 blieb die Symbolkraft der Krone unverändert; Gesetze erließ man beispielsweise im Namen der Heiligen Krone. Bis zur Gegenwart stellt die Stephanskrone, obwohl sie in ihrer heutigen Form nachweislich nicht mit der Krone Stephans I. identisch ist, das höchste Symbol des ungarischen Staates und der ungarischen Nation dar. Um den Besitz der Stephanskrone wurde deshalb bis in die zweite Hälfte des 20. Jahrhunderts heftig gekämpft, mit den Mitteln der Politik oder mit Waffen. 19��/�5 wurde die Krone von der Kronengarde auf Befehl von Ministerpräsident Ferenc Szálasi ins Ausland evakuiert, wo sie in den Besitz der US-amerikanischen Armee gelangte. Obwohl die Heilige Krone nach 1945 an Bedeutung verlor, wurde sie bei ihrer Rückgabe aus den Vereinigten Staaten 1978, wo sie seit 1953 in der Festung Knox aufbewahrt worden war, vom kommunistischen Staat – nicht jedoch von der Partei – feierlich empfangen. Von der kommunistischen Partei als historische Reliquie bewertet, wurde sie im Nationalmuseum Budapest ausgestellt. Die Verehrung der Krone ließ während dieser Jahrzehnte allerdings nicht nach: Wie aus Geheimakten der Partei hervorgeht, bekreuzigten sich ältere Besucher und knieten vor der im Museum zur Schau gestellten Krone nieder. Nach der politischen Wende von 1989/90 entfachten sich heftige Debatten um ihre Symbolkraft zwischen Vertretern der Kommunisten und der Opposition. Die Stephanskrone wurde jedoch schließlich mit dem apostolischen Doppelkreuz wieder in das unga536

Der heilige Stephan, König von Ungarn

rische Staatswappen aufgenommen und anläßlich des tausendjährigen Jubiläums der ungarischen Staatsgründung im Jahr 2000 als Verkörperung der ungarischen Staatlichkeit „aus dem Museum der Nation in die Obhut des die Nation repräsentierenden Parlaments“ gegeben, wie es in einem Pressebericht jenes Jahres hieß. Ein zweites Objekt, an dem der Kult des heiligen Königs in besonderer Weise haftet, ist die mumifizierte rechte Hand Stephans, die „Heilige Rechte“ (ungarisch Szent Jobb). Das ungarische Wort jobb bezeichnet sowohl die Richtung ‚rechts‘ als auch das Wort ‚besser‘ und wurde im Mittelalter synonym für Recht verwendet. Ladislaus I. ließ den königlichen Gerichtstag auf den 20. August, den Namenstag Stephans, verlegen. Die rechte Hand symbolisierte somit den Herrscher und die Gerechtigkeit des Königs und bestätigte die Heiligkeit der von ihm geschaffenen Institutionen Staat und Kirche. Die Handreliquie gelangte bereits vor der Heiligsprechung Stephans nach Ostungarn, wo Ladislaus deren ehrenvolle Unterbringung im Kloster zur „Heiligen Rechten“ verordnete. König Ludwig I., der ab 1370 Ungarn und Polen in Personalunion regierte, ließ anläßlich seines Herrschaftsantritts in Polen den oberen Teil des Arms abtrennen und nach Polen bringen, was eine hohe Symbolkraft für die Union der beiden Länder besaß. Die Hand selbst wurde in den 1�20er Jahren nach Stuhlweißenburg überführt, wo ihre Verehrung in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts eine neue Blütezeit erlebte. 1543 geriet die Reliquie in den Besitz der Osmanen, als diese die Stadt eroberten. Man kann nach dem heutigen Stand der Forschung davon ausgehen, daß die Besatzer um ihre Kostbarkeit wußten. Denn obwohl die Reliquie aus ihrem Edelmetallbehältnis geholt wurde, blieb sie unversehrt. Fast ein halbes Jahrhundert später tauchte sie erneut auf dem Balkan auf: Nach verschiedenen Berichten kauften christliche Kaufleute sie für teures Geld von den Osmanen in Bosnien zurück und schenkten sie dem Dominikanerkloster von Dubrovnik, bis sie von Königin Maria Theresia 1771 nach Ungarn zurückgebracht und zunächst in der Burgkapelle von Ofen untergebracht wurde. Seitdem hat die „Heilige Rechte“ ihren Platz als höchste national-religiöse Reliquie der römisch-katholischen Kirche in Ungarn wieder eingenommen. Diente die „Heilige Rechte“ zur Stabilisierung der Beziehung zwischen der Habsburgerdynastie und der Nation, so symbolisierte der von der ungarischen Bischofskonferenz 1862 gestiftete neue Reliquiarbehälter ohne das Wappen der Habsburger die Wiederaneignung der Gestalt Stephans des heiligen durch die katholische Kirche. Mit diesem Akt wurde den Habsburgern der noch symbolisch bestehende Schutz der Nationalreliquie zur Zeit des Neoabsolutismus, als die Wiener Regierung die Staatskontrolle auf die katholische Kirche ausweiten wollte, entzogen. In den 1870er Jahren etablierte sich die kirchliche Prozession mit der „Heiligen Rechten“, die seitdem – mit Unterbrechungen etwa zwischen 1945 und 1989 – jedes Jahr am Tag des heiligen Stephan, am 20. August, abgehalten wird. An der Prozession, die im Aufbewahrungsort der Reliquie, im Sankt-Stephansdom, und um den Dom abgehalten wird, nehmen traditionell neben Menschen aus dem ganzen Land auch die öffentlich-rechtlichen Würdenträger des Landes ungeachtet ihrer konfessionellen Zugehörigkeit teil. 537

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IV. Weitere Formen der Erinnerungskultur Die Gestalt des heiligen Stephan taucht in nahezu jedem künstlerischen Umfeld auf. Die ersten Darstellungen Stephans sind noch frei von der späteren Typisierung und beinhalten durchaus individuelle Züge. Die älteste bekannte Darstellung, in der seine Gestalt erscheint, ist eine Kasel aus dem Jahr 1031, die heute als Krönungsmantel bekannt ist. Die schönste und unbestreitbar findigste Darstellung des Mittelalters ist die Bamberger Reiterstatue, die – höchstwahrscheinlich – Stephan darstellt. Die steinerne, aus der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts stammende Statue steht in der Hauptkirche der Stadt in der Nähe des Eingangs auf der Konsole eines Pfeilers. Die Überlieferung rechtfertigt, daß der Gründer der Kathedrale Kaiser Heinrich II., Bruder Giselas und somit Schwager Stephans, war, der zusammen mit seiner Frau später ebenfalls heilig gesprochen wurde. Ihre Statuen sind in Nischen in der Nähe der Adamspforte neben dem Märtyrer Stephan angebracht. Dies läßt darauf schließen, daß der ungarische König Stephan als eine Art dritter Heiliger der Familie angesehen wurde. Dieser Vermutung wird nicht zuletzt durch den Sagenkreis gestützt, der sich in Bamberg und Umgebung um den heiligen Stephan gesponnen hat und dort bis zur Gegenwart weiterlebt. Ab dem 13. Jahrhundert präsentierten die mittelalterlichen Künstler Ungarns Stephan I. auf zahlreichen Statuen, Altären, Wandgemälden, Holztafeln und ähnlichen Kunstwerken. Insgesamt kommt man wohl auf mehrere Hundert, von denen allerdings heute nur noch ein Bruchteil erhalten geblieben ist. Einen sehr markanten Teil dieser Darstellungen bildete die allgemein verbreitete Komposition der drei heiligen ungarischen Könige Stephan, Emmerich und Ladislaus, die als eigene Entwicklung verstanden werden muß. Besonders beeindruckend ist das Tafelbild vom Zipser Kapitel in der dortigen Kathedrale aus dem Jahr 1�70. Seit der Frühen Neuzeit vermehrten sich die Darstellungen Stephans, die ihn bei der Darbietung seiner Krone an die Gottesmutter zeigen. Sie wurden im 18. und 19. Jahrhundert vielfach bearbeitet und erreichten einen Höhepunkt in dem 1902 von Gyula Benczúr angefertigten Altarbild für den Sankt-Stephansdom von Budapest. Im 19. und 20. Jahrhundert entstanden ferner zahlreiche repräsentative Statuen des heiligen Königs, darunter die Reiterstatue von Zsigmond Kisfaludy Strobl (1906) in der Ofener Burg und die Statue von Miklós Melocco in Gran (2001), die Stephans Taufe darstellt. Es gibt im heutigen Ungarn nahezu keine Ortschaft, wo nicht eine Kirche oder Straße den Namen des ersten Königs trägt oder eine Statue an ihn erinnert. Die Gestalt des heiligen Stephan ist zudem fester Bestandteil der religiösen und schöngeistigen Literatur. Sein Leben und Wirken wurde in unzähligen Romanen und Dramen verewigt, wodurch sein Andenken gewahrt werden konnte. Besondere Aufmerksamkeit wurde dem König darüber hinaus in der Musik gewidmet. Unter den musikalischen Bearbeitungen sind besonders drei erwähnenswert: die Ouvertüre, die Ludwig van Beethoven zur Eröffnung des Deutschen Theaters in Pest 1812 komponierte und die bis heute zum Repertoire der Konzertsäle gehört; zweitens das Stück, das von dem Komponisten Ferenc Erkel, dem Begründer der ungarischen Oper, unter dem Titel István király (König Stephan) 1885 komponiert wurde. Doch nicht 538

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nur die Komponisten des 19. Jahrhunderts zeigten Interesse an der Person Stephans I.: Die Aufführung der von Levente Szörényi komponierten Rock-Oper István, a király (Stephan, der König) im Jahr 1983 gehört zu den größten musikalischen Ereignissen der letzten Jahrzehnte im ungarischen Musikleben. Aus der Oper entstanden Filme, Schallplatten und Theaterbearbeitungen, so daß die Figur und das Zeitalter Stephans auch Menschen, die in der kommunistischen Ära aufwuchsen, vertraut waren. Die RockOper wird heute in vielen ungarischen Städten und auch in den von Ungarn bewohnten Regionen im Ausland am 20. August aufgeführt. Sie hat sich somit als Symbol der Zusammengehörigkeit der Ungarn etabliert. V. Stephan in der Volkstradition Um die Gestalt des ersten ungarischen Königs bildete sich in der ungarischen Folklore in Form von Volksdichtung, Aberglaube und Ritualen eine breite und bunte Tradition. Dutzende von Siedlungen wurden nach ihm benannt; in diesen Ortschaften wurde und wird unverändert der Kult überdurchschnittlich stark gefeiert. Es ist bezeichnend, daß der Name István seit der Barockzeit einer der beliebtesten ungarischen Vornamen ist. Möglicherweise bildeten sich bereits zu Stephans Lebzeiten die ersten Legenden und Sagen um ihn. Die enigmatische Reiterstatue des Bamberger Doms war vermutlich ein Teil der Ausgestaltung des Legendenkreises. Der Bamberger Legendenkreis unterscheidet sich allerdings deutlich von dem ungarischen. Sowohl die Statue als auch die orale Tradition weisen auf eine junge, heidnische Figur Stephans hin, die von Heinrich II. bekehrt und nach einer Hochzeit mit seiner Schwester Gisela zu einem Verbündeten wurde. In und um Bamberg wurden mehrere Sagen über die Bekehrung Stephans aufgezeichnet. Eines der wiederkehrenden Motive beschreibt die Situation, als das Roß des noch heidnischen Stephan in den Bamberger Dom läuft und dabei vor dem ewigen Licht zurückscheut. Der junge Stephan begreift, daß er an einem heiligen Ort ist und schließt sich nach dieser Erfahrung dem Christentum an. Einen wichtigen Anteil des ungarischen Sagenkreises um Stephan bilden die Geschichten über den Kampf gegen die Heiden. Viele Legenden, die bis in die Neuzeit tradiert wurden, handeln vom Sieg über den rebellischen Stammesführer Koppány, wobei nach diesen Sagen Stephan aus den Kämpfen nicht immer als Sieger hervorging. So geschah es zum Beispiel, daß die noch heidnischen Szekler, die Stephan in Siebenbürgen zum Christentum bekehren wollte, sein Heer schlugen. Damals verbog sich nach der Legende das Kreuz an der Heiligen Krone. Bei den Tschangos von Gyimes, einer ungarischen Volksgruppe in den östlichen Karpaten, ist eine Sage bekannt, die mit den Sagenkreisen um das Schwert von Attila und um König Artus Ähnlichkeiten aufweist. Nach dieser Legende liegt das Schwert Stephans begraben; wenn es wieder an die Erdoberfläche komme, werde das Schicksal der Welt entschieden werden. Verwandt damit ist die slowakische Sage, die auch mit dem Kyffhäuser-Legendentyp in Verbindung steht und Anfang des 20. Jahrhunderts aufgezeichnet wurde. Danach sind Schäfer des slowa539

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kischen Dorfes Oščadnica in einer Berghöhle auf Geisterreiter getroffen. Unter ihnen befand sich auch der heilige Stephan, der, durch die Störenfriede erwacht, die Antwort gab: „Es ist noch nicht die Zeit gekommen“. Es gab ferner eine Reihe von Gesängen und Balladen um Stephans Gestalt, wovon heute nur Bruchstücke erhalten sind. Im Volksbrauchtum ist sein Gedenken dafür umso lebendiger geblieben. Die beiden letzten Tage des Faschings, Rosenmontag und Fasnachtsdienstag, bezeichnen beispielsweise die Ungarn in der Moldau als Tage des heiligen Stephan. An diesen beiden Tagen, an denen man östlich von den Karpaten den Winter verabschiedet, erinnern Feierlichkeiten mit Masken und Kostümen an den König. Die meisten Festtagsbräuche im Zusammenhang mit Stephan gibt es allerdings bis heute am 20. August, am Tag seiner Heiligsprechung. VI. Der Stephanstag Der Festtag Stephans, der sich mit seiner Heiligsprechung im Land verbreitete, wurde in die Liturgiebücher der Kirche und in die Festtagskalender aufgenommen. Besonders Benediktiner, Prämonstratenser, Johanniter und Pauliner pflegten sein Gedenken. Die Zünfte wählten den heiligen König häufig zu ihrem Schutzheiligen, und Bürger in den mehrheitlich von Deutschen bewohnten Städten betrachteten ihn ebenfalls als Schutzpatron. Sein Festtag wurde mit Prozessionen, Reiterfestspielen, Schwerttänzen und Wettschießen besonders dort begangen, wo ihm geweihte Kirchen, Klöster oder Kapellen standen. Schon im mittelalterlichen Ungarn gab es rund 300 Kirchen, die nach ihm benannt waren. Die Anzahl der Orte, die seinen Namen trugen, kann mit mehreren Dutzend veranschlagt werden. Verehrung und Festtag wurden im Laufe der Jahrhunderte vor allem dadurch vorangetrieben, daß die Person des heiligen Königs eng mit der in Ungarn blühenden Marienverehrung verbunden wurde. Der Legende nach hatte Stephan I. vor seinem Tod das Land der Gnade der Jungfrau Maria anvertraut; auch für die sakralen Darstellungen wurde häufig diejenige Szene gewählt, in welcher der König die Krone des Landes der Gottesmutter darbietet. Dieser Darstellung Stephans I. lag weniger eine christliche Demutshaltung als vielmehr ein politisches Kalkül zu Grunde, war doch das ungarische Königreich im Rahmen der zeitgenössischen Machtkämpfe zwischen Papsttum und Kaiser häufig gezwungen, politisch Stellung zu beziehen. Schrieb Papst Gregor VII. noch 107� in einem Brief an den ungarischen König Salomon, daß Stephan I. Ungarn dem Apostel Petrus angetragen hatte, so wurde zur Zeit der ungarischen Könige Ladislaus I. und Koloman als Ausdruck der gewandelten Haltung gegenüber dem Heiligen Stuhl und im Zeichen der Realpolitik der Gedanke des „Landes Mariä“, des Regnum Marianum, hervorgekehrt und unter den Anjou-Königen weiter gefestigt. Das Zeitalter der Reformation, als die Mehrzahl der mittelalterlichen Kultstätten in protestantische oder osmanische Hände geriet, ließ auch den Stephanskult nicht unberührt: Die Altarbilder und Statuen des heiligen Königs wurden zerstört, die Kultstätten 540

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König Stephan I. steht für die Geschichte Ungarns in Europa, die mit der Christianisierung der Magyaren während seiner Regierung ihren Anfang nahm. Die besondere Stellung des Königs kam nicht nur in seiner Heiligsprechung zum Ausdruck, sondern auch in der Verehrung seiner königlichen Attribute wie Zepter und Krone. Besonders die Krone erhielt im ungarischen Staatsgedanken eine in Europa unvergleichbare Stellung, obwohl die heutige Stephanskrone nicht mit der Königskrone Stephans identisch ist. Sie symbolisiert das ungarische Staatswesen, ja sie ist die Verkörperung des Staatswesens selbst. Die hier abgedruckte, aus der Chronica Hungarorum des Johannes de Thurocz von 1�88 stammende Abbildung zeigt Stephan im königlichen Ornat. Die Bedeutung der Krone wird durch die beiden Engel, die die Krone tragen, noch unterstrichen. Bildnachweis: Kőszeghy, Péter (Hg.): Magyar Művelődéstörténeti Lexikon [Ungarisches Kulturgeschichtliches Lexikon]. Budapest 2007, Bd. 7, 224.

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verkamen oder gerieten in Vergessenheit. Erst im Zuge der Gegenreformation, als der Graner Erzbischof Péter Pázmány mit Hilfe der Jesuiten auf das mittelalterliche ikonographische Element – Stephans Kronen-Darbietung an die Jungfrau Maria – zurückgriff, erhielt die Verehrung Stephans neuen Aufwind. Die Verbindung der Stephansverehrung mit dem Marienpatronat wurde unter Königin Maria Theresia neu belebt, um die Integration des Landes in die österreichische Gesamtmonarchie voranzutreiben. Sie förderte den Kult unter anderem mit der Einleitung eines Stephansfestes am 20. August 177�. Ab 1819 erhielt der Stephanstag auf Initiative von Erzherzog Joseph, Palatin von Ungarn, allmählich einen kirchlich-nationalen Doppelcharakter. Der Festtag wurde zunächst nur in der Hauptstadt begangen, später jedoch vom Statthaltereirat zu den „Normtagen“, das heißt zum gemeinsamen Fest von Katholiken und Protestanten, erklärt. Zur Zeit des Neoabsolutismus in den 1850er Jahren wurde der Festtag immer mehr zum Ausdruck der ungarischen Autonomiebestrebungen, bis er schließlich nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 von den nationalen Eliten, unabhängig von ihrer konfessionellen Zugehörigkeit, akzeptiert und 1891 durch das ungarische Parlament zu einem nationalen Fest- und Feiertag deklariert wurde. Dieser Tag war auch im Leben der Bauern in Ungarn bedeutungsvoll, denn er war traditionellerweise der letzte Tag der Ernte, woran sich verschiedene Erntedankfeiern anknüpften. Die Verehrung des heiligen Stephan am 20. August änderte sich in ihrer Bedeutung von Zeit zu Zeit. So versuchte etwa die kommunistische Partei ab 19�8 das Fest nach sowjetischem Modell zum Tag des neuen Brotes und der Verfassung umzuwandeln. Die Verehrung blieb jedoch in ihrer Grundlage unverändert, indem sie jene Leistungen des ersten ungarischen Königs anerkannte, die in dem tausendjährigen Bestehen des ungarischen Staates verkörpert wurden. Die katholische Kirche hielt dagegen die Verehrung des heilig gesprochenen Königs mit Festtagsprozessionen am 20. August aufrecht, auch wenn diese zwischen 19�8 und 1988 nur innerhalb der Kirchengebäude stattfinden durften. Die Bedeutung des Tages ist nach wie vor hoch, wovon nicht nur die an diesem Tag vielerorts abgehaltenen Kirchweihfeste und Festtagsmessen zeugen, an denen sich die meisten katholischen Ungarn beteiligen, sondern auch die gleichzeitig dem Tourismus dienenden zahlreichen Kulturprogramme, Spektakel und das aufwendige Feuerwerk über der Donau in Budapest. VII. Auswahlbibliographie a) Biographien und Legenden LasKo, Osvaldus de: Sermones de sanctis Bigae Salutis. Hagenau 1�97; teMesvar, Pelbartus de: Pomerium sermonum. Sermones Pomerii de sanctis. Pars estivalis. Hagenau 1�99; voLf, György (Hg.): Érdy-kódex [Érdy-Codex]. Budapest 1876; I. István király verses históriája [Die Versgeschichte König Stephans I.]. In: danKó, József (Hg.): Vetus hymnarium ecclesiasticum Hungariae. Budapestini 1893; Chronici hungarici compositio saeculi XIV. (Chronice de gestis Hungarorum pictum. Képes Krónika). In: szentpétery, Imre (Hg.): Scriptores Rerum Hungaricum, Bd. 1. Budapestini 1937, 239–505; Szent

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Der heilige Stephan, König von Ungarn István király nagy legendája. Legenda S. Stephani regis maior. In: szentpétery, Imre (Hg.): Scriptores Rerum Hungaricum, Bd. 2. Budapestini 1938, 377–392; Szent István király kis legendája. Legenda S. Stephani minor. In: szentpétery, Imre (Hg.): Scriptores Rerum Hungaricum, Bd. 2. Budapestini 1938, 393–�01; Szent István király legendája Hartvik püspöktől. Legenda S. Stephani regis maior et minor atque legenda ab Hartvico episcopo conscripta. Ebd., 401–440; Chronica Hungarorum. Finita Bude Anno Domini MCCCCLXXIII in uigilia penthecostes per Adream Hess [Buda 1�73]. Budapest 1973; boGyay, Thomas von (Hg.): Die heiligen Könige. Graz/Wien/Köln 1976; ransanus, Petrus: Epithoma Rerum Hungarorum. Hg. v. Péter KuLcsár. Budapest 1977; thuróczy, János: A magyarok krónikája. (Az 1�88-ban Augsburg-ban nyomtatott, az országos Széchenyi Könyvtárban őrzött ősnyomtatvány színezett fametszetének hasonmásával illusztrálva) [Die Chronik der Ungarn (Faksimile des in der Széchényi-Nationalbibliothek aufbewahrten Wiegendruckexemplars, gedruckt 1�88 in Augsburg)]. Budapest 1978; Kovács v., Sándor (Hg.): Temesvári Pelbárt válogatott írásai [Ausgewählte Schriften von Pelbart von Temeswar]. Budapest 1982; ders. (Hg.): A magyar középkor irodalma [Die Literatur des ungarischen Mittelalters]. Budapest 198�; ransanus, Petrus: A magyarok történetének rövid foglalata [Kurze Geschichte der Ungarn]. Hg. v. László bLazovich und Erzsébet GaLántai. Budapest 1985; thurocz, Johannes de: Chronica Hungarorum, Bd. 1. Hg. v. Erzsébet GaLántai und Gyula Kristó. Budapest 1985; bonfini, Antonio: A magyar történelem tizedei [Die Jahrzehnte der ungarischen Geschichte]. Hg. v. Péter KuLcsár. Budapest 1995; érszeGi, Géza (Hg.): Árpád-kori legendák és intelmek [Legenden und Mahnungen aus der Árpáden-Zeit]. Budapest 2001; bonfini, Antonius de: Rerum Ungaricum Decades, Bd. 1–4. Budapest o. J.

b) Darstellungen serédi, Jusztinián (Hg.): Szent István-emlékkönyv [Sankt Stephans-Gedenkbuch], Bd. 1–3. Budapest 1938; schreiber, Georg: Stephan I. der Heilige. König von Ungarn (997–1038). Eine hagiographische Studie. Paderborn 1938; ders.: Stephan I. in der deutschen Sakralkultur. Budapest 1938; boGyay, Tamás: Stephanus rex. Wien/München 1976; Györffy, György: István király és műve [König Stephan und sein Werk]. Budapest 1977; ders.: König Stephan der Heilige. Budapest 1988; töröK, József (Hg.): Doctor et apostolus. Szent István-tanulmányok [Doctor et apostolus. Beiträge über den hl. Stephan]. Budapest 1994; sinKó, Judit: Zur Entstehung der staatlichen und nationalen Feiertage in Ungarn (1850– 1991). In: brix, Emil/steKl, Hannes (Hg.): Der Kampf um das Gedächtnis. Öffentliche Gedenktage in Mitteleuropa. Wien 1997, 251–271; MaGyar, Zoltán: Szent István a magyar kultúrtörténetben [Der heilige Stephan im ungarischen Kulturkreis]. Budapest 1998; KLaniczay, Gábor: Az uralkodók szentsége a középkorban [Das Heiligtum der Herrscher im Mittelalter]. Budapest 2000; MaGyar, Zoltán: Szent István a néphagyományban [Der heilige Stephan im Volksbrauchtum]. Budapest 2000; zsoLdos, Attila (Hg.): Saint Stephen and his Country. A Newborn Kingdom in Central Europe. Essays on Saint Stephen and his Age. Budapest 2001; Kristó, Gyula: Szent István király [Der heilige König Stephan]. Budapest 2001; KLaniczay, Gábor: Holy Rulers and Blessed Princesses. Dynastic Cults in Medieval Central Europe. Cambridge 2002; veszpréMy, László (Hg.): Szent István és az államalapítás [Der heilige Stephan und die Staatsgründung]. Budapest 2002; KliMó, Árpád von: Nation, Konfession, Geschichte. Zur nationalen Geschichtskultur Ungarns im europäischen Kontext (1860–19�8). München 2003; MaGyar, Zoltán: Az Árpád-ház szentjei [Die Heiligen des Árpádenhauses]. Budapest 2005; ders.: Motif-Index of Legends of Early Hungarian Saints. Herne 2009; ders.: Hungarian Royal Saints. Herne 2011.

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Der heilige Gerhard, Bischof von Tschanad I. Zusammenfassung. – II. Biographie. – III. Der liturgische Kult. – IV. Gedenk- und Kultstätten. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der heilige Gerhard ist der erste Märtyrerbischof Ungarns, eine symbolische Gestalt des ungarischen Christentums. Sein mittelalterlicher Kult war weniger bedeutend als der der Heiligen aus dem Árpádenhaus, aber in der Galerie der ungarischen Heiligen war er immer vorhanden. Seine Hauptkultstätten in Ungarn wurden im Laufe der Jahrhunderte zerstört. Erst ab dem 19. Jahrhundert entstanden aufgrund kleinerer Reliquien, die aus Murano zurückerhalten werden konnten, neue Erinnerungsstätten. Das Verhältnis der politischen Macht zu Gerhard ist seit dem Ende des 19. Jahrhunderts abhängig von deren jeweiliger Stellung zum Christentum. Ihn zu feiern – mitunter auch auf recht demonstrative Weise – wurde im 20. Jahrhundert anläßlich der Jubiläen möglich. Seit dem Systemwechsel von 1989 erneuerte sich mit dem auflebenden Kult der ungarischen Heiligen auch die Gerhard entgegengebrachte religiöse Verehrung.

II. Biographie Das Leben Gerhards (ungarisch Gellért, um 980 – 2�. September 10�6) ist vor allem aus hagiographischen und liturgischen Quellen bekannt. Da die Zahl dieser Quellen klein ist und die Werke überdies nicht eindeutig datierbar sind, gibt es nur wenige belegbare Angaben zu seinem Leben und Wirken. Auf Gerhards italienische Herkunft weisen seine beiden Legenden hin. Dagegen erzählt nur die interpolierte Legenda maior, daß er ein Abkömmling der reichen venezianischen Patrizierfamilie Sagredo war und auf Wunsch seiner Eltern in das Benediktinerkloster San Giorgio gekommen sei, wo man ihn nach seinen Studien zum Prior und später zum Abt gewählt habe. Möglicherweise vertrat Gerhard eine vom heiligen Romuald beeinflußte und mit dem Eremitentum sympathisierende Benediktinerrichtung. Während seiner Pilgerreise nach Jerusalem war Gerhard um 1020, zur Herrschaftszeit Stephans I., nach Ungarn gekommen. Auf Ansuchen des Königs hin unterbrach er seine Reise und wurde der Legenda maior nach zum Erzieher des Thronfolgers Emerich. Andere Quellen, wie die Legenden der heiligen Stephan und Emerich, belegen dies allerdings nicht. Gerhard lebte lange Zeit als Eremit in der Nähe des Klosters Bél im Bakonygebirge nördlich des Plattensees, was beide Legenden bezeugen. Von dort berief ihn der König an die Spitze des 1030 gegründeten Bistums Maroschburg. Die Legenda maior schildert ausführlich, wie Stephans Heeresführer Csanád den sich gegen den König auflehnenden Stammesfürsten Ajtony im Südosten des Landes 544

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besiegt und dessen Herrschaftsgebiet dem direkten Einfluß des Königs unterstellt hatte. Das Zentrum des Territoriums des vom byzantinischen Kaiser getauften Ajtonys war Maroschburg, das nach Ajtonys Niederlage den Namen Csanáds erhielt. Beide Namensformen wurden lange Zeit für Stadt und Bistum abwechselnd verwendet. Die Organisation des Bistums Maroschburg/Tschanad, das teilweise noch heidnisch war, bedeutete eine große Herausforderung, der Gerhard allerdings gewachsen war. Er erbaute an der Marosch einen Bischofsdom, den er dem Patrozinium des heiligen Georg unterstellte, und gründete ein Benediktinerkloster zu Ehren der Jungfrau Maria, das er als seine Beerdigungsstätte bestimmte. Gerhards Marienverehrung, die von beiden Legenden betont wird, ähnelt der von König Stephan I., der sein Land dem Schutz der Jungfrau Maria anempfahl. Gerhard hatte mit Sicherheit Einfluß auf den König ausgeübt, und so konnten beide Initiatoren des besonderen Marienkults in Ungarn werden. Gerhard gründete in Maroschburg/Tschanad neben dem Dom eine Schule, organisierte die Priesterausbildung, predigte und taufte unermüdlich. Obwohl er an der Ostgrenze des lateinischsprachigen Europa wirkte, pflegte er nachweislich Kontakte zu dessen Zentren. So widmete er seine theologische Erörterung Deliberatio supra hymnum trium puerorum einem deutschen Benediktiner namens Isingrim. Die Deliberatio kommentiert das im Offizium gesungene Canticum, den Lobgesang der drei Jünglinge im Feuerofen (Dan 3, 57–65). Das Werk ist mehr eine kontemplative, mystische Meditation als ein theologischer Traktat, ganz singulär in Stil, Grammatik und Wortgebrauch. Gerhards in der Deliberatio genannten übrigen Werke sind verloren gegangen. Als Bischof nahm Gerhard an der Landespolitik teil. In den Thronzwistigkeiten nach dem Tod Stephans I. trieb ihn sein Gerechtigkeitsempfinden in eine offene Konfrontation zum neuen König. Zum Verhängnis wurde ihm der 1046 ausgebrochene Heidenaufstand, der die inneren Machtkämpfe begleitete. Nach der Legende wurde er zusammen mit drei anderen Oberhirten, die sich nach Pest begaben, um die aus der Verbannung zurückgerufenen Herzöge András und Levente zu empfangen, von den Heiden an der Donaufähre auf der Ofener Seite am 24. September 1046 getötet. Gerhards Leichnam überführte man einige Jahre später nach Tschanad und bestattete ihn seinem Willen gemäß im Benediktinerkloster. 1083 wurde Gerhard auf Betreiben von König Ladislaus I. zusammen mit dem Staatsgründer, König Stephan I., dessen Sohn Emerich und den Eremiten András und Benedek von Papst Benedikt IX. heiliggesprochen. 1092 erklärte die Synode von Szabolcs unter dem Vorsitz des Königs den Todestag Gerhards, den 24. September, zum Feiertag. III. Der liturgische Kult Eine Voraussetzung des liturgischen Kults des Heiligen ist seine Legende in Form von liturgischen Lesungen für die Nokturnen seines Festes, doch auch abgesehen von der Liturgie ist die Legende eine Hauptstütze des Heiligenkults. Für den Kult ist die historische Authentizität der Legende, wie sie von der Nachwelt in der Regel verlangt wird, 545

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kein erstrangiger Gesichtspunkt. Über den heiligen Gerhard sind zwei miteinander verwandte Legenden erhalten: eine in liturgische Lesungen eingeteilte kürzere Variante, in der Fachliteratur als Legenda minor bekannt (Passio beatissimi Geradi, BHL 3426), und eine romanhafte Legendenredaktion, bestehend aus 28 Kapiteln, die Legenda maior (De sancto Gerhardo episcopo Morosiensi et martyre regni Hungarie, BHL 3424). Um die Datierung der beiden Legenden, ihr Verhältnis zueinander und zu den ungarischen Chroniken des 13. und 14. Jahrhunderts besteht seit vielen Jahrzehnten ein Streit unter Historikern und Philologen. Die Frage ist, ob die knapp gehaltene Legenda minor die glaubwürdigere, frühe Quelle ist, die man später romanhaft erweiterte, oder ob es sich bei der Legenda maior um die ursprüngliche Variante handelt, die für den liturgischen Gebrauch verkürzt und im 14. Jahrhundert modernisiert wurde. Die Glaubwürdigkeit der Legenda maior war zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch unumschränkt. Sie diente als Basis für die ersten Monographien über Gerhard; in der breiteren Öffentlichkeit dominiert das darin zum Vorschein kommende Bild des Heiligen bis heute. Das Gewicht des liturgischen Kults eines Heiligen zeigt sich daran, wie viele eigene Texte sich in den Antiphonen, Responsorien oder Hymnen des Offiziums befinden. Bisher schien es, als sei Gerhards liturgischer Kult in Ungarn nicht bis zu einem eigenen Offizium gediehen, einzig eine magnificat-antiphon war bekannt (A progenie in progenies); die übrigen Texte waren dem commune martyrium entnommen. Allerdings sind die mittelalterlichen liturgischen Quellen des Bistums Tschanad vollständig vernichtet, so daß nichts über die Praxis des liturgischen Kults bekannt ist. Gerhards einziges bisher bekanntes Reimoffizium entstand in Venedig gemäß der „Kleineren Legende“ für den Dom San Marco (Analecta Hymnica 45a). Kürzlich konnte jedoch in einem Brevier, abgefaßt im Agramer Ritus des 1�. Jahrhunderts, ein unbekanntes Gerhard-Offizium entdeckt werden. Wie Tschanad gehörte auch Agram zum Erzbistum Kalocsa. Unter den Antiphonen des niveauvollen Reimoffiziums stammen sechs aus der Legenda maior oder deren früheren Varianten und stellen Gerhard als Emerichs Erzieher und einen in den Kirchengesetzen und der Theologie erfahrenen Benediktinermönch dar; sie beschreiben auch Gerhards Tod. Das im Brevier enthaltene Responsorium wiederum weist auf Gerhards Aufenthalt in Gallien hin, was bisher nur in der Deliberatio vorgekommen war. Die Herausgeber des wiederentdeckten Textes, Andrea Kovács und Miklós Földváry, gehen davon aus, daß das Offizium wahrscheinlich dem Tschanad-Kult des heiligen Gerhard im 14. Jahrhundert diente, was von der Königin Elisabeth, Witwe König Karl Roberts und Verehrerin Gerhards, angeregt worden war. In gedruckten Brevieren des ausgehenden Spätmittelalters finden sich verkürzte Varianten der „Kleineren Legende“, doch war die Legenda minor auch außerhalb des liturgischen Rahmens bekannt. Für die Legenda aurea des Jacobus de Voragine, ein populäres Legendarium des 13. Jahrhunderts, entstand am Ende des 15. Jahrhunderts eine ungarische Ergänzung, die als Legenda sanctorum regni Hungarie in Lombardica historia non contente zweimal gedruckt wurde: in Straßburg um 1�86 und in Venedig 1�98. In diesen Druckwerken ist Gerhard durch die Legenda minor vertreten. Daß allerdings Gerhard in den Predigtsammlungen der beiden bedeutendsten ungarischen Franziska546

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nerprediger Pelbárt von Temeswar und Osvát von Laskó keinen eigenen Sermon erhielt, zeigt dessen eingeschränkte Popularität. Lediglich in Pelbárts Pomerium de sanctis folgt erst nach der 65. Predigt eine Gerhard-Legende, ein Auszug aus der Legenda maior. Zu Predigtzwecken war diese farbenfrohe Legende geeigneter als die Legenda minor. Der Band erschien zwischen 1�99 und 1521 insgesamt zwanzigmal von Hagenau über Straßburg bis Paris und Lyon. Aus dem Jahr 1511 ist auch eine etwas bearbeitete Krakauer Ausgabe bekannt. 1526 wurde Pelbárts Version schließlich erstmals ins Ungarische übersetzt. Damals stellte ein Kartäuser ein Predigtbuch und Legendarium für Nonnen und Laienbrüder, die in der Regel der lateinischen Sprache nicht mächtig waren, in ungarischer Sprache zusammen. In diesen sogenannten Érdy-Kodex nahm er auch Pelbárts Version der Gerhard-Legende auf. Fast gleichzeitig mit der ungarischen Übersetzung erfuhr die Legenda maior eine Überarbeitung ganz anderer Art. 1519 erschien das Büchlein Divus Gerardus episcopus et martyr von Giulio Simone, einem in Rom tätig gewesenen sizilianischen Humanisten. Aus dem Widmungsbrief für den kleinen Band geht hervor, daß der Tschanader Domherr Clemens in einem sehr alten Buch („liber antiquissimus“) auf Gerhards Lebenslauf gestoßen sei. Der Inhalt des Textes gefiehl ihm ungemein, doch empfand er den Stil des lateinischen Textes als barbarisch („barbarie et tenebris latinitate“) und wandte sich an Simone, Lektor der Universität Rom; dieser sollte den Stil des Textes verschönern, ganz im Sinn des Renaissance-Geschmacks, der am Tschanader Bischofssitz unter Bischof Miklós Csáki Verbreitung gefunden hatte. Die einzige erhaltene bildliche Darstellung der Gerhardlegende ist dem Hof der Anjoukönige zu verdanken. Um 1330 bis 1340 entstand vermutlich auf Bestellung König Karl Roberts das sogenannte Ungarische Anjou-Bilderlegendarium, das die Lebensgeschichten Christi und der Heiligen nicht in der Kalenderordnung der Feste, sondern der Hierarchie der Heiligen folgend in Bildern erzählt. Das Werk ist nur fragmentarisch erhalten und zudem auf sechs verschiedene Sammlungen verteilt, wobei jener Teil im Vatikan, in dem sich auch die Gerhardlegende befindet, der umfangreichste ist. Die Hauptquelle der Legenden ist die Legenda aurea, ergänzt um die ungarischen Heiligen. Gerhards Legende ist auf zwei Seiten mit je vier Bildern dargestellt. Die ersten vier Bilder zeigen ihn als Pilger vor König Stephan, als Eremit ein Buch schreibend, seine Bischofsweihe und als Prediger. Die nachfolgenden vier Bilder stellen seinen Tod, die Überführung seines Leichnams nach Tschanad und seine Bestattung dar. Zwei andere Märtyrerbischöfe, Stanislaus aus Polen und Thomas von Canterbury, die im Kodex vor und nach Gerhard dargestellt werden, erhielten ebenso viele Bilder. IV. Gedenk- und Kultstätten Die Erinnerung an den heiligen Bischof Gerhard wird hauptsächlich in seiner Geburtsstadt Venedig und auf dem Schauplatz seines Wirkens, in Ungarn, gepflegt. Sein venezianischer Kult wird hier nicht behandelt, doch es muß erwähnt werden, daß in Ungarn 5�7

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Gerhards Reliquien zusammen mit seinen Hauptkultstätten im Laufe der Jahrhunderte zugrunde gegangen waren und alle seine heute bekannten Reliquien in Murano erhalten geblieben sind. Von dort kehrten einige während des 19. und 20. Jahrhunderts nach Ungarn zurück. In Ungarn gedenkt man Gerhards jährlich am 24. September im Rahmen der Liturgie im ganzen Land, an drei Schauplätzen seines Lebens aber ist das Gedächtnis an ihn besonders lebendig: in Bakonybél, wo er als Eremit lebte, in seinem Bistum und am Ort seines Martyriums. In Bakonybél, wo er beiden Legenden gemäß sieben Jahre als Eremit lebte, entstand eine kleine Gedenkstätte. Die Legenda maior verbindet einen liebenswerten hagiographischen Topos mit seiner Person: Ein Reh und eine verletzte Wölfin fanden bei ihm Schutz. Der heutige Ort ist ein beliebtes Ausflugs- und Urlaubsziel, wo eine Allee zu der 1825 dem heiligen Gerhard geweihten Kapelle führt. Vor der Kapelle wurde anläßlich des 950. Todestages des Heiligen 1996 eine Statue aufgestellt, das Werk Sankt Gerhard und das Reh von István Szabó. Für den Kult des heiligen Gerhard war bis zum Ende des Mittelalters Tschanad, der Sitz des Bistums und Gerhards Bestattungsort, am wichtigsten. Die Legenda maior beschreibt die Geschichte der Überführung von Gerhards Leichnam von Pest nach Tschanad, zu der es angeblich sieben Jahre nach seinem Martyrium kam. Der Legende gemäß brach zwischen dem Kloster und dem Kapitel ein Streit darüber aus, ob er im Dom oder im Kloster bestattet werden solle. Schließlich beendete ein Wunder die Auseinandersetzung zugunsten des Klosters. Gemäß der Legenda maior sei Königin Elisabeth, die für ihre Religiosität und auch für ihre eifrigen Kloster- und Kirchengründungen bekannt war, 1361 durch das Verdienst des heiligen Gerhard von einer Krankheit genesen. Deshalb ließ sie aus Gold und Silber eine Grabstätte im Kloster errichten, wo die Reliquien des Heiligen aufgehoben werden sollten. Die Jahreszahl 1361 ist, wie alle Jahreszahlen in der Legende, nicht eindeutig belegbar. Belegt ist dagegen, daß sich Bischof György Kapronczai, der auch am Königshof in diplomatischen Diensten stand, bereits 13�5 an Papst Clemens VI. wandte und um Ablaß für die den Dom besuchenden Gläubigen an den Festen des heiligen Georg, Namenspatron des Doms, und des heiligen Gerhard bat. Auch Gerhards Reimoffizium, das seine Tugenden betont, kann für den Dom verfaßt worden sein. 151� wurden in dem von György Dózsa geführten Bauernkrieg Kloster und Dom angegriffen. Im April 1526 meldete der päpstliche Gesandte Antonio Burgio, in Ungarn wisse niemand, wo sich die Reliquien des heiligen Gerhard befänden. Daraus kann der Schluß gezogen werden, daß die Reliquien zur Zeit des Bauernkrieges verschwanden. Dagegen berichtete 1519 Domherr Clemens, der in Rom die Gerhard-Legende neu bearbeiten ließ, daß sich Gerhards Gebeine im Dom befänden. 1526 verwüsteten die Osmanen Tschanad, damals wird die Spur der dort aufbewahrten Reliquien endgültig verloren gegangen sein. 1552 nahmen die Osmanen die Stadt ein, was nicht nur das Ende von Tschanad als Bischofssitz bedeutete, sondern auch das Ende der mittelalterlichen Stadt: Diese wurde während der osmanischen Herrschaft in einem Maße zerstört, daß heute nicht einmal ihre Topographie rekonstruierbar ist. 5�8

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Der Kult Gerhards ging zwar nicht mit seinem Bistum unter. Mit der osmanischen Herrschaft, in deren Folge ein Bevölkerungsaustausch in Südostungarn stattfand, kam es jedoch zu einem tiefen Bruch in der Verehrung des Märtyrerbischofs. Die Erinnerung an den Heiligen wurde vor allem durch die Jesuiten wachgehalten. Die erste bekannte Darstellung des Heiligen in der Frühen Neuzeit stammt aus der ersten katholischen Übersetzung der Bibel ins Ungarische aus der Hand des Jesuiten György Káldi (1626). Gerhard wurde auf dem Titelblatt als einer der drei wichtigsten ungarischen Bischöfe mit den Attributen eines Bischofs, dem Ornat und dem Hirtenstab, und dem Symbol des Märtyrertums, der Lanze, abgebildet. 1668 erschien die Sammlung der Salzburger St. Peter-Abtei mit 365 Heiligenbildern, die in den Andachtsübungen der Mitglieder der marianischen Kongregation, eine Laienorganisation der Jesuiten, verwendet wurden, indem sie unter den Mitgliedern regelmäßig getauscht beziehungsweise auf den Zusammenkünften der Mitglieder verlost wurden. Gerhard erscheint in diesen Darstellungen als Marienverehrer. Die zahlreich erhaltenen Andachtsbilder aus dem 17. und 18. Jahrhundert weisen auf die Verehrung des Heiligen im Rahmen des Regnum Marianum hin. Während der Herrschaft Maria Theresias wurde auch der Versuch unternommen, den heiligen Gerhard als Verfechter der katholischen Kirche hervorzukehren. Das Komitat Tschanad erhielt 1761 von der Königin ein neues Wappen, in dessen Mittelpunkt Gerhard mit den bischöflichen Attributen und mit denen seines Martyriums abgebildet wird. Als infolge des Vertrags von Trianon im Jahr 1920 der größere Teil des Komitats Rumänien zugesprochen wurde, schaffte man zwar das ungarische Wappen ab; aber nach der politischen Wende 1989 nahm das ungarische Komitat Csongrád, zu dem heute auch ein kleiner Teil des historischen Komitats Tschanad gehört, das alte Wappen mit Gerhards Gestalt in seinem neuen Wappen wieder auf. Die katholische Kirche pflegte den Gerhard-Kult im 19. Jahrhundert weiter, doch erst anläßlich des neunhundertjährigen Jubiläums der Christianisierung Ungarns erhielt die Erinnerung an Gerhard einen neuen Aufschwung. Im Jahr 1900 veranstaltete der Tschanader Bischof Tamás Dessewffy eine große Wallfahrt von Temeswar, dem Sitz des Bistums, zu den Reliquien des heiligen Gerhard nach Murano und in die Kirche auf der venezianischen Sankt-Georg-Insel, wo er eine Gedenktafel zu Ehren des Heiligen anbrachte. 1901 entstand auch der Plan, am Gellértberg, jenem Ort in Budapest, wo Gerhard sein Martyrium erlitten hatte, ein imposantes Denkmal zu errichten. Hier war Gerhard der Legenda maior gemäß von den Heiden in einem Karren in die Tiefe hinabgestoßen worden; bereits im 13. Jahrhundert hatte man begonnen, den Berg – als Kelenberg oder deutsch damals auch als Blocksberg bekannt – nach dem heiligen Gerhard zu benennen. 190� konnte der Plan realisiert werden: An der zur Donau gerichteten Seite des Berges wurde eine sieben Meter hohe Bronzestatue Gerhards aufgestellt, die rasch zu einem Wahrzeichen Budapests wurde. Das Werk von Gyula Jankovits steht in der Mitte einer Halbkreisarkade und zeigt den Missionsbischof, der in seiner erhobenen rechten Hand ein Kreuz gen Himmel hält. Hier wurde das ikonographische Attribut der Lanze oder auch der Palme mit einem neuen Element, dem Kreuz, erweitert. Die Kosten der Statue, 549

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Der Jesuitenpater Gábor Hevenesi (1656–1715) veröffentlichte 1692 ein Werk über die ungarischen Heiligen. Von den Kupferstechern Schott und Hoffmann in Wien ließ er etwa fünfzig Bilder anfertigen, die in der späteren ikonographischen Darstellung der ungarischen Heiligen von großer Wirkung waren. Der heilige Gerhard wird im Bischofsornat, in seiner rechten Hand mit einem Buch als Symbol seiner literarischen Tätigkeit, abgebildet, wobei die auf dem Buch plazierten Steine auf sein Martyrium verweisen. In seiner linken Hand hält Gerhard den Hirtenstab und die Lanze. In Hevenesis Werk erscheint somit zum ersten Mal das ganze Ensemble von Gerhards späteren ikonographischen Merkmalen. Bildnachweis: Hevenesi, Gabriel: Ungaricae Sanctitatis indicia [...]. Tyrnaviae 1692, 78.

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welche die einst enge Verflechtung von Christentum und Monarchie symbolisiert, übernahm Kaiser Franz Joseph I. Heute tragen nicht nur der Berg, sondern auch ein Platz und ein Bad am Fuße des Gellértbergs den Namen des Bischofs. An jener Stelle, an dem sein Kopf laut der Legenda maior auf einem Stein zertrümmert wurde, baute man eine ihm geweihte Kirche. Die seit dem 13. Jahrhundert in den Quellen häufig belegte Pfarrkirche war allerdings am Ende des Mittelalters schon verschwunden, heute ist nicht einmal ihre Stelle genau identifizierbar. Ein später Nachfolger dieser Kirche ist die 1992 geweihte Pfarrkirche des heiligen Gerhard im heutigen Stadtteil Kelenföld. An ihrem Giebel befindet sich eine Statue mit der Darstellung des Martyriums des heiligen Gerhard von Imre Varga. Zur Zeit des Martyriums im 11. Jahrhundert existierte nur eine Pfarrkirche, die König Stephan I. hatte bauen und zu Ehren der Jungfrau Maria weihen lassen. Sie stand an der Pester Fähre auf dem rechten Donauufer, heute am Pester Brückenkopf der Elisabethbrücke. Am Tage nach Gerhards Ermordung bestatteten ihn der Legenda minor gemäß „fromme Männer“ in der dortigen Kirche. In der Pfarrkirche Assumptio Mariae wird seit neuester Zeit die Verehrung des Heiligen wieder aktiv betrieben. So wurde zum 950. Todestag Gerhards auf Initiative der Pfarrkirche eine Wallfahrt nach Venedig unternommen. Im Jahr 2000 regte der Pfarrer der Kirche die Überführung eines Reliquienteils Gerhards aus Murano nach Budapest an. Die erhaltene Reliquie wurde im Marmorblock des neuen VersusPopulum-Altars, der am 23. März 2002 geweiht wurde, untergebracht. Seither gilt die Kirche als ein nationales Heiligtum. Nach dem Vertrag von Trianon wurde Szeged 1923 der neue Bischofssitz, wo Gerhard in dem zwischen 1879 und 1930 erbauten Dom einen anspruchsvollen Altar erhielt. Die Statue von Nándor Horánszky zeigt ihn im Bischofsornat mit seinem Schüler, dem heiligen Emerich. In Szeged fand auch 19�6 die Feier anläßlich des 900. Todestags Gerhards statt, die zugleich als eine kirchliche Demonstration gegen die drohende Diktatur gedacht war. 1930 wurde auch Temeswar in Rumänien zu einem selbständigen Bistum erhoben, jedoch 19�8 von der rumänischen Regierung zum Dekanat degradiert, weshalb die Bischöfe heimlich geweiht werden mußten. Erst 1990 erhielt es seinen Bistumsrang zurück. Im Jahr 2000, als die römisch-katholische Kirche das zweitausendjährige Jubiläum der Christenheit feierte und die ungarische Kirche gleichzeitig ihr Millennium beging, veranstalteten Endre Gyulai, Bischof von Szeged-Tschanad, und Martin Roos, Bischof von Temeswar, im Sinne des gemeinsamen Gerhard-Kultes zusammen eine Wallfahrt zum Grab des heiligen Gerhard, das sich längst nicht mehr in Tschanad, sondern Dank des venezianischen Kultes in der Muranoer Basilika Santi Maria e Donato befindet.

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Edit Madas

V. Auswahlbibliographie a) Werke batthyány, Ignác (Hg.): Sancti Gerardi episcopi Chanadiensis scripta et acta hactenus inedita cum serie episcoporum Chanadiensium. Albo-Carolinae 1790; siLaGi, Gabriel (Hg.): Gerardi Moresanae aecclesiae seu Csanadiensis episcopi Deliberatio supra hymnum trium puerorum. Turnout 1978; Karácsonyi, Béla/szeGfű, László (Hg.): Deliberatio Gerardi Moresanae aecclesiae episcopi supra hymnum trium puerorum. Elmélkedés. Gellért, a marosi egyház püspöke a három fiú himnuszáról. Szeged 1999.

b) Gerhard-Legenden, liturgische Texte sicuLus, Simon Iulius: Divus Gerardus episcopus et martyr. Romae 1519; Zent Gellérd pispeknek innepéről. In: voLf, György (Hg.): Érdy-kódex. Budapest 1876, 32�–328; De s. Gerardo Cenadiensi [Officium rhythmicum: Aurea iam saecula]. In: dreves, Guido Maria (Hg.): Analecta Hymnica 45a. Liturgische Reimoffizien des Mittelalters. Leipzig 190�, 95–97; Chronici Hungarici compositio saeculi XIV. In: szentpétery, Emericus (Hg.): Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, Bd. 1. Budapest 1937, 336–3�2; Madzsar, Emericus (Hg.): Legenda sancti Gerhardi episcopi. In: szentpétery, Emericus (Hg.): Scriptores rerum Hungaricarum tempore ducum regumque stirpis Arpadianae gestarum, Bd. 2. Budapest 1938 [Reprint 1999], �61–506; banfi, Florio: Vita di San Gerardo da Venezia nel codice 1622 della Biblioteca Universitaria di Padova. In: Benedictina 2 (19�8) 262–330; Levárdy, Ferenc: Magyar Anjou Legendárium [Ungarisches Anjou-Bilderlegendarium]. Budapest 1973, XXIII; Gerhardslegenden. In: boGyay, Thomas von/baK, János/siLaGi, Gabriel (Hg.): Die heiligen Könige. Graz/Wien/Köln 1976, 77–119; MoreLLo, Giovanni/staMM, Heide/ betz, Gerd (Hg.): „Ungarisches Legendarium“ (Codex Vat. Lat. 85�1), Bd. 1–2. Stuttgart/Zürich 1990; cattin, Giulio: Musica e liturgia a Sanc Marco, Bd. 3. Venezia 1990, 29�–298, 160*–172*; Kovács, Andrea/föLdváry, Miklós: Egy ismeretlen Szent Gellért officium (O felicem praesulem) [Ein unbekanntes Sankt-Gerhard-Offizium (O felicem praesulem)]. In: Magyar Könyvszemle 126 (2010) 1–23.

c) Darstellungen Karácsonyi, János: Szent Gellért csanádi püspök élete és művei [Leben und Werk des heiligen Gerhard, Bischof von Tschanad]. Budapest 1887; dedeK crescens, Lajos: Das Leben des heiligen Märtyrers Gerardus, des ersten Bischofs von Csanád. Budapest 1900; Karácsonyi, János: Szent Gellért püspök és vértanú élete [Leben des Bischofs und Märtyrers Gerhard]. Budapest 1925; Juhász, Kálmán: Gerhard, der heilige Bischof von Maroschburg. In: Studien und Mitteilungen zur Geschichte des Benediktiner-Ordens und seiner Zweige �8 (1930) 1–35; Macartney, Carlile Aibner: The Medieval Hungarian Historians. Cambridge 1953, 152–161; ivánKa, Endre: Das „Corpus Areopagiticum“ bei Gerhard von Csanád († 1046). In: Traditio 15 (1959) 205–222; pásztor, Edith: Problemi di datazione della „Legenda maior S. Gerhardi episcopi“. In: Bullettino dell’Istituto Storico Italiano per il Medio Evo e Archivio Muratoriano 73 (1962) 113–1�0; barré, H[enri] C.S.Sp.: L’œuvre Mariale de Saint Gérard de Csanád. In: Marianum 25 (1963) 262–296; Juhász, Kálmán: Das Tschanad-Temesvarer Bistum im Spätmittelalter 1307–1352. Paderborn 196�; pásztor, Edith: Gerardo, vescovo di Csanád. In: Bibliotheca Sanctorum, Bd. 6. Roma 1965, 184–186; KosztoLnyiK, Zoltán: Hungarian cultural policy in the life and writings of Gerard of Csanad. Diss. New York 1969; LecLercq, Jean: Saint Gerard et le monachisme.

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Der heilige Gerhard, Bischof von Tschanad In: Studia Monastica 13 (1971) 13–30; csóKa, J. Lajos: Szent Gellért kisebb és nagyobb legendájának keletkezéstörténete [Entstehungsgeschichte der kleineren und größeren Legende des heiligen Gerhard]. In: horváth, János/széKeLy, György (Hg.): Középkori kútfőink kritikus kérdései. Budapest 197�, 137– 145; JeLenits, István: Cena Agni – mensa Christi. Contribution aux raports de la terminologie eucharistique du moyen âge et de quelques phrases importantes de la Passio et de la Legenda Sancti Gerhardi. In: Acta Antiqua Academiae Scientiarum Hungariae 23 (1975) 3�5–353; Györffy, György: István király és műve [König Stephan und sein Werk]. Budapest 1977, 195–197; borsa, Gedeon: Az 1519. évben nyomtatott Gellért-legenda [Die 1519 gedruckte Gerhard-Legende]. In: Magyar Könyvszemle 96 (1980) 377–38�; Mezey, László: Gellért-problémák [Gerhard-Probleme]. In: Vigilia �5 (1980) 590–598; JeLenits, István: Adalékok legendáink dogma- és liturgiatörténeti vizsgálatához [Beiträge zur dogmen- und liturgiegeschichtlichen Untersuchung der ungarischen Legenden]. In: széKeLy, György (Hg.): Eszmetörténeti tanulmányok a magyar középkorról. Budapest 198�, 227–23�; heinzer, Felix: Neues zu Gerhard von Csanád: Die Schlußschrift einer Homiliensammlung. In: Südost-Forschungen �1 (1982) 1–7; Gerics, József: Auslegung der Nacherzählung mittelalterlicher Quellen in unserer Zeit (Bischof Sankt Gerard von Tschanad über König Aba). In: Acta Historica Academiae Scientiarum Hungaricae 32 (1986) 335–3�8; Györffy, György: Az Árpád-kori Magyarország történeti földrajza [Historische Geographie Ungarns zur Zeit der Arpaden], Bd. 1, �. Budapest 1987, 1998; KLaniczay, Gábor: Il monte di San Gherardo e l’isola di Santa Margherita: gli spazi della santità a Buda nel Medioevo. In: boesch GaJano, Sofia/scaraffia, Lucetta (Hg.): Luoghi sacri e spazi della santità. Torino 1990, 267–28�; KLaniczay, Gábor/Madas, Edit: La Hongrie. In: phiLipart, Guy (Hg.): Hagiographies, Bd. 2. Turnhout 1996, 113–11�, 138–1�0; JotischKy, Andrew: St Gerard of Csanád and the Carmelites: Apocryphal Sidelights on the First Crusade. In: Autor de premiere Croisade (Actes du Colloque de la „Society for the Study of the Crusades and the Latin East“, Clermont-Ferrand, 22–25 juin 1995). Paris 1996, 143–155; tóth, Ferenc (Hg.): In Memoriam Szent Gellért. Makó 1996; siLaGi, Gabriel: Gerhard. In: Mariacher, Bruno u. a. (Hg.): Lexikon des Mittelalters, Bd. 4, Stuttgart/Weimar 1999, Sp. 1312; Madas, Edit: Szent Gellért püspök elveszett homíliái és sermói [Die verlorengegangenen Homilien und Sermones von Bischof Gerhard dem heiligen]. In: dies.: Középkori prédikációirodalmunk történetéből. Debrecen 2002, 13–�8; niero, Antonio: Sul culto di San Gerardo a Venezia. In: érszeGi, Márk Aurél (Hg.): San Gerardo fra Venezia e Ungheria. Venezia 2002, 1�–37; püspöKi naGy, Péter: Szent Gellért püspök-vértanú élete és műve. A Velencéből áthozott ereklye bemutátásának emlékére a Budapest Belvárosi Római Katolikus Főplébánián 2002. március 23. [Leben und Werk des Bischofs und Märtyrers Gerhard, des heiligen. Zur Erinnerung an die Ausstellung der aus Venedig überführten Reliquie in der katholischen innerstädtischen Hauptpfarrkirche von Budapest am 23. März 2002]. Budapest 2002; déri, Balász: Egy Jeromos – idézet Szent Gellértnél – és a bogumilok [Ein Hieronymus-Zitat bei Gerhard dem heiligen]. In: Antik tanulmányok – Studia Antiqua 52 (2008) 67–82.

Edit Madas

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Stanislaus von Krakau I. Zusammenfassung. – II. Viten und älteste Überlieferungen. – III. Patron des polnisch-litauischen Großreichs. – IV. Historikerstreit und nationaler Mythos. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Stanislaus (um 1030–1079) ist der wichtigste mittelalterliche Patron Kleinpolens. Nach der Heiligsprechung 1253 konzentrierte sich die ganz unterschiedliche Verehrung auf zwei Stätten in Krakau (Wawel und Skałka), wobei diejenige auf der Königsburg zu einem nationalen Symbol der Einheit und Souveränität Polens wurde, während diejenige in der Michaelis- oder Sankt Stanislaus-Kirche in Skałka łka ka der Volksfrömmigkeit diente. Unter den Jagiellonen erstreckte sich der Kult über das gesamte polnisch-litauische Großreich. Ende des 19. Jahrhunderts entwickelte sich aufgrund der dünnen Quellenlage ein Historikerstreit um die Hintergründe von Stanislaus’ Martyrium und damit um seine Verortung im nationalen Mythos Polens. II. Viten und älteste Überlieferungen Stanislaus wurde um das Jahr 1030 geboren. Einer späteren Tradition zufolge, stammte er aus dem Geschlecht der Turzonów aus Szczepanów in der Woidwodschaft Tarnów. Nach seiner Ausbildung in einer polnischen oder westeuropäischen Domschule wurde er 1062 in Krakau zum Priester geweiht und erhielt dort ein Jahr später ein Kanonikat. Seit 1072 Bischof der Hauptstadt Kleinpolens, geriet er 1079 in eine Auseinandersetzung mit König Bolesław II., die mit der Tötung des Bischofs in der Michaeliskirche in Krakau-Skałka am 8. oder 11. April 1079 während der Messe endete. Hintergründe und Ablauf der Tat sind bis heute nicht vollständig geklärt, da die beiden vorliegenden historischen Quellen den Hintergrund des Konflikts jeweils anders darstellen. In jedem Fall mobilisierte die Bluttat die königsfeindliche Opposition, so daß der König außer Landes gehen mußte und 1082/83 im Exil starb. Laut der ältesten polnischen Chronik (Gallus Anonymus, um 1112) soll Stanislaus aktiv an der polnischen Magnatenopposition beteiligt gewesen sein, die gegen den König gerichtet war; er sei dann als Verräter zu einer Verstümmelungsstrafe verurteilt worden. Danach wäre der Grund für seinen Tod rein politisch gewesen. In dem zu Beginn des 13. Jahrhunderts erstellten Bericht des polnischen Chronisten und Bischofs von Krakau Vinzenz Kadłubek drehte sich dagegen der Konflikt um moralische Fragen: Stanislaus hätte als Verteidiger der christlichen Ordnung den Märtyrertod erlitten. Der Mord an Stanislaus spaltete in den folgenden Jahrzehnten die damaligen Eliten. Die Bischofspartei, unterstützt vom Krakauer Domkapitel, gewann beim Nachfolger Bolesławs ławs II. und in späteren Jahren allerdings die Oberhand und ermöglichte damit Stanislaus’ Heiligsprechung. 554

Stanislaus von Krakau

Die spätere hagiographische Tradition enthält mehr Einzelheiten über Leben und Martyrium des Krakauer Bischofs. Der Krakauer Dominikaner Vincentius von Kielce verfaßte kurz nach 12�2 die erste Lebensgeschichte (Vita minor), die zusammen mit anderen Dokumenten als Grundlage für die Aufnahme des Heiligsprechungsverfahrens in Rom diente. In den Jahren 1257 bis 1261 arbeitete Vincentius an einer zweiten Lebensgeschichte (Vita maior), die zeitgenössische hagiographische Berichte von Augenzeugen sowie die Sammlung von Wundern aus der Mitte des 13. Jahrhunderts (Miracula sancti Stanislai) kombinierte. Diese Viten – insbesondere die Vita maior – lieferten den Stoff für die Symbolfigur eines eifrigen Seelsorgers und guten Verwalters, der kraft seiner Weihen den Kampf mit dem ungerechten Herrscher zur Verteidigung der Rechte der Kirche und der benachteiligten Untertanen aufnahm. Ferner stilisierte ihn Vinzenz von Kielce zum geistigen Bindeglied der gesamten Piastenmonarchie, dem die Einheit des Landes am Herzen lag. Zu dieser „nationalen“ Funktion der Heiligengestalt trat die Absicht des Hagiographen, über Stanislaus die Metropoliebestrebungen der Krakauer rakauer Bischöfe zu begründen. Schon im Vorfeld der Heiligsprechung bemühte sich der Krakauer Bischof Iwo Odrowąż in Rom um die Errichtung einer Metropolie für seine Diözese. Die späteren Viten enthalten zwar eine Reihe früher nicht genannter biographischer Fakten, können aber als typisch mittelalterliches hagiographisches Material bewertet werden. Eine größere Wirkungsgeschichte zeitigte das Werk des Jan Długosz (Vita s. Stanislai Cracoviensis episcopi, 1460–1465), das allerdings erst durch die polnische Übersetzung von Mikołaj aus Wilkowiecko (Historia o św. Stanisławie, biskupie krakowskim, patronie polskim, Krakau 1578) größere Bekanntheit erreichte. III. Patron des polnisch-litauischen Großreichs In Krakau war laut der Tradition die Michaeliskirche im Stadtteil Skałka die ursprüngliche Begräbnisstätte von Stanislaus, dessen Gebeine erst im Jahr 1088 in die Wawelkathedrale überführt worden waren („nahe des Südtors“). Die Translation des Bischofs in die Krakauer Bischofskirche zeugt davon, daß kirchliche Kreise eine Rehabilitation des Bischofs anstrebten. Allerdings war bis zur Mitte des 12. Jahrhunderts der Stanislauskult nur minimal, da die politischen Machtverhältnisse im Land ihn nicht begünstigten. Erst um 1250 trat dann, verstärkt durch die Heiligsprechung, insofern eine Veränderung der Situation ein, als die polnischen Fürstentümer Einigungsabsichten zeigten und für jede Region lokale Schutzheilige installiert wurden: in Großpolen Adalbert, in Kleinpolen Stanislaus und in Schlesien Hedwig. Der Stanislauskult stärkte die Position und das Prestige der Krakauer Kirche, was ganz im Interesse des Fürstenhofs lag, der den Bischofssitz zur Metropolie aufwerten wollte. In der kultischen Aufwertung durch die feierliche Heiligsprechung floß dies alles zusammen. Sie erfolgte durch Papst Innozenz IV. am 17. September 1253 in Assisi unter Beteiligung einer polnischen Abordnung. In Krakau wurde erst etwa ein dreiviertel Jahr später eine große Feier in der Kathedrale abgehalten, und zwar am 8. Mai 125�, dem Tag, den der Papst für das Heiligengedächtnis festgelegt 555

Stefan Samerski

hatte. Dabei wurden Stanislaus’ Reliquien in einen Prunksarg gelegt, den die Fürstin Kinga gestiftet hatte und der nun an exponierter Stelle in der Mitte der Kirche aufgestellt wurde. Die Herrscher der Teilfürstentümer waren bei der Feier unter dem Vorsitz des Piastenfürsten Bolesław von Kleinpolen (Krakau) mit Sandomierz anwesend. Ihr Treffen in Krakau hatte nicht nur religiösen Charakter, sondern verfolgte auch politische Zielsetzungen, die der Einheit Polens galten. Nach und durch die Heiligsprechung trat die Gestalt des Stanislaus bleibend in die Geschichtskultur und das kollektive Gedächtnis Polens ein. Sein Grab sollte zu einem konsolidierenden Faktor für Gesellschaft und Gesamtstaat werden. Von nun an spielte sein Kult eine wichtige Rolle im gemeinsamen kulturellen Bewußtsein Polens. Stanislaus wurde als erster polnischer Märtyrerbischof zum Hauptschutzheiligen Polens, zum Symbol seiner Einheit und Souveränität. Er nahm damit im 13. Jahrhundert eine ähnliche Funktion wahr wie etwa Wenzel in den böhmischen Ländern oder Stephan in Ungarn. Bald wurden Stanislaus, den der Krakauer Bischof Jan Grota 1328 als „patronus noster celeberrimus“ bezeichnete, überall im Land – schwerpunktmäßig in Kleinpolen, aber auch in Breslau und Kujawien – Altäre und Kirchen dediziert, und es wurden Reliquien an die entsprechenden Orte transferiert. Schon für das 1�. Jahrhundert sind Pilgerzüge aus zahlreichen Regionen Polens sowie darüber hinaus aus Ruthenien und Ungarn, den Herrschaftsbereichen der Jagiellonen, bezeugt. In Krakau konzentrierte sich die Verehrung nach der Heiligsprechung auf zwei Orte: auf die Kathedrale mit Stanislaus’ Gebeinen und auf die Sankt Michaelis- oder Sankt Stanislaus-Kirche in Skałka. In der Domkirche wurde sein Grab zum Pilgerziel und zum Ort für die Niederlegung eroberter Trophäen, die nach dem Sieg über die Kreuzritter bei Płowce 1331 einsetzte und nach der Schlacht am Kahlenberg bei Wien 1683 endete. Die Lokalisierung der im Herzen der Residenz gelegenen Kathedrale begünstigte einerseits den politischen Kult, andererseits gingen aus der Stanislaus-Verehrung Impulse für die Festigung der Waweltradition hervor. Damit bildete das Grab über 700 Jahre das nationale Zentrum der Königskathedrale, quasi eine Ara Patriae, die einst mit zahlreichen Siegesfahnen und Trophäen geschmückt war. Es war ein Ort der Danksagung für politische und militärische Erfolge, aber auch eine Stätte des Gebets und der Hoffnung in den Jahren der Teilungen, Niederlagen und Fremdherrschaft. Die Aufzeichnungen der miracula aus den Jahren 1�35 bis 1�6�, die über Pilgerfahrten ad sepulcrum Stanislaus’ in maiorem Ecclesiam berichteten, weisen die Kathedrale als vorrangige Memorialstätte aus. Das zweite Kultzentrum in Krakau, die Stanislaus-Kirche in Skałka, war der traditionelle Ort des Martyriums. Er entwickelte sich seit dem 15. Jahrhundert mehr und mehr zu einer Stätte der Volksreligiosität. Hier behinderten weder politische noch bischöflichliturgische Optionen die populäre Verehrung, für die ein reiches seelsorgerliches Angebot zur Verfügung stand. Vor allem der Zuzug der Paulinerpatres nach Skałka im Jahr 1�72 trug zur Belebung des Stanislauskultes bei. In dieser Zeit entstand eine Volkslegende über einen in der Nähe der Kirche gelegenen wundertätigen Teich, die zum ersten Mal von Jan Długosz niedergeschrieben wurde: Stanislaus’ Finger sei von seinen Mördern in den nahen See geworfen worden und habe dadurch dem Wasser Wunderkraft verliehen. 556

Stanislaus von Krakau

Die Legende knüpft an einen heidnischen lokalen Kult an, der die Stätte mit Götzenopfer in Verbindung brachte. Aufgezeichnete Wunder machten später den Ort für christliche Pilger attraktiv, die dort besonders freitags Heilung und Hilfe erhofften. Kirche und Teich bildeten fortan eine kultische Einheit; das zeigen Renaissance-Bilder der im 15. Jahrhundert gotisierten Kirche. Für die Volksfrömmigkeit entstanden seit dem 15. Jahrhundert zahlreiche hagiographische Zyklen. Zusammen mit häufigen Abbildungen auf Münzen oder Drucken spielten solche Objekte eine wichtige Rolle bei der Verbreitung des Kultes. Auch die Liturgie und die Musik nahmen sich nun dieser Thematik an (zahlreiche Sequenzen, etwa die Hymne Gaude Mater Polonia). Diese zweigleisige Tradition reichte in dieser Form bis zum Ende der Adelsrepublik 1795. Die Zeit der Jagiellonen festigte den Kanon der vier Schutzheiligen des polnischen Königreiches (Adalbert, Stanislaus, Florian und Wenzel), inmitten derer nun Stanislaus den ersten Platz belegte. Nach der Union Polens mit dem Großfürstentum Litauen wurde Stanislaus der Patron der Kathedrale des 1388 neugegründeten Bistums Wilna. Da bei diesem Akt funktional die Evangelisierung des noch größtenteils heidnischen Umlands im Vordergrund stand, erhielt die Figur des Stanislaus dort missionarische Züge und nahm somit polnisch-messianisches Gedankengut vorweg. Außerdem wurde die Wilnaer Domkirche als Krönungskirche und Grablege der Großfürsten durch das Stanislaus-Patrozinium zu einem zweiten Wawel, integriert in den polnischen Staatsgedanken. Das bedeutete für Wilna Aufwertung und feste Einbindung zugleich. Das politische Programm der Jagiellonen für das polnisch-litauische Großreich wurde durch die Mittel der bildenden Kunst, Malerei, Buchgraphik, Numismatik und Sphragistik propagiert. Noch etwa dreißig Objekte aus jener Epoche sind erhalten, die Stanislaus als Schutzheiligen der Dynastie, des Herrschers und der Regierung vorstellen. Er tritt bildlich allein oder mit anderen Heiligen in Begleitung des Herrschers oder der Dynastiemitglieder auf, manchmal auch als Schützer des Lebens oder Anwalt nach dem Tod. Häufig begleitet ihn das Wappen des Königreiches oder das des Königs, oder er erscheint auf Objekten, die vom Herrscher oder von anderen Mitgliedern der Dynastie gestiftet wurden. Ferner finden wir ihn als Schutzpatron der polnischen Armee, so etwa in Schlachten mit den Kreuzrittern, den Tataren, den Russen und Schweden, aber auch als Wächter der Krönungsinsignien und als Patron der Krakauer Universität. Allerdings wurde im 15. Jahrhundert die Volksverehrung am Grab auf dem Wawel erheblich durch ein neues, von Elisabeth von Polen gestiftetes Reliquiar behindert, das auf einem Altar der Domkirche plaziert wurde. Diese Umbettung erschwerte frühere Pilgerpraktiken am Grab des Stanislaus, wie Küssen und Berühren der Grablege oder das Niederlegen von Kranken auf ihr. Die Neuerung trug aber neuen Frömmigkeitsformen Rechnung wie das visuelle Erleben des Heiligen am Festtag. Dieselbe Königin stiftete 1504 ein goldenes Kopfreliquiar für Stanislaus (Domus aurea). Es wurde bei der Prozession während der Königskrönung in der Kathedrale mitgeführt und diente somit der politisch-sakralen Repräsentation. Heute wird es während der traditionellen Prozession am 8. Mai aus dem Wawel nach Skałka getragen. 557

Stefan Samerski

Das im Jahr 1892 von Jan Matejko erstellte Gemälde aktualisierte die bildliche Verehrung von Stanislaus und lud dessen Tod mit Hilfe des neuen Mediums des Historiengemäldes zusätzlich mit moderner nationaler Bedeutung auf. Bildnachweis: Privatarchiv Stefan Samerski.

In der Zeit der Konfessionalisierung wurden die Stanislaus-Reliquien neu gefaßt und prächtig inszeniert. 1631 folgte die feierliche Translation der Gebeine in ein neues Mausoleum, das vom Krakauer Bischof Marcin Szyszkowski gestiftet und in den Jahren 1626 bis 1629 angefertigt worden war. 1633 stiftete Władysław IV. Wasa, den letzten Wunsch seines Vaters Sigismund III. erfüllend, einen neuen silbernen Sarg, der in Augsburg angefertigt wurde. Der Sarg wurde während des Einfalls der Schweden 1657 zerstört und in den Jahren 1669 bis 1671 durch das Krakauer Kapitel erneuert. Der Stanislaus-Kult war noch im 18. Jahrhundert in Polen lebendig: Der letzte polnische König Stanislaus Poniatowski gründete 1765 den Orden des heiligen Stanislaus, und die erste polnische Verfassung vom 3. Mai bestimmte den 8. Mai zum Nationalfeiertag Polens. In der Zeit der Teilungen Polens wurde Stanislaus zum Vorbild im Kampf gegen die Teilungsmächte stilisiert. Er übte das Patronat der religiösen und patriotischen Erneuerung aus. In Litauen vermochte er nun nicht mehr zum Patron neuer Kirchen zu avancieren. Unter der österreichischen Besatzungsmacht entstand, dank der größeren Autonomie Galiziens, 1882 in der Kirche von Skałka eine Krypta, die zu einem Pantheon berühmter Polen wurde. Dadurch wurde Stanislaus noch stärker in das politisch-kulturelle Bewußtsein Polens eingeschrieben und mit dem polnischen Messianismus verbunden. Die Früchte zeigten 558

Stanislaus von Krakau

sich nach der staatlichen Wiedererstehung Polens nach dem Ersten Weltkrieg: Gerade in den Grenzgebieten wurden etliche neue Kirchen dem heiligen Stanislaus geweiht, sogar in der Freien Stadt Danzig 1924. Auf der anderen Seite erkennt man im multiethnischen Wilna eine Minorisierung des Stanislauskultes, da die Kathedrale eine Erweiterung ihres Patronats erfuhr (Dreifaltigkeit, Muttergottes, Ladislaus), was auch den häufigen Herrschaftswechseln der Stadt im 20. Jahrhundert geschuldet war. IV. Historikerstreit und nationaler Mythos Ende des 19. Jahrhunderts läßt sich beim Stanislauskult eine gewisse Trübung des Nationalcharakters beobachten. Dies wurde vor allem durch die fortschreitende und teilweise polemisierende Historiographie verursacht. Besonders der Historiker Tadeusz Wojciechowski stellte die Hypothese von Stanislaus als einem bischöflichen Verräter auf, der mit den Feinden gegen den eigenen König zusammenarbeitet habe. Gegenstand der Analysen waren die wenigen erhaltenen Quellentexte, die den Konflikt des Bischofs mit dem König betrafen. Die grundsätzliche Diskussion der Historiker schlug sich mit starkem und kontroversem Echo in der öffentlichen Meinung, in der Literatur und in der Presse nieder. Sie ist bis heute nicht abgeschlossen, sondern wurde in jüngster Zeit mit der Debatte über die Beziehungen von Kirche und Staat verknüpft. Schädeluntersuchungen im Jahr 1963 konnten immerhin bestätigen, daß Stanislaus mit einem stumpfen Gegenstand durch einen Schlag auf den Kopf getötet worden war. Das Motiv bleibt aber weiterhin im Dunkeln. Trotz der Unsicherheit in der Deutung erinnerte Johannes Paul II. bei seinem tatsächlich epochalen ersten Polenbesuch 1979 an den Nationalpatron: Der Besuch des Papstes fiel mit der 900-Jahr-Feier des Martyriums des heiligen Stanislaus zusammen. Diese Feiern standen ganz im Zeichen der Auseinandersetzung mit dem kommunistischen Regime, für die der Märtyrerbischof die geeignete Gestalt abgab. Der Papst bezeichnete Stanislaus bei seinem Besuch in Krakau als Patron der christlich-moralischen Ordnung. In Litauen ist Stanislaus heute größtenteils nur noch in der polnischen Bevölkerungsgruppe präsent. Kasimir als Landespatron und die Muttergottes haben den ehedem eher politischen Kult des Stanislaus überflügelt. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Historia o św. Stanisławie, biskupie krakowskim, patronie polskim [Die Geschichte des heiligen Stanislaus, den Krakauer Bischof, den polnischen Patron]. Kraków 1578; dłuGosz, Jan: Opera omnia, Bd. 1. Kraków 1887, 1–181; MaLeczyńsKi, Karol (Hg.): Galii anonymi Cronica et gesta ducum sive principum Polonorum. Kraków 1952 [Lwów 1186�]; KętryńsKi, Władysław (hg.): Monumenta Poloniae Historica, Bd. �. Lwów 188� [ND Warszawa 1961], 238–�38; acta sanctoruM, Bd. 2: Maii [...]. Parisiis/ Romae 1866 [ND Bruxelles 1968], 198–280; zaWadzKi, Ryszard (Hg.): Bulle i pisma kanonizacyjne

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Stefan Samerski papieża Innocentego IV z lat 1252–1253 [Bullen und Schriften der Heiligsprechung von Papst Innozenz IV. aus den Jahren 1252–1253]. In: Analecta Cracoviensia 11 (1979) 23–30; pLezia, Marian (Hg.): Magistri Vincentii dicti Kadłubek Chronica Polonorum/Mistrza Wincentego zwanego Kadłubkiem Kronika Polska. Kraków 199�.

b) Darstellungen doMiniK, Jan: Bibliografia ilustrująca życie i kult św. Stanisława biskupa i męczennika [Bibliographie, die das Leben und den Kult des heiligen Bischofs und Märtyrers Stanislaus illustriert]. Rzym 1952; LisoWsKi, Jerzy: Kanonizacja świętego Stanisława w świetle procedury kanonizacyjnej Kościoła dzisiaj i dawniej [Die Heiligsprechung des heiligen Stanislaus hinsichtlich des Kanonisationsverfahrens der Kirche gestern und heute]. Rzym 1953; schenK, Waclaw: Kult liturgiczny św. Stanisława biskupa na Śląsku w świetle średniowiecznych rękopisów liturgicznych [Der liturgische Kult des heiligen Bischofs Stanislaus in Schlesien im Lichte der mittelalterlichen liturgischen Handschriften]. Lublin 1959; bełch, Stanisław: Święty Stanisław, biskup-męczennik, patron Polaków [Heiliger Stanislaus, Märtyrerbischof, polnischer Patron]. London 1977; pLezia, Marian: Dookoła sprawy św. Stanisława [Über den Fall des heiligen Stanislaus]. In: Analecta Cracoviensia 11 (1979) 251–�13; GrudzińsKi, Tadeusz: Bolesław ŚmialySzczodry i biskup Stanislaw. Dzieje konfliktu [Boleslaw der Kühne-Großzügige und Bischof Stanislaus. Eine Konfliktgeschichte]. Kraków 1982; WitKoWsKa, Alexandra: Kulty pątnicze średniowiecznego Krakowa. Z badań nad miejską kulturą religijną [Der Kult der mittelalterlichen Wallfahrten in Krakau. Forschungen zur städtischen religiösen Kultur]. Lublin 198�; JaKuboWsKi, Jan Z.: Polityczne i kulturowe aspekty kultu biskupa krakowskiego Stanisława w Polsce i Czechach w średniowieczu [Politische und kulturelle Aspekte des Kultes vom Krakauer Bischof Stanislaus in Polen und Böhmen im Mittelalter]. Warszawa 1988; iWanczaK, Wojciech: Stanislaus. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 10. Herzberg 1995, 1161–1165; KureK, Jacek: Eucharystia, biskup i król. Kult św. Stanisława w Polsce [Eucharistie, Bischof und König. Der Kult des heiligen Stanislaus in Polen]. Wrocław 1998; Wos, Jan W.: Adalbert et Stanislas saint patrons de la Pologne. Paris 1998; piech, Zenon: Darstellungen des heiligen Stanislaus als Schutzheiligen des Herrschers, des Staates und der Dynastie der Jagiellonen. In: derWich, Marek/dMitriev, Mikhail V. (Hg.): Fonctions sociales et politiques du culte des saints dans les sociétés de rite grec et latin au Moyen Age et à l’époque moderne. Approche comparative. Wrocław 1999, 125–160; Labuda Gerard: Święty Stanisław biskup krakowski, patron polski. Śladami zabójstwa – męczeństwa – kanonizacji [Der heilige Stanislaus, Bischof von Krakau, Patron Polens. Spuren der Tötung – Martyrium – Heiligsprechung]. Poznań 2000; szczur, Stanisław: Kościół krakowski a Stolica Apostolska we wczesnym średniowieczu [Die Krakauer Kirche und der Heilige Stuhl im Frühen Mittelalter]. In: Analecta Cracoviensa 32 (2000) 43–66; Kürbis, Brygida: Jak czytać najstarsze teksty o świętym Stanisławie [Wie liest man die ältesten Texte über den heiligen Stanislaus]. In: dies. (Hg.): Na progach historii, Bd. 2 : O świadectwach do dziejów kultury Polski średniowiecznej. Poznań 2001, 105–128; WóJciK, Józef (Hg.): Święty Stanisław patronem ładu społecznego [Der heilige Stanislaus, Patron der sozialen Ordnung]. Tarnów 2003; WitKoWsKa, Alexandra: The Thirteenth-Century Miracula of Saint Stanislaus, Bishop of Krakow. In: KLaniczay, Gábor (Hg.): Procès de canonization au Moyen Âge. Aspects juridiques et religieux. Rome 200�, 1�9–163; crossLey, Paul: „Ara patriae“. Saint Stanislaus, the Jagiellonians and the Coronation Original for Cracow Cathedral. In: faJt, Jiří/hörsch, Markus (Hg.): Künstlerische Wechselwirkungen in Mitteleuropa. Ostfildern 2006, 103–122; GołębieWsKi, Jacek: Obchody Roku Stanisławowskiego na krakowskiej Skałce (2003/200�) [Die Stanislaus-Feier in Krakau-Skałka (2003/200�)]. Kraków 2008; rożnoWsKa-sadraei, Agnieszka: Pater Patriae. The Cult of Saint Stanislaus and the Patronage of Polish Kings 1200–1�55. Kraków 2008; MühLe, Eduard: Die Piasten. Polen im Mittelalter. München 2011.

Stefan Samerski

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Otto von Bamberg I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) In der Bamberger und pommerschen Erinnerungskultur des Mittelalters. – b) Im protestantischen Geschichtsbild des 16.–18. Jahrhunderts. – c) Im protestantisch-preußischen Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts. – d) Im 20. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Pflege der Erinnerung an Otto von Bamberg setzte unmittelbar nach dessen Tod in den Klöstern Prüfening bei Regensburg und Michelsberg in Bamberg, wo schon vor der Kanonisation von 1189 das Epitheton Apostolus Pomeranorum für ihn geprägt wurde, ein. Eine erste intensive Aufnahme seines Kults in Pommern erfolgte in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts. Während der Frühen Neuzeit wurde die Otto-Memoria Teil einer kirchlich begründeten pommerschen Landestradition, an die nach 1800 eine preußischprotestantische Inanspruchnahme anschloß. Am Ende des 19. Jahrhunderts wurde diese protestantische Tradition durch eine Bezugnahme der neuentstehenden katholischen Gemeinden auf Otto von Bamberg ergänzt. Seit den 1970er Jahren wird im deutschen Vorpommern und in der polnischen Diözese Stettin-Cammin eine volkstümlich-religiöse Bezugnahme auf Otto von Bamberg gepflegt, in der sich katholische und protestantische sowie deutsche und polnische Traditionen verbinden.

II. Leben Otto von Bamberg (um 1065–1139) entstammte einer schwäbischen Adelsfamilie, die möglicherweise Verbindungen zu den Staufern hatte. Als Judith, die Schwester Kaiser Heinrichs IV. und Witwe König Salomons von Ungarn 1088/89 Władysław I. Herman heiratete, begleitete er sie als Hofkaplan an den Krakauer Hof; im Anschluß daran beaufsichtigte er ab 1097 im Auftrag Heinrichs IV. den Bau des Speyrer Doms. 1102 wurde er Bischof von Bamberg. Otto, seit langem führend an den Investiturstreitverhandlungen beteiligt, gehörte 1122 zu den Unterzeichnern des Wormser Konkordats. Kurze Zeit später wandte sich Bolesław III., ein Sohn Władysław Hermans, nach Unterwerfung der Pomoranen an Otto, mit der Bitte, bei der Christianisierung ihres Landes mitzuwirken. Von Mai 1124 bis März 1125 unternahm der Bamberger Oberhirte seine erste Missionsreise nach Pommern, die ihn über Prag, Breslau und Gnesen nach Stargard, Pyritz, Cammin, Wollin, Stettin, Usedom, Kolberg bis nach Belgard führte. Eine zweite Missionsreise unternahm Otto von April bis Dezember 1128 im Auftrag König Lothars III. Die Reise ging von Merseburg über Halle an der Saale, Magdeburg und Havelberg in die lutizischen Gebiete westlich der Oder und berührte Demmin, Usedom – wo zu Pfingsten 561

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1128 die örtlichen Großen die Annahme des Christentums beschlossen –, Wolgast und Gützkow; der Rückweg erfolgte über Gnesen nach Bamberg. Auch nach seiner Rückkehr kümmerte sich Otto um den Aufbau der pommerschen Kirche. In seinem Bistum legte er die Grundlagen für die bischöfliche Territorialherrschaft; zahlreiche geistliche Institutionen wurden durch ihn gegründet oder reformiert. III. Verehrung a) In der Bamberger und pommerschen Erinnerungskultur des Mittelalters Die Erinnerungskultur zu Leben und Wirken Ottos von Bamberg setzte unmittelbar nach dessen Tod am 30. Juni 1139 in Bamberg ein. Erster und wichtigster Ort der Memorialpflege war das Kloster Michelsberg in Bamberg, wo Otto im Chor beigesetzt ist. Unter dem unmittelbaren Eindruck seines Lebens wurde er in einem Nekrologeintrag eines Bamberger Benediktiners schon als apostolus gentis Pomeranorum angesprochen. Bis heute grundlegend für die Kenntnis von Ottos Leben, Wirken und erstem Nachleben sind die drei Ottoviten aus der Mitte des 12. Jahrhunderts. Die älteste Lebensbeschreibung entstand um 11�0/�6 im Kloster Prüfening bei Regensburg, einer Gründung Ottos von Bamberg, und ist nur in Handschriften eines österreichischen Legendars zum 30. Juni überliefert; inhaltlich konzentriert sie sich auf die beiden Missionsreisen, für die sie eine erstrangige Quelle darstellt. Die beiden anderen Lebensbeschreibungen entstanden in kurzem zeitlichen Abstand im Bamberger Kloster Michelsberg. 1151/59 schrieb der dortige Mönch Ebo eine Vita Ottonis, die Otto wirkmächtig als apostolus Pomeranorum charakterisierte. Ebos Mitbruder Herbord verfaßte 1159 den literarisch kunstvoll gestalteten Dialogus de Ottone episcopo Bambergensi. Beide Texte sind in gekürzten Fassungen auch in den 1180er Jahren in dem Verfahren, das die Heiligsprechung Ottos vorbereitete, benutzt worden. Diese fand als päpstlich delegierte Kanonisation durch die Bischöfe von Eichstätt und Merseburg auf einem Würzburger Hoftag im August 1189 statt und schrieb zugleich Ottos Wahrnehmung als „Apostel der Pommern“ fest. In dessen zeitlichem Umfeld finden sich auch Hinweise auf die Verehrung Ottos in seinem pommerschen Missionsgebiet. So bewilligte 1182 Herzog Bogislaw I. von Pommern auf Ersuchen Bischof Konrads von Cammin eine jährliche Wachshebung aus allen Krügen des Herzogtums für das Grab des Bischofs, eine Zuwendung, die wiederholt bestätigt wurde. 1187 übertrug der Herzog dem Kloster Michelsberg die Jakobikirche in Stettin. Beides kann als Ausdruck der Wertschätzung Ottos in der herzoglichen Familie und der Aufrechterhaltung von Beziehungen zum Herkunftsort des Missionars gelten. Ein vergleichbares Zeugnis stammt aus dem Jahr 1237, als Barnim I. dem Kloster Michelsberg das Patronat der Peter- und Pauls-Kirche in Stettin, einer Gründung Ottos, übertrug. Diese Zeugnisse reißen dann für Jahrzehnte ab, bevor nach 1300 und besonders intensiv in den 1330er und 13�0er Jahren eine erste Phase eines ausgesprochenen Otto562

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Kults einsetzte, während die Zeugnisse des späten 12. und 13. Jahrhunderts nur eine pommersche Unterstützung der Bamberger Otto-Memoria erkennen lassen. Hierbei scheint eine wichtige Rolle dem Kloster Kolbatz zuzukommen, das zeitweise eine besondere Nähe zu den Herzögen aufwies. So werden 1302 eine Otto-Kapelle und ein Otto-Altar im Kloster erwähnt. Seit den 1330er Jahren war dann Barnim III. die zentrale Person, die die Pflege der Verehrung Ottos in Pommern durchsetzte: Er stiftete 1330 eine Otto-Vikarie mit Altar in der Stettiner Georgenkirche, ebenso drei Jahre später in der dortigen Marienkirche. 1339 übertrug er dem Kloster Michelsberg in Bamberg bei einem Besuch Patronat und Einkünfte der Kirche in Jarmen. 13�3 schenkte er schließlich dem Kloster Kolbatz Gelder für eine Messe am Gedächtnistag des Heiligen, verbunden mit einer Memorialstiftung für seine Vorfahren. Von besonderer Bedeutung war die Errichtung des Kollegiatstifts St. Otto in Stettin am 3. Oktober 1346, das als Hofkirche reich ausgestattet wurde. Schon 13�9 gewährte ihm Clemens VI. einen Ablaß. Bemerkenswert ist hier, daß die Verehrung Ottos von Bamberg und die Greifenmemoria, die Erinnerungs- und Traditionspflege der herzoglichen Familie in Pommern, eine enge Symbiose eingingen. Erst aus dem späten 1�. und 15. Jahrhundert gibt es dann Hinweise darauf, daß sich der Kult um Otto ausbreitete: 1391 stiftete Bürgermeister Nikolaus Käselow im Dom von Güstrow in einer Kapelle eine Vikarie zu Ehren von Peter und Paul, Margarethe und Otto, deren Patronat der Stadt zufiel. Aus dem zweiten Viertel des 15. Jahrhunderts stammt ein Altarschrein in der Johanniskirche in Malchin, auf dem Otto mit segnender Geste dargestellt wird; schließlich wurde 1�36/38 eine Otto-Kapelle im Camminer Dom eingerichtet. Im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts kam es sowohl in Bamberg als auch in Pommern zu verstärkten Bemühungen um das Gedächtnis Ottos. Der Bamberger Franziskaner Konrad Bischoff verfaßte 1�73 eine erste, auf die Darstellungen von Ebo und Herbord gestützte deutschsprachige Lebensbeschreibung. Andreas Lang, seit 1�83 Abt von Kloster Michelsberg, beschäftigte sich intensiv mit der schriftlichen Überlieferung zu Otto. Eine Fassung seiner Vita, von der eine Handschrift Herzog Bogislaw X. gewidmet wurde, erstellte er 1�87 auf Bitten des Camminer Bischofs Benedikt Waldstein; eine veränderte Fassung bearbeitete er 1499 auf Bitten des Bamberger Franziskanerguardian. Das erneuerte Interesse der pommerschen Kirche und des Greifenhauses wird auch darin faßbar, daß Bogislaw X. von Pommern auf der Hin- und Rückreise seiner Jerusalemfahrt 1�97/98 das Grab Ottos in Bamberg besuchte. Auffällig ist, daß im Mittelalter im Bistum Cammin keine Otto-Reliquien bekannt sind. b) Im protestantischen Geschichtsbild des 16.–18. Jahrhunderts Die Reformation bedeutete für die Erinnerungspflege Ottos von Bamberg keinen Bruch. Sie bewirkte aber einen Wechsel in den Trägern, den Medien und der örtlichen Anbindung der Erinnerung. Die kirchlich-klösterliche Verortung der Memoria trat zurück. Otto avancierte nun erstmals zum Gegenstand der pommerschen Geschichtskultur. In 563

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Pommern wurde er zuerst in Überblicksdarstellungen zur Landesgeschichte gewürdigt. Johannes Bugenhagen, der spätere Reformator Pommerns, würdigte Otto 1517/18 ausführlich in seinem historisch-landeskundlichen Werk Pomerania. Ebenso strich Thomas Kantzow in seiner Chronik von Pommern aus den 1530er Jahren die Leistung Ottos für die Christianisierung Pommerns heraus. Anders als diese beiden Werke, die zu ihrer Zeit ungedruckt blieben, hatte die Beschreibung Ottos in der pommerschen Kirchengeschichte Daniel Cramers (1602/28), der Hofprediger und Generalsuperintendent in Stettin war, große Wirkung; auf dem Titelblatt wird Otto Wartislaw I., dem Stammvater des Greifenhauses, programmatisch als zweite Gründergestalt der pommerschen Geschichte gegenübergestellt. Auch in der sechsbändigen Landesgeschichte Altes Pommerland (1639/40) von Johannes Micraelius, Rektor der Ratsschule in Stettin, wird Otto im Abschnitt über die Christianisierung als „Pommerischer Apostel“ gewürdigt. Auf einer Karte des Herzogtums Pommern von Johann Wilhelm Michaelis von 1707 zeigt sich dann programmatisch die andere Paarbildung in Bezug auf Otto: Oben und unten werden Ansichten von acht pommerschen Städten geboten, während Otto am linken Kartenrand Johannes Bugenhagen am rechten Bildrand gegenübergestellt wird. Neben diesen historiographischen und ikonographischen Zeugnissen der Otto-Memoria finden sich seit dem späten 17. Jahrhundert auch in der Volkskultur Hinweise, die eine neue soziale Breite der Otto-Verehrung erkennen lassen: Der Augsburger Kaufmann Philipp Hainhofer erwähnt in einem Bericht von einer Reise an den Stettiner Hof 1617 einen Otto-Altar in der Klosterkirche Kolbatz sowie in Stettin und Seefeld bei Kolberg materielle Überreste, die mit Otto von Bamberg in Beziehung stehen. 1699 erhielt die sogenannte Otto-Quelle, jene Quelle, an der Otto 112� in Pyritz getauft haben soll und die 157� erstmals erwähnt wurde, eine Einfassung und ein Brunnenhäuschen; die Anlage wurde 182� und 1998/99 restauriert und erneuert. Auch in Zirkwitz bei Greifenberg ist seit dem 18. Jahrhundert ein Otto-Brunnen bezeugt. Ein weiteres Medium, das die Reichweite der kirchlichen Memorial- und der gelehrten Buchkultur überschreitet, ist die Jubiläumskultur. 1625 wurde in Greifswald erstmals die 500-Jahr-Feier der Christianisierung Pommerns gefeiert. Zu diesem Anlaß verfaßte der Greifswalder Jurist und Universitätsprofessor Joachim Völschow eine lateinische Erinnerungsschrift an die Mission Ottos von Bamberg. Hundert Jahre später, 172�, organisierte der Leiter der Stargarder Stadtschule, Christian Schöttgen, eine Veranstaltung zur 600-Jahr-Feier der Christianisierung Pommerns. Zugleich veröffentlichte der Stettiner Pastor Christian Zickermann eine deutschsprachige Geschichte der Christianisierung Pommerns und des Wirkens Ottos von Bamberg, die er mit einer Beschreibung der Stettiner Sankt Peter- und Paul-Kirche abschloß, wobei er Biographien von zehn Personen anfügte, von denen Porträts in der Kirche hingen. Hierbei handelt es sich um neun Persönlichkeiten der Reformationsgeschichte. Aus dieser Reihe fällt die erste Biographie heraus, eben diejenige Ottos von Bamberg, der auf dem Porträt als Pomeranorum Apostolus, Templi hujus Fundator angesprochen wird. Die ersten, in Greifswald und Stargard gefeierten Otto-Jubiläen waren zwar in ihrer Anlage nur von örtlicher Bedeutung, lassen aber Anfänge einer eigenen pommerschen Erinnerungskultur erkennen. 564

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c) Im protestantisch-preußischen Geschichtsdenken des 19. Jahrhunderts Die im 17./18. Jahrhundert erstmals vereinzelt faßbaren neuen Inhalte und Formen der Otto-Verehrung erfuhren im 19. Jahrhundert einen sichtbaren Ausbau. Das zentrale Ereignis, das Prägekraft für die nächsten Jahrzehnte entfalten sollte, war die 700-Jahr-Feier der ersten Missionsreise Ottos 182�. Ähnlich wie die Jubiläen von 1625 und 1725 wurde auch dieses nur in Pommern begangen. Aus diesem Anlaß wurden zwei Gedenkmedaillen herausgegeben, die eine mit dem Pyritzer Otto-Brunnen auf der einen und der Abbildung von Wartislaw und Otto auf der anderen Seite, die andere mit der Darstellung der (nicht historischen) Szene, in der Otto Wartislaw tauft, auf der einen und die aufgeschlagene Bibel mit Kreuz auf der anderen Seite. In den Schulen wurden Otto-Feiern abgehalten, zu denen Carl Loewe, der städtische Musikdirektor in Stettin, die Musik geschrieben hatte. An der Universität Greifswald sowie an den Gymnasien in Stralsund, Stettin und Neustettin hielt man Jubiläumsfeiern ab. Die Hauptfeierlichkeiten fanden in Pyritz statt. Dort wurde mit Unterstützung Kronprinz Friedrich Wilhelms von Preußen die Neueinfassung der Brunnenanlage vorgenommen, die nach Plänen von Karl Friedrich Schinkel errichtet wurde. Die Grundsteinlegung für die neue Anlage erfolgte am 15. Juni – dem Tag, an dem Otto 1124 erstmals getauft haben soll und der im 19. Jahrhundert den Charakter eines Landesfeiertages gewann – in Anwesenheit des Kronprinzen. Auf der nach der Fertigstellung 1826 angebrachten Gedenktafel gedachte man ausdrücklich der Stifter, König Friedrich Wilhelms III. und seiner Söhne. In der Nähe der Brunnenanlage wurde 1827 ein Schullehrerseminar, das Otto-Stift, eingeweiht. Die Feier des Otto-Jubiläums in Pyritz war auch eine Bezugnahme auf den Pyritzer Vertrag von 1�93, in dem Bogislaw X. von Pommern die brandenburgischen Kurfürsten für den Fall des Aussterbens des Greifenhauses zu Erben eingesetzt hatte. Pyritz wird so als Ort zweier Gründungsereignisse, des Beginns der christlichen und der hohenzollernschen Geschichte Pommerns, verstanden. Bei den Pyritzer Feiern, aber auch in der Festrede des Stralsunder Gymnasialrektors Carl Kirchner, wurde erstmals die wenige Jahre zuvor, 1815, erfolgte Übertragung des bisherigen Schwedisch-Pommerns an Preußen, die Bindung Pommerns an Brandenburg durch den Pyritzer Vertrag und die Übernahme der Pflege der Otto-Gedächtnisses des pommerschen Herzogshauses durch die Hohenzollern in einen historischen Zusammenhang gebracht. Der 15. Juni 182� wurde zudem zum symbolträchtigen Gründungsdatum der „Gesellschaft für pommersche Geschichte und Altertumskunde“, eines Vereins, der die heimatkundliche und landesgeschichtliche Erforschung und Pflege der pommerschen Geschichte tragen sollte, gewählt; auf dem Mitgliedsblatt der Gesellschaft stellte man Otto von Bamberg Herzog Bogislaw X. von Pommern gegenüber. Das Jubiläumsjahr regte ferner zu verschiedenen literarischen Werken über die Gestalt Ottos an. So veröffentlichte der Greifswalder Geschichtsprofessor Peter Friedrich Kanngießer eine Geschichte von Pommern bis auf das Jahr 1129, deren fünftes, umfangreichstes Buch „die durch Bischof Otto ausgeführte Bekehrung der Einwohner Westpom565

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merns“ schildert. Der Stettiner Schulrat Ernst Bernhardt publizierte zu diesem Anlaß ein Werk (Ottobüchlein), das sowohl geschichtliche Ausführungen zur Person Ottos als auch religiös-erbauliche Abschnitte enthielt. Wilhelm Meinhold, Schriftsteller und Pfarrer in Koserow auf Usedom, wurde durch das Jubiläum zu einem „romantisch-religiösen Epos in 10 Gesängen“ angeregt, das er dem preußischen Kronprinzen widmete. Diese evanglisch-pommersche Prägung des Otto-Gedenkens zu Beginn des 19. Jahrhunderts erfuhr im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts neue Akzente. Das neue OttoBüchlein von Hermann Theodor Wangemann, der lange in Wollin als Theologe tätig gewesen war, von 1871 mit der Anspielung im Titel an das Ottobüchlein von 182� sowie die Pyritzer Schulgedenkfeiern 187� und 1878 knüpften mit Reden des Schuldirektors Adolf Zinzow an die ältere Traditionspflege an. In Pyritz wurde Bischof Otto im Juni 1901 (wiederholt anläßlich der Jubiläumsfeiern im Jahr 192�) als Schauspiel aus der Feder des Pyritzer Arztes Paul Hartwig auf die Bühne gebracht. 1875 erschien ein Gedenkblatt an die 60. jaer[ige] Vereinigung Neu-Vorpommerns und Rügens mit Preußen, gestaltet von dem aus Pommern stammenden Berliner Historienmaler Otto Heyden. Es handelt sich um ein Tableau mit zwanzig Einzelbildern mit Bezug auf die Geschichte Pommerns. Otto von Bamberg findet in der Szene Bischof Otto tauft die Pommern 1124 Berücksichtigung, wobei er in bischöflichem Ornat unter einer Eiche zwei Männer, die von einer Gruppe von Landesbewohnern umgeben sind, tauft. Ein wichtiges Zeugnis der Einbringung Pommerns in das preußische Geschichtsbild findet sich in der von Kaiser Wilhelm II. in Auftrag gegebenen Siegesallee in Berlin. Dabei sind dem Denkmal der brandenburgischen Gründergestalt Albrecht des Bären die Büsten von zwei Bischöfen, Wigger von Brandenburg und Otto von Bamberg, beigegeben. Die Büste Ottos gestaltete der Berliner Bildhauer Walter Schott nach dem Modell eines „dicken Kölner Küfers“. Eine Neuerung im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts ist die katholische Bezugnahme auf Otto. Der promovierte Philologe und Jurist Ignaz Christian Schwarz veröffentlichte unter dem Pseudonym „J. Noir“ in den 1830er Jahren mehrere belletristische Bearbeitungen historischer Stoffe aus dem Mittelalter, darunter 1833 Biographien der Bamberger Bistumsgründer Heinrich II. und Kunigunde sowie ein Lebensbild Ottos von Bamberg. Dessen Popularität in seiner Heimatdiözese wird später in dem umfangreichen Versgedicht Ottonias faßbar, das 1852 die in Bamberg wirkende Gelegenheitsdichterin Augusta Hanauer veröffentlichte. Gestützt auf die erstmalige Publikation der drei Otto-Viten durch Rudolf Köpke im Rahmen der Monumenta Germaniae Historica (1856), veröffentlichte der Mettener Benediktiner Franz Xaver Sulzbeck, der schon mehrere Biographien heiliger Bischöfe vorgelegt hatte, 1865 die erste quellenbasierte Würdigung des Bamberger Bischofs. Dort wurde Ottos mit einer Jubiläumsfeier erstmals anläßlich der 700-Jahr-Feier seiner Kanonisation gedacht, die allerdings verschoben werden mußte und erst im September 1891 begangen werden konnte; in diesem Zusammenhang erschienen auch populäre Schriften, die das Leben Ottos schilderten. Bei der Reorganisation der katholischen Gemeinden in Pommern im 19. Jahrhundert wurde bei der Weihe neuer Kirchen seit den 1860er Jahren verschiedentlich ein Otto-Patrozinium vergeben, so in Ueckermünde (1873), Pasewalk (1885), Stolp (1889), später auch in Pyritz (1910) 566

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und Cammin (191�). Nach 19�5 wurden Otto-Patrozinien in Cammin (19�5) und Stettin (1997) vergeben. Ein weiterer neuer Zug in der Otto-Rezeption dieser Jahre war, daß sein Leben und Wirken nun zum Gegenstand der akademisch-universitären Forschung wurden. Zu nennen sind die Hallenser Dissertation von Georg Haag, die 187� als Festschrift der Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Alterthumskunde zum 50jährigen Jubiläum publiziert wurde, und die Breslauer Dissertation von Carl Maskus aus dem Jahr 1889. Zeitgleich und unabhängig voneinander erschienen zum Jubiläum der Heiligsprechung zwei große Otto-Monographien von akademischen Außenseitern: der zum großen Teil Otto gewidmete zweite Band der Bamberger Bistumsgeschichte von Johann Looshorn, dessen einschlägiger Teil auch eigenständig erschien, sowie die Biographie von Georg Juritsch, der an verschiedenen böhmischen Schulen als Lehrer wirkte. d) Im 20. Jahrhundert Das wichtigste Ereignis in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts waren die Jubiläumsfeiern zur Erinnerung an die Missionsreisen in den 1120er Jahren. Die Präsenz Ottos im pommerschen Geschichtsbewußtsein verdeutlichen Serienscheine von Stadt und Kreis Pyritz aus dem Jahr 1921, die das Bild Ottos von Bamberg – als Vorlage wählte man die Büste der Berliner Siegesallee – trugen. Das Jubiläum 1924 wurde hauptsächlich in Pommern begangen. Neuartig war, daß Protestanten und Katholiken nun jeweils eigene Gedenkveranstaltungen begingen. Die Protestanten feierten am 1�./15. Juni in Pyritz mit einem Festgottesdienst, der Wiederaufführung des Schauspiels von Paul Hartwig und einem Festzug zum Otto-Garten, die evangelische Gemeinde Stettin beging die Feierlichkeiten am 19./23. Juni unter anderem mit der Aufführung des Schauspiels Otto von Bamberg des Stettiner Lehrers und Landeshistorikers Paul von Nießen. Otto-Feiern der pommerschen Katholiken fanden am 22. Juni in Swinemünde und am 28./30. Juni in Stettin statt, unter Teilnahme des Erzbischofs von Bamberg Johann Jakob von Hauck und des Breslauer Bischofs Adolf Bertram; hierbei wurden Bamberger Otto-Reliquien in die Propsteikirche Sankt Johannes Baptist überführt. Den Abschluß der Feiern bildete eine Zugwallfahrt nach Pyritz, an der etwa 700 Gläubige teilnahmen. Die katholische Traditionsbildung im Nordosten Deutschlands wird nicht zuletzt daran sichtbar, daß Otto 1930, bei der Errichtung des Bistums Berlin (das auch die Provinz Pommern umfaßte) zum Kopatron der Diözese erklärt wurde. In dieser Funktion wurde seiner auch öffentlich gedacht, als er 1955 auf einer Sonderbriefmarke der Deutschen Bundespost Berlin „25 Jahre Bistum Berlin“ abgebildet wurde. Das Jubiläum von 1924 bot einen Anstoß für weitere wissenschaftliche Veröffentlichungen. Schon 1922 hatte der Stettiner Lehrer und Volkskundler Alfred Haas eine kleine Zusammenstellung zur Thematisierung Ottos in der pommerschen Volkssage veröffentlicht. Für Adolf Hofmeister, dem 1921 nach Greifswald berufenen Mediävisten, war das Datum Anlaß, sich mit der Person Ottos näher zu beschäftigen, unter anderem durch eine Neuedition der äl567

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testen Lebensbeschreibung und deren Übertragung ins Deutsche. Wenige Jahre später wurde erstmals die zweite Missionsreise Ottos zum Ausgangspunkt eines Jubiläumsgedächtnisses, als 1928 auf dem Usedomer Schloßberg ein großes Gedenkkreuz, dessen Inschrift an die Annahme des Christentums im Jahr 1128 erinnerte, errichtet wurde. „An dieser Stelle/ Nahmen zu Pfingsten 1128/ Die Führer der Wenden/ In Westpommern/ Das Christentum an./ Gott will nicht/ erzwungenen, sondern freiwilligen Dienst./ Otto von Bamberg./ Errichtet 1928.“ Diese die politischen Rahmenbedingungen der Missionstätigkeit Ottos ausblendende Sicht war freilich zur gleichen Zeit schon durch die Studie von Werner Kümmel in Frage gestellt worden. Das 1939 in Bamberg geplante nächste Jubiläum, der 800. Jahrestag von Ottos Tod und der 750. seiner Kanonisation, wurde wegen des Krieges verschoben und 19�9 nachgeholt. Anläßlich dieses Jubiläums gab es auch Deutungen, Otto als einen „Wegbereiter des Deutschtums“ zu sehen, wie sie der Bamberger Staatsarchivar Michel Hofmann vertrat, eine Sicht, die schon beim Denkmal an der Berliner Siegesallee angedeutet war. Nach dem Zweiten Weltkrieg kam es erst seit den 1970er Jahren zu einer intensiveren Rückbesinnung auf die Gestalt Ottos. Auf deutscher Seite ließ sich eine politische Inanspruchnahme Ottos in zweierlei Hinsicht beobachten: Sahen Erinnerungsschriften pommerscher protestantischer Vertriebener Otto von Bamberg einerseits als Vertreter des „Deutschtums“ im Osten und nahmen ihn zum Kronzeugen dafür, daß Polen keinerlei historische Rechte auf Pommern habe, so wurde er andererseits als Fürsprecher der deutsch-polnischen Aussöhnung gedeutet. Die Öffentlichkeit in den neuen Westgebieten Polens widmete Otto von Bamberg als Erinnerungsort vorerst keine Beachtung. Als erstes entdeckte ihn die polnische Geschichtswissenschaft. Neben einzelnen kleineren Arbeiten aus den späten 1950er Jahren hatte vor allem die kritische Neuedition der drei ältesten Lebensbeschreibungen in den Jahren 1966 bis 197� in den Monumenta Poloniae Historica Bedeutung. Der nächste Anstoß war 1972 die Neuordnung der polnischen Bistümer. Dabei entstand das Bistum Stettin-Cammin, dessen Mitpatron Otto von Bamberg wurde. Das Otto-Jubiläum im Jahr 197�, der 850. Jahrestag des Beginns der Christianisierung Pommerns, wurde sowohl in Bamberg als auch in Pyritz, Cammin und Stettin – hier unter Teilnahme des gesamten polnischen Episkopats und des Bamberger Erzbischofs Josef Schneider – begangen. In den folgenden Jahren kam es in enger zeitlicher Folge zu weiteren Jubiläumsfesten, so 1978 in Usedom und Stettin, 1989 anläßlich des Jahrestages der Kanonisation in Bamberg und Cammin, 199� in Pyritz, 2003 in Usedom und 200� in Pyritz. In den letzten Jahren werden auch in Treptow an der Rega und in Zirkwitz bei Greifenberg Otto-Feste veranstaltet, die jeweils von deutsch-polnischen wie von interkonfessionellen Begegnungen geprägt sind. Der schon vor der politischen Wende von 1989/90 erfolgte intensivierte Rückgriff auf Otto als Landes- und Diözesanpatron zeigt sich an der Translation von Otto-Reliquien von Bamberg nach Stettin (1978) beziehungsweise Cammin (1982) sowie an der Benennung des neugegründeten Stettiner Diözesanverlags Ottonianum. Besondere öffentliche Bedeutung hatten 1998/99 die Restaurierung des Pyritzer Otto-Brunnens und im Jahr 2000 die Einweihung der neuen, vom Krakauer Bildhauer Czesław Dźwigaj źwigaj wigaj hergestell568

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Die im Jahr 2000 eingeweihte Bronzetür des Westportals der Stettiner Jakobikirche, die der Krakauer Bildhauer Czesław Dźwigaj źwigaj wigaj angefertigt hatte, zeigt auf den vier Bildfeldern Szenen aus der Missionstätigkeit Ottos von Bamberg. Die erklärenden Bildunterschriften lauten, links oben: 1123 r. Bolesław III. Krzywousty prosi św. Ottona z Bambergu o chrzest Pomorzan [1123 Bolesław III. Krzywousty bittet den heiligen Otto von Bamberg um die Taufe der Pommern], links unten: 1124 r. Św. Otton z Krzywoustym w Gnieźnie [Der heilige Otto mit Krzywousty in Gnesen], rechts oben: 24 VI 1124 r. Św. Otton w Kamieniu z księciem Warcisławem [24. Juni 1124 Der heilige Otto in Cammin mit Herzog Wartislaw], rechts unten: 1124 r. Św. Otton w Wolinie i Szczecinie [1124 Der heilige Otto in Wollin und Stettin]. Foto: Jerzy Arsoba, Szczecin.

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ten Bronzetüren des Westportals der Stettiner Jakobikirche, auf denen auf vier Feldern Szenen aus dem Leben Ottos von Bamberg dargestellt sind. 2003 richtete man unter der Nordempore der Bartholomäuskirche in Demmin eine ständige Ausstellung zu Otto von Bamberg ein, in der sich als Dauerleihgabe die Büste Ottos aus der Berliner Siegesallee befindet. Seit 1999 werden in Cammin in der letzten Juniwoche zur Erinnerung an die Missionstätigkeit Ottos die Tage der christlichen Kultur (Ottonalia) mit geistlichen, künstlerischen und sportlichen Veranstaltungen organisiert. Im Jubiläumsjahr 2004 stiftete der Erzbischof von Stettin-Cammin, Zygmunt Kamiński, den Orden des heiligen Otto von Bamberg, der für Verdienste um das Erzbistum verliehen wird – das erste Mal, 200�, in Anwesenheit des Erzbischofs von Bamberg. 2006 erhob die Stadt Pyritz Otto zu ihrem Patron. 2011 erschien in Stettin ein Kinderbuch, in dem ein zehnjähriger Junge aus Stettin mit seinem Großvater die Orte der Missionsreisen Ottos nachreist. In den zurückliegenden Jahrzehnten ist Otto von Bamberg, dies machen die genannten Beispiele deutlich, sowohl im deutschen Vorpommern als auch im Bereich der polnischen Diözese Stettin-Cammin zum Gegenstand einer intensiven volkstümlichen und religiösen Gedenkkultur geworden. So vielfältig die Jahrestage für die Feierlichkeiten zu einzelnen Otto-Jubiläen sind, so uneinheitlich ist das Tagesdatum des Gedenkens. Ottos liturgischer Gedenktag ist der Todestag, der 30. Juni. Allerdings ist sein Gedenktag in der polnischen katholischen Kirche der 1. Juli, während in Bamberg und im Bistum Berlin der Kanonisation am 30. September gedacht wird. Entsprechende Jahrjubiläen wurden 1889/91, 1939/�9 und 1989 begangen, dagegen bildete sich in Pommern der Beginn der Missionspredigten Ottos 1124 und der 15. Juni als Tag der ersten Taufen als wichtigstes Jubiläumsdatum heraus. Die Erinnerung an Otto von Bamberg erfolgte seit dem 17. Jahrhundert sowohl in bildlichen Darstellungen als auch in (populär)wissenschaftlichen Beiträgen in auffallender Weise in historischen Paarbildungen. Otto fand Berücksichtigung im Kontext mit Personen, mit denen man ihn typologisch verbunden sah. Diese Paarbildungen erfolgten zunächst mit pommerschen Fürsten, zuerst mit Wartislaw, dem ersten historisch belegten Pommernfürsten, der von Bolesław III. von Polen zur Annahme des Christentums veranlaßt wurde. Diese Parallelisierung findet sich etwa auf dem Titelblatt zu Cramers Kirchen-Chronicon von 1628. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts finden sich Wartislaw und Otto auf der Kanzel der Bartholomäuskirche in Demmin, und im Giebelrelief des Turmportals der Wartislawkirche in Stolpe steht Jesus Christus zwischen Otto von Bamberg auf der linken und Wartislaw auf der rechten Seite. Auf dem Mitgliederblatt der „Gesellschaft für Pommersche Geschichte und Altertumskunde“ standen sich am Ende des 19. Jahrhunderts Otto von Bamberg und Bogislaw X. als herausragende Persönlichkeiten der pommerschen Geschichte gegenüber. Eine andere Programmatik wird in Konfrontationen Ottos mit Personen der Kirchengeschichte faßbar. Besonders ausgebildet war in der pommerschen protestantischen Otto-Rezeption die Parallelisierung mit Johannes Bugenhagen, wobei beide als Prototypen der Evangelisierung des Landes gesehen wurden. Das findet sich schon auf der Pommernkarte von Michaelis aus dem Jahr 1707 und wurde als Bildprogramm auf neu570

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en Kirchenkanzeln der 1860er Jahre für alle sichtbar. Dabei wurden neben Bugenhagen weitere, unterschiedliche Vertreter der Reformation dargestellt, so in den Kirchen von Demmin, Altentreptow, Pasewalk und Semlow bei Tribsees; explizit wird diese Vorstellung im Titel des Neuen Otto-Büchleins von Wangemann 1871 formuliert. Auf Seriengeldscheinen der Stadtbank Pyritz von 1921 sind Otto von Bamberg und Johann Knipstro, der erste lutherische Prediger von Pyritz, gegenübergestellt. In der polnischen Otto-Rezeption der letzten Jahre wird der fränkische Missionar hinsichtlich seiner Missionsmethode verschiedentlich mit Adalbert von Prag in Beziehung gesetzt. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen vöLschoW, Joachim: Aera D. Othonis Episcopi Babenbergensis, Pomeranorum, Ut Audit, Apostoli, Seu Historica enarratio de Occasione Conversionis Pomeranorum ad Christianismum ante annos 500. per Ottonem Episcopum Bambergensem a Boleslao Poloniae Rege vocatum institutae. Gryphiswaldi 1625; zicKerMann, Christian: Nachricht von den alten Einwohnern in Pommern, auch von dero Religion und Bekehrung, inbesonderheit aber von der St. Petri und Pauli Kirche in Alten Stettin, welche Otto von Bamberg Anno 112� bauen lassen. Stettin 172�; bernhardt, Ernst: Das ist das Ottobüchlein darinnen einfältiglich beschrieben stehet, wie die Pommern mit Hilfe Gottes durch ihren Apostel Otto zum Christenthum sind bekehret worden. Stettin 182�; MeinhoLd, Wilhelm: St. Otto, Bischof von Bamberg oder die Kreuzfahrt nach Pommern. Ein romantisch-religiöses Epos in 10 Gesängen. Greifswald 1826; rion, J. [schWarz, Ignaz Christian]: Leben und Thaten des heiligen Otto, Bischofs von Bamberg und Apostels der Pommern neu erzählt für Jugend und Volk. Bamberg 1833; hanauer, Augusta: Ottonias. In drei Gesängen. Bamberg 1852; suLzbecK, Franz Xaver: Leben des heiligen Otto, Bischofs von Bamberg und Apostels der Pommern. Regensburg 1865; WanGeMann, Hermann Theodor: Das neue OttoBüchlein in welchem getreuer Bericht gegeben wird, wie unsere Vorfahren in Pommern zuerst Heiden gewesen sind, und durch Bischof Otto von Bamberg zum christlichen Glauben bekehret sind und wie darnach die christliche Kirche Pommerns durch Dr. Johann Bugenhagen und seine Genossen aus der Finsterniß römisch-katholischer Irrungen dem reinen Lichte des Evangelii zurückgeführt worden ist. Berlin 1871; hartWiG, Paul: Bischof Otto. Ein Bühnenspiel in drei Aufzügen. Pyritz 1901 [21924]; niessen, Paul von: Otto von Bamberg. Ein geschichtliches Schauspiel aufgeführt zum ersten Mal in Stettin zur 800 Jahrfeier der Christianisierung Pommerns. Stettin 192�; hofMann, Michel: Otto von Bamberg und der deutsche Ostraum. Zum 800. Jahrestag seines Todes (30. Juni 1139) und zum 750. Jahrestag seiner Erhebungsfeier (30. September 1189). In: Bamberger Stadt- und Landkalender auf das Jahr 19�0, 31–37; WiKarjaK, Jan/LiMan, Kazimierz (Hg.): S. Ottonis episcopi Babenbergensis Vita Prieflingensis. Warszawa 1966; dies. (Hg.): Ebonis vita S. Ottonis episcopi Babenbergensis. Warszawa 1969; dies. (Hg.): Herbordi dialogus de vita S. Ottonis episcopi Babenbergensis. Warszawa 197�; südeKuM, Karl (Hg.): Die deutsche Otto-Vita des Konrad Bischoff aus dem Jahre 1�73. Neustadt/Aisch 1982; petersohn, Jürgen (Hg.): Die Prüfeninger Vita Bischof Ottos I. von Bamberg nach der Fassung des Großen Österreichischen Legendars. Hannover 1999; schLeGeL, Eva: Die Pyritzer Serienscheine für den Kreis und die Stadt. In: Weizackerbrief. Mitteilungsblatt ehemaliger Pyritzer Schüler 153 (1999) 16–17, 15� (1999) 1�–15; cyWińsKa, Longina/freLa, Maria: O Józiu, który wędrował szlakiem misji Świętego Ottona [Über den kleinen Joseph, der auf dem Weg der Mission des heiligen Otto wanderte]. Szczecin 2011.

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Norbert Kersken

b) Darstellungen haas, Alfred: Bischof Otto von Bamberg in der pommerschen Volkssage. Stettin 1924; KüMMel, Werner: Die Missionsmethode des Bischofs Otto von Bamberg und seiner Vorläufer in Pommern. Ein Beitrag zur kritischen Betrachtung der römisch-katholischen Missionspraxis des Mittelalters. Gütersloh 1926; LiMan, Kazimierz: Stan badań nad „Żywotami św. Ottona z Bambergu“ [Der Forschungsstand zu den „Lebensbeschreibungen Ottos von Bamberg“]. In: Studia zródloznawcze 3 (1958) 23–�7; Petersohn, Jürgen: Reichspolitik und pommersche Eigenstaatlichkeit in der Bamberger Stiftung Herzog Barnims III. zu Ehren des hl. Otto. In: Baltische Studien N.F. �9 (1962/63) 19–38; ders.: Apostolus Pomeranorum. Studien zur Geschichte und Bedeutung des Apostelepithetons Bischof Otto I. von Bamberg. In: Historisches Jahrbuch 86 (1966) 257–29�; busKe, Norbert: Die Verehrung Bischof Otto I. von Bamberg und die spätere Erinnerung an ihn im ehemaligen Herzogtum Pommern. In: ders. (Hg.): Bischof Otto I. von Bamberg. Beginn der Christianisierung des Peenegebietes. Greifswald 1978, �8–8�; Labuda, Gerard: Art. Otto. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 2�. Wrocław u. a. 1979, 628–630; Petersohn, Jürgen: Der südliche Ostseeraum im kirchlich-politischen Kräftespiel des Reichs, Polens und Dänemarks vom 10. bis 13. Jahrhundert. Mission, Kirchenorganisation, Kultpolitik. Köln u. a. 1979; ders.: Otto von Bamberg und seine Biographen. Grundformen und Entwicklung des Ottobildes im hohen und späten Mittelalter. In: Zeitschrift für Bayerische Landesgeschichte �3 (1980) 3–27; szuList, Władysław: Święty Otton z Bambergu [Der heilige Otto von Bamberg]. In: bar, Joachim Roman (Hg.): Polscy święci, Bd. 5. Warszawa 1985, 11–27; boJar-fiJałKoWsKi, Gracjan: Święty Otton z Bambergu [Der heilige Otto von Bamberg]. Warszawa 1986; busKe, Norbert: Bildliche Darstellungen des Bischofs Otto von Bamberg. Ein Beitrag zu seiner Verehrung als Heiliger und der Erinnerung an ihn als Begründer der Kirche im pommerischen Herzogtum. In: Bericht des Historischen Vereins für die Pflege der Geschichte des ehemaligen Fürstbistums Bamberg 125 (1989) 159–188; MachiLeK, Franz: Ottogedächtnis und Ottoverehrung auf dem Bamberger Michelsberg. Ebd., 9–34; roth, Elisabeth: Sankt Otto. Legendentradition in Bamberg und Pommern. Ebd., 197–233; südeKuM, Karl: Über die deutschsprachige Otto-Überlieferung. Ebd., 189–196; urban, Josef: Otto-Jubiläen in Bamberg und Pommern. Ebd., 59–103; zinK, Robert: Die Verehrung des hl. Otto im bürgerlichen Bamberg seit dem 18. Jahrhundert. Ebd., 539–559; KrzyMusKa-fafius, Zofia: Rola kultu św. Ottona bamberskiego w fundacjach Barnima III [Die Rolle des Kults des heiligen Otto von Bamberg in den Stiftungen Barnims III.]. In: fiLipoWiaK, Władysław/JanuszKieWicz, Barbara (Hg.): Mecenat artystyczny książąt Pomorza Zachodniego. Szczecin 1990, 7–28; Guth, Klaus: Art. Otto, Hl., Bischof von Bamberg. In: BiographischBibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 6. Herzberg 1993, 1368–1373; petersohn, Jürgen: Art. Otto I. In: Lexikon des Mittelalters, Bd. 6. München/Zürich 1993, 1580f.; ders.: Art. Otto von Bamberg. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 25. Berlin/New York 1995, 552–555; hiLdisch, Johannes: Der Ottobrunnen zu Pyritz. Daten und Ansichten einer versiegten Quelle. In: Baltische Studien N.F. 85 (1999) 98–122; schneidMüLLer, Bernd: Art. Otto I. In: Neue Deutsche Biographie, Bd. 19. Berlin 1999, 669f.; strzeLczyK, Jerzy: Apostołowie Europy [Apostel Europas]. Warszawa 1997; fabianczyK, Lech: Apostoł Pomorza [Der Apostel Pommerns]. Szczecin 2001; aLbrecht, Alois/busKe, Norbert (Hg.): Bischof Otto von Bamberg. Sein Wirken für Pommern. Schwerin 2003; WeJMan, Grzegorz (Hg.): Święty Otton z Bambergu – ewangelizator Pomorza. Jego kult do czasów współczesnych [Der hl. Otto von Bamberg – der Missionar Pommerns. Sein Kult bis zur Gegenwart]. Szczecin 200�; ryMar, Edward: Der Heilige Brunnen oder die Missionsreise Ottos von Bamberg, des Schutzheiligen von Pyritz und das Andenken an ihn im Lauf der Jahrhunderte. Pyrzyce 2006; WeJMan, Grzegorz: Miejsca kultu św. Ottona w diecezji kamieńskiej [Die Kultorte des hl. Otto in der Diözese Cammin]. In: KochanoWsKa, Janina (Hg.): Trzebiatów – spotkania pomorskie – 2005 r. Wołczkowo k. Szczecina 2006, 21–30; busKe, Norbert: Bischof Otto von Bamberg. Ein Heiliger wird zum Leitbild der pommerschen Geschichte. In: Baltische Studien N.F. 93 (2007) 29–�6; ders.: Erinnerungen an die Missionsreisen des Bischofs Otto von Bamberg. In: Göller, Luitgar (Hg.): 1000 Jahre Bistum Bamberg. 1007–2007. Unterm Sternenmantel [Ausstellungs-

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Otto von Bamberg katalog]. Petersberg 2007, 1�3–155; Guth, Klaus: Bischof Otto I. von Bamberg (1102–1139). In: Bericht des Historischen Vereins Bamberg 1�3 (2007) 25–37; petersohn, Jürgen: Kloster Prüfening und die literarisch-hagiographische Formung des Andenkens Bischof Ottos von Bamberg im 12. Jahrhundert. In: Giessauf, Johannes/Murauer, Rainer/schennach, Martin P. (Hg.): Päpste, Privilegien, Provinzen. Beiträge zur Kirchen- Rechts- und Landesgeschichte. Wien 2010, 327–338; rosiK, Stanisław: Conversio gentis Pomeranorum. Studium świadectwa o wydarzeniu (XII wiek) [Conversio gentis Pomeranorum. Studien zu den Zeugnissen des Geschehens (12. Jahrhundert)]. Wrocław 2010; petersohn, Jürgen: Fragmente einer unbekannten Fassung der Ottoviten-Kompilationen des Michelsberger Abtes Andreas Lang. In: Deutsches Archiv für Erforschung des Mittelalters 67 (2011) 5��–593.

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Еŭfrasinnja von Polack, Patronin Weißrußlands I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Kult bis 1917/18. – IV. Gedenken in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg. – V. Gegenwärtige Verehrung – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Еŭfrasinnja ist eine der wenigen als heilig verehrten Frauen ostslawischer Herkunft der russischen orthodoxen Kirche. Еŭfrasinnja wurde bereits kurz nach ihrem Tod im 12. Jahrhundert im Raum Polack verehrt. Von der Kiewer Metropolie vermutlich Ende des 15. Jahrhunderts heiliggesprochen, erhielt sie 1910 im Zusammenhang mit der Überführung ihrer Gebeine von Kiew nach Polack den Beinamen „Ehrwürdige“ und wurde vom Heiligen Synod als russische Heilige anerkannt. Im Verlauf des 19. Jahrhunderts wurde der lange vergessene Kult im Raum Polack durch orthodoxe Geistliche und Bürger wiederbelebt. Diese befanden sich damals gegenüber den jüdischen und katholischen Bewohnern in der Stadt in der Minderheit. Der Еŭfrasinnja-Kult half ihnen bei der Festigung ihrer Gemeinschaft. Zudem förderte er ein russländisch-orthodoxes, regionale Grenzen überschreitendes Identifikationsangebot unter russischer Dominanz über das Gebiet von Polack hinaus. Gleichzeitig wird die Heilige seit dem ausgehenden 19. Jahrhundert von der schwachen weißrussischen Nationalbewegung exklusiv beansprucht. Seit 198� gilt sie als Nationalheilige von Weißrußland; im selben Jahr wurde sie aufgrund der Verehrung, die sie auch unter ostslawischen Katholiken zumeist weißrussischer Herkunft genießt, in den katholischen Heiligenkalender aufgenommen.

II. Leben Die als Predslava in Polack zwischen 1101 und 1110 Geborene war als Enkelin des sagenhaften Fürsten von Polack, Vseslav Bračislavič, von hoher Abkunft. Ihre „Auserwähltheit“ zeigte sich ihrer weitgehend nach den üblichen hagiographischen Regeln verfaßten Vita zufolge bereits in früher Kindheit: „Und als der Körper der Jungfrau, mit Milch genährt, stärker wurde, füllte sich auch ihre Seele mit dem Heiligen Geist.“ Sie zeichnete sich überdies durch immense Wißbegier und außerordentliche Schönheit aus. Zahlreiche Brautwerber sollen um ihre Hand angehalten haben, doch das junge Mädchen wollte ihr Leben Christus weihen und ein asketisches, eheloses Leben führen. Ohne Wissen ihrer Eltern trat sie in das von ihrer Tante Romana geleitete Kloster ein, wo sie den Namen Еŭfrasinnja („Die Fröhliche“) annahm. Sie begann auf dem Feld der Bildung und der Wohlfahrt zu wirken und trug mit dem Abschreiben von Büchern entscheidend zum Unterhalt des Klosters bei. Darüber hinaus begann sie mit hohen geistlichen Würdenträgern in der Kiewer Rus’ und in Byzanz zu korrespondieren. Durch Engelserscheinungen 57�

Еŭfrasinnja von Polack, Patronin Weißrußlands

beflügelt, erwirkte sie die bischöfliche Erlaubnis, die zuvor abgebrannte Erlöserkirche als Steinbau wiedererrichten zu lassen. Da dies in einer für damalige Verhältnisse sehr kurzen Zeit gelang, wurde es später als Wunder interpretiert. Zur Weihe der Kirche stiftete Еŭfrasinnja ein sechsarmiges Goldkreuz aus der Werkstatt des Goldschmieds Lazar’ Bohša, das sogenannte Kreuz der Еŭfrasinnja. Dieses kunsthandwerkliche Meisterstück ging im Zweiten Weltkrieg verloren. Überdies gründete Еŭfrasinnja ein Nonnen- und ein Mönchskloster und stand beiden Institutionen vor. Polack entwickelte sich unter ihrer Ägide zu einem über die Stadtgrenzen hinaus wirkenden Zentrum der Bildung und Gelehrsamkeit. Gegen den entschiedenen Widerstand ihrer Verwandten bewirkte sie mit List den Eintritt einer Reihe weiblicher Verwandter in ihr Nonnenkloster. Einige Jahre vor ihrem Tod machte sich Еŭfrasinnja zu einer Pilgerfahrt in das Heilige Land auf und weilte unterwegs auch in Konstantinopel. Sie besuchte die Hagia Sophia und erhielt eine Audienz bei Kaiser Manuel I. Komnenos. In Jerusalem verstarb sie 1167 oder 1173. Ihrem Wunsch, im Kloster des heiligen Sabas beerdigt zu werden, konnte nicht entsprochen werden, da es sich um ein Mönchskloster handelte. Bis zu ihrer Überführung in das Kiewer Höhlenkloster, vermutlich im Jahr 1187, befanden sich ihre Gebeine in der Theodosius-Kirche zu Jerusalem. III. Kult bis 1917/18 Ihren Beinamen „die Ehrwürdige“ (prepodobnaja) erhielt Еŭfrasinnja offenbar schon vor ihrem Tod, wurde sie doch bereits zu Lebzeiten von der Bevölkerung Polacks und seiner Umgebung wegen ihrer Bildung und Wohltätigkeit verehrt. Bald nach ihrem Tod lag eine – heute verschollene – erste Version einer Vita vor, deren Verfasser bzw. Verfasserin die Äbtissin persönlich gekannt haben soll. In der Forschung wird zum Teil davon ausgegangen, daß es sich bei der Autorin um eine ihrer Schwestern oder ihre Cousine Zvenislava Borisovna gehandelt hat, die beide auf ihr Betreiben in den Nonnenstand eingetreten waren. Eine vermutlich in sieben Redaktionen vorliegende Fassung des Žitie Evfrosinii Polockoj (Vita der Еŭfrasinnja von Polack) entstand zwischen dem 1�. und 15. Jahrhundert. Eine erste Druckfassung für den allgemeinen religiösen Gebrauch lag wahrscheinlich erst 1868 vor. Für mehrere Jahrhunderte beschränkte sich der Kult auf den Raum Polack und dessen Umgebung, was anhand der Prüfung zeitgenössischer Stunden- und Gebets- sowie der liturgischen Monatsbücher der orthodoxen Kirche (sogenannte Menäen) plausibel gezeigt werden konnte. Еŭfrasinnja galt somit lange Zeit als Ortsheilige, deren Verehrung im Raum Polack konkurrenzlos war. Dies änderte sich offenbar im Verlauf des 16. Jahrhunderts, vor allen Dingen nach dem Einzug der Jesuiten in die Stadt 1579 und der 1596 geschlossenen Brester Union. Unierte Gläubige begannen nun, neben der orthodoxen Heiligen Jungfrau eine in Quellen belegte ostslawische Fürstentochter namens Paraskeva oder Prakseda zu verehren. Diese wurde zuweilen auch als Schwester oder auch Doppelgängerin Еŭfrasinnjas bezeichnet. Elemente aus den Viten bei575

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der wurden mit katholischen Versatzstücken vermengt. Damit sollte vor allem eine für Еŭfrasinnja nicht zu belegende Ausrichtung nach Rom – und eben nicht nach Konstantinopel – suggeriert werden. Beispielsweise wurde in einigen verschriftlichten Legenden Еŭfrasinnjas Pilgerreise dahingehend umgedeutet, daß ihr eigentliches Ziel nicht das Heilige Land, sondern Rom gewesen sei. Solche Umdeutungen sind durchaus als Bemühen zur Kreierung einer die verschiedenen Konfessionen verbindenden Kommunikationsfigur zu interpretieren. Im Verlauf des 17. Jahrhunderts verfestigte sich der Gegensatz zwischen orthodoxen und unierten Bewohnern der Eparchie Polack jedoch, was im wesentlichen dem Wirken des die Union mit Rom unbedingt befürwortenden Erzbischofs Jozafat Kuncevyč geschuldet war. Die Nachfrage nach zwischenkonfessionellen Integrationsmedien ließ nach. Der Еŭfrasinnja-Kult spielte in der nun überwiegend der Union zuneigenden Eparchie allem Anschein nach nur noch eine untergeordnete Rolle. Daß sich ihre Gebeine im Kiewer Höhlenkloster befanden, erschwerte die aktive kultische Verehrung zusätzlich. Stattdessen wurde Polack innerhalb Polen-Litauens zum populären Zentrum eines konfessionelle, rituelle, ständische und ethnische Grenzen überschreitenden Jozafat-Kultes; der streitbare Jozafat Kuncevyč war 1623 von orthodoxen Bürgern von Witebsk ermordet und als Märtyrer 1643 von Rom selig gesprochen worden. Welche Rolle die Еŭfrasinnja-Verehrung weiter östlich, also im Gebiet des Moskauer Staates, im volksfrommen Kontext spielte, ist unklar. Fest steht, daß ihr Name in den bis ca. Mitte des 17. Jahrhunderts gebräuchlichen Gebetbüchern weitgehend fehlt, so daß nicht von einer raumgreifenden, volksfrommen Verehrung dieser Heiligen auszugehen ist. Anders sieht es im dynastisch-imperialen Kontext aus: Die Vita Еŭfrasinnjas wurde im 16. Jahrhundert in zwei einflußreiche, in religiöser wie weltlicher Hinsicht identitätsstiftend wirkende Werke aufgenommen. Dies waren zum einen die Velikie minei čet’i (Große Lesemenäen), ein zwölfbändiges, liturgisches Monatsbuch, dessen erste Redaktion 1541 vorlag, zum anderen die Stepennaja kniga (Stufenbuch) von 1563. In diesem ausführlichen Stammbaum der Moskauer Herrscher wurde eine bei Rjurik, dem sagenhaften Gründer der Rus’, ansetzende Genealogie aufgezeigt, die bis zu Ivan IV. reichte. Diese aufwendig und unter hohem Kostenaufwand hergestellten Arbeiten beanspruchten nach den Worten ihres Initiators Makarij, des Metropoliten von Moskau, alle gelesenen Bücher zu berücksichtigen, die in der Rus’ zu finden seien, und dazu gehörte eben auch eine in seinem Besitz befindliche Abschrift des Žitie Evfrosinii. Beide Schriften sollten helfen, die bereits ein Jahrhundert zuvor begonnene sogenannte Sammlung der (orthodoxen) Länder der Rus’ zu legitimieren. Dafür spricht ebenfalls das Erscheinungsjahr des Stufenbuchs 1563, eroberten die Truppen des Moskauer Großfürsten im März des Jahres doch kurzzeitig die Stadt Polack. Im Stufenbuch wird dieses Ereignis erwähnt. Die Aufnahme Еŭfrasinnjas in die Ahnenreihe der Moskauer Großfürsten sollte die Verbindung zwischen Moskau und Polack unterstreichen. Auch die anzunehmende Kanonisierung Еŭfrasinnjas Ende des 15. Jahrhunderts durch die Metropolie von Kiew stand in diesem Zusammenhang. Schon seit längerem wollte man durch eine größere Zahl heiliggesprochener Ostslawen der Bedeutung griechischer Heiliger entgegenwirken. 576

Еŭfrasinnja von Polack, Patronin Weißrußlands

In beiden genannten Werken wurde die unstrittige Verwandtschaft Еŭfrasinnjas mit dem regierenden Herrscher des Moskauer Staates, Ivan IV., hervorgehoben. Im Stufenbuch heißt es: „In Polock gab es einen Fürsten mit Namen Vseslav, Sohn Bračislavs, Enkel Izjaslavs, Urenkel des seligen und apostelgleichen Vladimirs. Eben dieser Vseslav hatte viele Söhne.“ Einer von diesen, Georgij, war der Vater der Еŭfrasinnja. Sie stammte in fünfter Generation vom Großfürsten Vladimir dem Heiligen ab, unter dessen Herrschaft die Rus’ christianisiert worden war. Ausgespart blieben die Umstände dieser Verwandtschaftsbeziehung, über die allerdings eine andere zentrale Quelle ostslawischer Geschichte Auskunft gibt: In der Anfang des 12. Jahrhunderts entstandenen Povest’ vremennych let (Erzählung der vergangenen Jahre, auch: Nestorchronik) heißt es, daß der vor seiner Taufe um das Jahr 988 recht liederlich lebende Vladimir sich die Fürstentochter Rahneda von Polack gewaltsam zur Frau genommen habe. Jahre später wurde sie mit ihrem erstgeborenen Sohn Izjaslav in das heimatliche Polack verbannt, der Chronik zufolge nach einem gescheiterten Versuch Rahnedas, Vladimir zu töten. Dies wird häufig als Beginn der langen kriegerischen Konflikte zwischen Kiew und Polack interpretiert. In national-weißrussischen Kreisen des 20. Jahrhunderts gilt Rahneda neben Еŭfrasinnja als die andere große Schutzpatronin des Vaterlands. Während Еŭfrasinnja seit dem 16. Jahrhundert in einem primär dynastisch-religiösen Legitimationsdiskurs des Moskauer Staats eine gewisse Rolle spielte, wurde ihr Kult im Verlauf des 19. Jahrhunderts in Polack, dem ehemaligen Zentrum ihrer Verehrung, ethnokonfessionell angereichert. Infolge der polnisch-litauischen Union von 1569, der Brester Union und dem Wirken des Erzbischofs Kuncevyč hatte der Druck auf die dortige orthodoxe Bevölkerung zugenommen. Ein Beispiel hierfür war die Überantwortung der auf Initiative Еŭfrasinnjas erbauten Erlöser-Kirche an die Jesuiten im ausgehenden 16. Jahrhundert. Durch den vermehrten Zuzug jüdischer Bewohner entstand gleichzeitig ein multireligiöser Raum. Auch die Teilungen Polens, in deren Verlauf Polack unter zarische Herrschaft gelangt war, änderten vorerst nichts daran, daß die orthodoxe Bevölkerung über die Jahre allmählich ins Hintertreffen gelangt war. Trotz einer überwiegend konsensuellen Ausgestaltung der Lebenswelten im gemeinsam bewohnten städtischen Raum begannen die verschiedenen religiösen und konfessionellen Gruppen einen intensiven Wettstreit um Einfluß und Dominanz, wobei Bezügen auf Heilige eine ganz wesentliche Bedeutung zukam. Nach dem gescheiterten polnischen Aufstand des Jahres 1831 und der Aufhebung der Union 1839 in den Gebieten des ehemaligen Großfürstentums nutzten die örtlichen Orthodoxen die in Vergessenheit geratene Еŭfrasinnja als integrativen Kultfigur für die eigene Gruppe: Seit 1832 traten sie wiederholt an den Heiligen Synod mit der Bitte heran, die Gebeine der Heiligen aus Kiew, wo diese keine besondere Verehrung genoß, ins heimatliche Polack zu überführen. Dieses Unterfangen blieb jedoch erfolglos, weil die übergeordneten Stellen zu Recht darauf verweisen konnten, daß das Land von Polack überwiegend von nichtorthodoxen Gläubigen bewohnt war. Immerhin wurde sie 18�7 in dem von ihr gegründeten Erlöser-Еŭfrasinnja-Kloster zur Schutzheiligen. Erst die 1867 erfolgte Erhebung der Gebeine des unierten „Konkurrenzheiligen“ Jozafat Kuncevyč durch den Papst gab der Frage nach der Rückführung der Reliquien 577

Kerstin S. Jobst

neuen Auftrieb: Unmittelbar nach der Heiligsprechung Josafats war in Polack die in Sachen der translatio höchst aktive orthodoxe, Nikolaj und Еŭfrasinnja gewidmete Bruderschaft entstanden. 1870 wurde mit Rückführung eines Mittelfingers der Heiligen ein erster Erfolg erzielt. 1900 gaben die orthodoxen Bewohner der Stadt einen Еŭfrasinnja gewidmeten Lobgesang (Akafist) in Auftrag, was die Einbindung des Namens der Heiligen in den Gottesdienst beförderte. Auch außerhalb Polacks benannten sich andere wohltätige Organisationen nach der Heiligen, was als weiteres Zeichen ihrer Popularität in orthodoxen Kreisen gelten muß. 1910 schließlich wurde Еŭfrasinnja als russische Heilige anerkannt. Als Ausdruck der Inanspruchnahme Еŭfrasinnjas als orthodox-russische Integrationsfigur gestatteten Zar Nikolaus II. und der Heilige Synod die feierliche Überführung der Reliquien von Kiew nach Polack. Per Schiff wurden die Gebeine über den Dnjepr in das weißrussische Orša gebracht und von dort aus weiter auf dem Landweg nach Polack in das Erlöser-Kloster. Im Vorfeld der Umbettung waren zahlreiche Ikonen mit dem Bildnis der Heiligen angefertigt und in Kirchen entlang der Route ausgestellt worden; einige befinden sich noch heute dort. Die Anwesenheit von Angehörigen der Zarenfamilie und Mitgliedern des ebenfalls orthodoxen griechischen Königshauses unterstrich die symbolische Bedeutung dieser Überführung, die ohnehin ein großes Medienereignis war. In den folgenden Jahren sollen sich diverse Wunder am Grab der Heiligen zugetragen haben. Unter Wissenschaftlern gab es Zweifel, inwieweit Еŭfrasinnja als „russische“ Heilige zu gelten habe: Der Kirchenhistoriker Evgenij Golubinskij etwa wies 1901 darauf hin, daß vor Makarijs Editionen die Heilige im Moskauer Staat „sozusagen als Ausländerin“ gegolten habe. Ähnlich skeptisch hatte sich bereits mit Vasilij Ključevskij, einem der wichtigsten Historiker der vorrevolutionären Zeit, ein anderer Angehöriger der Zunft über die „Nationalität“ Еŭfrasinnjas geäußert. Gleichwohl wurde die Stadt Polack mit Hilfe der Reliquien der Heiligen deutlich als orthodox-ostslawischer Raum markiert. Die vor dem Ersten Weltkrieg schwache weißrussische Nationalbewegung hingegen, die auf eine von den Großrussen distinkte Identität pochte, beanspruchte die Heilige als eine der ihrigen; und dies auch deshalb, weil die Stadt Polack im Rahmen der intellektuellen Konstruktion einer möglichst alten und ehrwürdigen Nationalgeschichte aus vielen Gründen als ein früher Ausgangspunkt weißrussischer Staatlichkeit angesehen wurde. Der heiligen Еŭfrasinnja kam dabei eine große Bedeutung zu. Vorausahnend, daß den Gebeinen der Heiligen seitens der Gegner der Orthodoxie Gefahr drohen würde, wurden sie im Ersten Weltkrieg beim Vorstoß der Mittelmächte in das Zarenreich in das weitab von der Front liegende Abraham-Kloster in Rostov am Don verbracht. Ob dies eine wohlinszenierte Nachahmung der vielfachen „Errettung“ des unierten „Konkurrenzheiligen“ Josafat vor den orthodoxen Gegnern war, kann nicht abschließend beurteilt werden.

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Еŭfrasinnja von Polack, Patronin Weißrußlands

IV. Gedenken in der Zwischenkriegszeit und im Zweiten Weltkrieg Aufgrund der phasenweise militanten antireligiösen Politik der neuen sowjetischen Machthaber konnte nach der Oktoberrevolution von einem öffentlichen Kult nicht mehr die Rede sein. Allerdings verbannte man die Gebeine der Heiligen nicht aus der Öffentlichkeit, sondern instrumentalisierte sie als Anschauungsmaterial für eine atheistische, antireligiöse Erziehung. 1919 hatte das Volkskommissariat für Justiz der RSFSR die Öffnung zahlreicher Reliquiare wundertätiger Heiliger im ganzen Land verfügt. Im Mai 1922 traf dieses Schicksal auch die Gebeine Еŭfrasinnjas, die sich nun wieder in Polack befanden. Ziel der Untersuchung der mehrköpfigen Kommission, zu der neben politischen Funktionsträgern auch Ärzte und Geistliche zählten, war die Beweisführung, daß die bei Heiligen angenommene Unverwesbarkeit der Gebeine und das Konzept der Heiligkeit überhaupt ein Irrglaube seien. Dieser Beleg konnte insofern nicht erbracht werden, als in dem geöffneten Sarkophag keineswegs nur Knochen oder anderweitige Überreste, sondern auch eine gut erhaltene mumifizierte Leiche entdeckt wurde. Im Bericht der „ärztlich-wissenschaftlichen Kommission“ wurde dies mit den überaus günstigen klimatischen Bedingungen im Sarkophag erklärt, welche die Verwesung verhindert hätten. Nach Abschluß der Untersuchung wurden die Überreste in die im selben Jahr in Moskau stattfindende sogenannte Atheistische Ausstellung überführt. Bis in den Zweiten Weltkrieg hinein wurden die Reliquien schließlich im Witebsker Landeskundlichen Museum gezeigt, wo sie als Beispiel für religiösen Aberglauben dienen sollten. Allerdings war damit dem Kult unter nach wie vor religiösen Bevölkerungsgruppen nicht vollends Einhalt zu gebieten. Im Zweiten Weltkrieg machten sich die nationalsozialistischen Besatzer die Verehrung der Еŭfrasinnja pragmatisch zunutze: Zur Stabilisierung der eigenen Machtposition durch die Förderung antisowjetischer Stimmung wurden im okkupierten Gebiet Kirchen und Klöster wiedereröffnet – und im Oktober 1943 die Reliquien der Heiligen abermals nach Polack überführt, wo sie sich auch heute noch befinden. In den Wirren zwischen deutscher Besatzung und Rückeroberung durch die Rote Armee verschwand das oben angesprochene wertvolle sechsarmige Kreuz der heiligen Еŭfrasinnja. Alle Versuche, es wiederzubeschaffen, sind bislang gescheitert. Die in der Diaspora und im Land selbst agierende patriotische Vereinigung „Vaterland“ (Bac’kaŭščyna) ließ in den 1990er Jahren eine Replik anfertigen. Ihr Schöpfer, der weißrussische Künstler Mykola Kuz’mič, präsentierte sie 1997 feierlich der Öffentlichkeit. V. Gegenwärtige Verehrung Nach dem Zweiten Weltkrieg waren die Bedingungen öffentlicher Verehrung weiterhin ungünstig. In der offiziellen Geschichtsschreibung der weißrussischen Sowjetrepublik etwa wurde Еŭfrasinnja bis in die 1980er Jahre hinein gar nicht oder nur als Mitglied der mittelalterlichen Fürstenfamilie von Polack erwähnt. Im privaten Umfeld religiöser Menschen war der Kult hingegen nicht vergessen, was die recht dynamische Renaissance der 579

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Die nach dem Vorbild älterer Darstellungen angefertigte Gravur aus dem 19. Jahrhundert zeigt die durch Engel gekrönte Heilige mit dem von ihr gestifteten Kreuz in barocker Weise, noch ohne Hinweis auf ihre Funktion als Patronin von Weißrußland. Bildnachweis: Arloŭ, Uladzimir/Sahanovič, Henadz’ (Hg.): Dzesjac’ vjakoŭ belaruskaj historyi 862– 1918. Padzei. Daty. Iljustracyi [Zehn Jahrhunderte weißrussischer Geschichte 862–1918. Ereignisse. Daten. Illustrationen]. Viľnja 1999, 30.

Heiligen nach dem Zerfall der Sowjetunion erklärt. Deswegen konnte auf sie im Rahmen der Suche nach nationalen Integrationsmedien, die bei der Konstruktion einer weißrussischen Identität helfen sollten, zurückgegriffen werden. Es zeigte sich auch rasch, daß Еŭfrasinnja ungeachtet der politischen Brüche und Verwerfungen im unabhängigen Weißrußland als Patronin des Vaterlandes bis heute eine hohe Popularität genießt. In dem von ihr gegründeten Kloster in Polack leben inzwischen um die siebzig, größtenteils sehr junge Nonnen. Am dort befindlichen Reliquiar, das Еŭfrasinnjas „unverwesbare“ Gebeine birgt, sollen sich immer wieder Wunderheilungen und andere Mirakel ereignen. In Polack finden alljährlich zu ihrem Gedenktag am 23. Mai Feierlichkeiten statt. 2007 wurden die Reliquien in einen neuen Sarkophag umgebettet, und schon seit 1998 wird 580

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ein kirchlicher Orden verliehen, das sogenannte Kreuz der Ehrwürdigen Еŭfrasinnja, der Äbtissin von Polack. Von dieser Verehrung im engeren klösterlichen bzw. kirchlichen Umfeld einmal abgesehen, sind die Bezugnahmen auf die heilige Weißrussin auch im hoheitlich-staatlichen Kontext vielfältig: Nicht nur in Polack existiert seit 2000 ein zentral gelegenes Denkmal, das sie mit Buch und Feder, den Insignien der Gelehrsamkeit, zeigt, sondern auch in der Hauptstadt Minsk; eines befindet sich seit 2002 an der Allee der Unabhängigkeit, ein zweites seit 1999 im Innenhof der Staatlichen Universität. Eine Schule in Minsk trägt überdies ihren Namen. Die Weißrussische Nationalbank hat wiederholt Gedenkmünzen mit ihrem Bildnis emittiert, und die Post gab anläßlich ihres angenommenen 900. Geburtstages 2001 eine Briefmarke mit ihrem Konterfei heraus. Dies alles unterstreicht, wie sehr Еŭfrasinnja inzwischen selbst von den Akteuren einer staatlichen Geschichtspolitik als kommunikative Ressource genutzt wird. An der Schnittstelle zwischen religiösem und staatlichem Erinnern ist das ЕŭfrasinnjaThema in der darstellenden Kunst einzuordnen, wofür es ebenfalls Beispiele gibt: So wurde bereits 1989 ein Film der Regisseurin Oľga Morokova mit dem Titel Еvfrosinija Polockaja abgedreht. 2009 kam unter anderem mit Hilfe staatlicher Gelder ein bereits zwanzig Jahre zuvor verfaßtes Theaterstück Irina Maslenicynas im Witebsker „JakubKolas-Theater“ zur Aufführung, in dem gezeigt werden sollte, daß „die Gebete, Gedanken und Hoffnungen Еŭfrasinnjas erfüllt waren von der Liebe zu Gott und der heimatlichen Erde“. 2003 veröffentlichte mit Anžalika Ahurbaš eine der populärsten weißrussischen Popsängerinnen – 2005 vertrat sie ihr Land beim „Eurovision Song Contest“ in Kiew – ein Lied mit dem Titel Еŭfrasinnja. Damit wollte die seit längerem in Moskau lebende Interpretin nach eigener Aussage ihre besondere Verbundenheit mit ihrer weißrussischen Heimat dokumentieren. Еŭfrasinnja ist darüber hinaus die Schutzheilige einiger orthodoxer Kirchen in Zentren der weißrussischen Diaspora, beispielsweise in South River im US-Staat New Jersey sowie in Toronto, Kanada.

VI. Auswahlbibliographie a) Quellen dubrovsKiJ, Мichail: Žitie prepodobnoj Evfrosinii, knjažny Polockoj. S kratkim opisaniem osnovannogo eju v g. Polocke ženskogo monastyrja i nachodjaščejsja v nem svjatyni [Vita der heiligen Еŭfrasinnja, der Fürstin von Polack samt kurzer Beschreibung des von ihr in Polack gegründeten Frauenklosters und der darin befindlichen Heiligtümer]. S-Peterburg 1910; Mesjaca majja v 23 den’. Žitie blaženyja Evfrosinii, igumenii vsedržitelja Svjatago Spasa vo grade v Polocke [23. Tag des Monats Mai. Vita der seligen Еŭfrasinnja, der Äbtissin des Klosters des heiligen allherrschenden Erlösers in der Stadt Polack]. In: Koršunaŭ, Aljaksandr F. (Hg.): Chrėstamatyja pa staražytnaj belaruskaj literatury [Chrestomatie der älteren weißrussischen Literatur]. Minsk 1959, 69–81; nadson, Alexander: The Life of Saint Euphrosyne of Połack. In: The Journal of Byelorussian Studies 5 (1969) 3–23; LiLienfeLd, Fairy von (Hg.): Der Himmel im Herzen. Altrussische Heiligenlegenden. Freiburg u. a. 1990, 180–185, 232–23�.

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b) Darstellungen voronova, E. M.: Evfrosinija. In: Lichačev, dmitrij (Hg.): Slovar’ knižnikov i knižnosti Drevnej Rusi [Wörterbuch der Schriftgelehrten und der Gelehrsamkeit in der Alten Rus], Bd. 1. Leningrad 1987, 1�7– 1�8; voronova, E. M.: Problemy tekstologičeskogo izučenija „Žitija Evfrosinii Polockoj“ [Probleme der textologischen Untersuchung der „Vita der Eŭfrasinnja von Polack“]. In: Institut istorii akademii nauk BSSR. Polockij istoriko-archeologičeskij zapovednik (Hg.): K 1125-letiju Polocka. Konferencija „Istorija i archeologija Polocka i Polockoj zemli“. Polock 1987, 1�; arLoŭ, Uladzimir: Eŭfrasinnja Polackaja [Eŭfrasinnja von Polack]. Minsk 1992; ders.: Žyvotvornyj simvol otčizny. Istorija Kresta svjatoj Evfrosinnii Polockoj [Das lebenspendende Symbol des Vaterlands. Die Geschichte des Kreuzes der Еŭfrasinnja von Polack]. Minsk 1998; trofiMiuK, Ewa: Monastery połockie do końca XVI wieku [Klöster von Polack bis Ende des 16. Jahrhunderts]. In: MironoWicz, Antoni/paWLuczuK, Urszula/ choMiK, Piotr (Hg.), Życie monastyczne w Rzeczpospolitej. Białystok 2001, 103–107; KLoss, Boris: Žitie Evfrosinii Polockoj. Problemy izučenija i izdanija [Die Vita der hl. Еŭfrasinnja von Polack. Probleme der Forschung und der Edition]. In: navicKi, uladzimir (hg.): Asvetnictva i humanistyčnyja kaštoŭnasci Belarusi ŭ rėtraspektyve času. Da 900-hoddzja z dnja naradžėnnja Eŭfrasinni Polackaj. Navapolack 2002, 9–13; Jobst, Kerstin S.: Im Kontext von Hagiographie und nationalen Diskursen: Die Vita der Evfrosinija von Polack. In: Historische Zeitschrift 28� (2007) 2, 311–3��.

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Die heiligen Nemanjiden I. Zusammenfassung. – II. Die Herrscherfamilie der Nemanjići. – III. Verehrung. – a) Entstehung und Festigung des Kultes (12.–14. Jahrhundert). – b) Vermehrung der Verehrungspraktiken bis um 1700. – c) Kulturelle Rückbesinnung und nationale Aneignung (18. und 19. Jahrhundert). – d) Zwischen Neutralisierung und radikaler Nationalisierung im 20. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Aus der an Nationalheiligen reichen serbischen Orthodoxie sticht die Verehrung der Nemanjiden-Dynastie als kollektive Erinnerungsfigur in besonderer Weise hervor. Der Kult um die Herrscherfamilie, die sowohl weltliche als auch geistliche Würdenträger stellte, wurde bereits von ihren frühen Vertretern eingeleitet und im 13. sowie im frühen 14. Jahrhundert mit großer Sorgfalt ausgebaut. Die meisten Angehörigen wurden während des Mittelalters und der Frühen Neuzeit kanonisiert und in zahlreichen Separatkulten unterschiedlicher Ausprägung verehrt. Mit der Gründung des serbischen Nationalstaats im 19. Jahrhundert und im Laufe der wechselhaften Geschichte Jugoslawiens im 20. Jahrhundert diente die geschichtspolitische Bezugnahme auf die Nemanjiden-Tradition immer wieder zur Legitimierung territorialer Ansprüche der serbischen Politik und zur Herausstellung nationaler Exklusivität.

II. Die Herrscherfamilie der Nemanjići Dem Großfürsten (veliki župan) Nemanja, Gründer und Namensgeber der Dynastie, gelang es im letzten Drittel des 12. Jahrhunderts, die Fürstentümer Raška und Zeta unter seiner Herrschaft zu vereinen. 1196 legte er seine weltlichen Ämter zugunsten seines Sohnes Stefan nieder und trat unter dem geistlichen Namen Simeon in den Mönchsstand. Damit folgte er seinem jüngsten Sohn Rastko, der bereits einige Jahre zuvor im Kloster Hilandar auf dem Berg Athos in den geistlichen Stand eingetreten war und unter dem Mönchsnamen Sava zur zentralen Bezugsfigur der serbischen Orthodoxie werden sollte. Nemanjas Sohn Stefan bemühte sich zum Zweck der inneren und äußeren Herrschaftssicherung um die Königswürde und erhielt diese schließlich 1217 durch Papst Honorius III. Als „erstgekrönter“ „König von Serbien und des Küstenlandes“ leitete er die Dynastiebildung ein, während sein Bruder Sava 1219 aus Konstantinopel seine Bestellung zum Bischof des de facto autokephalen Erzbistums von Serbien erwirkte. Nachdem Stefan wie bereits sein Vater zuvor kurz vor seinem Tod 1228 das Mönchsgelübde abgelegt und den Namen Simon angenommen hatte, folgten ihm in relativ kurzer zeitlicher Abfolge seine drei Söhne Radoslav, Vladislav und Stefan Uroš I., die das Reich mit mäßigem Erfolg gegen die Nachbarreiche Bulgarien, Ungarn und Byzanz sicherten. 583

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Nach der erzwungenen Abdankung von Uroš bestieg dessen Sohn Dragutin, der mit ungarischer Unterstützung in Serbien intervenierte, für kurze Zeit den Thron, um seinerseits von seinem Bruder Stefan Uroš II. Milutin abgesetzt zu werden. Milutin gilt als einer der mächtigsten Herrscher des serbischen Mittelalters. Während seiner langen Herrschaft erweiterte er das Königreich vor allem nach Süden und Südosten um vormals bulgarisch-byzantinische Gebiete und leitete damit eine neue Phase im politischen Selbstverständnis ein, das einerseits von einer stärkeren politisch-kulturellen Ausrichtung nach Byzanz und andererseits von christlichen Großmachtansprüchen geprägt war. Sein Sohn und Nachfolger, Stefan Uroš III. Dečanski, wurde nach nur kurzer Herrschaft Opfer eines von seinem Sohn vorangetriebenen Mordkomplottes, der daraufhin als Stefan Uroš IV. den Thron bestieg. Mit Uroš IV., besser bekannt als Stefan Dušan, war der politische und wirtschaftliche Höhepunkt des Vielvölkerreiches, das sich unter seiner Herrschaft von der Donau bis an den Golf von Patras erstreckte, erreicht, was seinen Ausdruck in der eigenmächtig vorangetriebenen Krönung zum „Kaiser und Autokrator Serbiens und [Ost-]Roms“ (Bασιλεὺς καὶ αὐτoκράτωρ Σερβίας καὶ Ῥωμάνιας) im Jahre 1346 in makedonischen Serres fand. Kurze Zeit zuvor hatte er bereits das serbische Erzbistum zum Patriarchat erhoben. Sein Sohn und Nachfolger Zar Stefan Uroš V. konnte das großflächige und von Fraktionskämpfen erschütterte Reich nicht zusammenhalten. Mit seinem Tod brach es vollends in mehrere, teils instabile lokale Fürstentümer auseinander, die in der Folgezeit von den nach Europa vordringenden Osmanen erobert werden sollten. Uroš V. verstarb kinderlos, so daß die Herrschaft des letzten männlichen Vertreters der Hauptlinie der Nemanjiden zugleich auch das Ende des serbischen Großreiches (Zarentums) bedeutete. III. Verehrung a) Entstehung und Festigung des Kultes (12.–14. Jahrhundert) Den historisch-genealogischen Kern des Erinnerungsortes „Nemanjiden“ bildet eine durch einzelne Mitglieder der Familie sorgsam und planvoll angelegte Memorialkultur, die sowohl in ihrem Umfang als auch in ihrer Ausarbeitung keinen Vergleich in der mittelalterlichen Slavia Orthodoxa findet. Zentrale Orte der Pflege und Verbreitung der dynastischen Memoria waren die von den Königen gestifteten Grablegeklöster, die vor allem dem Andenken ihres Gründers beziehungsweise Erneuerers oder Gönners verpflichtet waren. Andachten, Messen und Viten dienten neben zahlreichen Freskodarstellungen in besonderem Maße zur Aufrechterhaltung der Memoria. Daneben wurde dieses Wissen in profanem Schrifttum in Form von Genealogien und Gesta festgehalten, die zwar nur einer kleinen lesekundigen Schicht zugänglich waren, deren Inhalte jedoch auch in mündlicher Form tradiert wurden beziehungsweise sich zum Teil daraus inspirierten. Eine wichtige Rolle als Medium der Heiligenverehrung kam schließlich dem im Lauf der Zeit immer bedeutender werdenden Reliquienkult zu. 58�

Die heiligen Nemanjiden

Die professionalisierte Erinnerungspflege der Nemanja-Familie setzte bereits unmittelbar nach dem Tod des Ahnenvaters mit dessen von beiden Söhnen aktiv vorangetriebenen Verehrungspolitik ein. Zum einen sind hier die von Sava und Stefan-Simeon verfaßten Viten Simeon-Nemanjas zu erwähnen, zum anderen die von Sava inszenierte Überführung der Gebeine des Vaters vom Athos-Kloster Hilandar in dessen wichtigste Stiftung, das Kloster Studenica, wo Sava als Erzbischof residierte. Im gleichen Geist wurde einige Jahrzehnte später im Kloster Sopočani, der Grablege Uroš’ I., ein Wandgemälde angefertigt, das die beiden bis dahin zerstrittenen Brüder Stefan den Erstgekrönten und Vukan als Träger der Gebeine ihres Vaters zeigt, deren Ankunft Sava in Studenica erwartet. Abgesehen von Vukan wurden die Protagonisten der translatio-Szene zum Zeitpunkt der Entstehung des Wandgemäldes schon heiligmäßig verehrt. Die in dieser visuellen Darstellung besonders verdichtete Erzählung – die Verehrung des Vaters durch seine zugleich in weltlicher wie geistlicher Nachfolge stehenden Söhne im Sinne eines das Land einigenden Integrationsrituals – kann als ideologischer Kern der um die Nemanjiden ausgebildeten Erinnerungskultur angesehen werden. Sämtliche Nemanjiden-Herrscher trafen bereits zu Lebzeiten mit unterschiedlichem Erfolg Vorkehrungen zu ihrer postumen Verehrung, indem sie Klöster stifteten, beschenkten oder erneuerten, die ihrem Andenken verpflichtet waren. Gerade das Fehlen einer festen Residenz im hochmittelalterlichen Serbien ließ der hohen Zahl an Kirchen- und Klosterstiftungen, die von der historischen Raška ausgingen und mit der Erweiterung des Herrschaftsgebiets im gesamten Herrschaftsraum gegründet wurden, eine herausgehobene Bedeutung in der Erinnerungspflege zukommen, zumal dort auch das königliche Schrifttum von Urkunden bis zu Chroniken verwahrt und vervielfältigt wurde. Die großen herrschaftlichen Stiftungen Žiča, Mileševa, Dečani, Gračanica, Sopočani, Studenica und schließlich das Athos-Kloster Hilandar sind in diesem Zusammenhang besonders zu erwähnen. Die erste Komposition, die die dynastische Abfolge zum Gegenstand hat, wurde auf Veranlassung von Radoslav in der Vorhalle des Klosters Studenica gemalt, wo dieser sich neben seinen Ahnen beisetzen ließ. Die hier dargestellte Prozessionsszene über drei Generationen (von Simeon-Nemanja bis Radoslav selbst) kann als früheste graphische Inszenierung des Familienkultes gelten. Auf Basis einer bereits gefestigten Ikonographie des weltlich-geistlichen „Gründungsduos“ Nemanja-Sava ließ sich dieses Motiv erweitern: So zeigt etwa ein um 1265 entstandenes Fresko in der erwähnten Klosterkirche von Sopočani eine Prozession, die von Nemanja-Simeon bis zu den Söhnen Uros’ I., Stefan Vladislav und Stefan Dragutin, sämtliche Nemanjići mit Nimbus darstellt. Die territoriale Expansion des serbischen Königtums unter Milutin, begleitet von einer bis dato ungekannten Stiftertätigkeit, leitete eine neue Etappe der NemanjidenVerehrung ein. Ab dem frühen 14. Jahrhundert wurde die gesamte Dynastie als heilig erachtet, was seine klassische Formel in der „heiligen Rebe der Nemanjiden“ (sveta loza Nemanjića) findet, die als Fresko zuerst 1321 in Milutins Klosterstiftung Gračanica belegt ist. Diese auch zur Redensart gewordene Darstellung des Nemanjiden-Stammbaums greift das alttestamentarische Bild der „Rebe Jesajas“ (Jesaja 5) auf: Kanonisierte wie 585

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nicht-kanonisierte Mitglieder des Hauses Nemanja sind Weinreben gleich an einem Spalier emporwachsend angebracht, an dessen oberem Ende Christus selbst den Krönungsakt vollzieht. Die Sakralisierung der politischen Macht erreicht hier ihren Höhepunkt, und das Bild der „heiligen Rebe“ wird aufgrund seiner graphischen Wirkungsmacht und häufigen Reproduktionen fortan zum klassischen Memorialtopos der Dynastie. In Schriften, die während der Hochphase nemanjidischer Machtentfaltung in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts entstanden, kommt diese politische Sakralisierungspraxis ebenfalls zum Ausdruck: Aus der „heiligen Wurzel Nemanjas“ sollte ein „Neues Israel“ entstehen. Auf der Grundlage eines dynastischen Sendungsbewußtseins sollte der gesamte Herrschaftsraum als heilig erscheinen. b) Vermehrung der Verehrungspraktiken bis um 1700 Neben der kollektiven Verehrung der Dynastie, die sowohl weltliche als auch geistliche Autoritäten, männliche wie weibliche Angehörige, umfaßte, ist auf den erweiterten Erinnerungskomplex zu verweisen, der sich in einer großen Zahl von Separatkulten zu einzelnen Familienangehörigen verzweigte. Dabei kam es schon früh zu unterschiedlich stark ausgeprägten individuellen Memorialkulten – an erster Stelle ist der des heiligen Sava zu nennen –, und je nach Region und Zeitraum standen diese zumeist sogar stärker als der Nemanjiden-Kult als Ganzes im Vordergrund. Gleichwohl lieferte dieser das notwendige Erinnerungsgerüst der jeweils verehrten Person oder Personengruppe, deren tatsächliche Kanonisierung letztlich weniger von Bedeutung war als der Hinweis, daß sie der „heiligen Wurzel“ entstamme. Es kann daher von einem memorialen Bezugssystem gesprochen werden, das dem Erinnerungsort Nemanjiden eine stete Präsenz gewährte. Bereits im Spätmittelalter wurde der Ausdruck „heilige Rebe“ beziehungsweise „heilige Wurzel“ zu einem verbreiteten Topos, der darüber hinwegsehen ließ, daß einige Nemanjiden erst später oder, wie Radoslav und Stefan Dušan, gar nicht kanonisiert wurden. Im Falle des Einsiedlers Petar Koriški wurde die Zugehörigkeit zur verehrten Dynastie behauptet, obwohl überhaupt kein familiäres Verhältnis gegeben war. Nach dem Aussterben der dynastischen Hauptlinie im letzten Drittel des 14. Jahrhunderts bemühten sich zahlreiche, teils miteinander konkurrierende Adelsfamilien wie die Brankovići, Hrebeljanovići, Kotromanići oder Crnojevići, ihre Herrschaftsansprüche auf der Grundlage der Verwandtschaft mit der in Wort und Bild allgegenwärtigen „Wurzel Nemanjas“ geltend zu machen. Sowohl in weltlichen als auch in geistlichen Schriften des spätmittelalterlichen Südosteuropa finden sich von Bosnien bis in die Walachei zahlreiche Bezugnahmen dieser Art, die den enormen Prestigereichtum der Nemanjiden sowie deren Indienstnahme zu legitimatorischen Zwecken belegen. Unter den Nemanjiden, um die herum sich ein ausgeprägter Separatkult entwickelte, sind, abgesehen von den beiden Gründern Nemanja und Sava, besonders Milutin (Uroš II.) und Stefan Dečanski (Uros III.) erwähnenswert. Trotz seiner zahlreichen Stiftungen versiegte Milutins Kult allem Anschein nach während der Osmanenzeit im altserbischen 586

Die heiligen Nemanjiden

Raum und verlagerte sich mit der Überführung seiner Gebeine nach Sofia, wo sie noch heute aufbewahrt sind, in den westbulgarischen Raum. Demgegenüber wurde das Andenken des „Märtyrerkönigs“ Stefan Dečanski in einer überaus reichen, sowohl gelehrten als auch populären Überlieferung gepflegt, die auch über den serbischen Sprachraum hinaus zu seiner kirchlichen Verehrung im frühneuzeitlichen Rußland führte. Gegenüber dieser ausgeprägten Lokalverehrung einzelner Könige, Königinnen und Hierarchen aus der Familie Nemanjas trat die Memoria der dynastischen Tradition während der osmanischen Epoche eher in den Hintergrund. Eine gleichwohl wichtige hochkirchliche Maßnahme, die dem Aufschwung des Nemanjiden-Kultes im 18. Jahrhundert vorausgriff, war das von Patriarch Pajsije in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts angeregte Schriftrevisionsprogramm, in dessen Verlauf die Reihe der offiziell kanonisierten Nemanjiden durch Stefan den Erstgekrönten und Uroš V. ergänzt wurde. Insgesamt jedoch waren für die Erinnerungspflege bis weit ins 18. Jahrhundert weniger Texte oder bildliche Darstellungen, als vielmehr die ausgeprägte Reliquienverehrung von Bedeutung. Der Kult um die Gebeine einzelner Angehöriger des Hauses Nemanja gewann allem Anschein nach insbesondere in der osmanischen Epoche an Bedeutung, wie sich aus ausländischen Reiseberichten über die sich daran heftende Volksfrömmigkeit rekonstruieren läßt. War diese Praxis im Regelfall räumlich begrenzt und an den Ort der Beisetzung des jeweiligen Herrschers gebunden, dürfte die häufige Reliquienüberführung weitaus größere Gebiete, die von den heiligen Überresten „bereist“ wurden, als kultisch-religiös zusammengehörig vergegenwärtigt haben. Das sicherlich bemerkenswerteste Beispiel hierfür sind die Gebeine Stefans des Erstgekrönten, der bis zu seiner erwähnten Kanonisierung zu Beginn des 17. Jahrhunderts bereits einmal exhumiert und dreimal überführt worden war. Bis zu Beginn des Ersten Weltkriegs, als seine Gebeine nach Studenica, der ursprünglichen Grablege, zurückkehrten, wurden sie zwölf weitere Male überführt. Letztlich dürfte auch die bewußte Reliquienzerstörung, wie die Verbrennung der Reliquien des heiligen Sava 1594 durch eine osmanische Strafexpedition, eher dazu beigetragen haben, bis dahin lokale Verehrungsfiguren in ein allgemeines serbisch-orthodoxes Bewußtsein einzuspeisen und das religiöse Identifikationsmoment, das an die Vertreter der mittelalterlichen Dynastie gekoppelt war, zu stärken. c) Kulturelle Rückbesinnung und nationale Aneignung (18. und 19. Jahrhundert) Mit der Gründung der Metropolie von Karlowitz infolge der österreichisch-osmanischen Konflikte an der Wende zum 18. Jahrhundert fand sich die serbische Orthodoxie in einen osmanisch-altserbischen und einen österreichisch-wojwodinischen Bereich geteilt. In dieser Konstellation kam der Rückbesinnung auf die Nemanjiden-Tradition beiderseits der Donau eine starke identitätsmarkierende Relevanz zu, die die Kirche sowohl gegenüber dem Katholizismus im Habsburgerreich als auch gegenüber der konkurrierenden griechischen Orthodoxie im Osmanischen Reich zu profilieren suchte. Jenseits der seitens der Kirche betonten spirituellen Kontinuität entdeckte auch der im 18. Jahrhundert 587

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aufkommende aufklärerisch-gelehrte Kulturnationalismus die politische Dimension der Nemanjiden-Tradition. So verwies die weltliche Geschichtsschreibung bereits bei Đorđe Branković, später bei Dositej Obradović und bei Jovan Rajić verstärkt auf den mittelalterlichen serbischen Staat, dessen Entstehung und Blütephase mit der NemanjidenDynastie gleichgesetzt wurde. Weitaus breitenwirksamer jedoch als diese letztlich auf eine kleine Kulturelite beschränkte Rückbesinnung waren barocke Kupferstichdarstellungen von Heiligen, religiösen Kultorten und ihren königlichen Stiftern, die als Massenware verbreitet wurden. Damit brachte die Drucktechnik neben Heiligenkalendern, die ab dem Ende des 18. Jahrhunderts in großer Zahl hergestellt wurden, auch Memorialbilder direkt in die Einzelhaushalte. Mit der 177� erfolgten Erklärung des heiligen Sava zum Nationalheiligen der Serben wurde seine Figur aus der Reihe der unterschiedlich stark verehrten Nemanjiden in besonderem Maße hervorgehoben und in der Folgezeit auch theologisch weiter ausgebaut und politisch instrumentalisiert. Mit der Gründung des serbischen Fürstentums zu Beginn des 19. Jahrhunderts und dessen stufenweiser Entwicklung zu einem souveränen Staat wurde die NemanjidenTradition zusehends aus der rein kirchlichen Observanz entkoppelt und zu einem zentralen Bezugspunkt in politischen Programmen, wenn es darum ging, territoriale Ansprüche des noch jungen Nationalstaates historisch abzuleiten oder die Monarchie als in serbischer Staatstradition stehend zu legitimieren. Die nemanjidischen Stiftungen zeichneten dabei in der Vision des romantischen Nationalismus, der nicht nur Gegenstand eines elitären Diskurses war, sondern auch die Publizistik und Schulbuchliteratur durchdrang, eine Art Sakraltopographie des zu reklamierenden Raumes. Doch bildet auch hier die seit dem 18. Jahrhundert immer weiter ausgebaute Verehrung Savas zum Nationalheiligen schlechthin den Konvergenzpunkt religiös-nationaler Diskurse, wohingegen der Erinnerungstopos der Nemanjiden-Herrschaft eher als historisch-territoriale Legitimationsfigur in zeitgenössischer Publizistik und politischen Memoranden aufgerufen wurde. Diese Wendung hin zu einer verweltlichten Verehrung der Nemanjiden, wodurch im Umkehrschluß dem neuen serbischen Nationalstaat und seiner Regentenfamilie sozusagen sakrale Würde verliehen wurde, verdeutlichten breit geführte erinnerungspolitische Debatten, wie etwa 1857 anläßlich eines geplanten Denkmals zu Ehren von Đorđe Petrović, dem Anführer des ersten serbischen Aufstands. Die Proklamierung des Königreichs Serbien durch Mihailo Obrenović 1882 bot weiteren Anlaß, diesen in die geistige Nachfolge des mittelalterlichen Königshauses zu erheben. Aus dem personenreichen Nemanjiden-Kanon bevorzugte die weltlich-herrschaftliche Verehrung dabei besonders Stefan den Erstgekrönten sowie Stefan Dečanski. Offenkundig wurde dies in zahlreichen Besuchen der zentralen mittelalterlichen Klosteranlagen, die häufig von Schenkungen und materiellen Zuwendungen seitens der Fürsten und später Monarchen begleitet wurden – eine gezielte Erneuerung dynastischer Verehrungspraxis, die der Legitimation eigener Herrschaft zugute kam. Die Nemanjidenherrscher waren darüber hinaus auch Gegenstand historischer Dichtungen und Dramen, was ihr Weiterleben in der populären und politischen Vorstellungs588

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welt des modernen serbischen Staates sicherte. So wurden Stefan Dečanski, der bereits auf große Beliebtheit in der volkstümlichen Überlieferung zurückblicken konnte, insgesamt fünf Theaterstücke bis zur Jahrhundertwende gewidmet. Die Machtfülle des mittelalterlichen Reichs unter Stefan Dušan stellte ebenfalls ein Faszinosum der immer stärker auf den Nationalstaat zugeschnittenen Historiographie dar, deren Vision auch in den sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts etablierenden Schulcurricula vermittelt wurde. In der Vorstellungswelt des serbischen Nationalismus garantierte die als heilig verehrte Herrscherfamilie somit eine Art sakraler Exklusivität, die sich je nach Bedarf religiös oder ethnisch-national ausdeuten und einsetzen ließ. d) Zwischen Neutralisierung und radikaler Nationalisierung im 20. Jahrhundert Mit der Gründung des „Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen“ 1918 (ab 1929 Königreich Jugoslawien) erschien die Identifizierung der Nemanjić-Tradition mit dem Serbentum als zu einseitig, um als Bezugsgröße einer übergreifenden nationalen Selbstinszenierung und als Symbol des neuen Staates zu fungieren. Einer allzu offensichtlichen politischen Instrumentalisierung der serbischen dynastischen Tradition jenseits des religiösen Verehrungsraums stand daher die Notwendigkeit entgegen, die sehr unterschiedlichen Gebiete des neuen Staates durch einen umfassenderen Jugoslawismus zu integrieren. So mußte die sich aus der serbischen Geschichte speisende Legitimität der Karađorđe-Herrschaft durch Versuche gegengestützt werden, das Königshaus zugleich als Nachfolger etwa des kroatischen mittelalterlichen Königtums darzustellen. Obwohl dieser Balanceakt zwischen Zurschaustellung serbischer dynastischer Tradition und panjugoslawischer Legitimität es notwendig machte, die Nemanjidentradition nur dosiert und jenseits von königlichen Klosterbesuchen und Jubiläen nicht über Gebühr für weltlichpolitische Anliegen in Beschlag zu nehmen, häuften sich die Verweise auf die „heilige Rebe“ mit der Etablierung der Königsdiktatur 1929, die eine neue Welle national-religiöser Selbstverortungen einleitete. Für den innerserbischen Kontext besonders erwähnenswert ist die bereits vor dem Ersten Weltkrieg von König Peter I. in Auftrag gegebene und nach Gründung des Königreichs Jugoslawien erneuerte Mausoleumskirche von Oplenac: Die Gesamtheit mittelalterlicher Herrscherfiguren, deren opulente Mosaikdarstellungen den Portraits aus über 60 Klöstern und Klosterkirchen folgen, wurde hier als nationales Pantheon der Superlative inszeniert, mit dem unzweifelhaften Ziel, das Königshaus der Karađorđević in die Nachfolge der mittelalterlichen Könige zu erheben. In der Republik Serbien als Teil der sozialistischen jugoslawischen Föderation kam eine legitimatorische Bezugnahme auf die Nemanjiden-Tradition nicht mehr in Frage, zumal einerseits die hierin verkörperte feudale Gesellschaftsform und andererseits ihre mit dem serbischen Nationalismus identifizierte Funktion sie als Medium der Legitimierung der neuen gesellschaftlichen Ordnung disqualifizierten. Für die sozialistische Epoche insgesamt ist zunächst eine erinnerungspolitische Neutralisierung und Verwissen589

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schaftlichung der Auseinandersetzung mit der mittelalterlichen Geschichte kennzeichnend, so daß sich kaum von den Nemanjiden als einem „heißen“ Erinnerungsort jenseits der Verehrung, die einzelnen Vertretern innerhalb der sich stets mit dem Serbentum identifizierenden orthodoxen Kirche zuteil wird, sprechen läßt. Erst im Kontext der Erosion des panjugoslawistischen Einheitscredos nach dem Tod von Tito 1980 griff die religiöse, populärwissenschaftliche, aber auch akademische Publizistik traditionelle serbische Identitätsdiskurse wieder in zunehmend affirmativer Weise auf. Die nun auch von politischen Instanzen betriebene geschichtspolitische Rhetorik zur Legitimierung ethno-territorialer Ziele serbischer Politik (besonders in BosnienHerzegowina und im Kosovo) begünstigte gewissermaßen ein generelles Aufgebot des gesamten nationalen Erinnerungsrepertoires, in dessen Zuge die Erinnerungsfigur der „heiliggeborenen Rebe der Nemanjiden“ eine ebenso diffuse wie radikal nationalistische Vereinnahmung erfuhr. Die vor der Jahrtausendwende wieder aufgebrochenen und in Politik und Publizistik geführten Identitätsdebatten lassen jedoch kein einheitliches Bild erkennen: Das Spektrum reicht vielmehr von einer allgemeinen Konjunktur des Interesses an älterer serbischer Geschichte, innerhalb derer weiterhin Bemühungen um einen sachlichen Umgang stattfinden, bis zu breit angelegten Versuchen der völkisch-mythologisierenden Umdeutung einer komplexen Erinnerungsfigur.

Die Verehrung der gesamten Dynastie der Nemanjiden in dem Symbol der Rebe ist als Mittel zur Festigung der Herrschaft anzusehen: Die Verehrung der einzelnen Herrscher trat hinter der Sakralisierung ihres Geschlechts zurück und sollte dem zerbrechlichen Personenverbandsstaat größtmögliche Stärke verleihen. Bildnachweis: Svetozar Radojčić: Portreti srpskih vladara u srednjem veku, Beograd 1934, Farbtafel 7.

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Die heiligen Nemanjiden

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen Daničić, Đuro: Život svetog Save, napisao doMentiJan (teodosiJe) [Vita des heiligen Sava, verfaßt von DoMentiJan (TeodosiJe)]. Beograd 1860 [ND 1973]; ders., Đuro: Životi kraljeva i arhiepiskopa srpskih. Napisao arhiepiskop daniLo i drugi [Die Viten der serbischen Könige und Erzbischöfe. Verfaßt von Erzbischof Danilo und anderen]. Zagreb 1866 [nd London 1972]; StoJanović, Ljubomir (Hg.): Stari srpski rodoslovi i letopisi [Alte serbische Genealogien und Chroniken]. Sremski Karlovci 1927; BoGdanović, Dimitrije: Stare srpske biografije [Alte serbische Biographien]. Beograd 1968; Hafner, Stanislaus (Hg.): Serbisches Mittelalter. Altserbische Herrscherbiographien, Bd. 1–2. Graz/Wien/Köln 1962–1976; trifunović́ , Đorđe (Hg.): Srbljak, Bd. 1–�. Beograd 1970; Patrijarh Pajsije: Sabrani spisi [Gesammelte Schriften]. Hg. v. Dimitrije boGdanović, Tomislav Jovanović. Beograd 1993.

b) Darstelllungen đurđev, Branislav: Uloga crkve u starijoj istoriji srpskog naroda [Die Rolle der Kirche in der älteren Geschichte des serbischen Volkes]. Sarajevo196�; PavLović, Leontije: Kultovi lica kod Srba i Makedonaca [Heiligenkulte bei Serben und Makedoniern]. Smederevo 1965; KäMpfer, Frank: Nationalheilige in der Geschichte der Serben. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 20 (1973) 7–22; Haustein, Eva: Der Nemanjidenstammbaum. Studien zur mittelalterlichen serbischen Ikonographie. Bonn 1985; JeLavich, Charles: South Slav Nationalisms – Textbooks and Yugoslav Union before 1914. Columbus, Ohio 1990; ćirKović, Sima/đurić, Vojislav/Korac, Vojislav (Hg.): Pećka patrijaršija [Das Patriarchat von Peć]. Beograd/Priština 1990; KäMpfer, Frank: Herrscher, Stifter, Heiliger. Politische Heiligenkulte bei den orthodoxen Südslaven. In: Petersohn, Jürgen (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Sigmaringen 1994, 423–454; boJović, Boško: L’idéologie monarchique dans les hagio-biographies dynastiques du Moyen Âge serbe. Roma 1995; StoJanović, Dubravka: The Balkan Wars and Textbooks: The Case of Serbia. In: HöpKen, Wolfgang (Hg.): Öl ins Feuer? Schulbücher, ethnische Stereotypen und Gewalt in Südosteuropa. Hannover 1996, 143–159; MarJanović-dušanić, Smilja: Vladarska ideologija Nemanjića [Die Herrschaftsideologie der Nemanjiden]. Beograd 1997; MarKović, Predrag: Die „Legitimierung“ der Königsdiktatur in Jugoslawien 1929–39. In: OberLänder, Erwin (Hg.): Autoritäre Regime in Ostmittel- und Südosteuropa 1919–19��. Paderborn 2001, 577–631; boJović, Boško: Une monarchie hagiographique. La théologie du pouvoir dans la Serbie médiévale (XIIe–XVe siècles). In: Guran, Petre/fLusin, Bernard (Hg.): L’empereur hagiographe. Culte des saints et monarchie byzantine et post-byzantine. Bucharest 2001; MyLonas, Christos: Serbian Orthodox Fundamentals. The Quest for Eternal Identity. Budapest 2003; MaKsiMović, Ljubomir: Οι άγιοι σέρβοι βασιλείς [Die heiligen serbischen Herrscher]. In: Kountoura-GaLaKe, Eleonora (Hg.): Οι ήρωες της Ορθόδοξης Εκκλησίας. Οι Νέοι Άγιοι (8ος–16ος αι.) [Die Helden der Orthodoxen Kirche (8.–16. Jh.)]. Αθήνα 200�, 107–122; MarJanović-dušanić, Smilja: Patterns of Martyral Sanctity in the Royal Ideology of Medieval Serbia. Continuity and Change. In: Balcanica 37 (2006) 69–81; Popović, Danica: Pod okriljem svetosti. Kult svetih vladara i relikvija u srednjovekovnoj Srbiji [Unter der Schirmherrschaft der Heiligkeit: Die Verehrung heiliger Herrscher und ihrer Gebeine im mittelalterlichen Serbien]. Beοgrad 2006; MarJanović-dušanić, Smilja: Sveti kralj. Kult Stefana Dečanskog [Der heilige König. Der Kult Stefans von Dečani]. Beograd 2007; MedaKović, Dejan: Sveta gora Fruškogorska [Der heilige Berg Fruška Gora]. Novi Sad 2007; PetKović, Sreten: Srpski svetitelji u slikarstvu pravoslavnih naroda [Serbische Heilige in der Malerei der orthodoxen Völker]. Novi Sad 2007.

Konrad Petrovszky 591

Sava I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Religiöse Memoria bis ins 18. Jahrhundert. – b) Verehrung im „langen“ 19. Jahrhundert. – c) Von der Zwischenkriegszeit bis nach 1980. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Sava wurde zu Ende des 18. Jahrhunderts in der österreichisch-ungarischen Wojwodina (Vojvodina) nach mitteleuropäischem Vorbild zum alleinigen Nationalheiligen und Patron der Serben erklärt. Im 19. und 20. Jahrhundert diente sein Einsatz als modernes nationales serbisches sowie in der Zwischenkriegszeit auch als jugoslawisches Integrationsmedium nicht nur zur Festigung serbisch-orthodoxer Identität, sondern auch zur Einbindung der nicht serbisch-orthodoxen Bevölkerung in den aus Belgrad regierten Staatsverband. II. Leben Rastko (um 1175 bis 1�. Januar 1235/36), jüngster Sohn des serbischen Alleinherrschers Stefan Nemanja, wurde 1190 Statthalter des adriatisch-herzegowinischen Gebiets Hum. Um 1191/92 zog er sich ohne Wissen seines Vaters auf den Berg Athos zurück und nahm als Mönch im Kloster Pandeleimonos den Namen Sabas (Sava) an. Auf dem Athos erneuerte er mit seinem Vater, der 1195 abgedankt war, das fortan serbische Kloster Hilandar. Sava überführte 1207 auf Wunsch seiner Brüder Vukan und Stefan die Reliquien des inzwischen als heilig verehrten Vaters in seine Heimat. Als Vorsteher des Klosters Studenica, einer Stiftung des Vaters, errichtete Sava mit Hilfe von Stefan in den folgenden Jahren mehrere Klöster, darunter das Kloster Žiča. Er förderte mit seinen Schriften die Verehrung seines Vaters als heiliger Simeon. 1214 kehrte Sava auf den Berg Athos zurück. Gemäß Domentijan, seinem ersten Biographen, wirkte er an der Krönung seines Bruders Stefan (des Erstgekrönten) durch einen päpstlichen Legaten (1217) mit. 1219 begab sich Sava an den oströmischen Hof sowie zum Patriarchen von Konstantinopel in Nikaia, um die vier Bistümer Serbiens aus der Abhängigkeit des autokephalen Erzbistums von Bulgarien in Ohrid zu lösen. 1219 erhielt er die Erlaubnis zur Errichtung eines serbischen autokephalen Erzbistums mit acht oder zehn Bistümern und wurde vom oströmischen Kaiser zum Erzbischof geweiht.

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III. Verehrung a) Religiöse Memoria bis ins 18. Jahrhundert Sava wurde schon kurz nach seiner Beisetzung in der bulgarischen Hauptstadt Tărnovo als Wundertäter verehrt. 1237 überführte man seine Gebeine in das serbische Kloster Mileševa. In den ältesten kirchlichen Texten zu Savas Gedenken, die meist in Abschriften aus dem 14. Jahrhundert vorliegen, wurde er immer wieder als Fürbitter „für die Rettung unserer Seelen“ gebeten. Sava wurde aber auch in der Funktion eines Schutzheiligen des Vaterlandes und der Herrschaft angerufen und mit Moses verglichen. Die heiligen Simeon und Sava blieben nicht die einzigen „Nemanjiden“, die man als Heilige verehrte: Es folgten ihnen weitere Könige und Erzbischöfe. Sava war im Spätmittelalter und in der Frühen Neuzeit deshalb nur einer neben anderen wichtigen Heiligen der serbischen Dynastie oder der sie darstellenden „heiligen Rebe“, die in ihrer Funktion mit der ungarischen Stephanskrone verglichen wird. Die Verehrung Savas war Bestandteil des die Dynastie und ihre Herrschaft stützenden Kultes, der in mehreren bedeutenden Klöstern gepflegt wurde. Möglicherweise ließ sich der bosnische Ban Tvrtko 1377 in Mileševa zum König krönen. Stefan Vukšić Kosača, der seit 1��8 den Titel „herceg“ (dux) trug, auf den der Landesname Hercegovina zurückgeführt wird, nannte sich in Anlehnung an die Verehrung Savas in Mileševo sodann auch „Herzog des heiligen Sava“. Sava soll in Mileševa gleichfalls von Muslimen als Wundertäter verehrt worden sein. Dies mag einer der Gründe gewesen sein, weshalb der osmanische Großwezir albanischer Herkunft Koca Sinan Paşa die Reliquien Savas 159�/95 von dort nach Belgrad brachte und verbrannte. In Dubrovnik verehrten Sava auch Katholiken; Ivan Tomko Mrnavić verfaßte und druckte 1630/31 eine lateinische Vita Savas, Fra Andrija Kačić Miošić rühmte ihn in Liedern. Noch im 18. Jahrhundert gab es in den meisten serbischen Bistümern nur wenige Kirchen, die dem heiligen Sava gewidmet waren. Der lediglich zu geringen Teilen auf das 13. Jahrhundert zurückgehende Bestand an Volkslegenden über Sava wuchs erst im 19. Jahrhundert und noch zu Beginn des 20. Jahrhunderts stark an. b) Verehrung im „langen“ 19. Jahrhundert Die heutige zentrale Stellung Savas im serbischen Erinnerungsgefüge ist nicht zuletzt durch eine Weichenstellung bedingt, die ganz im ostmitteleuropäischen Zusammenhang erfolgte: 177� wurde Sava in einer Synode orthodoxer Bischöfe unter österreichischungarischer Herrschaft nach dem Vorbild anderer Landespatriotismen zum „Nationalheiligen und Patron des serbischen Volkes“ erklärt. Die Feiertage der anderen serbischen Heiligen degradierte man zu Arbeitstagen: Der Staat drängte auf eine Verringerung der Feiertage zuerst der Katholiken und dann auch der Orthodoxen. Die übrigen, vormals für den dynastischen Kult zentralen heiligen „Nemanjiden“, verloren in den folgenden Jahrzehnten als Erinnerungsfiguren an Bedeutung. Der heilige Sava dagegen wurde aus 593

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dem herrschaftlich-dynastischen Zusammenhang gelöst und als eigenständiger Heiliger immer vorrangiger. Bereits im Zusammenhang mit dem serbischen Aufstand von 180� gegen die Osmanen griffen serbische Wortführer diese veränderte Funktion Savas auf: Georgije Aleksić, der als Geistlicher im ungarischen Arad in der Kirche des Gelehrten und zweiten Präsidenten der „Serbischen Matica“ (1838–18�2), Sava Tekelija, zu Ehren Savas sprach, legitimierte die Inszenierung eines eigenen Nationalpatrons mit dem Hinweis auf die Verehrung Stefans des Heiligen in Ungarn sowie des heiligen Vladimir und Aleksandr Nevskijs in Rußland. Seit 18�0 verehrten die Lehrer der staatlichen Schulen des serbischen Fürstentums Sava gesetzlich als Schulpatron. Die in diesem neuen Bezugsrahmen zu weiten Teilen neu erfundene Erinnerungsfigur Sava erwuchs nun zu einem der wichtigsten Medien der romantischen Imaginierung einer serbischen Nation und zur Verbreitung der nationalen Ideologie unter Generationen von Schülern. Reden zu seinen Ehren lösten Sava zudem aus dem kirchlich-sakralen Zusammenhang, der fortan parallel weiter bestand. Mit der Säkularisierung des Gedenkens im Zeichen des Historismus veränderte sich die Wahrnehmung Savas grundlegend. Die Redner säkularisierten den Heiligen zum Staatsbürger: Sie verehrten nicht mehr seine Wunder, sondern fragten vielmehr nach seinen „politischen Taten“. 18�5 erschien Sava in einer historistisch beobachteten, angeblichen nationalen Krise des 12. und 13. Jahrhunderts als säkularer „Retter“ des Volkes, als „Wohltäter“ und als Förderer von „Freiheit“ und „Bildung“. Im gleichen Text wurde Sava zudem zur „Seele“ des Volkes stilisiert und zu einem Programmatiker der „reinen Nationalität“ gemacht. Auch das entstehende, bürgerlich und national orientierte Assoziationswesen stellte das Gedenken Savas in einen neuen Zusammenhang: 1886 gründeten angesehene Wortführer der serbischen Elite in Belgrad die „Heilig-Sava-Gesellschaft“. 1895 unternahm ein Bürgerkomitee unter dem Vorsitz des Metropoliten Mihailo erste Schritte mit dem Ziel, als architektonische Verkörperung des modernen Nationalismus eine gewaltige Kirche zu Ehren Savas auf dem Vračar bei Belgrad zu errichten, wo seine Gebeine verbrannt worden waren. Nach der inhaltlichen und funktionalen Umwandlung seines Gedenkens war Sava geeignet, als Medium der Imagination einer nationalen Gemeinschaft eingesetzt zu werden – auch über staatliche Grenzen hinweg, besonders in den weiterhin osmanisch beherrschten Gebieten. Schon 189� wurde der Tag des heiligen Sava in den serbischen Schulen Skopjes gefeiert, 1896 dann in Saloniki und zwei Jahre später in Bitola. Die Propagierung Savas als Schulpatron, die auch im Süden gerade die Belgrader „HeiligSava-Gesellschaft“ vorantrieb, stand im makedonischen Gebiet im direkten Wettstreit mit nationalen Entwürfen der Nachbarn, die es zu delegitimieren galt. Wie die Verehrung Savas, so veränderte sich auch jene der Brüder Kyrill und Method – die in Bulgarien wie Sava in Serbien zu Schulpatronen wurden – und anderer Heiliger grundlegend: Neben die traditionellen religiösen Funktionen trat die als Medium des romantischen Projekts des Nationalstaates. Die Verehrung des heiligen Sava diente dabei nicht nur zur Abgrenzung und Expansion des serbischen Staatsprojektes nach Südosten, sondern auch gegenüber römisch-katholischen Deutungen Kyrills und Methods als Apostel der Slawen und als Medium römischen Einflusses. 594

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c) Von der Zwischenkriegszeit bis nach 1980 In der Zwischenkriegszeit, als sich in Kontinentaleuropa Kommunismus, Faschismus und Nationalsozialismus als moderne Massenideologien etablierten, veränderten Belgrader Theologiestudenten die kirchlich-sakrale Erinnnerung an Sava in eine neue Richtung. Unter dem Titel „Der Kampf der Ideologien“ verurteilte Luka Vukmanović 1937 in der Zeitschrift Svetosavlje (wörtlich: Heiligsavatum) Kommunismus und Faschismus auf der Grundlage der „Ideologie“ des Christentums. Danilo Medan versuchte 1937 mit einem Beitrag, „die Konturen der heiligsavischen Ideologie“ zu definieren und den Namen der Zeitschrift Svetosavlje als eigenständige „Ideologie“ zu festigen. Wesentlich war die intensive Verbindung des „svetosavischen Geistes“ mit dem Kosovomythos. Die bisher sakral-dynastisch oder – seit dem 19. Jahrhundert – national-bildungsbürgerlich geprägte Erinnerungskultur um Sava sollte nun mit neuem Wortschatz zu einer eigenen Wissenschaft gemacht werden und Nation, Politik und Staatskirche zu einer Einheit verbinden. In einem nach 1938 publizierten Text erhob Branimir Maleš Sava zum Kronzeugen der angeblichen „dinarischen Rassenheit“ der Serben. Das „Svetosavlje“ ist darüber hinaus als serbische Antwort auf die ökumenische oder katholische Auslegung einer kyrillomethodianischen Idee durch römisch-katholische südslawische Geistliche dargestellt worden. Mehrere Autoren versuchten mit dem diffusen panslawischen Anspruch des „Svetosavlje“, den jugoslawischen Staatsentwurf zu festigen. „Unsere Muslime“ wurden dabei auch in Bosnien und in der Herzegowina als Verehrer des serbischen Nationalpatrons sowie als Angehörige des serbischen Volkes beschrieben – Sava wurde gleichsam zum transreligiösen Integrationsmedium, zum „nationalen Heiligen“ oder „Volksheiligen“ auch der Muslime stilisiert. Die Feier des „svetosavischen Jahrs“ 1935 gemäß den Anordnungen des Belgrader Synods erwies sich für den römisch-katholischen Erzbischof von Zagreb als unakzeptabel. 1930 entschied sich das Komitee zur Errichtung der Sava-Kirche auf dem Vračar unter der Leitung des Patriarchen Varnava für einen monumentalen, stark byzantinisch geprägten Entwurf nach dem Vorbild der Sophienkathedrale Konstantinopels. 1935 begannen die Bauarbeiten, 1939 erfolgte die feierliche Weihe des Fundaments. Die Monarchie versuchte ihrerseits, besonders während der 1929 beginnenden Königsdiktatur, die im 19. Jahrhundert entwickelte säkularisierte Verehrung Savas als Schulpatron als Medium des Jugoslawismus einzusetzen. Nach dem deutschen Einmarsch 1941 gewann in Belgrad die Interpretation Savas durch Dimitrije Ljotićs seit den dreißiger Jahren bestehende „christlich-faschistische“ Bewegung „Zbor“ (Jugoslovenski narodni pokret) an Einfluß. Justin Popović stellte auf der Grundlage Dostoevskijs Europa dem „Gottmenschen“ des „Svetosavlje“ gegenüber. Aber auch der sozialistische Widerstand berief sich auf Sava und das „Svetosavlje“, um seinen Rückhalt unter der Bevölkerung zu festigen. Im Jugoslawien Titos setzte die orthodoxe Priesterschaft eine neutralisierte Deutung des „Svetosavlje“ fort. In engem Zusammenhang mit der Krise des Sozialismus in den Staaten Osteuropas sowie mit dem immer deutlicheren Streben serbischer Intellektueller und Politiker nach 595

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Hl.-Sava-Kathedrale in Belgrad: 1895 unternahm ein Bürgerkomitee unter dem Vorsitz des Metropoliten Mihailo erste Schritte mit dem Ziel, als architektonische Verkörperung des modernen Nationalismus eine gewaltige Kirche zu Ehren Savas auf dem Vračar bei Belgrad zu errichten, wo seine Gebeine verbrannt worden waren. Nach mehreren Wettbewerben entschied man sich 1930 für einen Entwurf nach dem Vorbild der Sophienkathedrale in Konstantinopel. 1935 begannen die Bauarbeiten, 1939 und erneut 1985 erfolgten Weihen des Fundaments. Von 1985 bis 1990 sowie in den letzten Jahren wurde die Fertigstellung weitergeführt. Bildnachweis: Blic, 7. Oktober 2009, Neujahrs- und Weihnachtsgrußkarte des Religionsministers und Projektleiters der Belgrader Sava-Kirche, Vojislav Milovanović, für das Jahr 2009.

mehr Macht für die serbische Nation im Bundesstaat wurde das Jahr 1989 auch im jugoslawischen Kontext zu einem Jahr der intensiven kollektiven Selbstverortung. Die Serbische Orthodoxe Kirche hatte eine nationalistische Wende schon seit wenigstens 1982 vorbereitet. 1985 wurde das Fundament der Sava-Kathedrale auf dem Vračar erneut geweiht, der Bau konnte aber vorerst nur bis 1990 fortgesetzt werden. Beiträge in den Zeitschriften des serbischen Patriarchats warfen der Regierung Milošević bald nach dem Ausbruch der Kämpfe in Bosnien-Herzegowina 1992 mit dem Verweis auf das „Werk“ Savas vor, sich zu wenig für die dortigen Serben einzusetzen. Vojislav Koštunica, Präsident der Jugoslawischen Bundesrepublik 2000 bis 2003 und Ministerpräsident Serbiens seit 2004, delegitimierte am 27. Januar 1995 als oppositioneller Parlamentarier (1990–1997) in einer Rede zu Ehren Savas an der „Svetosavischen Akademie“ in Pančevo mit dem Mittel des „Svetosavlje“ die Regierung Milošević und sprach den radikalen Serben der von Karadžić geleiteten bosnischen „Serbischen Republik“ eine nationale Führungsrolle zu. Die Serbische Orthodoxe Kirche entwickelt sich in diesen Jahren gerade auch durch die Instrumentalisierung der Erinnerungskultur um Sava für eigene Zwecke zu einem der Hindernisse einer Demokratisierung der Gesellschaft. Allerdings ist die Begehung des 596

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Schulfeiertages eine staatliche Angelegenheit. So stieß die Wiedereinführung der Schulfeier am Tag des heiligen Sava auf die Kritik des Mufti der muslimischen Gemeinschaft des Sandžak. Nur wenige serbische Historiker reflektieren die kulturelle Funktion der allgegenwärtigen Referenz für Sava und unterscheiden die moderne „nationalistische Ideologie“ des „Svetosavlje“ von der älteren Erinnerung an ihn. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen daničić, Đuro (Hg.): Život svetog Save, napisao doMentiJan (teodosiJe) [vita des heiligen Sava, verfaßt von doMentiJan (teodosiJe)]. Beograd 1860 [ND 1973]; Nikolaj [veLiMirović]. Nacionalizam Sv. Save. Govor o Nedelji pravoslavlja 1935 u Beogradu [Der Nationalismus des heiligen Sava. Predigt über den Sonntag der Orthodoxie 1935 in Belgrad]. In: Pravoslavlje �–5/2 (1935) 102–109; hadži vasiLJević, Jovan (Hg.): Spomenica društva svetoga Save (1886–1936) [Denkschrift der Heilig-SavaGesellschaft (1886–1936)]. Beograd 1936; Svetosavski zbornik [Heiligsavischer Sammelband], Bd. 1–2. Beograd 1936; vuKManović, Luka: Borba ideologija [Kampf der Ideologien]. In: Svetosavlje 6 (1937) 1–6; Medan, Danilo: Konture svetosavske ideologije i njen značaj u prošlosti i sadašnjosti [Konturen der heilig-savischen Ideologie und ihrer Bedeutung in Vergangenheit und Gegenwart]. In: Svetosavlje 6 (1937) 86–92; popović, Blagoe: Svetosavlje, kao filosofija života [Das Heiligsavatum als Lebensphilosophie]. München 1953; hafner, Stanislaus (Hg.): Serbisches Mittelalter. Altserbische Herrscherbiographien, Bd. 1: Stefan Nemanja nach den Viten des heiligen Sava und Stefans des Erstgekrönten. Graz/Wien/Köln 1962; ders.: Studien zur altserbischen dynastischen Historiographie. München 1964; trifunović, Đorđe (Hg.): Srbljak, Bd. 1–�. Beograd 1970; boGdanović, Dimitrije: Najstarija služba svetom Savi [Die älteste Akoluthie zu Ehren des heiligen Sava]. Beograd 1980; Jevtić, Atanasije: Sveti Sava i Kosovski zavet [Der heilige Sava und das Gelübde vom Amselfeld]. Beograd 1992; Koštunica, Vojislav: Svetosavlje kao osnov srpske nacije i države [Heiligsavatum als Grundlage der serbischen Nation]. In: Hrišćanska misao 1–3/3 (1995) �1–�2; MisaiLović, Ilija (Hg.): Škola Svetoga Save. Antologija svetosavke poezije [Die Schule des heiligen Sava. Anthologie heiligsavischer Poesie]. Užice 1996; daMJanović, Ratomir r. (hg.): Savindan. Sveti Sava školska slava [Savatag. Der Schulfeiertag des heiligen Sava]. Beograd 2001; Juhas-GeorGievsKa, Ljiljana (Hg.): doMentiJan, Žitije svetoga Save [doMentiJan, Vita des heiligen Sava]. Beograd 2001; MaticKi, Miodrag (Hg.): Svetosavska čitanka [Heiligsavisches Lesebuch]. Beograd 2003.

b) Darstellungen GavriLović, Andra: Sveti Sava. Pregled života i rada. Biografski pokušaj [Heiliger Sava. Übersicht über Leben und Werk. Biographischer Versuch]. Beograd 1900; veseLinović, Milojko V.: Sveti Sava. Školski patron u Srba [Heiliger Sava. Schulpatron der Serben]. In: Brastvo 12–13 (1908) 21–133; ćorović, Vladimir: Sveti Sava u narodnom predanju [Der heilige Sava in der Volksüberlieferung]. Beograd 1927; GruJić, Radoslav: Kult sv. Save u Karlovačkoj Mitropoliji XVIII i XIX veka [Die Verehrung des heiligen Sava in der Metropolie von Karlowitz im 18. und 19. Jahrhundert]. In: Bogoslovlje 2–3/10 (1935) 133–170; KäMpfer, Frank: Nationalheilige in der Geschichte der Serben. In: Forschungen zur osteuropäischen Geschichte 20 (1973) 7–22; MiKić, Đorđe: Delatnost Društva Sv. Save na Kosovu (1886–1912) [Die Tätigkeit der Heilig-Sava-Gesellschaft im Kosovo (1886–1912)]. In: Naša prošlost

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Stefan Rohdewald (1975) 61–87; Đurić, Vojislav (Hg.): Sava Nemanjić – Sveti Sava. Istorija i predanje. [Heiliger Sava. Geschichte und Überlieferung]. Beograd 1976; van darteL, Geert: Ćirilometodska ideja i svetosavlje [Kyrillomethodianische Idee und Heiligsavatum]. Zagreb 198�; KäMpfer, Frank: Herrscher, Stifter, Heiliger. Politische Heiligenkulte bei den orthodoxen Südslaven. In: petersohn, Jürgen (Hg.): Politik und Heiligenverehrung im Hochmittelalter. Sigmaringen 1994, 423–445; čirKović, Sima (Hg.): Sveti Sava u Srpskoj istoriji i tradiciji [Der Heilige Sava in der serbischen Geschichte und Tradition]. Beograd 1998, �33–�38; radić, Radmila: Die Kirchen und die „serbische Frage“. In: breMer, Thomas/popov, Nebojša/stobbe, Heinz-Günther (Hg.): Serbiens Weg in den Krieg. Kollektive Erinnerung, nationale Formierung und ideologische Aufrüstung. Berlin 1998, 183–203; ćirKović, Sima: Sava I. In: Lexikon des Mittelalters 7 (1999) Sp. 1�07–1�08; nieLsen, Christian A.: One State, One Nation, One King: The Dictatorship of King Aleksandar and His Yugoslav Project, 1925–1929. Diss. New York 2002; aleKsov, Bojan: Nationalism in Construction: The Memorial Church of St. Sava on Vračar Hill in Belgrade. In: Balkanologie 7/2 (2003) �7–72; Kraft, Ekkehard: Von der Rum Milleti zur Nationalkirche – die orthodoxe Kirche in Südosteuropa im Zeitalter des Nationalismus. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 51 (2003) 392–�08; andreJić, Živojn: Sveti Sava. Mit u istoriji – istorija u mitu [Heiliger Sava. Der Mythos in der Geschichte – die Geschichte im Mythos]. Rača 200�; buchenau, Klaus:: Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek. Frankfurt am Main u. a. 2006; rohdeWaLd, Stefan: Sava, Ivan von Rila und Kliment von Ohrid. Heilige in nationalen Diensten Serbiens, Bulgariens und Makedoniens. In: saMersKi, Stefan (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Wien 2007, 182–217; ders.: „Der heilige Sava und unsere Muslime“ – Albanische, türkische bzw. muslimische Verehrung christlicher Heiliger aus serbischer und bulgarischer Perspektive (20. Jahrhundert). In: KahL, Thede/Lienau, Cay (Hg.): Christen und Muslime in Südosteuropa. Interethnische Koexistenz in südosteuropäischen Peripheriegebieten. Wien/Berlin 2009, 155–172.

Stefan Rohdewald

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Hedwig (von Schlesien) I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Mittelalter. – b) Frühe Neuzeit. – c) Von 1800 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts. – d) Von 1945 bis zur Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die schon bald nach ihrem Tod einsetzende Verehrung Hedwigs (Hadewigis, Jadwiga) unterlag bereits im Mittelalter verschiedenen Wandlungen, sowohl was die Hauptträger ihres Kults als auch was die damit verbundenen Intentionen betrifft. Im 19. und in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts befanden sich drei Bilder im Wettstreit: als schlesische Landesmutter, als karitativ wirkende Heilige und als Landespatronin Polens, bevor sich in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts zunächst die Symbolik der Patronin der Vertriebenen und danach das Bild der friedensstiftenden Brückenbauerin zwischen Deutschen und Polen durchsetzten. II. Leben Hedwig (117�/80 bis 1�./15. Oktober 12�3), Tochter von Graf Berthold IV. von AndechsMeranien und Agnes von Rochlitz (Groitzsch), wurde im Benediktinerinnenkloster Kitzingen erzogen. Gemäß der um 1300 abgeschlossenen, hagiographischen Interessen dienenden Hedwigslegende wurde sie mit zwölf Jahren mit dem Piastenfürsten Herzog Heinrich I. von Schlesien vermählt. Das Paar bekam sieben Kinder, von denen jedoch nur zwei – Herzog Heinrich II. und Gertrud, Äbtissin von Trebnitz – das Erwachsenenalter erreichten. Nach der Geburt des siebten Kindes 1208 legte das Herzogspaar das Keuschheitsgelübde ab. Im Sinne der Reformbewegungen innerhalb der Kirche, vor allem der franziskanischen Spiritualität, führte Hedwig – wohl in Übernahme eines Lebensmodells der Nachfolge Christi wie andere heilig- oder seliggesprochene Herrscherinnen und Prinzessinnen im 13. Jahrhundert (Elisabeth von Thüringen, Agnes von Böhmen, Kinga von Kleinpolen, Margareta von Ungarn oder Salomea von Halyč) – ein tief religiöses Leben in strenger Askese verbunden mit einem umfangreichen karitativen Wirken mit Krankenpflege, Armenfürsorge und anderen Werken der Barmherzigkeit. Aus ihrem recht beträchtlichen persönlichen Besitz an Eigengütern und vermögensrechtlichen Ansprüchen bestritt sie zahlreiche materielle Zuwendungen an die Kirche, vor allem die Klosterstiftungen ihres Gatten wie das Zisterzienserinnenkloster Trebnitz (gegründet 1202) und die Zisterze Heinrichau (gegründet 1227). Nach dem Tod Heinrichs I. zog sich Hedwig nach Trebnitz zurück, legte aber keine Ordensgelübde ab.

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III. Verehrung a) Mittelalter Schon bald nach der Beisetzung Hedwigs in der Klosterkirche von Trebnitz setzten Pilgerfahrten zu ihrem Grab ein, die durch Berichte von Wunderheilungen noch verstärkt worden sein dürften. 1262 wurde der Kanonisationsprozeß an der päpstlichen Kurie in Rom eingeleitet. Am 26. März 1267 stellte Papst Clemens IV. in Viterbo die Heiligsprechungsurkunde aus, die an alle Bischöfe in der Kirchenprovinz Gnesen – Erzbistum Gnesen, Bistümer Breslau, Krakau, Lebus, Płock, Posen und Leslau – gerichtet war; gleichlautende Exemplare sollten auch an die Erzbischöfe Deutschlands gehen, von denen sich jedoch keine Spur erhalten hat. Im gesamtkirchlichen Rahmen gesehen war damit also, anders als beispielsweise bei Hedwigs Nichte Elisabeth, von vornherein eine räumliche Begrenzung der Pflicht zur Verehrung der ‚neuen‘ Heiligen vorgesehen. Im Text der päpstlichen Bulle wird Hedwig als „Schutzherrin der Polen“ bezeichnet. Als ihr Festtag wird ihr Todestag, der 15. Oktober, festgesetzt (tatsächlich starb sie wohl in der Nacht des 14. Oktober). Vermutlich am 25. August 1269 fand in Gegenwart der schlesischen Herzöge, weiterer polnischer Fürsten, König Přemysl Ottokars II. von Böhmen und einer großen Menschenmenge die feierliche Umbettung (Translation) der Gebeine Hedwigs in ein Grabmal in der neu erbauten Hedwigskapelle statt. Gefördert wurden die Pilgerfahrten nach Trebnitz zudem durch die Erteilung mehrerer Ablässe in den Jahren 1267 bis 1271 für alle Besucher des Grabes der Heiligen an ihrem Festtag und dem Jahrestag der Translation. Aus den Schilderungen der Hedwigslegende läßt sich schließen, daß die Pilger vor allem aus Schlesien, aber auch aus anderen Teilen Polens, aus Böhmen und Mähren sowie aus Preußen kamen. Zentren der Hedwigsverehrung waren die Zisterzienserklöster im polnischen Metropolitanverband und im Königreich Böhmen; daneben engagierten sich vor allem die Bettelorden (Franziskaner, Klarissen, Dominikaner). Aus der Tatsache, daß sich besonders der König von Böhmen, Přemysl Ottokar II., für die Förderung des Hedwigskultes einsetzte und Herzog Przemysł II. von Großpolen, ein Urenkel Hedwigs, im Posener Dom einen Hedwigsaltar stiftete, werden erste Versuche einer (außen)politischen Instrumentalisierung der Hedwigsverehrung sichtbar. Eine Verstärkung des Kultes scheint aber erst im 14. Jahrhundert eingesetzt zu haben. Ausschlaggebend dafür war sicher zum einen die anscheinend relativ rasche und weite Verbreitung der wohl von einem Franziskaner verfaßten großen Hedwigslegende beziehungsweise der auf ihr fußenden Kurzformen und abgeleiteten Predigten, die in recht großer Zahl in einer Reihe mittelalterlicher Handschriften überliefert und seit 1�93 auch im Druck veröffentlicht worden sind. Bereits während des Spätmittelalters entstanden mehrere Übersetzungen der großen Legende ins Deutsche und eine ins Tschechische. Von besonderer Bedeutung war, daß ein Text zudem Eingang gefunden hat in die späteren Fassungen der Goldenen Legende des Jacobus de Voragine, das bekannteste religiöse Volksbuch des Abendlandes im Mittelalter, und in davon abgeleitete Predigtsammlungen. Damit wurde Hedwig weitesten Bevölkerungskreisen als religiöses Vorbild, Wundertäterin und Helferin in Notlagen vorgestellt. 600

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Zum anderen zeigt sich ab der Mitte des 14. Jahrhunderts eine deutliche Steigerung des Interesses an der Verehrung Hedwigs auch im innerkirchlichen Bereich. 1344 wurde die Feier ihres Festes innerhalb der Diözese Breslau durch ein Synodalstatut angeordnet. Es folgten mehrfache Aufwertungen der ihr gewidmeten Festtage bis hin zur Einführung des 15. Oktober als öffentlicher Feiertag (seit 1501 belegt). Vor allem in Schlesien, aber auch in anderen Gebieten der Kirchenprovinz Gnesen wurde ihr eine Reihe von Kirchen, Kapellen und Altären geweiht; teilweise kam es sogar zur Ablösung älterer Patrozinien durch das Hedwigspatrozinium. Es entstanden Gebets- und Lesungstexte, Hymnen und Texte für liturgische Gesänge und Stundengebete, darunter fünf Reimoffizien – in dem wohl beliebtesten Reimoffizium Freue dich, Deutschland (14. Jahrhundert) wird Deutschland als „Hedwigs Mutter“ und Polen als ihre „Ernährerin“ bezeichnet. Alle diese Texte dienten nicht zuletzt auch als Mittel hagiographischer Inszenierung, ebenso wie Hedwigsdarstellungen und -figuren auf Altarbildern und in Kirchen. Wo sich außerhalb des Kerngebiets (Kirchenprovinz Gnesen, Böhmen) im Heiligen Römischen Reich, in Ungarn und Italien spätmittelalterliche Zeugnisse für eine Hedwigsverehrung – häufig eher vereinzelt – finden, lassen sich nicht selten persönliche Beziehungen von Geistlichen oder Stiftern zu Schlesien feststellen. Untrennbar verbunden mit der religiösen Ebene mußte beim Kult einer Heiligen aus dem europäischen Hochadel im Mittelalter auch eine politische sein, die ebenfalls seit der Mitte des 14. Jahrhunderts sehr deutlich zum Tragen kam: Herzog Ludwig I. von Liegnitz-Brieg ließ 1353 in seiner damaligen Residenzstadt Lüben eine reich bebilderte Prachthandschrift („Schlackenwerther Codex“) erstellen mit dem gesamten Corpus der damals vorhandenen Hedwigsliteratur. Am Anfang stand jedoch – anders als in den älteren Handschriften – ostentativ die Genealogie Hedwigs, die ebenfalls wohl kurz nach 1300 verfaßt worden war und in deren Einleitung die Heilige als Patronin Schlesiens bezeichnet wird. Daß in den Schlußworten zwischen den einzelnen Texten gleich zweimal Hedwig historisch nicht korrekt als Herzogin Schlesiens und ganz Polens bezeichnet wird, bezeugt politische Ansprüche. Die neue programmatische Reihung ist zum Vorbild geworden für einen erheblichen Teil der späteren Überlieferungen und Bearbeitungen. Sie zeigt deutlich die nunmehr erfolgte Fokussierung auf Hedwig als schlesische Landesheilige und Mutter des regierenden Piastengeschlechts: Die Dynastie sollte durch Geblütsheiligkeit legitimiert werden. Auch mehrere Stiftungen Ludwigs, wie die Hedwigskapelle des Lübener Schlosses und die Gründung der Brieger Hedwigskirche mit einem Kollegiatkapitel, zeugen von dessen mit politischen Absichten verbundener Verehrung seiner Vorfahrin, die in der piastischen Dynastenideologie eine herausragende Stellung einnehmen sollte. Ein weiteres Indiz für dieses Bestreben bei den (nieder)schlesischen Piasten insgesamt ist – neben der Wahl der Krypta der Klosterkirche zu Trebnitz als Grablege für mehrere Angehörige des Geschlechts – die Tatsache, daß der Name Hedwig im Spätmittelalter bei ihnen zu den beliebtesten Frauennamen zählte. Zur gleichen Zeit wie bei Ludwig ist auch bei Kaiser Karl IV., als König von Böhmen Oberherr der schlesischen Fürstentümer, zudem in dritter Ehe mit der Piastin Anna von Schweidnitz verheiratet, eine starke Förderung des Hedwigskults festzustellen. Sie fügt sich ein in 601

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dessen Verehrung verschiedener Heiliger als Patrone in seinem riesigen Herrschaftsbereich und läßt sich als neue Form des Bemühens um eine Gemeinsamkeit deuten. Das für die mittelalterliche Adelstradition typische Streben nach Identitätsstiftung und Legitimation durch kollektive Gedächtniskultur mittels Teilhabe an der Geblütsheiligkeit dürfte auch den Hintergrund bilden für die Handschriftenüberlieferung der Hedwigslegende aus habsburgischem, hennebergischem und oettingischem Besitz, die auf Ehebeziehungen zu den schlesischen Piasten um 1�00 zurückgeht. In der Krisenzeit des 15. Jahrhunderts, in dem Schlesien häufig Kriegsschauplatz war, eine Phase äußerer Bedrohungen, innerer Zerrissenheit, sozialer Unruhen und einer schweren Agrarkrise durchstehen mußte, wurde immer mehr das schlesische Bürgertum zum Träger der Hedwigsverehrung. Diese spielte auch eine erhebliche Rolle bei der gleichzeitig zu beobachtenden Festigung eines besonderen Regionalbewußtseins in diesen Kreisen. Hedwig und mit ihr der Sohn Heinrich II., der in der Schlacht gegen die Mongolen auf der Wahlstatt bei Liegnitz 1241 gefallen war, wurden zum Symbol der – gemeinsamen – Glaubensverteidigung zunächst gegen Hussiten und später gegen Türken stilisiert. Die Beliebtheit des Vornamens Hedwig in allen Teilen Schlesiens spricht ebenso eine beredte Sprache wie die Vielzahl der in diesem Zeitraum verbreiteten Handschriften der Hedwigsviten, neu entstandene Hedwigstexte, eine weitere Verbreitung ihres Patroziniums und die Veranstaltung jährlicher feierlicher Prozessionen von Breslau nach Trebnitz (seit 1��8) – ihr Kult wurde damit immer stärker zu einer einigenden schlesischen Regionalerscheinung, ungeachtet der Tatsache, daß sie in Liedern, Gebeten und Predigten weiterhin als „Fürstin und Beschützerin von Schlesien und Polen“ erschien und ihre Erwähnung in allen polnischen, preußischen und zahlreichen deutschen Bistumskalendarien auch ein Fortbestehen ihrer Verehrung in überregionalem Kontext belegt. b) Frühe Neuzeit Der Siegeszug der Reformation und die mit ihr verbundene Ablehnung der Heiligenkulte sowie der mittelalterlichen Frömmigkeitsformen brachten im 16. Jahrhundert zunächst in weiten Teilen der Gebiete der Hedwigsverehrung – mit Ausnahme Polens – einen deutlichen Rückgang ihres Kults im hergebrachten Gewande und eine noch stärkere Fokussierung auf das Bild der Landespatronin. Symptomatisch dafür ist die Tatsache, daß das Hedwigsfest nicht in die nach der tridentinischen Reform für die gesamte katholische Kirche verbindlichen vereinheitlichten liturgischen Bücher aufgenommen wurde. Bemerkenswert ist aber, daß auch die evangelischen Schlesier Hedwig als „andächtige Landesmutter“ und vorbildliche Persönlichkeit weiterhin hoch schätzten, teilweise bei ihr sogar protestantismusnahe Züge sehen wollten, ihr Andenken in Wort und Schrift lebendig erhielten und Hedwig gewidmete Altäre, Statuen und Bildnisse in den Kirchen unberührt ließen. Daran konnte der seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert allmählich wieder erstarkende Katholizismus in der Diözese Breslau anknüpfen, als deren Patronin sie spätestens seit 1597 nachweisbar ist. Zumal nach dem Dreißigjährigen Krieg 602

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machte sich – nicht zuletzt aufgrund jesuitischen Einflusses im gegenreformatorischen Programm und befördert durch barocke Glaubensformen – in religiösen, literarischen und künstlerischen Zeugnissen ein Wiedererstarken des Hedwigskults in Schlesien bemerkbar, beispielsweise in der Wiederaufnahme der Prozessionstradition nach Trebnitz in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts. Das Grab der Heiligen erhielt 1679/80 seine heutige Gestalt. 1697 wurde mit einem Neubau des Klosters begonnen. Bereits seit dem ausgehenden 16. Jahrhundert war dort der Großteil der Nonnen polnischer Herkunft, die Äbtissinnen entstammten fast durchgehend dem großpolnischen Hochadel. Dank der Bemühungen des polnischen Königs Johann III. Sobieski und seiner Gattin Marie Casimire wurde die Feier des Hedwigsfestes – unter gleichzeitiger Verlegung des Festtags auf den 17. Oktober – vom päpstlichen Stuhl für die gesamte römisch-katholische Kirche verpflichtend vorgeschrieben (1706). Da die schlesische Herzogin mitunter in bildlichen Darstellungen dieser Zeit als „Königin Polens und Schlesiens“ bezeichnet wird, liegt die Vermutung einer zumindest partiellen Vermischung ihrer Memoria mit derjenigen der in Polen verehrten Königin Hedwig von Anjou, der Gattin von Władysław II. Jagiełło, nahe. Es dürften in erster Linie politische Intentionen – das Ziel einer inneren Gewinnung Schlesiens und seine Eingliederung in den preußischen Gesamtstaat – gewesen sein, die den religiös indifferenten Preußenkönig Friedrich II. dazu bewogen, als Patronin der seit 17�7 im Bau befindlichen ersten nachreformatorischen katholischen Kirche in Berlin die schlesische Landesheilige zu wählen. Die europaweit durchgeführten Kollekten zum Kirchenbau (Weihe 1773) fanden vor allem in Schlesien und Polen Resonanz und beförderten hier wiederum ihrerseits die Hedwigsverehrung. 177� wurde in Trebnitz eine Hedwigsbruderschaft gegründet (bis 1943 bestehend), deren Mitglieder aus Schlesien und Polen sich verpflichteten, nach dem Beispiel der hl. Hedwig Prinzipien des Glaubens im Alltagsleben konkret umzusetzen. c) Von 1800 bis zur Mitte des 20. Jahrhunderts Die Aufklärung provozierte zwar erhebliche Spannungen und Auseinandersetzungen innerhalb der katholischen Kirche Schlesiens, in tiefere Schichten der Bevölkerung scheint sie aber kaum eingedrungen zu sein. Selbst nach der Säkularisation von 1810, durch die auch das Zisterzienserinnenkloster Trebnitz aufgehoben wurde, blieben die Wallfahrten zum Hedwigsgrab in der dortigen ehemaligen Klosterkirche mit jährlich Tausenden von Pilgern lebendig. Die Vorbereitungen auf das 600. Gedenkjahr des Todes Hedwigs 18�3 und die Feierlichkeiten zu diesem Anlaß nutzten konservative katholische Kreise im Bistum Breslau, die sich selbst als „kämpfende Kirche“ sahen, zu erheblichem publizistischen Aufwand gegenüber aufklärerisch-liberalen Tendenzen. In diese Bemühungen um eine Festigung der traditionellen Formen von Glaube und Kult, die sich um die Gestalt der schlesischen Landespatronin konzentrierten, mischten sich teilweise auch antiprotestantische oder deutschnationale antipolnische Töne mit ein. 603

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Neben religiösen, moralischen und politischen Motiven spielten angesichts des rasch anwachsenden Industrieproletariats und des Landarbeiterelends aber auch immer stärker sozial-karitative Ziele eine Rolle. An verschiedenen Orten auch außerhalb Schlesiens wurden Wohltätigkeitseinrichtungen und Krankenhäuser ins Leben gerufen, in deren Bezeichnung eine Bezugnahme auf Hedwig aufscheint. 18�8/�9 gründete der Breslauer Priester Robert Spiske (Seligsprechungsprozeß 1993 in die Wege geleitet) beispielsweise den St. Hedwigsverein, der sich vor allem der Aufnahme und Erziehung verwahrloster Kinder widmete. 1859 ging daraus die – bis heute in Deutschland, Polen und einigen Nachbarländern existierende – Kongregation der Hedwigschwestern hervor. Die Tatsache, daß im Bilderschmuck der 18�1 vollendeten symbolischen Grabkapelle der ersten Herrscher Polens in der Posener Kathedrale (Goldene Kapelle) unter den polnischen Heiligen auch Hedwig erscheint, zeigt ebenso wie der weiterhin beträchtliche Strom polnischer Pilger nach Trebnitz, daß sie in Polen als Schutzheilige des – geteilten – Königreichs betrachtet wurde. Somit konkurrierten im 19. Jahrhundert gewissermaßen drei Hedwigsbilder miteinander: die schlesische Landesmutter, die karitativ wirkende Heilige und die Schutzpatronin Polens. Diese widersprüchlichen Züge in der Hedwigs-Memoria verstärkten sich in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts noch und nahmen teilweise sogar kontrastiven Charakter an. Auf der einen Seite wurde mit einer deutlich antipolnischen Haltung speziell in Schlesien Hedwig zu einer Missionarin des Christentums und des Deutschtums stilisiert. Bezüge auf Polen, die in Hedwigstexten aus dem Mittelalter und der Barockzeit in erheblichem Maße begegnen, wurden nun bewußt ausgeklammert oder – wie häufig bereits im Jahrhundert zuvor – durch den Begriff Schlesien ersetzt. Andererseits wurde aber auch die etwa seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu beobachtende Internationalisierung des Hedwigskults verstärkt, wie etwa die Versendung von Reliquien oder Reliquiaren Hedwigs – ein seit der Reformation (mit Ausnahme von Reliquien für die Berliner Hedwigskirche 1773) nicht mehr geübter Brauch – nach Prag (18�5), Rom (1860, 1911), Frankreich (1870) oder Andechs (1925) belegt. Im gleichen Sinne wirkten auch die Errichtung des Bistums Berlin 1929 und die Erhebung der dortigen Hedwigskirche zur Kathedrale, die im gleichen Jahr erfolgte (erneute) Verlegung des Hedwigsfestes auf den 16. Oktober durch Papst Pius XI. und die im Jubiläumsjahr 19�3 vorgenommene Erhebung der Klosterkirche Trebnitz zur päpstlichen Basilika durch Pius XII. d) Von 1945 bis zur Gegenwart Die Feiern im 700. Todesjahr Hedwigs blieben etwa mit einem neu geschaffenen Hedwigsweihespiel auf kleinere und engere katholische Kreise in Schlesien und in anderen deutschen Gebieten beschränkt. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs, nach Flucht und Vertreibung der deutschen Bevölkerung aus den ostdeutschen Provinzen, änderte sich die Situation grundlegend. Relativ rasch bildeten sich im Kontext der katholischen Vertriebenenseelsorge in den Westzonen Deutschlands Hedwigskreise, die sich – unter 604

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Pflege und „Berücksichtigung des Kulturgutes der Ostvertriebenen“ – seelsorgerischreligiösen, sozialen und kulturellen Zwecken widmeten. Hedwigswallfahrten wurden in Bayern, Niedersachsen und Nordrhein-Westfalen ins Leben gerufen. Das Hedwigsbild der „schlesischen Landesmutter“, des „Vollbildes der schlesischen Frau und Mutter“, wurde so bald zur Schutzpatronin der Vertriebenen schlechthin erweitert, teilweise sogar über konfessionelle Schranken hinaus, häufig beladen mit der Hoffnung auf Rückkehr in die verlorene Heimat (Gebet St. Hedwig steh’ uns bei, führ’ uns zurück). Zumindest partiell stand diese in den meisten Hedwigskreisen vorherrschende Haltung in einem gewissen Widerspruch zu der eigentlichen kirchlich-offiziellen Zielrichtung einer sozialen und kulturellen Eingliederung der Vertriebenen in den Aufnahmegebieten, wobei eher das Bild der „Caritas-Königin des deutschen Ostens“ zum Symbol gemacht wurde. Dominierte hier das Bild der schlesisch-deutschen Leitfigur, das im Rahmen des Kalten Krieges teilweise auch ideologisiert wurde, so wurde in den durch Beschluß der Potsdamer Konferenz vom 2. August 1945 unter polnische Verwaltung gestellten „wiedergewonnenen Gebieten“ die Tradition der Verehrung Hedwigs als Schutzheilige Schlesiens und Polens als Mittel zur sozialen Eingliederung der neuangesiedelten Bevölkerung genutzt. Zentrum der Memoria blieb die unversehrt erhaltene Hedwigs-Basilika in Trebnitz, wo sich schon seit dem Herbst 19�5 der Salvatorianerorden um die weitere Pflege, Gestaltung und Darstellung der Hedwigsverehrung bemühte. Neben diesen in weiten Bevölkerungskreisen dominierenden polarisierenden Hedwigsbildern, die eher auf jeweils eigene politische Einstellungen als auf religiöse Überzeugungen zurückgehen dürften, traten erst allmählich Stimmen, die Hedwigs Wirken als völkerverbindend und friedenstiftend und somit als vorbildhaft für das Verhältnis von Deutschen und Polen darstellten. Als einer der ersten tat dies der Berliner Bischof Julius Kardinal Döpfner in einer viel diskutierten Predigt zum Hedwigsfest 1960. Der Gedanke wurde im polnischen und im deutschen Episkopat aufgegriffen und gipfelte in einem Briefwechsel im Jahr 1965, in dem Hedwig als „bester Ausdruck eines christlichen Brückenbaues zwischen Polen und Deutschland“ bezeichnet wurde. Hinter diese neue Symbolik der „Patronin der Völkerversöhnung“, die sich auch in einem immer stärker werdenden Publikationswesen durchzusetzen begann, traten mit der Zeit die anderen politisch aufgeladenen Hedwigsbilder deutlich zurück. Nach der politischen Wende von 1989/90 sind sie nahezu völlig unbedeutend geworden. Einen Höhepunkt stellte zweifellos die Reihe gemeinsamer deutsch-polnischer Aktionen im Zusammenhang mit den Feiern anläßlich Hedwigs 750. Todestages 1993 dar, die von religiösen Veranstaltungen über wissenschaftliche Tagungen und Ausstellungen bis zur bildgleichen Briefmarke in beiden Ländern reichten. Von erheblicher Bedeutung für die Vertiefung der Hedwigsverehrung vor allem in Polen war zudem die Tatsache, daß der polnische Kardinal Karol Wojtyła an einem Hedwigsfesttag, dem 16. Oktober 1978, zum Papst gewählt wurde und als Johannes Paul II. in Predigten wiederholt auf Hedwig als „Brückenheilige“ hingewiesen hat. Weltweit existieren heute rund 300 Hedwigskirchen, davon 182 in Polen (die weitaus meisten in Schlesien) und 52 in Deutschland. 605

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Büstenreliquiar der hl. Hedwig, silbervergoldet, von Andreas Heidecker 1512/13, auf dem Sockel die emaillierten Wappen Polens und Schlesiens; ehemals Breslau Kreuzstift, heute Breslau Domschatz. Bildnachweis: Christian Gündel: Die Goldschmiedekunst in Breslau. Berlin 1940, Tafel 19.

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IV. Auswahlbibliographie a) Quellen GottschaLK, Joseph (Hg.): Die große Legende der heiligen Frau Sankt Hedwig, geborene Fürstin von Meranien und Herzogin in Polen und Schlesien (Grosse legende der heiligsten frawen Sandt Hedwigis). Faksimile nach der Originalausgabe von Konrad Baumgarten, Breslau 1504. Wiesbaden 1963; Vita S. Hedwigis. In: stenzeL, Gustav Adolf (Hg.): Scriptores rerum Silesiacarum, Bd. 1. Breslau 1839, 1–99; GörLich, Franz X[aver]: Das Leben der heiligen Hedwig, Herzogin von Schlesien – als Andenken an die sechshundertjährige Jubelfeier ihres seligen Todes. Breslau 18�3; Vita S. Hedwigis. Legenda maior. In: Acta Sanctorum, Octobris, Bd. 8. Bruxelles 1853, 22�–26�; seMKoWicz, Aleksander (Hg.): Vita Sanctae Hedwigis. In: Monumenta Poloniae Historica, Bd. �. Lwów 188�, 510–633; seppeLt, Franz Xaver: Mittelalterliche deutsche Hedwigslegenden. In: Zeitschrift des Vereins für Geschichte Schlesiens �8 (191�) 1–18; MetzGer, Konrad/MetzGer Franz: Das Leben der hl. Hedwig. Die Legenda maior de beata Hedwigi ins Deutsche übersetzt. Breslau 1927; tschersich, Emil: Herzogin Hedwig, eine deutsche Frauengestalt. In: Evangelisches Kirchenblatt für Schlesien �1 (1938) 101–10�, 112–11�, 118–121, 127–129; zdanoWicz, Stanisław: Zarys historyczny liturgicznego kultu św. Jadwigi [Historischer Abriß des liturgischen Kults der hl. Hedwig]. In: Ruch Biblijny i Liturgiczny 6 (1953) 102–115; GottschaLK, Joseph/schodroK, Karl: Die neuere Hedwigs-Literatur. In: Schlesien 3 (1958) 177–180; aPPelt, Heinrich/irGanG, Winfried (Bearb.): Schlesisches Urkundenbuch, Bd. 1–6. Wien u. a. 1971– 1998; braunfeLs, Wolfgang (Hg.): Der Hedwigs-Codex von 1353: Sammlung Ludwig. Berlin 1972; GottschaLK, Joseph: Hedwigsreliquiare aus 600 Jahren. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 39 (1981) 165–188; ders: Hedwigs-Predigten aus 700 Jahren. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte �0 (1982) 129–16�; urban, Josef: Die Sankt-Hedwigs-Feier 1943 im oberfränkischen Staffelstein. Ein Ausdruck religiösen Lebens im Krieg und unter nationalsozialistischer Herrschaft. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte �1 (1983) 1�5–16�; pater, Józef (Hg.): Legenda świętej Jadwigi [Die Legende der hl. Hedwig]. Wrocław 1993; araszczuK, Stanisław: Kult św. Jadwigi na Śląsku w świetle przedtrydenckich wrocławskich ksiąg liturgicznych [Der Kult der hl. Hedwig in Schlesien im Lichte der vortridentinischen Breslauer liturgischen Werke]. Opole 1995; ders.: Oficja rymowane o św. Jadwidze [Reimoffizien der hl. Hedwig]. Legnica 1996; GrossMann, Dieter: Die Darstellung der hl. Hedwig in der bildenden Kunst bis zum Barock. In: irGanG, Winfried/unverricht, Hubert (Hg.): Opuscula Silesiaca. Festschrift für Josef Joachim Menzel zum 65. Geburtstag. Sigmaringen 1998, 213–253; ehLert, Trude (Hg.): Legenda o św. Jadwidze/Legende der hl. Hedwig. Wrocław 2000; sienKieWicz, Jerzy: Św. Jadwiga w modlitwach i pieśnach. Die hl. Hedwig aus Schlesien in Gebeten und Liedern. Svatá Hedvika, patronka Slezska v modlitbách a písních. Trzebnica 2003; Krafft, Otfried: Drei Predigten des Kardinals Odo von Châteauroux über Hedwig von Schlesien. Wandlungen und Kontinuitäten im Heiligenideal des 13. Jahrhunderts. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 55 (2006) �77–509.

b) Bibliographien und Literaturberichte GustaW, Romuald: Jadwiga Śląska – Bibliografia [Hedwig von Schlesien – Bibliographie]. In: Hagiografia polska. Słownik bio-bibliograficzny, Bd. 1. Poznań 1971, �75–�85; WiLLiaMs-Krapp, Werner: Hedwig von Schlesien. In: Die deutsche Literatur des Mittelalters. Verfasserlexikon, Bd. 3. Berlin 21981 [11943], 565–569; irGanG, Winfried: Sancta Hadwigis, ducissa Zlesie, Polonorum patrona. Neuere Literatur im Zusammenhang mit einem Jubiläumsjahr. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung 49 (2000) 52–61.

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c) Darstellungen KnobLich, Augustin: Lebensgeschichte der heiligen Hedwig, Herzogin und Landespatronin von Schlesien. 117� bis 12�3. Festtag den fünfzehnten October. Breslau 1860; GottschaLK, Joseph: St. Hedwig, Herzogin von Schlesien. Köln/Graz 1964; ders.: Hedwigsverehrung durch 700 Jahre außerhalb von Schlesien. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 24 (1966) 100–126; suchonióWna, Benigna: Jadwiga Śląska [Hedwig von Schlesien]. In: Hagiografia polska. Słownik bio-bibliograficzny, Bd. 1. Poznań 1971, �57–�75; WaLter, Ewald: Studien zum Leben der hl. Hedwig Herzogin von Schlesien. Stuttgart/Aalen 1972; suchoń, Benigna: Święta Jadwiga. Księżna Śląska [Die hl. Hedwig. Herzogin von Schlesien]. In: Nasza Przeszłość 53 (1980) 5–132; GottschaLK, Joseph: Hedwig von Andechs – Herzogin von Schlesien. Eine Botin des Friedens. Freiburg 1982; Kiełbasa, Antoni: Święta Jadwiga patronką dnia wyboru Jana Pawła II [Die hl. Hedwig Patronin des Tages der Wahl von Johannes Paul II.]. Rzym/Trzebnica 1983; ders.: Święta Jadwiga Śląska [Die hl. Hedwig von Schlesien]. Warszawa 1990; schütz, Alois: Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter. In: KirMeier, Josef/brocKhoff, Evamaria (Hg.): Herzöge und Heilige. Das Geschlecht der Andechs-Meranier im europäischen Hochmittelalter. München 1993, 21–164; Gussone, Nikolaus (Hg.): Eichendorffs Hedwig-Fragment. Heiligenverehrung und Mittelalterbild im 19. Jahrhundert. Münster/Hamburg 1993; schott, Christian-Erdmann: Hedwig von Andechs-Meranien. Herzogin von Schlesien und Heilige. Zu ihrem 750. Todestag am 15. Oktober 1993. In: Jahrbuch für Schlesische Kirchengeschichte 73 (199�) 183–20�; KaczMareK, Michał/WóJciK, Marek L. (Hg.): Księga Jadwiżańska. Święta Jadwiga w dziejach i kulturze Śląska [Hedwigsbuch. Die hl. Hedwig in Geschichte und Kultur Schlesiens]. Wrocław 1995; KaczMareK, Michał (Hg.): Heilige Hedwig 117�–12�3. Die Frau im Mittelalter und heute. Berlin 1995; GruneWaLd, Eckhard/Gussone, Nikolaus (Hg.): Das Bild der heiligen Hedwig in Mittelalter und Neuzeit. München 1996; irGanG, Winfried: Die politische Bedeutung der Heiligen im Mittelalter (Wenzel, Adalbert, Stanislaus, Hedwig). In: KöhLer, Joachim (Hg.): Heilige und Heiligenverehrung in Schlesien. Sigmaringen 1997, 31–50; WaLter, Ewald: Anmerkungen zu Leben und Verehrung der hl. Hedwig, Herzogin von Schlesien. Ebd., 51–67; ders.: Aphorismen zu St. Hedwig, Herzogin von Schlesien. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 56 (1998) 233–260, 57 (1999) 221–262; MrozoWicz, Wojciech: Die politische Rolle des Kultes des hl. Adalbert, Stanislaus und der hl. Hedwig im Polen des 13. Jahrhunderts. In: derWich, Marek/dMitriev, Michel (Hg.): Fonctions sociales et politiques du culte des saints dans les sociétés de rite grec et latin au Moyen Âge et à l’époque moderne. Approche comparative. Wrocław 1999, 111–12�; Kiełbasa, Antoni: Die Kirchenpatrozinien der hl. Hedwig in aller Welt. In: Archiv für schlesische Kirchengeschichte 59 (2001) 301–303; dröGe, Kurt/steMMer, Daniela: Bilder einer überforderten Kultfrau: St. Hedwig von Schlesien. In: fendL, Elisabeth (Hg.): Zur Ikonographie des Heimwehs. Erinnerungskultur von Heimatvertriebenen. Freiburg i. Br. 2002, 127–157; zientara, Benedykt: Heinrich der Bärtige und seine Zeit. Politik und Gesellschaft im mittelalterlichen Schlesien. München 2002; schott, Christian-Erdmann: Hedwig von Schlesien. In: KöhLer, Joachim/ bendeL, Rainer (Hg.): Geschichte des christlichen Lebens im schlesischen Raum. Münster/Hamburg/ London 2002, 511–523; Kiełbasa, Antoni: Jadwiga Śląska [Hedwig von Schlesien]. Kraków 200�; baroW-vassiLevitch, Daria: Die heilige Herzogin. Das Leben der Hedwig von Schlesien. Würzburg 2007; KöhLer, Joachim: Hedwig von Schlesien. In: saMersKi, Stefan (Hg.): Die Landespatrone der Böhmischen Länder: Geschichte – Verehrung – Gegenwart. Paderborn 2009, 85–98; piLvouseK, Josef: Von der Patronin Schlesiens zur Mittlerin zwischen Deutschen und Polen. Zum Kult und der Verehrung der hl. Hedwig (um 117�–12�3) in SBZ/DDR. In: eder, Manfred/Landersdorfer, Anton (Hg.): Christen in Bayern – Christen aus Bayern. Biographische Aspekte und Perspektiven durch 15 Jahrhunderte. Festschrift Karl Hausberger zum 65. Geburtstag. Regensburg 2009, 53–65.

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Dorothea von Montau I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung im Deutschen Orden. – IV. Verehrung in der Neuzeit. – V. Die moderne Dorotheenverehrung. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Dorothea von Montau (13�7–139�) ist im historischen Preußenland wie auch in Polen und Deutschland eine nur wenig bekannte Heilige. Unmittelbar nach ihrem Tod regionale Volksverehrung genießend, sollte sie für den Landesherrn, den Deutschen Orden, in der Krisensituation an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert zu einer Landespatronin werden. Im 19. Jahrhundert als Teil des kulturellen Gedächtnisses in Preußen wiederentdeckt, wurde sie nach dem Zweiten Weltkrieg zur Patronin der nordöstlichen deutschen Vertriebenen stilisiert und als solche 1976 heiliggesprochen. Vital ist weiterhin die Erforschung ihres Lebens und Wirkens aufgrund der ausgezeichneten Quellenlage. II. Leben Dorothea wurde Ende Januar 13�7 im Dorf Groß Montau unweit der Marienburg im Preußenland als Tochter einer wohlhabenden Bauernfamilie geboren. Die meisten Lebensdaten sind mittlerweile bekannt und unstrittig, so etwa die Taufe am 6. Februar in der örtlichen Dorfkirche. Das Mädchen fiel früh durch ein intensives Gebetsleben, Nachtwachen und strenge Askese auf. Im Alter von sechzehneinhalb Jahren wurde sie mit dem wesentlich älteren Danziger Waffenschmied Adalbert Swarze vermählt, mit dem sie lange Jahre einem großen Haushalt in der Danziger Langgasse vorstand. Bis 1381 schenkte sie neun Kindern das Leben, von denen allerdings nur eines die Pest und andere Krankheiten überlebte. Trotz vielfältiger häuslicher Pflichten zog es sie häufig in die Danziger Marienkirche, wo sie sich im Gebet ganz versenken konnte. Das Leben und die Offenbarungen der im Juli 1373 in Rom verstorbenen Birgitta von Schweden, die elf Monate später in Sankt Marien in Danzig aufgebahrt und dort auch vom Hochmeister des Deutschen Ordens verehrt wurde, machten einen tiefen Eindruck auf die Hausfrau und Mutter. Sie, die ebenso verheiratet gewesen war wie die schwedische Heilige, wählte diese zu ihrem Vorbild in der Betrachtung der Passion Christi und im Wallfahren. Dorothea überzeugte ihren betagten Mann allmählich von dem Gedanken des Freiseins für Gott, so daß das Ehepaar 138� seinen ganzen Besitz in Danzig verkaufte und beliebte Wallfahrtsorte wie Aachen aufsuchte. Es geriet dabei nicht selten in Lebensgefahr und unter Räuber. Mehr denn je pflegte Dorothea nun Betrachtungen und Gebet, das von ekstatischen Zuständen begleitet war. Darüber hinaus besuchte und half sie Armen, Kranken und Notleidenden. Als ihr Mann 1390 starb – sie war zu dieser Zeit auf einer 609

Stefan Samerski

Wallfahrt in Rom –, war für sie der Weg frei für das damalige Ideal des Abgeschiedenseins von der Welt, um sich ganz in den Dienst an Gott zu stellen. Nach längerem Suchen fand sie in dem wohl damals berühmtesten Theologen des Deutschen Ordens, im Domdekan Johannes Marienwerder, einen adäquaten Seelenführer. Dieser residierte – wie das ganze, dem Deutschen Orden eingegliederte Domkapitel des preußischen Bistums Pomesanien – bei der Domkirche in Marienwerder. Er prüfte im Auftrag des Domkapitels Dorotheas Entschluß, sich als Reklusin ganz zurückzuziehen und einmauern zu lassen. Dies geschah am 2. Mai 1393 in eine Klause, die an den Dom von Marienwerder angelehnt war. Mit diesem Zeitpunkt begann die Geschichte ihrer Verehrung: Predigten und Anweisungen des preußischen Klerus wiesen die Gläubigen immer wieder auf die Reklusin hin. Dorotheas Leben in der Klause war zwar isoliert, aber nicht vollständig von der Welt abgeschirmt: Ihre Behausung besaß kanonisch ein Fenster zum Außenbereich des Domes, über das eine gewisse Kommunikation möglich war. Dorothea beichtete täglich und empfing ebenso häufig die Kommunion – im Deutschordensland waren sonst nur sieben Kommuniontage pro Jahr vorgesehen. Ihre Visionen wurden von ihrem Beichtvater Johannes aufgezeichnet und sind uns bis heute überliefert. Sie wurde am Morgen des 25. Juni 1394 von ihrem Beichtvater tot in ihrer Klause aufgefunden. III. Verehrung im Deutschen Orden Dorotheas Begräbnis in der Krypta der Domkirche von Marienwerder wurde zu einem großen und feierlichen Ereignis, das die bereits im ausgehenden 1�. Jahrhundert einsetzende Verehrung durch die örtliche Bevölkerung und das Deutschordenskapitel einfing. Wie zur damaligen Zeit üblich, verzeichnete man vor Ort auftretende Wunder. In fortlaufenden Journalen sind in Marienwerder auf diese Weise mindestens sechs Wunderbücher gefüllt worden, die heute allerdings verloren sind. Auch legte der zuständige Bischof von Pomesanien um 1�00 bereits einen Reliquienschrank an, der die Verehrung der Klausnerin ganz offensichtlich fördern sollte. Dieser Schrank war noch bis zum Zweiten Weltkrieg in der Kirche zu sehen. Schon am 30. Oktober 1394, also nur wenige Wochen nach Dorotheas Tod, fanden die Erhebung der Gebeine und die Beisetzung in einem ausgemauerten Grab in der Krypta des Domes statt. In ihren Anfängen wurde die Devotion ganz vom Deutschen Orden getragen, der sie in Zeiten militärischer und spiritueller Schwäche als Stimulus nutzen wollte. Daher verwundert es nicht, daß alle Initiativen zur Eröffnung eines Heiligsprechungsprozesses vom Deutschen Orden hauptsächlich vom letzten Beichtvater, Johannes Marienwerder, ausgingen. Dieser schrieb vermutlich bereits in der ersten Jahreshälfte 1395 eine Vita und sorgte in den ersten Jahren für eine Verbreitung des Kultes in Wort und Bild nach Böhmen und Süddeutschland hinein. Neben ihm muß der pomesanische Bischof Johannes Mönch als eine der treibenden Kräfte eines Heiligsprechungsverfahrens angesehen werden. Auf Initiative der Diözesankurie von Marienwerder fand ver610

Dorothea von Montau

mutlich im September 1395 eine Besprechung der preußischen Bischöfe mit dem Hochmeister in der Marienburg statt, die als Ergebnis ganz augenscheinlich eine hochrangige Kanonisationsinitiative zugunsten der Reklusin hervorbrachte. Denn schon am 25. September wurden vom Hauptsitz des Deutschen Ordens elf Petitionsschreiben an den Papst abgesandt. Durch sie stellten die preußischen Bischöfe, der Hochmeister und die übrige Ordensspitze, der Beichtvater, die drei preußischen, dem Deutschen Orden inkorporierten Domkapitel sowie Doktoren und Pfarrer der Umgebung den Antrag auf Kanonisation. Hochmeister Konrad von Jungingen bezeichnete Dorothea dabei als „fidelissima adiutrix et patrona“. Auch die Dokumentation ihrer frühen Verehrungsgeschichte, die uns in Form ihrer Kanonisationsakten vorliegt, weist die Klausnerin anfangs als preußische Patronin mit entsprechender Volksverehrung vor allem im Bistum Pomesanien aus. Aus Danzig und Pommerellen liegen nur ganz wenige Zeugnisse vor. Der Orden finanzierte und förderte den Prozeß intensiv. In einem Schreiben des Hochmeisters an seinen Generalprokurator in Rom von 1404 wurde dieser eigens ermahnt, sich eifrig für die Kanonisation der Dorothea ins Zeug zu legen, da es dem Ordensoberen ein Herzensanliegen sei. Denn auch die Spiritualität der Dorothea wies eine große Nähe zum Deutschen Orden auf: Neben einer intensiven Mariendevotion der Klausnerin ist eine deutlich greifbare Verehrung der für den Ritterorden so wichtigen Heiligen wie Katharina und Bartholomäus, vor allem aber Elisabeth von Thüringen, überliefert. In Dorotheas Visionen tauchten immer wieder Passions- und Kreuzesfrömmigkeit auf – bei letzterer sogar mit dem Hinweis auf das Kreuzreliquiar in der Marienburg, das am Apostelfest der heiligen Philippus und Jakobus (1. Mai) mit bedeutenden Ablässen dem Volk gezeigt wurde. So verwundert es nicht, daß Hochmeister Konrad von Jungingen in seinem Brief an den Patriarchen von Grado (1395) von Dorothea als einer Frau der Vorsehung sprach, die in schwierigen Zeiten „gegen die Verleumdung eine ganz treue Helferin und Patronin, gegen den Niedergang der Frömmigkeit eine Pflegetochter (alumna), gegen die Häresie eine unerschütterliche Säule, gegen die Hinterlist eine Mutter der Versöhnung gewesen sei“. Dieser Hochmeister, der sich gern als „Schirmherr des ganzen Preußenlandes“ anreden ließ, verfolgte mit der beabsichtigten Kanonisation eine vergleichbare Funktionszuordnung für Dorothea von Montau, selbstverständlich auf spiritueller Ebene. Die in den Journalen aufgezeichneten Wunder sprachen allerdings eine andere, recht volkstümliche und weniger politische Sprache: Unter den in den ersten Jahren nach Dorotheas Tod erfaßten miracula waren auffallend viele Bekehrungen, Krankenheilungen und Hilfen in wirtschaftlichen Schwierigkeiten zu finden. Immerhin sprach die stattliche Anzahl solcher Begebenheiten für einen hohen Bekanntheits- und Verehrungsgrad der Reklusin. Nach einem fulminanten Auftakt geriet der Prozeß dann allerdings durch die politisch-militärischen Auseinandersetzungen ins Stocken, die sowohl den Kirchenstaat als auch Preußen schwer in Mitleidenschaft zogen. Es gilt ferner zu bedenken, daß das bis 1�17 andauernde Große Abendländische Schisma jede Prozeßführung belastete. Im Kirchenstaat herrschte vielfach Krieg; der Papst und die Kardinäle weilten außerhalb der Ewigen Stadt, und auch der Ordensprokurator sah sich gezwungen, Rom zu verlas611

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sen und die Prozeßakten in eine italienische Kleinstadt auszulagern. Eine zusätzliche Hypothek bedeutete das Konzil von Konstanz (1�1�–1�18), auf dem große Vorsicht vor verschiedenen Erscheinungsformen speziell der weiblichen Mystik geäußert wurde. Außerdem stieg gerade in jenen Jahrzehnten die allgemeine Prozeßdauer an, so daß sich eine Causa damit erheblich verteuerte und das mögliche Risiko eines Mißerfolgs vergrößerte. Zudem stellte der Tod der beiden tatkräftigen kooperierenden Promotoren und Beichtväter Johannes Ryman und Johannes Marienwerder im Jahr 1�17 einen erheblichen Rückschlag für Devotion und Verfahren dar. Und schließlich wurde es der Ordensleitung bereits wenige Jahre nach der Zeugeneinvernahme geradezu unmöglich, den Prozeß fortzusetzen: Die Schlacht von Tannenberg 1�10 brachte die Herrschaft des Deutschen Ordens in Preußen an den Rand des Abgrunds und verursachte erhebliche politische und wirtschaftliche Schwierigkeiten. Ende September 1410 besuchte der polnisch-litauische Monarch Marienwerder und ließ sich dort die ehemalige Klause der Dorothea zeigen. Das ganze 15. Jahrhundert hindurch brachen in Preußen immer wieder Kriege aus. Dabei zeitigten vor allem die Folgen der militärischen Auseinandersetzungen von 1414/16 für das pomesanische Stiftsgebiet katastrophale wirtschaftliche Folgen, so daß es auch an einer finanziellen Basis für den teuren Kanonisationsprozeß fehlte. Unter solchen gravierenden Schwierigkeiten hatten sporadisch auftretende Initiativen des Ordens keine Wirkung – so etwa der Versuch Bischof Johannes’ IV. von Pomesanien von 1�85, persönlich in Rom den Prozeß wieder in Gang zu bringen, oder der des Hochmeisters von 1�86, den Heiligsprechungsprozeß über seinen Prokurator fortzusetzen. Schließlich setzten die Reformation und die Umwandlung des Ordensstaates in ein weltliches Territorium im Jahr 1525 jedem weiteren Bemühen um kultische Anerkennung ein Ende. IV. Verehrung in der Neuzeit Über die konkrete Verehrung im 15. Jahrhundert liegen verständlicherweise relativ wenige Nachrichten vor, allenfalls Kunstwerke und Drucke. Kultbilder von Dorothea hatte es in und um Marienwerder unzweifelhaft eine Menge gegeben, sogar kurz nach ihrem Tod in der Domkirche. Um 1400 entwickelte sich dann im Deutschordensland ein besonderer Typ der Schreinmadonnen (Madonna, Gnadenstuhl, Schutzmantel), der mit der Spiritualität Dorotheas kompatibel war. Aus jener Zeit haben sich insgesamt sieben Schreine erhalten, auf denen auch Dorothea abgebildet wurde. Meist wurde sie auf der Innenseite eines Flügels im Gefolge von Deutschordensvertretern dargestellt. Mindestens eines dieser Kunstwerke stammt aus einem Deutschordenskonvent, aus Elbing. Außerdem wurde Dorotheas Leben und Wirken im 15. Jahrhundert in zahlreichen chronikalen Aufzeichnungen des Ritterordens erwähnt. Die Breitenwirkung des Dorotheenkultes, der relativ rasch Raum griff, war sicherlich auch ein Produkt des ersten großen neuzeitlichen Massenmediums, des Buches. Die vom Beichtvater Johannes Marienwerder verfaßte Vita über Leben, Tugenden und Gnaden612

Dorothea von Montau

Der Holzschnitt von 1�92 ist das älteste bekannte Dorotheenbild, das im ersten in Preußen gedruckten Buch popularisiert wurde. Es zeigt Dorothea als Pilgerin (Tasche) mit Rosenkranz, wie sie – laut einer ihrer Visionen – von den Pfeilen der göttlichen Liebe getroffen wird. Bildnachweis: Stachnik, Richard/Triller, Anneliese (Hg.): Dorothea von Montau. Eine preußische Heilige des 14. Jahrhunderts. Münster 1976, Abb. 1.

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gaben der Dorothea kam in deutscher Sprache 1�92 in Marienburg als erstes in Preußen gedrucktes Buch mit einem Holzschnitt heraus. Anzunehmen ist, daß es in den größeren städtischen Pfarreien und im wohlhabenden Bürgertum zu finden war. Die Reformatoren löschten den Kult nahezu aus, beseitigten 1544 Dorotheas Grabmal im Dom zu Marienwerder und machten ihre Grabstätte unkenntlich. Bis heute wurden weder die Gruft wiederhergestellt noch die Reliquien gefunden. Mit der Ordensherrschaft im Preußenland 1525 ging zudem das bislang zuständige Domkapitel von Pomesanien 1527 unter, so daß fortan keine traditionelle Institution mehr für die Weiterführung des Kanonisationsprozesses vorhanden war. Einen Reflex der politischen Bedeutung Dorotheas als preußische Patronin jener Zeit bietet die Chronik des westpreußischen Dominikaners Simon Grunau, der die als Heilige titulierte Klausnerin als Ziel einer litauischen Wallfahrt verzeichnete. Eine ähnliche Wertschätzung brachte ihr 168� der erste historisch-kritische Geschichtsschreiber Preußens, Christoph Hartknoch, entgegen. Da die beiden dominierenden Protagonisten des Dorotheenkultes spätestens 1527 institutionell ausgefallen waren, blieb die nun eher regional bezogene Verehrung der Reklusin auf die katholischen Landeskinder beschränkt. Im katholisch gebliebenen Bistumsgebiet Ermland wurde sie als Mutter verehrt und als Schutzpatronin in der Sterbestunde sowie als Helferin werdender Mütter angerufen. Aufgrund der Neuregelung des Heiligenkults unter Urban VIII. erklärte 1637 Bischof Johannes Lipski von Kulm, daß Dorothea und die anderen preußischen Heiligen sowohl privat als auch kirchlich verehrt werden dürften. Er selbst hatte großes Interesse daran, Jutta von Sangerhausen – eine Eremitin bei Kulmsee – und Dorothea formal zu kanonisieren, und zwar als Patroninnen Preußens. Außerdem ließ der Oberhirte große Feierlichkeiten zu Ehren der Marienwerder Reklusin in Thorn und Kulmsee abhalten. Damit hatte Dorothea für die katholische Kirche in etwa den Status einer modernen Seligen, der in reduziertem Maß kultische Ehren zuteil werden durften. Von einer großen und sich ausweitenden Verehrung kann man jedoch für die nächsten Jahrhunderte nicht sprechen. Lipski ließ den Kult der beiden preußischen Frauen auch literarisch fördern. Er beauftragte die Gesellschaft Jesu, namentlich Pater Friedrich Schembek, hagiographisches Material über Dorothea zu publizieren. Pater Schembek veröffentlichte drei einschlägige Schriften über sie – zwei von ihnen in polnischer Sprache – und empfahl mehrere Andachten zur Buße sowie zur Vorbereitung auf den Kommunionempfang und die Sterbestunde. V. Die moderne Dorotheenverehrung Erst um die Mitte des 19. Jahrhunderts erhielt der Dorotheenkult deutlichen Aufschwung und eine Ausweitung, die bis nach Schlesien und Böhmen spürbar war – ausgelöst durch die Veröffentlichungen des ermländischen Kirchenhistorikers Franz Hipler. Dessen Werke über Dorothea und Johannes Marienwerder weckten ein ungewöhnlich breites, zu614

Dorothea von Montau

nächst kulturhistorisches Interesse, das sich dann aber auch in Gebetserhörungen niederschlug. Der zuständige Bischof Andreas Thiel von Ermland, in dessen Diözese die Pfarreien Groß Montau und Marienwerder seit 1821 lagen, unterstützte den neuen Aufschwung nachhaltig, der nach dem Ersten Weltkrieg in jeder Hinsicht stark expandierte. Als wiederentdecktes Novum aus dem Mittelalter regte Dorothea in allen Regionen, vor allem aber in den östlichen Gebieten Deutschlands – in Schlesien und im ehemaligen Deutschordensland –, Veröffentlichungen an. Die neue Bewegung erfaßte nun auch Nichtkatholiken, Gelehrte und Volkskundler. Durch den Vertrag von Versailles von 1919 waren gerade im Osten des Deutschen Reiches erhebliche Gebiete abgetrennt worden, so daß Dorothea nun wieder in der Gefährdungssituation als „preußische Heilige“ und „Patronin Preußens“ angerufen werden konnte. Bezeichnenderweise waren es schlesische Katholiken, die rein zahlenmäßig den Gläubigen in Ostpreußen überlegen waren, die einen neuen Vorstoß in Rom zwecks Heiligsprechung unternahmen. Nun nahmen sich auch die zuständigen Bischöfe von Ermland und der neuen Diözese Danzig, zu der Groß Montau seit 1922 gehörte, der Sache an und sandten Petitionen an den Heiligen Stuhl. Der Nationalsozialismus und der Zweite Weltkrieg machten jeder weiteren Aktivität zunächst ein Ende. Doch schon 19�7, zur 600. Wiederkehr des Geburtstages der Reklusin, sammelten sich die alten kirchlichen Akteure nach der Vertreibung, publizierten in der kirchlichen Presse Artikel und beschlossen, das Prozeßverfahren wieder aufzunehmen. Es waren dann vor allem die vertriebenen Ermländer und die Danziger, die 1950 zu diesem Zweck den Dorotheenbund ins Leben riefen, aber auch um die religiösen und karitativen Kräfte der Gläubigen zu stimulieren sowie eine Identifikationsfigur nach Flucht und Vertreibung zu stilisieren. Den Geistlichen des Dorotheenbundes ging es vor allem darum, Verweltlichung und Glaubenskälte entgegenzuwirken, aber auch die eucharistische Verehrung und den Sühnegedanken nach dem verheerenden Kriegsgeschehen durch die Heiligsprechung Dorotheas herauszustellen. Unter der Federführung des Danziger Prälaten und letzten Zentrumsvorsitzenden der Freien Stadt Danzig, Dr. Richard Stachnik, gelang die relativ einfache Kultanerkennung der Dorothea von Montau durch Papst Paul VI. am 9. Januar 1976. Stachnik sorgte darüber hinaus um die Veröffentlichung der mittelalterlichen Kanonisationsakten und etlicher Werke der Dorothea. Drei Jahre später wurde in München, wo sich eine größere Gruppe heimatvertriebener Danziger niedergelassen hatte, durch den damaligen Erzbischof von München und Freising, Joseph Kardinal Ratzinger, ein Epitaph in der Jesuitenkirche Sankt Michael zu Ehren der neuen Heiligen enthüllt. Dabei strich der spätere Papst in seiner Predigt die Kreuzesnachfolge und ein am Glauben orientiertes Leben heraus – Worte, die im deutschen Katholizismus weite Verbreitung in gedruckter Form fanden und auch in polnischer Übersetzung die Volksrepublik Polen erreichten. Dank der publizierten authentisch-mittelalterlichen Quellen begegnet sie heute vor allem im kulturell-wissenschaftlichen Gedächtnis als Frau und Mystikerin. An den ursprünglichen Stätten ihrer Verehrung, im historischen Preußenland, war zu jener Zeit der Dorotheenkult fast vollständig erloschen. Nach dem Zweiten Weltkrieg war er nur noch in Groß Montau und Marienwerder lebendig geblieben, wo er sich auf 615

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die dort unverändert zahlreichen Deutschen stützte (in Groß Montau anfangs etwa 30 bis �0 Prozent). Für sie war und blieb Dorothea eine Identifikationsgestalt. Ihre Verehrung kam aber auch dort nach 1950, vor allem nach 1980 fast vollständig zum Erliegen, da die meisten Deutschen in die Bundesrepublik Deutschland umgesiedelt waren. Inzwischen sind neue Verehrungsspuren vor allem in Marienwerder und Groß Montau sichtbar, gefördert durch den ersten Bischof der 1992 neuerrichteten Diözese Elbing. Er erhob Dorothea zur Mitpatronin des neuen Bistums und förderte dort den Kult tatkräftig. In der Elbinger Diözese sind heute einige Altäre und Kirchen der heiligen Dorothea geweiht. In Groß Montau ist erst in den letzten Jahren der Dorotheenkult vom zuständigen Pfarrer wiederbelebt worden, der in Dorothea einen Schrittmacher der religiösen Erneuerung der Gesellschaft, besonders der Familien, sieht.

VI. Auswahlbibliographie a) Quellen perLbach, Max u. a. (Hg.): Preußische Chronik verfaßt von Simon Grunau, Bd. 1–3. Leipzig 1876– 1895; acta sanctoruM, Bd. 13: Oct. Parisiis 1883, �72–58�; hipLer, Franz (Hg.): Septililium venerabilis dominae Dorotheae Montoviensis auctore Joanne Marienwerder. Bruxelles 1883–1885; ders. (Hg.): Das Leben der seligen vrouwen Dorothee von Johannes Marienwerder, in neue Schriftsprache übersetzt von Dominicus Korioth. Braunsberg 1893; Der Dorotheenbote – Mitteilungsblatt des Dorotheenbundes 1–9/10–36 (1951–1956); forstreuter, Kurt: Die Berichte der Generalprokuratoren des Deutschen Ordens an die Kurie, Bd. 1: Die Geschichte der Generalprokuratoren von den Anfängen bis 1403. Göttingen 1961; WestphaL, Hans/triller, Anneliese (Hg.): Vita Dorothea Montoviensis Johannis Marienwerder. Köln/Graz 1964; stachniK, Richard (Bearb.): Die Akten des Kanonisationsprozesses Dorotheas von Montau von 139� bis 1521. Köln/Wien 1978; triller, Anneliese/borchert, Ernst, nach Vorarbeiten von Hans WestphaL (Hg.): Liber de Festis magistri Johannis Marienwerder. Offenbarungen der Dorothea von Montau. Köln/Weimar/Wien 1992.

b) Darstellungen WestphaL, Hans: Dorothea von Montau. Meitingen 1949; stachniK, Richard/triller, Anneliese (Hg.): Dorothea von Montau. Eine preußische Heilige des 1�. Jahrhunderts. Münster 1976; triller, Anneliese: Die Hl. Dorothea von Montau in ihrem Verhältnis zum Deutschen Orden und die Deutschordensmitglieder im Kanonisationsprozess Dorotheas 1404–1406. In: arnoLd, Udo (Hg.): Von Akkon bis Wien. Studien zur Deutschordensgeschichte vom 13. bis zum 20. Jahrhundert. Festschrift zum 90. Geburtstag von Althochmeister P. Dr. Marian Tumler O.T. am 21. Oktober 1977. Marburg 1978, 76–83; hörner, Petra: Dorothea von Montau. Überlieferung – Interpretation. Dorothea und die osteuropäische Mystik. Frankfurt/M. u. a. 1993; WiŚnieWsKi, Jan (Hg.): Epoka i życie bł. Doroty z Mątów. Materiały I Sympozjum Dorotańskiego w Kwidzynie [Die Epoche und das Leben der seligen Dorothea von Montau. Materialien des I. Dorotheen-Symposions in Marienwerder]. Elbłag 1996; GLauert, Mario: Das Domkapitel von Pomesanien (128�–1527). Toruń 2003; WestphäLinGer, Ariane: Der Mann hinter der Heiligen. Die Beichtväter der Elisabeth von Schönau, der Elisabeth von Thüringen und der Dorothea

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Dorothea von Montau von Montau. Krems 2007; hess, Cordelia: Heilige machen im spätmittelalterlichen Ostseeraum. Die Kanonisationsprozesse von Birgitta von Schweden, Nikolaus von Linköping und Dorothea von Montau. Berlin 2008; saMersKi, Stefan: Gibt es eine Patronin Ost- und Westpreußens? Das Leben und die Verehrung der Dorothea von Montau. In: Weichselland. Mitteilungen der Copernicus-Vereinigung für Geschichte und Landeskunde Westpreußens 2 (2010) 13–1�; ders.: Dorothea und kein Ende. Bemerkungen zur Prozeß- und Kultgeschichte der hl. Dorothea von Montau. In: ders. (Hg.): Cura animarum. Seelsorge im Deutschordensland Preußen. Köln/Weimar/Wien 2013, 200–216.

Stefan Samerski

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Hedwig von Anjou I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Mittelalter. – b) Krakauer Universität. – c) Frühe Neuzeit. – d) Renaissance der Hedwigsverehrung im 19. und frühen 20. Jahrhundert. – e) Selig- und Heiligsprechung. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Hedwig (Jadwiga, 137�–1399) begründete mit ihrer Ehe mit dem litauischen Großfürsten Jagaila (1386) die polnisch-litauische Union unter der Herrschaft der Jagiellonendynastie. Die Verehrung Hedwigs setzte unmittelbar nach ihrem Tod ein und blieb für Jahrhunderte auf Krakau und Kleinpolen beschränkt. Im 19. Jahrhundert erfuhr sie eine neue Blüte, im 20. Jahrhundert mit der Beatifikation und Kanonisation einen Höhepunkt. Seitdem ist die heilige Hedwig in ganz Polen präsent.

II. Leben Hedwig war die dritte Tochter des ungarischen Königs Ludwig aus der Dynastie der Anjou und der Elisabeth, Tochter des bosnischen Bans Stefan Kotromanović. Ludwig, seit 13�2 König von Ungarn, hatte seit 1370 auch die Krone von Polen inne. Elisabeth und die kleinpolnischen Großen konnten nach Ludwigs Tod 1382 die Thronfolge von Hedwig sicherstellen. Nach langwierigen Verhandlungen erreichte die zehnjährige Hedwig im Herbst 138� Krakau und wurde vom Gnesener Erzbischof Bodzęta am 16. Oktober 138� in der Wawelkathedrale zum rex Poloniae, zum König – nicht zur Königin – von Polen gekrönt. Die von ihrem Vater angeregte Verlobung Hedwigs mit Wilhelm von Habsburg war nicht im Interesse der polnischen, besonders der kleinpolnischen Großen. Vielmehr erstrebten sie über Hedwig eine politische Verbindung mit dem Großfürstentum Litauen. Das offiziell pagane, real überwiegend orthodoxe Großfürstentum umfaßte das eigentliche Litauen und weite Gebiete der Rus’, die sich unter litauischer Herrschaft befanden. Eine Union Polens und Litauens hatte für beide Seiten Vorteile, etwa im Hinblick auf den gegnerischen Deutschen Orden oder das aufstrebende Großfürstentum Moskau. Die Option einer „Christianisierung Litauens“ war für die polnische Seite ein weiteres zentrales Argument. Als potentieller Partner Hedwigs brachte sich der litauische Großfürst Jogaila bereits 138� ins Gespräch. Die anfängliche Ablehnung Hedwigs, die ihre Verlobung mit Wilhelm nicht aufgeben wollte, wurde von den polnischen Großen rasch zerstreut. Auf den Akt von Krewo, der 1385 die polnisch-litauischen Beziehungen in rechtlich nicht ganz eindeutiger Weise regelte – der Fürst versprach, seine Länder Litauen und die Rus’ auf ewig der Krone Polens anzufügen (applicare) –, folgten im Februar und März 1386 618

Hedwig von Anjou

die Ankunft Jogailas in Krakau, seine Taufe auf den Namen Władysław, seine Hochzeit mit Hedwig und die Krönung zum polnischen König Władysław II. Jagiełło. In den folgenden Jahren dominierten in der Politik des Königspaares nach außen die Ausgestaltung der polnisch-litauischen Union, das – überwiegend friedliche – Verhältnis zum Deutschen Orden sowie die Gestaltung der Beziehungen zu Habsburgern und Luxemburgern, zur Moldau und zur Walachei. Im Inneren mußten die Folgen des zweijährigen Interregnums und die Spannungen zwischen den einzelnen Teilen der Polnischen Krone beseitigt werden. Trotz ihrer Jugend wirkte Hedwig an politischen Entscheidungen mit und scheint sich aufgrund ihrer Persönlichkeit Sympathien erworben zu haben. Dazu trat eine ausgeprägte Frömmigkeit der Königin, die sich, teilweise gemeinsam mit dem König, in Kloster- und Kirchengründungen, Stiftungen und Schenkungen äußerte. Am 22. Juni 1399 wurde die erste Tochter von Hedwig und Władysław geboren, die den Namen Elisabeth-Bonifacja erhielt. Das Kind starb jedoch nur wenige Wochen nach der Geburt; vier Tage nach dem Tod der Tochter, am 17. Juli 1399, starb auch Hedwig, vermutlich an den Folgen der schwierigen Geburt. III. Verehrung a) Mittelalter Die unmittelbar nach dem Tod Hedwigs einsetzende Verehrung hatte in Krakau ihr Zentrum. Ihr Grab fand die Königin an prominenter Stelle auf der nördlichen Seite des Hauptaltars im Presbyterium der Wawelkathedrale. In Hedwigs Grab wurde auch ihre Tochter, Elisabeth-Bonifacja, bestattet. Das Epitaph der Königin ist zwar nicht erhalten, die angeblich von Jan Długosz überlieferte Inschrift soll jedoch Hedwigs tugendhaftes Leben betont haben. Der frühe Tod der im Ruf der Heiligkeit stehenden Königin fand auch außerhalb Polens sein Echo, etwa in Schlesien, Preußen und Lübeck. Früh setzten Wallfahrten zu Hedwigs Grab ein. Überliefert sind ferner zahlreiche Wunder: Aus dem Jahr 1419 blieben zwei notariell beglaubigte Wunderberichte erhalten. Bereits auf dem Konstanzer Konzil (1�1�–1�18) wurde die Heiligkeit Hedwigs von der polnischen Konzilsdelegation (Paweł Włodkowicz) thematisiert; es scheint jedoch, daß dabei weniger eine Heiligsprechung intendiert war. Vielmehr sollte Władysław II. Jagiełło, dessen katholischer Glaube von seiten des Deutschen Ordens angezweifelt wurde, als Ehemann und Witwer der heiligmäßigen Hedwig aufgewertet werden. Auf Anregung des Krakauer Bischofs Zbigniew Oleśnicki berief Wojciech Jastrzębiec, Erzbischof von Gnesen, 1426 eine Kommission ein, die die Heiligkeit der Königin und die von ihr gewirkten Wunder untersuchen sollte. Dauer und Ergebnis der Untersuchung sind nicht bekannt. Auf dem Konzil von Basel betonte 1�3� der polnische Gesandte Mikołaj Lasocki das heiligmäßige Leben Hedwigs und ihren Kult; auch hier verband sich die Frage der Heiligkeit Hedwigs mit der Rechtgläubigkeit von Jagiełło. Indizien sprechen dafür, daß der Fall darüber hinaus an der römischen Kurie verhandelt wurde. Ursprünglich für 619

Stephan Flemmig

das Kanonisationsverfahren bestimmte finanzielle Mittel befanden sich in Rom, wurden aber für andere Zwecke verwendet. Jan Długosz, der bedeutendste Chronist des polnischen Spätmittelalters, widmete Hedwig in seinen Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae breiten Raum. Eine Vita wurde für Hedwig jedoch nicht verfaßt. An der Existenz einer aus dem 15. Jahrhundert stammenden Zusammenstellung der Wunder, die sich an Hedwigs Grab ereignet hatten, hegt die jüngere Forschung Zweifel. b) Krakauer Universität Besondere Bedeutung für die frühe Hedwigsverehrung hatte die Krakauer Universität. Obwohl die Hohe Schule bereits 136� von König Kasimir dem Großen gegründet worden war, erlangte sie bis zur Wende vom 1�. zum 15. Jahrhundert keine größere Bedeutung. Hedwig und Władysław Jagiełło sowie der Krakauer Bischof hatten in den 1390er Jahren auf eine Erneuerung der Universität hingearbeitet, beim Papst die Erlaubnis zur Errichtung einer Theologischen Fakultät erwirkt und besonders aus Prag zahlreiche Gelehrte nach Krakau ziehen können. In ihrem Testament bedachte Hedwig die Universität mit Geld, Schmuck, Kleidung und Mobiliar. Nach ihrem Tod erfolgte 1400 durch Władysław Jagiełło die Neugründung der Universität. In der universitären Memoria spielte das Gedenken an die Wohltäterin Hedwig, ebenso wie an Kasimir den Großen, an Władysław Jagiełło, den Krakauer Bischof Piotr Wysz und andere Förderer der Hohen Schule eine zentrale Rolle. Jährlich wurde Hedwig an ihrem Todestag mit einer Trauermesse gedacht. An diesen Memorialmessen nahmen Universitätsangehörige, Teile des königlichen Hofes und des Krakauer Kathedralklerus teil. Die Prediger, zum großen Teil Professoren der Theologischen Fakultät (Stanisław von Skarbimierz, Jan Isner, Franciszek von Brieg, Paweł von Zator, Jan Elgot und andere) betonten zum einen die Nähe der Königin zum Krakauer Klerus und ihre Förderung der Universität; zum anderen hoben sie ihre Tugenden, ihren Glauben und ihre Caritas hervor. Auch bei anderen Gelegenheiten, bei denen der Wohltäter und Gönner der Hohen Schule gedacht wurde, pflegte man die Erinnerung an Hedwig. c) Frühe Neuzeit Das Grab Hedwigs, im 15. Jahrhundert kultisches Zentrum der Verehrung, verblieb für etwa zwei Jahrhunderte am ursprünglichen Ort. Nach der Umgestaltung des Presbyteriums Mitte des 17. Jahrhunderts befand sich ihr Grab weiterhin unmittelbar beim Hauptaltar, woran eine Inschrift in der Nähe erinnerte. Die genaue Stelle geriet allerdings bis ins 19. Jahrhundert in Vergessenheit; erst 1887 wurden die Gebeine wiederentdeckt. Die frühneuzeitliche Erinnerung an Hedwig fand auch deshalb im Allerheiligenaltar der Wawelkathedrale ein neues Zentrum. Markanter Mittelpunkt des Altars war eine spätmittelalterliche hölzerne Darstellung des Gekreuzigten. Hedwig soll diese aus Ungarn mit nach Polen gebracht und häufig 620

Hedwig von Anjou

vor ihr gebetet haben. Einer Legende nach sprach der Gekreuzigte zur jungen Königin, als diese zögerte, Jagiełło zu ehelichen. Im späten 15. Jahrhundert wurde ein Triptychon geschaffen, welches im Mittelteil den Gekreuzigten, an den Seitenflügeln Darstellungen der heiligen Hedwig von Schlesien und der Birgitta von Schweden, der seligen Kinga und Hedwigs von Anjou zeigten. Auch wenn diese Darstellungen nicht erhalten blieben, so lassen sie sich doch anhand von Beschreibungen aus dem 17. Jahrhundert sicher rekonstruieren. Hedwig wurde demnach mit Heiligenschein dargestellt, ergänzt durch die Inschrift Beata Hedvigis Poloniae Regina Vladislai Jagellonis coniunx. Es ist davon auszugehen, daß die Kirche eine derartige Darstellung Hedwigs und ihre damit verbundene Verehrung billigte. Das Triptychon ging zwar verloren, die hölzerne Figur des Gekreuzigten, die Mitte des 18. Jahrhunderts in einen neugeschaffenen barocken Altar eingefügt wurde, blieb jedoch erhalten. An diesem wurden bis in die Neuzeit zahlreiche Votivgaben von Gläubigen angebracht. Im 16. und 17. Jahrhundert blieb Hedwig als selige (beata) beziehungsweise als heilige (sancta) Frau in Erinnerung. Zahlreiche Autoren, unter ihnen Maciej von Miechów, Marcin Bielski, Marcin Kromer, Jan Herburt, Piotr Hiacynt Pruszcz, Abraham Bzowski, Marcin Baronius und andere, tradierten besonders die Aussagen von Jan Długosz über die Königin. Neben ihrer Heiligkeit betonten sie die Bedeutung Hedwigs für die Jagiellonendynastie sowie die Mitwirkung der Königin an der Universitätsneugründung. Auch in der bildenden Kunst wurde Hedwig als Heilige dargestellt, etwa um 1620 von Tommaso Dolabella. d) Renaissance der Hedwigsverehrung im 19. und frühen 20. Jahrhundert Für die politische Publizistik des 17. Jahrhunderts spielten die Jagiellonendynastie und damit Hedwig und Władysław Jagiełło eine herausragende Rolle. Diese Ideen hielten sich auch in der Zeit der Teilungen Polens im letzten Drittel des 18. Jahrhunderts. Der Jagiellonenmythos erlebte besonders nach 1850 einen neuen Höhepunkt. Die ruhmreiche Vergangenheit unter den Jagiellonenherrschern wurde für die polnische Identität, auch bei den Polen in der Emigration, bedeutsam. Eine politische Instrumentalisierung der Dynastie und ihrer Begründer Hedwig und Władysław Jagiełło war die Folge: „Jagiellonisch“ wurde ebenso wie „piastisch“ eine Kategorie in der politischen Diskussion um die Gestalt eines künftigen polnischen Staates bis in das 20. Jahrhundert hinein. Zentrale Gedenkjahre – etwa das fünfhundertjährige Gedächtnis an die Eheschließung von Hedwig und Władysław Jagiełło, die „Taufe Litauens“ und die polnisch-litauische Union 1886, der 500. Jahrestag der Neugründung der Jagiellonenuniversität im Jahr 1900 oder auch die 500-Jahr-Feier des Sieges bei Grunwald beziehungsweise Tannenberg 1910 – vertieften diesen jagiellonischen Mythos und somit auch das Andenken an die als heilig verehrte Königin. Das von Julian Ursyn Niemcewicz veröffentlichte musikalische Drama Jadwiga Królowa Polska (Hedwig, Königin Polens) wurde im Januar 181� in Warschau uraufge621

Stephan Flemmig

Marmorsarkophag der heiligen Hedwig, 1902. Der vom Krakauer Bischof Jan Puzyna in Auftrag gegebene und von Antoni Madeyski ausgeführte Marmorsarkophag bringt in sinnfälliger Weise die Verbindung Hedwigs mit Polen zum Ausdruck. Die Inschrift lautet: „N[ata] A[nno] D[omini] 137�/ Hedvigis Regina Poloniae/ Ob[iit] A[nno] D[omini] 1399“. Bildnachweis: Urban, Jacek: Grób – relikwiarz Świętej Królowej Jadwigi [Das Grabreliquiar der heiligen Königin Hedwig]. Kraków 1999, 60.

führt. Im Dezember 181� kam es ebenfalls in Warschau zur Uraufführung der von Karol Kurpiński komponierten Oper Jadwiga, Królowa Polska. In der patriotischen Literatur des 19. Jahrhunderts wurden die Jagiellonendynastie und Hedwig mehrfach thematisiert, unter anderem von Adam Mickiewicz und Henryk Sienkiewicz. Besonders in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts widmeten sich zahlreiche Artikel und Predigten, die in den verschiedenen Teilungsgebieten Polens und im polnischen Exil entstanden, der Königin Hedwig (Adam Jerzy Czartoryski, Aleksander Jełowicki, Jan Kanty Turski, Wiktor Czermak, Antoni Wodziński). Der Historiker Karol Szajnocha verfaßte 1855/56 sein vierbändiges Werk Jadwiga i Jagiełło, durch das die Jagiellonendynastie und Hedwig weiter bekannt wurden. Der Politiker, Historiker und Schriftsteller Józef Szujski schrieb 1860 das Drama Królowa Jadwiga, das 1865 in Krakau uraufgeführt wurde. Weitere Schriftsteller, Theologen und Historiker beschäftigten sich in den folgenden Jahrzehnten mit Hedwig. Die bildende Kunst des 19. und frühen 20. Jahrhunderts fand in den Jagiellonen und besonders in Hedwig ein populäres Motiv (Antoni Piotrkowski, Tytus Maleszewski, Józef Simmler, Józef Męcina-Krzesz). Jan Matejko stellte die Königin mehrfach dar, in „Hedwig zwischen den Armen“ (1855) sowie drei Jahre später in „Die Gründung der Hohen Schule Krakau“ in seinem Zyklus Dzieje cywilizacji w 622

Hedwig von Anjou

Polsce (Die Geschichte der Zivilisation in Polen), ferner in einem Porträt und in zahlreichen Skizzen; auch bei der Öffnung von Hedwigs Grab im Jahr 1887 war er persönlich anwesend und fertigte zahlreiche Skizzen der Gebeine an. Nach 1900 wurde Hedwig, überwiegend mit Heiligenschein, in zahlreichen Kirchen besonders Kleinpolens, Galiziens und Schlesiens dargestellt. Im 19. und frühen 20. Jahrhundert erfuhren Leben und Verehrung Hedwigs auch im europäischen Ausland eine größere Bekanntheit. Deutsche, französische, englische und irische Historiker und Theologen – zu nennen wären vor allem Bernhard Gustav Bayerle, Charles René Forbes Montalembert, Agnes Baille Cuninghame Dunbar und Dionysius Lardner – verwiesen auf die „heilige Patronin Polens“. e) Selig- und Heiligsprechung Entscheidende Impulse in Richtung einer Seligsprechung Hedwigs gingen im frühen 20. Jahrhundert von Józef Sebastian Pelczar, Bischof von Przemyśl, sowie vom Krakauer Erzbischof Adam Stefan Sapieha aus. Die Geistlichen regten eine intensive historische (Wanda Maciejewska, Anna Strzelecka, Jan Dąbrowski, Oskar Halecki, Mieczysław Gębarowicz, Helene Quillus) und theologische Auseinandersetzung mit Hedwig an und unternahmen erste Schritte zum Seligsprechungsverfahren an der Kurie. Dabei wurden die Bemühungen bewußt auch unter den Auslandspolen in Europa und Übersee bekannt gemacht. Nach dem Zweiten Weltkrieg erfolgte im Juli 1949 die Exhumierung, Begutachtung und Translation der Gebeine Hedwigs in einen Sarg aus Carrara-Marmor, der bereits 1902 von Antoni Madeyski geschaffen worden war. Dieser fand im südlichen Seitenschiff der Wawelkathedrale seinen Platz. Bei den damit verbundenen Feierlichkeiten sollen sich am 14. Juli 1949 etwa 100.000 Menschen auf dem Wawel-Hügel befunden haben. In den folgenden Jahrzehnten wurde die Seligsprechung Hedwigs vom polnischen Klerus weiter forciert. Dabei engagierte sich in besonderer Weise Karol Wojtyła, seit 196� Erzbischof von Krakau und seit 1967 Kardinal. Unter dessen Pontifikat wurde Hedwig am 8. August 1986 seliggesprochen. Während des dritten Besuchs von Johannes Paul II. in Krakau erfolgte im Juni 1987 die Translation, Begutachtung und Umbettung der Gebeine Hedwigs vom genannten Marmorsarkophag in ein Bronzereliquiar, welches in den barocken Altar mit dem hölzernen Gekreuzigten überführt wurde. In den folgenden Jahren wurde die Heiligsprechung Hedwigs angestrebt. Ein hierfür notwendiges Element war die offizielle Anerkennung der von Hedwig gewirkten Heilung der Anna Rostafińska-Romiszowska im Jahr 1950. Nach weiteren Vorbereitungen erfolgte am 8. Juni 1997 die Heiligsprechung Hedwigs, und zwar im Błonia-Park in Krakau im Rahmen einer feierlichen Zeremonie durch Papst Johannes Paul II. Der Papst bezeichnete Hedwig in diesem Zusammenhang als „Patronin Polens“. Nach ihrer Seligund Heiligsprechung entstanden in ganz Polen Kirchen, Kapellen, kirchliche Einrichtungen (etwa caritativer Art, Sodalitäten, Begegnungszentren) und Schulen unter dem Pa623

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tronat Hedwigs. Für das Jahr 2001 wurden 64 entsprechende Kirchen und Kapellen, 54 Einrichtungen und 81 Schulen gezählt. Bereits drei Jahre nach der Seligsprechung hatte man eine religiöse Schwesterngemeinschaft unter dem Patronat Hedwigs gegründet, die Zgromadzenie Sióstr św. Jadwigi Królowej Służebnic Chrystusa Obecnego (Congregatio Sororum Sanctae Hedvigis Reginae Ancillarum Christi Praesentis, CHR). Außerhalb Polens ist die heilige Königin auch in katholischen Kreisen eher wenig bekannt. Unter den im Ausland lebenden Polen ist Hedwig dagegen sehr populär, wie entsprechende Patronate für Schulen und andere Einrichtungen der Auslandspolen in Europa, den Vereinigten Staaten und Kanada zeigen. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen bieLoWsKi, August (Hg.): Kalendarz krakowski [Krakauer Kalender]. In: Monumenta Poloniae Historica/Pomniki Dziejowe Polski, Bd. 2. Lwów 1872; pieKosińsKi, Franciszek (Hg.): Kodeks dyplomatyczny katedry krakowskiej św. Wacława [Diplomatischer Codex der Krakauer Kathedrale des heiligen Wenzel], Bd. 1–2 (Monumenta Medii Aevi Historica 1,8). Kraków 187�–1883; Codex epistolaris saeculi decimi quinti, Bd. 1–3. Kraków 1876–189�; pieKosińsKi, Franciszek (Hg.): Kodeks dyplomatyczny Małopolski [Diplomatischer Codex Kleinpolens], Bd. 1–� (Monumenta Medii Aevi Historica 3, 9, 10, 17). Kraków 1876–1905; KętrzyńsKi, Wojciech (Hg.): Miracula beatae Hedwigis reginae Poloniae. In: Monumenta Poloniae Historica/Pomniki Dziejowe Polski, Bd. 5. Lwów 188�, 763–769; KozłoWsKabudKoWa, Zofia (Hg.): Kalendarz katedry krakowskiej [Kalender der Krakauer Kathedrale]. In: Monumenta Poloniae Historica S.N., Bd. 5. Kraków 1978; GaWęda, Stanisław/turKoWsKa, Danuta (Hg.): Joannis Dlugossii Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae. Liber decimus 1370–1�05. Varsaviae 1985; Declaratio de Beata Hedvige Poloniae Regina (8 VIII 1986). In: Acta Apostolicae Sedis 78 (1986), Nr. 11, 1200–1202; Compendium vitae, virtutum ac miraculorum necnon actorum in causa canonizationis beatae Hedvigis Reginae Poloniae (137�–1399). E tabulario Congregationis de Causis Sanctorum. Romae 1997; Litterae Decretales „Omni Saeculo“ (8 VI 1997). In: Acta Apostolicae Sedis 90 (1998) 825–827.

b) Darstellungen szaJnocha, Karol: Jadwiga i Jagiełło 137�–1�13. Opowiadanie historyczne [Hedwig und Jagiełło 137�–1�13. Eine historische Erzählung]. Lwów 1855/56 [Warszawa 2197�]; quiLLus, Helene: Königin Hedwig von Polen. Leipzig 1938; stabińsKa, Jadwiga: Królowa Jadwiga [Die Königin Hedwig]. Kraków 1969; strzeLecKa, Anna: Jadwiga, in: GustaW, Romuald (Hg.): Hagiografia Polska. Słownik bio-bibliograficzny, Bd. 1. Poznań 1971, �85–523; WoLny, Jerzy/zaWadzKi, Roman Maria: Królowa Jadwiga w tradycji kaznodziejskiej XV w. [Königin Hedwig in der Predigttradition des 15. Jahrhunderts]. In: Analecta Cracoviensia 7 (1975) 15–90; biLińsKi, Wojciech (Hg.): Dzieło Jadwigi I Jagiełły w sześćsetlecie chrztu Litwy i jej związków z Polską [Das Werk von Hedwig und Jagiełło in der 600-JahrFeier der Taufe Litauens und ihre Verbindungen mit Polen]. Warszawa 1989; zaWadsKi, Roman Maria: Fundacje i darowizny kościelne Królowej Jadwigi [Kirchliche Gründungen und Schenkungen der Königin Hedwig]. In: Analecta Cracoviensia 27 (1995) 379–700; WyrozuMsKi, Jerzy: Królowa Jadwiga

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Hedwig von Anjou między epoką piastowską i jagiellońską [Königin Hedwig zwischen der Piasten- und der Jagiellonenzeit]. Kraków 1997; urban, Jacek: Grób – relikwiarz Świętej Królowej Jadwigi [Das Grabreliquiar der Heiligen Königin Hedwig]. Kraków 1999; KoWaLsKa, Hanna (Hg.): Św. Jadwiga królowa w perspektywie III tysiąclecia [Die heilige Königin Hedwig in der Perspektive des dritten Jahrtausends]. Kraków 2002; JaGosz, Michał: Beatyfikacja i kanonizacja świętej Jadwigi królowej [Die Selig- und Heiligsprechung der heiligen Königin Hedwig]. Kraków 2003; stopKa, Krzysztof: Hedvige d’Anjou, reine de Pologne dans les années 138�–1399. In: Nowa Polska. Une saison polonaise en Anjou. 303 Arts Recherches et Créations, nr. 83. Angers 200�, 1–12; fLeMMiG, Stephan: Sakralität und Herrschaft. Die Herrschaftsauffassung der Hedwig von Anjou in Kult und Memoria. Saarbrücken 2008; niKodeM, Jarosław: Jadwiga król Polski [Hedwig, König von Polen]. Wrocław 2009; bues, Almut: Die Jagiellonen. Herrscher zwischen Ostsee und Adria. Stuttgart 2010; borKoWsKa, Urszula: Dynastia Jagiellonów w Polsce [Die Dynastie der Jagiellonen in Polen]. Warszawa 2011; fLeMMiG, Stephan: Hagiographie und Kulturtransfer. Birgitta von Schweden und Hedwig von Polen. Berlin 2011.

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Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina I. Zusammenfassung. – II. Geschichtlicher Überblick. –– III. Franziskanische Erinnerungskultur. – IV. Die Franziskaner im Spannungsfeld kroatischer und serbischer Erinnerungskultur. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina sind in mehrfacher Hinsicht ein besonderer Erinnerungsort. Die bosnischen fratres der Provincia OFM Exaltationis S. Crucis – Bosna Argentina, die in ihrer Form eine einzigartige Institution innerhalb der römisch-katholischen Kirche darstellte, spielten nicht nur eine kaum zu unterschätzende Rolle für das kulturelle wie geistige Leben der bosnischen Kroaten. Sie stehen auch für die Vorstellung der Kontinuität des mittelalterlichen Königreichs Bosnien, das 1463 von den Osmanen erobert wurde. Darüber hinaus wird ihr Bild vor allem im Spannungsfeld der post-jugoslawischen kroatischen und der serbischen Erinnerungskultur durch ihre ambivalente Rolle im Zweiten Weltkrieg bestimmt. Die Franziskaner Bosnien-Herzegowinas weisen somit als Erinnerungsort nicht nur einen religiösen, sondern auch einen dezidiert politisch-ideologischen Charakter auf.

II. Geschichtlicher Überblick Der Franziskanerorden kann heute auf eine fast siebenhundertjährige ununterbrochene Präsenz in Bosnien und der Herzegowina zurückblicken. Der Anlaß für das Erscheinen der Franziskaner in Bosnien und ihr dortiges Wirken war die „Häresie“ im mittelalterlichen Bosnien und die damit verbundene „bosnische Kirche“ (Crkva Bosanska). Diese Kirche gilt, ebenso wie die mittelalterlichen „Grabstelen“ (stećci), als eines der noch immer nicht ganz gelösten Rätsel der bosnischen Geschichte. Neben den national bedingten Deutungen kroatischer und serbischer Historiker des 19. Jahrhunderts, deren Urteil zufolge die bosnische Kirche entweder ein Ableger der katholischen oder der orthodoxen Kirche gewesen sei, existiert noch die (selbst zum Mythos gewordene) Theorie des bogomilischen und dualistischen Charakters der bosnischen Kirche beziehungsweise der bosnischen Häresie, die heute allerdings weitgehend widerlegt ist. Wissenschaftlicher Konsens über den Charakter der bosnischen Kirche besteht bisher nicht. Gesichert ist lediglich, daß der Bischof von Vrhbosna in Zentralbosnien Mitte des 13. Jahrhunderts seinen Sitz ins slawonische Đakovo verlegt hatte, so daß es bis zum Erscheinen der Franziskaner ab 1340 im zur damaligen Zeit recht isolierten Bosnien keinerlei katholische kirchliche Jurisdiktion mehr gab. In dem freigewordenen Raum konnten sich eigenständige Strukturen auf bereits bestehender kyrillo-methodianischer Grundlage entwickeln, 626

Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina

bis die bosnische Kirche sowohl von römisch-katholischer als auch von orthodoxer Seite als schismatisch betrachtet wurde. Bereits 1291 erhielten die Franziskaner den ersten Auftrag, in Bosnien zu missionieren. Das Land unterstand damals zwar politisch dem Königreich Ungarn, schlug aber dennoch eine eigenständige Entwicklung ein. Die anfängliche provisorische Missionsund Inquisitionspraxis wurde schließlich institutionalisiert, als 1339/�0 das bosnische Vikariat eingerichtet wurde. 13�7 schien der bosnische Ban Stefan Kotromanić selbst zum katholischen Glauben übergetreten zu sein: Er bat den Papst schriftlich um Priester für sein Land. Zwar genoß die bosnische Kirche nie den Status einer offiziellen Kirche, doch galt sie als geachtete Institution, der viele der führenden Adeligen sowie darüber hinaus mehrere Herrscher angehörten. Die allgemeine religiöse Praxis wurde dabei eher von pragmatischen Umständen bestimmt, beispielsweise kam es bei einigen Magnaten zu wiederholten Konfessionswechseln. Die Verwaltungsbehörde des bosnischen Vikariats umfaßte ein weitaus größeres Gebiet als das spätere Bosnien-Herzegowina und reichte von Kroatien über Ungarn bis Bulgarien. Von den 35 franziskanischen Klöstern lagen 1385 nur vier – Visoko, Lašva, Olovo und Sutjeska – in Bosnien selbst. Zu ihnen kamen bis 1463 noch zwölf weitere Klöster in Bosnien. Das Vikariat bildete eine in Europa einmalige Institution, in deren Rahmen die Franziskaner ihre intensive Arbeit auf geistigem, wirtschaftlichem und politischem Gebiet in Bosnien entfalten konnten, das 1377 unter der Dynastie Kotromanić zum Königreich erhoben wurde und um 1�00 seine Blütezeit erlebte. Die Franziskaner waren meistens in Städten, Bergwerkssiedlungen und Handelsstützpunkten als Seelsorger und Missionare tätig; nicht wenige Mitglieder der bosnischen Kirche wirkten darüber hinaus als Berater einzelner Herrscher und Magnaten, als Diplomaten und Gelehrte. Um 1450, schon im Schatten der osmanischen Eroberungen in Südosteuropa, begann sich der endgültige Erfolg der franziskanischen Mission abzuzeichnen. 1446 heiratete Katharina, eine Tochter des Herrschers der Herzegowina, Stefan Vukčić-Kosača, den bosnischen König Stefan Thomas Kotromanić, der bei dieser Gelegenheit zum Katholizismus konvertierte. Auch Katharina wurde Katholikin und zudem Terzianerin des Franziskanerordens. Dieser Beitritt zu einem geistigen Orden erfolgte nicht nur aus persönlichen Gründen, sondern stand auch in der Tradition einer gesamteuropäischen adeligen Frömmigkeitskultur. 1�59 ging der König zur offiziellen Verfolgung der bosnischen Kirche über, die kurz vor der osmanischen Eroberung Bosniens 1463 endgültig zerschlagen werden konnte. Königin Katharina flüchtete nach Rom, wo sie 1�78 starb und in der Franziskanerkirche Ara Coelli beigesetzt wurde. Man verehrte sie schon bald als Selige. Angeblich tragen die katholischen Frauen aus der Umgebung von Bobovac und Kraljeva Sutjeska, den ehemaligen Zentren des Königreichs Bosnien, noch heute schwarze Kopftücher zum Gedenken an Katharina, deren Person und Schicksal zu einem selbständigen lieu de mémoire wurde. Das Ende des Königreichs Bosnien 1463 markiert den Beginn einer neuen Epoche für die bosnischen Franziskaner. Im Frühsommer des Jahres stellte Sultan Mehmed II. dem bosnischen Kustoden Zvizdović ein ahdname aus, eine Sultansurkunde, mit der 627

Daniel Lalić

Katholiken und Franziskanern das Recht auf religiöse und kulturelle Identität gewährt wurde. Trotz späterer Verletzungen dieser Bestimmung bedeutete der Erlaß die Grundlage für die Existenz der katholisch-kroatischen Bevölkerung im osmanischen Bosnien. In der franziskanischen Erinnerung kam dem Dokument gleichsam der Status einer Magna Charta zu. 151� wurde das bosnische Vikariat in den Rang einer Provinz erhoben und erhielt den Namen Bosna Argentina, der sich vom Kloster in Srebrenica ableitete. Die Lage der Franziskaner und damit auch die der katholischen Bevölkerung in Bosnien verschärfte sich zunehmend, und zwar in dem Maße, in dem sich das Osmanische Reich vom späten 17. Jahrhundert an dezentralisierte und militärisch gegenüber dem Habsburgerreich in die Defensive geriet, was sich vor allem nach dem 1697 erfolgten Vorstoß Prinz Eugens von Savoyen nach Bosnien zeigte. Dabei wurde Sarajevo geplündert. Dem Rückzug nach Slawonien schloß sich ein Großteil der katholischen Bevölkerung an. Die Lage der in Bosnien verbliebenen katholischen Bevölkerung blieb bis zur Besetzung des Landes durch Österreich-Ungarn 1878 prekär. Danach konnte 1881 die reguläre Hierarchie und Struktur der römisch-katholischen Kirche eingeführt werden, so daß eine gewisse Konkurrenzsituation mit der bestehenden, in der katholischen Bevölkerung fest verwurzelten Franziskanerprovinz entstand. Wie der reguläre Klerus spielte auch der Orden eine wichtige Rolle bei der Herausbildung einer nationalen Identität der bosnischen Kroaten. Er ist damit durchaus mit der serbischen orthodoxen Kirche vergleichbar: Wie diese durch Bildungsmaßnahmen, kulturelle wie religiöse Tätigkeiten aktiv am Aufbau eines serbischen Nationsbewußtsein und der Serbisierung der orthodoxen Bevölkerung teilhatte, galt dies für die Franziskaner und die Kirche in bezug auf die Katholiken des Landes, in diesem Fall mit dem Ziel einer Kroatisierung. Dieser Prozeß fand auch innerhalb des Franziskanerordens statt. Einige prominente Mitglieder wie Ivan Franjo Jukić und Antun Knežević identifizierten sich noch um 1850 als Bosnier. Um 1900 waren sowohl die Ordensbrüder als auch die bosnischen Katholiken zu bosnischen Kroaten geworden. III. Franziskanische Erinnerungskultur Die franziskanische Erinnerungskultur in Bosnien-Herzegowina manifestierte sich am prägnantesten in ihrer schriftlichen Form, die neben einigen bedeutenden Klosterchroniken vor allem die geistige – und seit dem 19. Jahrhundert auch belletristische – Literatur der bosnischen Franziskaner umfaßte. Gerade die literarische Tätigkeit der Franziskaner vom 16. bis zum 19. Jahrhundert erlangte im kollektiven Gedächtnis der bosnischen Kroaten einen hohen Stellenwert bei der eigenen kulturellen Verortung als „orientalischabendländische Mikrogesellschaft“. Die erhaltenen Klosterchroniken – die bedeutendsten sind die des Klosters Kreševo von Marijan Bogdanović, des Klosters Kraljeva Sutjeska von Bona Benić, die Chronik des Nikola Lašvanin und der Godišnjak (Annalen) von Jakov Baltić – berichten überwiegend von Geschehnissen in den jeweiligen Klöstern, Gemeinden und Dörfern. Da Bosni628

Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina

en nicht vollständig von den christlichen Herrschaftsgebieten Mitteleuropas isoliert war und die fratres regelmäßige, wenn auch schwer zu unterhaltende Kontakte ins christliche Ausland pflegten, finden sich auch Erwähnungen und Kommentare zu aktuellen gesamteuropäischen Ereignissen, zum Russisch-Türkischen Krieg 1768–177� beispielsweise, in der Chronik des Marijan Bogdanović. Als Erinnerungsträger dienten die Chroniken zur Bekräftigung der eigenen religiösen und gesellschaftlichen Rolle und Bedeutung. Neben Beschreibungen der allgemeinen schwierigen Lebenssituation der katholischen Bevölkerung wurden Schikanen durch osmanische Behörden, wie sie bei Reparaturen von Kirchen oder Klostergebäuden häufig der Fall waren, gewalttätige Übergriffe durch Räuber oder Soldaten sowie hohe finanzielle Belastungen in Form von regelmäßig geforderten Abgaben, Gebühren oder Bestechungsgeldern hervorgehoben. Damit einher ging eine bewußte Stilisierung des Leidens der Ordensbrüder und der gesamten bosnischen Katholiken im Sinn eines Martyriums. Die Chroniken wurden auf Latein verfaßt, mit einzelnen belletristischen Versuchen der Verfasser, so daß sie sich auch in die Tradition der bosnischen Franziskanerliteratur eingliedern lassen, die zweifelsohne die bedeutendste schriftliche kulturelle Leistung der bosnischen Katholiken oder Kroaten darstellt. Allgemein wird als deren eigentlicher Begründer Matija Divković angesehen, da er als einer der ersten die gesprochene Volkssprache in seinen Werken verwendete. Divković veröffentlichte diese konsequent in der bosnischen Variante der kyrillischen Schrift, der Bosančića, meist in Venedig. Er integrierte in seinen Werken die bereits bestehenden literarischen Traditionen aus Dalmatien und Dubrovnik und griff Strömungen der übrigen katholischen kirchlichen Literatur auf. Damit stand Divković auch am Beginn der Standardisierungstendenzen der Literatursprache auf neuštokavischer Basis. Seine Werke, wie beispielsweise Nauk karstianski za narod slovinski (Die christliche Lehre für das slawische Volk) von 1611, waren allesamt religiös-didaktischen Charakters. Dies galt für die gesamte franziskanische Literatur in Bosnien bis zum 19. Jahrhundert, in deren Zentrum Predigten und homiletische Schriften standen. Neben Divković sind als weitere bedeutende Vertreter dieserArt von Literatur, die einen zwar schwachen, aber dennoch nicht zu unterschätzenden Kontakt zum von christlichen Herrschern regierten Europa darstellte, Stjepan Matijević, Ivan Ančić, Jerolim Filipović und Ivan Bandulavić zu nennen, der als erster seine Werke in lateinischer Schrift drucken ließ. Im 19. Jahrhundert veränderten sich dann der Charakter und das Ziel der bosnischen Franziskanerliteratur hin zum Politischen und Kulturellen, wofür das Leben und Werk von Ivan Franjo Jukić als beispielhaft gelten kann. Der Franziskanerpater Jukić war auf der Grundlage seiner entschieden bosnischen Identität – sein bevorzugtes Pseudonym war „Ehrenlieb oder Slawenlieb, der Bosnier“ (Slavoljub Bošnjak) – vornehmlich als Publizist und Schriftsteller tätig. Er begründete die erste literarische Zeitschrift des Landes, den Bosanski prijatelj (Bosnischer Freund), unterhielt die erste gemischt-konfessionelle Schule in Varcar Vakuf (Mrkonjić Grad) 18�9 und verfaßte mit Želje i molbe kristjanah u Bosni i Hercegovini, koje ponizno prikazuju njegovom veličanstvu sretnovladajućem sultanu Abdul-Medžidu (Die Wünsche und Bitten der Christen in Bosnien und der Herzegowina, die sie untertänigst ihrer Majestät, dem glücklich herrschenden Sultan Abdülmecid, 629

Daniel Lalić

überreichen) eine politische Denkschrift, die als der erste Verfassungsentwurf für Bosnien-Herzegowina gilt. Neben Jukić nahmen vor allem Grgo Martić und Antun Knežević eine bedeutende Rolle in der politischen und kulturellen Entwicklung Bosniens ein. Alle drei Franziskaner sind daher als Erinnerungsorte im kollektiven Gedächtnis der bosnischen Kroaten fest verankert, wobei die Erinnerung an Ivan Franjo Jukić über den katholischen Rahmen hinaus einen überkonfessionellen, gesamtbosnischen Charakter einnimmt. 1998 wurde sein Porträt auf einer Banknote der Föderation Bosnien und Herzegowina abgebildet. Bedeutsam für die franziskanische Erinnerungskultur waren auch die nicht wenigen historiographischen Publikationen zur Geschichte des Ordens in Bosnien, wie die Arbeiten von Julijan Jelenić und Dominicus Mandić. Ein für die Ausprägung der eigenen Identität wichtiger Aspekt der franziskanischen Tradition in Bosnien-Herzegowina war die kontinuierlich aufrechterhaltene Erinnerung an das mittelalterliche Königreich Bosnien. Da die Franziskaner im Gegensatz zum Königtum, dem Adel und der bosnischen Kirche als einzige Institution die Eroberung und Integration des Landes in das Osmanische Reich überstanden hatten, betrachteten sie sich als autochthone und legitime Bewahrer mittelalterlicher bosnischer Tradition und Kontinuität. Ein prägnantes Beispiel unter vielen ist hierfür das Siegel der Pfarrei Kupres von 1802, welches in der Umschrift mit IN RE [GNO] BO[SNAE] MDCCII bewußt das Syntagma Regnum Bosnae aufgriff. Die so gepflegte Erinnerung an das bosnische Königreich war eng mit der Verehrung der Königin Katharina Kosača-Kotromanić verknüpft. Die franziskanische Erinnerungskultur der Geschichte des eigenen Ordens und die katholische Kirche in Bosnien sowohl durch den Franziskanerorden als auch durch die übrige katholische Bevölkerung beschränkte sich nicht auf eine religiöse Bedeutungsebene: Neben der durch die Erinnerung bekräftigten Zugehörigkeit zum christlichen Abendland gegenüber der jahrhundertewährenden Integration in das Osmanische Reich spielte sie vom 19. Jahrhundert an eine wichtige Rolle in der nationalen Entwicklung der bosnischen Kroaten. Die damit stets verbundene politische Konnotation der bosnischen fratres als gegen die serbische orthodoxe Kirche und Serbien gerichteter Erinnerungsort sollte sich später am deutlichsten an der kontroversen Beurteilung ihrer Rolle während des Zweiten Weltkriegs zeigen. IV. Die Franziskaner im Spannungsfeld kroatischer und serbischer Erinnerungskultur Der Zweite Weltkrieg in Jugoslawien war ein blutiger Konflikt, in dem sich verschiedene militärische Auseinandersetzungen gegenseitig bedingten und verwoben. Führten die Achsenmächte Deutschland und Italien zuerst einen Angriffskrieg gegen das Königreich Jugoslawien im April 1941 und danach einen Besatzungskrieg gegen die jugoslawischen Widerstandsgruppen der Partisanen und der Četniks, begannen im Zuge der Ausrufung und Etablierung des faschistischen kroatischen Marionettenstaates NDH (Nezavisna Država Hrvatska) Attacken der kroatischen Ustaša gegen die jüdische und serbische Bevölkerung auf dem Territorium des NDH-Staates, die dann zu ebenso blutigen Vergel630

Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina

tungsaktionen und damit einem Bürgerkrieg führten. Gleichzeitig bekämpften die serbischen, königstreuen Četniks, zeitweise in Allianz mit der deutschen Wehrmacht, italienischen Truppen und sogar der Ustaša, die kommunistischen Partisanen unter Josip Broz, genannt Tito. Galt im sozialistischen Jugoslawien die Zahl von 1,7 Millionen Opfern als unantastbar – eine Zahl, die noch heute in Serbien mehrheitlich wiedergegeben wird –, so kam nach neueren Schätzungen etwa eine Million Menschen gewaltsam ums Leben. Die Ereignisse während des Zweiten Weltkriegs im ehemaligen Jugoslawien, die Erinnerung daran sowie deren politische Instrumentalisierung seit den späten 1980er Jahren spielten eine wichtige Rolle in den post-jugoslawischen Gesellschaften, vor allem unter Kroaten, Serben und Bosniaken. Die heutigen offiziellen und in den jeweiligen Bevölkerungen vorherrschenden Geschichtsbilder stehen sich hierbei zum Teil diametral entgegen. Sie widersprechen sich hinsichtlich der Opferzahlen der Jahre 1941 bis 1945, der jeweiligen Teilhabe an der Kollaboration oder am Widerstand, der Deutung von Schlachten und Kampfhandlungen und auch der Bewertung einzelner Akteure. Deutlich zeigt sich dies beim sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien am Beispiel der Bewertung seiner verbrecherischen Politik gegenüber Serben, Juden, Roma und oppositionellen Kroaten, bei der Einschätzung des Vernichtungslagers Jasenovac sowie der Rolle der römisch-katholischen Kirche innerhalb des NDH-Regimes. Die Ausrufung dieses Marionettenstaates im April 19�1 wurde zunächst von der großen Mehrheit der katholischen Geistlichkeit in Kroatien begrüßt. Neben einem fanatischen Antiserbismus und Antisemitismus zählte ein konservativer Katholizismus zu den Grundpfeilern der Ustaša-Ideologie. Ebenso kam es unzweifelhaft zur offenen Kollaboration und Mitwirkung einzelner Geistlicher an den forcierten Massenkonversionen der serbisch-orthodoxen Bevölkerung und an direkten Kriegsverbrechen. Der Franziskanerbruder Miroslav Majstorović, der später den Namen Tomislav Filipović annahm, stellte als Ustaša-Kaplan und zeitweiliger Leiter des Lagers Jasenovac das bekannteste, weil brutalste Beispiel dar. Während seiner Zeit in Jasenovac soll er nach eigenen Angaben für die Ermordung mehrerer tausend Menschen verantwortlich gewesen sein und eigenhändig an die hundert Personen getötet haben. Majstorović wurde nach Bekanntwerden seiner Verbrechen im April 1942 aus dem Franziskanerorden ausgeschlossen. Schon am 24. April 1941 übermittelte die Ordensleitung der Franziskaner den Mönchen des Ordens auf dem ehemals jugoslawischen Gebiet konkrete Weisungen hinsichtlich ihres Verhaltens gegenüber dem neuen NDH-Staat. Diese Richtlinien untersagten den fratres eine Mitgliedschaft in der Ustaša-Bewegung und forderten die Bestrafung von Ordensmitgliedern, die Verbrechen an Andersgläubigen verübten. Daneben ist die Rolle des späteren Kardinals Alojzije Stepinac als Erzbischof von Zagreb als ambivalent zu beurteilen. Als Primas der katholischen Kirche in Kroatien wußte er über die Verfolgungen von Serben, Juden und Roma unzweifelhaft Bescheid, stellte sich aber niemals öffentlich gegen das Regime von Ante Pavelić. Gleichzeitig half er jedoch verfolgten Juden. Neben diesen Beispielen von aktiver Teilhabe an Kriegsverbrechen oder fragwürdiger Indifferenz gegenüber der völkermordenden Politik des NDH-Regimes gab es auch Geistliche, die sich offen gegen die Ustaša stellten: Svetozar Rittig, ein Priester und Kir631

Daniel Lalić

Das Perikopenbuch von Ivan Bandulavić, ć, das als erstes Werk eines bosnischen Franziskaners in lateinischer Schrift gedruckt wurde, enthielt neben den Apostelbriefen und den Evangelien auch den damals neuen gregorianischen Kalender sowie das noch heute in Kroatien wie Bosnien-Herzegowina populäre Weihnachtslied Vse vrime godišta (Alle Jahreszeiten). Bildnachweis: Bandulavić, Ivan: Pisctole i evanghielya priko svega godiscta [Apostelbriefe und Evangelien für das ganze Jahr]. Venezia 1613, Titelblatt.

chenhistoriker, unterstützte aktiv die Partisanen, und der Bischof von Mostar und Franziskanerprovinzial Alojzije Mišić protestierte mehrfach gegen die Verfolgungen der orthodoxen Serben. Dennoch war der größte Teil der katholischen Geistlichkeit wie auch der einzelnen Orden zweifelsohne dezidiert kroatisch-national und gleichzeitig zutiefst antikommunistisch eingestellt. Im Laufe des Jahres 1945, während des NDH-Staates und nach dessen Zusammenbruch, der deutschen Besatzung und des endgültigen Erfolgs der kommunistischen Partisanen sowie der Durchsetzung der neuen sozialistischen Ordnung kam es zur Zerstörung einiger Kirchen und Klöster und zu Verfolgungen und Ermordungen von Priestern und Angehörigen vor allem des Franziskanerordens durch Partisanen. Beispielsweise wurden im Februar 19�5 in Široki Brijeg in der Herzegowina über zwanzig Franziskanerfratres ermordet. 632

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Gleichzeitig begann eine lang andauernde propagandistische Abrechnung mit der Kirche und den Franziskanern, die allesamt der Kollaboration mit dem Faschismus und zahlreicher Kriegsverbrechen angeklagt wurden. In diesem Kontext erschien 19�8 das höchst umstrittene, polemische Magnum Crimen des kroatischen Historikers Viktor Novak, das von der engen Mitwirkung der katholischen Kirche an den Ustaša-Verbrechen ausgeht. Beispielhaft für diesen Konflikt mit der römisch-katholischen Kirche, in dessen Zusammenhang auch der öffentlichkeitswirksame Prozeß und die darauffolgende Inhaftierung von Alojzije Stepinac zu sehen sind, sei hier der Artikel Ustaški zlikovci u fratarskim mantijama (Ustaša-Verbrecher in den Kutten der Fratres) genannt, der am 10. Februar 1945 in der Zeitung Sloboda publiziert wurde. Ähnliche Artikel wurden in der Borba und weiteren Zeitungen veröffentlicht. Die bosnisch-herzegowinischen Franziskanerfratres wurden darin der kollektiven Mitschuld an den Ustaša-Verbrechen angeklagt. Man beschwor ein Bild von „Mördern in Ordenskutten“ herauf, das die Wahrnehmung gerade der Franziskaner der Herzegowina nachhaltig negativ prägte. Auf diese propagandistischen Angriffe reagierte der Orden mit einer offiziellen Stellungnahme vom 2. April 1945, in der er die Vorwürfe zurückwies. Die Rolle der Kirche allgemein wie besonders die der Franziskaner während des Krieges wurde von staatlicher Seite in einem negativen Licht betrachtet und entsprechend instrumentalisiert, was zum Teil die Grundlage für die heute vorherrschenden kroatischen und serbischen Erinnerungsdiskurse zum Zweiten Weltkrieg darstellt – wenn auch mit jeweils vertauschten Vorzeichen und Konnotationen. Die breite Präsenz und erinnerungskulturelle Rezeption der Diskurse über den Zweiten Weltkrieg, über das NDH-Regime und namentlich über das Lager Jasenovac sowie deren politische Instrumentalisierung in Serbien, und hierbei in hohem Maße in orthodoxen-nationalistischen Kreisen, zeigten sich in der Regelmäßigkeit, in der Publikationen zu diesem Thema in den Medien und auf dem Buchmarkt auftauchten. Gerade die Person des als Fra Sotona bezeichneten Filip Majstorović prägte dabei das Bild der katholischen Kirche und der Franziskaner im Zweiten Weltkrieg. Dieser Kriegsverbrecher wurde gleichsam stellvertretend für alle Franziskaner und die gesamte katholische Kirche betrachtet. Diese Sichtweise, nach der die Verbrechen an der serbischen Bevölkerung im Zweiten Weltkrieg – mit Jasenovac als pars pro toto – vom Vatikan geplant und durchgeführt worden waren, wurde bereits in den 1980er Jahren von Vladimir Dedijer vertreten. Bald wurde sie in der serbischen Öffentlichkeit von nationalistischen Parteien, Gruppen, Medien und Autoren verbreitet, vor allem von Anhängern der nationalistischen, klerikalfaschistischen Ideologie des Svetosavlje. Beispielhaft hierfür waren diverse Werke des Kriegsverbrechers und Chefs der „Serbischen Radikalen Partei“ (Srpska radikalna stranka), Vojislav Šešelj. Tomislav Nikolić, der derzeitige Präsident Serbiens, rezensierte als damaliger Stellvertreter Šešeljs dessen Werk Vatikan glavno Satanino gnezdo (Der Vatikan, das Hauptnest Satans) ausgesprochen wohlwollend. Auch das von derselben Partei veröffentlichte Werk Krvava Crkva (Die blutige Kirche) und die Arbeiten von Lazar Lukajić und Srboljub Živanović stehen für diesen Diskurs. Živanović ging in seinen Büchern davon aus, daß über zwei Drittel 633

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des katholischen Klerus im NDH-Regime an Kriegsverbrechen beteiligt gewesen waren. Sowohl die Haltlosigkeit als auch die extrem nationalistische Tendenz solcher polemischer Aussagen waren unübersehbar. Die propagandistische Instrumentalisierung dieses Bildes einer gegenüber den Serben traditionell verbrecherisch handelnden katholischen Kirche zeigte sich 1995 auch im Buch Weltkrieg der Religionen. Der ewige Kreuzzug auf dem Balkan von Karlheinz Deschner und Milan Petrović, die sich entsprechend auch auf Viktor Novak beriefen. Einen fast schon diametralen Gegensatz dazu stellte die Sichtweise auf der nationalistischen beziehungsweise klerikalen kroatischen Seite dar. Deren Vertreter betonten die erwähnten Ereignisse des Frühjahrs und Sommers 1945, spielten aber die ambivalente Rolle der Kirche und die Involvierung einzelner Ordensmitglieder in die Strukturen des verbrecherischen NDH-Regimes herunter oder übergingen sie, wie beispielsweise im Beitrag Zločin i laž. Odnos Katoličke crkve i jugoslavenske komunističke vlasti u Hercegovini (Verbrechen und Lüge. Das Verhältnis der katholischen Kirche und der jugoslawischen kommunistischen Regierung in der Herzegowina). Zwischen diesen Extrempositionen, die beide in den kriegerischen Konflikten nach 1991 instrumentalisiert wurden, entstanden jedoch auch Versuche einer objektiveren, politisch unbelasteten Deutung und Erforschung einzelner Aspekte der Geschichte der Franziskaner in Bosnien, beispielsweise in den Arbeiten von Ivan Lovrenović und Velimir Blažević. Die Erinnerung an die Franziskaner Bosniens und der Herzegowina war stets vor allem eine schriftliche. Ivan Lovrenović schrieb deshalb von einer spezifisch bosnischkroatischen „Kultur des Textes“. Zu deren Schlüsseldokumenten gehören das dem Kustoden Zvizdović ausgestellte ahdname von 1463, die erhaltenen Klosterchroniken und die bekanntesten literarischen Werke einzelner Franziskaner, besonders von Matija Divković und Grgo Martić, sowie die Stellungnahme des Ordens vom Frühjahr 19�5. Diese so unterschiedlichen Texte repräsentieren in ihrer Verschiedenheit die wechselvolle und kontrovers gedeutete Geschichte der fratres in Bosnien-Herzegowina. V. Auswahlbibliographie divKović, Matija: Nauk karstianski za narod slovinski [Die christliche Lehre für das slawische Volk]. Venezia 1611; banduLavić, Ivan: Pisctole i evanghielya priko svega godiscta [Apostelbriefe und Evangelien für das ganze Jahr]. Venezia 1613; farLati, Daniele: Illyricum Sacrum, Bd. 1–8. Venezia 1751– 1819; Bullarium Franciscanum, Bd. 1–�. Roma 1759–1768; batinić, Mijo Vjenceslav: Djelovanje franjevaca u Bosni i Hercegovini za prvih šest viekova njihova boravka [Die Tätigkeit der Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina in den sechs ersten Jahrhunderten ihres Aufenthalts], Bd. 1–3. Zagreb 1881–1887; fabianich, Donato: Firmani inediti die sultani di Constantinopoli ai Conventi francescani e alle autorità civili di Bosnia e di Erzegovina. Firenze 188�; KLaić, Vjekoslav: Geschichte Bosniens von den ältesten Zeiten bis zum Verfalle des Königreiches. Leipzig 1885; ferMedžin, Eusebius: Acta Bosnae potissimum ecclesiastica cum insertis editorum documentorum regestis ab anno 925 usque ad annum 1752. Zagreb 1892; bordeaux, Albert: La Bosnie populaire. Paris 1903; Catalogus sanctorum fratrum minorum. Quem scriptum circa 1335 edidit notisque illustravit fr. Leonardus Lemmens O.F.M. Roma 1903; JeLenić, Julijan: Kultura i bosanski franjevci [Die Kultur und die Bosnischen Franziskaner], bd.

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Die Franziskaner in Bosnien und der Herzegowina 1–2. Zagreb 1912–1915; batinić, Mijo Vjenceslav: Franjevački samostan u Fojnici od stoljeća XIV.– XX. [Das Franziskanerkloster in Fojnica vom 14.–19. Jahrhundert]. Zagreb 1913; čuturić, Leonardo: Franjevci među hrvatskim pukom kroz sedam stoljeća [Sieben Jahrhunderte Franziskaner unter den Kroaten]. Sarajevo 1926; JeLenić, Julijan: Spomenici kulturnoga rada franjevaca Bosne Srebreničke [Die Denkmäler der Kulturarbeit der Franziskaner der Bosna Argentina]. Mostar 1927; Matasović, Josip: Fojnička regesta [Das Regest von Fojnica]. Beograd 1930; Mandić, Dominicus: Hercegovački spomenici franjevačkoga Reda iz turskog doba, g. 1�63–1699. [Die herzegowinischen Denkmäler des Franziskanerordens aus der türkischen Zeit, 1463–1699], Bd. 1. Mostar 1934; ustaški zlikovci u fratarskim mantijama [Ustašaverbrecher in den Kutten der Fratres]. In: Sloboda, Nr. 7, 10. Februar 1945; izjava starješinstva franjevačke provincije Bosne Srebrene od 2.5.19�5 [Die Stellungnahme des Ältestenrates der Franziskanerprovinz Bosna Argentina vom 2.5.19�5]. In: Lovrenović, Ivan: Bosanski Hrvati. Esej o agoniji jedne evropsko-orijentalne mikrokulture. Zagreb/Sarajevo 2010, 293–298; ćirKović, Sima: Istorija srednjovekovne bosanske države [Geschichte des mittelalterlichen bosnischen Staates]. Beograd 1964; džaJa, Srećko: Katolici u Bosni i Hercegovini na prijelazu iz 18. u 19. stoljeće [Die Katholiken in Bosnien und der Herzegowina an der Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert]. Zagreb 1971; džaJa, Srećko: Povijesni okviri kulturne djelatnosti bosanskih franjevaca 19. stoljeća [Die geschichtlichen Rahmenbedingungen der Kulturarbeit der bosnischen Franziskaner im 19. Jahrhundert]. In: Godišnjak Instituta za izučivanje jugoslovenskih književnosti 2 (1973) 25–3�; turčinović, Josip: Katolička crkva u južnoslavenskim zemljama [Die katholische Kirche in den südslawischen Ländern]. Zagreb 1973; Gavran, Ignacije: Lucerna lucens? Odnos Vrhbosanskih ordinarijata prema bosanskim franjevcima (1881–1975) [Lucerna lucens? Das Verhältnis des Ordinariats von Vrhbosna gegenüber den bosnischen Franziskanern (1881–1975)]. Visoko 1978; benić, Bono: Ljetopis sutješkog samostana [Die Annalen des Klosters Sutjeska]. Sarajevo 1979; Lašvanin, Nikola: Ljetopis. Priredio, latinske i italijanske dijelove preveo, uvod i bilješke napisao Ignacije Gavran [Chronik. Bearbeitung, Übersetzung der lateinischen und italienischen Teile, Einleitung und Anmerkungen durch Ignacije Gavran]. Sarajevo 1981; zirduM, Andrija: Filip Lastrić Oćevac. Zagreb 1982; boGdanović, Marijan: Ljetopis kreševskog samostana [1765.–1817.]. Izvještaj o pohodu Bosanskog vikarijata 1768 [Die Chronik des Klosters von Kreševo (1765–1817). Der Bericht über die Visitation des Bosnischen Vikariats 1768]. Hg. v. Ignacije Gavran. Sarajevo 198�; džaJa, Srećko: Konfessionalität und Nationalität in Bosnien und der Herzegowina. München 198�; đaKović, Luka: Političke organizacije bosanskohercegovačkih Hrvata [Die politischen Organisationen der bosnisch-herzegowinischen Kroaten]. Zagreb 1985; Franjevci Bosne i Hercegovine na raskršću kultura i civilizacija. Katalog izložbe [Die Franziskaner Bosniens und der Herzegowina an der Kreuzung der Kulturen und Zivilisationen. Ausstellungskatalog]. Zagreb 1988; džaMbo, Jozo: Die Franziskaner im mittelalterlichen Bosnien. Werl 1991; Kovačić, Anto: Bibliografija franjevaca Bosne Srebrene [Bibliographie der Franziskaner der Bosna Argentina]. Sarajevo 1991; KaraMatić, Marko: Franjevci Bosne Srebrene u vrijeme austrougarske uprave 1878.–191�. [Die Franziskaner der Bosna Argentina während der Zeit der österreich-ungarischen Verwaltung 1878–191�]. Sarajevo 1992; stražeManac, Ivan: Povijest franjevačke provincije Bosne Srebrene [Geschichte der franziskanischen Provinz Bosna Argentina]. Zagreb 1993; dedijer, Vladimir: Jasenovac – das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan. Freiburg 1993; MaLcoLM, Noel: Bosnia. A Short History. London 1994; deschner, Karlheinz/petrović, Milan: Weltkrieg der Religionen. Der ewige Kreuzzug auf dem Balkan. Stuttgart/ Wien 1995; banduLavić, Ivan: Pisctole i evanghielya. Das Perikopenbuch des Ivan Bandulavić von 1613. Hg. v. Darja Gabrić-baGarić und Elisabeth v. erdMann. Köln 1997; strecha, Mario: Katoličko hrvatstvo [Das katholische Kroatentum]. Zagreb 1997; Lovrenović, Ivan: Bosnien und Herzegowina. Eine Kulturgeschichte. Wien/Bozen 1998; bLažević, Velimir: Bosanski franjevci i nadbiskup dr. Josip Stadler [Die bosnischen Franziskaner und Erzbischof Dr. Josip Stadler]. Sarajevo 2000; pandžić, Bazilije S.: Hercegovački franjevci – sedam stoljeća s narodom [Die herzegowinischen Franziskaner – sieben Jahrhunderte mit dem Volk]. Mostar/Zagreb 2001; Statuti Hercegovačke franjevačke provincije Uznesenja BDM [Die Statuten der herzegowinischen Franziskanerprovinz der Erhöhung der heiligen

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Daniel Lalić Jungfrau Maria]. Mostar 2002; MacdonaLd, David Bruce: Balkan Holocausts?: Serbian and Croatian Victim Centered Propaganda and the War in Yugoslavia. Manchester 2002; šešeLJ, Vojislav: Vatikan glavno Satanino gnezdo [Der Vatikan, das Hauptnest Satans]. O. O. 2003; LuKaJić, Lazar: Fratri i ustaše kolju [Die Fratres und die Ustaschen schlachten ab]. Beograd 2005; JoLić, Robert (Hg.): Franjevci i Hercegovina [Die Franziskaner und die Herzegowina]. Mostar 2009; viLović, Đuro: Krvava crkva – hrvatski popovi i franjevci u raspadu Jugoslavije i u pokoljima Srba [Die blutige Kirche – kroatische Priester und Franziskaner und der Zerfall Jugoslawiens und die Massaker an den Serben]. Beograd/ Zemun 2009; živanović, Srboljub: Jasenovac. Beograd 2009; vuJeva, Tomislav: Kollaboration oder begrenzte Loyalität? Die historiographische Diskussion um Erzbischof Alojzije Stepinac von Zagreb und den katholischen Klerus im Unabhängigen Staat Kroatien. Wien 2009; Lovrenović, ivan: Bosanski Hrvati. Esej o agoniji jedne evropsko-orijentalne mikrokulture [Die bosnischen Kroaten. Essay über die Agonie einer europäisch-orientalischen Mikrokultur]. Zagreb/Sarajevo 2010.

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Jan Hus I. Zusammenfassung. – II. Biographie. – III. Hussitische Tradition im Wandel der Jahrhunderte. – a) Hus-Verehrung in den böhmischen Ländern in der Zeit konfessioneller Pluralität. – b) Von der Gegenreformation bis zur Entstehung der Tschechoslowakei. – c) Hus und die Hussiten im 20. Jahrhundert: von totalitären Ideologien bis zur Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Jan Hus war die Zentralgestalt der spätmittelalterlichen Kirchenreformbewegung in Böhmen und Mähren um 1400. Auf dem Konstanzer Konzil wurde er als Ketzer verurteilt und 1415 auf dem Scheiterhaufen verbrannt. Der Tod des Magisters Hus wurde zu einem Anlaß für den Ausbruch der hussitischen Revolution 1�19 in Prag und in Böhmen. Hus selbst war weder Gründer einer nach ihm benannten Bewegung gewesen noch gab es zu jener Zeit eine einheitliche hussitische Theologie. Die sich radikalisierende Reformbewegung führte bis 1436, wie vor allem die vier gegen Böhmen geführten Ketzerkreuzzüge zeigen, zur gewaltsamen Konfrontation der Kirche und ihrer Anhänger mit den Hussiten, die mit Gewalt allerdings nicht zu bezwingen waren. Weder Papsttum noch Kaisertum konnten verhindern, daß in Böhmen eine von Rom unabhängige utraquistische Kirche entstand. Hus galt schon kurze Zeit nach seinem Tod als Märtyrer. Im Lauf der Jahrhunderte wurde er ebenso als Häretiker verdammt wie als religiöser Reformator verehrt, in der späteren Neuzeit dann als antiklerikaler Kämpfer für die Gewissensfreiheit, als Führer der tschechischen Nation, als Vorreiter der Demokratie und als Sozialrevolutionär gewertet und verklärt.

II. Biographie Jan Hus wurde um 1370 vermutlich im südböhmischen Husinetz geboren. Er stammte aus einfachen Verhältnissen und schlug die geistliche Laufbahn ein, weswegen er um 1390 zum Studium an die Universität nach Prag ging. Der Student, der unter Armut und Krankheit zu leiden hatte, wurde 1393 zum Baccalaureus artium promoviert, drei Jahre später zum Magister artium. Hus und die anderen jüngeren Magister der böhmischen Universitätsnation entdeckten in den Schriften des englischen Kirchenkritikers und Reformators John Wyclif die eigene philosophische und theologische Position, von der Hus zeitlebens nie mehr abweichen sollte. Diese neue Position diente den Reformern anfänglich vor allem zur Abgrenzung von den zahlreichen Magistern der drei anderen überwiegend deutschen Universitätsnationen. Um 1�00 wurde Hus zum Priester geweiht. Neben seiner Tätigkeit als Prediger wirkte er weiter an der Prager Universität, wo er in der Wahlperiode 1401/02 zum Dekan der Artistischen Fakultät gewählt wurde. Er studierte 637

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in den folgenden Jahren an der oberen Theologischen Fakultät weiter, wo er es 1404 bis zum Baccalaureus bringen sollte. Mit Zbynko Zajíc von Hasenburg, dem jungen, theologisch wenig erfahrenen Prager Erzbischof, arbeitete Hus zunächst zusammen, er hielt Synodalpredigten und war auch in einer Kommission zur kritischen Untersuchung des sogenannten Wilsnacker Blutwunders beteiligt. Im Jahr 1�02 wurde Hus zum Prediger an der Bethlehemskapelle in der Prager Altstadt bestellt, die von dem Prager Kaufmann Jan Kříž und Mitgliedern des königlichen Hofes gegründet worden war, um dem Mangel an tschechischen Predigten in der von Deutschen dominierten Altstadt abzuhelfen. Die Bethlehemskapelle wurde zur wichtigsten Wirkungsstätte von Hus, der dort jährlich rund 200 Predigten hielt. Als Prediger war der gelehrte Theologe außerordentlich beliebt. In seinen Predigten kritisierte Hus die Simonie in der Kirche, die weltliche Herrschaft ihrer Hierarchie, den Reichtum (und die damit verbundene Heuchelei) der Bettelmönche sowie das nach einem urchristlich geprägten Verständnis unwürdige Leben der Kleriker. Darin war Hus allerdings nur bedingt originell. Aber er trug die zunehmend heftigere Kritik an der römischen Kirche in breite Schichten der tschechischsprachigen städtischen Bevölkerung. Die Anhänger der Reformideen von Wyclif, dessen Werke in England schon 1382 als zum Teil häretisch verurteilt worden waren, gerieten währenddessen mit der Prager Universitätsmehrheit in immer heftigere Auseinandersetzungen. Zunächst ging es um die Frage, wie die Transsubstantiation in der Messe zu verstehen sei: Wyclif hatte geleugnet, daß bei der Wandlung das Brot völlig verschwinden würde. Hus hielt sich aus diesem Streit heraus und betonte in dieser Frage bis zum Konzil von Konstanz stets seine katholische Rechtgläubigkeit. Er begann sich aber beim Erzbischof heftig zu beschweren, als man einem anderen, wohl den Waldensern nahestehenden Priester die Predigterlaubnis aberkennen wollte; ganz offensichtlich fürchtete er auch um seine Person. Inzwischen drängten die Reformgegner an der Universität den Erzbischof verstärkt, die „pestilenzischen Schriften“ des Wyclif zu bekämpfen. Der Erzbischof verschärfte 1�08 sein Verbot der Remanenz. Noch im selben Jahr kam es zu einem ersten bezeugten Angriff auf Hus: Der Stadtklerus der Prager Altstadt klagte ihn als Angehörigen der ohnehin bereits häresieverdächtigen natio bohemica beim Erzbischof an, weil er den ganzen Klerus beim Volk verhaßt gemacht habe. Dazu trug wohl auch bei, daß die Geistlichkeit durch den beliebten Prediger finanzielle Verluste erlitten hatte. Der Erzbischof verbot daraufhin, Predigten in der Volkssprache abzuhalten. In dieser kritischen Situation wurden die Reformer an der Universität und auch Hus zunächst durch politische Vorgänge gerettet. Der böhmische König Wenzel, der als römisch-deutscher König abgesetzt worden war, wandte sich an das Konzil von Pisa (1�09), das sich die Aufgabe gestellt hatte, das seit 1378 bestehende große Abendländische Schisma durch Absetzung des römischen und des avignonesischen Papstes zu beenden. Wenzel plante, durch die Anerkennung des neuen Pisaer Papstes vom Konzil auch wieder seine Anerkennung als deutscher König zu erreichen. Die böhmische Kirche und die drei mehrheitlich deutschen Universitätsnationen weigerten sich jedoch, den bisheri638

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gen römischen Papst zu verlassen. Daraufhin gab der König im Kuttenberger Dekret der natio bohemica, die in der Papstfrage zu ihm hielt, mit drei Stimmen das Übergewicht an der Universität; die drei anderen Nationen erhielten gemeinsam nur eine Stimme. Daraufhin zogen die deutschen Magister und Studenten unter Protest aus Prag ab. Nach dem Auszug der nichtböhmischen Nationen aus der Universität Prag im Gefolge des Kuttenberger Dekrets wurde Hus im Wintersemester 1409/10 zum Rektor der geschrumpften Prager Alma mater gewählt. Die Hochschule wurde nun ein wichtiger Stützpunkt der Reformbewegung. Wegen seiner Verteidigung der Wyclifschen Schriften, deren Verbrennung der Prager Erzbischof befohlen hatte, wurde Hus nach Rom zitiert. Da er sich jedoch weigerte, der Vorladung zu folgen, belegte ihn Papst Johannes XXIII. im Jahr 1411 wegen Ungehorsams mit dem Kirchenbann. Die Wende geschah durch den Ablaß, den der Papst zur Finanzierung eines Kreuzzugs gegen den (christlichen) König Ladislaus von Neapel ausrief und der in Böhmen von König Wenzel unterstützt wurde. Hus polemisierte heftig gegen diesen Ablaß und fand in der städtischen Bevölkerung große Zustimmung. Der König aber wollte die zunehmend störende Reformbewegung künftig nicht mehr dulden, so daß die Situation für Hus in der Hauptstadt untragbar wurde. Mit tiefer Enttäuschung erfuhr er, daß auch frühere Gefährten und Wyclifanhänger zu Gegnern der Reformbewegung wurden. Hus mußte Prag verlassen, fand jedoch bei verschiedenen Adelsfamilien in Südböhmen Zuflucht, wo er der ländlichen Bevölkerung predigte und die Zeit zum Verfassen zahlreicher lateinischer und auch tschechischer Schriften nutzte. Unter diesen Publikationen war das wichtigste Werk der gesamten Reformbewegung vor dem Konstanzer Konzil: De ecclesia (1413), eine gewandte Kompilation aus den Werken Wyclifs, systematischer aber als dessen gleichnamiger Traktat. Darin unterstrich Hus seine und Wyclifs Auffassung, daß die Kirche nicht die traditionelle Institution mit dem Papst an der Spitze sei, sondern die Gemeinschaft der Prädestinierten mit Christus als Oberhaupt. Wer vorherbestimmt und wer verdammt sei, wisse zu Lebzeiten niemand, auch nicht ein Papst oder Bischof. Der jüngere Halbbruder König Wenzels, der ungarische und römisch-deutsche König Sigismund, forderte Hus schließlich zur Teilnahme am Konstanzer Konzil auf und stellte ihm einen Geleitbrief aus. Sigismund sollte Wenzels Nachfolger in Böhmen werden und war deshalb auf die Ketzerfreiheit und Befriedung seines künftigen Landes bedacht. Hus erreichte Konstanz Anfang November 1414, wurde jedoch noch vor Ankunft des Königs festgenommen und eingekerkert. Sigismund schloß sich dann der Meinung des Konzils an, daß man einem Ketzer gegenüber kein Geleitversprechen halten müsse, sorgte allerdings – immer wieder von böhmisch-mährischen Adeligen gedrängt – für eine bessere Unterkunft für die drei Anhörungen des Magisters vor dem Konzil. Die Akteure in der „Sache des Glaubens“ (causa fidei) auf dem Konzil gingen von fundamental unterschiedlichen Auffassungen aus. Während Hus mit einer gewissen Naivität glaubte, mit dem Konzil wie an der Universität über die Rechtgläubigkeit seiner (und damit weitgehend Wyclifs) Vorstellungen diskutieren zu können und sich auch be639

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lehren zu lassen, wollten die Konzilsjuristen lediglich den an der Kurie schon längst begonnenen Prozeß zu Ende bringen. Die von den Theologen unter den Konzilsvätern gebauten Brücken lehnte Hus wiederum ab. Die nochmalige Verdammung der Wyclifartikel im Mai 1415 war bereits eine Vorentscheidung. Als nachteilig erwies sich für Hus zudem die Einführung des Abendmahls in beiderlei Gestalt (sub utraque specie) in Prager Kirchen durch einige seine Anhänger. Die Kelchkommunion für Laien wurde vom Konzil umgehend verboten; später wurde der Kelch zum Symbol der gesamten Reformbewegung. Gegen Hus stellte eine Kommission in Konstanz umfangreiche Klageartikel aus seinen Schriften zusammen, deren vollständigen Widerruf der Magister wiederholt verweigerte. Kommissionsmitglieder besuchten Hus des öfteren im Gefängnis. In den Anhörungen stand er jedoch auf verlorenem Posten, da die Konzilsväter und der König ihn zwar nicht zum Märtyrer machen wollten, einen Widerruf selbst von Auffassungen, die Hus nie vertreten hatte, gleichwohl konsequent verlangten. Hus vermochte zahlreiche Briefe, die an seine Anhänger in Konstanz und in der Heimat gerichtet waren, aus dem Gefängnis zu schmuggeln. Sie vermitteln einen tiefen Einblick in seinen Seelenzustand, sie zeigen seine Hoffnungen, seine Resignation und Verzweiflung im Verlauf des Konzils, aber auch seinen Glauben und seinen Widerstandswillen. Die Briefe und der schriftliche Bericht seines Freundes Peter von Mladoniowitz, der in Konstanz Augenzeuge der Ereignisse war und Hus bereits zu Lebzeiten zum Märtyrer stilisierte, wurden zu einer wichtigen Grundlage der Verehrung seiner Persönlichkeit. Am 6. Juli 1415 wurde Hus in einer feierlichen Session im Konstanzer Münster als Priester degradiert, zum Ketzer erklärt und zum Feuertod verurteilt. Noch auf dem Scheiterhaufen hätte Hus, der inconvictus et non confessus, nicht überführt also und nicht geständig, war, widerrufen können. Nach seiner Verbrennung streute man die Asche des Reformators in den Rhein. Das Konzil verbot gleichzeitig die Verbreitung der Lehren von Hus und Wyclif in Böhmen. Die böhmischen Stände sandten im September 1415 einen Protestbrief gegen die Verbrennung des Magisters nach Konstanz. Am 30. Mai 1�16 wurde noch ein weiterer Gefährte von Hus, Hieronymus von Prag, in Konstanz verbrannt, woraufhin sich die Situation in Böhmen weiter radikalisierte. Die als Hussiten bezeichneten Anhänger des Reformators, die sich selbst nie so nannten, gewannen schrittweise die Oberhand im Königreich, besonders nach dem Ausbruch der Revolution in Prag und dem Tod König Wenzels 1�19. Im März des folgenden Jahres rief der in Konstanz neugewählte Papst Martin V. daher zu einem Kreuzzug gegen die böhmischen Ketzer auf. Die Hussiten, die im Juli 1�20 ihr politisch-religiöses Programm in den Vier Prager Artikeln formuliert hatten, schlugen jedoch zwischen 1420 und 1431 alle Angriffe zurück und griffen selbst offensiv in die Nachbarländer Böhmens aus. So erklärte sich das Basler Konzil zu Verhandlungen bereit. Die Annahme der sogenannten Kompaktaten 1436 in Iglau, die Kaiser Sigismund ebenfalls bestätigte, beendete formell die Kriegsjahre und öffnete den Weg zur Konsolidierung der utraquistischen Landeskirche in Böhmen. 640

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III. Hussitische Tradition im Wandel der Jahrhunderte a) Hus-Verehrung in den böhmischen Ländern in der Zeit konfessioneller Pluralität Die Verehrung von Jan Hus (und Hieronymus von Prag) begann unmittelbar nach ihrer Verbrennung. In den hussitischen Kirchen fanden Seelenmessen statt, beide Konstanzer „Ketzer“ wurden als Märtyrer gefeiert. Der Tod von Hus wurde wie das Martyrium der frühchristlichen Zeugen Christi interpretiert. In der Zeit nach 1420 blieb er über die verschiedenen hussitischen Lager – bei den gemäßigten Utraquisten, aber auch bei den Taboriten, der radikalsten militärischen und politischen Gruppe, sowie später bei den Anhängern der Brüder-Unität – eine einigende und respektierte Autorität, ein Zeuge der Wahrheit, der allen in Böhmen den Weg gezeigt hatte, und ein lux bohemice gentis, ein Licht des böhmischen Volkes. Nach dem Vorbild der Predigtversammlungen unter freiem Himmel, die Hus vor 1414 geleitet hatte, trafen sich um 1419 an verschiedenen Plätzen in Böhmen – vor allem auf Anhöhen, die jetzt nach biblischen Orten bezeichnet wurden (Oreb, Tabor) – Tausende von Menschen. Bei diesen gottesdienstlichen „Bergwallfahrten“ predigten die hussitischen Priester, es wurde gesungen, und die Teilnehmer wurden zur Einigkeit ermutigt. Zu einem ureigenen Ausdruck der hussitischen (und später utraquistischen) Identität entfaltete sich die Erinnerung an Jan Hus, die am 6. Juli – fast im Sinn der mittelalterlichen Tradition kirchlicher Festivitäten – gefeiert wurde. Schon an seinem ersten Todestag wurden die Geschichte des Martyriums des Jan Hus und seine Briefe aus Konstanz verlesen. Nach und nach festigten sich zudem die liturgischen Texte zu diesem Zweck, wobei das Singen der Lieder von und über Hus eine feste Stelle einnahm. Am Vorabend des Todestags und an diesem selbst fanden Prozessionen mit einer Hus-Abbildung am Banner statt. Ende des 15. Jahrhunderts nahm die Feier aufgrund der Konfrontation mit der katholischen Kirche an Pracht zu; jede Störung des Feiertags durch Katholiken oder durch landesherrliche Amtsträger wurde als Provokation betrachtet. Die Verehrung von Jan Hus beeinflußte sowohl die politisch-gesellschaftliche Situation in Böhmen und Mähren als auch die institutionelle Entwicklung der utraquistischen Kirche. Um 1500 erlebte die Verehrung dann ein neues Ausmaß: Altäre der utraquistischen Kirchen wurden auf den Namen von Hus geweiht, aber auch Gotteshäuser selbst, wie die Kirche „auf dem Konstanz“ bei Königgrätz. Die Rolle von Hus als einem ersten Nationalheiligen manifestierte sich prägnant in der Ikonographie. Bald nach der Verbrennung kam es zur Schaffung der kodifizierten Bildgestalten beider Märtyrer. Hus, im 15. Jahrhundert stets bartlos, wurde mit einem Heiligenschein, der Ketzermütze und dem Hinrichtungsgewand dargestellt. Die älteste bekannte Abbildung stammt wahrscheinlich aus der Martinitzer Bibel um 1430. Nach 1450 entstanden auch Altarbilder mit Hus, nicht selten in Verbindung mit dem Heiligen Adalbert, dem Patron der Prager Erzbischöfe. Ende des 15. Jahrhunderts kam es zur Bildung einer repräsentativen typisierten Figur von Hus, die vermutlich durch die Holzschnitte der Weltchronik Hartmann Schedels (1493) inspiriert wurde. Die Gestalt eines bärtigen Gelehrten mit einem Barett, manch641

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mal am Schreibpult und mit einem Buch in der Hand, setzte sich vollständig durch und wurde auch dort von der reformatorischen Ikonographie übernommen, wo diese bis in die Zeit des 18. Jahrhunderts heimisch war. In dieser typisierten Gestalt erschien die Abbildung von Jan Hus in der Buchgraphik der utraquistischen und brüderischen Drucke, auf Blindpresseinbänden, auf der Verzierung der Kirchenglocken, Ofenkacheln, Münzen und Medaillen. Ähnlich wurde in der Ikonographie der Kelch als ein allgemein verständliches Symbol der hussitischen Bewegung verwendet, seit den 1430er Jahren auch im liturgischen Kontext. Mit der lutherischen Reformation bekam die Hus-Verehrung neue Impulse. Im Zusammenhang mit der Autorität, die Leben und Werk von Jan Hus bei Martin Luther genossen, versetzte man das Auftreten von Hus im böhmischen Milieu in die neu verstandene theologisch-geschichtliche Perspektive: Der „treue Tscheche“ wurde als ein Instrument gesehen, mit dem Christus unter allen europäischen Nationen die böhmische als erste der Finsternis des Antichristen entreißen wollte, wie es noch am 11. September 16�8 Johann Amos Comenius in einem Brief an den schwedischen Kanzler Axel Oxenstierna formulierte. Vor allem im Lager der konservativen Utraquisten bekam die Verehrung von Hus, in Reaktion auf die Erfolge der europäischen Reformation und die Verbreitung ihrer Ideen in Böhmen und Mähren, einen spürbar nationalen Zug. b) Von der Gegenreformation bis zur Entstehung der Tschechoslowakei Nach der Niederlage der protestantischen Stände in der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 wurde im Zuge der Rekatholisierung Böhmens und Mährens jede Erinnerung an Hus systematisch unterdrückt. Man beseitigte ältere Abbildungen der böhmischen Reformatoren sowie die hussitischen Symbole, den Kelch etwa oder die Statue des „Ketzerkönigs“ Georg von Podiebrad vom Frontgiebel der Teynkirche in Prag 1623; von Kirchenglocken wurden alle Hus-Abbildungen abgeschlagen. In den Kunstdenkmälern des Barock erschien Hus ausschließlich in der Gemeinschaft der Häretiker. Eine besondere Form der Erinnerung an ihn lebte nur unter den sogenannten Geheimprotestanten im Land weiter sowie unter den Exulanten, die ihre Neusiedlungen noch im 18. Jahrhundert häufig nach früheren hussitischen Orten benannten (Hussinetz bei Strehlen, Friedrichstabor bei Kempen in Schlesien, beide 17�9). In den Vorstellungen des Volkes wurde Hus zu einem armen und gerechten Menschen, der sein ganzes Leben den böswilligen Reichen und Mächtigen trotzen mußte und letztlich für die Wahrheit Gottes verbrannt wurde. Erst in der Regierungszeit Kaiser Josephs II. kehrte die offizielle positive Bewertung von Jan Hus zurück; das Hussitentum wurde allgemein zum Objekt wissenschaftlichen Interesses (Caspar Royko, František Martin Pelcl). Im Zusammenhang mit der religiösen Toleranz der Aufklärung wurde Hus als Vorgänger der josephinischen Kirchenreformen, als Märtyrer für die Gewissensfreiheit und als Patriot geschätzt, auch für seine literarischen und sprachlichen Leistungen (Josef Dobrovsk�). In der Zeit der napoleonischen Kriege unterstützte die Regierung in Wien eine rein patriotische Form der Erinnerung 642

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an die militärischen Erfolge der Hussiten und ihres Symbols, des Heerführers Jan Žižka von Trocnov. Im Revolutionsjahr 18�8 etablierte sich Jan Hus als ein Held der tschechischen Nationalbewegung. Diese Stellung sicherte ihm der Historiker František Palack� in seiner monumentalen Geschichte von Böhmen, in der er mit offener Sympathie den Lebenslauf von Hus schilderte und das Hussitentum nachgerade als Höhepunkt der slawisch-tschechischen Geschichte und als wegweisenden Schritt der Menschheit auf dem Weg von der Despotie zur Freiheit beschrieb. In der zweiten Hälfte der 1860er Jahre, nach der kurzen Periode des österreichischen Neoabsolutismus, rückte das Hussitentum noch weiter in das Blickfeld der tschechischen Nationalideologie. 1868 gipfelte die Bewegung in Massenvolksversammlungen (tábory lidu) an Orten mit einer Beziehung zum Hussitentum; daneben entwickelten sich in rascher Folge lokale hussitische Traditionen. Neben den Veranstaltungen, zu denen Zehntausende kamen, nahm eine Wallfahrt nach Konstanz eine besondere Rolle ein. Dort versammelten sich auf Anregung der Zeitschrift Svoboda (Freiheit) am Platz der Verbrennung von Hus gut 300 Persönlichkeiten des tschechischen öffentlichen Lebens. Zum vermuteten 500. Geburtsjahr von ihm (1869) kamen etwa 50.000 Menschen zu einer sogenannten Nationalwallfahrt nach Hussinetz. Neben dem dortigen „Geburtsstübchen“ (nach der Tradition) wurde auch der Ort der ehemaligen Bethlehemskapelle in Prag ein Objekt der Verehrung. Zu einer anderen Form der Hochachtung im späten 19. Jahrhundert gehörte die Errichtung von Hus-Denkmälern, die nach 1872, als man ein erstes Denkmal im ostböhmischen Jičin enthüllt hatte, in großer Zahl entworfen wurden. Nach einer umstrittenen Äußerung Karl von Schwarzenbergs 1889 im böhmischen Landtag – die Hussiten seien lediglich eine „Räuber- und Brandstifterbande“ gewesen – entstand die Idee, auch in Prag ein HusDenkmal zu errichten. Nach heftigen Diskussionen einigte man sich auf den Altstädter Ring als Ort eines solchen Monuments. Die Skulptur nach einem Entwurf von Ladislav Šaloun wurde dann allerdings erst im Ersten Weltkrieg fertiggestellt und 1915, anläßlich des 500. Jahrestages der Verbrennung des Reformators, errichtet. Der Todestag bildete allgemein einen wichtigen Bestandteil der Hus-Erinnerung. Die Programmstruktur entsprechender Veranstaltungen war stets ähnlich: Festrede und Vortrag, Gesang – besonders das Kampflied der Hussiten Ktož jsú Boží bojovníci (Wer die Gotteskämpfer sind) –, Festdekoration mit rot-weißen Landesfahnen, Bilder von Hus, Beleuchtung der öffentlichen Gebäude und der Privathäuser, Feuerwerk und Feuer auf den umliegenden Hügeln (als Erinnerung an den Scheiterhaufen). Die Verbrennung des Jan Hus wurde auch eines des beliebtesten Themen der historischen Malerei in Böhmen und Mähren. Die intensive, massenhaft verbreitete Erinnerung an Hus wurde zunächst nicht durch wissenschaftliche Forschungen zur Biographie des Reformators ergänzt. Als 1869 auf Anregung Palack�s durch das „Slawische wohltätige Komitee“ in St. Petersburg ein Preis für die beste, in einer slawischen Sprache verfaßte Schrift über Leben und Werk von Jan Hus ausgeschrieben wurde, bewarb sich nicht ein einziger Akademiker aus Böhmen. Die erste Hus-Biographie erschien erst 1915, und ihr Autor, der am bischöflichen Seminar in Brünn tätige Theologe Jan Evangelista Sedlák, war bezeichnenderweise Katholik. 643

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Die Nationalisierung der Hus-Erinnerung in Böhmen stieß durchaus auf Kritik. Die evangelische Intelligenz wies die säkularisierte Fassung der Veranstaltungen, die vor allem unter der Regie der nationalliberalen politischen Partei der Jungtschechen betrieben wurde, in aller Schärfe zurück. 1903 gründeten tschechische Protestanten deshalb die „Konstanzer Unität“ (Kostnická jednota), um die hussitische und brüderische Tradition wachzuhalten und ihre Forderungen nach einer zeitgemäßen Kirchlichkeit zur Geltung zu bringen. Eine ganz andere Bedeutung fand die Gestalt von Hus in den evangelischen Freikirchen. Hier wurde der Reformator ganz als Zeuge der Nachfolge Christi und als „Volksevangelist“ betrachtet. Ende des 19. Jahrhunderts nutzte der tschechische Philosoph und Politiker Tomáš G. Masaryk das gesellschaftskritische und emanzipatorische Potenzial der Hus-Erinnerung für seine Anliegen. Er stellte den Sinn der böhmischen Geschichte als einen Konflikt zwischen den Prinzipien von Reformation und Gegenreformation dar, wobei er beide Begriffe stark ideologisierte. In der Reformation sah er die religiöse und moralische Wahrhaftigkeit und eine Bastion der nationalen Identität gegen alle Germanisierungstendenzen. Die Gegenreformation wiederum identifizierte er mit dem politischen Programm der Habsburger, das er auf die Begriffe Absolutismus und Germanisierung zuspitzte: „Unsere nationale Wiedergeburt ist eine Fortsetzung der Reformideen, für die Hus den Märtyrertod gefunden hat.“ Religion war für Masaryk, den ersten Staatspräsidenten des souveränen Staates der Tschechen und Slowaken 1918, vor allem mit Blick auf Ethik und Moral zentral. Das Motto „Die Wahrheit siegt“ (nach dem hussitischen Veritas Domini super omnia vincit), das schon in der Ersten Tschechoslowakischen Republik auf der Fahne des Präsidenten stand, spiegelte Masaryks Idee des Fortschritts wider sowie die feste Überzeugung, daß sich in der Geschichte die „göttliche Ordnung“ und die „Wahrheit Gottes“ unaufhaltsam durchsetzen würden. Es überrascht daher nicht, daß Masaryk nach Ausbruch des Weltkrieges den 6. Juli 1915 – an jenem Tag war Hus fünf Jahrhunderte zuvor als Ketzer in Konstanz verbrannt worden – als den Tag seiner ganz persönlichen Kriegserklärung an die Österreichische Monarchie wählte. Zu dieser Einschätzung fügt sich, daß er das Hussitentum als Symbol der tschechischen militärischen Kampfkraft zum Vorbild für die tschechoslowakischen Legionen im Ausland erhob. Nach der Entstehung der Tschechoslowakischen Republik 1918 wurde die hussitische Tradition in die Staatsideologie integriert, wie Masaryks Ausspruch „Tabor ist unser Programm“ versinnbildlicht. Das zeitgenössische, mehr oder weniger religiöse Verlangen manifestierte sich 1920 in der Entstehung einer „Tschechoslowakischen Kirche“ (seit 1971 mit dem Attribut „hussitische“). Die ideologisierte staatsbildende Rezeption des Hussitentums enthielt freilich auch Konfliktpotential. Die Mehrheit der Bevölkerung gehörte unverändert der katholischen Kirche an; kritische Stimmen katholischer Intellektueller – zu nennen sind hier besonders Jaroslav Durych und Josef Pekař –, die vor einer Instrumentalisierung der Gestalt von Hus warnten, machten die Ambivalenz einer jeden Heranziehung historischer Persönlichkeiten für zeitpolitische Zwecke deutlich. Als 1925 der 6. Juli gesetzlich als „Gedenktag“ an Jan Hus verankert wurde und Masaryk an jenem Tag die hussitische Fahne auf der Prager Burg hissen ließ, kam es 644

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Der Holzschnitt mit einer Abbildung von Jan Hus am Schreibpult in einer der Ausgaben des Gesangbuchs der böhmischen Brüder-Unität (hier vom Jahr 1576) dokumentiert die zentrale Stellung seiner Person unter den „Zeugen des Glaubens“ bei den Anhängern der Reformation in den Ländern der Böhmischen Krone. Das Bild ist bezeichnenderweise durch kommentierende Texte unter der Überschrift „Der Grund des Streits von M. Jan Hus seeliges Gedächtnisses aus seinen Schriften ausgewählt“ ergänzt. Hus ist hier in einer repräsentativen typisierten Figur dargestellt, welche die „Hus-Ikonographie“ bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts bedeutend beeinflußte. Bildnachweis: Holzschnitt nach einer unbekannten Vorlage. In: Pjsně Duchownj Ewangelistské [Geistliche evangelische Gesänge]. Ivančice (Druckerei der Böhmischen Brüder) 1576, fol. R2a. Exemplar der Národní Knihovna v Praze, Sign. 54 A 33 (Photo ebd.).

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zum diplomatischen Bruch mit dem Vatikan. In den 1930er Jahren, als die Gestalt des heiligen Wenzel als Gründer des böhmischen Staates in den Vordergrund trat, kühlte der Kult um Hus spürbar ab. Erst unmittelbar vor Ausbruch des Zweiten Weltkriegs, als die territoriale Integrität des Staates gefährdet war, wurde die „hussitische Tradition“ neu und verstärkt akzentuiert. c) Hus und die Hussiten im 20. Jahrhundert: von totalitären Ideologien bis zur Gegenwart War die Erinnerung an Hus in der Zeit des Protektorats Böhmen und Mähren (1939– 19�5) aus verständlichen Gründen stark verblaßt, so gewann sie nach Ende des Zweiten Weltkriegs an neuer Kraft, wenn auch in anderer Form. Die neuen kommunistischen Machthaber eigneten sich die hussitische Tradition an, wobei der Boden für diese Rezeption schon früher vorbereitet worden war. Die links orientierten Politiker und Publizisten betrachteten die Hussiten, die seit Ende des 19. Jahrhunderts als Revolutionäre und Kämpfer für den sozialen Fortschritt interpretiert worden waren, als ihre Vorgänger. Für die Sozialdemokraten war Hus der erste, der die „Sozialisierung Gottes für alle Menschen“ in Angriff genommen hatte. Auch sein eigener sozialer Hintergrund prädestinierte ihn für die Rolle einer Ikone der Armen im Kampf gegen die Reichen. Zugute kamen der Hus-Verehrung der frühe antiklerikale Akzent sowie die stark nationalistisch geführte Auseinandersetzung um Vergangenheit und Gegenwart der Deutschen in der Tschechoslowakei. Den bedeutendsten Beitrag für die marxistische Ideologisierung des Hussitentums leistete Zdeněk Nejedl�, erster und langjähriger tschechoslowakischer Kulturminister und bis zu seinem Tod 1962 Präsident der Akademie der Wissenschaften in Prag, für den Hus „der erste Revolutionär der Neuzeit“ und ein „Held des Volkes“ war. Er regte 1950 den Neuaufbau der Bethlehemskapelle in Prag an, deren Gebäude im 18. Jahrhundert verfallen, deren Grundmauern 1919 aber wiederentdeckt worden waren. Diese völlig säkularisierte Initiative sollte ein Beweis für die Pflege der hussitischen Tradition durch die Kommunisten sein. In das Konzept der ideologisierten Kulturpropaganda wurde erneut das Werk des tschechischen Schriftstellers Alois Jirásek übernommen – einschlägig sind besonders die Romane Proti všem (Gegen alle, 1892/93) und Jan Hus (1911). Jiráseks Werk wiederum beeinflußte als offiziell propagierte Auffassung des Hussitentums weitere Produktionen in hohem Maße, etwa die wirkungsvolle FilmTrilogie Jan Hus, Jan Žižka und Proti všem (195�–1957) des Regisseurs Otakar Vávra. Fast ein Vierteljahrhundert nach der politischen Wende 1989, bei der gewisse Elemente der Masarykschen politischen Tradition der Ersten Tschechoslowakischen Republik eine Renaissance erlebten (Václav Havel: „Wahrheit und Liebe werden über Lüge und Haß siegen“), zeigt sich, daß die Beziehung eines großen Teils der tschechischen Gesellschaft zum Hussitentum noch immer durch eine verzerrte Interpretation der Vergangenheit belastet ist. Auf der kirchlichen Ebene, und zwar in einem breiten ökumenischen Verständnis, kam es zu einem seriösen Versuch, die kirchenreformatorische Tätigkeit 646

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des Jan Hus zu untersuchen. So wurde 1993 eine „Kommission für das Studium der mit der Persönlichkeit, dem Leben und dem Werk des M. Johannes Hus verbundenen Problematik“ ins Leben gerufen, und mehrere internationale Konferenzen (1993 in Bayreuth, 1999 im Vatikan) nahmen sich des Themas an. Ein gewisses Fazit zog 1999 der katholische Theologe Tomáš Halík: Jan Hus sei wie jede große Gestalt der Geschichte „die Projektionsleinwand, auf welche verschiedene Gruppen und Meinungsströmungen im Laufe der Geschichte ihre Ideale projizierten, aber auch ihre Feindbilder“.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen Hus, Jan: Spisy [Schriften], Bd. 1–8. Hg. v. Václav fLaJšhans. Praha 1903–1908; Historické spisy Petra z Mladoňovic a jiné zprávy a paměti o M. Janovi Husovi a M. Jeronymovi z Prahy [Historische Schriften des Peter von Mladoniowitz und andere Berichte und Memoiren über M. Jan Hus und M. Hieronymus von Prag]. Hg. v. Václav novotný. Praha 1932; Iohannes Hus, Magister Universitatis Carolinae: Positiones, recommendationes, sermones. Hg. v. Anežka schMidtová. Praha 1958; Magistri Iohannis Hus Opera omnia, bisher Bd. 1–�, 7–9, 13, 19, 22, 37. Praha/Turnhout 1959–2010; Hus in Konstanz. Der Bericht des Peter von Mladoniowitz. Übers. v. Josef buJnoch. Graz 1963.

b) Darstellungen MasaryK, Tomáš G.: Jan Hus, naše obrození a naše reformace [Jan Hus, unsere Wiedergeburt und unsere Reformation]. Praha 1896; sedláK, Jan: Mistr Jan Hus [Magister Jan Hus]. Praha 1915; Krofta, Kamil u. a.: Mistr Jan Hus v životě a památkách českého lidu [Magister Jan Hus im Leben und in den Denkmälern des tschechischen Volkes]. Praha 1915; novotný, Václav: M. Jan Hus. Život a učení [M. Jan Hus. Das Leben und die Lehre], Bd. I/1–2. Praha 1919–1921; KybaL, Vlastimil: M. Jan Hus. Život a učení [M. Jan Hus. Leben und Lehre], Bd. II/1–3. Praha 1923–1931; purš, Jaroslav: Tábory v česk�ch zemích 1868–1871 [Die Tabor-Versammlungen in den böhmischen Ländern 1868–1871]. In: Československ� časopis historick� 6 (1958) 23�–266, ��6–�70, 661–690; MaceK, Josef: Jan Hus. Praha 1961; MoLnár, Amedeo: Husovo místo v evropské reformaci [Hus’ Platz in der europäischen Reformation]. In: Československ� časopis historick� 1� (1966) 1–1�; říčan, Rudolf (Hg.): Husův sborník. Soubor prací k 550. v�ročí M. Jana Husa [Hus-Sammelband. Eine Sammlung von Arbeiten zum 550. Todestag von M. Jan Hus]. Praha 1966; schMidt, Hermann: Hus und Hussitismus in der tschechischen Literatur des XIX. und XX. Jahrhunderts. München 1969; seibt, Ferdinand: Jan Hus. Das Konstanzer Gericht im Urteil der Geschichte. München 1972 [Fürth 21993]; peLGer, Hans (Hg.): Jan Hus und die Hussiten in europäischen Aspekten. Trier 1987; čorneJ, Petr: Tajemství česk�ch kronik [Das Geheimnis tschechischer Chroniken]. Praha/Litomyšl 1987 [22003]; raK, Jiří: B�vali Čechové ... [Es waren die Tschechen ...]. Jinočany 199�; seibt, Ferdinand (Hg.): Jan Hus. Zwischen Zeiten, Völkern, Konfessionen. München 1997; hiLsch, Peter: Johannes Hus (um 1371–1�15). Prediger Gottes und Ketzer. Regensburg 1999; KeJř, Jiří: Husův proces [Der Hus-Prozeß]. Praha 2000; páneK, Jaroslav/poLívKa, Miroslav: Jan Hus ve Vatikánu [Jan Hus im Vatikan]. Praha 2000; KotyK, Jiří: Spor o revizi Husova procesu [Der Streit um eine Revision des Hus-Prozesses]. Praha 2001; drda, Miloš/hoLečeK, František J./vybíraL, Zdeněk (Hg.): Jan Hus na přelomu tisíciletí [Jan Hus an der Jahrtausendwende]. Ústí nad

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Jiří Just Labem 2001; šMaheL, František: Die hussitische Revolution, Bd. 1–3. Hannover 2002; schuLze Wessel, Martin: „Die tschechische Nation ist tatsächlich die Nation Hussens“. Der tschechische Huskult im Vergleich zum deutschen Lutherkult. In: Laube, Stefan/fix, Karl-Heinz (Hg.): Lutherinszenierung und Reformationserinnerung. Leipzig 2002, 199–210; KróLaK, Joanna: Hus na trybunie. Tradycje narodowe w czeskiej powieści historycznej okresu realizmu socjalistycznego [Hus auf der Tribüne. Nationale Traditionen im tschechischen historischen Roman in der Periode des Realsozialismus]. Warszawa 2004; KeJř, Jiří: Die Causa Johannes Hus und das Prozessrecht der Kirche. Regensburg 2005; ders.: Z počátků české reformace [Aus den Anfängen der böhmischen Reformation]. Brno 2006; GaLandauer, Jan: 6.7.1915. Pomník Mistra Jana Husa. Česk� symbol ze žuly a bronzu [Das Denkmal des Magisters Jan Hus. Ein tschechisches Symbol aus Granit und Bronze]. Praha 2008; hiLsch, Peter/šebeK, Jaroslav: Johannes Hus. In: saMersKi, Stefan (Hg.): Die Landespatrone der böhmischen Länder: Geschichte, Verehrung, Gegenwart. Paderborn 2009, 275–296; KeJř, Jiří: Jan Hus znám� i neznám�. Resumé knihy, která nebude napsána [Jan Hus bekannt und unbekannt. Resümee eines Buches, das nicht mehr geschrieben wird]. Praha 2009; fudGe, Thomas A.: Jan Hus. Religious reform and social revolution in Bohemia. London 2010; horníčKová, Kateřina/šroněK, Michal (Hg.): Umění české reformace [Die Kunst der böhmischen Reformation]. Praha 2010; MachiLeK, Franz (Hg.): Die hussitische Revolution. Religiöse, politische und regionale Aspekte. Köln/Weimar/Wien 2012.

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Johannes der Neue von Suceava I. Zusammenfassung. – II. Leben. – a) Unterschiedliche Erzählebenen der Vita. – b) Der handelspolitische Kontext. – III. Zum Entstehungskontext der Vita. – a) Die verschiedenen Versionen der Vita. – b) Die Legendenbildung. – IV. Verehrung. – a) Religiöse Memoria (15. bis 17. Jahrhundert). – b) Die Johannesverehrung in Galizien (1686–1783). – c) Johannes der Neue als Patron der Bukowina. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Johannes der Neue von Suceava wurde Anfang des 15. Jahrhunderts nach mitteleuropäischem Vorbild vom Woiwoden Alexander zum Schutzpatron des Fürstensitzes Suceava und der Moldau erhoben. Das berichtet der in Lemberg ausgebildete Chronist Grigore Ureche in seinem Werk Letopiseţul Ţării Moldovei (Chronik der Geschichte der Moldau) um 16�2/�7. Alexander der Gute stattete, entsprechend den Gepflogenheiten, die erste orthodoxe Metropolie der Moldau (1401) mit einem Heiligenschrein mit Berührungsreliquie des Johannes aus. Im ausgehenden 15. Jahrhundert stellte ein erster Freskenzyklus im Fürstenkloster Bistriţa, das Alexander zu seiner Ruhestätte wählte, dar, wie dieser die Überführung der Reliquie in die dem heiligen Georg geweihte Metropolitankirche in Suceava – sie wird auch Mirăuţi-Kirche genannt – veranlaßte. Die Überführung dieses Johannesschreins wurde zum zentralen Motiv aller weiteren ikonographischen und narrativen Darstellungen, mit ihr wurde die Funktion des Neomärtyrers als Schutzpatron verbunden. Verstärkend kam seit Beginn des 16. Jahrhunderts das Motiv des die gläubige Gemeinde beschützenden Johannes als Soldatenheiliger hinzu sowie, nach 1600, schließlich als miles orthodoxiae. Als solcher prägte sich der griechische Neomärtyrer Johannes aus Trapezunt in das kollektive Gedächtnis der Gläubigen in der Moldau, im 17. Jahrhundert auch in manchen Regionen des Balkans und der Karpaten, ein. Vorwiegend dank wiederholter bildlicher Darstellungen im 15. bis 17. Jahrhundert wurde Johannes der Neue in der Moldau zu einer der zentralen Symbolgestalten für orthodoxe und moldauische Identität, die im Funktionalitätswandel überdauerten. Die älteste erhaltene Darstellung des Neomärtyrers ist eine griechische Ikone aus dem 14. Jahrhundert. Sie umgab früher mit elf anderen, aber verlorengegangenen kleinformatigen Ölbildern den Reliquienschrein in Suceava und ist heute im Bukarester Nationalmuseum ausgestellt. Im Juni 1992 wurde Johannes der Neue von der Synode der orthodoxen Kirche als „rumänischer Heiliger“ kanonisiert. Sein Gedenktag fällt in den Monat Juni, so wie es die beiden Moldaumetropoliten Varlaam und Dosoftei mit Eintrag im Menaion bereits 16�3 und 1686 festgelegt hatten. Die ehemalige, dem heiligen Georg geweihte Metropolitankirche in Suceava, wo Johannes’ Reliquienschrein in dem nach ihm benannten Kloster steht, ist seit einigen Jahrzehnten Ziel wachsender gesamtrumänischer Verehrung und einer von der Kirche unterstützten Wallfahrt. 649

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II. Leben a) Unterschiedliche Erzählebenen der Vita Die spärlichen bekannten Daten über den griechischen Neomärtyrer Johannes den Neuen entstammen allein seiner Vita aus der Hand eines unbekannten Verfassers aus bulgarischem Klerikermilieu. In dieser Vita erscheinen unterschiedliche zeitliche Ausformungen des Johannes-Stoffes. Zwei übereinander geblendete Erzählschichten sind gut zu unterscheiden. Sie enthalten, zusammen gelesen, das fast die ganze Platzfülle einnehmende und die meiste Beachtung findende Motiv des christlichen Martyriums. Allerdings wurde hier auch die komplexe handelspolitische Geschichte angedeutet, in der das Schwarze Meer während einer etwa 150 Jahre umfassenden Zeitspanne eine gesamteuropäische Rolle spielte. Die ältere, wahrscheinlich griechische Erzählschicht verweist auf politische Tatsachen aus der Zeit um 1264. Namen und Titel auf Neugriechisch sowie die Religion der Protagonisten deuten auf das 13. Jahrhundert hin. Die jüngere Ebene thematisiert das Konfessionsmotiv – sie setzte im 14. Jahrhundert ein. Über Johannes ist aus der bulgarischen Vita nur bekannt, daß er ein junger griechischer Händler aus Trapezunt war, der mit seiner Ware Richtung Krim gesegelt ist. Er geriet dabei mit einem genuesischen Schiffskapitän in Streit um die Handelsware, ein Konflikt, der vom mongolischen Ortsvorsteher oder Stadtrichter geschlichtet werden sollte, was offenbar mißlang. Das mongolische Ilkhanat grenzte um 126� an Trapezunt, wo der Entstehungsort der Legende zu suchen sein dürfte – soviel ist aus der älteren Erzählschicht zu erfahren. Als Grund für Johannes’ Tötung erschien in der späteren bulgarischen Vita ein doppelter Glaubenskonflikt. Er begründete das Martyrium des Johannes. Hier setzte die jüngere Erzählebene an. Das Opfer war dort wie hier der im Handelsgeschehen benachteiligte und unterlegene Grieche. Das Opfermotiv wurde in der bulgarischen Version auf die orthodoxen Balkanchristen ausgeweitet, die von islamischen Häschern – Mongolen nach ihrer Kleidung, in späteren Bilderzählungen Osmanen – malträtiert wurden. Das dokumentarisch nicht belegte Martyrium des Johannes ereignete sich vielleicht um 1330/45, wahrscheinlich aber schon früher, nach 1264. Denn seit diesem Zeitpunkt lief der Gewürzhandel des Ilkhanats von Trapezunt aus nach Konstantinopel nicht mehr auf direktem Seeweg über Kleinarmenien, sondern wurde auf einem Umweg über die Krim kontrolliert. Dort hatten im 13. und 14. Jahrhundert heidnische Mongolen und katholische Genuesen gemeinsam das Sagen. Handelskonflikte der Griechen mit den Genuesen und Mongolen waren damals Alltag, Glaubensdispute nicht. Ein solcher Streit um die Handelsware hatte auch zum Nachteil für den jungen Johannes aus Trapezunt geendet, als er den Weg ins Azowsche Meer nahm, ehe er dort in einer Hafenstadt den Tod fand. Diese ältere Erzählschicht wurde in der viele Jahrzehnte später überlieferten Vita aus bulgarischem Milieu durch eine zweite überblendet, die die Märtyrerlegende enthielt. Sie schilderte einen Glaubenskonflikt, einen Zusammenstoß dreier Konfessionskulturen, an dessen Ende der Märtyrertod des Johannes aus Trapezunt stand. 650

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Fresko Johannes des Neuen an der Südseite des Naos in der Klosterkirche Moldoviţa von 1532. Die neue Funktion des Heiligen als Beschützer wird durch den besonderen Platz zwischen den beiden ebenfalls als Kriegerheilige verehrten Erzengeln Gabriel (links) und Michael (rechts) hervorgehoben. Bildnachweis: Privatarchiv Krista Zach.

Mit der Überführung des Märtyrerschreins in die Moldau um 1415 erfuhr diese bulgarische Märtyrerlegende eine prägnante, autochthonisierend gedeutete Fortsetzung, die in der moldauischen Kirchenmalerei des 16. Jahrhunderts reichlich dokumentiert wurde und in griechische, moldauische und russische Vitenversionen aus dem 17. Jahrhundert einfloß. b) Der handelspolitische Kontext Die nördliche Schwarzmeerregion mit der Krim gehörte im 13./14. Jahrhundert zum Hoheitsbereich der Goldenen Horde. Sie war an den Küsten von Christen verschiedener Konfessionen – Griechen, Russen, Bulgaren, Rumänen, Armeniern, katholischen Genuesen und Venezianern –, im Landesinneren auch von „Heiden“ (Mongolen oder Tataren), „die die Gestirne anbeteten“, sowie von Muslimen bewohnt. Die Mongolen der Goldenen Horde verdrängten Kumanen und andere Turkvölker und gelangten um 1330 bis in die westlich gelegenen Häfen der pontischen Region, nach Chilia und Akkerman. Sie zogen sich aber bald wieder von hier zu ihren Herden in den Budžag zurück. Die 651

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Woiwoden der Moldau und um 1490 die Osmanen folgten nach. Letztere machten sich die gesamte Großregion zu beiden Seiten des Schwarzen Meeres für weitere vier Jahrhunderte tributpflichtig. Die Herrschaftsperiode der Goldenen Horde am Nordrand des Schwarzen Meeres wie auch des persischen Ilkhanats im Süden (13./14. Jahrhundert) war vor allem durch das internationale Handelsgeschehen geprägt, das die beiden rumänischen Fürstentümer mit einbezog. Die Byzantiner aus Trapezunt und Konstantinopel gerieten auf diesen Märkten und Handelswegen ins Hintertreffen. Bewaffnete Auseinandersetzungen entstanden damals aus wirtschaftlichem Anlaß. Konfessionelle Konflikte waren kein Charakteristikum der Mongolenzeit, sehr wohl aber späterer, durch die Osmanen geprägter Jahrhunderte. Die mehrfach übereinander geblendeten Stoffebenen der bulgarischen Vita des Johannes spiegeln diese Übergangsperiode wider. III. Zum Entstehungskontext der Vita a) Die verschiedenen Versionen der Vita Ein unbekannt Gebliebener, vermutlich ein Grieche, verfaßte die möglicherweise erste Vita des Märtyrers Johannes des Neuen. In der überlieferten bulgarischen Lebensbeschreibung des Johannes erschien der nahe Hafen am Dnjestr, Akkerman, als der Ort des Martyriums, denn spätestens Ende des 14. Jahrhunderts wurde die Legende im bulgarischen Tărnovo aktualisiert und autochthonisiert. Vergleichbares geschah hier, im Umkreis des Erzbischofs Euthymios, mit anderen Viten griechischer Neumärtyrer, beispielsweise mit den Viten der epirotischen Neomärtyrerinnen Paraskeva und Philophthea, die beide Euthymios selbst zugeschrieben werden. Einiges spricht gegen die bis etwa 1970 als sicher geltende Autorschaft Grigorij Camblaks, der Schüler von Euthymios war und Metropolit von Kiew wurde. Zur Datierung der in der Moldau nur in einer Kopie von 1439 überlieferten Niederschrift können inhaltliche Indizien herangezogen werden: Die Reliquien des Johannes seien, so Grigore Ureche, 1415 nach Suceava überführt und dort feierlich von Alexander dem Guten empfangen worden. Das Konzil von Konstanz, an dem Camblak 1�18 als Gesprächspartner von Papst Martin V. und Kaiser Sigismund von Luxemburg überliefert ist, endete im März gleichen Jahres, Camblak verstarb auf seinem Heimweg nach Wilna. Die mit ihm in der Konzilschronik des Ulrich von Richental erwähnten Vertreter aus Suceava, Siret, Baia, Roman und Bacău, wohl überwiegend katholische ‚Fremde‘, dürften einigermaßen ratlos in die Moldau zurückgekehrt sein, wo Fürst Alexandru den Hussiten gegenüber, anders als das Konzil, Toleranz zeigte und ihnen 1420 Obdach gewährte. All das spricht gegen religiöse Intoleranz der polischen Elite in der Moldau jener Zeit. Diese Tatsache gilt es hervorzuheben, weil das Herrscherhaus der Muşatini an der Wende vom 14. zum 15. Jahrhundert noch zwischen katholischen (galizisch-polnischen) und orthodoxen (griechisch-byzantinischen) Optionen schwankte. Belege für 652

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die von der orthodoxen Kirche geförderte religiöse Intoleranz der Muşatini fehlen bis zur Mitte des 16. Jahrhunderts. Die bulgarische Johannes-Vita spiegelt jedoch den religiös intoleranten Kontext aus der Perspektive eines orthodoxen Milieus wider. Die unverkennbar antikatholischen Akzente wie die mittelbulgarische Sprache, in der die Viten-Kopie 1439 von einem Mönch namens Gavriil (Uric) im Moldauer Fürstenkloster Neamţu gefertigt wurde, lassen nicht allein die Bearbeitung einer früheren Textversion oder einer älteren, oral tradierten Heiligenlegende vermuten, sondern auch eine konfessionspolitische Botschaft aus Byzanz an die moldauischen Woiwoden – die Aufforderung nämlich, sich klar für die Orthodoxie zu entscheiden. Dafür waren der Streit und das Martyrium des Händlers Johannes aus Trapezunt, die tatsächlich weit entfernt von der Unteren Donau stattgefunden hatten, eine überaus geeignete Metapher. Ob die translatio des Johannesschreins nach Suceava oder die Abfassung einer Heiligenlegende auf Anregung des Theologen, Diplomaten und nachmaligen Metropoliten von Kiew, Grigorij Camblak, erfolgt war, wie es eine bulgarisch-moldauische Forschungstradition festhält, ist unbewiesen, der sich wandelnde Kontext von älteren zu neuen Erzählebenen mit entsprechenden Autochthonisierungen findet sich jedoch in der Frömmigkeitstradition der Moldau in Form von weiteren devotionalen Bearbeitungen des Johannes-Stoffes in Bild und Wort bis ins 20. Jahrhundert. Inhaltlich wie auch chronologisch unpassend ist schließlich die damals moldauische Hafenstadt Akkerman als Ort des Martyriums, an der die rumänische Forschung bis heute fast ausnahmslos festhält. b) Die Legendenbildung Die Legende erzählt von dem jungen griechischen Kaufmann Johannes aus Trapezunt, der im Schwarzmeergebiet byzantinische Devotionalien zum Kauf feilbot und damit in der Region viel herumkam. Der orthodoxe Grieche Johannes fuhr mit dem katholischen „Reiz“ von Trapezunt nach „Belyj Grad“, womit vielleicht Aspromiti/Aspromin (für „weiße Festung“) nahe Kerč am Asowschen Meer gemeint war. Der Genuese, der nach Johannes’ Waren trachtete, verwickelte ihn in ein Glaubensgespräch, doch Johannes zeigte sich davon unberührt. Im Hafen eingetroffen, verleumdete der Genuese den in seinem orthodoxen Glauben standhaft gebliebenen Johannes beim heidnischen (tatarischen) Stadtrichter, dem „Iparch“, der dem Sternenkult anhing, der Grieche habe ihm gestanden, zum Islam übertreten zu wollen. Das wies Johannes im Wissen um die dafür vorgesehene Bestrafung und trotz strengster Folterung von sich. Auf das Grab des geköpften Johannes, im orthodoxen Kloster der Stadt, fuhr eine Feuersäule vom Himmel herab, ein Fremder versuchte, den Leichnam zu stehlen, fiel aber in eine anhaltende Starre. Es ereigneten sich alsbald weitere Mirakel, so daß die Bevölkerung Johannes als wundertätigen Märtyrer zu verehren begann. In Bildbeischriften aus dem 16. Jahrhundert wurde der Fremde zum Juden, der Stadtrichter zum Türken. 653

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Grigore Ureche berichtete davon, daß der erste Metropolit der Moldau, Iosif I., Kunde von diesem wundertätigen Märtyrer erhalten und im Auftrag seines Woiwoden Alexander die Überführung des Reliquienschreins von Belyi Grad nach Suceava veranlaßt habe: „Und im Jahr 6923 [1�1�/15] schickte man Leute aus und brachte unter großem Aufwand auch die Reliquien des heiligen Märtyrers Johannes Novi von [Belyi Gorod] von den Heiden, und man setzte sie unter großer Ehrerweisung und einer Prozession in Suceava [...] ein, damit sie den Fürstensitz schirmen und schützen mögen.“ Die von rumänischen Historikern vorgeschlagene Identifizierung des Ortes des Martyriums Belyi Grad mit Cetatea Albă, dem Endpunkt der Reise dieser Reliquie „von den Heiden“ über das Schwarze Meer, entspricht patriotischer Historisierung. IV. Verehrung a) Religiöse Memoria (15. bis 17. Jahrhundert) Der Bericht Ureches verdeutlicht die herrschaftsstützende Funktion des Johannes für den jungen moldauischen Staat, der in einem Dreieck von Loyalitätsbindungen zwischen Ungarn, Polen und Byzanz sowie ab 1�56 dem Osmanenreich entstanden war und seinen Platz zu behaupten trachtete. Der Neumärtyrer Johannes der Neue war bestens geeignet, als Schutzpatron die Hauptstadt, das neue orthodoxe Bistum und das ganze Land zu beschirmen. Sehr viel wirksamer als aus dem teilweise unverständlich gewordenen Vitentext trat der Schutzpatron Johannes in der Moldau bildlich hervor, zumal für das des Lesens nicht kundige Volk. An der Ikonographie des Schutzpatrons kann im Verlauf der Jahrhunderte die Memoria wie der inhaltliche Funktionalitätswandel einer Symbolfigur bis in die Neuzeit am deutlichsten abgelesen werden. Unter der Herrschaft Alexanders des Guten und seiner zahlreichen Nachfolger aus dem Haus Muşatin genügte die Präsenz eines Reliquienschreins mit den ihn umgebenden byzantinischen Ikonen in der dem heiligen Georg geweihten Metropolitankirche in Suceava. Gegen Ende der Herrschaftszeit Stefans III. des Großen sollte sich die Form des Gedenkens des Johannes des Neuen gründlich verändern – er wurde nun über mehr als ein Jahrhundert vom Fürsten und durch die orthodoxe Kirchenhierarchie auch propagandistisch für die missio orthodoxa eingesetzt. 1�89 wurde erstmals ein Patrozinium des Johannes vergeben. Dafür wurde die kleine Privatkapelle Stefans III. im Glockenturm des Fürstenklosters der Muşatin-Dynastie, Bistriţa, gewählt. Das Kloster Bistriţa besaß als Grablege Alexanders des Guten, der seinerzeit die Überführung veranlaßt hatte, und seiner Erben eine besondere, die Nachfolger legitimierende symbolische Bedeutung. Diese Privatkapelle wurde – der Gemeinde der Gläubigen noch verborgen, da nur der Meditation des Fürsten und seiner Familie vorbehalten – mit der Darstellung des Lebens des Johannes in 15 Bildern geschmückt. Hier wurde der erste dem Landespatron gewidmete Freskenzyklus kreiert, wobei man die Translationsszene, über vier Bildfelder 654

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gemalt, besonders hervorhob. Der Landespatron erschien in einer neuen Funktion und wurde zum Symbol der Standhaftigkeit in extremer Lage, die sich als osmanische Gefahr abzeichnete. Ihn wählte der Landesfürst als seinen Mittler und stellte ihn neben den heiligen Georg, den Drachentöter. Nach 1�56 und wieder 1�76 war die Moldau in osmanische Tributpflichtigkeit geraten, sie war ein osmanisches Protektorat, das zur Friedenswahrung der Hohen Pforte Abgaben zu entrichten hatte. Die Häscher des Johannes mutierten nun bildlich realitätsnah von „Persern“ (Mongolen) auf der frühen griechischen Ikone und aus der Vita zu Türken. Der Stadtrichter wurde nun zu einem Muslim in Kaftan und Turban. Auch die auf Silbertafeln geprägten Szenen des Martyriums, die noch heute den hölzernen Schrein des Johannes einfassen, zeigten diese Ikonographie. Sie wurden zur Zeit Stefans des Großen gefertigt. Der Schlachtenheld Stefan III. wurde nach der Niederlage von Războieni 1�76 zum frommen Erbauer und Erneuerer zahlreicher Kirchen in Klöstern und Städten der Moldau. Während der zunehmenden osmanischen Abhängigkeit der Moldau wurde Johannes der Neue als Fürbitter und Schutzheiliger mit Nimbus – für die Gemeinde der Gläubigen nunmehr gut sichtbar und in voller Größe – dargestellt. Er erschien jetzt im Naos vieler Kirchen als einer der Soldatenheiligen, etwa 1503 in den Klosterkirchen zu Dobrovăţ, Arbure (1503/23), Suceava (1523), Moldoviţa (1532), Humor (1535) und Dragomirna (1609). Der Landespatron stand meist zwischen Michael und Gabriel oder aber zwischen Petrus und Paulus. Die Botschaft an die Gläubigen war eindeutig: Fürst und Kirche warben mit Johannes dem Neuen um Zuversicht und legitimierten ihre Position. An vielen Kirchen der Moldau wurde zur Mitte des 16. Jahrhunderts schließlich in der Herrschaftszeit des Petru Rareş und seiner beiden Söhne, vor allem in der seines höchst umstrittenen Sohnes Iliaş, der in Bistriţa zuerst im Privatbereich der Fürstenkapelle gestaltete Freskenzyklus zu Johannes’ Martyrium öffentlich gemacht. Die Legende des Johannes als Glaubenszeuge, dessen Standhaftigkeit im Väterglauben – trotz Folterung und Marter – erwiesen war, wurde nun bildlich auf Innen- und Außenwänden der Kirchen verkündet. Es waren stets weltliche Fürsten und Kirchenfürsten, die diese Botschaft im eigenen Namen verbreiteten. In- und Beischriften aus dem 17. Jahrhundert deuten auf den Moldauchronisten und Bischof von Roman, Macarie, und auf den Metropoliten Grigore Roşca hin. In Klerikern wie diesen beiden und möglicherweise auch einem Metropoliten der Rareşzeit, Teofan I., dürfen die Erfinder des neuen, ikonographisch einzigartigen Bildprogramms an den Außenwänden der moldauischen Klosterkirchen vermutet werden. Die Johannes-Legende gehörte wesentlich zu diesem neuen Programm. Das Netzwerk der Erfinder war eng geknüpft: Die beiden Metropoliten kamen aus dem Kloster Voroneţ, das Stefan der Große 1�88 hatte erbauen lassen. Dort wurde 15�7 von Grigore Roşca das komplizierteste Außenfreskenprogramm gestiftet, für das die Moldau noch heute bekannt ist. Der Johannes-Zyklus erhielt in Voroneţ einen Ehrenplatz, neben den anderen für die Moldau zentralen Heiligen Georg, Prokopius und Nikolaus. Er befand sich unterhalb des Nikolauszyklus über dem Eingang. Deutlicher konnten die neuen Funktionen des Landespatrons nicht vermittelt werden. Davor schon hatte Petru Rareş an der Außenfront 655

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der dem heiligen Georg geweihten neuen Metropolitankirche 1532 die Johannes-Vita aufbringen lassen. Im Exonarthex der Bischofskirche zur heiligen Paraskeva von Rom wurde um 15�3/50 ganzwandig ein dreifacher Heiligenzyklus mit Nikolaus, Paraskeva und Johannes dem Neuen gemalt. Einige Fresken um den Johannesschrein und einen Baldachin stifteten 1589 der Woiwode Peter der Lahme und der Metropolit Gheorghe Movilă. Dieser erneuerte auch den Kult des Johannes nach kurzer Pause wieder, indem er Johannes den Neuen in dem von ihm gestifteten Familienkloster Suceviţa 1596/1601 abermals als Landespatron einsetzte. Seine Legende fand als ganzer Zyklus im Exonarthex einen gut sichtbaren Platz. Diese Wiederaufnahme der Tradition, fünfzig Jahre nach der Darstellung in Voroneţ, wird mitunter als Zeichen einer „Gegenreformation“ von orthodoxer Seite verstanden und damit fehlinterpretiert. Fürst und orthodoxe Kirche positionierten sich mit dem großen ikonographischen Programm der Glaubensstärke, das zur Zeit der Rareşfürsten an den Außenwänden vieler Kirchen – dort, wo dafür noch Platz frei war oder man durch Anbau eines Exonarthex neuen schuf – angebracht wurde, in subtiler Weise gegen politische Zwänge. Die neuerliche Funktionalisierung des Johannes geschah vor einem sich dramatisch verfinsternden politischen Hintergrund: Petru Rareş’ mißlungener Versuch der Tributverweigerung führte 1538 zum Einmarsch Süleymans II. in die Moldau und zur Flucht des Fürsten. Ein Janitscharenkorps blieb als Besatzung in Suceava zurück, der Staatsschatz wurde geraubt und einige Kirchen wurden profaniert. Petru Rareş mußte 15�0 seine zweite Herrschaftszeit vom Sultan erbitten beziehungsweise erkaufen. Süleyman II. ließ ihm darauf als eindeutige Insignie der osmanischen Oberhoheit die Fahne mit Halbmond zukommen. Offenbar wollte die Pforte nunmehr die Fürstenwahl selbst bestimmen, während sie bisher nur die Wahl des moldauischen Bojarenrates bestätigt hatte. Doch der Landespatron stand nicht in einsamer Mission da. Diese wurde, wie in Voroneţ zu sehen, durch das neue Bildprogramm verstärkt. Johannes wurde Teil eines großen Programms der Abwehr jeglicher Heterodoxie, womit nun vor allem der Islam gemeint war. Dazu gehörten die großformatigen Darstellungen des Akathistoshymnos der heiligen Jungfrau, die Legenden um die heiligen Nikolaus und Antonios und vor allem die des Jüngsten Gerichts. Großwandige Kompositionen der Abrechnung mit allen NichtOrthodoxen, vorgestellt nach der Art einer damnatio memoriae, wurden im Innern wie auch an den Außenmauern mehrerer Bukowiner Klosterkirchen angebracht. Hier wurde eine grandiose Apotheose der Orthodoxie inszeniert. Gleichsam den Schlußakkord setzte die ebenfalls neue Komposition des von muslimischen Feinden belagerten, mauernbewehrten Kostantinopel, das großflächig und immer im Blickfeld der Gläubigen aufgetragen wurde. Die noch nicht abgeschlossene Deutung dieser Belagerungsszene ist auch im Zusammenhang mit dem benachbarten Johannes-Zyklus möglich, so vor allem in Voroneţ und Moldoviţa. Die Macht des Basileus und des Patriarchen mit all seinen Mönchen schien in dieser Darstellung nicht auszureichen, um den Glaubensfeinden zu widerstehen. Hier trat die berühmte Marienschutzikone von Konstantinopel, die früher so oft geholfen hatte, in den Bildhintergrund, ebenso wie das Tuch mit dem „Wahren Antlitz“. Johannes der Neue aber trat, wie im Naos von Modoviţa, als Soldatenheiliger auf. 656

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Im 17. Jahrhundert schien die Schutzmächtigkeit des Johannes zu verblassen. Jassy war schon von 1565 an Hauptstadt der Moldau, der Johannesschrein verblieb in Suceava. Doch der Schein trügte, der Laie und Neumärtyrer Johannes aus Trapezunt war der wundertätige Neuheilige der Moldau, ein Glaubenszeuge der orthodoxia militans. Dafür sprechen einige Stiche mit dem aufs Schwert gestützten großformatigen Johannes vor dem Hintergrund einer Umrißzeichnung von Suceava. Die Memoria bestand nun vor allem in Verschriftlichungen des Stoffes und weiterer Legendenbildung über Wundertaten des Patrons. Aufzeichnungen in rumänischer Sprache würdigten Johannes den Neuen. Der Metropolit von Kiew, Petro Mohyla, und der Moldauchronist Miron Costin schilderten, wie 1621 der gelehrte, weise und kunstfertige Metropolit Atanasie Crimca den Johannesschrein zum Schutz in die Festung am Rand der Stadt bringen lassen wollte, als ein Kosakentrupp Suceava bedrohte. Da sich dieser nicht bewegen ließ, versank der Bischof in Gebeten um Fürbitte. Darauf erhob sich ein heftiger Sturm, die Bäche schwollen so stark an, daß die Kosaken zurückwichen und schließlich flohen. Paul von Aleppo berichtete 1653/5� von einer Johannes ehrenden Wallfahrt immer am ersten Donerstag nach Pfingsten. Sein Kult fand im 17. Jahrhundert überregionale Verbreitung, sowohl auf dem Balkan als auch in Galizien und in den Karpaten. Die Metropoliten Varlaam und Dosoftei sowie die Chronisten Ureche und Costin brachten die Märtyrerlegende des Johannes durch ihre Schriften erneut in Erinnerung. Nun erst verbreitete sich auch das Patrozinium, und Johannes dem Neuen wurden einige Kirchen geweiht. b) Die Johannesverehrung in Galizien (1686–1783) Angeblich um die kostbare Reliquie vor marodierenden Soldaten zu schützen, nahm der Metropolit Dosoftei, der Johannes den Neuen 1686/88 in seinem Werk Leben und Taten der Heiligen erwähnte, den Heiligenschrein 1686 mit ins galizische Exil nach Žovkva, wo er 1693 starb. Johannes genoß dort große Verehrung im Volk und Dosoftei die Protektion des Landesfürsten Johann III. Sobieski, der angeblich auch Unionspläne mit den benachbarten Ostkirchen hegte. Bis zum Jahr 1783 verblieb der Schrein des Johannes in Galizien. c) Johannes der Neue von Suceava als Patron der Bukowina Zur feierlichen Wiedereinsetzung des Reliquienschreins in Suceava nach fast 120 Jahren des „Exils“ wurde die inzwischen bei den Moldauern verblaßte Johannes-Memoria im nunmehr habsburgischen Kronland Bukowina abermals neu funktionalisiert: In Erinnerung an seinen ehemaligen Status als Patron des gesamten Fürstentums Moldau und dessen alter Hauptstadt erklärte man Johannes den Neuen zum „Patron der Bukowina“ und bestätigte seinen zweiten Beinamen „von Suceava“. Diese ‚Repatriierung‘ des Johannes 657

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wurde 1990 von der rumänischen orthodoxen Kirche als „eine wahre Wundertat des Heiligen“ gedeutet, als „göttliche Belohnung und ein Zeichen der Hoffnung angesichts der Glaubensstärke unseres Volkes“. Gleiches gilt für eine zweite Auslagerung des Johannesschreins in den Jahren 1915 bis 1918 nach Wien. Das geschah fürsorglich, um ihn vor russischen Truppen zu schützen. Reliquienraub war noch in der Zeit des Ersten Weltkriegs nichts Ungewöhnliches, wie die nächtliche Entfernung des Basarabov-Schreins aus der Bukarester Metropolitankirche durch bulgarische Soldaten zeigte. Traditionelle Formen der Volksfrömmigkeit, die von der orthodoxen Kirche aktiv unterstützt wurden, breiteten sich in Rumänien seit der politischen Wende von 1989/90 wieder verstärkt aus. Dazu gehörten die käufliche Fürbitte am Schrein der neuen rumänischen Heiligen, aber auch die sommerliche Wallfahrt zur heiligen Paraskeva in Jassy, zur heiligen Philophteia in Curtea de Argeş und ebenso zu Johannes dem Neuen in Suceava. Sie alle werden inzwischen von Rumänen aus dem ganzen Land wahrgenommen, obwohl Johannes früher außer im rumänischen Klerus wohl nur in der Moldau und in der Bukowina bekannt gewesen war. Die neuen orthodoxen Wallfahrten wurden als Volksfeste gestaltet. Sie sind vergleichbar mit katholischen Wallfahrtsorten in Rumänien wie Csíksomlyo und Maria Radna. In dem 1990 neu herausgegebenen Akathist für Johannes den Neuen klingt durch, daß der Landespatron der Moldau den gläubigen Rumänen auch die Zeit des Kommunismus zu überwinden geholfen habe: „Freue dich, daß wir durch dich hoffen dürfen, von Ungemach und allen Übeln befreit zu werden. […] Du heldenhafter Soldat Christi hast Ihn gewählt und deinen Sinn nicht geändert, du hast mit noch mehr Hingabe zu Ihm gebetet, damit er dir bis zum Ende Geduld schenken möge. So beten auch wir, die wir durch deine Gebete gestärkt wurden.“ Der Neumärtyrer Johannes der Neue von Suceava wurde im Juni 1992 von der orthodoxen Kirche als „rumänischer Heiliger“ kanonisiert. Wie weitere etwa vierzig durch diesen Synodalakt heiliggesprochene Mönche und Geistliche wurde er nun explizit zu einem nationalen „rumänischen Heiligen“, und als solcher wird auch sein Kult heute von der Kirche instrumentalisiert.

V. Auswahlbibliographie a) Quellen Măčenia Svatago i slavnago măčenica Ioanna Novago ije vă Bălgradă măčevšago să, săpisano Grigoriu monahă i presviterom vă velikoi cărkvi Moldavvlaskoi [Das Martyrium des heiligen und gepriesenen Märtyrers Ioan Novy, der sein Martyrium in Bălgrad fand, aufgeschrieben von dem Mönch und Lehrer der ruhmreichen Moldaukirche, Grigorij]. (Handschrift) Neamţ 1439; varlaaM: Cazania [Predigtenbuch]. Iaşi 16�3; dosoftei: Vieţile şi petrecerea sfinţilor [Das Leben und Tun der Heiligen]. Iaşi 1682–1686; ureche, Grigore: Letopiseţul Ţării Moldovei [Chronik des Fürstentums Moldau]. Hg. v. Petre P. panaitescu. Bucureşti 1955; rusev, Pen’o/davidov, Angel: Grigorij Camblak v Rumynija i v starata rumynska literatura [Grigorij Camblak in Rumänien und in der alten rumänischen Literatur].

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Johannes der Neue von Suceava Sofia 1966; Minei pe luna iunie [Menaion für den Monat Juni]. Bucureşti 1978; deMciuc, Vasile M.: Viaţa, minunile şi Acatistul Sf. Mare Mucenic Ioan cel Nou de la Suceava, cu un scurt istoric privind Mănăstirea Sf. Ioan cel Nou [Leben, Wunder und Akathist des heiligen großen Märtyrers Johannes des Neuen von Suceava mit einer kurzen Geschichte des Klosters zum heiligen Johannes dem Neuen]. Suceava 1990.

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Stefan der Große I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) 1504–1821. – b) Von 1821 bis zur Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der weite Weg zur Erhebung des moldauischen Woiwoden Stefan III. zum kultisch verehrten Volksheiligen „heiliger Fürst Stefan“ (sveti Ştefan vodă) folgte sowohl oraler als auch gelehrter Überlieferung. Sie galt einem rumänischen Herrscher aus dem Mittelalter, dessen siebenundvierzigjährige Regierungszeit allein schon außergewöhnlich war, sowie dem liturgisch verfestigten kulturellen Gedächtnis an einen frommen Kirchen- und Klosterstifter, dessen Name auf den „Stiftertafeln“ (pomelnic) mehrerer Moldauklöster vermerkt war. Sein Wappen zierte ab 1463 viele der von ihm gestifteten sakralen Geräte und Bauwerke in der Moldau und auf dem Athos. Auf einer Ofenkachel aus Suceava, die wohl aus dem 16. Jahrhundert stammt, wurde der gut erkennbare Fürst mit Nimbus dargestellt – eine sonst erst im späten 20. Jahrhundert anzutreffende Bildgestaltung. Zeichen wie die Stiftertafeln oder Klostertypare belegen die früh einsetzende liturgische Memoria in der Moldau wie auf dem Athos und insbesondere im ehemals bulgarischen Kloster Zograf, das Stefan III. jährlich mit 100 ungarischen Dukaten bedachte. Reisende berichteten im 16. Jahrhundert auch von einer oralen Lokaltradition aus dem späten 15. Jahrhundert, den Heeresführer im Zeichen des heiligen Georg „heiliger Heerführer“ (sveti voevod) zu nennen. Dem tapferen Landesfürsten, dem Schlachtenheld und Kirchenstifter galt die von Stefan III. selbst initiierte und auf diplomatischen Kanälen auch in die Nachbarländer gelangte Hofchronistik, die sich im 17. und 18. Jahrhundert in der gelehrten Landeshistoriographie verfestigte. Die fortan modellbildende rumänischsprachige Verschriftlichung von Leben und Taten Stefans III. erfolgte um 1645 in der Moldauchronik des Grigore Ureche Letopiseţul Ţării Moldovei (Chronik der Geschichte der Moldau). Sie zeichnete ein teils kritisches, teils romantisch verklärtes Bild, das fortan den Kern des Stefan-Narrativs bildete, ergänzt um eine 17�3 aufgezeichnete Legendensammlung des Moldauchronisten Ion Neculce O samă de cuvinte (Eine Sammlung von Worten), die unter anderem durch den Archimandriten Vartolomei Măzereanu tradiert wurde. Stefans III. kanonische Sakralisierung an seinem Grab im Kloster Putna erinnerte 1992 zwar an die heiligen Fürsten und Könige des Mittelalters, für die orthodoxe Kirche Rumäniens stand jedoch ein nationales Moment, der „rumänische Heilige“, im Mittelpunkt. Begleitet von Kritik an der stellenweise theatralischen Art der Inszenierung wurde dieses in der Presse viel beachtete Ereignis als „letzter Sieg“ Stefans III. gepriesen. Daß dieser Fürst die Moldau aus der Schutzherrschaft der katholischen Nachbarländer Ungarn und Polen und der Tributabhängigkeit von den „Ungläubigen“ befreit habe, was 661

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Ureche schon um 1645 angedeutet hatte, war der mythisierenden Überhöhung Stefans im 19. Jahrhundert geschuldet. Dagegen blieb der überlieferte Ehrenname Athleta Christi (den Papst Sixtus IV. 1�77 in einem Brief an Stefan verwendete, so, wie es die Römische Kurie vor ihm schon mit anderen Türkenkämpfern – Johann Hunyadi oder Georg Kastriota, genannt Skanderbeg – gehalten hatte) nicht im kulturellen Gedächtnis der Moldauer haften. Er wurde erst im 20. Jahrhundert wieder entdeckt und dem nationalen Stefanskult hinzugefügt. Versuche, Stefan III. zusammen mit Michael dem Tapferen in moderne Herrschaftsideologien zu integrieren, waren wenig erfolgreich. II. Leben Die Kindheit und Jugend Stefans III. fielen in eine gefahrvolle, von Kämpfen unter den zahlreichen Nachfahren Fürst Alexanders des Guten um die Herrschaft der Moldau dominierte Zeit. Das auf Geblütsrecht beruhende dynastische Prinzip des os domnesc (wörtlich „Fürstenknochen“), vergleichbar der „heiligen Rebe“ bei den Serben, wurde unpräzise gehandhabt. Es schloß eheliche wie uneheliche Erben eines Fürsten ein und setzte unter Prätendenten und Nachbarstaaten immer wieder ein Karussell um Macht und Einfluß in Bewegung. Ein Opfer dieser Machtkämpfe wurde nach kurzer Herrschaft auch Stefans Vater Bogdan II., der 1449 unter dem Schutz des Woiwoden von Siebenbürgen, Johann Hunyadi, den Moldauthron eingenommen, 1�51 aber von Peter Aron aus der Gegenpartei unter seinen Verwandten ermordet wurde. Wo Stefan im Exil gewesen war, bis er 1�57, von Süden her kommend, Fürst Peter Aron besiegen und aus dem Land jagen konnte, ist nicht bekannt. Stefan wurde von treuen Bojaren zum Fürsten erhoben – ein besonderes, über die bischöfliche Salbung hinaus gehendes Einsetzungsritual wurde um 1�57 in der Moldau noch nicht praktiziert. Der jugendliche Fürst beherrschte fast ein halbes Jahrhundert lang das Land zwischen den Ostkarpaten und den Flüssen Dnjestr, Milcov sowie der unteren Donau. Von 1465 bis 1�8� gehörten auch die beiden Häfen Chilia und Akkerman zur Moldau – Stefan hatte Chilia Matthias Corvinus entrissen –, aber die Osmanen eroberten schließlich 1�8� beide Häfen, um sie auf Dauer zu behalten. Dadurch wurden die Fernhandelsbeziehungen der Moldau empfindlich gestört. Ein diplomatischer Ausgleich mit dem Osmanischen Reich wurde immer dringlicher und kam schließlich 1�86, Ungarn einschließend, zustande. Die tributpflichtige Moldau gehörte ab dann zum Einflußbereich der Hohen Pforte. Stefan III. verstand es, seine Herrschaft zu festigen, die Landesgrenzen, den Handel und die Beziehungen zu den katholischen Nachbarstaaten durch geschicktes Taktieren zu konsolidieren, ehe er daran ging, von der Moldau beanspruchte Gebiete, wie den Hafen Chilia oder Pokutien, zu erobern. Einzelne Festungsbauten wie Suceava, Neamţ, Chilia und Akkerman wurden erneuert, neue wie Roman und die Grenzfestungen Chotyn, Soroca und Bender entlang der Ostgrenze errichtet. Der Schirmherrschaft Polens und Ungarns wie auch der Tributleistung an den Sultan konnte Stefan sich nur vorübergehend entziehen, aber daß er es immer wieder versuchte, trug ihm Bewunderung auch 662

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Die Abbildung zeigt Stefan III. den Großen, als er die dem heiligen Georg geweihte Kirche im Kloster Voroneţ stiftet. Das Fresko entstand kurz nach der Errichtung des Gebäudes im Jahr 1�88. Bildnachweis: Privatarchiv Krista Zach.

in Westeuropa ein. Wann und von wem er den Beinamen „der Große“ erhielt, kann aus den Quellen geklärt werden. Das Epitet tauchte schon kurz nach Stefans Tod 1510 in einem internen, moldauischen, 1517 in einem deutschen und 152� in einem polnischen Dokument und 1517 bereits in einem deutschen Reisetagebuch auf. Nach der letzten verlorenen Schlacht gegen die Osmanen in Războieni 1�86 schloß Stefan III. mit Matthias Corvinus und Sultan Mehmed II. einen dauerhaften Frieden. Zeitgleich damit begann seine beachtliche Stiftertätigkeit daheim. Insgesamt 23 der von ihm gestifteten und erneuerten Kirchen und Klöster sind noch erhalten, acht allein im Bezirk und dem Umland der Landeshauptstadt Suceava. Vor 1�86 lag nur die erste und bedeutendste Stiftung Stefans III., Kloster Putna, eine Neustiftung (1�66–1�69) neben der alten Holzkirche. Sie wurde auch zu seiner Grablege und der seiner engeren Familie. So konnte Putna nach dem Tod des Fürsten 150� für dreieinhalb Jahrhunderte zum Hauptort der liturgisch unterlegten Memoria für ihn werden. Nach langer Pause folgten auf Putna ab 1�87 weitere Stiftungen, darunter die Heilig-Kreuz-Kirche Pătrăuţi, Sf. Ilie 663

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Suceava, Voroneţ (1�88), Războieni, Dobrovăţ (1503), Volovăţ sowie die fürstlichen Stadtkirchen (alle um 1�90/1500) in Vaslui und Hârlău, die Nikolauskirchen in Jassy, Dorohoi und Popăuţi (bei Botoşani), sowie Piatra Neamţ, die Bogdanakirche in Radautz und andere. Das Bemerkenswerte an der Verteilung der Stiftungen ist, daß viele von ihnen entweder an Handelsorten oder Handelswegen lagen oder eine bedeutende Nebenfunktion als Stapelstellen für Handelswaren hatten. Sie waren folglich Orte der Begehrlichkeit und wurden häufig überfallen – auch deshalb war ihre Absicherung durch festungsartige Ummauerungen erforderlich. Die Anfänge der Fassadenbemalung in der Moldau gehen ebenfalls auf die letzten Jahre Stefans III. zurück, so in Popăuţi (1�96). Die frommen Stiftungen Stefans III. erreichten über die Moldau hinaus nicht nur den Berg Athos. Zuwendungen in Form von Geldhilfen und liturgischen Gerätschaften erhielten auch andere Stätten der Orthodoxie im osmanischen Herrschaftsbereich. Es war ein auf Gegenseitigkeit beruhender Brauch, Gaben auszutauschen, den mehrere rumänische Fürsten pflegten. Für die gewährten Zuwendungen erhielten sie meist Reliquien der zahlreich vorhandenen Neuheiligen, so etwa kostbare Athoskreuze und anderes mehr. III. Verehrung Die säkulare wie religiöse Memoria Stefans III. war in der Zeit um 1600 durch drei unterschiedliche Schwerpunkte gekennzeichnet, ausgehend von volkstümlicher Legendenbildung zur Schaffung eines nationalen Mythos und schließlich der Heiligsprechung. Die Nachwirkung der von Stefan III. angeregten, aber unvollständig erhaltenen Hofchronistik ist schwer einzuschätzen. Sie wurde zum Teil in ausländischen Chroniken in kirchenslawischer, deutscher, russischer und polnischer Sprache überliefert und zeigt das Bild eines mutigen, aber ungestüm zuschlagenden und jähzornigen Kriegsherrn und Landesfürsten, dem auch seine Gegner Anerkennung zollten. In der einheimischen Chronistik und Sagenwelt begann der Stefan-Mythos bereits im 17. und 18. Jahrhundert Gestalt anzunehmen. Ein Bauernvolk habe seinen bedeutendsten und hoch verehrten Fürsten schon bald nach dessen Tod in das Reich der Wundertätigkeit und der Legenden versetzt. Den Kern aller späteren Stefan-Narrative bildete die chronistische Darstellung Grigore Ureches. Er beschrieb die Gestalt, den Mut, die Geschicklichkeit Stefans III. in Kampf, Diplomatie und Menschenführung, seine Stifter- und Wohltätigkeit, vergaß aber auch, die bald einsetzende Verehrung des Verstorbenen durch das Volk hervorzuheben. Die Memoria Stefans des Großen stellte sich bei genauerer Betrachtung als ein vierfach gestufter Prozeß mit einigen Brüchen dar. In ihr flossen religiöse und säkulare Elemente der Verehrung zusammen, kaum aber mündliche Volksdichtung. Von den Hauptorten der Erinnerungskultur in den Stefans-Klöstern nach dem Tod des Fürsten ausgehend, findet sie heute in einem dreidimensionalen, vernetzten kulturellen Erinnerungsraum rumänischer und orthodoxer Traditionspflege statt. 664

Stefan der Große

a) 1504–1821 Als die zeitlich beständigste Ebene ist das liturgisch fixierte Gedächtnis an den fürstlichen Stifter in einigen der von ihm errichteten Kirchen und Klöster der nördlichen Moldau an den Anfang zu stellen. Es ging sehr wahrscheinlich vom Kloster Putna, dem Ort von Stefans Grab, aus. Aber auch die Typare anderer von Stefan III. gegründeter Klöster belegen, daß dort für ihn die Stiftermesse zur „ewigen Erinnerung“ gebetet wurde. Daß des Stifters und Wohltäters Stefan III. auf dem Athos, im serbischen Kloster Hilandar, gedacht wurde, bezeugen einige erst kürzlich dort erschlossene Dokumente. Hierher gehören, die Erinnerung an „Stefan-vodă“ unterstützend, auch die in vielen Stefans-Klöstern bis heute noch gut erkennbaren Stifterbilder im Naos, die den Fürsten mit seiner Familie zeigen. Den gleichen Zweck mögen von Stefan III. manchen Moldaukirchen gestiftete liturgische Geräte erfüllt haben, die gut sichtbar sein Wappen zeigen. Diese Formen des Gedächtnisses dürften nicht auf wenige sie handhabende Kleriker beschränkt geblieben sein, sondern haben Stefan einer größeren Zahl von Menschen im Umkreis dieser Klöster und in den Stadtkirchen in der Erinnerung bewahrt. Eine Abbildung des Klosters Putna von etwa 1851 mit dem Hinweis auf „eine Wallfahrt zum Mausoleum Stefans des Großen“ läßt offen, ob es sich um eine kontinuierliche Wallfahrt handelte. Auch die säkulare Memoria blieb vielgestaltig. Sie wurde schon zu Lebzeiten des Fürsten durch die Hofchronistik unterstützt. Diese wie auch die bezeugte orale Übermittlung von Kloster- und Familientraditionen an die Moldauchronisten Ureche, Costin, Neculce und Măzereanu bildeten nach 1650 den Grundstoff der gelehrten Überlieferung, die zunächst wohl nur wenigen zugänglich war. Die staatlich gelenkte Memoria setzte ein, als die europäischen Schutzmächte ab 1821 den beiden Donaufürstentümern wieder Herrscher aus einheimischen Bojarengeschlechtern zugestanden. Damit erfolgte eine rasch voranschreitende Besinnung auf historische Traditionen. Es wird berichtet, daß eine Abbildung Stefans des Großen in Bukarest bei der Einsetzung der einheimischen Hospodare in sie legitimierender Absicht gezeigt worden sei. Hiermit begann die Karriere Stefans III. als rumänischer Nationalpatron. b) Von 1821 bis zur Gegenwart In den folgenden Jahrzehnten nahm Stefan der Große in der staatlich gelenkten Memoria einen immer deutlicher erkennbaren Raum ein. Im säkularen Erinnerungskult um den Moldaufürsten als „Nationalhelden“ der Rumänen mischte sich seit dem frühen 19. Jahrhundert nationale mit religiöser Symbolik. Dafür bedurfte es keines gänzlich neuen Erinnerungsnarrativs mit einem von Stefan zu beschützenden Volk und auch keines neuen Frömmigkeitsraumes, beides wurde lediglich von der Moldau mit Schwerpunkt Bukowina auf die beiden Donaufürstentümer und nach 1918 auf Großrumänien übertragen. Eine weitere räumliche Ausweitung wurde seit 1992 – mit einem passend auf diesen neuen Staat der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) verkürzten Narrativ – in der 665

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Republik Moldau inszeniert. Hier stand Stefan III. als „Wahrer der Unabhängigkeit des Landes“ im Mittelpunkt. Stefan der Große trat im öffentlichen Raum in Form von Benennungen wichtiger Straßen und Plätze oder von Institutionen wie Schulen und Vereinen in Erscheinung, aber auch in Form von Denkmälern. Einige davon, wie das große Reiterstandbild in Jassy, wurden aus Spenden der Bevölkerung errichtet. Geschichts- und Literaturlehrbücher aller Schultypen verbreiteten und festigten seine Memoria, dabei dem Stefans-Narrativ Ureches folgend. Auf Wunsch Bukarester Politiker sollten der seit 1866 herrschenden deutschen Dynastie der Hohenzollern-Sigmaringer Stefan der Große und Michael der Tapfere als ihre „Vorfahren“ zugeschrieben werden, um eine einheimische Legitimierung herzustellen, aus der eine Herrschaftsideologie zu konstruieren versucht wurde. Dieses Unterfangen wie auch die Suche nach „Stefanskronen“ in Museen von Krakau, Budapest und Wien entbehrte nicht des Lächerlichen, doch haben alle Mitglieder der Dynastie in der einen oder anderen Art und Weise aktiven Anteil an der Stefansverehrung genommen. Selbst der kommunistische Parteiführer Nicolae Ceauşescu suchte 1966 die Nähe der nationalen Symbolfigur – im „Goldenen Buch“ von Putna fand sich sein wohl formulierter Eintrag zu einer ansonsten völlig geheim gehaltenen Visite am Grab Stefans. Seit 18�5 bestand bei rumänischen Intellektuellen und Schriftstellern wie Mihai Kogălniceanu, Ion Slavici oder Mihail Eminescu der Wunsch, Stefan den Großen mit symbolträchtigen Festlichkeiten zu ehren, an denen möglichst viele Rumänen aus allen Provinzen teilnehmen sollten. Der moderne säkulare Staatskult um Stefan den Großen begann 1871 an seinem Grab im Kloster Putna. Dazu sandte selbst Kaiser Franz Joseph von Österreich eine Grußadresse und einen Ehrenkranz in sein Kronland Bukowina. Die Ehrung des Fürsten wurde seither mit verschiedenartigen Inszenierungen und Buchpublikationen fortgesetzt, mit besonderen Höhepunkten in Gedenkjahren wie 190�, 1957 und 200�. Im Jahr 2007 wurde im Fürstenkloster Putna eine Forschungsstelle zum Studium der historischen Person und Symbolgestalt Stefans III. in der Erinnerungskultur eingerichtet, die eine Zeitschrift (Analele Putnei) und eine Buchreihe herausgibt. Zum 400. Todestag Stefans wurde 1904 dem ganzen Königreich Rumänien, der Anregung des Unterrichtsministers Spiru Haret folgend und unter Federführung des Nationalhistorikers Nicolae Iorga, eine dreitägige Veranstaltung mit Fahnen, Umzügen, Militärparaden, Ansprachen und Chören amtlich verordnet. Ein Jahrhundert später hielten sich die Feierlichkeiten zum 500. Todestag demgegenüber in Grenzen. Dafür erschienen zahlreiche Monographien und Sammelbände mit neuen und weiterführenden Forschungen zur historischen Person wie zur Memoria Stefans III. Die Zahl der Einzelstudien, Biographien und literarischen Werke, deren Thema oder Held Stefan der Große ist, kann kaum mehr überschaut werden. Die moderne rumänische Literatur wurde durch Dichtung (Vasile Alecsandri: Dumbrava Roşie [Roter Eichenwald], 1872), Dramen (Barbu Ştefănescu Delavrancea: Apusul de Soare [Der Sonnenuntergang], 1909), Romane (Mihail Sadoveanu: Fraţii Jderi [Die Gebrüder Marder], 1934, Izvorul Alb [Die weiße Quelle], 1935) und zahlreiche Biographien zu Stefan III. bereichert. 666

Stefan der Große

Die Kanonisation Stefans des Großen zum rumänischen Heiligen fand am 21. Juni 1992 nach dem Beschluß des Heiligen Synods in Bukarest statt und wurde in Putna an seinem Grab zwei Wochen danach in Anwesenheit der rumänischen Geistlichkeit, auch aus der Republik Moldau und dem ukrainischen Czernowitz, sowie meist post-kommunistischer politischer Prominenz feierlich inszeniert. Eine Delegation des Athosklosters Vatopedi hatte ein Partikel der dort aufbewahrten Reliqiue vom „Wahren Kreuz Christi“ überbracht. Eine neu entworfene Stefans-Ikone und ein Akathist (Lobgesang oder Hymnus, Teil der Horologien für das Stundengebet) im byzantinischen Stil wurden zelebriert. Als Gedenktag bestimmte man den 2. Juli, nebst Eintragung in den Synaxar. Eine entsprechende Wallfahrt zu diesem Datum hatte sich schon früher zu bilden begonnen. Seit der Kanonisation sind bereits neue Kirchen mit Stefans Patrozinium geweiht worden. V. Auswahlbibliographie a) Chroniken, liturgische Texte, Legendendichtung necuLce, Ion: O samă de cuvinte [Eine Sammlung von Worten]. In: ders.: Letopiseţul Ţării Moldovei [Chronik der Moldau]. Hg. v. Iorgu iordan. Bucureşti 1955, 105–122; ureche, Grigore: Letopiseţul Ţării Moldovei [...] de la Dragoş Vodă până la Aron Vodă [Chronik der Moldau (...) von Fürst Dragoş bis Fürst Aron]. Hg. v. Petre P. panaitescu. Bucureşti 21958 [11955]; papacostea, Şerban: Bibliografia istorică a epocii lui Ştefan cel Mare [Historische Bibliographie zum Zeitalter Stefans des Großen]. In: berza, Mihai (Hg.): Cultura moldovenească în timpul lui cel Mare. Bucureşti 196�, 6�1–675; Actul sinodal al Bisericii Ortodoxe Autocefale Române privind canonizarea unor sfinţi români [Synodaldokument der autokephalen orthodoxen rumänischen Kirche über die Kanonisation von rumänischen Heiligen]. In: Biserica ortodoxă română �0/7–10 (1992) 7–17; ureche, Grigore: Letopiseţul Ţării Moldovei [...] de la Dragoş Vodă până la Aron Vodă [Chronik der Moldau (...) von Fürst Dragoş bis Fürst Aron]. Hg. v. Dan Horia MaziLu. Bucureşti 2003; Acte şi discursuri de la Serbarea Pomenirii lui Ştefan cel Mare [Dokumente und Reden von den Feierlichkeiten zum Gedenken an Stefan den Großen]. Putna 2009.

b) Darstellungen papacostea, Şerban: Stephen the Great, Prince of Moldavia 1�57–150�. Bucureşti 1996; MurGescu, Mirela-Luminiţa: Intre „bunul creştin“ şi „bravul român“. Rolul şcolii primare în construirea identităţii naţionale româneşti, 1831–1878 [Zwischen dem „guten Christen“ und dem „tapferen Rumänen“. Die Rolle der Volksschule für die Konstruktion nationaler rumänischer Identität, 1831–1878]. Iaşi 1999; binder iiJiMa, Edda: Die Institutionalisierung der rumänischen Monarchie unter Carol I., 1866–1881. München 2003; zaharciuc, Petronel/văcaru, Silviu (Hg.): Ştefan cel Mare la cinci secole de la moartea sa [Fünf Jahrhunderte seit dem Tod Stefans des Großen]. Iaşi 2003; szeKeLy, Maria Magdalena: Ştefan cel Mare şi Sfânt. Portret în istorie [Stefan der Große und Heilige. Sein Bild in der Geschichte]. Putna 2003; Ştefan cel Mare şi Sfânt. Atlet al credinţei creştine [Stefan der Große und Heilige. Athleta Christi]. Putna 200�; popa, Anghel: National Feasts at Putna. Câmpulung Moldovenesc 200�; theodorescu, Răzvan/soLcanu, Ion/siniGaLia, Tereza: Artă şi civilizaţie în timpul lui Ştefan cel Mare [Kunst und Zivilisation in der Zeit Stefans des Großen]. Bucureşti 200�; szeKeLy, Maria Magdalena: Ştefan cel Mare şi cultul Sfintei Cruci [Stefan der Große und der Kult des Heiligen Kreuzes]. In: Analele

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Johannes von Dukla I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Kanonisation. – IV. Erinnerungsgestaltung. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Erinnerung an Johannes von Dukla spielt seit dem Mittelalter für das Selbstverständnis Polens und auch der heutigen Westukraine eine herausgehobene Rolle. Sie ergibt sich daraus, daß der Kult des Johannes gerade unter den spezifischen konfessionellen Bedingungen im Osten der polnischen Adelsrepublik – mit dem Zusammenleben besonders von Katholiken, Orthodoxen und Armeniern – eine hohe gesellschaftliche Bindekraft entfaltete. Eine reiche Schriftproduktion zu Johannes von Dukla sowie Kirchenbauten, Bildnisse, Prozessionen und aufwendig gefeierte Jubiläen zu seinen Ehren zeugen von der schicht- und konfessionsübergreifenden Funktion des Kultes. Letztes herausgehobenes Zeichen für eine seit fünf Jahrhunderten währende Wirkungsgeschichte ist die Heiligsprechung durch Johannes Paul II. im Jahr 1997. II. Leben Johannes wurde um 1414 in Dukla geboren, einem Ort an der Südgrenze des Bistums Krakau in Kleinpolen. Weder die Namen der Eltern noch das genaue Geburtsdatum sind aus den Quellen zu ermitteln. Auch über die Ausbildung herrscht weitgehend Unklarheit; angenommen werden kann, daß Johannes im nahegelegenen Krosno die Pfarrschule besuchte, während die Angabe, daß er an der Krakauer Universität studiert habe, erst in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts erscheint (und damit dem Kontext der frühen Versuche einer Heiligsprechung zuzurechnen ist). Der geistliche Werdegang führte Johannes zunächst in ein Franziskanerkloster, möglicherweise das in Krosno; das Eintrittsjahr dürfte zwischen 1434 und 1440 gelegen haben. Die für die Franziskaner jener Zeit übliche Ausbildung setzte Johannes in einem anderen Kloster derselben Kustodie fort, in Lemberg. Das Datum der Priesterweihe ist unbekannt; im Orden wirkte Johannes von 1��3 bis 1�61 als Beichtvater, Prediger und mehrfach gewählter Guardian (Klostervorsteher). Seine Karriere gipfelte im Amt des Vorstands der Kustodie, die aus sieben Klöstern mit Hauptsitz im Heiligkreuz-Kloster in Lemberg bestand. Die Hauptaufgabe der Franziskaner in der „russischen Kustodie“ war missionarischer Natur: Es galt, die orthodoxen Ruthenen in den Ostgebieten der Adelsrepublik zum Katholizismus zu bekehren. 1�61 wurde Johannes zum Prediger in der Kirche zum Heiligen Geist in Lemberg ernannt, deren überwiegende Klientel aus dem deutschsprachigen Patriziat der Stadt kam. Von daher ist die Annahme plausibel, daß er die deutsche Sprache beherrscht haben muß. 669

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Aus dieser Phase ist außerdem sein soziales Engagement bekannt: Johannes gehörte einer Kommission an, die sich darum bemühte, die Lasten der Einwohner eines Klosterdorfes bei Lemberg zu erleichtern. Für das Jahr 1463 ist mit dem Wechsel zu den Minderbrüder-Observanten ein Einschnitt im Leben des Johannes von Dukla zu verzeichnen. Diese Ordensrichtung firmiert in Polen nach dem Namen des Bernardino von Siena als „Bern(h)ardiner“ und war dort erst seit kurzem präsent, das heißt seit dem Auftreten Johannes Kapistrans im Jahr 1�53. Das Kloster in Lemberg wurde 1460 erbaut. Johannes hat bei den Observanten insgesamt 21 Jahre verlebt, darunter einige Zeit in Posen, bevor er in das Kloster zum Heiligen Andreas in Lemberg eintrat. Johannes war bis zu seinem Tod im Jahr 1�8� als Prediger und Beichtvater tätig, bekleidete jedoch keine Ämter mehr, so daß er in den offiziösen Schriftstücken (Urkunden, Ordenskonstitutionen etc.) nicht auftaucht. Wohl gegen Ende seines Lebens ist Johannes erblindet; seine Grabstätte befand sich in der Klosterkirche in Lemberg. Eine angeblich bestehende Sammlung von Predigten und selbstverfaßten Gebeten des Johannes von Dukla ist nie aufgetaucht. Dies sowie die Tatsache, daß die erste biographische Skizze erst Jahrzehnte nach seinem Tod – von dem Ordensbruder Johannes von Komorowo im Jahr 1521 – verfaßt wurde, lassen Johannes als historische Gestalt eher blaß erscheinen. Die gleichwohl unübersehbare Präsenz ergibt sich aus der Verehrungsgeschichte; vor allem die überquellende Schriftproduktion im Zuge von zwei langwierigen Prozessen zuerst der Seligsprechung und dann der Heiligsprechung hat wesentlich dazu beigetragen. Alle näheren Angaben zu Vita und Spiritualität des Johannes von Dukla entspringen diesen späteren Überlieferungsschichten und sind zeitgenössisch nicht belegbar. III. Kanonisation Dem Mangel an historischen Tatsachen korrespondiert eine ausgesprochene Fülle in der Verehrungsgeschichte zu Johannes von Dukla. Schon vom Jahr 1�86 an sind Bemühungen der Bernardiner belegt – bis hin zu einem förmlichen Antrag bei Papst Innozenz VIII. –, den Leichnam des Johannes „erhöhen“ und damit den Kult billigen zu lassen. Doch zog sich der Abschluß der Prozedur bis 1521 hin, als der Provinzial Johannes von Komorowo eine Visitation in Lemberg durchführte. 1615 begann der Seligsprechungsprozeß, angestoßen vom Lemberger Erzbischof Jan Andrzej Próchnicki und unterstützt nicht nur vom Orden, sondern auch von König Zygmunt III. Wasa sowie einer Anzahl von Senatoren und dem Sejm. Eigens zu diesem Zweck eingerichtete Tribunale führten in insgesamt vier Etappen umfangreiche Zeugenbefragungen zu den Wundern, aber auch zur Verehrungswürdigkeit des Johannes insgesamt durch (1615–1619, 1625–1630, 16�3–16�9, 1727–1729). Allein aus den fünf Jahren der zweiten Kampagne resultierten 1.341 Folioseiten Akten, die 1630 der Kongregation nach Rom geschickt wurden. Sein Ende fand das Verfahren 1731 in Lemberg beziehungsweise 1733 in Rom unter Papst Clemens XII. Derselbe Papst erhob Johannes 670

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im Jahr 1739 – auf Antrag des polnischen Wettiner-Königs August III., einer Reihe von Bischöfen und Kathedralkapiteln sowie des Lemberger Magistrats – zum Patron von Polen und Litauen. Im Jahr darauf erfolgte die Umbettung der Gebeine in ein silbernes Sarkophag-Reliquiar sowie die Exposition auf dem Altar in der Lemberger Bernardinerkirche. Papst Benedikt XIV. gewährte 17�2 zu Ehren von Johannes einen Generalablaß für die Oberservantenklöster in Polen. Der Prozeß der Heiligsprechung wurde schon wenige Jahre nach der Seligsprechung von den Bernardinern in Angriff genommen. 175� richtete der polnische König August III. eine entsprechende Bitte an den Heiligen Stuhl, die 176� von König Stanisław August erneuert und von den im Sejm versammelten Ständen bekräftigt wurde. Die Teilungen Polens nach 1772 und der Josephinismus in Galizien verhinderten eine Fortführung des Vorhabens. Auch die vermehrten Anstrengungen in Richtung Heiligsprechung, die zu den runden Jubiläen unternommen wurden (188� zum �00. Todestag und 1933 zum 200. Jahrestag der Beatifikation), brachten nicht den gewünschten Erfolg. Der blieb der Nachkriegszeit vorbehalten: 19�7 legte die Ordensprovinz der Bernardiner ein entsprechendes Gesuch vor, das im Jahr darauf vom polnischen Episkopat mit einer Bitte an den Heiligen Stuhl flankiert wurde und den apostolischen Prozeß super miraculo in Gang setzte. 1997 wurde der Heiligsprechungsprozeß unter Papst Johannes Paul II. zum Abschluß gebracht. IV. Erinnerungsgestaltung Die mediale Präsenz des Johannes von Dukla ist zunächst in der Schriftform ausgeprägt. Die erste, knappe Lebensbeschreibung durch Johannes von Komorowo ist in dessen Ordensgeschichte der Bernardiner eingebettet und bildet keine eigenständige Vita, sondern das Produkt der kollektiven Memoria einer religiösen (Reform-)Gruppe. Der Entstehungshintergrund dürfte in dem seit 1�86/87 aktenkundig gewordenen Begehren der Lemberger Bernardiner bestehen, Johannes als Heiligen zu etablieren. Bezeichnend für diese frühe Stufe der schriftlichen Überlieferung ist, daß schon hier von Wunderheilungen gesprochen wird, die über das geistliche Milieu hinausgingen. Auch wenn sich die weitere Kultexpansion nicht geradlinig entfaltete, dürfte die soziale Differenzierung ein Hauptgrund für das rasche Anwachsen des Kultes gewesen sein – und sie ist zweifellos ein Signum der Kultgeschichte des Johannes insgesamt. Hinzu kommt die räumliche Expansion: Daß sich Menschen nicht nur aus Lemberg, sondern auch aus anderen Orten Ostpolens oder Rutheniens an seinem Grab zum Gebet einfanden, ist ein Topos bereits der frühesten Verehrungsstufe vor 1615. Dabei ist freilich die Attraktivität des Verehrten nicht zu trennen von der Attraktivität des Ordens schlechthin; die Bernardiner als ein gerade im städtischen Milieu Ostpolens ungewöhnlich erfolgreicher Orden stellten gewissermaßen den Rahmen zur Verfügung, in dem sich die Verehrung des Johannes von Dukla abspielen konnte. Was davon auf die individuelle Leistung des einzelnen Ordensbruders zurückgeht und was eher als Aner671

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kennung für die kollektive Leistung der Gruppe der Bernardiner in Lemberg zu werten ist, entzieht sich beim gegenwärtigen Forschungsstand der Kenntnis. Angesichts geringer subjektiver Zutaten im Heiligenprofil des Johannes darf man die These wagen, daß seine Verehrung gewissermaßen pars pro toto steht, und damit gerade nichts Außergewöhnliches anzeigt, sondern etwas Typisches – nämlich die Fähigkeit der Franziskaner-Observanten, auf die spirituellen Bedürfnisse der Stadtbewohner in Ruthenien einzugehen. So dürfte es kein Zufall sein, daß sich der Kult des Johannes zunächst verstärkt unter der Stadtbevölkerung und weniger im Adel und der Landbevölkerung verbreitet hat. Erst als der Seligsprechungsprozeß in Gang gesetzt war, drang der Kult signifikant in die Adelshöfe und die Bauernhäuser vor. Daneben steht eine unübersehbare Präsenz unter den Soldaten, was vornehmlich damit zu tun hatte, daß die Bernardiner eine ganze Reihe an Feldkaplänen stellten, die im 16. Jahrhundert aufgrund der zahlreichen Kriege, in die Polen verwickelt war, recht häufig zum Einsatz kamen. Ebenfalls noch aus der Zeit vor der Seligsprechung stammen die Belege für die transkonfessionelle Komponente der Johannes-Verehrung: Schon Johannes von Komorowo spricht davon, daß auch Orthodoxe und (monophysitische) Armenier von Wunderheilungen am Grab des Johannes profitiert hätten. Dieser Hinweis bildet einen Beleg für die Akzeptanz des Verehrten, die mindestens bis in die Randbereiche der Konfessionen reichte (zu den seit Florenz 1439 formell unierten Orthodoxen und Armeniern), vielleicht sogar darüber hinaus (zu den nichtunierten Orthodoxen und Armeniern). Die im ruthenischen Raum vorgenommenen neuen Unionen von Brest 1595/96 (für die Orthodoxen) und Lemberg 1635 (für die Armenier) könnten auch der Verehrung des Johannes von Dukla einen neuen Schub verliehen haben. Andere als schriftliche Zeugnisse sind für das 16. Jahrhundert selten. Zu registrieren sind immerhin drei gemalte Darstellungen im Presbyterium der Lemberger Bernardinerkirche, die älteste in „griechischem Stil“. Erst nach der Seligsprechung verbreiteten sich Porträts von Johannes in Privatbesitz – unter den Bürgern genauso wie in der Szlachta. Der Neubau der Bernardinerkirche in Lemberg nach 1600 (mit 57,5 Metern Länge ein ungewöhnlich großer Bau) ist nicht unwesentlich von dem Kronschatzmeister Mikołaj Daniłowicz gefördert worden, der als glühender Verehrer des Johannes galt. 1608 wurde im Zuge des Kirchenneubaus auch eine neue Grabstätte errichtet, und die Reliquien darin erhielten einen Prachtsarkophag. Die Votivtafel in der armenischen Kirche in Lemberg, die Erzbischof Mikołaj Torosowicz 1632 bei einem Dankgottesdienst zu Ehren der wundertätigen Einflußnahme des Johannes zeigt, sowie ein weiteres Votivbild in der Lemberger Bernardinerkirche, das König Jan II. Kazimierz Wasa aufgrund einer Fürsprache des Johannes aus dem Jahr 1634 gestiftet hat, weisen auf die konfessions- und ständeübergreifende Bedeutung des Verehrten paradigmatisch hin. Beide Votivgaben wurden noch im 17. Jahrhundert angefertigt und gehören in den Kontext einer reichen Produktion in dieser Gattung der Bildmedien; die Zeugnisse in der Bernardinerkirche Lembergs reichen vom ausgehenden 15. bis zur Mitte des 18. Jahrhunderts. Außer von hohen Würdenträgern sind sie von Stadthonoratioren und Handwerkern verschiedener Zünfte gestiftet worden, mit anhaltender Tendenz: So hat man für 1643 rund 100 Bilder, für 1728 bereits 18� Bilder ermittelt. 672

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Eine neue Dynamik erhielt der Kult durch die politischen Ereignisse in der Mitte des 17. Jahrhunderts. Als 16�8 der große Aufstand der Kosaken ausbrach und Hetman Bohdan Chmeľnyc’kyj zusammen mit verbündeten Tatarentruppen vor den Toren Lembergs stand, entfaltete man eine intensive Gebetsaktivität am Grab des Johannes von Dukla, dessen Kirche an der Stadtmauer lag und für die erwartete Eroberung eine strategische Schlüsselposition einnahm. Das Verschonen Lembergs wurde dann konsequent auf die Fürsprache Johannes’ zurückgeführt, und der Bericht von einer physischen Erscheinung des Verehrten führte zu einer Verstärkung des Kults. Herrscherbesuche setzten ein, wobei Johann II. Kasimir Wasa bereits als Thronfolger schon vor 16�8 das Grab des Johannes besucht hatte. 1649 kam er, nun als König, zum zweiten Mal; und auch die nächsten beiden polnischen Könige, Michał Korybut Wiśniowiecki und Johann III. Sobieski, pilgerten zu dem Grab. Wohl aus dieser Zeit datiert eine Porträtdarstellung an der Rathauswand von Lemberg, die die Unterschrift Beatus Joannes de Dukla Inquillinus Urbis trägt. Damit ist auch darauf verwiesen, daß Johannes nicht aus Lemberg stammte, sondern ein „zugewanderter Bürger“ war. Auch wenn die Seligsprechung zuvorderst einAnliegen des Ordens war – und ihres herausragenden Repräsentanten in der „Sachsenzeit“, Jan Kapistran Korab Wdziekoński –, zog das Geschehen seine Kreise doch weit darüber hinaus. Der ganze Prozeß bestand aus der Anhörung von Zeugen des Kults einerseits und der Sammlung und Untersuchung relevanten Materials andererseits; dabei ging es um schriftliche Quellen, aber auch um Bildwerke, Votivgaben und Reliquien. Der Seligsprechungsprozeß mobilisierte also zunächst einmal das vorhandene Potential der Verehrung in sozialer und materieller Hinsicht, zum anderen stimulierte er die weitere Produktion. Bemerkenswert ist, daß die ersten – zunächst anonymen – Lebensbeschreibungen zu Johannes etwa drei Jahrzehnte nach der Seligsprechung erschienen. Bis in die Zwischenkriegszeit des 20. Jahrhunderts hinein sind rund dreißig solcher Biographien publiziert worden, die im Anspruch nichtwissenschaftlich sind und damit eine eigene, publikumsträchtige Form der Verehrung markieren. Die transkonfessionelle Bedeutung des Johannes kam auch in dieser Phase zum Tragen. So verfaßte der Bernardinische Historiker und Prokurator der Seligsprechung, Cyprian Damirski, eine Predigt mit dem Titel Thaumaturgus Russiae, die 1672 von Mikołaj Popławski, dem späteren Lemberger Erzbischof, vor dem König gehalten wurde. Bezeichnend für die ständische und konfessionelle Reichweite ist die Reihe der Zeugen, die Wdziekoński als Förderer für den letzten vorbereitenden Akt der Seligsprechung auftreten ließ: Von der Seite der Geistlichkeit benannte er den armenischen Erzbischof, zwei lateinische Kapitularkanoniker, einen Pfarrer und einen armenischen Priester, als weltliche Zeugen den rotreußischen und podolischen Wojewoden, einen königlichen Hofmarschall, zwei Szlachtitzen und einen Lemberger Schöffen. Nachdem die Beweisaufnahme unter der Leitung des Lemberger Erzbischofs 1729 abgeschlossen und die Akten nach Rom geschickt worden waren, wurden auch noch der König selbst (August II. der Starke) und Maria Leszczyńska, die Gemahlin des französischen Königs Ludwig XV., als Fürsprecher beim Papst gewonnen. Damit ist deutlich, daß die Propagierung des 673

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Johannes-Kults eine Angelegenheit aller Stände geworden war und die Bedeutung des prospektiven Heiligen längst über den regionalen Rahmen hinausgewachsen war. Kein Widerspruch dazu ist, daß Johannes ganz offensichtlich als Repräsentant einer Region wahrgenommen wurde; die anhaltende Unterstützung des Erzbischofs von Lemberg, Jan Skarbek, dürfte sich daraus erklären. Johannes von Dukla war der erste offiziell Seliggesprochene aus diesem Teil der Rzeczpospolita, dem erst 1790 Jakub Strepa als zweiter Patron der Erzdiözese folgen sollte. Mit dem neuen Seligen wurde also ganz offenkundig auch das Gewicht Rotreußens als eines Bestandteils der Krone Polen aufgewertet. Dazu fügt sich organisch die päpstliche Erhebung Johannes’ zum Patron Polens und Litauens im Jahr 1739, die von einer konzertierten Aktion von Königtum und katholischer Hierarchie (unter Beteiligung der Stadt Lemberg) ausgegangen war. Mit diesem Resultat war ein vorläufiger Höhepunkt der Verehrung von Johannes erreicht. Abgesehen von einem Bedeutungsanstieg für die Lemberger Bernardiner und einer verstärkten Präsenz des Johannes in Predigten und bei Prozessionen in Lemberg, entfalteten die bald einsetzenden Anstrengungen in Richtung Heiligsprechung (ordensseitig begonnen noch unter Wdziekoński und fortgesetzt von Wenanty Tyszkowski) einen weiteren Verehrungsschub von großer sozialer Reichweite. Nicht nur wurde der König (August III.) aktiv, sondern auch die Szlachta erhielt vom Orden gezielte Anstöße, sich für die Kanonisation einzusetzen. Der Beschluß des polnischen Sejm 176�, beim Heiligen Stuhl wegen der Heiligsprechung des Johannes vorstellig zu werden, fiel mit der Wahl des neuen Königs Stanislaus II. August Poniatowski zusammen. Allerdings verursachten die politische Lage (Konföderation von Bar, schließlich die drei Teilungen Polens 1772–1795) und die Existenzsorgen der Lemberger Bernardiner einen Abbruch dieser Bemühungen. Ein eigener Schauplatz der Verehrung wurde der Geburtsort Dukla im Gebiet der Niederen Beskiden, unweit der Grenze zur Slowakei (Woiwodschaft Krosno). Getragen von der Familie Dźwig, ist ein Gedenken dort seit dem 16. Jahrhundert nachweisbar, und seit dem 17. Jahrhundert wurde das angebliche Geburtshaus Johannes’ in die lokale Memoria mit einbezogen. Nach der Seligsprechung kam es sogar zur Errichtung eines eigenen Bernardinerklosters. Die Förderer waren der ehemalige Provinzial Ignacy Orłowski und der Großkronmarschall Józef Mniszek, was erneut auf die sowohl geistliche wie weltliche Komponente der Kultpropagierung verweist. Die noch 1772 vorgenommene Barockisierung der Fassade des Baus von 176� ging ebenfalls auf Kosten Mniszeks. Von den Reliquien des Johannes wurden zwei Partikel in einem förmlichen Verfahren nach Dukla geholt (17�3 und 1770), ein eigener Altar zu seinen Ehren errichtet, und 1827 bemühte man sich, einen Generalablaß aus Rom dafür zu bekommen. Die zweite religiöse Einrichtung in Dukla geht auf das Konto von Maria Amalia Mniszkowa, geborene Brühl, und bestand aus einer kleinen Kirche in den Wäldern nahe Dukla (1769), ein Ort, mit dem sich die Überlieferung verband, daß Johannes hier Zeiten der Einsamkeit verbracht habe – deshalb „Wildnis“ (Puszcza) genannt. Die Teilnahme der griechisch-katholischen Gemeinde an der Eröffnungsprozession weist darauf hin, daß die Verehrung des Johannes auch hier ein Anliegen der Unierten gewesen ist. 67�

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Johannes von Dukla predigt vor (unierten) Armeniern und Orthodoxen. Gemälde von Tadeusz Popiel in der Bernardinerkirche zu Dukla, um 1904. Bildnachweis: Leopolien[sis] canonizationis beati Joannis de Dukla Sacerdotis professi Ordinis Fratrum Minorum (vulgo Bernardinorum) (1414–1484) De vita et virtutibus. Cracoviae 1993, Tab. XXXVI.

Die Erstellung von figürlichen Denkmälern reicht noch länger zurück: 1736 ließ Seweryn Michał Rzewuski, Hetman der Krone Polen, auf dem Platz vor der Bernardinerkirche in Lemberg ein Standbild des Johannes von Dukla errichten. Weitere figürliche Darstellungen finden sich bei den Bernardinerkirchen von Dukla und Rzeszów. In einem gewissen, verglichen mit der Frühen Neuzeit allerdings reduzierten Umfang setzte sich die künstlerische Produktion für den Verehrten bis ins 20. Jahrhundert hinein fort. Ausweis dessen sind eigenständige Darstellungen Johannes’ wie durch Jan Matejko in einem Ölgemälde von 1885, aber auch in weiteren Kunstwerken in und um Dukla. Der Matejko-Schüler Tadeusz Popiel befaßte sich zu Beginn des 20. Jahrhunderts wiederholt mit einzelnen Sujets aus der Vita des Seligen, zum Beispiel der Predigttätigkeit vor Armeniern und Orthodoxen sowie der Rettung Lembergs vor den Kosaken und Tataren. Włodzimierz Tetmajer, ein anderer Schüler Matejkos, nahm Johannes in sein 1905 ge675

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schaffenes Monumentalgemälde Coelum Polonorum in der Sophienkapelle der Krakauer Kathedralkirche auf. Motiv war hier die Patronatsfunktion des Johannes für Polen und Litauen, die sich offenbar gut in den religiös-patriotisch-volkstümlichen Duktus des Gesamtwerks einfügte. Aus der Zeit um 1905 und wieder 1925 stammt die Darstellung des Johannes in einer Kirche sowie einer Kapelle des griechisch-katholischen Ritus. 1946 wurden die Reliquien des Verehrten aus Lemberg in die Kirche der Bernardiner in Rzeszów transferiert. 197� erfolgte dann die Überführung in das Bernardinerkloster von Dukla und die Aussetzung in der ihm geweihten Kapelle. Die Vierhundertjahrfeier des Todes von Johannes von Dukla 188� gestaltete sich in Lemberg als ein gesamtstädtisches Ereignis, an dem die geistlichen Einrichtungen, die Stadtverwaltung, die Universität, Handwerker- und Gewerbevereinigungen, dazu zahlreiche auswärtige Besucher teilnahmen. Auch hier ist wieder die Trias aus lateinischen, armenischen und orthodoxen Glaubensgemeinschaften auffällig. Ähnlich aufwendig verliefen die Feierlichkeiten zur Zweihundertjahrfeier der Seligsprechung 1933. Von der symbolischen Präsenz des Seligen in diesem Zeitabschnitt zeugen mehrfache Namensgebungen. So wurden noch gegen Ende des 19. Jahrhunderts drei Kapellen in Ostgalizien mit seinem Patrozinium ausgestattet: zwei in Dörfern bei Kolomyja, in denen die Bernardiner die Pfarreirechte besaßen, und eine in Ostriv. Am Ende des Jahrhunderts wurde in Lemberg auch eine Straße nach ihm benannt. Selbst in der Zeit des Zweiten Weltkriegs und der deutschen Okkupation ist eine anhaltende Verehrung belegt, so daß Johannes wohl zu Recht als der für die Region Kleinpolen-Ruthenien wichtigste Heilige gilt, der aus dem Mittelalter stammt. Die geographische Verteilung seines Kultes weist ein klares Zentrum im südlichen Kleinpolen mit dem Dreieck Krakau-Dukla-Rzeszów aus, wobei auch in der heutigen Westukraine eine Reihe von Kultorten mit einzubeziehen ist. Dabei geht es nicht nur um die in Lemberg vorhandene, multimediale und zeitübergreifende Verehrung, symptomatisch erscheint gerade die Präsenz in kleineren Orten wie Žydačiv, Sokaľ oder Terebovlja. Auch wenn die Bestrebungen zur Heiligsprechung nach 19�7 eine Angelegenheit vor allem der Krakauer Niederlassung des Ordens waren – einschließlich der Herausgabe der Positio von 1993 als einziger moderner Quellensammlung –, ist die integrative Funktion des Erinnerungsortes Johannes von Dukla für den polnisch-ukrainischen Grenzraum seit Jahrhunderten ein Faktum. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Johannes von KoMoroWo: Memoriale ordinis fratrum minorum. In: lisKe, Xawery/LorKieWicz, Antoni (Hg.): Monumenta Poloniae Historica, Bd. 5. Lwów 1888, 2�6–2�9; Leopolien[sis] canonizationis beati Joannis de Dukla Positio super dubio an constet de cultu ab immemorabili tempore dicto beato exhibito et casu [...] excepto a decretis Urbani papae VIII in casu. Romae 1732; Konstytucje sejmu walnego, 3 XII 176�. Postanowienie wniesienia prośby o kanonizację Jana z Dukli [Konstitution des Sejm vom 3.12.176�. Beschluß der Einbringung der Bitte um Heiligsprechung des Johannes von Dukla].

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Johannes von Dukla In: Volumina legum, Bd. 7. Petersburg 1860, 168; KędziersKi, Fidelis: Pamięci bł. Jana z Dukli w dwuwiekową rocznicę beatyfikacji 1733–1993 [Zum Gedenken an den seligen Johannes von Dukla im 200. Jahr seiner Seligsprechung 1733–1933]. Lwów 1933; Leopolien[sis] canonizationis beati Joannis de Dukla. Positio super reassumptione causae. Romae 19�8; Leopolien[sis] canonizationis beati Joannis de Dukla Sacerdotis professi Ordinis Fratrum Minorum (vulgo Bernardinorum) (1�1�–1�8�). De vita et virtutibus. Cracoviae 1993.

b) Darstellungen prochasKa, Antoni: Bł. Jan z Dukli [Der selige Johannes von Dukla]. Lwów 1919; KubaLa, Ludwik: Oblężenie Lwowa w roku 16�8. Szkice historyczne [Die Belagerung von Lemberg im Jahr 16�8. Historische Skizzen]. Warszawa 1923; bosteL, Ferdynand: Kolumna bł. Jana z Dukli we Lwowie [Die Säule des seligen Johannes von Dukla in Lemberg]. In: Księga pamiątkowa ku czci Oswalda Balzera, Bd. 1. Lwów 1925, 75–88; KantaK, Kamil: Les donnés historiques sur les bienheureux Bernardins (Observants) polonais. In: Archivum Franciscanum Historicum 22 (1929) 433–461; ders. u. a.: Kościół i klasztor Bernardynów w Krakowie [Kirche und Kloster der Bernardiner in Krakau]. Kraków 1938; MańKoWsKi, Tadeusz: Kościół Bernardynów we Lwowie [Die Bernardinerkirche in Lemberg]. In: Dawna Sztuka 1 (1938) 317; boGdaLsKi, Czesław: Jan z Dukli. Wspomnienia z jego życia i czci pośmiertnej [Johannes von Dukla. Erinnerungen aus seinem Leben und seinem Wirken nach dem Tod]. Dukla 61938 [Kraków 1 1903]; KotuLa, Franciszek: Z dziejów Rzeszowa 1939–1944 [Aus der Geschichte von Rzeszów 1939– 19��]. Rzeszów 19�7; WyczaWsKi, Hieronim: Bł. Jan z Dukli. Życie i cześć pośmiertna [Der selige Johannes von Dukla. Leben und Andenken nach dem Tod]. Kraków 1957; WyczaWsKi, Hieronim/GustaW, Romuald: Jan z Dukli [Johannes von Dukla]. In: Hagiografia Polska, Bd. 1. Poznań 1971, 587–602; WyczaWsKi, Hieronim: Bł. Jan z Dukli [Der selige Johannes von Dukla]. In: Polscy święci, Bd. 3. Warszawa 198�, 133–18�; ders.: Klasztory bernardyńskie w Polsce [Die Bernardinerklöster in Polen]. Kalwaria Zebrzydowska 1985; ders.: Jan z Dukli [Johannes von Dukla]. In: Nasi Święci. Poznań 1995, 27�–281; MuraWiec, Wiesław: Franciszkańska minoritas w życiu i działalności bł. Jana z Dukli [Die Franziskanerkonventualen in Leben und Werk des seligen Johannes von Dukla] (1�1�–1�89). In: Folia historica Cracoviensia 3 (1996) 37–51; WyczaWsKi, Hieronim/MuraWiec, Wiesław: Święty Jan z Dukli (ok. 1�1�–1�8�) [Der heilige Johannes von Dukla (ca. 1�1�–1�8�)]. Kraków 1997; traJdos, Tadeusz M.: Dobroczyńci mendykantów średniowiecznego Lwowa [Wohltäter für die Mendikanten im mittelalterlichen Lemberg]. In: KuczyńsKi, Stefan (Hg.): Społeczeństwo Polski średniowiecznej. Zbiór studiów. Warszawa 1999, 219–254; niezGoda, Cecylian: Św. Jan z Dukli w klastorze franciszkanów w Krosnie [Der heilige Johannes von Dukla im Kloster der Franziskaner zu Krosno]. In: Przegląd Kalwaryjski 9 (2005) 61–67; obruŚniK, Efrem Andrzej: Ikonografia św. Jana z Dukli. Wybrane zagadnienia [Die Ikonographie des heiligen Johannes von Dukla. Ausgewählte Probleme]. In: Przegląd Kalwaryjski 9 (2005) 7–50; isaevyč, Jaroslav u. a. (Hg.): Istorija Ľvova [Geschichte Lembergs], Bd. 1: 1256–1772. Ľviv 2006; MuraWiec, Wiesław/MusKus, Damian (Hg.): Pięcset pięćdziesiąt lat obecności Bernardynów w Polsce [550 Jahre Anwesenheit der Bernardiner in Polen] (1�53–2003). Kraków 2006.

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Johannes Bugenhagen I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Rezeption und Memoria. – a) Populäre Wirkung. – b) Schriftliche und nicht-schriftliche Erinnerung. – c) Wissenschaftliche Bearbeitung. – IV. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Johannes Bugenhagen bildete mit Martin Luther und Philipp Melanchthon seit den 1520er Jahren in den Augen der Zeitgenossen den theologischen Mittelpunkt der Wittenberger Reformation. Bugenhagen wurde seit Mitte des 16. Jahrhunderts in zahlreichen norddeutschen und skandinavischen Landeskirchengebieten als Ordner des lutherischen Kirchenwesens erinnert. Diese Erinnerung an den niederdeutschen „Reformationsorganisator“ setzt sich bis in die Gegenwart fort. Entsprechend erscheint er in regionalen Bildüberlieferungen Norddeutschlands und Dänemarks bevorzugt im Kirchenvater-Typus, mehrfach als Mitglied einer Kirchenväter-Galerie, beispielsweise in Braunschweig und Roskilde. Infolge innertheologischer Streitigkeiten geriet dagegen bald nach Luthers Tod 1546 seine mittel- beziehungsweise ostmitteleuropäische Bedeutung als „Bischof der Reformation“ weitgehend aus dem Blickfeld. Jedoch sorgte der ihm von den Reformatoren frühzeitig beigelegte Ehrenname „(Dr.) Pommer/D. Pomeranus“ für die dauerhafte Regionalisierung seines Gedächtnisses, besonders nachhaltig in seiner namensgebenden Herkunftslandschaft. Seit dem 18. Jahrhundert wachsen die regionalen Rückbezüge auf Bugenhagen. Die Exilierung der Mehrheit der pommerschen Bevölkerung infolge des Zweiten Weltkrieges trug dazu bei, daß die Erinnerung an ihn auch im Westen Deutschlands gepflegt wurde. In jüngerer Zeit erfuhr Bugenhagen in Polen, im Baltikum und in Siebenbürgen gleichfalls neue Aufmerksamkeit. II. Leben Johannes Bugenhagen (1�85–1558) wurde als Sohn des Ratsherrn Gerhard Bugenhagen in der Stadt Wollin auf der gleichnamigen pommerschen Insel geboren. Von 1502 bis 1504 studierte er an der Artistenfakultät der Universität Greifswald und wurde 1504 zum Rektor der Stadtschule in Treptow an der Rega berufen. Seit 1505 ist er als öffentlicher Notar nachgewiesen, 1509 wurde er zum Priester geweiht. Lehrgeschick und Bildungsprofil trugen seiner Schule einen hervorragenden Ruf ein. Sie zog auch Schüler aus Westfalen und Livland an. Bugenhagens langjähriger Subrektor Andreas Knopken aus Küstrin wurde später Reformator in Livland. Kontakte zum Münsteraner Humanisten Johannes Murmellius führten ab 1511 zu Bugenhagens erstem literarischen Projekt, einer lateinischen Grammatik. 1517 wurde er Dozent für die Novizen des benachbarten Prämonstratenserkonvents Belbuck und verfaßte im Auftrag Herzog Bogislaws X., ba678

Johannes Bugenhagen

sierend auf einer Forschungsreise durch die Archive und Bibliotheken des Landes, eine umfassende historische Landeskunde Pommerns in lateinischer Sprache, die Pomerania (1518), die freilich erst 1728 zum Druck gelangte. Um 1520 wurde Bugenhagen mit den theologischen Frühschriften Luthers bekannt und schloß sich nach anfänglichem Zögern der frühen Reformationsbewegung an. Aus seinem Belbuck-Treptower Freundeskreis ging in kurzer Zeit eine stattliche Reihe von Reformatoren des Ostseeraums hervor. Bugenhagen selbst wechselte 1521 nach Wittenberg, wo er im Haushalt Melanchthons wohnte. Neben seinem Theologiestudium war er zugleich in den akademischen Vorlesungsbetrieb eingebunden. 1523 erhielt er das Wittenberger Stadtpfarramt, wurde 1533 promoviert und zwei Jahre später auf eine neue Professur für Bibelexegese berufen. Durch seinen 152� gedruckten Psalmenkommentar bekannt, war Bugenhagen in Hamburg und Danzig im Gespräch für Pfarrstellen. Zusammen mit Luther und Melchior Hoffmann verfaßte er im September 1525 das Sendschreiben an die Christen in Livland. Intellektuelle Einflüsse Bugenhagens auf die Reformationsgeschichte Liv- und Kurlands, besonders Rigas, waren bereits mit seinem Vorwort zu Knopkens Römerbriefkommentar 1524 öffentlich geworden. Als einziger Wittenberger Reformator, dem das Niederdeutsche als Muttersprache geläufig war, avancierte Bugenhagen zum gefragten und diplomatisch geschickt vorgehenden Reformator des „niedersassischen“ (plattdeutschen) und dänischen Sprachraums. Auf dem Landtag von Treptow 1534, der die Einführung der lutherischen Lehre in Pommern beschloß, wirkte er als Berater der pommerschen Herzöge. Ausgehend vom Sendschreiben an die Hamburger Vom christlichen Glauben und den rechten guten Werken (1525/26) entstanden in langer Folge Kirchenordnungen, so auch für Pommern (1535) und für viele norddeutsche Städte. Die Systematik seiner Ordnungen, die nicht nur die Kirchenverhältnisse, sondern auch die Sozialfürsorge und das Bildungswesen regelten, wurde für weite Teile des Hanseraums stil- und traditionsbildend. Hiermit war eine vielseitige Politikberatung verbunden, besonders intensiv für den dänischen König und die sächsischen und pommerschen Herzöge. Mit der Entstehung der Wittenberger Zentralordination 1535 wurde Bugenhagen für fast zwei Jahrzehnte (1539–1557) zum wichtigsten Ordinator des Luthertums. Er weihte in dieser Zeit knapp 1.500 Pfarrer, darunter auch vierzig „Ungarn“. Er hielt Briefkontakte zu siebenbürgischen Reformatoren und wurde ausweislich der regionalen Bibliotheksüberlieferung als Theologe und Exeget von den Zeitgenossen relativ breit rezipiert. Ihm wuchs so eine Schlüsselstellung für die geistliche Personalentwicklung in zahlreichen Territorialkirchen Europas zu, deren Wirkungen bis nach Finnland und Siebenbürgen zu verfolgen sind. Seit den 1520er Jahren, besonders im Umfeld des Schmalkaldischen Krieges, produzierte er mehrere Sendschreiben und Hirtenbriefe, die auch an die Nachbarterritorien Böhmen, Schlesien und die Lausitzen adressiert waren, gelegentlich sogar Bezug zu England und Livland hatten. Bugenhagens bischofsgleiches Ansehen dokumentierte sich nicht zuletzt in dem dreimaligen Versuch, ihn auf vakante Bischofsstühle bedeutender Diözesen zu wählen: Ribe (1539), Schleswig (1541) und Cammin (1544). Bugenhagen lehnte jedoch jedes Mal zugunsten seines „Bistums“ Wittenberg ab. 679

Irmfried Garbe

Nach Luthers Tod geriet Bugenhagen zusammen mit Melanchthon in die Kritik der Gnesiolutheraner. Eine Kompromißhaltung gegenüber dem kaiserlich verordneten Interim trug beiden den Makel des Verrats ein, was Bugenhagens Ansehen nachhaltig und dauerhaft schädigte. Mit seinem letzten Kommentar zum Buch Jona holte er zu einer Generalrechtfertigung aus (1550). Danach setzte der allmähliche Verfall seiner geistigen und körperlichen Kräfte ein. Bugenhagen starb am 20. April 1558. Sein Grab mit einer plastisch gestalteten Grabplatte und einem biblisch-theologischen Epitaph (Arbeiter im Weinberg) aus der Werkstatt von Lucas Cranach dem Jüngeren befindet sich in der Wittenberger Stadtkirche. III. Rezeption und Memoria a) Populäre Wirkung Aus Bugenhagens umfangreichem Werk überlebten, abgesehen von den im 19. und 20. Jahrhundert neu edierten Kirchenordnungen, lediglich die plattdeutsche Gesamtbibelübersetzung (Erstauflage Lübeck 1533/3�) sowie seine Passionsharmonie (zuerst lateinisch 152�). Die plattdeutsche, sogenannte Bugenhagenbibel, an der der Pommer als projektbegleitender Redaktor beteiligt war, erlebte 25 Auflagen und wurde mangels plattdeutscher Übersetzungsalternativen in niederdeutschen Familien teilweise bis an die Schwelle des 20. Jahrhunderts benutzt. Sie hinterließ in ihrem hanseatischen Wirkungsraum besonders während des 16. Jahrhunderts zahlreiche sprachgeschichtliche Spuren, die sich bis in skandinavische Bibelübersetzungen hinein verfolgen lassen. Weitreichender noch war die Wirkung von Bugenhagens Passionsharmonie Historia des Leydens und der Auferstehung unseres Herrn Jesu Christi, die als das maßgebliche Volksbuch des Reformationszeitalters bezeichnet worden ist. Von ihr sind heute noch neun lateinische, sieben fremdsprachige und 67 deutsche Ausgaben (36 hochdeutsch, 31 niederdeutsch) bekannt. Die fremdsprachigen Ausgaben verteilen sich auf Sprachbereiche Nord- und Ostmitteleuropas: fünf dänische (alle 16. Jahrhundert), eine isländische (1558) und eine polnische (1615) Übersetzung. In den Gesangbuchtraditionen des niederdeutsch-skandinavischen Sprachraums erlebte Bugenhagens Bestseller in Gestalt von Gesangbuchanhängen teilweise bis ins späte 19. Jahrhundert zahlreiche gekürzte Nachauflagen, faktisch bis 1902 in allen Gesangbüchern Dänemarks sowie in vielen Ausgaben Schwedens, Finnlands, Islands und Grönlands. In Ostpreußen und im Baltikum wanderten einige Abschnitte in die lutherischen Agenden ein. Die im 20. Jahrhundert vorgelegten populären Editionen von Bugenhagens Kirchenordnungen erreichten dagegen jenseits der Fachkreise keine große Leserschaft.

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Johannes Bugenhagen

b) Schriftliche und nicht-schriftliche Erinnerung Bereits 1528 fixierte Bugenhagen in seiner Braunschweiger Kirchenordnung einen Festtag zum Gedenken an den Reformationsbeginn in der Stadt Braunschweig. Dasselbe wiederholte sich in den Kirchenordnungen für die Reichsstädte Hamburg und Lübeck. Damit entstand eine frühe Reformationsgedächtniskultur. Bugenhagen kann als deren Begründer gelten. Diese Reformationsgedenktage waren zeitlich noch nicht vereinheitlicht. Sie bezogen sich auf die zufälligen Bestätigungsdaten der lokalen Kirchenordnungen. Als lokale Feiern hatten diese Reformationserinnerungen auch noch nicht den Charakter eines protestantischen Einheitsfestes. Dazu bedurfte es eines gemeinsamen Fixpunktes, an dessen Stelle nach 1546 Martin Luther rückte. Bereits in der pommerschen Kirchenordnung von 1563 wurden am Geländer der Lutherbiographie die klassischen Reformationsgedenktage fixiert: 18. Februar – 31. Oktober – 10. November. Erst ab Mitte des 17. Jahrhunderts verstetigte sich von Sachsen ausgehend der 31. Oktober als Reformationsgedenktag (Edikt von 1667). Obwohl den Zeitgenossen der enge Zusammenhang von Luther, Bugenhagen und Melanchthon für die Festigung der Reformation klar vor Augen stand, verlor sich die Gestalt des Pomeranus relativ bald aus den Reformationserinnerungen. Der um 1540 entstandene Bildtypus des Wittenberger Reformatorentrios (Luther, Bugenhagen, Melanchthon) lief bereits gegen Ende des 16. Jahrhunderts aus und kehrte erst in historistischer Gestalt am Ende des 19. Jahrhunderts wieder. Die bildliche Überlieferung Bugenhagens verlagerte sich in den niederdeutsch-skandinavischen Raum und zeigt Bugenhagen zumeist als „Kirchenvater“, mehrfach in einer Kirchenväter-Galerie (so in Braunschweig und Roskilde). Während Luther und Melanchthon auf Erinnerungsmedaillen des 17. Jahrhunderts zuhauf überliefert sind, findet sich für Bugenhagen offenbar nur eine einzige (Dänemark). Der Begründer des Reformationsgedenkens fiel gleichsam aus der allgemeinen Reformationserinnerung heraus. Seine Memoria blieb regional begrenzt, verstetigte sich aber in den niederdeutschen Hansestädten, in Pommern und in Dänemark. Hier wurde das Bugenhagenbild durch Historiker wissenschaftlich bearbeitet. Der niederdeutsche Theologe David Chyträus konnte für die ausführlichen Bugenhagen-Informationen in seiner Vandalia (1. Auflage 1599) noch Zeitzeugenerinnerungen gewinnen. Mit dem Großen Pomrischen Kirchen-Chronicon (1628) des Stettiner Theologen Daniel Cramer beginnt, auf dem Schema von Melanchthons Bugenhagen-Nachruf aufbauend, die wissenschaftliche Biographik des Pomeranus. Ausgehend von ihren Darstellungen kam es um 1700 im hansisch-pommersch-dänischen Raum zu einer ersten Welle einer wissenschaftlichen Bugenhagen-Memoria, die öffentliche Feier-Akte und bildliche Reformationsgedächtnisse nach sich zog. 1730 wurde in St. Nikolai zu Hamburg das Wittenberger Reformatorentrio kulissenartig vergegenwärtigt. Das älteste Bugenhagen-Denkmal (1781) befindet sich im Denkmalspark von Jægerspris auf Seeland (Dänemark), das zweitälteste im vorpommerschen Greifswald am sogenannten Rubenowdenkmal (185�/56) vor dem Universitätshauptgebäude, wo Bugenhagen die theologische Fakultät repräsentieren soll. 681

Irmfried Garbe

Der während des 19. Jahrhunderts wachsende konfessionelle Bezug auf die Reformation kam der Memoria Bugenhagens zugute. Nach Luther (1821) und Melanchthon (186�) wurde in Wittenberg 189� auch für den Pomeranus eine Büste aufgestellt – als Ersatz für das seit seinem �00. Geburtstag überlebensgroß geplante Denkmalpendant zu Luther und Melanchthon. Bugenhagens Präsenz im öffentlichen Raum setzte sich im 19. und 20. Jahrhundert stetig fort. 2008 erinnerten an ihn 18 Denkmäler, mindestens 17 Kirchen und sechs Schulen, davon eine in Amsterdam. Darüber hinaus gibt es eine unbekannte Anzahl an kirchlichen Bugenhagen-Gemeindehäusern. Bugenhagenstraßen und -plätze existieren zur Zeit in 21 norddeutschen Orten, darunter in Greifswald, Halle an der Saale und Wittenberg. Öffentliche Pomeranus-Markierungen im heutigen Polen finden sich derzeit nur in seiner Geburtsstadt Wollin, alle ehemaligen Markierungen (Stettin, Treptow, Köslin) wurden dagegen getilgt. In Timmendorf und Hamburg gibt es Bugenhagen-Internate, außerdem „Bugenhagen-Häuser“ in mehreren Alten- und Pflegeheimkomplexen. 2002 wurde in Wittenberg die alte Superintendentur als „BugenhagenHaus“ konzipiert und 2008 als Tagungszentrum eingeweiht. Neben diesen Formen öffentlicher Memoria finden sich auch symbolische: Im Raum der hamburgisch/nordelbischen Kirche wird seit 1959 als höchste landeskirchliche Auszeichnung die „Bugenhagenmedaille“ für gemeindliche Verdienste verliehen. In Braunschweig (19�7), Hannover (1999) und Pommern (2007/08) gibt es landeskirchliche „Bugenhagen-Stiftungen“ in Gestalt zweckgebundener Fonds. 2010 wurde für St. Nikolai zu Greifswald eine „Bugenhagenglocke“ gegossen und in Betrieb genommen. Die Bühnen- und Literaturgeschichte kennt mehrere Bugenhagen-Stücke. Inwiefern die aus der Nordelbischen, Mecklenburgischen und Pommerschen Kirche 2012 neu entstandene „Evangelisch-Lutherische Kirche in Norddeutschland“ an der Bugenhagen-Memoria weiterbaut, wird sich zeigen. Anzeichen dafür gibt es zahlreiche. Heute ist deutlich: Der Erinnerungsort Bugenhagen befindet sich weiter in Bewegung. c) Wissenschaftliche Bearbeitung Die Konjunktur der wissenschaftlichen Bugenhagen-Forschung ist seit dem frühen 19. Jahrhundert an Jubiläumsdaten gekoppelt. Jeweils im Turnus von fünfzig Jahren des Gedenkens seines Geburts- beziehungsweise Sterbejahres, seltener auch anläßlich der Gedenkjubiläen des Reformationsbeginns (1817, 1917) häufen sich die BugenhagenForschungen. In den letzten hundert Jahren hat die relative Nähe seines Geburtsjahres zu den Lutherjubiläen die wissenschaftliche Beschäftigung deutlich intensiviert. Auf regionaler Ebene stimulierten außerdem die für einzelne Territorien etablierten Einführungsjubiläen seiner Kirchenordnungen die Auseinandersetzung mit Bugenhagen. Das spiegelt sich literarisch auch in den Jubiläumsderivaten in der populärhistorischen Publizistik wider. Zuletzt war das anläßlich seines �50. Todestages zu beobachten. Erstmals fanden 2008 auch im heute polnischen Teil Pommerns (Wollin, Treptow an der Rega) Veranstaltungen zu seinen Ehren statt. 682

Johannes Bugenhagen

Johannes Bugenhagen von einem unbekannten polnischen Künstler am vermuteten Standort des ehemaligen Geburtshauses in Wollin, heute ul. Wojska Polskiego 13, Flachrelief aus Eichenholz, ca. 20 x 35 cm, entstanden nach 2000. Bildnachweis: Foto: Irmfried Garbe, 2008.

Thematisch hat sich die wissenschaftliche Rezeption Bugenhagens in den letzten 25 Jahren deutlich verbreitert. Nachdem lange der Ordner des Kirchenwesens im Mittelpunkt gestanden hatte, wird neuerdings dem Exegeten und Bibeltheologen, dem Sozialrechtsgeber, Liturgiker, Seelsorger, Prediger, Politikberater und Übersetzer mehr Aufmerksamkeit gewidmet. Der jüngste Versuch, seine Bedeutung zusammenzufassen, trägt die Formel „Bischof der Reformation“ vor. Die Klasse der Bugenhagenforscher blieb trotz stetig wachsenden öffentlichen Interesses bisher auf wenige Personen einer Generation beschränkt. Dafür gibt es Gründe: Eine Werkausgabe kam, obwohl sie seit nahezu drei Jahrhunderten gefordert wird, noch nicht zustande; große Teilgebiete von Bugenhagens Œuvre liegen nur in lateinischer beziehungsweise mittelniederdeutscher Sprache vor; ganze Bereiche seines Nachlasses blieben unediert und sind auf unterschiedliche Institutionen verteilt; schließlich wurde Bugenhagen von der allgemeinen Reformationsgeschichtsschreibung lange Zeit als unselbständiger Interpret Luthers verkannt. Nur wenige Bibliotheken besitzen heute größere Bugenhagiana-Bestände oder die modernen Microficheausgaben. 683

Irmfried Garbe

So beschränkte sich die wissenschaftliche Rezeption Bugenhagens lange Zeit auf seine theologischen Frühschriften und traditionsprägenden Kirchenordnungen. Lediglich seine Rechtstexte liegen fast vollständig in modernen, zum Teil zweisprachigen Editionen vor. Eine geplante vierbändige Edition aller theologischen Schriften Bugenhagens ist seit dreißig Jahren angekündigt, ein erster Band wird aber frühestens 2012 realisiert. Die letzte wissenschaftliche Biographie Bugenhagens wurde 1888 von Hermann Hering vorgelegt. Die neuerdings von Hans-Günter Leder erarbeiteten biographischen Studien (2002/2008) ersetzen die fehlende moderne Bugenhagenbiographie nicht. Obwohl der Pomeranus als anerkannte Schlüsselgestalt des Reformationszeitalters europäischen Ausmaßes gilt, handelt es sich um einen noch längst nicht befriedigend erforschten Erinnerungsort. IV. Auswahlbibliographie a) Bibliographien Geisenhof, Georg: Bibliotheca Bugenhagiana. Bibliographie der Druckschriften des D. Johannes Bugenhagen. Leipzig 1908 [ND Nieuwkoop 1963]; Garbe, Irmfried (Bearb.): Bibliographie zur Johannes Bugenhagen-Forschung. In: leder, Hans-Günter: Johannes Bugenhagen Pomeranus. Nachgelassene Studien zur Biographie. Frankfurt am Main u. a. 2008, 203–28�.

b) Quellen voGt, Karl August Traugott: Johannes Bugenhagen Pomeranus, Leben und ausgewählte Schriften. Elberfeld 1867; voGt, Otto (Hg.): Dr. Johannes Bugenhagens Briefwechsel. Stettin 1888–1890 [Gotha 1910; ND Hildesheim 1966]; KöhLer, Hans-Joachim/hebenstreit-WiLfert, Hildegard/WeisMann, Christoph (Hg.): Flugschriften des frühen 16. Jahrhunderts, 10 Microfiche-Serien. Zug 1978–1987 [enthält viele Bugenhagenschriften]; busKe, Norbert (Hg.): Johannes Bugenhagen: Niederdeutsche Passionsharmonie. Faksimile-Druck der Barther Ausgabe 1586. Berlin 1986; bieber-WaLLMann, Anneliese (Hg.): Johannes Bugenhagen. Werke, Bd. 1: Reformatorische Schriften (1515/16–1524). Bearb. v. Wolf-Dieter hauschiLd und Anneliese bieber-WaLLMann. Göttingen 2012.

c) Darstellungen: herinG, Hermann: Doktor Pomeranus Johannes Bugenhagen. Ein Lebensbild aus der Zeit der Reformation. Halle 1888 [ND Wolfenbüttel 199�]; Bugenhagen-Festschrift zur Feier des �00. Geburtstages Johannes Bugenhagens am 2�. Juni 1885. Hamburg 1885; heyden, Hellmuth: Wie Luthers Lehre in Pommern Eingang fand. Festschrift zur 400-Jahrfeier des Landtags von Treptow a. d. R. Stettin 1934; Johann Bugenhagen 1�85–1935. Stettin 1935; heesch, Hans (Hg.): Zum Gedenken an Johannes Bugenhagen 1�85–1558. Hamburg 1958; rautenberG, Werner (Hg.): Johann Bugenhagen. Beiträge zu seinem 400. Todestag. Berlin 1958; hoLfeLder, Hans-Hermann: Johannes Bugenhagen. In: Theologische Realenzyklopädie, Bd. 7. Berlin 1981, 35�–363; binder, Ludwig: Johannes Bugenhagen und die Evangelisch-

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Johannes Bugenhagen Lutherische Kirche in Siebenbürgen. In: leder, Hans-Günter (Hg.): Johannes Bugenhagen. Gestalt und Wirkung. Berlin 198�, 183–200; dittrich, Konrad/schMidt, Karsten (Hg.): Johannes Bugenhagen Pomeranus. �50 Jahre Reformation in Lübeck 1531–1981. Lübeck 1981; leder, Hans-Günter/busKe, Norbert: Reform und Ordnung aus dem Wort. Berlin 1985; stoLL, Karlheinz (Hg.): Kirchenreform als Gottesdienst. Der Reformator Johannes Bugenhagen. Hamburg 1985; diebner, Bernd-Jörg (Hg.): Johannes Bugenhagen – Doctor Pomeranus 1�85–1985. Heidelberg 1985; schorn-schütte, Luise: „Papocaesarismus“ der Theologen? Vom Amt des evangelischen Pfarrers in der frühneuzeitlichen Stadtgesellschaft bei Bugenhagen. In: Archiv für Reformationsgeschichte 79 (1988) 230–261; schröder, Ingrid: Die Bugenhagenbibel. Untersuchungen zur Übersetzung und Textgeschichte des Pentateuchs. Köln/Weimar/Wien 1991; szuLtKa, Zygmunt: Język polski w Kościele ewangelicko-augsburskim na Pomorzu Zachodnim od XVI do XIX wieku [Die polnische Sprache in der evangelisch-augsburgischen Kirche in Pommern vom 16. bis zum 19. Jahrhundert]. Wrocław u. a. 1991; Kötter, Ralf: Johannes Bugenhagens Rechtfertigungslehre und der römische Katholizismus. Studien zum Sendbrief an die Hamburger (1525). Göttingen 1994; KruK, Sylwia: Johann Bugenhagen – źródła do życia i działalności [Johannes Bugenhagen – Quellen zum Leben und Wirken]. In: Szczeciński Informator Archiwalny 12 (1998) 5–16; WesołoWsKa, Sylwia: Johannes Bugenhagius, doctor, professor, pastor et superintendens, natus Julini in Pomerania. In: Przegląd Zachodniopomorski 15/1 (2000) �9–63; dies.: Postać Johanna Bugenhagena (1�85–1558) na tle reformacji na Pomorzu [Die Gestalt von Johannes Bugenhagen vor dem Hintergrund der Reformation in Pommern]. In: Zeszyty Kulickie 2 (2001) 169–186; leder, HansGünter: Johannes Bugenhagen Pomeranus – Vom Reformer zum Reformator. Studien zur Biographie. Hg. v. Volker GuMMeLt. Frankfurt am Main u. a. 2002; KaMMer, Otto: Reformationsdenkmäler des 19. und 20. Jahrhunderts. Eine Bestandsaufnahme. Leipzig 2004; sprenGLer-ruppenthaL, Anneliese: Gesammelte Aufsätze zu den Kirchenordnungen des 16. Jahrhunderts. Tübingen 2004; szabó, András: Die Universität Wittenberg als zentraler Studienort im 16. Jahrhundert. In: fata, Márta/Kurucz, Gyula/ schindLinG, Anton (Hg.): Peregrinatio Hungarica. Studenten aus Ungarn an deutschen und österreichischen Hochschulen vom 16. bis zum 20. Jahrhundert. Stuttgart 2006, 55–63; Krarup, Martin: Ordination in Wittenberg. Die Einsetzung in das kirchliche Amt in Kursachsen zur Zeit der Reformation. Tübingen 2007; leder, Hans-Günter: Johannes Bugenhagen Pomeranus – Nachgelassene Studien zur Biographie, mit einer Bibliographie zur Johannes Bugenhagen-Forschung. Hg. v. Irmfried Garbe und Volker GuMMeLt. Frankfurt am Main u. a. 2008; Lorentzen, Tim: Johannes Bugenhagen als Reformator der öffentlichen Fürsorge. Tübingen 2008; schWarz Lausten, Martin: Die heilige Stadt Wittenberg. Die Beziehungen des dänischen Königshauses zu Wittenberg in der Reformationszeit. Leipzig 2010; poeLchau, Lore: Johannes Bugenhagen und die Reformation in Livland. In: Garbe, Irmfried/KröGer, Heinrich (Hg.): Johannes Bugenhagen (1�85–1558). Der Bischof der Reformation. Leipzig 2010, 385– 399; dinGeL, Irene/rhein, Stefan (Hg.): Der späte Bugenhagen. Leipzig 2011; schWarz Lausten, Martin: Johann Bugenhagen. Luthersk reformator i Tyskland og Danmark. København 2011.

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Johannes Honterus I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Nachleben. – a) Erinnerung an den Schulgründer. – b) Identifikationssymbol für die evangelischen Deutschen Siebenbürgens. – c) Zeitübergreifende Merkmale als Erinnerungsort. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der Humanist und Reformator Johannes Honterus (1�98–15�9) entwickelte sich seit der Mitte des 19. Jahrhunderts zu einem der wenigen Identifikationssymbole, die für die gesamte Gruppe der Sachsen und anderen evangelischen Deutschen Siebenbürgens relevant waren. Da er angesichts seiner konsequenten Ausrichtung auf die humanistischen Wissenschaften, das klassische Schulwesen und die evangelische Verkündigung nur bedingt nationalistisch vereinnahmt werden konnte, bestand er nach 1944 sowohl im Osten als auch im Westen als verbindendes Symbol weiter. In dieser Rolle erfuhr er nach der politischen Wende von 1989/90 einen weiteren Aufschwung. II. Leben Johannes Honter (latinisiert Hontērus) wurde 1�98 in Kronstadt geboren, sehr wahrscheinlich als Sohn des Jörg Lederer. Er immatrikulierte sich 1520 an der Universität Wien und erreichte dort 1522 den Grad des Baccalaureus und 1525 den des Magister Artium. Seine Rückkehr in die Vaterstadt war wahrscheinlich als Folge innenpolitischer Auseinandersetzungen nur von kurzer Dauer. Wir finden ihn 1529 bei Aventin in Regensburg und 1530 mit Lehrtätigkeiten und als Herausgeber einer lateinischen Grammatik in Krakau wieder. Von 1530 bis 1533 arbeitete er schließlich als Verlagslektor und Holzschneider in Basel, dort erschienen auch seine ersten Karten. 1533 kehrte er schließlich nach Kronstadt zurück. Honterus sollte auf zwei Ebenen Bedeutung erlangen: Einerseits in der humanistisch-akademischen Welt Mitteleuropas durch seine Publikationen, die nicht zuletzt in seiner in Kronstadt eingerichteten ersten dauerhaften Druckerei Ungarns entstanden, namentlich seine seit 1542 europaweit oft gedruckte Kosmographie mit Kartenanhang. Andererseits als Reformator der Kronstädter und der deutschen Kirche Siebenbürgens nach lutherischen Grundsätzen, schließlich als Schulgründer. Er war von 15�� an der erste evangelische Stadtpfarrer in Kronstadt und starb am 23. Januar 1549 ebendort.

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Johannes Honterus

III. Nachleben a) Erinnerung an den Schulgründer Nach Honterus’ Tod gab es vor allem zwei Momente, die die Erinnerung an ihn langfristig wachhielten: das von ihm begründete akademische Gymnasium und die öffentliche Wirksamkeit seiner Nachkommen. Die Schola Coronensis in Kronstadt ist im Grunde eine Neugründung des Honterus, vor allem nach oberdeutschen Vorbildern, auch wenn die Stadt bereits vorher über Latein- und Klosterschulen verfügte. Die Schulordnung (1543, Eröffnung der Schule 1544) genauso wie die Schülerselbstverwaltung des Coetus beriefen sich daher immer wieder auf den Gründer ihrer Anstalt, den primum reformatorem ecclesiae coronensis, wodurch zugleich das Bewußtsein für den Urheber der Kirchenerneuerung gestärkt wurde. Denn diese Rolle Honterus’ trat angesichts anderer regionaler Schwerpunkte und Reibungsflächen der evangelischen Kirche Siebenbürgens etwas in den Hintergrund und wurde am ehesten durch die Präsenz der Nachkommen des Reformators wachgehalten. Sie sind während der folgenden fast drei Jahrhunderte als Lehrer, Pfarrer und Apotheker unter anderem in Kronstadt und im Burzenland belegt. Herausragend war der 1691 verstorbene Rektor und nachmalige Stadtpfarrer Johannes Honterus II.; der letzte Namensträger verstarb in Kronstadt 182�. Gleizeitig gab die Kronstädter Schulordnung auch das Vorbild für die Reorganisation der anderen sächsischen Stadtschulen Siebenbürgens ab. Die erste Säkularfeier der Anstalt im Jahr 16�� belegt ein deutliches Bewußtsein für das Gründungsdatum und den Gründer sowie eine ausgeprägte Identität der Lehranstalt selbst. Dies war auch ein Jahrhundert später ersichtlich, als 17�� ein neues Gymnasialgebäude errichtet wurde. Mit dem dritten Jahrhundertjubiläum des Kronstädter Gymnasiums, das am Ende des Schuljahres 18��/�5 begangen wurde, begann auf der Suche nach kollektiven Identifikationssymbolen eine breite und dauerhafte Rezeption von Honterus und die Etablierung als Erinnerungsort. Bemerkenswert ist für die drei vorangegangenen Jahrhunderte, daß Honterus keineswegs in Vergessenheit geraten, sondern im religiösen und schulischen Leben der evangelischen Deutschen der Stadt als historische Persönlichkeit stets ein Begriff war. b) Identifikationssymbol für die evangelischen Deutschen Siebenbürgens Das 300. Schuljubiläum wurde am 27. und 28. Juli 18�5 gefeiert, am 30. Juli folgte ihm ein von der gesamten sächsischen Bewohnerschaft Kronstadts begangenes Volksfest auf einer Wiese außerhalb der Stadt. Während der Feier wurde eine Quelle, bis dahin Pfaffenbrunnen genannt, zur „Honterusquelle“, die Festwiese wohl anschließend zur „Honteruswiese“, das Fest selbst erhielt den Namen „Honterusfest“. Mit einer Unterbrechung während der Jahre 18�8 bis 1850 wurde es anschließend bis 1939 jährlich zum Schulausklang gefeiert. Es wurde zum größten Volksfest des Burzenlandes, an dem sich sämtliche Schulen, Vereine und andere Einrichtungen beteiligten, beim großen Aus687

Harald Roth

marsch zur Honteruswiese angeführt vom Coetus Honteri, der Schülerorganisation der obersten Gymnasialklassen. Im Jahr 1858 wurde an dem angenommenen Geburtshaus von Honterus in der Kronstädter Schwarzgasse eine marmorne Gedenktafel angebracht, dazu hatte bereits 18�7 der siebenbürgisch-sächsische Pfarrer und Schulreformer Stephan Ludwig Roth aufgerufen. Mit der wiederholten Verwendung eines alten Holzschnitt-Porträts von Honterus, das in diversen Varianten kursierte, gewann der Name auch eine äußere Gestalt. 1879 wurde die Honterusstiftung geschaffen, die Lehrern einen Studienaufenthalt in Deutschland ermöglichen sollte. Die Präsenz des Reformators schritt jedoch weiter voran: Im Zuge einer Reorganisation von Straßennamen, bei der lokale Persönlichkeiten Berücksichtigung fanden, wurde der Kirchhof um die sogenannte Schwarze Kirche, die evangelische Stadtpfarrkirche, 1887 zum „Honterushof“. Neben verschiedenen populären Texten oder Theaterstücken folgten gegen Ende des 19. Jahrhunderts auch wissenschaftliche Forschungen und Editionen über den Humanisten und Reformator, denen die Entdeckung der ersten Karte Siebenbürgens, 1532 von Honterus in Basel geschnitten und gedruckt, in der Ungarischen Nationalbibliothek (1872) weiteren Aufschwung verlieh. Einen ersten Höhepunkt sollte die Honterus-Begeisterung mit der Vierhundertjahrfeier seiner Geburt 1898 erreichen. Über diese wurde bereits seit 1882 gesprochen, seit 188� wurde sie vorbereitet. Die Aufstellung eines Bronzedenkmals Honterus’, gefertigt von dem bekannten deutschen Bildhauer Harro Magnussen, war dabei ein zentrales Anliegen. Es wurde gegenüber dem Hauptgebäude der Honterusschule plaziert, auf die er, mit dem Rücken gewissermaßen an der Kirche lehnend, mit der rechten Hand weist, während er in der anderen ein Buch mit den Einträgen „Reformationsbüchlein“ und „Schulordnung“ hält. Eingebettet wurde dieses rund einwöchige Ereignis in die siebenbürgisch-sächsischen Vereinstage, die die Feier somit zu einer Veranstaltung aller Deutschen Siebenbürgens werden ließ. Waren bereits 18�5 erste feierliche Lieder zu Honterus geschrieben worden, so folgten 1898 weitere, die durchaus längerfristig populär werden sollten, wie das sogenannte Honteruslied („Heil Honterus! Preist ihn alle, den uns Gott erwecket hat …“). Eine Folge der Honterus-Begeisterung des ausgehenden 19. Jahrhunderts waren weitere Umbenennungen: Sowohl das Gymnasium, das bis dahin als „Evangelisches Gymnasium A.B.“ firmierte, und dessen Schülerorganisation, der Coetus, wie auch die evangelische Kirchengemeinde selbst (seit 1863 bzw. 1887 vom Stadtteil Bartholomä beziehungsweise von der ungarischsprachigen Gemeinde getrennt und somit nach einer neuen Identität suchend) nahmen nun allmählich den Namen des Reformators an: „Honterusschule“ (dokumentiert in den Schulprogrammen ab 1903), Coetus Honteri und „Honterusgemeinde“. Das Phänomen Honterus strahlte jedoch noch weiter aus: Die um die Jahrhundertwende zahlreich in die Vereinigten Staaten ausgewanderten Sachsen Siebenbürgens benannten, nachdem sie in einigen Zentren eigene Gemeinden gegründet hatten, diese nach Identifikationsgrößen aus der Heimat. So entstand 1910 die „German Evangelical Lutheran Honterus Church“ in Youngstown/Ohio, bald danach eine ebenfalls nach Honterus benannte Kirche in Gary/Indiana, die beide noch heute diesen Namen tragen. In der Zwischenkriegszeit begannen sich die Honterus-Referenzen über Kronstadt hinaus 688

Johannes Honterus

auszuweiten: 1924 benannte die Evangelische Kirche A.B. in Rumänien ihre eigene Buchdruckerei nach dem Reformator, der inzwischen zu einer gesamtkirchlichen Identifikationsgröße geworden war. Nach dem Zweiten Weltkrieg hatten sich die Rahmenbedingungen der deutschen Gemeinschaft in Siebenbürgen grundlegend gewandelt. Nach den Wirtschaftsbetrieben wurden 19�8 auch die Schulen verstaatlicht, durch Kriegseinsatz, Verschleppung und Flucht war die Gruppe der Deutschen merklich geschrumpft. Die Honterusschule wurde aus ihrem Neubau von 1913 ausquartiert und trug nun einen anderen Namen, nur das Denkmal am Kirchhof blieb sichtbar. Doch selbst in der Zeit des Spätstalinismus kam es von 1955 bis 1958 in Kronstadt zu fünf Schulfesten der deutschen Gymnasialklassen, die als Honterusfeste bezeichnet wurden. Der Name lebte jedoch erst 1970/71 wieder auf, als das „Lyzeum Nr. 2 mit deutscher Unterrichtssprache“ als „Johannes-HonterusLyzeum“ den traditionsreichen Namen zurückerhielt; schon seit 1956 war die Schule wieder in ihren historischen Gebäuden von vor 1913 am Kirchhof untergebracht. Eine Büste von Honterus im Treppenaufgang des Hauptgebäudes müßte ebenfalls bald nach 1971 aufgestellt worden sein. Die Identifikation vieler Schülergenerationen als „Honterianer“, bis zur politischen Wende am einzigen kunstvoll gestalteten Schülerabzeichen der Stadt auch äußerlich sofort zu erkennen, brachte die Persönlichkeit des Reformators trotz parallel betriebener nationalkommunistischer Ideologie ins Bewußtsein nicht nur der Deutschen der Stadt. Eine öffentliche Ausstellung zum Wirken Honterus’ im Erdgeschoß der Türme der Schwarzen Kirche lieferte seit 1973 auch inhaltlichen Hintergrund. 1980/81 erschien mit Hilfe der lokalen deutschsprachigen Wochenzeitung die Schülerzeitung Honterusschule Heute, nach der Wende zeitweilig wiederbelebt. Die wöchentlich einmal zu empfangende Deutsche Sendung des Bukarester Fernsehens griff Honterus in den 1970er und 1980er Jahren wiederholt als Thema auf. 1979 und 1980 versuchten „Burzenländer Trachtenfeste“ am alten Veranstaltungsort die Tradition der Honterusfeste wieder aufzunehmen, wurden aber anschließend aus ideologischen Gründen nicht mehr zugelassen. Beim Abschluß der jahrzehntelangen Renovierungsarbeiten im Innern der Schwarzen Kirche 1983 wurde Honterus’ Grabstätte in deren Chorraum als einzige durch einen erhabenen Gedenkstein im Fußboden gekennzeichnet. Nach der politischen Wende von 1989/90 wurde das Honterusfest von der Honterusschule 1992 mit Unterstützung des Demokratischen Forums der Deutschen im Kreis Kronstadt wieder aufgenommen; es wird seither jährlich in der Schulerau, auf Bergwiesen oberhalb der Stadt, gefeiert. Unmittelbar nach der Wende wurden sozialistisch motivierte Straßennamen abgeändert, bei dieser Gelegenheit konnten Vertreter der deutschen Minderheit zahlreiche Vorschläge einbringen, so die Rückbenennung des Kirchhofes in „Curtea Johannes Honterus-Hof“. Auch in anderen sächsischen Städten, wie etwa in Mediasch, wurden Straßen nach Honterus benannt. Des 500. Geburtstages des Reformators und vielfachen Namensgebers wurde in Kronstadt 1998 mit Festgottesdienst, Festprogramm und Festzug zum Geburtshaus in der Schwarzgasse gedacht. Seit 200� firmiert das reorganisierte reichhaltige Archiv mit Bibliothek der Honterusgemeinde unter dem Begriff „Honterusarchiv“. 689

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Der übergreifende Bezug wird durch die seit 1999 vom „Demokratischen Forum der Deutschen in Siebenbürgen“ jährlich für herausragende Leistungen um die siebenbürgisch-sächsische Gemeinschaft verliehene „Honterus-Medaille“ geschaffen. Die übergeordnete Ebene, das „Demokratische Forum der Deutschen in Rumänien“, hatte bereits 1991 bei seiner mit bundesdeutscher Unterstützung eingerichteten Druckerei in Neppendorf bei Hermannstadt als Honterus-Druckerei beziehungsweise seit 2003 Honterus-Verlag diesen Bezug wieder aufgenommen. Der Erinnerungsort Honterus blieb jedoch nicht auf Kronstadt und Siebenbürgen beschränkt, auch die im westlichen Teil Deutschlands lebenden Sachsen wählten ihn häufig als Namenspatron. Nach ersten Vortreffen 1953 in München fanden seit 1959 in der Regel alle zwei Jahre Honterusfeste, zunächst in der Umgebung Münchens, seit 1966 in Pfaffenhofen an der Ilm, statt. Sie sind bis heute eine feste Bezugsgröße der Kronstädter und Burzenländer außerhalb Siebenbürgens und unterscheiden sich grundlegend von sonst üblichen Heimattreffen. Eine weitere Referenz auf Honterus erfolgte 1960 beim Trägerverein des siebenbürgisch-sächsischen Altenheims auf Schloß Horneck in Gundelsheim am Neckar, der als „Hilfsverein der Siebenbürger Sachsen Johannes Honterus“ firmiert. c) Zeitübergreifende Merkmale als Erinnerungsort Der im Vormärz entstandene und seit 18�5 allmählich erweiterte Erinnerungsort „Honterus“, der durchaus auf einem gewissen Kenntnisstand über die historische Persönlichkeit beruhte, erreichte eine gesamtgesellschaftliche Bedeutung mit der 400-Jahr-Feier der Geburt des Protagonisten 1898. Honterus diente dabei als Identifikationsfigur einer Gruppe, die aus einer politisch hervorgehobenen Position ins Abseits gedrängt worden war. Er wurde zum Vorbild für nun verstärkt zu verfolgende Ziele wie Schulbildung und kirchlichen Zusammenhalt. Zwar konnte Honterus dabei durchaus im nationalen Kontext gesehen und benutzt werden, er taugte aber nicht zur nationalen Überhöhung und schloß immer den Bezug auf lutherische Glaubensfragen und humanistische Wissenschaft mit ein. Für die Nationalsozialisten, die seit Ende der 1930er Jahre in Siebenbürgen dominierten, war Honterus nicht verwertbar. Vielmehr wurde er von diesen als Namenspatron weitgehend abgeschafft, so daß er nach dem Krieg selbst vom sozialistischen Regime in einem gewissen Rahmen tolerierbar war. Auf diese Weise blieb er sowohl in Siebenbürgen selbst als auch unter den ausgewanderten Deutschen eine verbindende, niemals polarisierende oder umstrittene Identifikationsfigur, die sich auf dem Weg über die Honterusschule seit den 80er Jahren und verstärkt in der Nachwendezeit zunehmend auch auf ethnisch rumänische Schüler übertrug. Der ursprünglich bedeutende religiöse Aspekt in Honterus’ Wirken gerät seit Mitte des 20. Jahrhunderts zunehmend in den Hintergrund, wenngleich er nicht gänzlich verdrängt wird. Honterus als Erinnerungsort läßt sich an zwei Stellen jenseits der Grenzen der eigenen Gruppe finden; so wird er bereits seit dem 19. Jahrhundert auch in der ungarischen Kulturgeschichte rege rezipiert, vor allem unter Bibliophilen. Zu Beginn der 1990er Jahre 690

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wählte ihn auf der einen Seite eines der auf der Buchhandelszeile „Múzeum körút“ in Budapest entstandenen Antiquariate ohne unmittelbaren Bezug zum Namenspatron; das „Honterus Antikvárium“ ist unter Kennern wegen seiner gut bestückten Auktionen inzwischen ein fester Begriff. Auf der anderen Seite brachte die rumänische Post im Jahr 2007 eine ansprechend gestaltete Briefmarke mit einem Porträt Honterus’ und seiner Siebenbürgen-Karte als Hintergrund heraus (Wert 1,90 Lei).

Briefmarke der rumänischen Post. Nach 1991 erlebte das Gedenken Honterus’ auch in Rumänien eine Wiederbelebung. Die Darstellung vor dem Hintergrund seiner Karte Siebenbürgens bezeugt auch eine Aufnahme der regionalen und minderheitlichen Erinnerungskultur in den nationalen Rahmen der Republik. Bildnachweis: Privatarchiv Harald Roth.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen netoLiczKa, Oskar: Johannes Honterus’ ausgewählte Schriften. Wien/Hermannstadt 1898; HonterusSchriften. Deutsch übersetzt von Julius Gross. Kronstadt 1927; KLein, Karl Kurt: Zur Basler Sachsenlandkarte des Johannes Honterus vom Jahre 1532. München 1960; honterus, Johannes: Rudimenta cosmographica. Elementele cosmografiei Braşov 15�2. Übers. Valeria căLiMan. Cluj-Napoca 1988; binder, Ludwig (Hg.): Johannes Honterus. Schriften, Briefe, Zeugnisse. Durchges./ergänzt Gernot nussbächer. Bukarest 1996.

b) Darstellungen dücK, Joseph: Geschichte des Kronstädter Gymnasiums. Eine Festgabe zur dritten Säcularfeier desselben. Kronstadt 18�5; Festgesänge zur dritten Säcularfeier des Kronstädter Gymnasiums. Kronstadt

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Harald Roth 18�5; WoLf, Theobald: Johannes Honterus, der Apostel Ungarns. Kronstadt 189�; Die Feier der vierhundertsten Jahreswende der Geburt unseres Reformators Johannes Honterus im Jahre 1898. Kronstadt 189�; Zur Geschichte des Honterus-Denkmals. Kronstadt 1895; höchsMann, Johannes: Johannes Honter, der Reformator Siebenbürgens und des sächsischen Volkes. Wien/Hermannstadt/Kronstadt 1896; neLoLiczKa, Oskar: Johannes Honterus. Ein Gedenkbüchlein zur Feier seiner Geburt. Honterus und die Honterus-Festwoche im August 1989 in Kronstadt. Kronstadt 1898; Korodi, Lutz (Hg.): Die HonterusJubelfeier und die sächsischen Vereinstage in Kronstadt. Ein Festbericht. Kronstadt 1898; Morres, W[ilhelm]: Johannes Honterus. Zu seiner 400. Geburtsfeier der sächsischen Jugend erzählt. Kronstadt 1898; Gross, Julius: Geschichte des evangelischen Gymnasiums A.B. in Kronstadt. Festschrift zur Honterusfeier. Kronstadt 1898; herfurth, Franz: Der Honterusschule zum Segensgruß! Hermannstadt 1913; schLandt, Heinrich: Honterus. Ein Lebensbild des religiösen und politischen Einigers des Sachsenvolkes. Kronstadt 1922; neLoLiczKa, Oskar: Beiträge zur Geschichte des Johannes Honterus und seiner Schriften. Kronstadt 1930; tontsch, Hermann: Die Honteruspresse in 400 Jahren. Festschrift. Kronstadt 1933; KLein, Karl Kurt: Der Humanist und Reformator Johannes Honter. Untersuchungen zur siebenbürgischen Geistes- und Reformationsgeschichte. Hermannstadt/München 1935; schWob, Ute Monika: Der Coetus am Honterus-Gymnasium zu Kronstadt in Siebenbürgen 1544–1941. München 1963; WittstocK, Oskar: Johannes Honterus, der Siebenbürger Humanist und Reformator. Göttingen 1970; nussbächer, Gernot: Johannes Honterus. Sein Leben und Werk im Bild. Bukarest 1973; KiLLyen, Hansgeorg v./Kuchar, Werner (Hg.): Die Honterusschule zu Kronstadt. München 1998; Honterus Emlékkönyv. Elékülés és kiállítás Johannes Honterus halálának 450. évfordulója alkalmából az Országos Széchényi Könyvtárban, 1999 [Honterus-Festschrift. Wissenschaftliche Tagung und Ausstellung zum 450. Todestage von Johannes Honterus in der Ungarischen Széchényi Nationalbibliothek, 1999]. Budapest 2001; nussbächer, Gernot: Beiträge zur Honterus-Forschung 1966–1989. Kronstadt 2003; zach, Krista: Konfessionelle Pluralität, Stände und Nation. Ausgewählte Abhandlungen zur südosteuropäischen Religions- und Gesellschaftsgeschichte. Hg. v. Joachim bahLcKe/Konrad Gündisch. Münster 2004; nussbächer, Gernot: Beiträge zur Honterus-Forschung 1989–200�. Kronstadt 2005; Götz, Ortwin (Hg.): Honterusfeste. Einst in Kronstadt/Siebenbürgen und danach in Pfaffenhofen/ Deutschland. Heidelberg 2008.

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Johann Amos Comenius I. Zusammenfassung. – II. Biographie. – III. Würdigung und Verehrung. – a) Gespaltene Erinnerung: „Temno“ in Böhmen, europäischer Universalgelehrter außerhalb Böhmens. – b) Zwischen Säkularisierung und Rekonfessionalisierung. – c) Auf- und Umwertung während der „nationalen Wiedergeburt“. – d) Erinnerungskulturelle Konkurrenz: Comenius bei Slowaken, Mährern und Polen. – e) Staatsphilosoph im demokratischen Nationalstaat. – f) Staatliche Geschichtspolitik und wissenschaftliche Freiräume in der kommunistischen Ära. – g) Komenský-Comenius: Vom tschechischen Patrioten zum Brückenbauer in Europa. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung „Praeceptor mundi“, „Lehrer der Nationen“, „Apostel der Humanität“, „Utopist einer weltumfassenden Friedensordnung“, „Prophet“ – die Attribute, Denkanstöße und Impulse, die Johann Amos Comenius in den vergangenen drei Jahrhunderten zugeschrieben wurden, sind zahlreich. Diese Bedeutungszuschreibungen zielen freilich in ihrer Mehrheit auf den europäischen Universalgelehrten und Weltbürger Comenius. In seiner tschechischen Heimat dagegen deutete man Jan Amos Komensk�, der dort erst während des 19. Jahrhunderts neu entdeckt, aufgewertet und nachgerade vereinnahmt wurde, zunächst und vor allem in einem dezidiert nationalen Kontext. Sein religiöstheologisches Vermächtnis wurde weitgehend säkularisiert und aktuellen Zeitbedürfnissen angepaßt, zum Baustein nationaler Emanzipationsbestrebungen bei Tschechen und Slowaken und ideologischer Konzepte in Staat und Gesellschaft. Wie bei keiner anderen Figur der eigenen Vergangenheit sah man in seinem leidvollen Schicksal das der ganzen Nation. Gleichzeitig steht der bedeutende Repräsentant einer evangelischen Minderheitskirche als Hoffnungs- und Lichtfigur für die Sehnsüchte kleiner Völker im östlichen Mitteleuropa. II. Biographie Jan Amos Komensk�, am 28. März 1592 in Südostmähren, im ethnisch und sprachlich gemischten Raum der Mährischen Slowakei, geboren, war der letzte Bischof (Senior) des böhmischen Zweigs der Brüder-Unität, einer in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts entstandenen evangelischen Glaubensgemeinschaft, die schon lange vor der lutherischen Reformation einen beachtlichen Organisationsgrad und eine ausgeprägte Lehrtradition besaß. Von Verwandten aufgezogen, besuchte Comenius von 1608 bis 1611 das Gymnasium der Brüder in Prerau. Nach dem Studium der Theologie zunächst an der reformierten Hohen Schule zu Herborn, dann an der Universität Heidelberg kehrte er 161� nach Mähren zurück und wirkte als Lehrer an der Preraurer Brüderschule. 693

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Zwei Jahre später wurde er zum Pfarrer der Brüderkirche ordiniert, die seit dem Majestätsbrief Kaiser Rudolfs II. von 1609 als Landeskonfession in Böhmen und Mähren offizielle Anerkennung genoß. Mit dem Zusammenbruch des weitgehend vom protestantischen Adel Böhmens und Mährens getragenen Ständeaufstands (1618–1620) ging die Unitas fratrum in ihrem Herkunftsland unter. Wie andere Protestanten mußten auch ihre Anhänger, sofern sie sich nicht zu einer Konversion zum katholischen Bekenntnis entschieden, den Weg ins Exil gehen. Comenius selbst, der sich zunächst an wechselnden Orten im Grenzgebiet Mährens versteckt gehalten und dann auf den Gütern evangelischer Adelsfamilien in Ostböhmen Zuflucht gefunden hatte, verließ seine Heimat nach vorübergehenden Aufenthalten in Görlitz, Berlin und den Niederlanden endgültig 1628. Zusammen mit vielen anderen Mitgliedern der Brüder-Unität fand er in Lissa, dem Zentrum des seit Mitte des 16. Jahrhunderts in Polen bestehenden Zweigs der Brüder, eine neue Heimat. Die beiden kommenden Jahrzehnte, in denen Comenius in Lissa als Lehrer und Rektor des örtlichen Brüdergymnasiums tätig war, waren von einer oft rastlosen Reisetätigkeit gekennzeichnet. Seiner pädagogischen Lehrbücher wegen ersuchten ihn Fürsten und städtische Magistrate um Rat in Fragen der Bildungsreform. Comenius nutzte seine Kontakte zugleich, um sich an den evangelischen Höfen Europas politisch für die Belange seiner Kirche und seiner Heimat einzusetzen. Nach einem mehrjährigen Aufenthalt im preußischen Elbing, das politisch zu jener Zeit der schwedischen Krone unterstand, wirkte er als Schulreformer und Prediger von 1650 bis 165� im ungarischen Sárospatak. Die erneute Rückkehr nach Lissa brachte jedoch keine größere Ruhe in das Leben des mittlerweile zweiundsechzigjährigen Comenius. Im Zuge eines neuen Krieges zwischen Schweden und Polen wurde Lissa 1656 erobert, geplündert und in Brand gesteckt. Der Brüdersenior vermochte sein Leben zu retten, verlor aber sein gesamtes Eigentum, vor allem seine Bibliothek und sämtliche Handschriften. Zum vierten Mal in seinem Leben gelangte er wenige Wochen später nach Amsterdam, wo er bis zu seinem Tod am 15. November 1670 lebte. Sieben Tage später wurde er in Naarden beigesetzt. Comenius’ Leistungen vor allem als Schulreformer und Sprachwissenschaftler sind heute allgemein anerkannt. Unter seinen mehr als 200 Werken, die vielerorts in Europa erschienen und zum Teil bereits früh in andere Sprachen übersetzt wurden, erlebte bezeichnenderweise ein kleines Buch, das von der Wissenschaft zunächst kaum beachtet wurde, ein besonderes Nachleben: sein in tschechischer Sprache erschienenes Kšaft umírajíci matky, Jednoty bratrské (Das Vermächtnis der sterbenden Mutter, der Brüder-Unität) von 1650, gleichsam das Testament der Brüdergemeine, in dem Comenius dem tschechischen Volk zwei Jahre nach Abschluß des ihn grenzenlos enttäuschenden Westfälischen Friedens im Namen seiner Kirche die Wiedergewinnung der religiösen Freiheit und Selbstbestimmung verhieß. Es war vor allem dieses Werk, das im 19. und 20. Jahrhundert eine ungeahnte Aktualität in der tschechischen Gesellschaft gewinnen sollte. 694

Johann Amos Comenius

III. Würdigung und Verehrung a) Gespaltene Erinnerung: „Temno“ in Böhmen, europäischer Universalgelehrter außerhalb Böhmens Die Veränderungen in Politik und Gesellschaft nach 1620 und die sich festigende katholische Konfessionskultur ließen fast keinen Raum, um in Böhmen und Mähren die Erinnerung an die Brüderkirche und ihren letzten Bischof wachzuhalten. Kupferstiche von Comenius, wie sie im polnischen Exil entstanden, oder gar ein Gemälde, wie das in den Niederlanden vom Rembrandt-Schüler Juriaen Ovens gefertigte, waren hier undenkbar. Vor 1800 erschienen in den böhmischen Ländern auch nur wenige Schriften von Comenius im Druck. Seine Texte wurden, wenn überhaupt, vom Ausland zusammen mit anderen religiösen Traktaten und Erbauungsschriften ins Land geschmuggelt und dort heimlich gelesen. Die tatsächliche Reichweite seiner Rezeption ist insofern schwer zu ermessen, zumal ihr aufgrund der einschlägigen Religionsgesetzgebung deutliche Grenzen gesetzt waren. Hinzu kommt, daß Comenius Anerkennung und Ruhm erst im Exil zuteil wurden. Seine Heimat hatte er in relativ jungen Jahren, vor der Erarbeitung und Publikation der heute als maßgeblich geltenden Schriften, verlassen. Auch aus diesem Grund blieben sie in Böhmen und Mähren zunächst nahezu unbekannt. Angesichts dieser Rahmenbedingungen lassen sich bis zum späten 18. Jahrhundert nur wenig Spuren zu Comenius in dessen Herkunftsland finden. Mehrere Volkserzählungen – besonders aus dem „häretischen“ Nord- und Nordostböhmen, der Wiege der BrüderUnität – erwähnen sagenhafte Zufluchtsorte, an denen sich Comenius und andere Brüder in den Zeiten der Verfolgung versteckt haben sollen, bevor sie sich endgültig ins Exil begaben. Zudem werden einzelne Toponyme von der Forschung als Reminiszenzen an die brüderische Vergangenheit bestimmter Orte und die Anwesenheit von Comenius aufgefaßt. Obwohl die Historiographie des 19. Jahrhunderts wiederholt mit dieser Art oraler Erinnerungen arbeitete, so ist doch nicht auszuschließen, daß ihre Befunde ein Produkt der gerade im 19. Jahrhundert aufkeimenden Comenius-Euphorie waren und insofern den in der Neuzeit erfundenen Traditionen zuzurechnen sind. Eine Konkurrenz zur katholischen Umcodierung der Landschaft stellten diese seltenen und zum Teil auch kuriosen Repräsentationen mit ihrem eng begrenzten lokalen Radius jedenfalls nicht dar. Noch am Ende des 18. Jahrhunderts war Comenius nur wenigen Gelehrten in Böhmen und Mähren vertraut. Intellektuellen wie Nicolaus Adauct Voigt, Franz Martin Pelcl oder Josef Dobrovsk� erschien er überwiegend als ein sperriger, unmoderner und damit unzeitgemäßer Denker. Bei ihnen wirkte ganz unzweifelhaft das vernichtende Urteil von Pierre Bayle nach, der Comenius in seinem Dictionaire historique et critique Ende des 17. Jahrhunderts nicht nur als Schwärmer und Fanatiker, als Hochstapler und Vielschreiber demontiert, sondern ihn auch als Schmarotzer bezeichnet hatte, der die Großzügigkeit und das Vertrauen seiner Mäzene zutiefst mißbraucht habe. In den Kreisen der europäischen Aufklärung gehörte Bayles Befund zum Standardbild von Comenius – 695

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man lese nur den entsprechenden Beitrag in Johann Christoph Adelungs Geschichte der menschlichen Narrheit oder Lebensbeschreibungen berühmter Schwarzkünstler, Goldmacher, Teufelsbanner, Zeichen- und Liniendeuter, Schwärmer, Wahrsager und anderer philosophischer Unholde. Den Vertretern der exakten Wissenschaften war Comenius’ Pansophie suspekt, die man schlicht als Utopie betrachtete, den aufgeklärten Gelehrten waren die Neigung des mährischen Theologen zum Chiliasmus und sein oft thematisierter Glaube an Prophezeiungen fragwürdig. Sein Engagement bei der Veröffentlichung des Bandes Lux in tenebris (1657), der 1665 in erweiterter Form unter dem Titel Lux ex tenebris im Druck erschien, sollte ihn in den Augen der Rationalisten als einen religiösen Fanatiker disqualifizieren, auch wenn Comenius streng genommen nur Herausgeber, nicht Verfasser der Revelationen war. Wie könne sich jemand, der an Prophezeiungen glaubt, als einen „Reformator aller menschlichen Kenntnisse“ ankündigen, hieß es mit beißendem Spott bei Adelung. Es war nicht nur die Kritik, sondern auch der Anstoß zu einer Neubewertung, der von außen kam. Neben Gottfried Wilhelm Leibniz waren es zu Anfang des 18. Jahrhunderts namentlich die Hallischen Pietisten, die ein positives Bild von Comenius zeichneten. Daniel Ernst Jablonski, ein Enkel des Comenius, hatte den in seinem Besitz befindlichen Teil des Nachlasses seines Großvaters nach Halle entliehen. Dort plante ein Kreis von Pietisten um August Hermann Francke, die in Comenius einen wichtigen Vorläufer ihrer pädagogischen Ideen sahen, eine lateinische Werkedition des letzten Bischofs der böhmischen Brüder-Unität. Ein erster, 1702 durch den lutherischen Theologen und Professor der Moralphilosophie Johann Franz Buddeus (Budde) im Verlag des Franckeschen Waisenhauses publizierter Band enthielt mehrere separate Abhandlungen, darunter eine Darstellung der Verfassung der alten böhmischen Brüderkirche sowie die Panegersia, den ersten Teil des Haupt- und Alterswerkes des Comenius De rerum humanarum emendatione Consultatio Catholica. Zu weiteren Ausgaben von Comenius kam es in Halle dann allerdings nicht mehr – ob aus wirtschaftlichen Ursachen oder aus inhaltlichen Gründen, konnte bisher nicht geklärt werden. Eine ungleich größere Wirkung erzielte gegen Ende des 18. Jahrhunderts allerdings Johann Gottfried Herder, der 1795 in seinen Briefe[n] zu Beförderung der Humanität vom „menschenfreundlichen Comenius“ sprach und dessen „Aufruf zu Verbesserung der menschlichen Dinge“ in höchsten Tönen zu loben wußte. Die intensive Rezeption dieses einflußreichen deutschen Dichters und Kulturphilosophen bei den Slawen fiel zudem in eine Zeit, in der sich nach dem Toleranzpatent Kaiser Josephs II. von 1781 auch in den böhmischen Ländern eine völlige Neuorganisation des evangelischen Lebens vollzog. Doch nicht einmal unter den neuen gesetzlichen und gesellschaftlichen Rahmenbedingungen, die eine neue Comenius-Rezeption zu begünstigen schienen, verlief die Aufnahme des in Böhmen nahezu unbekannten Theologen rasch und reibungslos.

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b) Zwischen Säkularisierung und Re-Konfessionalisierung Bei der Konzipierung des Toleranzpatents hatte Joseph II. zwar eine offizielle Genehmigung der Brüder-Unität erwogen, von einem solchen Schritt schließlich aber doch abgesehen und sie nicht unter die tolerierten Konfessionen aufgenommen. Gläubige, die sich zu den älteren hussitischen oder brüderischen Traditionen bekannten, hatten insofern bei ihrer vom Gesetzgeber vorgesehenen Meldung zwischen zwei evangelischen Konfessionen zu wählen, die ihnen bei Lichte besehen nicht vertraut waren. Die meisten Anhänger der Brüder entschieden sich für das Helvetische Bekenntnis (Reformierte Kirche), nur wenige für das Augsburgische (Lutherische Kirche). Das Gesamtbild zeigt in den böhmischen Ländern nur unerhebliche Übertritte vom katholischen Bekenntnis zu den beiden vom Staat genehmigten evangelischen Kirchen, zu denen sich bis Ende der 1780er Jahre gerade einmal ein Prozent der Gläubigen angemeldet hatte. Auch im Laufe des 19. Jahrhunderts sollte sich die Lage nur wenig ändern. Nicht einmal die offizielle Zulassung der Brüder-Unität im Jahr 1880 markiert in diesem Zusammenhang eine Zäsur. Analysiert man die Ergebnisse der Volkszählungen in den böhmischen Ländern, so waren noch im Jahr 1900 rund 97 Prozent der tschechischsprachigen Bevölkerung katholischen Bekenntnisses. Eine Betrachtung der wachsenden Popularisierung von Comenius im 19. Jahrhundert wird die politisch-gesellschaftlichen Rahmenbedingungen genau zu beachten haben. Auf der einen Seite gab es die von der katholischen Kirche und vom Staat getragene Zensur religiöser Schriften, die noch um 1850 jede Veröffentlichung eines Werkes von Comenius in Böhmen erheblich erschwerte. Einmal waren die Argumente eher religiöser, einmal eher politischer Natur. Nicht nur das Werk Labyrint světa a ráj srdce (Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens) sowie die rein religiösen Schriften, auch die im Ausland gefeierte Didactica magna des Comenius – ihre „ganze Richtung und ihr Geist“ – war laut einer Aussage der zuständigen Behörde 18�2 „antikatholisch“ geprägt; sie konnte daher erst nach den revolutionären Ereignissen von 18�8/�9 in Böhmen im Druck erscheinen. Auf der anderen Seite standen namhafte Vertreter der protestantischen Tradition, agile und gewandte evangelische Intellektuelle wie Jan Kollár und František Palack�, die erste Schritte zu einer Popularisierung von Comenius unternahmen. Die Durchsetzung einer Persönlichkeit aus dem nichtkatholischen Milieu im nationalen Pantheon einer überwiegend katholischen Gesellschaft – und dies sogar trotz der Proteste und des Widerstands der katholischen Hierarchie – war nur deshalb möglich, weil die sich säkularisierende Gesellschaft in den böhmischen Ländern zu dieser Zeit in religiösen Angelegenheiten halbherzig, in konfessionellen Streitfragen sogar indifferent war. Hinzu kommt, daß bei der Comenius-Rezeption nationale Auffassungen und Werte, die ihm zugeschrieben wurden, offensichtlich viel stärker wirkten als diese konfessionellen Zugehörigkeiten und Unterschiede. Die religiösen Aspekte der Comenius-Rezeption sind daher mehrdeutig, sie schwanken zwischen einer klaren Akzentuierung seiner Konfessionszugehörigkeit und deren nicht minder deutlicher Marginalisierung. Auf der einen Seite wurde er obligatorisch als 697

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der letzte Senior der Brüder-Unität bezeichnet, auf der anderen Seite aber blendete man sein unmittelbares konfessionelles Umfeld in einem Maße aus, als ob das Senioramt eine bloße berufliche Tätigkeit und Funktion gewesen wäre. Vor diesem Hintergrund ist die Beobachtung wichtig, daß zu einem bestimmten Zeitpunkt dieser Rezeption Comenius’ Irenik und seine Aufrufe zu interkonfessioneller Toleranz an Bedeutung gewannen. Die solcherart polarisierenden Repräsentationen können als Belege für eine Re-Konfessionalisierung der Gesellschaft dienen, sie können aber auch deren weitgehende Säkularisierung bezeugen. c) Auf- und Umwertung während der „nationalen Wiedergeburt“ Während die Nachklänge der aufklärerischen Kritik an Comenius und die unverändert starke Stellung der katholischen Kirche in der böhmischen Gesellschaft ein unvoreingenommenes Bild des Intellektuellen noch immer erschwerten, rückten während der ersten Phase seiner grandiosen Rückkehr ganz andere Aspekte in den Mittelpunkt. Durch die Philologie, die hier wie in anderen Ländern Ostmitteleuropas eine Schlüsselstellung innerhalb der nationalen Wiedergeburtsbewegung gewann, kam es auch zu einer Wende in der Einschätzung des mährischen Theologen und Philosophen. Seit Ende des 18. Jahrhunderts tauchte der Name des Comenius immer häufiger in den Reihen der die tschechische Sprache glorifizierenden Klassiker auf, die schon bald einen festen Kanon bildeten. Zusammen mit dem aus Prag gebürtigen Humanisten Daniel Adam von Veleslavín wurde Comenius als „Cicero“ der tschechischen Sprache und Literatur bezeichnet. Die Sprache stellte für die frühen Wiedererwecker das Grundelement und zugleich die höchste Ausdrucksform der Nation dar. Für die Verdienste um die tschechische Sprache verziehen die patriotischen Autoren um 1800 Comenius sogar dessen chiliastische Vorstellungen. Die Tatsache, daß der mährische Glaubensflüchtling in Schriften und Briefen wiederholt seine tiefe Liebe zur verlorenen Heimat beschworen hatte, förderte diese Rezeption zusätzlich. Eine weitere Rezeptionsstufe ist eng mit dem Namen von František Palack� verbunden, der 1829 das Leben des Brüderbischofs und dessen Tätigkeit biographisch würdigte. Die beiden Ausgaben, die einmal auf Tschechisch, einmal auf Deutsch im Druck erschienen, weisen kleine, doch bezeichnende Unterschiede auf: So ist in der tschechischen Ausgabe beispielsweise eine wesentlich stärkere nationale Akzentsetzung festzustellen als in der deutschen. Palack� würdigte Comenius in Anlehnung an die Arbeiten von Johann Gottfried Herder als einen Denker europäischen Rangs, dessen nahezu universale Bedeutung nicht erfaßt werden könne, wenn man nur die philologischen Leistungen benenne. Es war vor allem diese Biographie von Palack�, die den Grundstein legte für eine tiefere Auseinandersetzung mit Comenius in Böhmen. In der Zeit Palack�s wurde Comenius zu einem Symbol der nationalen Geschichte. Das „historische Unglück“, das in der 698

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Entwicklung des tschechischen Volkes und der böhmischen Länder vermeintlich eine so charakteristische Rolle gespielt hatte, schien im persönlichen Leben von Comenius geradezu Gestalt angenommen zu haben. Comenius erstarrte zu fast überpersönlicher Größe: Er avancierte zum Lichtträger auf den dunklen und tragischen Pfaden eines durch das Labyrinth machtpolitischer Verwicklungen erniedrigten Volkes, Landes und Staates, zum Hüter und Förderer der Unterdrückten und um historische Gerechtigkeit Ringenden, zum Heilsbringer einer sich politisch emanzipierenden Gesellschaft. Neben dieser vorrangig nationaltschechischen Perspektive lassen sich allerdings auch andere Blickwinkel beobachten, unter denen Comenius gelesen wurde und allmählich Bekanntheit erlangte. In einer Zeit, in der das Schulwesen massiv ausgebaut wurde und die bürgerliche Bildungspolitik einen immer größeren Stellenwert gewann, war es naheliegend, daß man sich der pädagogischen Ansätze und didaktischen Anschauungen von Comenius erinnerte. Deren Bedeutung hatten bereits namhafte Vertreter der Aufklärung anerkannt, die seinem Werk ansonsten mit größter Zurückhaltung begegnet waren. Es waren nicht zufällig überwiegend Lehrer, die seit den 1860er Jahren zahlreiche Comenius-Vereine gründeten und den Namengeber in der Öffentlichkeit aktiv propagierten. Hinzu kommen andere Elemente: Daß Comenius einfacher Herkunft war und sich aus der Provinz durch zähen Fleiß emporgearbeitet hatte, paßte ebenso gut zu den Idealen der sich entwickelnden bürgerlichen Gesellschaft wie die Tatsache, daß der Brüdertheologe Zeit seines Lebens ein politisch interessierter und engagierter Mensch gewesen war. Die zunehmende nationale Bedeutung von Comenius läßt sich seit den 1860er Jahren auch in kleineren Städten und im ländlichen Raum verfolgen. Selbst Orte, die im Leben des Comenius bestenfalls eine Randbedeutung gehabt hatten, bekannten sich nun zu einer Person, die ihnen bisher vollständig unbekannt gewesen war. In diesem Zusammenhang sorgte zum Beispiel die strittige Frage nach dem Geburtsort von Comenius für neuen Zündstoff. Es entstanden mehrere einander widersprechende Theorien, die als Geburtsort drei verschiedene Orte in Südmähren (Niwnitz, Ungarisch Brod und Komna) ins Gespräch brachten. Durch die im nationalen Kontext allmählich kanonisierte Figur des Comenius wurden zum Teil ganz neue regionale und lokale Identitäten gestiftet. Die erste bedeutende Comenius-Feier, die nicht nur große Menschenmengen, sondern auch führende Politiker der böhmischen Länder anzog, fand 1865 in Brandeis an der Adler in Ostböhmen statt, wo sich Comenius nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 unter dem Schutz Karls des Älteren von Žerotín aufgehalten und wo er an seinem Werk Labyrint světa a ráj srdce gearbeitet hatte. Der bekannte tschechische Politiker Karel Sladkovsk� hielt 1865 die Festrede, und kein Geringerer als Jan Neruda schrieb in einem Artikel zu dieser Feier in der Zeitung Národní listy: „Hus gab uns den Aufstand der Gedanken. Comenius gab uns den Sieg der Gedanken [...]. Der Magister Jan Hus verlieh uns ewigen Ruhm, Comenius gab uns das ewige Leben! [...] Nicht durch den Verderben bringenden Kampf, allein durch die Bildung wird das Leben wiedererweckt.“ Der Brüdersenior wurde für Neruda zum „ersten Erwecker“ des aufstrebenden nationalen Lebens. Anläßlich der Feier in Brandeis an der Adler wurde 1865 auch das erste Comenius699

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Denkmal errichtet. Weitere Denkmäler folgten 187� in Prerau, 1892 in Ungarisch Brod, wenig später dann in Fulnek und an anderen Orten. In den letzten drei Dekaden des 19. Jahrhunderts erreichte die Comenius-Rezeption einen gewissen Höhepunkt. Je stärker die nationalen Auseinandersetzungen zwischen Tschechen und Deutschen in den böhmischen Ländern die Gemüter erhitzten, desto stärker wurde auch die Wahrnehmung von Comenius in den Sog der politischen und Nationalitätenkämpfe hineingezogen. Die große Popularität von Comenius und die nationale Akzentsetzung der Comenius-Rezeption bei den Tschechen erklären, warum die Deutschen in Böhmen und Mähren dem Brüdertheologen mit spürbaren Vorbehalten begegneten – und dies, obwohl Comenius zeitgleich in Deutschland größte Aufmerksamkeit fand, wie nicht zuletzt die Aufnahme des Mährers in die Allgemeine Deutsche Biographie 1876 sinnfällig unterstreicht. Nur gelegentlich erinnerte man sich seiner Person auch in den von Deutschen bewohnten Gebieten der böhmischen Länder. So fand 1892 beispielsweise ein Comenius-Fest in Fulnek, einer seit ihrer Gründung stets deutschsprachigen Stadt im Bezirk Neutitschein, statt, auf dem es bezeichnenderweise zu einer Reihe antitschechischer Schmähreden und Zwischenrufe kam. Auch bei vergleichbaren Kontroversen in späterer Zeit, vor allem während der Jahrzehnte zwischen den Weltkriegen mit ihren wachsenden Spannungen zwischen slawischer Mehrheits- und deutscher Minderheitsgesellschaft, stand Comenius noch mehrfach im Mittelpunkt, in erster Linie in der Tschechoslowakei, in ganz ähnlicher Form aber auch im multiethnischen Polen. Eine weitaus größere Rolle als in den tschechisch-deutschen Auseinandersetzungen innerhalb Böhmens und Mährens spielte Comenius am Ende des 19. Jahrhunderts in den Kontroversen zwischen der tschechischen politischen Repräsentation und Wien. Sogar sein bislang stets kritisch beurteilter Chiliasmus, sein Glaube an das nahe Ende der gegenwärtigen Welt, die Wiederkunft Christi und das Aufrichten eines tausend Jahre währenden Reichs, erhielt neue Beachtung, wurde politisiert und den zeitgenössischen Anforderungen angepaßt. Comenius’ 1657 in Amsterdam erschienene Schrift Lux in tenebris, in der unter anderem das Ende der Habsburgerherrschaft in Mitteleuropa prophezeit worden war, galt nicht mehr als Ausdruck einer dunklen Religiosität, sondern als Manifestation einer festen politischen Überzeugung, die in den Jahren um 1900 völlig neue Aktualität gewann. Dies war auch der Grund, warum der österreichische Unterrichtsminister Paul Gautsch im Jubiläumsjahr 1892 – dem dreihundertsten Geburtstag von Comenius – jede Feier an den Schulen Cisleithaniens strikt verbot. Alle diese Maßnahmen hatten freilich genau die gegenteilige Wirkung, denn die tschechische Presse kommentierte das Verbot in bissigen Artikeln und nutzte die causa Comenius dazu, die Stimmung gegen Wien weiter anzuheizen. Parallel zur Verschärfung der innenpolitischen Debatte läßt sich gegen Ende des 19. Jahrhunderts eine Politisierung der religiösen Angelegenheiten beobachten. Im Zuge der Re-Konfessionalisierung der Gesellschaft wurden die Geschichte der böhmischen Reformation im allgemeinen und diejenige der Brüder-Unität im besonderen zu einem Thema, das breite Kreise der Öffentlichkeit beschäftigte. Welche Rolle dabei gerade 700

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Comenius zufiel, ist exemplarisch an den Feiern des Jubiläumsjahres 1892 abzulesen. In Erwartung massiver antikatholischer Äußerungen hatte die katholische Kirchenleitung frühzeitig und mit Nachdruck vor einem Mißbrauch der Feierlichkeiten gewarnt. „Wir sind Katholiken, J. A. Comenius war kein Katholik“ – mit dieser einfachen Logik polemisierte Edvard Brynych, Präses des katholischen Gesellenvereins in Prag und späterer Bischof von Königgrätz, in seiner Schrift Jan Amos Komenský. Pro katolický lid (Johann Amos Comenius. Für das katholische Volk) gegen Comenius, allgemein aber auch gegen jede „lügenhafte Geistesfreiheit“. Die Auffassung, daß gerade bei der Brüderkirche Politisches und Religiöses eng miteinander verbunden gewesen seien, läßt sich in allen konfessionellen Lagern beobachten. Ihre wohl prägnanteste und zugleich folgenreichste Zuspitzung erfuhr dieses Verständnis der Brüderkirche bei dem tschechischen Philosophen, Schriftsteller und Politiker Tomáš G. Masaryk, der 1918 zum ersten Präsidenten der Tschechoslowakischen Republik gewählt wurde. Für ihn repräsentierte Comenius, wie er 1892 in einem öffentlichen Vortrag in Prag ausführte, den „reinen Typ des Brüdertums“, im Gegensatz zum zweiten Typ der böhmischen Reformation, dem militärisch-kämpferischen hussitischen Taboriten. „Unsere Nationalseele“, so Masaryk weiter, „besitzt eine Besonderheit, die wir auch bei Comenius bemerken können: sein Mystizismus paart sich mit äußerstem Realismus. Mir scheint, daß dies nicht nur eine Eigenart der Tschechen, sondern der Slawen überhaupt ist.“ In Masaryks gesamter Geschichtsphilosophie, die dem Denken František Palack�s aufs stärkste verpflichtet war, kommt der Gestalt des Brüderbischofs eine zentrale Bedeutung zu. Hier entdeckte er Ansatzpunkte eines elementaren Demokratie-Verständnisses, gepaart mit ethischen Idealen sozialer Gerechtigkeit. d) Erinnerungskulturelle Konkurrenz: Comenius bei Slowaken, Mährern und Polen Comenius wurde allerdings nicht nur von tschechischen Intellektuellen und Politikern vereinnahmt, sondern auch von Slawen in den Nachbarländern. Besonders im slowakischen Geistes- und Kulturleben des 19. Jahrhunderts wurden die durch ihn vertretenen Ideen zu Reformation, Erziehung und Bildung zu Synonymen von nationaler Selbstbehauptung und gesellschaftlicher Emanzipation. In Oberungarn hatten, anders als in Böhmen, im 17. und 18. Jahrhundert evangelische Gemeinden überlebt, und hier waren auch Schriften von Comenius im Druck erschienen. Die Pflege der Muttersprache, die Lehre lebendiger Volkssprachen und die Bedeutung der richtigen Erziehung für das glückliche Leben der Nation waren Anliegen, die Dichter wie Jan Kollár und andere Mitglieder der Štúr-Generation unmittelbar auf den Kampf gegen die Magyaren bezogen. Comenius wurde dabei stets auch als großer Slawe, nicht nur als bedeutender Schulreformer propagiert. Entsprechend pompös begingen die Slowaken die Feiern zu seinem 300. Geburtstag 1892 in Oberungarn, wo zu dieser Zeit in der Person von Ján Kvačala bereits eine wissenschaftliche Comenius-Forschung bestand. Ein heftiger, in seinen Formen freilich 701

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geradezu klassischer erinnerungskultureller Konflikt um die Frage, ob Slowaken, Tschechen oder Deutschen das Werk des Comenius gehöre, ließ Kvačala Anfang des 20. Jahrhunderts den Kontakt mit der Tschechischen Akademie der Wissenschaften abbrechen. Empfanden die Slowaken Comenius nach Herkunft und Abstammung als einen der ihren, so mehrten sich im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts auch unter den Mährern die Stimmen, denen zufolge man den Brüdertheologen „dem mährischen Volk zurückgeben“ müsse. Die für das „tschechoslawische Mährertum“ typischen Äußerungen lassen beispielhaft erkennen, daß Nationalbewegungen immer auch regionale Spezifika aufweisen. Widerhall fand Comenius schließlich in dieser Phase nicht zuletzt unter den Polen. So wurde 1898 in Lissa ein Comenius-Denkmal feierlich eingeweiht, das der Berliner Bildhauer Alfred Reichel entworfen hatte. Trotz aller affirmativen Rhetorik, mit der die alte polnische Adelsrepublik als Comenius’ zweite Heimat proklamiert wurde, war dessen Rezeption in Polen nicht so eindeutig wohlwollend wie bei den Tschechen in den böhmischen Ländern, den Slowaken in Oberungarn oder in den deutschen Einzelstaaten beziehungsweise im Deutschen Reich. Andere religiöse Traditionen, aber auch zeitgenössische Auseinandersetzungen in der Kirchen- und Bildungspolitik bedingten hier, daß Comenius unverändert das Stigma eines Häretikers anhaftete. Im historischen Kontext der polnisch-schwedischen Kriege während der Frühen Neuzeit wurde er sogar zu einem undankbaren Sohn seiner neuen Heimat, dessen Loyalität zum Unionsstaat zumindest fragwürdig schien. Comenius’ langjährigen Aufenthalt in Lissa verband man im polnischen kulturellen Gedächtnis nicht nur mit der außerordentlichen Blütezeit der Stadt, sondern auch und vor allem mit ihrer Zerstörung im Jahr 1656. Neben dem unzweifelhaft bedeutenden Humanisten stand der Kriegshetzer, der sich 1655 im Krieg zwischen Polen und Schweden aus Sicht der polnischen Historiographie und Publizistik mit seiner Lobrede auf König Karl X. Gustav von Schweden (Panegyricus Carolo Gustavo) kompromittiert hatte. Comenius’ Bild in Polen verdunkelte sich nach dem Ersten Weltkrieg weiter, als es zu heftigen Konflikten zwischen der neugegründeten Polnischen Republik und der Tschechoslowakei um das Teschener Gebiet kam. Eine zweite, wenn auch kurze Phase gleichsam postumer Verfolgung setzte nach dem Zweiten Weltkrieg ein, nur wurde Comenius in dieser Phase mit den Deutschen, genauer mit dem deutschen Protestantismus, in enge Verbindung gebracht. Schon die deutsche Inschrift auf seinem Denkmal in Lissa genügte in der emotional aufgeladenen Zeit nach 1945 als Grund, dieses zu zerstören. Die in Teilen extrem abfällige Bewertung von Comenius in Polen fand ihren Höhepunkt bei dem polnischen Publizisten Jędrzej Giertych, der 196� in seinem umfangreichen Buch U żródeł katastrofy dziejowej Polski. Jan Amos Komensky (Zu den Quellen der historischen Katastrophe Polens. Johann Amos Comenius) den Brüdertheologen nachgerade als Erzfeind der Rzeczpospolita charakterisierte. Obwohl sich das Bild von Comenius in den folgenden Jahrzehnten rasch wieder differenzierte, blieb sein Gedächtnis in Polen stets ambivalent. 702

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e) Staatsphilosoph im demokratischen Nationalstaat Exakt 300 Jahre nach Ausbruch jenes Ständeaufstands, dessen Scheitern im kollektiven Gedächtnis der Tschechen als Beginn einer langen Phase tiefer Demütigung und Überfremdung gedeutet wurde, gelang die Gründung eines eigenständigen Nationalstaats. Masaryks Darstellung seines Wirkens im Ersten Weltkrieg trägt den Titel Světová revoluce. Za války a ve válce 1914–1918 (1925, deutsch 1927 unter dem Titel: Die Weltrevolution. Erinnerungen und Betrachtungen 191�–1918), das erste Kapitel über das Kriegsjahr 1914 die Überschrift „Das Vermächtnis von Comenius“. Dessen Testament der sterbenden Brüder-Unität von 1650 – „Denn auch ich glaube dem Gott, daß nach dem Vorübergehen der […] Zornesstürme die Verwaltung Deiner Angelegenheiten wieder zu Dir zurückkehrt, oh tschechisches Volk“ – wurde hier vollständig auf die Wiedererlangung der Unabhängigkeit bezogen. Gerade diese Worte des Brüderbischofs stellte Masaryk am 22. Dezember 1918 auch an den Beginn seiner ersten Rede als Staatspräsident an die tschechoslowakische Nation. Es ist in besonderer Weise der Autorität des Staatsgründers und „Präsidenten-Befreiers“ zu verdanken, daß Comenius die zentrale Erinnerungsfigur für die politische Kultur der Ersten Republik wurde. Daß man nach Erringung der Eigenstaatlichkeit auch nominell bei der neu begründeten evangelischen Unionskirche an das altbrüderische Erbe anknüpfte, erhöhte die Popularität des berühmten Theologen noch um ein weiteres. Darüber hinaus wurde Comenius in den Dienst des Tschechoslowakismus gestellt, einer Integrationsideologie, die dringend neuer Inhalte und Symbole bedurfte. Die Prager Machthaber entschieden, die neue Landesuniversität im slowakischen Preßburg nach Comenius zu benennen – und wurden umgehend von denjenigen, die auf eine slowakische Kulturautonomie pochten, einer tschechisierenden Bildungs- und Kulturpolitik bezichtigt. Die Frage, wo die „heimischen Wurzeln der tschechischen Wiedergeburt“ lägen – so der Titel eines wichtigen Werkes von Jan Blahoslav Čapek aus dem Jahr 19�0 (Domácí kořeny našeho obrození) –, blieb ebenso offen wie die Frage der Zugehörigkeit und Bedeutung von Comenius, die im Ergebnis wohl vor allem zur nationalen Desintegration zwischen (tendenziell atheistischen) Tschechen und (tendenziell gläubigen) Slowaken beigetragen hat. f) Staatliche Geschichtspolitik und wissenschaftliche Freiräume in der kommunistischen Ära Für diese Phase gilt zusammenfassend, was der deutsche Comenius-Forscher Franz Hofmann mit den Worten formulierte: Je nachdem, ob das sozialpolitische und ideologisch dominierende Interesse der Herrschenden oder das Streben der um Freiheit und nationale Unabhängigkeit ringenden Volksmassen die Hinterlassenschaft von Comenius in Besitz genommen habe, sei diese entweder im Interesse der Beharrung und der gesellschaftlichen Reaktion oder im Interesse des Fortschritts gedeutet worden. Ent703

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sprechend ambivalent gestaltete sich die Darstellung seiner Person und seines Werkes im öffentlichen Raum. Eine mit religiösen Konnotationen derart beladene Erinnerungsfigur wie Comenius, die wie keine andere Gestalt die Emigration des 17. Jahrhunderts personifizierte und überdies nostalgische Rückblicke auf Masaryk und die Erste Tschechoslowakische Republik provozierte, mußte zwangsläufig bei dem neuen Regime Verdacht erwecken. Umgekehrt konnte sie sich leicht zur Protestfigur derer entwickeln, die politisch mit den neuen Machthabern nicht übereinstimmten. Genau diese Entwicklung trat ein, als Ende der 1960er Jahre eine der Ikonen des Prager Frühlings, die populäre Sängerin Marta Kubišová, in ihrem Lied Modlitba pro Martu (Das Gebet für Marta) Comenius’ Botschaft an sein tschechisches Volk wiederbelebte. Ähnlich wie ein halbes Jahrhundert zuvor löste auch 1968, als der Prager Frühling durch den Einmarsch sowjetischer Truppen ein gewaltsames Ende fand, der feste Glaube des Comenius, daß die Verwaltung der eigenen Angelegenheiten eines Tages wieder in die Hände des Volkes zurückkehren werde, stärkste Emotionen aus. Auch wenn das Regime sich nicht offiziell gegen Comenius als Verfechter der Unterdrückten und Apostel des Friedens wandte, so waren die Schwierigkeiten doch unübersehbar, unter den gegebenen politischen Rahmenbedingungen ein Comenius-Thema im öffentlichen Raum zu diskutieren. So beklagte der tschechische Regisseur Otakar Vávra etwa 2011 in seinem Werk Paměti, aneb Moje filmové 100letí (Erinnerungen, oder Mein Filmjahrhundert), auf welche mannigfachen Schwierigkeiten er bei seinem Versuch gestoßen sei, das Leben von Comenius zu verfilmen. Nach dem militärisch erzwungenen Ende des Demokratisierungsprozesses in der Tschechoslowakei wurde zwei Jahrzehnte lang jede offizielle wissenschaftliche Tätigkeit einer strengen ideologischen Kontrolle unterworfen. Die Geschichtsforschung insgesamt war in den Verdacht geraten, die Fundamente der politischen Ordnung zu untergraben. Es begann die Zeit der Säuberungen, Restriktionen und Repressionen, jene Phase der Publikationsverbote und des Samisdat, in der ein in Ungnade gefallener marxistischer Intellektueller wie Robert Kalivoda ins Comenius-Museum nach Ungarisch Brod ausweichen mußte, um eigene Arbeiten fortzusetzen und zur Diskussion zu stellen. Daß Comenius seinen Wert als Erinnerungsfigur wie als Forschungsobjekt wahrte, verdankte sich vor allem jenen „geheiligten Themen“, die Zdeněk Nejedl�, erster und langjähriger tschechoslowakischer Kulturminister und bis zu seinem Tod 1962 Präsident der Akademie der Wissenschaften in Prag, im Rahmen seiner Theorie der nationalkulturellen Traditionen formuliert hatte. Betrachtete man die Entwicklung von Hus bis zum Ständeaufstand von 1618 als Gesamtprozeß, als eine in sich verbundene böhmische Reformationsepoche, so würden die böhmischen Brüder nahezu zwangsläufig einen Status als die vermeintlich wahren Erben des Hussitismus gewinnen. Die institutionell und personell vergleichsweise gut ausgestattete Comenius-Forschung bot insofern eine wichtige Plattform für tschechische und slowakische Studien zu Reformation und konfessionellem Zeitalter. Dies ist ablesbar an den einzelnen Vorträgen der Colloquia Comeniana in Prag, Preschau und Olmütz, gilt aber besonders für die international am stärksten wahrgenommenen Tagungen in Ungarisch Brod und die am dortigen Comenius-Museum seit 1971 70�

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Die pädagogische Wochenzeitschrift Komenský – die Abbildung zeigt das Titelblatt der Ausgabe vom 13. Januar 1893 – erschien im mährischen Olmütz seit dem Jahr 1871. Sie war, wie es in der Unterschrift heißt, der gesamten tschechischen Lehrerschaft sowie allen Freunden des Schulwesens und der Jugend gewidmet. Genannt werden ferner sechs Hauptwerke des Comenius, von der Didactica magna bis zum Labyrint světa a ráj srdce (Das Labyrinth der Welt und das Paradies des Herzens). Die Zeitschrift enthielt Informationen zur Lage des tschechischen Schulwesens, Kommentare zu den Schulgesetzen, Berichte zum alltäglichen Schulbetrieb, Hinweise zu den Löhnen der Lehrer und andere Mitteilungen. Sie berichtete ferner aus dem Leben der Lehrer-Vereine, informierte über neue Schulbücher und stellte Neuerscheinungen der Kinder- und Jugendliteratur vor. Gelegentlich finden sich in der Zeitschrift auch Aufsätze über Johann Amos Comenius und dessen Werk. Ihr Herausgeber, der Lehrer und Fachschriftsteller František Slaměník (18�5–1919), war ein agiler Organisator des mährischen Kulturlebens. Er war Mitbegründer des Comenius-Museums in Prerau (1888), Mitglied verschiedener Lehrer-Vereine in Böhmen sowie der Berliner Comenius-Gesellschaft. Bildnachweis: Filosofický ústav Akademie věd České republiky, Oddělení pro studium a edici díla Jana Amose Komenského, Knihovna, Sign. C 23.

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herausgegebene Zeitschrift Studia Comeniana et historica. „Eine gewisse provinzielle Abgeschiedenheit und der offizielle Respekt vor Comenius schufen hier zusammen mit den Anstrengungen der Gruppe um [Pavel] Floss selbst das wohl liberalste Milieu in den Gesellschaftswissenschaften außerhalb der Dissidentenbewegung“, urteilte 1992 der mährische Historiker Josef Válka. Auch die parallel in Prag publizierten, auf ein schon 1910 von Ján Kvačala begründetes Fachorgan zurückgehenden Acta Comeniana boten stets eine wesentlich breitere Themenpalette, als es der Titel zunächst nahelegt. g) Komenský-Comenius: Vom tschechischen Patrioten zum Brückenbauer in Europa Angesichts der Wertschätzung Masaryks und der Bedeutung der Ersten Republik für die sich erneuernde Demokratie in der Tschechoslowakei wundert es kaum, daß schon bei den ersten Demonstrationen im Herbst 1989 das berühmte, lange Jahre aber verbotene Lied von Marta Kubišová erneut erklang. Als ein Symbol der eigenständigen Tschechoslowakei 1918 und des Prager Frühlings 1968 wurden Comenius’ prophetische Worte von 1650 zum Symbol der Velvet Revolution. Und genau wie Masaryk im Dezember 1918 erinnerte auch Václav Havel Ende Dezember 1989 in seiner ersten Botschaft als neugewählter Präsident der Tschechoslowakei an die Nation abermals an das Vermächtnis des Comenius. Dieser avancierte nach mehreren Metamorphosen ein weiteres Mal – in diesem Fall zum Vordenker jenes Zpátky do Evropy, des „Zurück nach Europa“, das sich Vertreter nahezu aller Parteien auf ihre Fahnen schrieben. Comenius ist seither auch in der Tschechischen Republik, was er seit dem späten 18. Jahrhundert schon im westeuropäischen Raum war: eine genuin europäische Erinnerungsfigur. IV. Auswahlbibliographie a) Werke (Gesamt- und Auswahlausgaben) KoMensKý, Jan Amos: Vybrané spisy [Ausgewählte Schriften]. Hg. v. Josef KoříneK und Josef šMaha, Bd. 1–2. Praha 1871–1872; ders.: Sebrané spisy vychovatelské [Gesammelte erzieherische Schriften]. Hg. v. Josef šMaha, Bd. 1–3. Praha 1886; ders.: Veškeré spisy [Allgemeine Schriften]. Hg. v. Jan KvačaLa u. a., Bd. 1, �, 6, 9–10, 15, 17–18. Praha/Brno 1910–1929; ders.: Vybrané spisy [Ausgewählte Schriften]. Hg. v. Jan patočKa u. a., Bd. 1–8. Praha 1958–1975; ders.: Opera didactica omnia. Hg. v. Otokar chLup, Bd. 1–3. Pragae 1957; ders.: Opera Omnia. Dílo. Hg. v. Jiří daňheLKa u. a., bisher Bd. 1–�, 9/1, 11–15/�, 17–18, 23. Praha 1969–2011; ders.: Gewalt sei ferne den Dingen. Eine Auswahl aus seinen Schriften. Hg. v. Edith bieWend. Heilbronn 1971; ders.: Ausgewählte Werke. Hg. v. Dmitrij tschižeWsKiJ und Klaus schaLLer, Bd. 1–�. Hildesheim/New York 1973–1983; hericKs, Uwe u. a. (Hg.): Comenius der Pädagoge. Baltmannsweiler 200�; dieterich, Veit-Jakobus/hecKer, Hans (Hg.): Comenius der Politiker. Baltmannsweiler 200�; coMenius, Johann Amos: Antisozinianische Schriften. Hg. v. Erwin schadeL. Frankfurt am Main 2007; ders.: Pansophische Schriften. Hg. v. Matthias scherbauM. Oberhaid 2008.

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b) Darstellungen bayLe, Pierre: Comenius. In: ders.: Dictionaire historique et critique, Bd. 2. Rotterdam 17�0, 202–205; adeLunG, Johann Christoph: Jan Amos Comenius. In: ders.: Geschichte der menschlichen Narrheit, Bd. 1. Leipzig 1785, 196–235; paLacKý, František: Život J. A. Komenského [Das Leben von J. A. Comenius]. In: Časopis Českého Muzea 3 (1829) 19–25; ders.:: Über J. A. Comenius und sein Werk. In: Monatsschrift der Gesellschaft des vaterländischen Museums 3 (1829) 255–268, 330–3�3; sLadKovsKý, Karel: Slavnostní řeč [Feierliche Rede]. In: Na památku Jana A. Komenského. Praha 1865, 5–15; brynych, Edward: Jan Amos Komensk�. Pro katolick� lid [Johann Amos Comenius. Für das katholische Volk]. Praha 1892; herder, Johann Gottfried: Über den menschenfreundlichen Comenius. Brief aus dem Jahre 1795. In: Monatshefte der Comenius-Gesellschaft 9 (1900) 263–272; hendrich, Josef: Jak odůvodnila censura zákaz Didaktiky Komenského [Wie die Zensur das Verbot von Comenius’ Werk Didaktik begründete]. In: KLíMa, Jiří Václav (Hg.): Pedagogick� sborník na počest Otakara Kádnera. Praha 1930, 26�–266; hýseK, Miloslav: Komensk� v beletrii [Comenius in der Belletristik]. Praha 1931; čapeK, Jan Blahoslav: Domácí kořeny našeho obrození [Die heimischen Wurzeln unserer Wiedergeburt]. Praha 19�0; LudvíKovsKý, Jaroslav: Dobrovsk� a Komensk� [Dobrovsk� und Comenius]. In: Archiv pro bádání o životě a spisech J. A. Komenského 15 (19�0) 16–28; KrátKý, Radovan/stejsKal, Václav (Hg.): Apoštol míru J. A. Komensk� [Apostel des Friedens J. A. Comenius]. Praha 19�9; říčan, Rudolf: Dějiny Jednoty bratrské [Geschichte der Brüder-Unität]. Praha 1957; brocK, Peter: The political and social doctrines of the Unity of Czech Brethren in the fifteenth and early sixteenth centuries. ’s Gravenhage 1957; švanKMaJer, Milan: Pospíšilův pokus o vydání Praxis pietatis r. 1823 [Der Versuch von Pospíšil, das Werk Praxis pietatis im Jahr 1823 herauszugeben]. In: Acta Comeniana 18/1 (1959) 7�–75; ders.: K zákazu „Labyrintu světa“ r. 1825 [Zum Verbot des Werkes Labyrinth der Welt im Jahr 1825]. In: Acta Comeniana 18/2 (1959) 169–170; poLišensKý, Josef: Jan Amos Komensk� [Johann Amos Comenius]. Praha 1963; Giertych, Jędrzej: U żródeł katastrofy dziejowej Polski. Jan Amos Komensky [Zu den Quellen der historischen Katastrophe Polens. Johann Amos Comenius]. Londyn 196�; bLeKastad, Milada: Comenius. Versuch eines Umrisses von Leben, Werk und Schicksal des Jan Amos Komensk�. Oslo/Prag 1969; frinta, Antonín: O poměru Poláků ke Komenskému [Über das Verhältnis der Polen zu Comenius]. In: sedLář, Richard u. a. (Hg.): Universita Karlova J. A. Komenskému 1670– 1970. Sborník prací učitelů a studentů Univ. Karlovy k 300. v�ročí umrtí J. A. Komenského. Praha 1970, 138–1�3; schaLLer, Klaus u. a.: Jan Amos Komensk�. Wirkung eines Werkes nach drei Jahrhunderten. Heidelberg 1970; ders.: Comenius. Darmstadt 1973; braMbora, Josef: K opětnému oživení ideí Komenského ve vlasti v první polovině XIX. století [Zur abermaligen Wiederbelebung der Idee von Comenius in der Heimat in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts]. In: Studia Comeniana et historica 18/VIII (1978) 5–3�; KLecKerová, Marcela H.: Sochy J. A. Komenského na Moravě [J. A. ComeniusStatuen in Mähren]. Přerov 1979; ŚLizińsKi, Jerzy: Postać Jana Amosa Komeńskiego na łamach encyklopedii polskich XIX i XX wieku [Die Stellung von Johann Amos Comenius in Einträgen polnischer Enzyklopädien des 19. und 20. Jahrhunderts]. In: Studia Comeniana et historica 19/21 (1979) 97–101; válKa, Josef: Komensk� v Baylově slovníku. Historické paralely a rozdíl diskursu [Comenius in Bayles Wörterbuch. Historische Parallelen und Unterschied der Diskurse]. In: Studia Comeniana et historica 19/37 Sborník (1989) 1�0–1�9; páneK, Jaroslav: Jan Amos Komensk�-Comenius. La voie d’un penseur tchèque vers la réforme universelle d’affaires humaines. Prague 1990; čapKová, Dagmar: Masaryk a Komensk� [Masaryk und Comenius]. In: Československé školství, učitelstvo a T. G. Masaryk. Přerov 1990, 79–85; MaLý, Karel (Hg.): Pocta Univerzity Karlovy J. A. Komenskému [Festschrift der Karlsuniversität für J. A. Comenius]. Praha 1991, 56–6�; KuMpera, Jan: Jan Amos Komensk�. Poutník na rozhraní věků [Johann Amos Comenius. Ein Wanderer an der Grenze eines Zeitalters]. Ostrava 1992; GossMann, Klaus/schröer, Henning (Hg.): Auf den Spuren des Comenius. Texte zu Leben, Werk und Wirkung. Göttingen 1992; MacK, Karlheinz (Hg.): Jan Amos Comenius und die Politik seiner Zeit. Wien/München 1992; čapeK, Jan Blahoslav: Na cestě z labyrintu. Komensk� a v�chodní Čechy [Auf

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Stephan Bocskai I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Formen der Erinnerung. – a) 17. und 18. Jahrhundert. – b) 19. und 20. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Stephan Bocskai (Bocskay), seit 1605/06 Fürst von Siebenbürgen und zugleich vom ungarischen Adel gewählter Fürst von Ungarn, war eine der Symbolfiguren der ungarischen Reformation. Unter Berufung auf die Gewissensfreiheit setzte sich der protestantische Adelige mit Nachdruck für die freie Religionsausübung ein und schuf in Ungarn die Grundlagen für eine militärische und politische Friedensperiode sowohl mit den Osmanen als auch mit den Habsburgern. Bocskai, den die ungarische Geschichtswissenschaft vor allem als begabten Staatsmann interpretiert und würdigt, wird in der reformierten Kirche als Verteidiger der Religionsfreiheit gefeiert und verehrt. II. Leben Stephan Bocskai, am 1. Januar 1557 in Klausenburg als Sohn von György Bocskai von Kismarja und Krisztina Sulyok geboren, wuchs am kaiserlichen Hof in Wien und in Prag auf. Als sein Schwager Christoph Báthory Woiwode von Siebenbürgen wurde, zog er zurück in seine Heimat. Nach dem Tod seines Schwagers 1581 erhielt er ein erstes wichtiges Amt, als er zum Vormund des unmündigen Fürsten Sigismund Báthory ernannt und damit Mitglied des Fürstenrats wurde. 1583 heiratete Bocskai die Witwe von Miklós Warkovics, Margit Hagymássy, wodurch sein Besitz im Komitat Bihar erheblich vergrößert wurde. Neben Sigismund Báthory war Bocskai der wichtigste Anführer des Militärs, das sich gegen das Osmanische Reich stellte. Zwischen 1592 und 1598 wirkte er als Kapitän von Wardein und Obergespan von Bihar, 1595 übte er faktisch das Kommando des Feldzugs in der Walachei gegen die Osmanen aus. Zwischen 1594 und 1599 war er mehrmals Botschafter Sigismund Báthorys am Prager Hof Rudolfs II.; in dieser Funktion hielt er in Graz für den Fürsten um die Hand Erzherzogin Maria Christinas von Österreich an. Als die Osmanen in Siebenbürgen jedoch zum Gegenangriff übergingen und die versprochene militärische Unterstützung Rudolfs II. ausblieb, dankte Báthory zugunsten der Habsburger ab. Bocskai selbst wurde vom siebenbürgischen Landtag verbannt und kehrte an den kaiserlichen Hof nach Prag zurück. Als er gegen die vom kaiserlichen General Giorgio Basta in Siebenbürgen eingeführte Schreckensherrschaft aufbegehrte, wurde er kurzerhand in Prag inhaftiert; erst im Jahr 160� vermochte er auf seine Biharer Ländereien zurückzukehren. Dort versuchte ihn Gabriel Bethlen im Namen der in das Osmanische Reich geflüchteten Adeligen für einen Aufstand gegen das im Königlichen Ungarn regierende Haus 709

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Habsburg zu gewinnen, doch Bocskai lehnte ab. Erst einige Zeit später schloß er sich doch der Bewegung an und gelangte bald an deren Spitze. Zahlreiche Beweggründe trugen dazu bei: der lange und erfolglose Kampf gegen die Osmanen seit 1591, der sich immer mehr zu einem Stellungskrieg entwickelt hatte, die Fiskalprozesse, die von der landesherrlichen Verwaltung gegen ungarische Großgrundbesitzer geführt wurden, die zunehmend militante Gegenreformation, die Verletzung der ständischen Freiheiten, schließlich das Schreckensregiment Bastas von 1600 bis 160� in Siebenbürgen, das große Bevölkerungsverluste zur Folge gehabt hatte. Im Gegensatz zur Regierung in Wien bemühte sich Bocskai, das unter der Hoheitsgewalt der Osmanen stehende Fürstentum Siebenbürgen im Innern zu stabilisieren und außenpolitisch zu einem ernstzunehmenden Machtfaktor zwischen dem Osmanischen Reich und der Habsburgermonarchie zu positionieren. Im Kampf um die Religionsfreiheit stellte sich ein Großteil der Bevölkerung nicht nur in Siebenbürgen, sondern auch in dem größtenteils protestantischen Oberungarn hinter Bocskai. Entscheidend war, daß es ihm gelang, die Hajducken, bis dahin in kaiserlichen Diensten stehende Freischärler, auf seine Seite zu ziehen. Mit Unterstützung der Hajducken gelang es Bocskai am 1�./15. Oktober 160�, bei Álmosd einen Sieg gegen die Truppen General Bastas zu erringen. Die Schlacht war allerdings eher politisch als militärisch von Bedeutung, und zwar aus zwei Gründen: Zum einen öffneten die Bewohner der mehrheitlich protestantischen königlichen Freistädte in Oberungarn den Aufständischen bereitwillig die Stadttore, zum anderen konnten nun endlich offizielle Verhandlungen mit einem Repräsentanten des kaiserlichen Hofs – mit Erzherzog Matthias, dem Bruder Kaiser Rudolfs II. – aufgenommen werden. Nach Abschluß des Wiener Friedens am 23. Juni 1606, der das Verhältnis zwischen Landesherrschaft und Ständen in Ungarn über lange Jahrzehnte bestimmen sollte, wurde durch Vermittlung Bocskais auch ein Friedensvertrag zwischen Wien und der Pforte geschlossen: Der Vertrag von Zsitvatorok vom 11. November 1606 leitete eine beachtlich lange Friedensperiode zwischen Christen und Muslimen in Südosteuropa ein. Die Wirkungen der von ihm maßgeblich ausgehandelten Friedensverträge erlebte Bocskai, der am 29. Dezember 1606 in Kaschau starb, allerdings nicht mehr. III. Formen der Erinnerung a) 17. und 18. Jahrhundert Bocskai übte bereits zu seinen Lebzeiten innerhalb wie außerhalb Ungarns große Wirkung auf seine Zeitgenossen aus. An seiner Person schieden sich allerdings die Geister: Während er in Ungarn und Siebenbürgen als Friedensstifter und Verteidiger der Religionsfreiheit höchstes Ansehen genoß, wurde er im Ausland als Antitrinitarier und Türkenfreund gesehen. Um auch dort anerkannt und unterstützt zu werden, betrieb Bocskais Fürstenhof in Kaschau eine intensive Propagandaarbeit. Mit zahlreichen Aufrufen und Flugschriften, die in Anlehnung an das calvinistische Widerstandsrecht die freie 710

Stephan Bocskai

Religionsausübung als ständisches Freiheitsrecht einforderten, wandte man sich an die europäische Öffentlichkeit. Die Texte stammten von verschiedenen Personen: von dem reformierten, in Heidelberg ausgebildeten Hofprediger Péter Alvinczi, dem Dichter und Kaschauer Oberrichter Johann Bocatius (Bock), dem Diplomaten János Rimay und nicht zuletzt von István Illésházy, der in der Ämterhierarchie später bis zum Palatin aufstieg. Die vermutlich von Alvinczi verfaßte, unter dem Titel Bocskai-Apologie bekannte Flugschrift vom 16. Juni 1606 beispielsweise wies die Anschuldigungen gegen Bocskai – man hatte ihn bezichtigt, die Dreifaltigkeit Gottes geleugnet zu haben – zurück; ferner brachte sie die Sorge zum Ausdruck, daß sich der Islam in Ungarn weiter verbreiten könne, und sie mahnte Reformierte und Lutheraner zur Einigkeit. Der Humanist Albert Szenczi Molnár, der über gute internationale Beziehungen verfügte, brachte die Apologie in Hanau zwischen 1606 und 1608 dreimal zum Druck. Es gibt darüber hinaus Belege, daß auch Bocskai selbst darauf hinwirkte, seine politischen und religiösen Ansichten im christlichen Europa bekannt zu machen. Deutlich wird dies etwa an den Anfang des 17. Jahrhunderts auf Ungarisch erschienenen Schriften von Johann Bocatius Öt év börtönben (Fünf Jahre im Gefängnis) und Olympias carceraria. Gegen Ende seines Lebens dachte Bocskai an eine historische Bearbeitung der Ereignisse: Für István Szamosközi, den er zum Landesgeschichtsschreiber ernannte, hinterließ Bocskai in seinem Testament 200 Forint, um ein historisches Werk über seine Epoche zu veröffentlichen. In zeitgenössischen, teils in lateinischer oder deutscher Sprache, teils auf Ungarisch verlegten Werken, Flugschriften und geographischen Beschreibungen wurde somit das Bild von Bocskai als Verteidiger der freien Religionsausübung gefestigt. Bereits zu Lebzeiten Bocskais wurden erste repräsentative Porträts von ihm angefertigt und verbreitet. Den bedeutendsten Kupferstich, der für lange Zeit in ganz Europa vielfach kopiert werden sollte, fertigte 1604 der Nürnberger Drucker Balthasar Caymox an. Auch die zweite bekannte Darstellung Bocskais, die den Fürsten von Siebenbürgen unter seinen Hajducken darstellt, wurde 1606 von einem Nürnberger Drucker – Wilhelm Peter Zimmermann – angefertigt. Vor allem im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und in den reformierten Territorien Europas entstand so ein bis in das 20. Jahrhundert andauerndes verklärendes Bocskai-Bild, das in der Darstellung des Fürsten am Internationalen Reformationsdenkmal in Genf seinen Höhepunkt erreichte. Die dort im Jahr 1917 aufgestellte Bocskai-Statue ist das Werk des französisch-polnischen Bildhauers Paul Landowski – sie ist bis zur Gegenwart zugleich die einzige Bocskai-Statue, die nicht von einem ungarischen Künstler angefertigt wurde. Auf einem die Statue umgebenden Relief des Bildhauers Henri Bouchard übergeben Bocskai sowie weitere Adelige, Bürger und Pfarrer dem ungarischen Landtag am 13. Dezember 1606 den Friedensvertrag von Wien – also jenes Dokument, in dem Kaiser Rudolf II. den ungarischen Ständen die Religionsfreiheit zusicherte. Diese Anordnung unter dem Begleittext „Der Glaube, unser Gewissen und die alten Gesetze sind mehr wert als Gold“ trug dazu bei, Bocskais Rolle als Verteidiger der Religionsfreiheit im Bewußtsein der Reformierten weltweit zu verankern. In der ungarischen Öffentlichkeit konnte Bocskai nicht nur als Verfechter der Religionsfreiheit, sondern auch als Anwalt der ständischen Freiheitsrechte gegenüber dem 711

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Haus Habsburg erscheinen. János Debreceni Szappanos, Archivar des Wardeiner Domkapitels, hatte Bocskai in seinem 1605 in Debrecen gedruckten lateinisch- und ungarischsprachigen Gedicht Militaris congratulatio comitatus Bihariensis zum ersten Mal gleichermaßen als Verteidiger religiöser Selbstbestimmung und als siegreichen Feldherrn beschrieben, indem er ihn durch die biblischen Parallelen zu Moses und Gideon zum göttlichen Erlöser Ungarns stilisierte. Szappanos verband dieses Motiv mit dem älteren literarischen Topos der Querela Hungariae, dem Bild eines seiner Sünden wegen von Gott bestraften Ungarn, um auf diese Weise die Rolle von Bocskai als des von Gott gesandten Erlösers noch stärker hervorzuheben. Dieses komplexe Bild wurde in Werken ungarischer protestantischer Autoren seit dem 17. Jahrhundert zur Tradition. Besonders in Siebenbürgen etablierte sich ein im Kern politisch motivierter Bocskai-Kult. Fürst Gabriel Bethlen, der militärisch in den Dreißigjährigen Krieg involviert war, stützte sich beispielsweise auf die Argumente der Kaschauer Gefährten Bocskais, darunter auf Péter Alvinczis Flugschrift Querela Hungariae aus dem Jahr 1619. Mit der neuerlichen Herausgabe der Schrift sollte der Feldzug Bethlens gegen das Haus Habsburg, der zugleich dem Schutz des Protestantismus diente, legitimiert werden. Johann Kemény, Nachfolger Bocskais und Bethlens auf dem siebenbürgischen Fürstenthron, lobte Bocskai in seiner zwischen 1657 und 1659 verfaßten Selbstbiographie als Türkenkämpfer, Landesverteidiger und Patron der Hajducken und tradierte somit wichtige Elemente eines politischen Bocskai-Bildes weiter. Im Königlichen Ungarn, wo die Voraussetzungen für die katholische Erneuerung und Gegenreformation besonders günstig waren, begann sich allerdings schon im 17. Jahrhundert ein anderes Bild des Fürsten von Siebenbürgen zu entwickeln. Es findet sich zuerst in einem Kreis katholischer Literaten, im 18. Jahrhundert dann auch in den Geschichtslehrbüchern der Jesuiten. Beispielhaft hierfür ist das Werk von Károly Ferenc Palma, den späteren Hofkaplan Maria Theresias, der Bocskai zusammen mit Franz II. Rákóczi als Rebellen darstellte und ihr jeweiliges Vorgehen unmißverständlich als Aufstand bezeichnete. Auch wenn solche Bewertungen auf katholischer Seite nicht einheitlich übernommen wurden, so blieb das Bocskai-Bild fortan doch gespalten. In der politischen Öffentlichkeit verblaßte die Erinnerung an Bocskai allerdings ohnehin mit der Zeit, denn der von Rákóczi geführte Freiheitskampf wurde 1711 in Szatmár mit einem dauerhaften Kompromiß zwischen Herrscher und Ständen beendet, so daß die Frage der Religionsfreiheit auf den Landtagen immer mehr in den Hintergrund geriet. Die Erinnerung an Bocskai wurde seither nur noch von den reformierten Kollegien und besonders von den Hajducken-Orten in Ostungarn gepflegt. Im Kreis der reformierten Hajducken entstanden zahlreiche Kampf- und Historienlieder sowie Heldensagen über Bocskai, die von Generation zu Generation weitergegeben wurden. Der Fürst von Siebenbürgen wurde dabei nicht nur als Verteidiger einer allgemein verstandenen Libertaskultur, sondern auch als Begründer der Hajduckenrechte hervorgehoben. Bocskai war es gelungen, rund 10.000 Hajducken auf seinen Besitztümern anzusiedeln. Durch die Verleihung umfassender Freiheitsrechte hatte er die bis dahin sozial marginalisierte, militärisch aber höchst agile Schicht erfolgreich in die Gesellschaft integriert. Das Recht 712

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des freien Bauernstandes und der Steuerfreiheit für die Hajducken galt bis zur Auflösung ihres privilegierten Gebiets, bestehend aus den Orten Böszörmény, Dorog, Hadház, Nánás, Polgár, Szoboszló und Vámospércs, im Jahr 1876. b) 19. und 20. Jahrhundert Ein neuer Bocskai-Kult begann sich gerade bei den Hajducken in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts zu entfalten, als im Stammort der Familie Bocskai, in Kismarja, und im Hajduckendistrikt zwei Dorfmaler tätig wurden. Der Dorfmaler von Kismarja, András Kiss, versorgte zahlreiche Familien mit dem Bildnis des Fürsten, so daß schon nach kurzer Zeit – folgt man den zeitgenössischen Aufzeichnungen – nicht nur in jedem Privathaus, sondern auch in der örtlichen reformierten Kirche und im Gemeindehaus ein von ihm angefertigtes Bocskai-Porträt hing. János Szüts von Dorog versorgte dagegen die Hajduckenstädte mit seinen Porträts des Fürsten. Auch in den politisch aufgeladenen Jahren 18�8/�9 wurde nicht zufällig im Hajduckendistrikt, wo man ein BocskaiHusarenregiment aufstellte, die Erinnerung an den großen Feldherrn vorangetrieben. Der „neue Moses“, der von Gott gesandte Erlöser, war allerdings der Revolutionsführer Lajos Kossuth. Die Erinnerung an Bocskai spielte bei Lichte besehen nur noch eine untergeordnete Rolle und wurde in der Populärliteratur auch seltener bedient als im Fall von Franz II. Rákóczi. Erst nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867, als die Erinnerung an den Freiheitskämpfer eine verbreitete Ausdrucksform nationaler Identität wurde, nahm der Bocskai-Kult abermals einen Aufschwung. Einen Höhepunkt erreichte die Verehrung zur Zeit der Bocskai-Jubiläen in den Jahren 1904 bis 1906. Besonders hervorzuheben sind die Statuen von Barnabás Holló in Budapest, die 1903 mit finanzieller Hilfe Kaiser Franz Josephs I. zunächst auf der Rondella aufgestellt und 1906 für Debrecen neu gegossen wurden, ferner die in Hajdúböszörmény 1907 errichtete Statue, die Bocskai mit einem Hajducken darstellt, der aus den Händen des Fürsten die Urkunde mit den Hajduckenprivilegien entgegennimmt. 1904 wurden überdies in dem gerade fertiggestellten Gebäude des ungarischen Parlaments zwei Bocskai-Statuen aufgestellt; die eine schmückt die Fassade, die andere den Kuppelsaal des Gebäudes. Die Statuen sowie verschiedene, von eher weniger bekannten Literaten der Zeit verfaßte Werke festigten das traditionelle Bild des siegreichen Freiheits- und Glaubenskämpfers weiter. An diesem Bild versuchte lediglich der Dichter Endre Ady in einer 1906 im Budapesti Napló erschienenen Glosse zu rütteln, indem er Bocskai als Prototypen eines „wahren europäischen großen Ungarn, den es nicht mehr gibt“, bezeichnete und gleichzeitig die Forderung erhob, den Fürsten nicht nur den Protestanten und den Hajducken zu überlassen. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts war das herkömmliche Bild über Bocskai in Werken der bildenden Kunst und der Literatur jedoch weiterhin vorherrschend. Nach dem Ersten Weltkrieg und dem Vertrag von Trianon (1920) wurde Bocskais Rolle als Verteidiger der nationalen Freiheit stark hervorgekehrt. Als besondere Ausdrucksform 713

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Schon zu Lebzeiten Bocskais wurden die ersten repräsentativen Porträts über ihn angefertigt und verbreitet. Auch der Kupferstich von Eberhard Kieser (1583–1631) fand große Verbreitung. Vor allem im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation und in den reformierten Territorien Europas entstand ein bis in das 20. Jahrhundert andauerndes positives Bocskai-Bild. Bildnachweis: Magyar Nemzeti Múzeum Budapest, Historische Bildergalerie, Nr. 808.

erschien in dieser Zeit die sogenannte Bocskai-Tracht, zunächst als Schülertracht, dann ab den 1930er Jahren auch als Anzug für Erwachsene. Während des Zweiten Weltkriegs betonte man mit dieser Tracht eigene nationale Traditionen, sie war Ausdruck von Eigenständigkeit und Widerstand. Da die Kleidung auch als Gala-Uniform gleichwertig mit dem Frack getragen werden konnte, wurde sie 19�7, nachdem die Kommunistische Partei in Ungarn die Macht an sich gerissen hatte, als Zeichen der „bürgerlichen Welt“ verboten. Erst seit der politischen Wende von 1989/90 wird der Bocskai-Anzug wieder zu feierlichen Anlässen getragen. 71�

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Nach 19�7 wurde auch die ungarische Geschichte umgedeutet. Im Fall von Bocskai griff die offizielle Geschichtsschreibung auf das 19�3 von Aladár Mód publizierte Buch 400 év küzdelem az önálló Magyarországért (400 Jahre Kampf um die ungarische Freiheit) zurück, das zu einem erstrangigen ideologisch-historischen Propagandawerk der Kommunistischen Partei avancierte. Entsprechend der vulgärmarxistischen Sicht Móds wurde am Bocskai-Freiheitskampf vor allem die Rolle des unterdrückten Volkes hervorgekehrt, das sich gegen die habsburgischen Tyrannen auflehnte. Der Volksanführer Bocskai bekam im nationalen Pantheon einen besonderen Platz: Als 1955 die Statuen der Habsburger am Millenniumsdenkmal auf dem Budapester Heldenplatz gegen bedeutende Gestalten der ungarischen Geschichte ausgetauscht wurden, griff man auch auf die von Barnabás Holló für die Rondelle angefertigte Statue Bocskais zurück und verschaffte dieser einen neuen, exponierten Platz. Das auf den Freiheitskämpfer reduzierte Bocskai-Bild begann sich erst durch wissenschaftliche Publikationen zu wandeln, die anläßlich der Jubiläen in den Jahren von 200� bis 2006 veröffentlicht wurden und neue Fragen aufwarfen: die internationalen Zusammenhänge des Aufstands von Bocskai, das Verhältnis des Fürsten zum Osmanischen Reich, Elemente seiner Staatstheorie oder allgemein die Frage der nationalen Identität. Allmählich erfolgt so eine Neubewertung des Bildes von Bocskai und des von ihm geführten Aufstandes. Bocskai wird nicht mehr ausschließlich als militärischer Anführer betrachtet, sondern auch und vor allem als Begründer einer langjährigen Friedensepoche. Auch die reformierte Kirchengeschichtsschreibung, die sich mit dem vor 1604 auf Seiten der Habsburger stehenden Großgrundbesitzer Bocskai lange Zeit schwergetan hatte, zeichnet unterdessen ein deutlich differenzierteres Bild. Eine solche Wahrnehmung ist auch in der breiteren Öffentlichkeit zu beobachten – deutlich wurde dies anläßlich der jüngsten Jubiläen beispielsweise an der Vertonung des 1605 von János Debreceni Szappanos verfaßten Lobgedichtes Militaris congratulatio durch die aus Slowaken und Ungarn bestehende Musikband „Ghymes“. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen Zwantzig Warhaffte und Beweißliche Articul durch welche der Italianische Grafe in Belgiojosa Feldobrister in Ober Hungarn die Stadt Caschau, General Landstände, Heyduggen und Botzschkay, zur Rebellion, auch die Niederlag und Verlust der Röm. Kays. May. O. O. 1605; Abdruck Der Friedens Handlung und Vergleichung mit den Hungarischen Stenden. Insonderheit auch von dess Herrn Botschkay seiner Person, Titel und ganzen Befriedung. Prag 1607; phiLaLethes, Theophilus: Duellum Glöselianum, Das ist, zwey unterschiedliche, und darzu wiederwertige Bedencken über der Frag, Ob den Hungarischen Landstaenden die Freyheit der Religion zu zulassen sey […]. Leipzig 1609; orteLius, Hieronymus: Chronologia Oder Historische Beschreibung aller Kriegsempörungen und Belägerungen der Stätt und Vestungen auch Scharmützeln und Schlachten so in Ober und UnderUngern auch Siebenbürgen mit dem Türcken von Ao. 1395 biß auff gegenwertige Zeit gedenckhwürdig geschehen […]. Nürnberg 1613; rycaut, Paul: Historische Außführliche Beschreibung des gantzen Ottomanischen

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Nóra Etényi Reichs […]. Augsburg 1694; laMPe, Frid[rich] Adolph: Historia Ecclesiae Reformatae in Hungaria et Transylvania. Trajecti ad Rhenum 1728; sonKa, Ferenc (Hg.): Bocatius János: Öt év börtönben (1606–1610) [Fünf Jahre im Gefängnis (1606–1610)]. Budapest 1985; Ötvös, Péter (Hg.): Pálffy Kata leveleskönyve. Iratok Illésházy István bujdosásának történetéhez 1602–1606 [Postille der Kata Pálffy. Schriften zur Geschichte des Exils von István Illésházy 1602–1606]. Szeged 1991; benda, Kálmán (Hg.): Bocskai István: Levelek [Briefe]. Budapest/Bukarest 1992; sziGethy, Gábor (Hg.): Bocskai István Testámentomi rendelése [Stephan Bocskais Testament]. Budapest ²2001.

b) Darstellungen Lencz, Géza: Der Aufstand Bocskays und der Wiener Friede. Eine kirchenhistorische Studie. Debrecen 1917; benda, Kálmán: Bocskai István. Budapest 19�3 [²1993]; naGy, László: A Bocskai-szabadságharc katonai története [Militärgeschichte des Bocskai-Freiheitskampfes]. Budapest 1961; benda, Kálmán: Absolutismus und ständischer Widerstand in Ungarn am Anfang des 17. Jahrhunderts. In: Südost-Forschungen 33 (197�) 85–12�; barton, Peter F./MaKKai, László (Hg.): Rebellion oder Religion? Budapest 1977; szabó, András (Hg.): Iter Germanicum. Deutschland und die reformierte Kirche in Ungarn im 16. und 17. Jahrhundert. Budapest 1999; naGy, László: Egy szablyás magyar úr Genfben. (A sokarcú Bocskai István) [Ein ungarischer Magnat mit Schwert in Genf. (Die Gesichter Stephan Bocskais)]. Hajdúböszörmény 2000; barta, János/PaPP, Klára (Hg.): „Nincsen nekönk több hazánk ennél …“. Tanulmányok a Bocskai-felkelés történetéhez [„Wir haben keine andere Heimat als diese …“. Beiträge zur Geschichte des Bocskai-Aufstandes]. Budapest 2004; szeKeres, Gyula: „Rejtett hagyományok“. Bocskai hajdúinak népmondáiban [„Verborgene Traditionen“. Bocskai in den Sagen der Hajducken]. Hajdúböszörmény 2004; baKó, Endre: „Magyarok Mózese, hajdúk édesatyja“. Bocskai István alakja a magyar szépirodalomban [„Moses der Ungarn, Vater der Hajducken“. Stephan Bocskais Figur in der ungarischen Belletristik]. Debrecen 2004; sáGvári, György u. a. (Hg.): Bocskai és kora. Tanulmányok a Bocskai-szabadságharc �00. évfordulójára [Bocskai und seine Zeit. Aufsätze anläßlich des �00-jährigen Jubiläums des Bocskai-Freiheitskampfes]. Budapest 2005; naGy, László: Iratok Bocskai István és kora történetéhez. A Bocskai szabadságharc 400. évfordulója [Schriften zur Geschichte Stephan Bocskais und seiner Zeit. Anläßlich des �00-jährigen Jubiläums des Bocskai-Freiheitskampfes]. Debrecen 2005; szabó, András: „Téged Isten dicsérünk“. Bocskai István, Erdély és Magyarország fejedelme [„Dich loben wir“. Stephan Bocskai, Fürst von Siebenbürgen und Ungarn]. Budapest 2006; barta, János/JatzLauK, Manfred/PaPP, Klára (Hg.): „Einigkeit und Frieden sollen auf Seiten jeder Partei sein …“. Die Friedensschlüsse von Wien (23.06.1606) und Zsitvatorok (15.11.1606). Zum 400. Jahrestag des Bocskai-Freiheitskampfes. Debrecen 2007; etényi G., Nóra/horn, Ildikó/szabó, Péter: Koronás fejedelem. Bocskai István és kora [Gekrönter Fürst. Stephan Bocskai und seine Zeit]. Budapest 2007; horváth, Zita (Hg.): Tanulmányok Bocskai Istvánról [Aufsätze über Stephan Bocskai]. Miskolc 2008; Kovács, Ábrahám (Hg.): Calvinism on the Peripheries: Religion and Civil Society in Europe. Budapest 2009; fata, Márta/schindLinG, Anton (Hg): Calvin und Reformiertentum in Ungarn und in Siebenbürgen. Helvetisches Bekenntnis, Ethnie und Politik vom 16. Jahrhundert bis 1918. Münster 2010; teszeLszKy, Kees: Pieter Cornelisz Brederode, informatiemakelaar tussen West- en Ost-Europa. In: touber, Jetze/brouWer, Marjan (Hg.): De kaper, de kardinaal an andere markante Nederlanders. Een andere blik op het verleden in dertien levensverhalen. Bussum 2010, 37–�9.

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Jan Sarkander I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Der lange Weg zur Seligsprechung. – IV. Kanonisation unter gegenreformatorischen Vorzeichen. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der mährische Pfarrer Jan Sarkander (1576–1620) wurde in der Zeit des Aufstands der evangelischen Stände Böhmens in den Jahren 1618 bis 1620 als Hüter des Beichtgeheimnisses zu Tode gefoltert. Nach zahlreichen Versuchen, ihn durch eine Seligsprechung zum Patron des Olmützer Bistums zu erheben, gelang die Beatifikation erst 1860 in einem national aufgeladenen Klima. Seine Heiligsprechung 1995 ließ den in Mähren und Schlesien immer noch verehrten Sarkander zu einer kontroversen Persönlichkeit der Gegenreformation werden, der das ökumenische Klima belastet.

II. Leben Jan Sarkander wurde am 20. Dezember 1576 in Skotschau geboren, einem Ort im Herzogtum Teschen (Diözese Breslau) in einer von Deutschen, Polen und Tschechen besiedelten Region. Nach dem Tod des Vaters Gregor zog die Mutter, Helena Gurecka aus altschlesischem Adel, in das mährische Freiberg, wo Jan ersten Schulunterricht erhielt. Als Fünfzehnjähriger wechselte er nach Olmütz an die Lateinschule und anschließend an die Akademie der Gesellschaft Jesu, so daß er den Ausbildungsgang eines Jesuiten ganz durchlief. Seit 1600 studierte er in Prag, ebenfalls bei den Jesuiten, Philosophie und erhielt am 9. Mai 1602 den Titel eines Baccalaureus, am 14. Mai 1603 den eines Magisters der Freien Künste. Nach einer einjährigen Pause nahm er 160� das Studium der Theologie in Graz auf, das er jedoch zwei Jahre später abbrach, da er sich am 3. September 1606 mit Anna Plachetska verlobte, die aus einer lutherischen Familie stammte und unter Sarkanders Einfluß katholisch wurde. Nach deren frühen Tod führte er das Theologiestudium zum Abschluß und wurde am 22. März 1609 zum Priester für das Bistum Olmütz geweiht. Seine erste Pfarrstelle erhielt Sarkander in Jaktařř bei Troppau, wo sein Bruder Nikolaus als Pfarrer in die Opposition der protestantischen Stände gegen den Landesherrn und den Bischof geriet. Ebenso wie dieser wurde Jan ins Gefängnis geworfen, als er seinen kaisertreuen Bruder unterstützte. 1611 finden wir Jan als Pfarrer in Charwath bei Olmütz, ein Jahr später in Zdounek und 1615 in Boskowitz, wo er mit Hilfe der Jesuiten etwa fünfzig Familien zum katholischen Glauben zurückführte und deshalb nach etwa einem Jahr den Posten räumen mußte. 717

Stefan Samerski

Aufgrund der Rekatholisierungspolitik des katholischen Oberstkämmerers und späteren Landeshauptmanns Mährens, Ladislaus Popel von Lobkowitz, wurde Sarkander am 2�. April 1616 Pfarrer in Holleschau. Mit Hilfe der Jesuiten kehrten auch dort bald 250 Bewohner der Pfarrei zur katholischen Kirche zurück, was den protestantischen Grundherrn einiger nach Holleschau eingepfarrter Orte, Wenzel Bítovsk�, zu einem erbitterten Gegner Sarkanders machte. Nun geriet er in den Strudel des böhmischen Ständeaufstands, der sich im Prager Fenstersturz von 1618 entlud. In Brünn warfen die Protestanten ein Jahr später den katholischen Landeshauptmann ins Gefängnis und vertrieben die Jesuiten aus Mähren. Für Sarkander, der der Beichtvater von Lobkowitz gewesen war, wurde die Situation lebensgefährlich, so daß er für einige Zeit nach Krakau, Tschenstochau und ins oberschlesische Rybnik auswich, wo er von der Besetzung seiner Pfarrei Holleschau mit einem Protestanten erfuhr. Da an Rückkehr nicht zu denken war, verzichtete er 1619 auf Holleschau und bewarb sich auf eine Pfarrstelle in Krakau. Seine Resignation wurde jedoch nicht angenommen, so daß er Ende November 1619 nach Holleschau zurückkehrte. Als polnische Hilfstruppen für den Kaiser Anfang Februar 1620 über Holleschau nach Wien verlegt wurden, ritt ihnen Sarkander mit dem Allerheiligsten entgegen und überzeugte sie, einen anderen Weg einzuschlagen. Obgleich sie das taten und Holleschau vor Plünderungen verschonten, warfen die Protestanten Sarkander vor, er stünde mit den Kosaken im Einvernehmen, die andernorts brandschatzten. Wiederum mußte der Pfarrer fliehen, wurde jedoch in einem Versteck in Tobitschau, dem Geburtsort von Lobkowitz’ Frau, gefangengenommen und nach Olmütz gebracht. Die Aufständischen beriefen eine Gerichtskommission ein, zu der auch Sarkanders alter Gegner Bítovsk� gehörte. Sogar unter Folter bestritt der Pfarrer, daß er Lobkowitz’ Geheimnisse kenne und mit der polnischen Truppenverlegung zu tun habe. Der Olmützer Stadtrichter Johannes Scintilla, ein Katholik, war bei allen Verhören und Folterungen dabei, worüber er später einen genauen Bericht für den Olmützer Oberhirten Franz Seraph Dietrichstein verfaßte, der den Seligsprechungsprozeß initiierte. Der Besuch des neuen böhmischen Königs, Friedrichs V. von der Pfalz, in Olmütz unterbrach Sarkanders Folter, die jedoch am 17. Februar 1620 wiederaufgenommen wurde. Neben den alten Anklagen kam nun auch die Begünstigung der Jesuiten hinzu. Das Verhör und die Folter, die mit brennenden Kerzen und Fackeln in Sarkanders Seiten ausgeführt wurden, konzentrierten sich aber auf seine Mitwisserschaft, die er durch die Beichte seines Gönners Lobkowitz erlangt habe. Sarkander erklärte, er wisse nichts, und wenn es ihm in der Beichte gesagt worden wäre, so könnte er das nicht offenbaren, auch wenn man ihn in Stücke reißen würde. In der wiedereinsetzenden Folter blieb Sarkander standhaft, so daß die Kommissare an Hexerei glaubten. Mitgefangene und Olmützer Bürger versuchten noch, Sarkander im Gefängnis zu pflegen, aber die Folgen der Folterungen waren so schwer, daß er am 17. März 1620 seinen Verletzungen erlag.

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Jan Sarkander

III. Der lange Weg zur Seligsprechung Sarkander wurde in Olmütz unmittelbar nach der Bluttat von den katholischen Gläubigen als Märtyrer verehrt. Sie erreichten, daß der Leichnam eine Woche nach dem grausamen Tod in der Kirche zu „Unserer Lieben Frau“ beigesetzt wurde. Am Beginn des Kults stand der einflußreiche Oberhirte Dietrichstein, der die Katholische Reform in Mähren schließlich durchsetzte. Er nannte Sarkander schon im April 1620 einen wahrhaftigen Märtyrer und ordnete zehn Jahre später an, daß niemand mehr im Marterkeller des Olmützer Gefängnisses gefoltert werden dürfe. Dietrichstein ließ einen Stich mit einem kurzen Bericht über das Martyrium anfertigen, der sich rasch über ganz Europa verbreitete. So verwundert es nicht, daß man selbst in Polen und Spanien bald nach 1620 vom Blutzeugnis des Pfarrers von Holleschau wußte. Vor allem in Polen verbreitete sich der Kult rasch und beständig. 1629 erschien in Krakau die Predigt eines Dominikanerpaters über den „Märtyrer von Mähren“. Und im Jahr der Entsatzschlacht von Wien (1683) pilgerte einer der wichtigsten Protagonisten des Geschehens, der polnische König Johann III. Sobieski, zum Grab Sarkanders. Schwerpunkt des Kultes in dieser Region blieb jedoch von Anfang an das Fürstbistum Breslau, und hier bis heute Skotschau. In den böhmischen Ländern war erst nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (1620) an eine Seligsprechung zu denken. Nachdem Sarkanders Widersacher Wenzel Bítkovsk� enthauptet worden war, wurde dessen Vermögen eingezogen und in die „Sarkandische Seligsprechungskassa“ – so der spätere Name – überführt, die dann auch tatsächlich den Beatifikationsprozeß finanzierte, der allerdings erst im 19. Jahrhundert zum Abschluß kam. Im Jahr 1836 stieg dieses Vermögen, auch durch Spenden, auf 33.777 Gulden an. Von dem Geld wurde außerdem die Sarkanderkapelle in Olmütz errichtet. Zu einer ausgeprägten lokalen Verehrung des mährischen Märtyrers konnte es in den Jahren des Dreißigjährigen Krieges nicht kommen: Mähren und vor allem Olmütz mußten besonders unter Kriegseinwirkungen und Seuchen schwer leiden. 1661 ließen die Jesuiten die ehemalige Folterkammer als kultisches Zentrum ausmalen und als Gedächtnisstätte einrichten; 1672/73 wurde sie als Gebetsraum ausgestattet und 170� über ihr ein geräumiger Neubau zu Ehren aller heiligen Märtyrer errichtet. In den Jahren 1721 bis 172� wurde die Sarkanderkapelle erweitert und mit fünf Altären versehen. Hagiographisches Schrifttum erschien in jenen Jahren in Prag und Holleschau. Eine der ersten Viten kam in Brünn 1712 heraus, die der Autor und Pfarrer von Holleschau, Andreas Eustachius Schwarz, Rubinus Moraviae betitelte. Mit der Barockisierung der mährischen Sakrallandschaft entstanden Sarkanderstatuen vor allem an den Orten seines Wirkens, die noch heute beispielsweise in Olmütz, Mährisch Neustadt und Freiberg zu sehen sind. Häufig tauchten sie seit 1710 auch auf monumentalen Marien- oder Dreifaltigkeitssäulen Mährens auf. Allmählich wurde der Name Sarkander dort auch als Taufname gebräuchlich, allerdings in Verbindung mit anderen Namen. In jener Zeit strahlte die Verehrung auch in die Steiermark aus, wo Sarkander Theologie studiert hatte. Noch heute ist im Bistum Graz die Sarkanderverehrung lebendig. 719

Stefan Samerski

Etwa um die Mitte des 17. Jahrhunderts begann man, Material für die Seligsprechung des mährischen Märtyrers zu sammeln und einen Informativprozeß in Olmütz durchzuführen, da es bislang keinen landeseigenen Heiligen gab. Aber erst kurz nach 1700 läßt sich von einer intensiven und organisierten Verehrung sprechen, wie die bereits angeführten Beispiele aus Kunst und Literatur beweisen. Einen ersten wichtigen Impuls vermittelte dem Beatifikationsverfahren der Olmützer Bischof Wolfgang Kardinal von Schrattenbach, der 171� als kaiserlicher Gesandter nach Rom ging und 1719 Vizekönig von Neapel wurde. Diese politisch und kirchlich einflußreiche Persönlichkeit erhoffte, die Hundertjahrfeier des Märtyrertodes von Johannes Sarkander mit dessen Seligsprechung krönen zu können. Seit 1715 betrieb er in Rom intensiv das Prozeßverfahren, vermochte zwar sein Ziel wegen der Kürze der Zeit nicht durchzusetzen, legte aber für die Beatifikation im 19. Jahrhundert durch Absprachen die formale Basis. Immerhin wurde im Gedenkjahr das Grab des Märtyrers zur prozeßrelevanten Überprüfung der Identität und vermutlich auch zur Reliquienentnahme geöffnet. Man erkennt bereits ein Jahrhundert nach dem Blutzeugnis, daß sich vor allem das Bistum Olmütz um den Kult bemühte und Sarkander zu einer Art Landes- und Bistumspatron stilisierte. Wenn es auch für das Jubiläumsjahr 1720 nicht gelang, den Prozeß in Rom zu eröffnen, so konnten zumindest drei Altäre in Wien, Brünn und Olmütz zu Ehren des Holleschauer Pfarrers errichtet werden. Bei allem lokalpolitischem Kolorit fällt beim ersten Prozeßimpuls unter Schrattenbach die Parallele zu Johannes von Nepomuk auf, der 1721 selig- und 1729 heiliggesprochen wurde. Ohne Zweifel hat das Verfahren des Prager Brückenheiligen dasjenige des mährischen Pfarrers immens beflügelt, wenn nicht sogar angestoßen. Beide Säkularpriester waren Märtyrer und lokale Größen mit breiter Volksverehrung, die um die Wahrung des Beichtgeheimnisses kreiste. So verwundert es auch nicht, daß nach 1721 Statuengruppen mit beiden Persönlichkeiten aufgestellt wurden, so etwa in Bodenstadt, wo beide Johannes das Kreuz flankieren. Auch in der Malerei tauchten nun zumeist im Olmützer Kontext Darstellungen Sarkanders als Gegenstück zu Johannes von Nepomuk auf. Im mährischen Freiberg bei Neutitschein, wo Sarkander aufgewachsen war, entstand eine Reihe von Legenden und Erinnerungsstätten. Dort, wo ihm um 1670 eine Kapelle errichtet wurde, genoß er besondere Verehrung. Bei Köttnitz im Kuhländchen bestand ein wundertätiger Sarkander-Brunnen mit Kapelle, zu dem Tschechen wie Deutsche einträchtig noch in späteren Jahrhunderten am Tage Mariae Geburt pilgerten. Es war demnach echte Volksfrömmigkeit in verschiedenen Teilen Mährens, in der Jan Sarkander einen festen Platz hatte. Eine deutsche Gebetssammlung um 1730 zeigte die beiden Johannes als populäre „Heilige“, die in allen Nöten des Leibes und der Seele Schutz und Hilfe boten. Die Andachtsformen waren mit der Annen- und Marien-Verehrung verwoben, was zusätzlich den volkstümlichen Charakter der Sarkander-Devotion unterstrich. Es tritt in dieser Gebetssammlung aber auch erstmals greifbar ein hochpolitisches Anliegen auf: ein Gebet für das Haus Österreich. Nicht nur, daß der Märtyrer „unsern Kayser Carolo Sieg und Victori wider alle seine und seiner Länder Feinde“ erringen sollte, auch Karl VI. sollte endlich ein männlicher Erbe geboren werden – schließlich hing davon das Schicksal der gesamten Habsburgermonarchie ab. Neben dieser deutlichen dynastischen Verknüpfung 720

Jan Sarkander

Gebetszettel des Jan Sarkander von 17�9 als mährischer Patron (mährischer Adler, Symbole der Marien- und Annendevotion und der Jesuiten in der Wolke) und Märtyrer des Beichtgeheimnisses (Rad, Schlüssel). Sarkander wurde im Gegensatz zu Johannes von Nepomuk von Anfang an als Patron der Beichte verehrt. Bildnachweis: Privatarchiv Stefan Samerski.

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wurde Sarkander in jenen Jahren aber auch mit der „Ausrottung der Ketzereyen“ in Verbindung gebracht, was besonders für seine Selig- und Heiligsprechung im 19. und 20. Jahrhundert eine schwere Hypothek bedeutete. Einen neuen Anlauf zur Seligsprechung unternahm erst wieder der habsburgnahe Olmützer Oberhirte Ferdinand Julius von Troyer. Dank seiner ausgezeichneten Kontakte nach Rom erörterte er bereits im Dezember 17�7 die Sachlage des Prozesses mit dem Papst; aber auch Maria Theresia war rasch für die Causa Sarkander gewonnen. Troyer empfing die österreichische Regentin 17�8 in Kremsier und Olmütz mit aller Prachtentfaltung und konnte sie überzeugen, die Provinzialregierung in Mähren anzuweisen, alle notwendigen Akten und Dokumente für den Prozeß zur Verfügung zu stellen. Maria Theresia verfolgte mit dieser Förderung des Prozesses eigennützige Zwecke, nämlich die Etablierung eines Staatspatrons, der dem Haus Österreich in seinem Ringen mit dem protestantischen König von Preußen, Friedrich II., in den Schlesischen Kriegen himmlischen Schutz und Unterstützung vermitteln sollte. Die Sarkander-Verehrung sollte nach habsburgischem Willen auf die Bevölkerung Mährens und Schlesiens sozialdisziplinierend wirken und den Widerstandswillen gegen die Preußen entfachen. Katholizismus und Staatsräson gingen hier, wie so oft in der Donaumonarchie, eine unauflösliche Symbiose ein. Aufgrund einer breiten Petitionskampagne wurde im Mai 1750 der römische Seligsprechungsprozeß durch die Hilfe des Wiener Hofes eröffnet; der Kaiser hatte sogar das noch fehlende Geld für das Verfahren vorgestreckt. Aber schon wenige Jahre später schien alle Aktivität zum Erliegen gekommen zu sein, da die wichtigsten Akteure wie Troyer und der wohlgesonnene Papst starben. Im Rahmen der kirchlichen Neuordnung Mährens durch die Erhebung von Olmütz zum Erzbistum 1777 kam kurzzeitig wieder Bewegung in die Causa: Man bemühte sich 1778 um ein römisches Indult für die kultische Verehrung des Märtyrers als Bistumspatron. Inzwischen blies auch der Wind der Aufklärung einer möglichen Seligsprechung ins Gesicht. Kaiser Joseph II. wollte die Sarkanderkapelle sogar abreißen lassen, wogegen der Olmützer Oberhirte 178� allerdings Einspruch einlegte. 1787 setzte Joseph II. dann aber doch den Abbruch durch. Nach der Aufklärung und den napoleonischen Wirren ergriff der Kaiser in Wien erneut die Initiative. 1826 bat er seinen Bruder, den Olmützer Erzbischof Rudolf Johann, um die Wiederaufnahme des Prozesses. Kaiser Franz I. von Österreich handelte aus persönlichen Motiven, als er die Gelder der Sarkander-Kassa, die seit 1793 für Stipendien für Theologiestudenten verwendet worden waren, wieder ihrem ursprünglichen Zweck zuführen wollte. Rudolf Johann hatte durchaus Interesse an einer solchen Seligsprechung, zumal er das immer noch herrschende josephinische Staatskirchentum brechen und das mährische Element in seinem Bistum fördern wollte. Er ließ außerdem die Hundertjahrfeier der Kanonisation des böhmischen Patrons Johannes von Nepomuk in Olmütz mit großer Pracht begehen. Wiederum wurde Sarkander auf Stichen in die Nähe des „anderen Johannes“ gerückt. Der Olmützer Erzbischof versuchte sogar, die Causa des Pfarrers von Holleschau rechtzeitig zum Bistumsjubiläum zum Abschluß zu bringen: Im Juni 1831 feierte die Kathedralkirche in Olmütz die 700. Wiederkehr ihrer Domweihe und Bistumsgrün722

Jan Sarkander

dung; Sarkander sollte als Landeskind neuer Schutzpatron der Diözese werden. Der Erzbischof erhoffte sich von der Seligsprechung außerdem einen Stimulus für die religiöse Erneuerung Mährens. Mit dem Tod des Erzbischofs Rudolf Johann im Juni 1831 flaute das Interesse der Bistumsleitung an Sarkanders Beatifikation jedoch spürbar ab. Aus den Jahren 1835/36 existiert eine seltene Aufstellung über die Orte und die Intensität der kultischen Verehrung. Daraus geht hervor, daß das Andenken an Jan Sarkander über die Jahrhunderte hinweg erhalten blieb und teilweise im Volk sogar expandiert war. Vor allem an den Lebensstationen Olmütz, Mährisch Neustadt, Freiberg, Holleschau und Troppau, aber auch an anderen Orten, die teilweise sogar außerhalb des mährischen Erzbistums lagen, blieb das Andenken an den Märtyrer lebendig. Wiederum schalteten sich ab 183� die Wiener Hofburg und ihre Gesandtschaft in Rom ein, um – selbst gegen den Willen des Olmützer Oberhirten – den Prozeß voranzutreiben. Aber erst mit Fürsterzbischof Friedrich Egon Landgraf von Fürstenberg kam nicht nur Bewegung in den Prozeß, es gelang ihm auch, die Causa zum gewünschten Ziel zu führen. Er gilt als großer Förderer der Volksfrömmigkeit und der nationalen Bewegung in Mähren. Vermutlich wollte Fürstenberg die Seligsprechung mit der Millenniumsfeier vom Auftreten Kyrills und Methods in Mähren 1863 verbinden. 1855 begann in Rom die letzte und entscheidende Prozeßphase, die aufgrund von päpstlichen Dispensen am 6. Mai 1860 mit der feierlichen Seligsprechung in Sankt Peter in Rom zum Abschluß kam. Bereits an Sarkanders Gedenktag, am 17. März 1860, wurden in der österreichischen Nationalkirche in Rom S. Maria dell’Anima wie auch in Olmütz durch ein päpstliches Indult feierliche Gottesdienste abgehalten. Der deutsche Charakter der Feierlichkeiten verwundert nicht, wenn man die offiziellen Viten, die rasch in etliche Sprachen übersetzt wurden, sowie die römischen Dokumente liest: Dank der Unterstützung des Kaiserhauses in Rom und der österreichfreundlichen Haltung Papst Pius’ IX. in jener Zeit wurde aus Sarkander wiederum ein Protektor der Habsburgerdynastie. Für die Festlichkeiten in Olmütz, die im September 1860 drei Tage dauerten, versuchte man jedoch, eine nationale Profilierung zurückzustellen und stattdessen Sarkander zu einem Patron der Katholizität und zu einem Wächter gegen den Sittenverfall der Gesellschaft zu stilisieren. Die typologische Nähe zu Johannes von Nepomuk spielte nun keine Rolle mehr. IV. Kanonisation unter gegenreformatorischen Vorzeichen Die Gläubigen stifteten aber auch weiterhin Geld für eine künftige Heiligsprechung. Zu Beginn des 20. Jahrhunderts regte der Olmützer Stadtpfarrer, der die gut gefüllte Sarkander-Kassa verwaltete, an, eine neue, größere Kapelle für den Seligen anstelle der alten zu errichten. Die neue, am 4. Mai 1912 eingeweihte Kapelle ist bis heute der Mittelpunkt der städtischen Verehrung, obgleich sie für Gottesdienste zu klein ist. Es wurde in Olmütz Brauch, daß die Geistlichen unmittelbar vor ihrer Priesterweihe in der SarkanderKapelle den Segen für ihre neue Aufgabe erbitten. 723

Stefan Samerski

Nach dem Ende des Ersten Weltkriegs und dem Zusammenbruch der Habsburgermonarchie war in Olmütz anfangs nicht an eine Wiederaufnahme des Heiligsprechungsprozesses zu denken. In Polen dagegen war eine institutionelle Ausweitung des Kultes zu beobachten: Auf Antrag des Kattowitzer Bischofs, in dessen Sprengel Skotschau nach 1925 lag, gestattete Pius XI. die landesweite öffentliche Verehrung. In der Zeit des Kommunismus wurde die Verehrung in Mähren zwar erschwert, aber nicht wesentlich reduziert. Die Sarkander-Kapelle in Olmütz geriet in einen baulich schlechten Zustand. In Polen, besonders in Skotschau, war die Sarkander-Verehrung ungebrochen intensiv. Zu den dortigen Feiern und Prozessionen kamen nach 1970 vereinzelt auch Olmützer Priester, die Sarkander als Brückenbauer zwischen der tschechischen und der polnischen Kirche bezeichneten. Das in der Zwischenkriegszeit aufgenommene Heiligsprechungsverfahren wurde für die Erzdiözese Olmütz erst 1949 abgeschlossen. Als die Akten nach Rom übersandt werden sollten, beschlagnahmten die Kommunisten die Dokumente und sogar die Kopien. Das führerlose Erzbistum (Kapitelsvikar) war nicht mehr in der Lage, den Prozeß voranzubringen. In Oberschlesien regte man zunächst die Fürbittgebete der Gläubigen an, was 1979 in Skotschau zu dem später anerkannten Wunder führte. Die Diözese Kattowitz führte dann nach 1980 den Heiligsprechungsprozeß zu Ende. Nach der politischen Wende war der Weg frei für die Heiligsprechung, die der Papst aus Polen, Johannes Paul II., mit besonderem Interesse förderte, da er eine verwandtschaftliche Beziehung zu Sarkanders Mutter ableitete. Die päpstlichen Pläne, den Märtyrer aus Olmütz im Mai 1995 zu kanonisieren, riefen bei den tschechischen Protestanten ungewöhnlich heftige Proteste hervor. Führende evangelische Vertreter sahen im mährischen Seligen eine der maßgeblichen Kräfte der gewaltsamen Rekatholisierung protestantischer Gebiete und erhoben daher beim Präsidenten des Einheitsrates in Rom, Kardinal Edward Idris Cassidy, Einspruch. Die Kurie antwortete, daß es wissenschaftlich erwiesen sei, daß sich Sarkander nie an irgendwelchen Gewaltmaßnahmen beteiligt habe; er solle zur Ehre der Altäre erhoben werden, weil er seinem Priesterberuf bis zum Einsatz seines Lebens treu geblieben sei. Die Lage blieb im Vorfeld der Heiligsprechung, die mit einem Papstbesuch in Olmütz verbunden wurde, weiterhin brisant. Erschwerend kam hinzu, daß sich Tschechien heute weitgehend als säkularisiertes und entchristlichtes Land darstellt. So erwarteten den Papst auf dem Prager Flugplatz im Mai 1995 nur etwa 2.000 Personen. Der Pontifex hatte aber seine Pläne nicht geändert; allerdings gab er der Heiligsprechung ein sehr versöhnliches Profil. Am Sonntag, dem 21. Mai feierte er auf dem Olmützer Flughafengelände einen Gottesdienst, in dem Sarkander gemeinsam mit Zdislava von Lemberk kanonisiert wurde. In seiner Predigt hob er den Wert des Martyriums und „der Treue inmitten der Gegensätze der Zeit“ hervor. Sarkanders Heiligsprechung solle alle ehren, die in der jüngsten Zeit eher Raub, Entbehrungen und den Tod in Kauf genommen hätten, als Unterdrückung und Gewalt zu unterstützen. Im gleichen Atemzug bat der Papst all jene um Vergebung, die in der Geschichte unter der Gewaltanwendung durch Katholiken hatten leiden müssen. 72�

Jan Sarkander

Tatsächlich drang er mit seinem Anliegen aber nicht durch und konnte die protestantischen Einwände nicht aus der Welt schaffen. Der Vorsitzende des Tschechischen Ökumenischen Kirchenrates bezeichnete Sarkander weiterhin als fanatischen Vertreter einer „willkürlichen Rekatholisierung des Landes“, und das Konfessionskundliche Institut der Evangelischen Kirche in Deutschland sah sogar die Ökumene bedroht, da man nun den „Vertreter schlimmster Katholisierung in den Zeiten blutiger Gegenreformation“ kanonisiert habe. Die Proteste flauten nicht ab. Damit geriet auch die vom Papst intensiv geforderte Neuevangelisierung in den postkommunistischen Staaten in eine Sackgasse. Sarkander polarisierte noch über Jahre hinweg das öffentliche Bild der Kirche innnerhalb und außerhalb Tschechiens. V. Auswahlbibliographie něMec, Jaroslaw: Mučednik mlčenlivosti. K připravám kanonisace bl. Jana Sarkandra [Der schweigende Blutzeuge. Zur Vorbereitung der Kanonisation des seligen Jan Sarkander]. Olomouc 1990; zLaMaL, Bohuslav: Blahoslaven� Jan Sarkander, moravsk� mučednik [Der selige Jan Sarkander, ein mährischer Blutzeuge]. Praha 21990 [Řím 11969]; GruLich, Rudolf: Der selige Johannes Sarkander. In: Deutschland und seine Nachbarn. Forum für Kultur und Politik 9 (199�) 3–26; szteinKe, Janusz A.: Sarkander. In: Biographisch-Bibliographisches Kirchenlexikon, Bd. 8. Herzberg 199�, 1363–136�; babuchoWsKi, Andrzej: Święty Jan Sarkander, kapłan i męczennik [Der heilige Jan Sarkander, Kaplan und Blutzeuge]. Katowice 1995; budiaK, Jan: Jan Sarkander, patron jednoczącej się Europy [Jan Sarkander, der Patron, der Europa vereinigt]. Katowice 1995; KerKovsKý, Pavel (Hg.): Evangelíci o Jan Sarkander. Sborník ke kanonizaci nového katolického svetce [Protestanten über Jan Sarkander. Der Verlauf der Heiligsprechung des neuen katholischen Heiligen]. Praha 1995; KossaK, Zofia: Błogusławiony Jan Sarkander ze Skoczowa [Der selige Jan Sarkander in Skotschau]. Kraków 1995; raK, Romuald: Die Heiligsprechung des seligen Johannes Sarkander aus Skotschau (1576–1620). In: Oberschlesisches Jahrbuch 11 (1995) 51–65; saMersKi, Stefan: Die Institutionalisierung eines Landespatrons. Der Olmützer Gebetszettel des Jan Sarkander (1576–1620) von 17�9. In: Ganz, David/henKeL, Georg (Hg.): Rahmen-Diskurse. Kultbilder im konfessionellen Zeitalter. Berlin 200�, 283–300; GruLich, Rudolf/ saMersKi, Stefan: Johannes Sarkander. In: saMersKi, Stefan (Hg.): Die Landespatrone der Böhmischen Länder. Geschichte – Verehrung – Gegenwart. Paderborn 2009, 123–1�0.

Stefan Samerski

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Josafat Kuncevyč I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung bis um 1700. – IV. Verehrung seit dem 18. Jahrhundert. – V. Gegenwärtige Verehrung. – VI. Auswahlbibliographie

I. Zusammenfassung Der um 1580 geborene Josafat Kuncevyč provozierte als Erzbischof von Polack durch seinen Kampf für die Durchsetzung der Union von Brest 1596 in den nördlichen Gebieten des Großfürstentums Litauen scharfe konfessionelle Auseinandersetzungen, in deren Verlauf er 1623 getötet wurde. Nach seinem Tod wurde er zu einem der bedeutendsten Kristallisierungspunkte der Festigung einer unierten, gewissermaßen landeskirchlichen Identität im Rahmen des polnisch-litauischen Staates, zu dessen Schutzheiligen er gerechnet wurde. Im 19. Jahrhundert wurde seiner auch vermehrt in Polen sowie im österreichischen Galizien gedacht. Im 20. Jahrhundert wuchs seine Verehrung unter den polnischen Emigranten in Nordamerika, aber auch in der westlichen Ukraine. Dort gilt er heute als einer der wichtigsten Heiligen der griechisch-katholischen Kirche. II. Leben Josafat Kuncevyč, geboren im wolhynischen Volodymyr, wurde von seinen Eltern zunächst zu einem Kaufmann in die Lehre geschickt. Statt dessen wurde er aber Mönch des Ordens der Basilianer in Wilna. Nach dem Abschluß der Union zwischen griechischorthodoxen Bischöfen Polen-Litauens und der römisch-katholischen Kirche in Brest 1596 trat Josafat für die Durchsetzung dieser Union ein. Die sogenannte Union von Brest gilt als die wichtigste römisch-griechische Kirchenunion der Frühen Neuzeit und sollte die orthodoxen Diözesen im Gebiet des östlichen Polen-Litauen umfassen. Diese Territorien, die heute zu den Staaten Ukraine und Belarus’ gehören, sollten damit auch dem Wirkungsbereich des Moskauer Patriarchates entzogen werden. Josafat wirkte als Mönch der Basilianer am Aufbau dieses bis heute wichtigsten Ordens der neuen, griechisch-katholisch oder uniert genannten Kirche mit. Schon 1609 wurde er als einer, der Seelen in die Hölle stößt, und als „Seelenräuber“ in der orthodoxen Heiliggeistkirche in Wilna auf einer Ikone des jüngsten Gerichts neben dem unierten Metropoliten im Teufelsgewand abgebildet und beschrieben. Als Anhänger und Mitarbeiter des unierten, in Navahrudak gebürtigen Metropoliten von Kiew, Jazėp Veľjamin Rucki, wurde er 1618 zum Erzbischof von Polack ernannt. Die römisch-katholischen Bischöfe standen als Adlige den teilweise stadtbürgerlichen unierten Bischöfen und oft insgesamt der Union ablehnend gegenüber. Mehrere von ihnen befürworteten stattdessen eine römisch-katholische Missionsarbeit in den ruthenischen Gebieten. Josafat war der erste Erzbischof von 726

Josafat Kuncevyč

Polack, der in dieser Diözese tatkräftig für das Bekenntnis zur Union mit Rom eintrat. Bereits Josafats triumphaler Einzug in der Stadt wurde auch unter Beteiligung der in Polack residierenden Jesuiten vorbereitet. Josafat nahm fortan nicht nur an der jährlichen Fronleichnamsprozession teil, auch bei den Feierlichkeiten der Jesuiten in deren Kirche war er regelmäßig anwesend. Mit seinem an der katholischen Gegenreformation ausgerichteten Wirken, das durch die königliche Verwaltung unterstützt wurde, polarisierte Josafat die Stadtbevölkerung und rief im nördlichen Großfürstentum Litauen, insbesondere in den Städten Polack und Witebsk, die Herausbildung eines scharfen Gegensatzes zwischen Orthodoxen und den Anhängern der Union hervor. Kuncevyč beschäftigte sich auch mit der Abfassung eines Katechismus, der jedoch nicht zu seinen Lebzeiten veröffentlicht wurde. Eine Menge orthodoxer Gläubiger tötete ihn 1623 vor dem Rathaus von Witebsk. Mit Hilfe der Landesverwaltung hatte er kurz zuvor den letzten in der Stadt verbliebenen orthodoxen Geistlichen verhaften lassen, der orthodoxe Gottesdienste in der Stadt abgehalten hatte. Sein Leichnam wurde in die Düna geworfen und konnte kurz darauf geborgen werden. III. Verehrung bis um 1700 Überraschenderweise war es der Tod von Josafat Kuncevyč, der die Ablehnung der Union seitens der katholischen Geistlichen und Adligen der Republik änderte: Josafat sollte nun als Medium der Einigung im Zeichen Roms dienen. Schon gleich nach seinem Tod entwickelte sich in Polack ein lokaler Kult um ihn und seine Gebeine. Der Stadtschreiber Jan Dzjahilevič, der bereits in den ausführlichen Akten des Seligsprechungsprozesses 1628 als eifriger Anhänger der Union galt, gab 1637 zu Protokoll, bevor Josafat in Polack gewirkt habe, seien alle „Schismatiker“ gewesen. Erst mit dem Tag des Todes Josafats habe sich dies geändert. Der Zeuge beschrieb eine örtliche, aber sozial breite Verehrung Josafats und seiner Gebeine, sowohl durch Orthodoxe vor Ort als auch durch römischkatholische Senatoren des Großfürstentums. Das jährliche Gedenken Josafats wurde ihm zufolge damals nicht nur in Polack, sondern auch andernorts gefeiert. Jakub Suša, der spätere Bischof von Chełm, faßte für diese erste Zeit nach Josafats Tod in seiner 1665 gedruckten Vita des Märtyrers gleichfalls zahlreiche Verehrungsformen von Akteuren unterschiedlicher sozialer Herkunft zusammen. Der seit dem Tod Josafats unierte Polacker Ratsherr Ivan Chadyka schrieb 1637 von „guten Katholiken, Griechen und Lateinern“, die Josafats Gebeine aufsuchten. Auch in seiner Darstellung handelte es sich somit nicht um einen spezifisch unierten Kult, sondern um einen allgemein katholischen. Die Verehrung Josafats überschritt bereits in den ersten Jahren nach seinem Tod konfessionelle oder rituelle sowie ständische und ethnische Grenzen und konnte sich an zahlreichen Orten in ganz Ruthenien festigen, das heißt auf dem Gebiet der heutigen Staaten Weißrußland und der Ukraine sowie teilweise Litauens und der östlichen Teile Polens. An der geographischen Ausweitung von mit Josafat in Verbindung gebrachten Ereignissen hatte Rucki als Metropolit von Kiew und ganz Rußlands (Russia) wichtigen Anteil. 727

Kerstin S. Jobst/Stefan Rohdewald

Im August 1628 schrieb Rucki Josafat militärische Wunder im Kampf gegen die orthodoxen Kosaken zu. Bis 1629 sind neun führende Magnaten und adlige Amtsträger PolenLitauens als Zeugen dieser Wunder bekannt. Nach der vergleichsweise rasch erfolgten Seligsprechung 1642 erreichte der Kreis der Verehrer Josafats die höchste politische Ebene: Der jesuitische Beichtvater der polnischen Königin Cäcilia Renata schrieb, diese sei 1644 in Wilna von Josafat geheilt worden – allerdings starb sie kurz darauf dennoch. Die maßgeblich vom Adel getragene Ausweitung der Verehrung ging einher mit einer physischen Streuung des wundertätigen Leichnams Josafats durch römisch-katholische Karmeliterinnen bis in den podolischen Süden Polen-Litauens: Römisch-katholische wie unierte Geistliche berichteten 1629 aus Smolensk, 1637 aus einem kleinen Ort in Wolhynien, 1630 und 16�2 aus Hrodna und Slonim sowie 16�0 aus Przemyśl von Wundern. 1650 sind angebliche Wunder Josafats durch Bürger Lublins bezeugt, wo 1659 in einer unierten Kirche auch eine wundertätige Ikone Josafats belegt ist. 1652 wurden etwa in Kam”janec’-Podiľs’kyj „Teile seines Körpers“ als heilig verehrt und ließen den Magnaten Mikołaj Potocki genesen. Vermittelt durch den unierten Offizial des orthodoxen Bischofs von Przemyśl sowie den römisch-katholischen Magnaten Andrzej Maksymilian Fredro lagen seit 1677 in einer Kirche der Franziskaner in Przemyśl eine rote Manschette sowie ein liturgischer Umhang Josafats aus rotem Atlas. Gläubige verehrten die Stoffteile als heilend wirkende Reliquien. Trotz dieser Streuung seiner Gebeine und Kontaktreliquien entwickelte sich Josafats Grab in Polack im 17. Jahrhundert zu einem der wichtigsten Wallfahrtsorte Polen-Litauens. Seine Verehrung beschränkte sich dabei weiterhin nicht auf Ruthenen des griechischen Ritus: 1673 veröffentlichte Izaak D. Malinowski, ein Pater des römisch-katholischen Predigerordens, in Wilna eine gegenüber dem Buch von Suša aktualisierte und noch umfangreichere Sammlung von Wundern des Heiligen. Bis zur Mitte des 17. Jahrhunderts reichten unierte Geistliche, die ihn wie auch die Jesuiten im Zeichen einer übergreifenden Katholizität verehrten, Eingaben zugunsten von Josafats Heiligsprechung ein. Auch mehrere römisch-katholische Adlige mit teilweise ursprünglich ruthenisch-familiärem Hintergrund unterstützten seinen Kult durch Wunderbeobachtungen. Während aus orthodoxer Perspektive heute über diese Konvertiten als bald polonisierte sogenannte Abtrünnige geschrieben wird, kann in ihren zahlreichen Handlungen zur Unterstützung des Josafatkults ein Eintreten für eine bessere Eingliederung der eigenen ständischen und konfessionellen Gruppe in den vorherrschenden, römisch-katholischen Kontext der Adelsrepublik gesehen werden: Josafat wurde für sie zum Mittel der Festigung einer eigenen kollektiven Identität, die ganz im polnisch-litauischen staatlichen Rahmen angelegt war und sowohl auf ruthenischer wie römisch-katholischer Grundlage stand. Im Rahmen des Seligsprechungsprozesses wurde eine universale Sakralität Josafats inszeniert. Diese sollte nicht zuletzt mit der Wertschätzung auch durch Juden sowie mit Hilfe von Bekehrungen, die Josafat zugeschrieben wurden, nachgewiesen werden. Auch bei den Feiern zu seiner Seligsprechung in Wilna wurde er nur nachrangig auch zur Festigung einer unierten konfessionellen, im Ritus begründeten Identität eingesetzt. Wichtiger war seine Rolle als Heiliger der katholischen, übergreifenden Union. 728

Josafat Kuncevyč

Während der Kosakenaufstände, die zur Mitte des 17 Jahrhunderts weite Gebiete der heutigen Ukraine verheerten, und der gleichfalls desaströsen Kriege mit Rußland und Schweden, aber besonders danach verstärkte sich diese Funktion weiter: Der schwer erschütterte polnisch-litauische Staat musste mit allen Mitteln gefestigt werden. Nun verwendeten auch römisch-katholische Bischöfe und weltliche Magnaten Josafat als staatspolitisches sowie katholisches Integrationsmedium, ohne zwischen Gläubigen des römischen und griechischen Ritus zu unterscheiden. Die adlige und geistliche christliche Elite des Vielvölkerstaats sollte im Rahmen der Verehrung Josafats geeint werden. 1673 erklärte der polnische König und litauische Großfürst Michael Korybut Wiśniowiecki auf Antrag des Reichstags (Sejm) Josafat für seine dem Volk erwiesenen „großen Wunder“ und Gnaden zum „Patron der Polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen“. Der Kult Josafats als Staatspatron sollte sich neben dem des heiligen Kasimir und des heiligen Stanislaus gleichwertig entwickeln können. Dabei blieb er in seiner Bedeutung nicht auf das Großfürstentum Litauen beschränkt, sondern nachdrücklich auch auf das polnische Königreich bezogen. Diese übergreifende, staatspolitische Bedeutungsaufladung des Gedenkens an Josafat überdeckte die einer nur religiösen, katholisch-uniertruthenischen, Identität weitgehend. Dennoch ist in erfolglosen Eingaben der unierten Hierarchie zugunsten einer Heiligsprechung Josafats aus dieser Zeit die Entstehung eines Bewußtseins einer eigenen konfessionellen Identität erkennbar. Josafat hatte sich folglich definitiv nicht zu einem sogenannten permanenten Heiligen entwickelt, dessen Verehrung fest und dauerhaft an eine Örtlichkeit oder Region gebunden ist, anders als es bei den sogenannten Ortsheiligen der Fall ist. Dies bezeugt die umfängliche Streuung seiner Reliquien. Seine Gebeine kamen mit vielen Orten der Adelsrepublik in Kontakt, ging ihr Weg doch von Polack (1623) nach Supraśl (1652), über Wilna zurück nach Polack (1667), in die Boris-und-Gleb-Kirche bei Hrodna (1685) und 1687 zurück nach Polack. Die entschieden antiorthodoxe Aufladung des Kults wurde gerade durch die häufigen Umbettungen der Reliquien betont. Alle seine Überführungen waren nämlich hauptsächlich damit erklärt worden, die Gebeine vor einer drohenden Zerstörung durch die Orthodoxen im Allgemeinen und das Großfürstentum Moskau im Besonderen schützen zu wollen. Unabhängig davon, ob von deren Seite überhaupt eine Schändung der Reliquien geplant gewesen war, stellten die als Rettung vor den Feinden des Katholizismus bezeichneten Überführungen in jedem Fall ein Mittel zur Verbreitung des Kultes im Großfürstentum und im Königreich dar. Sie sollten bei der Festigung einer transkonfessionellen Identität in Polen-Litauen helfen, die sich im Josafatkult verdichtete. IV. Verehrung seit dem 18. Jahrhundert Dieses Grundmuster – allgemein katholisch einerseits, antiorthodox andererseits – war auch nach der Wende zum 18. Jahrhundert für seine Verehrung kennzeichnend. Der Preis dafür war die Desavouierung des konfessionellen Anderen, vor allen Dingen der Ortho729

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doxen, und des außenpolitischen Gegners, des Moskauer Staates und später des Russländischen Reiches. Als ein Höhepunkt dieser propagandistischen Strategie muss die sogenannte Polacker Inzidenz von 1705 gelten, die in zahlreichen Versionen überliefert ist. Die Fassung des polnischen Historikers Franciszek Henryk Duchiński zählt zu den bekanntesten. Demnach hatte sich Zar Peter I. nach der Einnahme Polacks während des Großen Nordischen Krieges betrunken in die unierte Sophienkathedrale begeben. Dort bemerkte er eine Ikone des ihm offenbar bis dahin unbekannten Josafat, und es entspannte sich mit den dort betenden Basilianern ein Dialog. Als diese ihm erzählten, daß die Ikone einen Märtyrer der Union abbildete, der von Orthodoxen und damit von den Glaubensbrüdern des Zaren ermordet worden war, geriet dieser in schrecklichen Zorn. Er erschlug die fünf Mönche und ließ ihre Leichen in die Düna werfen. Der Gebeine Josafats konnte Peter allerdings nicht habhaft werden, hatte man diese doch bereits heimlich und in weiser Voraussicht nach Biała Podlaska gebracht. Ziel dieser Narration war es, den orthodoxen Gegner als Feind des katholischen Glaubens, seiner Vertreter und Symbole zu charakterisieren. Auch nachdem die unmittelbare, angenommene Gefahr für die Gebeine nach dem Ende des Krieges und dem Rückzug der russischen Truppen vorüber war, verblieben diese in Biała. Sie befanden sich nämlich in den Händen der mächtigen, ehemals orthodoxen Magnatenfamilie der Radziwiłł, die sich weigerte, sie den Basilianern in Polack zurückzugeben. Darüber entspann sich ein zwei Jahrzehnte dauernder Konflikt, der erst durch die Intervention des Vatikans 17�3 gelöst werden konnte. Auf Kosten der Radziwiłł wurde in Biała ein Basilianer-Kloster erbaut, welches ab 1767 die Gebeine beherbergte. Nach Polack gelangten lediglich einige Knochen der linken Hand des Märtyrers. Ob sich aus diesem Konflikt bereits ein zumindest im basilianischen Milieu angelegter eigenständiger unierter, nicht mehr allgemein katholischer Josafatkult herauslesen läßt, konnte bislang nicht abschließend beurteilt werden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts sollen sich noch einige Wunder in Biała und Polack an den Stätten des Kultes Josafats zugetragen haben. Dennoch war der Höhepunkt des Kultes vorerst überschritten, zumal mit den Teilungen Polens die zentralen Gebiete der Verehrung unter russische Herrschaft gerieten. Zwar waren die nichtorthodoxen Kirchen und Gemeinden in den ehemaligen polnisch-litauischen Gebieten des Zarenreichs bis in das erste Drittel des 19. Jahrhunderts keinen strukturellen Bedrückungen ausgesetzt gewesen, doch bedeutete der polnische Novemberaufstand von 1830–1831 eine Zäsur. St. Petersburg begann, die Einflußnahme des Vatikans auf die katholischen Polen im Zarenreich und somit auf innere Angelegenheiten zu fürchten, ohne daß sich der rechtliche Status der Römischen Kirche verschlechterte. Dies galt allerdings nicht für die unierten Gläubigen, die von den „schädlichen Einwirkungen“ Roms und der Polen offiziell „befreit“ werden sollten. In den weißruthenischen, litauischen und ukrainischen Regionen beziehungsweise im „Westlichen Gebiet“ (zapadnyj kraj), zu denen auch die unierte Eparchie von Polack, Witebsk und Mscislaŭ gehörte, kam es 1839 zur Liquidierung der Union. Da der unierte Märtyrer von der russisch-orthodoxen Seite als Medium Roms und der, so der Vorwurf, illoyalen 730

Josafat Kuncevyč

römisch-katholischen Polen wahrgenommen wurde, musste die tätige kultische Verehrung erhebliche Einschränkungen erfahren. Langsam geriet der Kult in Vergessenheit. Er beschränkte sich bestenfalls noch auf die Region um Biała. Zur Wiederbelebung der Josafat-Verehrung kam es im Zusammenhang mit dem rasch scheiternden polnischen Januar-Aufstand der Jahre 1863/6�. Sie wurde, wie bereits im 17. Jahrhundert, wesentlich durch römisch-katholische Adlige aus ursprünglich orthodoxen Familien befördert. Allerdings kamen auch neue Akteure ohne räumliche Bezüge zur ehemaligen Adelsrepublik hinzu. Bereits Monate vor Beginn des Aufstands im Januar 1863 veranstalteten einige zukünftige Insurgenten eine Pilgerfahrt zum Grab des Josafat nach Biała, wo sie den Märtyrer in einer symbolischen Wiederholung seiner Erhebung zum „Patron der polnischen Krone und des Großfürstentums Litauen“ von 1673 zu ihrem Schutzheiligen ausriefen. Parallel dazu verstärkten exilierte polnische Adlige wie die Sapieha sowie einige Geistliche aus dem Umfeld des Basilianer-Klosters Santa Maria im italienischen Grottaferrata ihre Bemühungen um die Wiederaufnahme des Heiligsprechungsprozeßes durch den Vatikan. Es ist nicht zuletzt dem Engagement des sich in Rom aufhaltenden polnischstämmigen Basilianermönches Michał Dombrowski zu verdanken, daß sich Papst Pius IX. der vergessenen causa annahm. Mittels Josafats wurde auf die Bedrückung der katholischen Konfessionen im Zarenreich aufmerksam gemacht, welche im Kontext mit dem polnischen Aufstand aber zugleich eine polnisch-nationale Dimension erhalten hatte. Durch den 1867 erfolgreich zum Abschluß gebrachten Kanonisierungsprozeß wurde Josafats Funktion als Bindeglied zwischen polnischen und ruthenischen Katholiken sowie als Symbol der Union auch über den ostmitteleuropäischen Raum hinaus anerkannt. Der Papst seinerseits wollte durch die öffentlichkeitswirksam inszenierte causa auch einen positiven Kontrapunkt zur territorialen Bedrohung des Vatikans durch den italienischen Einigungsprozeß setzen, vor allem jedoch seinen Führungsanspruch über die Christenheit, insbesondere gegenüber der Orthodoxie unterstreichen. Nicht zuletzt dieser kommunikative Gehalt brachte die russische Seite dazu, den Josafatkult unter dem Blickwinkel polnischer Illoyalität und der von der orthodoxen Kirche ,abtrünnigen‘ Unionsanhänger zu sehen. Deren Gläubige waren zum Teil massiver Verfolgung ausgesetzt, die letzte verbliebene unierte, griechisch-katholische Eparchie in Chełm wurde 1875 liquidiert. Bereits zwei Jahre zuvor veranlaßte die russische Macht die Einmauerung der Reliquien in die Klosterkirche von Biała. Einer öffentlichen Verehrung der Gebeine war damit lange die Grundlage entzogen. In Polack, dem Zentrum des politischen und geistlichen Wirkens Josafats zu seinen Lebzeiten, spielte er im Verlauf des 19. Jahrhunderts noch einmal eine gewisse Rolle in der zwischenkonfessionellen Kommunikation. Nach dessen Heiligsprechung 1867 entstand dort im Rekurs auf Josafat eine dem heiligen Nikolaus und der heiligen Еŭfrasinnja gewidmete orthodoxe Bruderschaft, die sich in St. Petersburg und beim Heiligen Synod lange und vergeblich um die Rückführung der Gebeine der orthodoxen Ortsheiligen Еŭfrasinnja in das mehrheitlich von Juden und Katholiken bewohnte Polack bemühen sollte. Mittels der Heiligen sollte der städtische Raum als orthodox 731

Kerstin S. Jobst/Stefan Rohdewald

Der Stich Josafats in einem italienischen, hagiographischen Werk, das kurz nach seiner 1642 erfolgten Seligsprechung erstellt worden war, zeigt den 1867 heiliggesprochenen mit der Axt im Schädel, die zu seinem Zeichen wurde. Der Begleittext beschreibt Josafat als seligen Märtyrer und Ruthenen, der von den sogenannten Schismatikern für den katholischen Glauben sowie die Union mit der römischen Kirche getötet worden sei. Bildnachweis: Gerardi, Antonio: Sommaria relatione della vita, e miracoli del beato martire Giosafat Cunceuitio dell’Ordine di S. Basilio Magno, ... estratta dalli processi fatti per la sua beatificatione, e canonizatione da Antonio Gerardi romano procuratore, & agente della causa. Roma 1643.

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Josafat Kuncevyč

markiert werden. Damit hatte man aber erst 1910 Erfolg, als deren Überreste schließlich mit großem propagandistischen Aufwand nach Polack überführt wurden. Josafat wurde in diesem Diskurs eindeutig als angeblich gegnerischer Heiliger und als Feind der Orthodoxie eingeschrieben. In den seit der Teilungen Polens zur Habsburgermonarchie gehörenden ehemals polnisch-litauischen Gebieten, insbesondere im als Galizien und Lodomerien bezeichneten Kronland, hatte die Verehrung Josafats trotz der sich in Przemyśl befindlichen Reliquien der zweiten Kategorie lange keine große Dynamik entfaltet. Dies sollte sich auch im Verlauf des 19. Jahrhunderts nicht wesentlich ändern, obgleich die griechisch-katholische Kirche gezielt von Wien gefördert wurde. Vielmehr blieb Josafat noch nach seiner Kanonisierung im ruthenischen/ukrainischen Milieu Galiziens lange ein umstrittener Heiliger. Dies hatte mehrere Gründe: Zuerst einmal hatten sich die orthodoxen Eparchien von Lemberg und Przemyśl der Union lange verweigert und waren erst zu Beginn des 18. Jahrhunderts uniert geworden. Somit erklärt sich die vergleichsweise wenig ausgebildete Kulttradition. Überdies sollten die Debatten zwischen den sogenannten Russophilen mit ihrer kulturellen oder politisch-kulturellen prorussischen Orientierung und den für eine vom Polen- und Russentum distinkten ukrainischen Identität eintretenden Ukrainophilen erst im beginnenden 20. Jahrhundert zu einem Ende kommen. Die in ihrer Zeit unter galizischen Ruthenen einflußreiche russophile Zeitung Slovo (Das Wort) hatte so in den 1860er Jahren eine Kampagne gegen die Kanonisationsbestrebungen initiiert, in der Josafat als unversöhnlicher Gegner des byzantinischen Ritus dargestellt worden ist. Ohnehin hatten die für die Finanzierung der Heiligsprechung notwendigen Geldsammlungen im Kronland Galizien nur bescheidene Resultate erzielt, obgleich bekannt war, daß der von den Ruthenen verehrte Kaiser Franz Joseph selbst einen bedeutenden Geldbetrag gespendet hatte. Das explizit polnisch-katholische Interesse an Josafat wurde überdies vielfach negativ vermerkt, war der Weg einer ruthenisch-polnischen amalgierenden Identität doch von ruthenischen Intellektuellen beider Lager nicht (mehr) gewünscht. Es fanden zwar im Sommer 1867 nach der erfolgreichen Heiligsprechung in Lemberg Feierlichkeiten unter Beteiligung römisch-katholischer, griechisch-katholischer und armenischer Würdenträger und Gläubigen statt. Auch wurde Josafat allmählich von kirchlichen Protagonisten einer distinkten griechisch-katholischen ukrainischen Identität als ,eigener‘ Heiliger beansprucht, doch wird immer wieder von widerständigen Gemeinden berichtet, welche sich zum Beispiel gegen die Unterstellung ihrer Kirche unter das Patrozinium Josafats wandten. 1916 besetzten österreichisch-ungarische Truppen Biała, wo sich die Gebeine Josafats – eingemauert und dem öffentlich Kult entzogen – seit mehr als dreißig Jahren befanden. Die habsburgische Verwaltung erkannte das Potential des Heiligen. Um sich als Beschützer des katholischen Glaubens aller Konfessionen der Monarchie zu stilisieren und vor allen Dingen das im Verlauf der ersten Kriegsjahre gestörte Verhältnis zu den galizischen Ruthenen zu verbessern, entschloß man sich, den unverweslichen Leib des Märtyrers abermals vor den orthodoxen Russen vermeintlich zu retten: 1917 wurde dieser nach Wien überführt, wo er in Anwesenheit des kurz zuvor aus russischer Internierung heimgekehrten Metropoliten Andrеj Šeptyc’kyj in der Sankt Barbarakirche feierlich eine 733

Kerstin S. Jobst/Stefan Rohdewald

neue Ruhe- und Kultstätte erhielt. Über das Ausmaß der Verehrung in den nächsten zwei Jahrzehnten liegen gegenwärtig nur spärliche Erkenntnisse vor. Der Kult dürfte vorrangig vom galizisch-ukrainischen Exil gepflegt worden sein. Die bislang letzte translatio erfolgte im Jahr 1949, bei der abermals antirussisch, nun in einer antisowjetischen Spielart, argumentiert wurde: Offenbar mit Hilfe des Vatikans und eines polnisch-stämmigen Militärpriesters der US-Armee gelang die angebliche Errettung der Gebeine vor den sowjetischen Truppen aus dem gemeinschaftlich von den vier Mächten verwalteten 1. Wiener Gemeindebezirk, in dem die St. Barbara Kirche liegt. Sie wurden in den Vatikan überführt und befinden sich gegenwärtig im St. BasiliusAltar im Petersdom. V. Gegenwärtige Verehrung Bis zum Ende der Sowjetunion beschränkte sich die Verehrung, von den sich seit 1946 im Untergrund befindlichen griechisch-katholischen Kreisen im ehemaligen Ostgalizien einmal abgesehen, auf die Zentren griechisch-katholischer Ukrainer und römisch-katholischer Polen in der Diaspora, beispielsweise in Brasilien, vor allen Dingen aber in Nordamerika. Dort fungiert Josafat als Patron zahlreicher Kirchengemeinden beider Konfessionen; eine der größten und bekanntesten ist die von polnischen Einwanderern Ende des 19. Jahrhunderts gegründete römisch-katholische Basilika des Heiligen Josafats in Milwaukee/Wisconsin. Dies spricht dafür, daß dieser Heilige recht dauerhaft als ein Symbol einer übergreifenden Katholizität interpretiert werden kann, auch wenn dieses Element vielen Gläubigen bei der Ausübung religiöser Praktiken kaum bewußt sein dürfte. Dafür spricht auch, daß zahlreiche römisch-katholische Kirchen in Polen sich Josafat als Schutzheiligen gewählt haben, beispielsweise im Warschauer Stadteil Wola. In jedem Fall ist der Märtyrer auch heutzutage nur eingeschränkt als distinkt ukrainischer Heiliger zu bezeichnen, zumal die unabhängige Ukraine durch eine höchst plurale konfessionelle und religiöse Landschaft gekennzeichnet ist, in der orthodoxe Gläubige die Mehrheit stellen. Der nachdrücklich als antiorthodox eingeschriebene Josafat kann somit kaum die Funktion eines Nationalheiligen einnehmen, obwohl sich die Grundlage einer überkonfessionellen ukrainisch-nationalen Identität mehr als zwanzig Jahre nach der Unabhängigkeit verbreitert hat. In der heutigen Westukraine pflegen die wiedererstandene griechisch-katholische Kirche und der Basilianer-Orden den Kult; in zahlreichen Kirchen in- und außerhalb Lembergs schmücken Ikonen mit seinem Bildnis die Ikonostase. Noch heute wird der Josafatkult teilweise als antiorthodox interpretiert. So ist seit den 1990er Jahren die ihm geweihte katholische Priestergemeinschaft des von Rom exkommunizierten Priesters Basil Kovpak aktiv, welche den interreligiösen Dialog strikt ablehnt. Sie steht der umstrittenen Pius-Bruderschaft (SSPX) nahe und tritt für eine massive Missionierung unter den orthodoxen Ukrainern ein. In seiner ehemaligen Eparchie von Polack, Witebsk und Mscislaŭ im heutigen Weißrußland ist hingegen keine kultische Verehrung zu vermerken, während die heilige Еŭfrasinnja, gewissermaßen seine Konkurrentin, im öffentlichen Raum durchaus gegenwärtig ist. Im litauischen 73�

Josafat Kuncevyč

Wilna allerdings, wo er vor seiner Ernennung zum Erzbischof als Mönch des Ordens der Basilianer wirkte, erinnert eine Tafel an der Kirche Sankt Dvasios an ihn. VI. Auswahlbibliographie a) Quellen [MaLinoWsKi, Izaak Dominik]. Korona złota nad głową zranioną b. m. Iozaphata Kvncewicza, arcibiskvpa Polockiego [Die goldene Krone auf dem verletzten Haupt des gesegneten Märtyrers Josafat Kuncevyč, des Erzbischofs von Polack]. Wilno 1673; Michnievicz, Benedictus: Rosa avtvmnalis coelo manibus schismaticorum inserta [...]. [Wilna] 1667; susza, Jacobus: Cursus vitae et certamen martyrii B. Josaphat. Kuncevicii [...] Editio nova, emendatior et auctior curante Joanne. Martinov/Parisiis 1865; S. Josaphat – Hieromartyr. Documenta Romana Beatificationis et Canonizationis. Hg. v. WeLyKyJ, Athanasius G., Bd. 1–3. Romae 1952–1967; Der Katechismus des hl. Josaphat, Märtyrer-Erzbischof von Polotzk. In: Der christliche Osten 15 (1960), 92–101.

b) Darstellungen DuchińsKi, Franciszek Henryk: Historia o pozabiianiu bazilianów w połockiey cerkwi przez cara moskiewskiego etc. w roku 1705tym, dnia 30 Junia starego [Geschichte über den Totschlag der Basilianer in der Polacker Kirche durch den Moskauer Zaren etc. im Jahre 1705 am 30. Juni alten Stils]. Paryż 1863; Guépin, Alphonse: Saint Josaphat archevéque de Polock, martyr de l’unité catholique et l’Eglise grecque unie en Pologne, Bd. 1–2. Poitiers/Paris 187�; hofMann, Georg: Ruthenica. II. Der hl. Josafat. In: Orientalia Christiana Periodica 3/2/12 (1925) 173–239; panucevič, Vacłaŭ: Śv. Jazafat Archijap. Połacki, 1623–1963 [Hl. Josafat, Erzbischof von Polack, 1623–1963]. Chicago 1963; Miscellanea in honorem S. Josaphat Kuncevycz. In: Analecta OSBM 2/2/6 (1967); soLoviJ, Meletij M./veLyKyJ, Atanasij H.: Svjatyj Josafat Kuncevyč, joho žyttja i doba [Leben und Zeit des heiligen Josafat Kuncevyč]. Toronto 1967; sroKa, Albin: Relikwie Świętego Jozafata Kuncewicza w kościele Franciszkanów-Reformatów w Przemyślu [Die Reliquien des heiligen Josafat Kuncevyč in der Kirche der reformierten Franziskaner in Przemyśl]. In: Stępien, Stanisław (Hg.): Polska – Ukraina. 1000 lat sąsiedztwa, Bd. 2. Przemyśl 199�, 109–118; Gil, Andrzej: Kult Jozafata Kuncewicza i jego pierwsze przedstawienia ikonowe w Rzeczypospolitej (do połowy XVII wieku). Zarys problematyki [Die Verehrung von Josafat Kuncevyč und seine ersten ikonographischen Darstellungen in der Adelsrepublik (bis 1650.)]. In: ders. (Hg.): Kościoły wschodnie w Rzeczypospolitej XVI–XVII wieku. Zbiór studiów. Lublin 2005, 65–72; KeMPa, Tomasz: Czy męczeńska śmierć arcybiskupa Jozafata Kuncewicza przyczyniła się do rozwoju unii brzeskiej na obszarze archidiecezji połockiej? [Hat der Märtyrertod des Erzbischofs Josafat Kuncevyč zur Entwicklung der Union von Brest auf dem Gebiet des Erzbistums Polack beigetragen?]. In: Gil, Andrzej (Hg.): Kościoły wschodnie w Rzeczypospolitej XVI–XVII wieku. Zbiór studiów. Lublin 2005, 93–105; rohdeWaLd, Stefan: Medium unierter konfessioneller Identität oder polnisch-ruthenischer Einigung? Zur Verehrung Josafat Kuncevyčs im 17. Jahrhundert. In: KLeinMann, Yvonne (Hg.): Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen. Stuttgart 2010, 271–290; Jobst, Kerstin S.: Toleranz und Kalkül. Heiligenverehrung im multikonfessionellen ostmitteleuropäischen Raum (17.–20. Jahrhundert). In: hüchtKer, Dietlind/KLeinMann, Yvonne/thoMsen, Martina (Hg.): Reden und Schweigen über religiöse Differenz. Tolerieren in Epochen übergreifender Perspektive. Göttingen 2012, 132–15�.

Kerstin S. Jobst/Stefan Rohdewald 735

Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Kirchliche und nationale Memoria. – a). 17./18. Jahrhundert. – b) Seit dem 19. Jahrhundert. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Einschätzung von Petro Mohyla (1596–16�7), der als rumänischer Fürstensohn geboren wurde und später als orthodoxer Reformbischof von Kiew Bekanntheit erlangte, bleibt bis in die Gegenwart umstritten. Die Historiographie zeichnete, entsprechend den religiösen und konfessionellen, später konfessionell-nationalen Loyalitäten der einzelnen Autoren, sehr unterschiedliche Bilder. Erst im 20. Jahrhundert fand eine breitere Verehrung auch in Namensgebungen, Kanonisierungen oder Filmwerken Ausdruck, ohne daß sich an den konkurrierenden Interpretationen allerdings etwas änderte: Es bleiben eine ukrainisch-nationale, eine russisch-orthodoxe und eine katholisch-ökumenische Interpretation nebeneinander bestehen. Die in Mohylas Geburtsjahr 1596 verkündete Union von Brest ist dabei meist der Ausgangspunkt unterschiedlicher Erinnerungen, die sich auch auf die Bewertung seiner wesentlichen Reformerfolge, der Gründung des Kiewer Kollegiums und der Verabschiedung eines Kompendiums der orthodoxen Glaubenslehre unter dem Titel Confessio Orthodoxa erstrecken. II. Leben Petro Mohyla stammte aus dem moldauischen Fürstengeschlecht der Movileşti und wurde am 21. Dezember 1596 – und damit im gleichen Jahr, als die Union von Brest geschlossen wurde – als Sohn von Simon Movilă im moldauischen Suceava geboren. Petros Onkel Ieremia war kurz zuvor mit Unterstützung des polnischen Kanzlers Jan Zamoyski zum Hospodar (Fürst) Moldawiens aufgestiegen. Gleich anderen Fürstenhäusern Rumäniens sahen sich auch die Movileşti in der Nachfolge der byzantinischen Kaiser. Bereits in jungen Jahren wurde Petro Mohyla im Geiste der Thronfolge als orthodoxer Fürstensohn unterwiesen, dessen Schutzfunktion für die orthodoxe Kirche einen besonderen Stellenwert einnahm. Simeon Movilă folgte seinem Bruder 1606 auf den Thron, starb aber schon im Jahr darauf; in der Folge brachen Thronstreitigkeiten aus. 1608 verließen seine Söhne zusammen mit ihrer ungarischstämmigen Mutter Marghita (Melania) Hara das Land. Sie fanden Asyl auf dem Gut Dziadziłów, heute ukrainisch Diadyliv, von Stanisław Żółkiewski, der als Nachfolger Zamoyskis das Amt des Kronhetmans in Polen-Litauen innehatte. Hier erhielt Petro Mohyla die Ausbildung eines Adelssohnes, die aus dem Kriegshandwerk sowie der Einführung in das politische Leben der Land- und Reichstage bestand. Es wurde ihm, höchstwahrscheinlich an der von Zamoyski gegrün736

Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa

deten Akademie von Zamość, aber auch höhere Bildungsinhalte vermittelt, die lateinische Sprache und Literatur sowie die Grundlagen der Artes liberales. Ausgedehnte Bildungsreisen ins westeuropäische Ausland, von denen in der älteren Literatur noch oft die Rede ist, lassen sich nicht belegen; die Kontakte zur orthodoxen Bruderschaftsschule in Lemberg waren eher sporadisch. Mohylas Status als von polnischer Seite protegierter potentieller Thronfolger in Moldawien stand stets im Hintergrund. In den Kriegen der Jahre 1620 bis 1622 mit dem Osmanenreich, in denen Mohyla als Thronprätendent mitkämpfte, ließen sich diese Ansprüche jedoch nicht durchsetzen. Mohylas Protektor Stanisław Żółkiewski kam bereits 1620 in einem ersten Gefecht um. Mohylas weitere Aktivität ist vor dem Hintergrund der Union von Brest zu sehen, denn derjenige Teil der orthodoxen Kirche Polen-Litauens, der die Union ablehnte, bedurfte offensichtlich eines Schutzherrn. Seiner früheren Ambitionen und Perspektiven beraubt, unternahm Mohyla spätestens ab 1625 regelmäßige Reisen nach Kiew, das sich eben als Zentrum einer nicht-unierten Orthodoxie Polen-Litauens neu etablierte, knüpfte Kontakte zur dortigen orthodoxen Hierarchie und erwarb Güter in der Umgebung der Stadt. Als 1627 der Archimandrit des Kiewer Höhlenklosters, Zacharij Kopystens’kyj, starb, waren es aber neben orthodoxen Geistlichen und lokalen Adeligen wiederum Vertreter der polnischen Regierung (in Gestalt von Tomasz Zamoyski, einem Sohn des Kanzlers), deren Einfluß Mohyla die Wahl zu seinem Nachfolger verdankte. Zu diesem Zeitpunkt noch Laie, trat Mohyla erst im Dezember des Jahres in den Mönchsstand über; er machte sich aber dennoch sogleich an die Umsetzung und Fortführung eines umfangreichen Reformprogramms. Im Zentrum dieses Programms standen der Buchdruck sowie die Vereinheitlichung und der Ausbau geistlicher Literatur, die Stärkung innerkirchlicher Struktur und Disziplin sowie die Etablierung eines leistungsfähigen orthodoxen Schulwesens. In den Jahren bis zu Mohylas Tod brachte die Druckerei des Höhlenklosters nacheinander mehrere Ausgaben eines neu redigierten Meßbuches, ein umfangreiches Sakramentale sowie eine breite Palette geistlichen Schrifttums heraus, der ihr Entstehungszusammenhang als gleichsam orthodoxe Antwort auf die Gegenreformation in Polen-Litauen teils deutlich anzumerken ist. Mohyla wirkte an der Auswahl von Texten mit und verfaßte selbst eine Reihe von Übersetzungen und Vorworten. Darüber hinaus versammelte er einen Kreis von Gelehrten um sich, die über Kenntnisse verfügten, die zur Vereinheitlichung und Neugestaltung orthodoxen Schrifttums nötig waren. 1631 vollzog er gegen deutliche Widerstände den Zusammenschluß der Klosterschule mit der Anstalt der Kiewer Epiphanie-Bruderschaft und damit die Gründung des Kiewer Kollegiums. Später von Zar Peter I. in den Rang einer Akademie erhoben, avancierte die Einrichtung rasch zum führenden Bildungszentrum der slawisch-orthodoxen Welt. Nach dem Tod des bisherigen orthodoxen Metropoliten, Iov Borec’kyj, bestimmten noch im Jahr 1631 die eher konservativen, den Reformen und den polnischen Machthabern feindlich gesinnten Kräfte Isaja Kopyns’kyj zum neuen Metropoliten. Dieser blieb aber umstritten, auch weil nach der Brester Union der nicht-unierte Teil des höheren Klerus weiterhin formell illegal war. Mohyla hingegen unterhielt unverändert gute Beziehungen zur polnischen Machtelite und zum König. So konnte er dazu beitragen, daß 737

Alfons Brüning

Die Seite aus einem 1646 gedruckten Sakramentale (Trebnyk) zeigt das Wappen des Petro Mohyla, das für die selbstbewußte Verbindung adeliger Herkunft und geistlicher Herrschaft steht. Bildnachweis: Privatarchiv Stefan Rohdewald.

1632/33, auf den Reichstagen nach dem Tod König Sigismunds III. Wasa, die orthodoxen Vertreter die Wiedereinsetzung ihrer alten Rechte und einer eigenen Hierarchie erreichten. Mohyla, der mit dem neuen König Władysław IV. schon länger persönlich bekannt war, wurde von diesem als Metropolit eingesetzt und vom orthodoxen Adel bestätigt. Zurück in Kiew, vertrieb er Kopyns’kyj und setzte sein Reformbemühen fort. Von adeligen Vertretern aller Konfessionen respektiert, wurde Mohyla in der Zeit seines Wirkens mehrfach als Kandidat für ein ruthenisches Patriarchat ins Gespräch gebracht, das die bestehende Spaltung der Kirchen des östlichen Ritus überwinden sollte. Er selbst wirkte allerdings nur zögerlich an solchen Projekten mit. 738

Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa

Im Jahr 1640 beriet in Kiew eine Synode erstmals über die von Mohyla und dessen Mitarbeitern zusammengestellte Übersicht der orthodoxen Glaubenslehren unter dem lateinischen Titel Confessio Orthodoxa. Zwei Jahre später wurde diese Schrift im moldauischen Iaşi einer gesamtorthodoxen Synode vorgelegt und dabei leicht korrigiert. Das Patriarchat von Konstantinopel teilte Mohyla daraufhin ein Jahr später seine Approbation der Schrift als authentische Glaubenswiedergabe der Lehren der Kirche mit. Die Confessio Orthodoxa erfuhr als eine auch modernen Ansprüchen genügende Zusammenstellung der orthodoxen Glaubenslehren bis weit in das 20. Jahrhundert hinein zahlreiche Auflagen in den östlichen Kirchen sowie eine ganze Reihe von Übersetzungen in westeuropäische Sprachen. 1646 erschien in Kiew ein umfassendes Sakramentale (Trebnyk) mit Kommentaren in den Begriffen aristotelisch-scholastischer Philosophie. Auch dieses Werk blieb bei ukrainischen Orthodoxen und bei einem Teil der Unierten bis ins 19. Jahrhundert hinein im Gebrauch. In der letzten Nacht des Jahres zum 1. Januar 16�7 starb Mohyla im Alter von fünfzig Jahren. III. Kirchliche und nationale Memoria Das Wirken Petro Mohylas gehört in erster Linie in den Zusammenhang der Auseinandersetzungen um die Union von Brest, als deren großer Opponent er in der Regel beschrieben wird. Da diese Auseinandersetzungen in der umfangreichen literarischen Polemik seit der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts nicht nur unter rein religiös-konfessionellen, sondern auch bereits unter ethnisch-nationalen Vorzeichen ausgetragen wurden, sind beide Elemente in der Erinnerung an Mohyla und dessen Werk kaum zu trennen – allein die Gewichtung verschiebt sich. Generell läßt sich immerhin sagen, daß die nationale Komponente in ihrer modernen Form erst im Laufe des 19. Jahrhunderts in den Vordergrund tritt, ohne freilich zu irgendeinem Zeitpunkt allein dominant gewesen zu sein. Das Gedenken an Mohyla ist häufig zudem weniger mit seiner Person selbst als vielmehr mit zwei der hervorstechendsten Errungenschaften seines Reformwerks verbunden, mit der Errichtung des Kiewer Kollegiums und mit der Publikation der Confessio Orthodoxa. Oftmals sind Erwähnungen oder Bewertungen dieser beiden Elemente seiner Reformen der eigentliche Anlaß, um auch Mohyla zu würdigen. Dabei hat der Tendenz nach die Confessio Orthodoxa im Westen stärkere, wenn auch im Ergebnis recht unterschiedliche Beachtung gefunden, während Mohylas Bildungsreformen vor allem in Rußland und der Ukraine Anerkennung fanden. a) 17./18. Jahrhundert Bereits bei den Zeitgenossen ist das Bild Mohylas ambivalent. Panegyriken aus seinem Kiewer Umfeld, die seit 1630 erschienen, preisen in barocker Manier sein Verdienst um die Bildung und machen auch seine hohe Herkunft zum Thema – man kannte nur zu gut 739

Alfons Brüning

den Anspruch der moldauischen Fürsten, Schutzmacht der orthodoxen Kirche zu sein. Abbildungen und Verse sprechen offen vom Sohn der moldauischen Hospodaren, tapfer und im Krieg erfahren, der seinem weltlichen Ruhm entsagt habe, um nun für die Kirche zu streiten. Die Akzente ließen sich freilich auch anders setzen, da Mohyla in seinen kirchlichen Ämtern auf herrschaftliches, befehlsgewohntes Auftreten nicht verzichtete. Ein „harter Tyrann“ sei Mohyla gewesen, so schreibt etwa der Chronist Joachim Jerlicz, ein adeliger Bewohner des Kiewer Landes, „eitel und ruhmsüchtig“ und „nicht frei von den Versuchungen dieser Welt“. Vor allem aber machten ihm seine Gegner, die sich eine Zeit lang um den abgesetzten ehemaligen Metropoliten Kopyns’kyj versammelten, bald den Vorwurf, schon nicht mehr orthodox zu sein, sondern vielmehr heimlich mit den Polen und Katholiken zu paktieren. Hier wird bereits die Spaltung zwischen einer zwar orthodoxen, der Adelsrepublik Polen-Litauen jedoch ergebenen Hierarchie und einer zusehends feindlichen Opposition aus Mönchtum und Kosaken deutlich, die bei den späteren Kosakenaufständen stets fühlbar blieb. Über Mohyla und dessen Nachfolger dachten die Kosaken in der Regel wenig günstig. Umgekehrt war man unter den Unierten und selbst in Rom lange Zeit der Meinung, Mohyla aufgrund seiner Ansichten noch für die Union gewinnen zu können, und sprach sogar noch lange nach dessen Tod nicht ohne Wohlwollen von ihm. Die Fronten formierten sich: Ioannikij Haljatovs’kyj, zeitweise Rektor des Kiewer Kollegiums, sah sich noch 168� genötigt, entschieden für Mohylas Rechtgläubigkeit einzutreten. Da aber Gerüchte über Haljatovs’kyjs Romfreundlichkeit wiederum auch in Moskau gehört wurden, standen die unter Mohylas Ägide herausgegebenen Werke dennoch fast das ganze 17. Jahrhundert unter Häresieverdacht. Noch die erste Moskauer Ausgabe der Confessio Orthodoxa von 1696 verrät in einem erklärenden Vorwort von Patriarch Adrian die Skrupel der Amtskirche. Eindeutige Verehrung erfuhr Mohyla einstweilen nur im engeren Kreis der Kiewer Geistlichkeit und besonders an dem dort von ihm gegründeten Kollegium, das Peter I. im Jahr 1701 zu einer Akademie mit erweitertem Unterrichtsangebot erhob; dort war ihm – nachweislich bis in das 19. Jahrhundert hinein – ein eigener Gedenktag gewidmet. Immerhin dürfte dieser Umstand auch zu einem weitgehend positiven Bild von Mohyla in der russischen Kirche insgesamt beigetragen haben, zu deren Gebiet die Eparchie Kiew nach deren Anschluß an das Zarenreich 1686 gehörte. Lange Zeit bestand der höhere Klerus des Reiches schließlich zu einem beträchtlichen Anteil aus Absolventen der Kiewer Akademie. Mohyla wurde auch im Westen bereits im 17. Jahrhundert bekannt, freilich weniger als Person selbst als vielmehr dank der 1667 in Amsterdam gedruckten Confessio Orthodoxa. Französische Jansenisten bedienten sich der Schrift in ihrer Auseinandersetzung mit der römischen Amtskirche, um ihre romkritischen Argumente zu untermauern. In den folgenden Jahrzehnten, vornehmlich nach 1700, erlebte die ursprünglich lateinisch verfaßte Confessio Orthodoxa dann eine Reihe von Übersetzungen ins Englische und Deutsche, hauptsächlich von Vertretern protestantischer Glaubensrichtungen. In der Regel enthalten diese Ausgaben knappe Informationen über den „russischen“ Metropoliten Mohyla als Initiator. Bei solchen Unternehmungen ging es stets entweder darum, sich 7�0

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in laufenden innerwestlichen Auseinandersetzungen anhand der ostkirchlichen Überlieferung über originäre Bestandteile des Glaubens zu vergewissern, oder auch auf dieser Grundlage den Gesprächsfaden mit der Ostkirche selbst wieder aufzunehmen. In Kompendien des 19. Jahrhunderts, bei Ernst Julius Kimmel und Jon Michalcescu beispielsweise, versuchte sich die westliche Theologie der orthodoxen Dogmatik vor allem anhand von Mohylas Confessio anzunähern – freilich nicht selten in Verkennung des Stellenwertes, den ein solches Werk in der orthodoxen, weniger auf Wort und Schrift ausgerichteten Theologie haben mußte. Die Diskussion um die Entlehnungen aus der katholischen Kontroversliteratur, die sich in der Confessio Orthodoxa nachweisen lassen und wohl zuerst in den 1920er Jahren von dem französischen Jesuiten Marcel Viller ins Gespräch gebracht wurden, dauert bis in die Gegenwart an. b) Seit dem 19. Jahrhundert Im europäischen Osten fielen spätestens seit den Teilungen Polens und der Inkorporation der ehemals ruthenischen (westukrainischen und weißrussischen) Gebiete in das russische Zarenreich die konfessionellen und – nunmehr bald im modernen Sinn – nationalen Zuschreibungen zusammen. Folglich bemühte sich von nun an die russische Kirchengeschichtsschreibung darum, Mohyla eindeutig als einen der ihren und sein Reformwerk vornehmlich als großes und gelungenes Unternehmen zur Verteidigung des orthodoxen Glaubens gegen lateinische und unierte Vereinnahmungsversuche darzustellen. Werke wie die biographischen Abrisse des Kiewer Bischofs Evgenij Bolchovitinov (1827) folgen bereits dieser Linie. Schon im Jahr 180� hatte eine an der Geistlichen Akademie St. Petersburg verteidigte Dissertation die Rechtgläubigkeit der Confessio Orthodoxa nachgewiesen. Im Hintergrund dieser Darstellung stand seit der staatlichen Zerschlagung Polens stets der Kampf des Zarenreiches gegen die unierte Kirche in den neuen Westgebieten; das einmal gefestigte Bild hielt sich jedoch noch lange nach der erzwungenen Selbstauflösung der Unierten Griechisch-Katholischen Kirche auf russischem Gebiet im Jahr 1839. Zu den Werken, die Mohylas Verdienste für die – jetzt im zaristischen Sinn zu verstehende – russische Kirche priesen, gehörten auch noch die letzten drei Bände der von Metropolit Makarij (Bulgakov) ab 1857 publizierten russischen Kirchengeschichte, in denen die „westrussische“ Kirchengeschichte ganz unter dem Vorzeichen der „Wiedervereinigung“ mit dem großrussischen Bruder abgehandelt wurde. Makarijs Werk, das 1996 in Moskau in einer kommentierten Neuausgabe erschien, wird unverändert als Standardwerk benutzt. Erst in die Diskussion um Stefan Golubevs zweibändige MohylaBiographie aus den Jahren 1883 und 1898 mischen sich zuweilen kritische Töne, die dem bisher oft schon ans Hagiographische grenzenden Bild widersprechen. Grundsätzliche Zweifel waren inzwischen auch aus Kreisen der russischen Slawophilen laut geworden. Hier kritisierte man nicht nur persönliche Schwächen Mohylas und dessen unbestreitbare Loyalität zum katholischen Königtum der Adelsrepublik Polen-Litauen, sondern auch generell seine Nähe zu „Westlichem“, also zum lateini7�1

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schen Kulturkreis und zum Katholizismus allgemein. Beispiele sind auch hier schon die nachweislichen Entlehnungen aus der katholischen Kontroversliteratur, die in seinen Büchern auftauchen, sowie strukturelle Ähnlichkeiten des Kiewer Kollegiums mit den Kollegien der Jesuiten. Entschiedene Skepsis klang bereits um die Mitte des 19. Jahrhunderts bei Jurij Samarin an; der russophile Ukrainer Pantelejmon Kuliš ging Ende der 1880er Jahre sogar so weit, Mohyla schlicht als „Polen im orthodoxen Meßgewand“ zu bezeichnen. Zwar erschienen seither auch weiterhin Darstellungen der Kirchengeschichte des 17. Jahrhunderts, in denen Mohyla den Kampf des „westrussischen Volkes“ für Glaube und nationale Zugehörigkeit (zum russischen Reich) anführte, doch verschwanden die hymnischen Töne allmählich ganz. Beispiele hierfür sind die Darstellungen von Konstantin Charlampovič oder der entsprechende Artikel in Band 23 der großen Brokgaus-Efron-Enzyklopädie. Nach 1917 trennen sich die Wege der „russischen“ Kirchengeschichtsschreibung – bemerkenswerterweise in eine zunehmend kritische Richtung, die im russisch-orthodoxen Exil verfolgt wurde, und in eine Fortsetzung der „großrussischen“ Variante, die namentlich in der nach 1944 wieder zugelassenen russisch-orthodoxen Kirche in der Sowjetunion präsent war. Offenkundig ist im zuletzt genannten Fall die Übereinstimmung dieser Linie mit dem auch hier propagierten historisch-politischen Programm der „Wiedervereinigung der drei slawischen Nationen“ (Rußlands, der Ukraine und Weißrußlands), deren Gedenktag 195�, exakt 300 Jahre nach dem Vertrag von Perejaslav, mit Zeremonien und Denkmälern, aber auch mit zahlreichen wissenschaftlichen Publikationen begangen wurde. Bereits 1951 hatte ein Artikel im Journal des Moskauer Patriarchats eine ähnliche Generallinie vertreten. In der russischen Emigration überwogen demgegenüber schon bald negative Töne. Das deutlichste Verdikt traf Mohyla aus der Feder von Georgij Florovskij, der Mohyla in seinen zuerst 1937 in Paris erschienenen Wegen der russischen Theologie eine (der Terminologie Oswald Spenglers entlehnte) „Pseudomorphose“ zum Vorwurf machte, ein gewaltsames und schädliches Überstülpen westlicher, katholisch-scholastischer Formen über eine in sich noch unentwickelte russische Orthodoxie. Bis in die Gegenwart wird Florovskijs eigenwillige Diagnose in westlicher wie in östlicher Theologie diskutiert. Über den Hintergrund von Florovskijs Ansatz wird manches deutlich aus der Tatsache, daß der bereits von dem Slawophilen Jurij Venelin im 19. Jahrhundert bemühte Vergleich zwischen den Reformern Petro Mohyla und Zar Peter I., deren Beurteilung bei aller Größe gleichermaßen strittig sein müßte, von Florovskij erneut aufgenommen wurde. Ähnlich, wenn auch in den Schlußfolgerungen weniger konsequent, äußerte sich in den 1950er Jahren Anton Kartašev in seinen Skizzen zur Geschichte der russischen Kirche. Die ukrainische Historiographie tat sich mit Mohyla insofern lange Zeit schwer, als dessen Rolle in den Konflikten, die in einer nationalen Perspektive zu schildern waren, stets ambivalent ausfällt. Den noch weitgehend positiven Anfang in der sogenannten romantischen Phase macht Mykola Kostomarov, der bereits in seiner Kiewer Dissertation von 18�1 Mohyla dank dessen Bildungsreformen eine bedeutende Rolle bei der Formung ukrainischer nationaler Kultur zuschrieb. Die Perspektive des ehemaligen Gründungs7�2

Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa

mitglieds der national-romantischen Kiewer „Kyrill-und-Methodius-Bruderschaft“ war freilich ganz auf ein geistlich-kirchlich begründetes Kulturideal abgestimmt und hatte insofern eher wenig Blick für soziale oder politische Konfliktlinien im engeren Sinn. Daß indes selbst diese Perspektive auch zu einer ganz anderen Beurteilung führen konnte, zeigt das bereits erwähnte Zitat von Pantelejmon Kuliš, seinerzeit wie Kostomarov Mitglied in der „Kyrill-und-Methodius-Bruderschaft“, der offenbar danach andere Wege gegangen war. Der neuralgische Punkt bei der Beurteilung Mohylas war und blieb dessen Verhältnis zur Union von Brest und zur griechisch-katholischen Kirche, das bei Kostomarov noch im Sinn einer Abwehr zugunsten eigenständiger ukrainischer Kultur, bei Kuliš dagegen als ein zu weit gehendes Entgegenkommen und damit beinahe als Verrat interpretiert wurde. Die Stoßrichtung freilich ist bei beiden dieselbe – sie ist im Kern nicht antirussisch, sondern antipolnisch. Eine ähnliche, nämlich antipolnische, Front existierte in der galizisch-habsburgischen Ukraine. Dieser Übereinstimmung ist es zumindest zum Teil zuzuschreiben, daß mit Ivan Vahylevč ein Mitglied der griechisch-katholischen „ruthenischen Triade“ Mohyla 18�3 ebenfalls „einen der größten Männer seiner Zeit, eine Autorität der Nichtunion“ nennen konnnte. Hier verkörpert Mohyla dann freilich zugleich eine „gute“, da verständigungsbereite Orthodoxie. Die Tendenz, Mohyla beinahe als einen Sympathisanten der Union zu sehen und ein besonderes Augenmerk auf dessen Verständigungsversuche mit der katholischen und unierten Seite zu richten, ist bis in die Gegenwart unter griechischkatholischen wie römisch-katholischen Historikern und Theologen zu verzeichnen; sie kehrt noch im 20. Jahrhundert in der Beurteilung von führenden unierten Kirchenleuten wie Andrej Šeptyc’kyj oder Josif Slipyj wieder. Ansonsten fiel das Bild Mohylas allerdings im gleichen Maß, in dem sich die Historiographie sozialen Gegebenheiten zuwendet (vor allem dem „Volk“, und das heißt in diesem Fall auch den Kosaken als Verkörperung des „Volkes“ und als eigentliche Träger ukrainischer Kultur), zusehends negativ aus. Mohylas Zugehörigkeit zur adeligen Oberschicht und seine nachweisliche Reserviertheit gegenüber den Kosakenverbänden machten ihn ungeeignet als Helden für die ukrainische nationale Sache. Von den entsprechenden Beurteilungen, die Mohyla und sein Reformwerk vom führenden Vertreter der „Narodovcy-Schule“, Mychajlo Hruševs’kyj, in dessen mehrbändiger Geschichte der Rus’-Ukraine erfuhr, konnte sich die ukrainische Geschichtsschreibung erst ganz allmählich lösen. Mohylas Beitrag sei für die Entwicklung von Kultur und Nationalbewußtsein bei Lichte besehen unbrauchbar und nutzlos gewesen, heißt es bei Hruševs’kyj. Erst in seinen späteren Werken (etwa in seiner Geschichte der ukrainischen Literatur) kam er zu einer differenzierten Bewertung, die aber nicht in vergleichbarer Weise rezipiert wurde. Einen gewissen Beitrag zu einer positiveren Bewertung leistete demgegenüber die ständisch-konservative, auf den Nachweis einer ukrainischen „Staatlichkeit“ (deržavnist’) gerichtete Perspektive, die Dmytro Dorošenko und mehr noch Vjačeslav Lypyns’kyj zu Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelten. Dorošenko sah in Mohyla den Vorreiter einer ukrainischen Nationalkirche; Lypyns’kyj machte aus ihm vollends eine ukrainische poli7�3

Alfons Brüning

tische Führungspersönlichkeit von Rang. Seiner Ansicht nach gingen in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts geistliche Autoritäten vom Typ eines Mohyla politischen Führern vom Schlag eines Bohdan Chmeľnyc’kyj voraus. Eine geistige, kulturelle und organisatorische Vorbereitung der Elitenbildung machte demzufolge den „nationalen Aufbruch“ und damit auch den Aufstieg Hetman Chmeľnyc’kyjs erst möglich. Bei all dem bleibt im allgemeinen Gedächtnis Mohylas Erneuerungswerk im Bildungsbereich zentral: Ukrainische Emigranten gründeten bereits im Jahr 1916 das Petro-Mohyla-Institute im kanadischen Saskatoon, das sich der Pflege und Vermittlung von ukrainischer Kultur, Kunst und Literatur widmet. Die Wiederentdeckung der „Staatlichkeit“ und damit auch Lypyns’kyjs als „Ideologen eines modernen ukrainischen Konservativismus“ in der nachsowjetischen Ukraine führte dazu, daß Mohyla erneut eine zielgerichtete Tätigkeit zugunsten eines ukrainischen Staates unterstellt wurde. Dies ist deutlich in der 1997 erschienenen Biographie aus der Feder von Valerija Ničyk, aber auch in mehreren Beiträgen von Zoja Chyžnjak bereits seit den 1980er Jahren zu verfolgen. Generell läßt sich hier ein Trend ablesen, der teilweise schon in der späten Brežnev-Zeit, mehr noch in der nachsowjetischen Ukraine Mohyla für die nationale ukrainische Sache wieder salonfähig macht. Mohylas 400. Geburtstag im Jahr 1996, der nicht nur in akademischen Kreisen, sondern weit darüber hinaus Beachtung fand, verhalf dieser Entwicklung offenbar vollends zum Durchbruch. Deutlich wird dies nicht nur an der seit 1993 größenteils durch Spendengelder aus der Diaspora in Kiew „wiedererrichteten“ Nationalen Kiewer Mohyla-Akademie (mit einem freilich dezidiert liberalen, an westlichen Vorbildern orientierten Programm) und einer aus gegebenem Anlaß in der Ukraine aufgelegten Briefmarke mit Mohylas Konterfei, es kommt auch durch die gleichsam konkurrierenden Kanonisierungen zum Ausdruck, die in jenen Jahren nacheinander von der aus dem Exil zurückgekehrten Ukrainischen Autokephalen Orthodoxen Kirche sowie im Anschluß von der Ukrainischen Orthodoxen Kirche des Moskauer Patriarchats vorgenommen wurden. Ein unter der Regie von Aleksandr Stoljarov 2007 gedrehter Dokumentarfilm präsentiert Mohyla – im Sinn der russisch-orthodoxen Perspektive – ebenfalls als Heiligen und Helfer der „russischen Kirche“ in einer Zeit der Bedrängnis und des Verfalls. Seit 2008 befindet sich eine steinerne Büste Mohylas auf einem der Innenhöfe des Kiewer Höhlenklosters, die diesen mit einem aufgeschlagenen Buch wiedergibt. Mohylas linke Hand deutet dabei auf das große orthodoxe Kreuz auf einer der Buchseiten. Ein weiteres Denkmal befindet sich im Ort Michajlivka-Rubeživka in der Region Kiew, der einst zu Mohylas Besitz gehörte. Schließlich ist Mohyla auch in Rumänien seit 1999 ein Heiliger; in Moldawien erschien in den 1990er Jahren eine Briefmarke, die ein zeitgenössisches Porträt im Stil der moldauischen Hospodaren trägt. Generell sind es im rumänischen Sprachraum ursprünglich Geistliche, Theologen und Kirchenhistoriker, die den Versuch unternehmen, den verlorenen Sohn für die nationale Kultur wiederzugewinnen. Demgegenüber nahm die weltliche Historiographie vor allem der kommunistischen Zeit von Mohyla kaum Notiz. In der Regel wurde so argumentiert: Zwar habe Mohyla die meiste Zeit außerhalb seines Geburtslandes gewirkt und auch überwiegend in fremden Sprachen geschrieben; 7��

Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa

die Prägung seiner Jugend sei jedoch stets wirksam geblieben. Sein Beitrag zur Hebung des religiösen und kulturellen Lebens der Gesamtorthodoxie habe dann wiederum auch in Rumänien Wirkung gehabt. Entsprechend diesem Schema stehen in vielen Abhandlungen die Herkunft Mohylas und die Confessio Orthodoxa, deren Endredaktion zudem in Iaşi erfolgt war, im Mittelpunkt. Für die polnische Historiographie und Memoria schließlich ist die Union von Brest auch für die Beurteilung von Mohyla insofern entscheidend, als diese Kirchenunion in verschiedenen Nuancen im Zusammenhang mit einer polnischen Kulturmission nach Osten und in den kresy, den östlichen Gebieten Polens, gesehen wird – also im großen Zusammenhang dessen, was in Oskar Haleckis Werken beispielsweise unter dem Begriff der „jagiellonischen Idee“ abgehandelt wurde. Diese vermeintliche Kulturmission betraf Sprache, Kultur und die (katholische) Religion. Als Gegner einer in diesem Sinn verstandenen Union wurde Mohyla in der 1880 publizierten Skizze der Geschichte der russischen Kirche in Polen von Julian Bartoszewicz verzerrt dargestellt: Er sei kaum als Mensch von Herz und Bildung zu betrachten und habe Verschwörungen gegen die Rzeczpospolita angezettelt, der doch er und seinesgleichen eigentlich alles verdankten. Demgegenüber wurden in späteren Darstellungen Mohylas Bildungsreformen gerade als ein Erfolg der polnischen Kulturmission im Osten dargestellt – so im Artikel der Orgelbrand-Enzyklopädie oder in Aleksander Jabłonowskis Studie über die Kiewer Akademie aus dem Jahr 1899. Entscheidend war hierbei die Rolle, die die polnische Sprache in Mohylas Reformen spielte: Zahlreiche der in Kiew aufgelegten Werke waren auf Polnisch, das im Kiewer Lehrbetrieb lange eine dominierende Position innehatte, erschienen. Ferner wurde, vor allem in der Zwischenkriegszeit, Mohylas politischer Kurs hervorgehoben: Mohyla sei loyal gegenüber der Rzeczpospolita aufgetreten, er sei verständigungsbereit in Fragen der Union gewesen, vor allem habe er sich gegenüber dem feindlichen Moskau reserviert gezeigt (Karol Chodynicki). Im Nachkriegspolen befaßten sich, anknüpfend an die in den 1930er Jahren erschienene französische Arbeit von Antione Martel, Philologen wie Ryszard Łużny mit dem polnischen Erbe Mohylas. Diese Richtung der Forschung bestand auch noch in der jüngeren Nachwendezeit, in der polnische katholische Theologen wie Wacław Hryniewicz und Marek Melnyk das ökumenische Potential von Mohylas Schriften neu entdecken wollten. Auch Papst Johannes Paul II., als Karol Wojtyła Erzbischof von Krakau, gedachte Mohylas anläßlich seines Besuchs in der Ukraine im Jahr 2001 als Bildungsreformer und als Brückenbauer zwischen Ost und West. Mohylas „Größe“ wurde, wie sich an populären Darstellungen, besonders aber an Filmen oder Namensgebungen ablesen läßt, außerhalb der Geschichtsschreibung erst im 20. Jahrhundert vollends entdeckt. Welcher großen Sache er freilich gedient habe, bleibt auch in der Gegenwart weiter umstritten. Heute konkurrieren in erster Linie eine national-ukrainische Interpretation mit einer großrussisch-orthodoxen, während es im Westen und in Polen vor allem ökumenisch ausgerichtete Theologen sind, die sich für Mohylas Werk interessieren. 7�5

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IV. Auswahlbibliographie a) Werke Izloženie glaviznych poučitelnych napisannoe ot Agapita diakona [Darlegung hauptsächlicher Lehrsätze, niedergeschrieben von Diakon Agapetos]. Kiev 1628; Razsuždenie Petra Mogily o vysokom dostojnstve inočeskoj žizni [...] [Betrachtungen Petro Mohylas über die hohe Würde des mönchischen Lebens (…)]. Hg. v. Stefan T. GoLubev. In: Archiv Jugo-Zapadnoj Rossii, Bd. I/7. Kiev 1859, 171–180; Kniga duši, narycaemoe zloto [...] [Buch der Seele, Gold genannt (…)]; Nomokanon. Kiev 1629; Služebnyk [Liturgiebuch]. Kiev 1629; Kr[e]st’ Chr[i]sta Spasitelja i každogo č[e]lov[e]ka. [Das Kreuz Christi und eines jeden Menschen]. Kiev 1632; S’branie korotkoj nauki o artikulach very [Zusammenstellung einer kurzen Lehre über die Artikel des Glaubens]. Kiev 16�5, Ľviv 16�6; Evchologion abo Trebnyk/ Euchologion seu Rituale a Metropolita Petro Mohyla curatum. Kiev 16�6; syriGos, Meletios: Orthodoxos homologia tes pisteos tes katholikes kai apostolikes ekklesias tes anatolikes. Amsterdam 1667; Liber symbolicus russorum oder Der grössere Katechismus der Russen [...]. Übers. V. Johann Leonhard frisch. Frankfurt/Leipzig 1727; Pravoslavnoe ispovedanie kafoličeskoj i apostoľskoj cerkvi vostočnoj (Perevedeno s Grečeskago jazyka v Sanktpeterburgskoj Duchovnoj Akademii) [Orthodoxes Bekenntnis der katholischen und apostolischen östlichen Kirche (Übersetzt aus dem Griechischen an der St. Petersburger Geistlichen Akademie)]. Moskva 1836 [ND 1996]; MichaLcescu, jon: Die Bekenntnisse und wichtigsten Glaubenszeugnisse der griechisch-orientalischen Kirche. Leipzig 1904; titov, fedor i.: Materialy dlja istoriji knyžnoji spravy na Ukrajini [Materialien zur Buchgeschichte der Ukraine]. Kiev 1924; MaLvy, Antoine/viLLer, Marcel (Hg.): La confession orthodoxe de Pierre Moghilà, métropolite de Kiev. Paris 1927; dippMann, Klaus J.: Petrus Mohylas Großer Katechismus. Analyse und Reprint der griechisch-lateinisch-deutschen Ausgabe von 1751. Berlin 1990; Machnovec’, leonid e.: Ukrajins’ki pys’mennyky. Bio-Bibliohrafičnyj slovnyk [Ukrainische Schriftsteller. Bio-Biographisches Wörterbuch], Bd. 1. Kyjiv 1960, �15–�27; popivchaK, ronald peter: Peter Mohila, Metropolitan of Kiev (1633–�7): Translation and Evaluation of His ,Orthodox Confession of Faith‘ (16�0). Washington 1975.

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Petro Mohyla und die Confessio Orthodoxa chodniej na Rusi [Die Kiewer Mohyla-Akademie. Historischer Abriß vor dem Hintergrund der allgemeinen Entwicklung der westlichen Zivilisation in der Rus’]. Kraków 1899–1900; paLMieri, aurelius: Theologia dogmatica orthodoxa, Bd 1. Florentiae 1911, 540–563; panaitescu, Petre p.: L’influence de l’œuvre de Pierre Moghila, archevêque de Kiev, dans les principautés roumaines. Paris 1926; šMurLo, evgenij f.: Rimskaja kurija na russkom pravoslavnom vostoke v 1609–1654 gg. [Die römische Kurie im russischen orthodoxen Osten in den Jahren 1609–165�]. Prag 1928; chodynicKi, Kazimierz: Kościół Prawosławny a Rzeczpospolita Polska [Orthodoxe Kirche und polnische Adelsrepublik]. Warszawa 1934; WoLińsKi, Janusz: Polska i Kościół Prawosławny. Zarys historyczny [Polen und die orthodoxe Kirche. Ein historischer Abriß]. Lwów 1936, 9�–10�; fLorovsKiJ, Georgij v.: Puti russkogo bogoslovija [Wege der russischen Theologie]. Paris 1937; MarteL, antoine: La langue polonaise dans les pays ruthènes. Lilles 1938; ionesco, Téophile: La vie et l’œuvre de Pierre Movila, metropolite de Kiev. Diss. Paris 19��; MüLLer, Ludolf: Die Kritik des Protestantismus in der russischen Theologie vom 16. bis zum 18. Jahrhundert. Wiesbaden 1951; spassKiJ, ivan: Mitropolit Petr Mogila [Metropolit Petro Mohyla]. In: Žurnal Moskovskogo Patriarchata 3 (1951) ��–52, � (1951) �0–�9; WenGer, Antoine: La réconciliation des héretiques dans l’Église russe: Le Trebnik de Pierre Mogilà, Métropolite de Kiev. In: Revue des Études Byzantines 11–12 (1953/5�) 1��–175; GrahaM, Hugh f.: Peter Mogila, Metropolitan of Kiev. In: The Russian Review 14 (1955) 345–356; Kartašev, anton v.: Očerki po Istorii Russkoj Cerkvi [Skizzen zur Geschichte der russischen Kirche], Bd. 2. Paris 1959, 281–291; GundLach, Rudolf: Kirche und Sakrament in der Confessio Orthodoxa des Petrus Mogilas. In: Kirche im Osten � (1961) 15–36; peretc, vladimir n.: „Kniga duši, narycaemaja zloto“. Neizdannoe sočinenie mitropolita Petra Mogily [„Buch der Seele, Gold genannt“. Ein unpubliziertes Werk des Metropoliten Petro Mohyla]. In: ders.: Issledovanija i materialy po istorii starinnoj ukrainskoj literatury XVI–XVII vekov. Moskva/Le/LeLeningrad 1962, 117–137; łużny, Ryszard: Pisarze kręgu Akademii Kijowsko-Mohylańskiej a literatura polska. Z dziejów związków kultur polsko-wschodnosłowiańskich w 17.–18. w. [Schriftsteller aus dem Kreis der Kiewer Mohyla-Akademie und die polnische Literatur. Aus der Geschichte der kulturellen polnisch-ostslawischen Beziehungen im 17.–18. Jahrhundert]. Kraków 1966; hauptMann, peter: Die Katechismen der russisch-orthodoxen Kirche. Göttingen 1971; ders.: Petrus Mogilas. In: Klassiker der Theologie, Bd. 1. München 1981, 378–391; ders.: Zur Entwicklung orthodoxer Bekenntnisschriften nach der Gründung des Moskauer Patriarchats. In: batisWeiLer, Martin u. a. (Hg.): Der Ökumenische Patriarch Jeremias II. von Konstantinopel und die Anfänge des Moskauer Patriarchates. Erlangen 1991, 263–273; MedLin, William K./patrineLis, christos G.: Renaissance Influences and Religious Reforms in Russia. Geneva 1971; Jobert, Ambroise: De Luther à Mohila. La Pologne dans la crise de la chrétienté (1517–16�8). Paris 197�; KoWaLsKa, Halina: Mogiła, Piotr. In: Polski Słownik Biograficzny, Bd. 21. Warszawa 1976, 568–572; suttner, Ernst Chr.: Petr Mogilas Eintreten für die Taufe abendländischer Christen. In: feLMy, Karl Christian u. a. (Hg.): Tausend Jahre Christentum in Rußland. Göttingen 1988, 903–914; The Kiev Mohyla Academy. Commemorating the 350th Anniversary of its Founding (1632) [= Harvard Ukrainian Studies 8 (198�)]; Meyendorff, John: The Liturgical Reforms of Peter Mogila. A New Look. In: St. Vladimir’s Theological Quarterly 29 (1985) 101–11�; chyžnJaK, zoja i.: KievoMogiljanskaja Akademija [Die Kiewer Mohyla-Akademie]. Kiev 31988 [11970]; thoMson, francis J.: Peter Mogila’s Ecclesiastical Reforms and the Ukrainian Contribution to Russian Culture: A Critique of Georges Florovsky’s Theory of „the Pseudomorphosis of Orthodoxy“. In: Slavica Gandensia 20 (1993) 67–119; KLyMov, Valerij v. u. a. (Hg.): Fenomen Petra Mohyly. Biohrafija, dijaľnist’, pozycija [Das Phänomen Petro Mohyla. Biographie, Wirken, Position]. Kyjiv 1996; žuKovs’KyJ, Arkadij: Petro Mohyla i pytannja jednosti cerkov [Petro Mohyla und die Frage der Einheit der Kirchen]. Kyjiv 21997 [Paris 11969]; ničyK, valerija M.: Petro Mohyla v duchovnij istoriji Ukrajiny [Petro Mohyla in der spirituellen Geschichte der Ukraine]. Kyjiv 1997; KLodnyJ, Anatolij M.: P. Mohyla: Bohoslov, cerkovnyj i kuľturnyj dijač [Petro Mohyla: Theologe, kirchlicher und kultureller Anreger]. Kyjiv 1997; KočubeJ, Jurij M. u. a. (Hg.): Pierre Mohyla. Actes du Colloque Consacré au �ème Centenaire de sa naissance. Paris 1997; pLoKhy, Serhii: The Cossacks and Religion in Early Modern Ukraine. Oxford/New York

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Alfons Brüning 2001; brüninG, Alfons: „Voevodych zemli moldavskoi“ – Peter Mohyla’s Youth and Political Heritage. In: Socium. Aľmanach sociaľnoji istorii � (2005) 19–25; ders.: Confessio Orthodoxa und europäischer Konfessionalismus – einige Anhaltspunkte zur Verhältnisbestimmung. In: cruMMey, Robert u. a. (Hg.): Russische und ukrainische Geschichte vom 16.–18. Jahrhundert. Wiesbaden 2001, 207–222; charipova, liudmila V.: Peter Mohyla’s Translation of „The Imitation of Christ“. In: The Historical Journal �6 (2003) 237–261; Mirşanu, dragos: Old News Concerning Peter Mogila’s Confession: The First Edition Revisited. In: Archaeus 10 (2006) 273–286; charipova, Liudmila v.: Latin Books and the Eastern Orthodox Clerical Elite in Kiev, 1632–1780. Manchester 2006.

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Israel Friedman (Israel der Ružyner) I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Religiöse Memoria bis zum Ersten Weltkrieg. – b) Der Gartenberger Chassidismus seit 1918. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Im Kontext der radikalen Erneuerung des religiösen Judentums Ostmittel- und Osteuropas durch die von Rabbi Israel ben Elieser, bekannt als Baal Schem Tow, initiierte mystische Bewegung des Chassidismus im 18. Jahrhundert gelang es dem Rabbiner und Zaddik Israel Friedman aus Ružyn in der Ukraine, eine eigenständige Lehre zu entwikkeln. Dies verdankte sich nicht nur seiner persönlichen Ausstrahlung, sondern auch und vor allem seinem Verhältnis zu den sozialen und politischen Bestrebungen der jüdischen Bevölkerungsgruppe im wirtschaftlichen Umfeld der osteuropäischen stetl. Die Lehre des Israel Friedman erreichte mittels ihrer spezifischen Botschaft und ihrer Glaubenspraxis eine gewaltige Verbreitung – besonders nach der erzwungenen Übersiedlung Friedmans nach Gartenberg in der österreichischen Bukowina. Indem sie den Kultus des verstorbenen Zaddiks pflegten, versuchten seine Nachfolger, ihre dynastische Legitimität als „Wunderrabbis“ durchzusetzen und zu stärken. Die zunehmende Säkularisierung und die veränderte Beziehung des Individuums zur Religion als Folge der allmählichen Öffnung der osteuropäischen jüdischen Gemeinden zur modernen Welt schränkten den Einfluß des Chassidismus, einschließlich seiner Variante von Gartenberg, zugunsten weltlicher kollektiver Identifikationsangebote erheblich ein. Die von der Erinnerung an den Ružyner Zaddik inspirierten chassidischen Gemeinden, die von den Katastrophen zweier Weltkriege und von der Schoah unmittelbar betroffen waren, haben sich nur noch als kleine Gruppen in Israel, Amerika und Westeuropa erhalten können. II. Leben Israel Friedman (1796–1850) wurde als zweiter Sohn des Rabbiners Schalom Schachna von Pohrebyšče, einem Schtetl im Kiewer Distrikt, geboren. Die Familie hatte illustre Vorfahren. Sie stammte einerseits direkt von dem Maggid Dow Beer von Mežyrič ab, dem berühmten Jünger des Begründers des Chassidismus, Baal Schem Tow. Dow Beer war selbst ein begnadeter Prediger, Kabbalist sowie Lehrer und darum ein von den chassidischen Massen Osteuropas höchst respektierter Weiser und Führer der Bewegung. Andererseits leitete man sich von dessen Sohn Abraham Malach (dem Engel) ab, der wegen seines asketischen Lebensstils in demselben Milieu als eine Art jüdischer Heiliger betrachtet und verehrt wurde. Sein einziger Nachkomme, Schalom Schachna Friedman, gründete um 1790 in Pohrebyšče eine kleine chassidische Gemeinde. Hier begann 7�9

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er – anscheinend im Einklang mit einer bei den jüngeren chassidischen Führern sich allmählich durchsetzenden Tendenz – ein öffentliches Verhalten zu pflegen, das sich durch seine Üppigkeit von der schlichten Bescheidenheit der älteren Generation von Zaddikim, die eine ideale, vor allem von Demut verkörperte Frömmigkeit darzustellen versuchten, sichtlich unterschied. Selbst die dynastische Abfolge, die durch diesen Zweig der Abkömmlinge des Maggids von Mežyrič zum üblichen Muster wurde, gehörte zu derselben Kehrtwende in dem Selbstverständnis der chassidischen Meister. Nach dem Tod des Vaters 1802 sollte der erst 15 Jahre alte Abraham, der Erstgeborene des Schalom Schachna, als Zaddik in Pohrebyšče wirken; elf Jahre später, als jener starb, rückte sein Bruder Israel im Alter von nur 16 Jahren nach. Im Jahr 1815 wählte sich Israel Friedman das benachbarte stetl von Ružyn zum neuen Sitz aus, von dem er seinen Einfluß in der chassidischen Welt Ostpolens und der Ukraine allmählich auszubauen begann. Der junge Zaddik wirkte äußerst charismatisch und glänzte nicht nur durch seine Gelehrsamkeit und seinen Gottesglauben, sondern auch durch seine organisatorische und wirtschaftliche Geschicklichkeit. Israels Popularität unter den Chassidim hing nicht zuletzt mit der besonderen Bedeutung zusammen, die er der äußerlichen Erscheinung des Zaddiks als eines Vermittlers zwischen Gott und der jüdischen Masse, in dieser Eigenschaft auch als ihr weltlicher Lenker, verlieh. Nicht zufällig wußte er sich das Gerücht einer vagen Herkunft aus dem Stamm des biblischen Königs David zunutze zu machen. Er ließ sich in Ružyn einen prunkvollen Hof errichten und pflegte eine höchst elegante Lebensart, die auch die Unterhaltung einer Musikkapelle oder Fahrten in prächtigen Equipagen einschloß, was letztlich ein „adeliges“ Wesen der von ihm verkörperten religiösen Würde suggerieren sollte. Dieses prahlende Auftreten und die steigende Beliebtheit des Ružyner Zaddiks forderten die orthodoxen Rabbiner, aber auch die russischen Behörden heraus. Nach dem Mord an zwei jüdischen Spitzeln in Podolien, die die Umgebung des Rabbinerhofs aushorchen sollten, wurde Israel Friedman 1838 zusammen mit einer ganzen Schar von vermeintlichen Schuldigen als Anstifter zu dieser Bluttat verhaftet; in der Folge mußte er 22 Monate in einem Kiewer Gefängnis verbringen. 18�0 wurde er aus der Haft entlassen, aber man verbot ihm gerade wegen des neu erworbenen Ansehens eines Märtyrers, sich weiter als Zaddik zu betätigen. Als er die Nachricht einer bevorstehenden Deportation bekam, flüchtete er 18�1 über Chişinău mit einem gefälschten Paß in das Fürstentum Moldau, nach Jassy, und von dort weiter in die österreichische Bukowina, mit dem Ziel, sich in Galizien niederzulassen. Während ihn in der Bezirkshauptstadt Czernowitz die „aufgeklärten“ jüdischen Bürger unfreundlich empfingen, was zu Zusammenstößen zwischen diesen und den lokalen Chassiden führte, erlangte Israel Friedman die Gunst des rumänischen Freiherrn Nikolaus von Mustatza, des Gutsbesitzers in Gartenberg, einem kleinen Ort nördlich von Czernowitz. In diesem Ort, der sich in der Habsburgermonarchie einen Namen durch seinen ansehnlichen Viehmarkt machte, lebten zu Beginn der österreichischen Herrschaft (177�) �5 jüdische Familien. Hier durfte er sich zunächst aufhalten und versuchen, einen neuen rabbinischen Sitz aufzubauen. 750

Israel Friedman (Israel der Ružyner)

Die russische Polizei, die schon einen Auslieferungsantrag bei der moldauischen Regierung gestellt hatte, verlangte von dem galizischen Gubernialpräsidium die Übergabe des Flüchtlings. Um dieser Gefahr zu entgehen, erklärte Israel Friedman, daß er eigentlich identisch sei mit einem längst verschollenen österreichischen Untertanen namens Israel Sonnenfeld und von dem Rabbiner Schalom Friedman in Pohrebyšče adoptiert wurde – eine Behauptung, die mehrere Juden am Ort bereit waren, zu bestätigen. Gegen den Widerstand liberaler Juden, hauptsächlich aus Czernowitz, plädierten inzwischen für die Aufnahme des Zaddiks bei den österreichischen Behörden nicht nur mehrere galizische Rabbiner, wie Dow Ber Meisels aus Krakau, oder der Wiener Prediger Isaak Noach Mannheimer, auch der rumänische Kreishauptmann der Bukowina, Georg Isecescul, meinte in einem Bericht nach Lemberg, daß „dieser fromme Rabbi mit seinen schönen Manieren, seiner zivilisierten Haltung, seinem taktvollen Benehmen und der starken Zauberkraft auf seine Gläubigen und Verehrer [...] einen großen und starken Einfluß auf die Juden ausüben“ werde. Erst nach vier Jahren entschied Kanzler Metternich trotz der aus Rußland herangetragenen Beweise, daß Israel Friedman doch der leibliche Sohn des ehemaligen Zaddik Schalom Schachna von Pohrebyšče war, ihn „gleich anderen Fremden“ zu dulden und ihm den definitiven Aufenthalt in Gartenberg zu erlauben. Auch wenn anfangs seine aufwendige Lebensweise die lokalen Chassiden zu stören schien, gewann Israel rasch ihr Vertrauen. Er durfte in Gartenberg ein stattliches Haus für sich und seine Söhne und Töchter bauen lassen, und gleichzeitig wurde ihm von reichen Gefolgsleuten das Gut „Potok Złoty“ geschenkt. 18�7 heiratete er nach dem Tod seiner ersten Frau Sara die Witwe des Rabbiners Hersch von Rymanów, Malka. Der protzende Luxus des Hofes, der auch äußerlich die Überzeugung zu illustrieren hatte, daß man am Leben Genuß und Freude haben soll, konnte ohne weiteres durch die immer steigenden Einnahmen von den zahlreichen Pilgern, die nach Gartenberg kamen, um den Rat des Zaddiks in den verschiedensten Angelegenheiten zu holen, bestritten werden. Israel Friedman verstand es gerade in seinen Gartenberger Jahren, den Glauben der jüdischen Massen in die Kraft des Zaddiks, „Wunder“ zu vollbringen, zu fördern. Dazu hob er die mystische Vorstellung des hilfsbereiten Frommen als „Leuchte der Welt“ hervor, der damit als privilegierter Fürbitter im Namen der einfachen Menschen in die Rolle eines Bindeglieds zwischen Volk und Gott aufstieg. Es gelang ihm durch seine vornehme und zugleich Hoffnung erweckende Art zu beten sowie auch durch seine scharfsinnige Begabung, die Heilige Schrift zu interpretieren, die Gläubigen tief zu beeindrucken, wenn nicht gar zu faszinieren, und somit für sich einzunehmen – was ihn andererseits den Vorwürfen des Betrugs und des Schwindels seitens der konservativen wie der reformierten und freisinnigen Juden aussetzte. Die erzieherische Wirkung seiner Lehren fruchtete nicht nur bei den einfachen chassidischen Anhängern, sondern kam auch bei den wichtigsten zeitgenössischen Vertretern des religiösen Judaismus an; nach Gartenberg pilgerten zahlreiche Zaddikim und Gelehrte, um Israel Friedman kennenzulernen und mit ihm zu debattieren. Die wichtigste Figur unter den konservativen Rabbinern Deutschlands, Raphael Samson Hirsch, pries Israels Persönlichkeit in einer in Bezug auf die doktrinären Differenzen 751

Andrei Corbea-Hoisie

zum Gartenberger Chassidismus ungewöhnlichen Diktion: „Es ist menschlich fast unbegreiflich, die Geistesgröße dieses Riesen zu erfassen und zu verstehen. Allseits wird der Ružyner mit Gold und Silber beschenkt und mit Ehren überhäuft. Er aber hat nur eines im Sinne, und dieses Eine betrachtet er als sein Hauptwerk und Ziel, nämlich die Ehre Gottes und seines Volkes Israel zu propagieren, zu heben und wieder zu altem Glanz zu bringen.“ Hirsch spielt hier offensichtlich auch auf jene „weltliche“ Aufgabe an, die Israel Friedman zu übernehmen neigte: einerseits die im Osten entstandene chassidische Lehre „nach Westen zu verpflanzen“, andererseits als derjenige, in dem eine breite jüdische Masse den unmittelbaren Nachfolger Baal Schem Tows zu sehen pflegte, der selbst die eigene Abstammung von König David unterstrich und der ein Exilarchat, also eine vereinigende Autorität des jüdischen Galuths in Osteuropa, gründen sollte. Dessen Aufgabe war es, durch die Unterstützung der Palästina-Aktivität des Volhynia-Kolel, eines in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts geschaffenen und dafür bestimmten jüdischen Wohlfahrtsfonds, das Projekt einer allmählichen jüdischen Einwanderung ins Heilige Land zu verfolgen. Der Zaddik soll öfters öffentlich bedauert haben, wegen seiner Gemeinde, der er sich sowohl im Sinn kultureller Fürsorge (einschließlich der Zuschüsse für weltliche Publikationen) als auch hinsichtlich der politischen Intervention zugunsten der jüdischen Untertanen in Rußland verpflichtet fühlte und die er nicht verlassen wollte, nicht dorthin übersiedeln zu können. In Jerusalem finanzierte er jedoch die Errichtung der Synagoge „Tiphereth Israel“ in der Nähe der Klagemauer. Im Alter von 54 Jahren starb Israel Friedman 1850 in Gartenberg. III. Verehrung a) Religiöse Memoria bis zum Ersten Weltkrieg Das imposante Grabmonument des „Ružyners“ inmitten des 250 Jahre alten jüdischen Friedhofs in Gartenberg wurde bald zur Wallfahrtsstätte chassidischer Anhänger aus ganz Europa. Es wurde als ein Ohel aufgebaut, also als eine Hütte, die in der alttestamentarischen Tradition einst von Moses gestiftet wurde und bis zur Errichtung des salomonischen Tempels in Jerusalem als wanderndes Sanktuar diente, wo Gott seine Präsenz zu zeigen pflegte; in der Diaspora hielt man dieses heilige Zelt für eine Projektion des zerstörten Tempels. Nicht zufällig wurde dieses Gebilde auf dem Gartenberger Friedhof mit dem von Rabbi Nachman ben Simcha von Braclav, dem Urenkel von Baal Schem Tow, aufgebrachten Glauben verbunden, daß der gestorbene Zaddik seine Chassiden weiter betreut, indem er ihre Wünsche zu Gott überträgt. Die Nachfolger des Israel Friedman haben bewußt die jährlich-rituelle Erinnerung an seine Persönlichkeit und an seine Vorfahren (hebräisch Hillula, jiddisch Jahrzeit) zusammen mit der legendären Vorstellung von dessen Nähe zu Gott als eine kultische Verehrung des Grabmals etablieren lassen; dies im Dienst der Kohäsion der eigenen chassidischen Gemeinde und nicht zuletzt auch 752

Israel Friedman (Israel der Ružyner)

Die Ansichtskarte aus Gartenberg (Sadagora) zeigt das „Palais“ und das Bethaus des „Wunderrabbis“. Sie wurde vermutlich von einem pilgernden jüdischen Besucher aus Rumänien geschickt, der mit seiner Familie auf Rumänisch verkehrte. In halbwegs korrekter rumänischer Sprache wendet er sich an seine Gattin: „Meine teuere Frau, von hier aus küsse ich dich und die Kinder. Czern[owitz] am 7./20. Jänner 901 [...].“ Bildnachweis: Privatarchiv Andrei Corbea-Hoisie.

zugunsten ihrer eigenen Legitimität als „Wunderrabbis“. Diese feierlichen Treffen, bei denen das ekstatische Beten durch die wiederholte, fröhliche Evozierung der frommen und weisen Sprüche des Zaddiks begleitet wurde, stifteten eine eigene mündliche Kultur des Gedächtnisses. Sie spielte in der chassidischen Tradition eine mit der späteren Veröffentlichung der angeblich von Israel Friedman stammenden Sentenzen, Predigten und Kommentare vergleichbare Rolle: Sefer irin kaddischin (Heilige Engel, 1885), Kenesset Israel (Die Gemeinde Israels, 1906), Sefer menora hatechora (Reiner Leuchter, 1911), Sefer Israel wikidduschato (Israel und seine Heiligkeit, 1925). Nicht minder trug die dynastische Kontinuität am Rabbinerhof zu Gartenberg zu der Fortsetzung der von Israel Friedman vertretenen Glaubenspraxis bei. Da der älteste Sohn des „Ružyners“, Schalom Josef, ein Jahr nach dem Tod des Vaters in Leipzig starb, wurde der nächste Sohn Abraham Jakob als Haupt der Familie und gleichzeitig als Gartenberger Zaddik anerkannt. Dieser führte seine Gemeinde bis 1883 und war eigentlich derjenige, der auf der weltanschaulichen Grundlage der Lehren von Israel Friedman dessen Ruhm förderte und damit den Einfluß des Gartenberger Chassidismus in der aschkenasischen Welt stärkte. Ein entsprechender Nachhall findet sich in der zeitgenössischen Literatur, 753

Andrei Corbea-Hoisie

beispielsweise in der bekannten Novelle Hasara Raba von Leopold von Sacher-Masoch. Während er trotz seiner Zurückhaltung das Amt eines „Wunderrabbis“ mit Anstand bekleidete, sorgte Abraham Jakob auch für den opulenten Wohlstand der Familie, unter anderem für den Aufbau eines neuen, im maurischen Stil konzipierten „Palais“ inmitten des stetls in den 1850er Jahren. Im Jahr 1856 wurde er wegen Fälschung russischer Staatspapiere zusammen mit anderen Verdächtigen verhaftet, wobei man im Keller seiner Residenz eine dafür bestimmte Druckerpresse entdeckte. Die Folge war, daß die österreichischen Behörden das Gut in Galizien zusammen mit 5.000 in bar aufgefundenen Gulden konfiszierten. Nachdem die Brüder des Zaddiks nacheinander den Hof verlassen und ihren Wohnsitz in kleineren chassidischen Gemeinden (in Leova und Ştefăneşti in Rumänien, in Czortków und Husjatyn in Galizien) genommen hatten, galt Gartenberg als Kern einer durch das Andenken an die Identifikationsfigur Israel Friedmans quasi-einheitlichen und doktrinär originellen Richtung des Chassidismus. Es wurde einerseits von den „modernen“ Juden als eine ständige „obskurantistische“ Herausforderung betrachtet (wie in dem Roman „Der Pojaz“ von Karl Emil Franzos herauszulesen) und andererseits von anderen chassidischen Strömungen wegen des allzu profanen Betragens der Zaddikim bekämpft. Einen Höhepunkt der Auseinandersetzungen um die von den Gartenberger Nachfolgern Israel Friedmans vertretene religiöse Praxis stellte um 1870 die Episode der Flucht des Zaddiks Dow Beer von Leova, des Bruders von Abraham Jakob, zu den „aufgeklärten“ Juden in Czernowitz dar. Die strenggläubigen chassidischen Rabbiner, von denen Chaim Halberstamm aus Nowy Sącz sogar einen Bann gegen die Anhänger der Friedmans verhängte, interpretierten dies als Zeichen des sittlich-religiösen Verfalls ihrer Gartenberger Widersacher. Von der anhaltenden Anziehungskraft des Hofes in Gartenberg für die zahlreichen Pilger profitierte jedoch der Ort, in dem in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts 80 Prozent der ungefähr 5.000 Einwohner Juden waren; dasselbe Verhältnis wurde auch vor dem Ersten Weltkrieg bei einer fast verdoppelten Einwohnerzahl verzeichnet. In dieser Zeitspanne entwickelte sich Gartenberg zu einer politischen Hochburg der jüdisch-nationalen Bewegung in der Bukowina und später auch zu einem wichtigen Stützpunkt des lokalen Zionismus. Die Vorrangstellung des Gartenberger Zentrums wurde jedoch ernsthaft nach dem Ableben des Zaddiks Abraham Jakob Friedman gefährdet, als seine Söhne Jitzhak und Israel, die sich zunächst die Autorität über ihre Gefolgschaft teilen sollten, 1886 auseinandergingen; Jitzhak ließ sich in dem Ort Bojan, an der Grenze der Bukowina zu Rußland, nieder und begann dort einen eigenen, ebenso prachtvollen chassidischen Hof zu führen. Der wachsenden Konkurrenz zwischen Gartenberg und Bojan um die Nachfolge des „Ružyners“ machte der Erste Weltkrieg ein jähes Ende: Im Laufe der russischen Invasion in die Bukowina wurden beide Orte und besonders ihre jüdischen Viertel mit den rabbinischen Heiligtümern und den Synagogen von Kosakeneinheiten niedergebrannt und verwüstet. Die beiden Zaddikim mußten ins Exil nach Wien fliehen. 75�

Israel Friedman (Israel der Ružyner)

b) Der Gartenberger Chassidismus seit 1918 Nachdem die Bukowina 1918 zu einem Teil Rumäniens geworden war, schien der Wiederaufbau der Rabbinerhöfe in Gartenberg und Bojan schwer vorstellbar. Einerseits erlaubten die neuen Grenzen in Ostmittel- und Osteuropa den freien Zugang der Gläubigen zu den alten chassidischen Zentren kaum; der Bürgerkrieg in Rußland und der sowjetisch-polnische Krieg mit ihren verheerenden Folgen für die von verschiedenen nationalistischen Militärverbänden gehetzten jüdischen Gemeinden sowie die Isolierung der neuen sowjetischen Macht seitens der Nachbarstaaten reduzierten die traditionelle chassidische Gefolgschaft der Bukowiner Zaddikim zahlenmäßig dramatisch. Andererseits führten der zunehmende, schon Ende des 19. Jahrhunderts in dieser Dimension wahrnehmbare Säkularisierungsprozeß und die veränderte Beziehung des Individuums zur Religion als Folge der allmählichen Öffnung der osteuropäischen jüdischen Gemeinden zur modernen Welt zu einer erheblichen Einflußminderung des Chassidismus, einschließlich seiner Gartenberger Variante; die Gewinner waren weltliche kollektive Identifikationsangebote wie Ideologien oder politische Parteien. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde diese von dem „aufgeklärten“ jüdischen Bürgertum schon längst vertretene Tendenz durch den säkularen Zionismus, den prinzipiellen Anti-Klerikalismus der Sozialdemokraten und das bolschewistische Bekenntnis zum Atheismus – auch in der Bukowina – intensiviert. Auch wenn die Grabstätte des „Ružyners“ auf dem jüdischen Friedhof in Gartenberg noch kleine Scharen von Wallfahrern anlockte, zogen es die Nachfolger des 1907 verstorbenen Zaddiks Israel Friedman von Gartenberg, Abraham Jakob als Familienoberhaupt und sein Bruder Schlomo Chaim, vor, von Wien nach Palästina auszuwandern und dort die chassidische Lehre des Dynastie-Gründers einzuführen. Der älteste Sohn des Bojaner Zaddiks Itzhak Friedman, Menachem Nachum, wählte sich die Stadt Czernowitz zum Sitz, während sein Bruder Mordechai Schlomo, der noch bis 1926 in Wien weilte, Europa verließ und eine neue Bojaner Nachfolge-Gemeinde in New York gründete. Am 14. Oktober 1941, als die Deportierung der Czernowitzer Juden nach Transnistrien von den rumänischen Behörden angeordnet wurde, stiegen die beiden Söhne des Menachem Nachum und letzten Bojaner Rabbiners in der Bukowina, Ahron und Mordechai Schraga, angetan mit ihren Festgewändern, an der Spitze ihrer Anhänger in die Viehwagen ein, die sie bis zum Dnjestr fuhren. Beide starben in dem von der rumänischen Verwaltung Transnistriens eingerichteten Ghetto von Obodivka. Ihr Onkel, der Großrabbiner Abraham Jakob von Lemberg, und ihr Schwager Mosche, der Bojaner Rabbiner von Krakau, wurden samt ihren Familien von den Nationalsozialisten umgebracht. In Israel bildeten die Nachfolger der Friedman-Dynastie neue chassidische Gemeinden in Bnej Brak und in Jerusalem, wo sie die traditionellen Titel eines „Gartenberger“ beziehungsweise eines „Bojaner“ Rabbiners führen; kleinere Gruppen ihrer Gläubigen leben auch in New York, London, Manchester und Antwerpen, wo sie eigene Synagogen besitzen. In der laizistischen Gesellschaft Israels wie auch in der heutigen Konstellation des religiösen Judentums nehmen sie aber eher einen marginalen Platz ein. 755

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Unter dem sowjetischen Regime fiel die Grabstätte des Zaddiks Israel Friedman auf dem während des Krieges geschändeten Friedhof in Gartenberg, dessen jüdische Einwohner 1941 ausnahmslos nach Transnistrien verschleppt wurden und von denen nur fünf Familien zurückkehrten, in völlige Vergessenheit. In dem alten Haus der RabbinerFamilie wurde eine landwirtschaftliche Werkstatt eingerichtet, die es in eine Ruine verwandelte. Weder die heutigen ukrainischen Behörden noch die chassidischen Gemeinden in Israel oder in Amerika, deren Mitglieder wieder zum Grabmal des „Ružyners“ pilgern dürfen, fanden bisher eine Lösung für die Restaurierung des Gebäudes. IV. Auswahlbibliographie poLeK, Johann: Statistik des Judenthums in der Bukowina. In: Statistische Monatsschrift 15 (188�) 2�9–27�; sacher-Masoch, Leopold von: Die jüdischen Sekten in Galizien. In: Deutsche Revue über das gesamte nationale Leben der Gegenwart 1�/3 (1889) �0–53; dan, Demeter: Die Juden in der Bukowina. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 7 (1901) 69–78, 117–125, 169–179; franzos, Karl Emil: Der Pojaz. Stuttgart 1905; horodezKy, Samuel Abba: Religiöse Strömungen im Judentum. Leipzig 1920; buber, Martin: Die Erzählungen der Chassidim. Zürich 1949; Der jüdische Vatikan in Sadagora: 1850 –1950. „Lose Blätter“ aus dem Tagebuche von Ben-Saar, Bd. 1–2. Tel Aviv 195�–1958; GoLd, Hugo (Hg.): Geschichte der Juden in der Bukowina, Bd. 1–2. Tel Aviv 1958–1962; Wunder, Meir: Meorey Galitziyah. Ensiqlopediyah leChakmey Galitziyah [Lexikon der galizischen Rabbiner und Gelehrten], Bd. 1–6. Jerusalem 1975–2005; aLfassy, Itzchak: HaChasiduth meDor leDor [Der Chassidismus. Eine Generation nach der anderen], Bd. 1–2. Jerusalem 1995–1998; corbea-hoisie, Andrei (Hg.): Czernowitz. Jüdisches Städtebild. Frankfurt/Main 1998; herscovici, Lucian-Zeev: Qawym leTholdoth haChasiduth beRomanyah [Ein Abriß der Geschichte des Chassidismus in Rumänien]. In: rotMan, Liviu/iancu, Carol (Hg.): Tholdoth haYehudym beRomanyah, Bd. 2. Tel Aviv 2000, 185–203; assaf, David: The Regal Way: The Life and Times of Rabbi Israel of Ruzhin. Stanford 2002; brayer, Menachem Mendel: The House of Rizhin. New York 2003.

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Bischof Josip Juraj Strossmayer I. Zusammenfassung. – II. Leben. – III. Verehrung. – a) Parteipolitischer Streit um das Vermächtnis Strossmayers in Kroatien bis 1918. – b) Gründervater Jugoslawiens? – Erinnerungskonflikte um Strossmayer im ersten Jugoslawien. – c) Strossmayer als Symbolgestalt für „bratstvo i jedinstvo“ im zweiten, sozialistischen Jugoslawien. – d) Nach dem Staatszerfall 1991: Strossmayer jenseits von „jugoslovenstvo“. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Bischof Strossmayer wurde noch zu Lebzeiten als „Vater des kroatischen Volkes“ verehrt, allerdings waren seine Person und sein Wirken niemals unumstritten. Im Mittelpunkt des kontroversen Gedenkens an Bischof Strossmayer stand vor allem seine Jugoslawismus-Konzeption. Während sich die beiden jugoslawischen Staaten vor und nach dem Zweiten Weltkrieg auf Strossmayer als ihren geistigen Gründungsvater beriefen, betonten national orientierte Kreise und die katholische Kirche in Kroatien vor allem seine Rolle als Förderer der kroatischen Kultur. II. Leben Josip Juraj Strossmayer (1815–1905) wurde nach seinem Philosophie- und Theologiestudium in Đakovo, Pest und Wien 1838 zum Priester geweiht und am 18. November 18�9 zum Bischof von Đakovo ernannt. Er wurde 18�7 Kaplan der Hofburgkapelle in Wien und einer der Rektoren des dortigen Augustineums. In den 1860er Jahren engagierte sich Strossmayer in der Nationalpartei, zu deren Gründern und Führungspersönlichkeiten der Bischof zählte. Strossmayer verfolgte eine südslawische Orientierung (jugoslavenstvo). Unter der Zugrundelegung der Idee der Sprachnation betonte er die Verbindungen und gemeinsamen Interessen der südslawischen Einzelnationen und setzte sich für eine kulturelle Zusammenarbeit ein, die Kroaten, Serben und letztlich alle Südslawen vereinen sollte. Diesem Ziel dienten auch die Gründungen der „Südslawischen Akademie der Wissenschaften und Künste“ 1866 und der modernen Universität Zagreb 187�, die sich der Initiative und dem Mäzenatentum Strossmayers verdankten. Bei der Realisierung seiner Idee von der Vereinigung aller Südslawen verfolgte Strossmayer je nach politischer Situation wechselnde Optionen: Er unterbreitete sowohl Vorschläge zu einer Föderalisierung der Habsburgermonarchie als auch radikale Lösungsansätze der südslawischen Frage außerhalb der Donaumonarchie. 1873, nach der Annahme des revidierten ungarisch-kroatischen Ausgleichs durch eine Mehrheit der kroatischen Vertreter, zog sich Strossmayer aus der aktiven Politik zurück. Seinem politischen Engagement entsprach sein kirchlicher Einsatz für eine Wiederannäherung von Katholiken und Orthodoxen. Als Vertreter der „kyrillomethodianischen Idee“ sah Strossmayer besonders 757

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die katholischen und orthodoxen Slawen durch die gemeinsame Verbindung der beiden Slawenapostel Kyrill und Method berufen, an der kirchlichen Wiedervereinigung von westlicher und östlicher Kirche zu arbeiten. Auf dem Ersten Vatikanischen Konzil (1869–1870) gehörte Strossmayer zur Minderheitenfraktion, die sich gegen die Erklärung der päpstlichen Unfehlbarkeit aussprach. III. Verehrung a) Parteipolitischer Streit um das Vermächtnis Strossmayers in Kroatien bis 1918 Bereits zu Lebzeiten Strossmayers stießen seine Person und sein vielfältiges Wirken sowohl auf begeisterte Zustimmung als auch auf heftige Ablehnung. Ante Starčević, der Gründer der „Stranka prava“ (Rechtspartei) und bedeutendster politischer Gegenspieler Strossmayers, kritisierte vor allem dessen südslawische Orientierung und bezeichnete ihn „Rhetoriker nur für die Slavoserben“. Bei seinen serbischen Zeitgenossen stieß dagegen besonders die kyrillomethodianische Idee auf Ablehnung: Strossmayer wurde als „österreichischer Agent“ und „listiger Jesuit“ angesehen, der mit neuen Mitteln zum alten Ziel, einer Union zwischen Katholiken und Orthodoxen, kommen wolle. Demgegenüber betonten die Anhänger und Verehrer Strossmayers seine Verdienste um die Entwicklung der kroatischen Nation und ihrer Kultur. Um die Jahrhundertwende, während der letzten Lebensjahre von Strossmayer und kurz nach seinem Tod, erschienen in kurzer Folge mehrere, zum Teil voluminöse Gedenkschriften, die sich neben der Veröffentlichung von ausgewählten Reden und Sendschreiben des Bischofs vor allem durch ihren hagiographischen Charakter auszeichneten. Der Priester Ivan Šarić, enger Mitarbeiter von Erzbischof Josip Stadler von Sarajevo und später dessen Nachfolger, feierte Strossmayer gar als „Vater des kroatischen Volkes, als Apostel wie Kyrill und Method“; durch sein Wirken habe der Bischof „Kroatien aus der ägyptischen Dunkelheit seines Schicksals herausgeführt wie einst Moses sein Volk Israel“. In den parteipolitischen Auseinandersetzungen in Kroatien bis zum Ausbruch des Ersten Weltkriegs spielte die Berufung auf das politische Vermächtnis Strossmayers oder dessen Ablehnung eine wichtige Rolle: So kritisierte Stjepan Radić, der Anführer der Bauernpartei, die Kreise um Erzbischof Stadler als Vertreter eines politischen Katholizismus, die Strossmayer zum eigenen parteipolitischen Vorteil zu vereinnahmen suchten. Radić portraitierte Strossmayer demgegenüber als fortschrittlichen Katholiken, der sich immer einem „Jesuitentum“ à la Stadler widersetzt habe. Dagegen betonte Mile Starčević, ein Neffe von Ante Starčević, – in Reaktion auf das Zusammengehen eines Teils der Anhänger der Rechtspartei mit der „Unabhängigen Nationalpartei“ von Strossmayer seit 1903 – vor allem die fundamentalen Unterschiede zwischen den politischen Konzeptionen seines Onkels und Strossmayers, der den kroatischen Interessen mit seinen jugoslawischen Ideen nur geschadet habe. Wenn nicht ganz so kategorisch in seiner Ablehnung, aber doch ähnlich negativ wie Mile Starčević bewertete der kroatische Hi758

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storiker Ivo Pilar in seinem 1918 erstmals erschienenen Buch „Die südslawische Frage und der Weltkrieg“ Strossmayers Bemühungen um eine Annäherung von Kroaten und Serben. Pilar zeigte zwar durchaus Verständnis für die Kulturbestrebungen des „hochherzigen Bischofs“ und seine kirchliche Unionsidee, doch warf er ihm im Gegensatz zu Ante Starčević Naivität vor: Die Politik des Bischofs habe „vollständigen Schiffbruch“ erleiden müssen, da Serben und Kroaten zwei unterschiedliche Nationen seien, die sich nicht im Rahmen eines politischen Südslawentums vereinen ließen. b) Gründervater Jugoslawiens? – Erinnerungskonflikte um Strossmayer im ersten Jugoslawien Die Auseinandersetzungen um Strossmayers Jugoslawismus-Konzeption dauerten auch im nach dem Ersten Weltkrieg neu gegründeten „Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen“ (ab 1929 Jugoslawien) an – zumal sich führende Politiker und Intellektuelle auf Strossmayer als historische Legitimationsfigur des neuen Staates beriefen. So schrieb der Journalist Niko Bartulović bereits im Dezember 1918 in der Zeitschrift „Književni jug“, daß die kulturelle Einheit unter den Südslawen, für die sich u. a. auch Strossmayer eingesetzt habe, als Grundlage und Vorbild für die politische Einheit dienen müsse. Auch ein Großteil der Historikerzunft sah Strossmayer als eine Gründergestalt Jugoslawiens an. Der kroatische Historiker Ferdo Šišić, der sich vor allem um die Herausgabe von Strossmayers Schriften und seiner Korrespondenz mit seinem engen Mitarbeiter Franjo Rački verdient gemacht hat, erblickte in dem Bischof einen „jugoslawischen Reformator“, der Zeit seines Lebens für die Freiheit und Einheit des Volkes der Serben, Kroaten und Slowenen gekämpft habe – eine Sichtweise, die Viktor Novak, ein Schüler von Šišić, übernahm und sogar noch zuspitzte: Strossmayer galt Novak als „Apostel der jugoslawischen Idee“, der sich immer für eine Zusammenarbeit mit Serbien und daher für eine Lösung der südslawischen Frage außerhalb der Habsburgermonarchie eingesetzt habe. Novak thematisierte daher vor allem Strossmayers Kontakte zum serbischen Fürstenhof und zur Regierung, um zu zeigen, daß Strossmayer kein Austroslawist gewesen sei. Zu einem etwas differenzierteren, aber letztlich ähnlichen Urteil gelangte auch der serbische Historiker Vladimir Ćorović in seiner „Geschichte Jugoslawiens“: Ćorović unterschied zwischen einer „politischen praktischen Konzeption“ und einer „idealistischen Konzeption“ Strossmayers. Mit ersterer habe der Bischof das Nahziel eines unabhängigen Kroatien innerhalb einer föderalisierten Habsburgermonarchie verfolgt, während sein eigentliches Wunschziel immer die politische Vereinigung aller Südslawen gewesen sei. Ćorović nahm Strossmayer auch vor der Kritik von serbisch-orthodoxer Seite in Schutz, die dem Bischof aufgrund seiner kyrillomethodianischen Idee „Proselytenmacherei“ vorwarf. Die Deutung von Strossmayer als geistiger Gründungsvater Jugoslawiens stieß bei der katholischen Kirche und vielen kroatischen Intellektuellen mit zunehmender Ernüchterung und Enttäuschung über die zentralistische Politik Belgrads im ersten Jugoslawien 759

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auf immer größeren Widerspruch. Die kyrillomethodianische Idee Strossmayers besaß zwar zu Beginn der 1920er Jahre bei führenden Gestalten der katholischen Kirche einigen Rückhalt, doch mit der Zuspitzung der innenpolitischen Konflikte distanzierte sich die Kirchenführung mehr und mehr vom jugoslawischen Staatsprojekt. In seinen zahlreichen Texten zu Strossmayer war der katholische Priester Andrija Spiletak deshalb vor allem darum bemüht, Strossmayer als romtreuen Katholiken darzustellen – im Gegensatz zu denjenigen, die in dem Bischof einen liberalen Katholiken und Vorkämpfer der jugoslawischen Einheit sehen wollten. Spiletak sprach der 1919 gegründeten Kroatischen Altkatholischen Kirche, die von Seiten der Belgrader Regierung einige Unterstützung erfuhr, das Recht ab, sich auf das Erbe Strossmayers zu berufen; auch hob Spiletak die Konflikte Strossmayers mit der orthodoxen Kirche prominent hervor. Julije Makanec, später von 1943 bis 1945 Unterrichtsminister im sogenannten Unabhängigen Staat Kroatien, versuchte das Bild von Strossmayer als Gründervater Jugoslawiens ebenfalls zu delegitimieren, indem er darauf verwies, daß Strossmayer bei seinem politischen Handeln wie sein Antipode Starčević immer von der Prämisse eines eigenständigen kroatischen Staatsrechts ausgegangen sei: „Starčević und Strossmayer sind zwei Gipfelpunkte seines [d. h. des kroatischen Volkes] politischen und geistlichen Lebens. Der erste repräsentiert den unerbittlichen Willen und die Entschlossenheit, im Kampf bis zum letzten Herzschlag durchzuhalten, der zweite allseitige Aufgeschlossenheit und kulturelle Sensibilität.“ Mit seinem Versuch einer Symbiose der beiden Antipoden Starčević und Strossmayer intendierte Makanec eine Kroatisierung der Erinnerungsfigur Strossmayer und damit eine Abgrenzung sowohl zu „jugoslawischen“ Ausdeutungen Strossmayers als auch zu der radikal ablehnenden Haltung von Mile Starčević und Ivo Pilar. c) Strossmayer als Symbolgestalt für „bratstvo i jedinstvo“ im zweiten, sozialistischen Jugoslawien Obwohl als katholischer Bischof nicht gerade dazu prädestiniert, berief sich auch das sozialistische Jugoslawien auf Strossmayer als historische Legitimationsfigur. Die Vereinnahmung Strossmayers als Symbolgestalt für das Integrationsparadigma von „Bruderschaft und Einheit“ (bratstvo i jedinstvo) begann während des Zweiten Weltkriegs. Im Partisanenradio „Freies Jugoslawien“ beriefen sich die Partisanen bei ihrer Vision eines neu zu gründenden Jugoslawien auf Strossmayer. Im Gegensatz zum unitaristischen Jugoslawismus der Zwischenkriegszeit betonten sie aber den föderalistischen Charakter von Strossmayers Ideen. Laut dem katholischen Priester Svetozar Rittig, der sich als überzeugter Anhänger der kyrillomethodianischen Idee den Partisanen angeschlossen hatte, nahm sogar Josip Broz Tito bei der zweiten Sitzung des „Antifaschistischen Rats der Volksbefreiung Jugoslawiens“ (AVNOJ) Ende November 1943 in Jajce auf Strossmayer Bezug: „Wir in unserem Volksbefreiungskrieg verwirklichen die […] Ideale unserer Vorfahren und folgen der Lehre unserer großen Geister Križanić und Strossmayer“. Um den katholischen Bischof besser in das Pantheon nationaler Helden integrieren zu können, wurde Strossmayer im Vergleich zu den vermeintlichen Klerikalen und Ultra760

Bischof Josip Juraj Strossmayer

montanisten, vor allem Bischof Stadler und Erzbischof Alojzije Stepinac von Zagreb, als liberaler und aufgeklärter Katholik dargestellt. Die Vorlage zu dieser Geschichtsdeutung lieferte einmal mehr Viktor Novak mit seinem 19�8 erschienen Opus „Magnum crimen“, in dem er die angebliche Verbrechensgeschichte des katholischen Klerikalismus in Kroatien mit Erzbischof Stepinac im Zentrum mit dem leuchtenden Vorbild Strossmayer kontrastierte. Diese Geschichtssicht von Strossmayer als „Antiklerikaler“ und als Vordenker eines föderativen Jugoslawien setzte sich in der Profanhistoriographie mehrheitlich durch. So würdigte 1976 der Historiker Kosta Milutinović Strossmayer als „großen Erbauer der gemeinsamen jugoslawischen Kultur“. Die Stadt Zagreb erklärte Bischof Strossmayer 1960 zum Ehrenbürger und zum „ersten Sohn des Vaterlandes“. Alternative Geschichtsdeutungen zu Strossmayer in Jugoslawien traten erstmals in den 1960er Jahren auf, als im Zuge einer zunehmenden Föderalisierung und Re-Nationalisierung der jugoslawischen Geschichtswissenschaft auch Kritik an der vermeintlich jugoslawischen Politik Strossmayers laut wurde. Der serbische Historiker Vasilije Krestić befand, daß Strossmayers jugoslawische Politik mehr austroslawistisch, also auf eine Föderalisierung der Habsburgermonarchie, ausgerichtet gewesen sei, denn auf eine Vereinigung aller Südslawen in einem eigenständigen Staat. Diese Deutung von Strossmayers Handeln führte zu scharfen Polemiken zwischen Krestić und anderen Historikern. In den kroatischen Emigrantenkreisen der politischen Rechten nach 1945 waren die Meinungen über Strossmayer geteilt: Auf der einen Seite standen diejenigen, die im Anschluß an Mile Starčević und Ivo Pilar Strossmayer als antikroatischen Politiker kategorisch ablehnten. Auf der anderen Seite gab es aber auch Stimmen wie jene von Ivo Bogdan, einem der führenden Ideologen des „Unabhängigen Staates Kroatien“, der seinen Landsleuten vorwarf, mit ihrer ablehnenden Haltung letztlich nur die Propaganda der jugoslawischen Kommunisten von Strossmayer als überzeugtem Vertreter des Jugoslawismus zu übernehmen. Bogdan selbst bezeichnete Strossmayer als „eine unserer bedeutendsten Persönlichkeiten“ im 19. Jahrhundert, der allerdings seinen endgültigen Platz in der kroatischen Geschichte noch nicht gefunden habe. d) Nach dem Staatszerfall 1991: Strossmayer jenseits von „jugoslovenstvo“ Mit dem Staatszerfall Jugoslawiens kam es zu einer weiteren Neudeutung von Strossmayer. Ein Vorspiel dazu stellten in gewissem Sinne die Auseinandersetzungen um die Namensgebung der Universität in Osijek dar: 1990 wurde diese nach Strossmayer benannt, aber bereits ein Jahr später, nach dem Regimewechsel, gab es Forderungen, den Namen wieder zu ändern. Letztlich wurde der Namen jedoch beibehalten, da sich auch der erinnerungspolitische Umgang mit Strossmayer im unabhängigen Kroatien änderte. Als geradezu paradigmatisch für die neue Sichtweise auf Strossmayer kann das 1994 erschienene Buch „Verschwiegene Geschichte“ des Historikers Jure Krišto gelten, eines ehemaligen Dominikaners, der Anfang der 1990er Jahre aus dem kanadischen Exil nach Kroatien zurückkehrte. In seinem Buch übte Krišto scharfe Kritik an der bisherigen Historiographie zu Strossmayer, da sie im Dienste der politischen Ideologie der Herr761

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Die um die Jahrhundertwende in Osijek gedruckte Ansichtskarte zeigt den Bischof über seiner Kathedrale in Đakovo und bezeugt seine Verehrung zu Lebzeiten oder kurz nach seinem Tod 1905. Der bald als „Strossmayer-Kathedrale“ bezeichnete neuromanische Bau wurde unter der Obhut des Bischofs von 1866 bis 1882 durch die Wiener Architekten Carl Roesner und Friedrich von Schmitt errichtet. Eine sogenannte Bilderbibel im Innenraum bildet Kroaten, Bosnier, Bulgaren, Muslime und Serben ab und steht für die weitreichenden Ambitionen Strossmayers, der in der Krypta der Kathedrale ruht. Bildnachweis: Museum Slawoniens in Osijek.

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schenden gestanden habe. Strossmayers Ideen seien durch das Konzept von „bratstvo i jedinstvo“ verfälscht worden, in Wahrheit sei es Strossmayer immer und ausschließlich um die Schaffung eines eigenständigen kroatischen Staates gegangen. Auf dieser Interpretationslinie bewegt sich auch größtenteils die zeitgenössische kroatische Kirchenhistoriographie: Strossmayer wird vor allem als großer Förderer der kroatischen Kultur herausgestellt; dagegen wird das politische Wirken des Bischofs zumeist weggelassen oder verschwiegen. Erwähnung findet lediglich Strossmayers kyrillomethodianische Idee, die allerdings am Widerstand von serbisch-orthodoxer Seite gescheitert sei. In der öffentlichen Gedenkkultur der katholischen Kirche in Kroatien kommt Strossmayer zwar vor – so wurde auf Initiative des damaligen Bischofs von Đakovo und Srijem, Ćiril Kos, in Đakovo 1991 ein Museum zum Gedenken an den Bischof eingerichtet –, doch dominiert eindeutig das Gedenken an Kardinal Stepinac die erinnerungskulturelle Landschaft. Daß Strossmayer nun vor allem als Förderer der kroatischen Kultur und als explizit kroatischem Politiker gedacht wird, läßt sich auch an der ersten synthetischen Darstellung des amerikanischen Historikers kroatischer Abstammung, William Brooks Tomljanovich, zu Strossmayer ablesen sowie daran, daß 1991 die mit seiner Beteiligung gegründete „Südslawische Akademie der Wissenschaften und Künste“ in „Kroatische Akademie der Wissenschaften und Künste“ umbenannt wurde. IV. Auswahlbibliographie a) Schriften Strossmayers: šišić, Ferdo: Korespondencija Rački-Strossmayer [Die Korrespondenz Rački-Strossmayer], Bd. 1–�. Zagreb 1928/31; šišić, Ferdo: Josip Juraj Strossmayer. Dokumenti i korespondencija [Josip Juraj Strossmayer. Dokumente und Korrespondenz], Bd. 1–3. Zagreb 1933.

b) Untersuchungen und Quellen: cepeLić, Milko/pavić, Matija: Josip Juraj Strossmayer: Biskup bosansko-djakovački i sriemski god. 1850–1900 [Josip Juraj Strossmayer. Bischof von Đakovo und Srijem 1850–1900]. Zagreb 1900–190�; šarić, Ivan (Hg.): Spomen-knjiga iz Bosne [Gedenkbuch aus Bosnien]. Zagreb 1901; radić, Stjepan: Što nam je bio Strossmayer [Was uns Strossmayer bedeutet hat]. In: Hrvatska misao � (1905) 337–3�0; sMičiKLas, Tade: Nacrt života i djela biskupa J. J. Strossmayera i izabrani njegovi spisi [Skizze zu Leben und Werk von Bischof J. J. Strossmayer und ausgewählte Schriften]. Zagreb 1906; šišić, Ferdo: Biskup Štrosmajer i južnoslovenska misao [Bischof Strossmayer und die jugoslawische Idee]. Beograd 1922; novaK, Viktor: Antologija jugoslovenske misli i narodnog jedinstva [Anthologie zur jugoslawischen Idee und zur nationalen Einheit]. Beograd 1930; sPiletaK, Andrija: Je li biskup Strossmayer bio liberalan katolik i pobornik pokreta za osnivanje narodne crkve? [War Bischof Strossmayer ein liberaler Katholik und ein Vorkämpfer der Bewegung zur Gründung einer nationalen Kirche?]. In: Bogoslovska smotra 19 (1931) 313–338; sPiletaK, Andrija: Biskup J. J. Strossmayer i pravoslavlje [Bischof J. J. Strossmayer und die Orthodoxie]. In: Bogoslovska smotra 23 (1935) 121–1��, 277–30�;

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Stefan Kube MaKanec, Julije: Starčević i Strossmayer na Saboru 1861 [Starčević und Strossmayer auf dem Sabor 1861]. In: Hrvatska revija 8 (1935) ��9–�55; südLand, L. v. (Pilar, Ivo): Die südslawische Frage und der Weltkrieg. Zagreb 21944 [Wien 11918]; novaK, Viktor: Magnum crimen. Pola vijeka klerikalizma u Hrvatskoj [Magnum crimen. Ein halbes Jahrhundert Klerikalismus in Kroatien]. Zagreb 19�8; boGdan, Ivo: Strossmayer i njegovo doba [Strossmayer und seine Zeit]. In: Hrvatska Revija 5 (1955) 227–26�; zoLLitsch, Anton (Hg.): Josef Georg Strossmayer. Beiträge zur konfessionellen Situation ÖsterreichUngarns im ausgehenden 19. Jahrhundert und zur Unionsbewegung der Slawen bis in die Gegenwart. Salzburg 1962; ciLiGa, Vera: O rušenju mita oko „jugoslavenske“ politike Josipa Juraja Strossmayera [Über die Zerstörung des Mythos der „jugoslawischen“ Politik von Josip Juraj Strossmayer]. In: Časopis za suvremenu povijest 2–3 (1971) 25�–266; Ladan, Tomislav: Ante Starčević. Politički spisi [Ante Starčević. Politische Schriften]. Zagreb 1971; sivrić, Ivo: Bishop J. G. Strossmayer. New Light on Vatican I. Rom 1975; MiLutinović, Kosta: Štrosmajer i jugoslovensko pitanje [Strossmayer und die jugoslawische Frage]. Novi Sad 1976; behschnitt, Wolf Dietrich: Nationalismus bei Serben und Kroaten 1830–191�. München 1980; džaJa, Srećko M.: Strossmayer. In: Biographisches Lexikon zur Geschichte Südosteuropas, Bd. �. München 1981, 21�–217; Krestić, Vasilije Đ.: Srpsko-hrvatski odnosi i jugoslovenska ideja 1860–1873. Studije i članci [Die serbisch-kroatischen Beziehungen und die jugoslawische Idee 1860–1873. Studien und Aufsätze]. Beograd 1983; daarteL, Geert van: Ćirilometodska ideja i svetosavlje [Kyrillomethodianische Idee und Svetosavlje]. Zagreb 198�; KošćaK, Vladimir: Josip Juraj Strossmayer – političar i mecena [Josip Juraj Strossmayer – Politiker und Mäzen]. Osijek 1990; Gross, Mirjana: Die Anfänge des modernen Kroatien. Gesellschaft, Politik und Kultur in ZivilKroatien und -Slawonien in den ersten dreißig Jahren nach 18�8. Wien 1993; Krišto, Jure: Prešućena povijest. Katolička crkva u hrvatskoj politici 1850–1918 [Verschwiegene Geschichte. Die katholische Kirche in der kroatischen Politik von 1850 bis 1918]. Zagreb 199�; šuLJaK, Andrija: Biskup Josip Juraj Strossmayer i ćirilometodsko-glagoljska baština [Bischof Josip Juraj Strossmayer und das kyrillomethodianische-glagolitische Erbe]. In: Diacovensia 2 (199�) 275–29�; padovan, Ivo (Hg.): Hrvatski domoljub Josip Juraj Strossmayer. Ogledi [Der kroatische Patriot Josip Juraj Strossmayer. Essays]. Zagreb 1996; šanJeK, Franjo: Kršćanstvo na hrvatskom prostoru. Pregled religiozne povijesti Hrvata (7.–20. st.) [Das Christentum im kroatischen Raum. Überblick über die religiöse Geschichte der Kroaten vom 7. bis ins 20. Jahrhundert]. Zagreb 21996 [Zagreb 11991]; sraKić, Marin: Biskup Josip Juraj Strossmayer između odbijanja i prihvaćanja [Bischof Josip Juraj Strossmayer zwischen Ablehnung und Annahme]. In: padovan, Ivo (Hg.): Zbornik radova o Josipu Jurju Strossmayeru. Zagreb 1997, 15–38; iKić, Niko: Strossmayer između hrvatstva i jugoslavenstva [Strossmayer zwischen Kroatentum und Jugoslawismus]. In: Vrhbosnensia 1 (1997) 263–285; WachteL, Andrew Baruch: Making a Nation, Breaking a Nation. Literature and Cultural Politics in Yugoslavia. Stanford 1998; toMLJanovich, William Brooks: Biskup Josip Juraj Strossmayer: Nacionalizam i moderni katolicizam u Hrvatskoj [Bischof Josip Juraj Strossmayer. Nationalismus und moderner Katholizismus in Kroatien]. Zagreb 2001; iKić, Niko: J. J. Strossmayer i crkveno, kulturno i nacionalno jedinstvo [Strossmayer und die kirchliche, kulturelle und nationale Einheit]. Sarajevo 2002; KoLarić, Juraj: Povijest kršćanstva u Hrvata. I. svezak: Katolička Crkva [Geschichte des Christentums bei den Kroaten, Bd. 1: Katholische Kirche]. Zagreb 2003; Krestić, Vasilije Đ.: Istoriografija u službi politike [Historiographie im Dienste der Politik]. Jagodina 2004; strčić, Petar: Josip Juraj Strossmayer danas [Josip Juraj Strossmayer heute]. In: Radovi Zavoda za znastveni rad HAZU Varaždin 16–17 (2006) 103–139; buchenau, Klaus: Kämpfende Kirchen. Jugoslawiens religiöse Hypothek. Frankfurt am Main 2006; czerWińsKi, Maciej: Lik i ideje – Josip Juraj Strossmayer u diskursima suvremene hrvatske historiografije [Person und Ideen – Josip Juraj Strossmayer in den Diskursen der zeitgenössischen kroatischen Historiographie]. In: dąbroWsKaPartyKa, Maria/czerWińsKi, Maciej (Hg.): Josip Juraj Strossmayer. Hrvatska. Ekumenizam. Europa. Kraków 2007, 73–86; Krestić, Vasilije Đ.: Biskup Štrosmajer. Hrvat, velikohrvat ili Jugosloven? [Bischof Strossmayer. Kroate, Großkroate oder Jugoslawe?]. Jagodina 2009.

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Nikolaj Velimirović I. Zusammenfassung. – II. Akademische, kirchliche und politische Biographie. – III. Werk. – IV. Die Verehrung Nikolajs. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Nikolaj Velimirović (�. Januar 1881 bis 18. März 1956) war serbischer Religionsphilosoph, einflußreicher und kontroverser Bischof sowie der geistliche Anführer der Laienbewegung der „Beter“ (Bogomoljci), die in der Zwischenkriegszeit entstand. Nachdem er 19�� als Gefangener nach Deutschland gebracht worden war, beschloß der überzeugte Antikommunist, nicht nach Jugoslawien zurückzukehren. Seine Verehrung nahm nach 1980 stark zu und erreichte ihren Höhepunkt in der Kanonisierung durch die serbische orthodoxe Kirche im Jahr 2003. Als heiliger Nikolaj von Žiča gilt Velimirović vielen seiner Landsleute heute als der wichtigste Serbe des 20. Jahrhunderts. II. Akademische, kirchliche und politische Biographie Velimirović wurde in dem kleinen Dorf Lelić im Westen Serbiens geboren. Nachdem er das Priesterseminar in Belgrad besucht hatte, führte er sein Studium mit Hilfe des serbischen Landesstipendiums in Halle und an der Katholischen Theologischen Fakultät der Universität Bern fort, wo er 1908 mit seiner Dissertation Der Glaube an die Auferstehung Christi als Grunddogma der apostolischen Kirche zum Doktor der Theologie promoviert wurde. Im darauf folgenden Jahr erwarb er mit einer Dissertation über Französisch-slavische Kämpfe in der Bocca di Cattaro 1806–1814 einen weiteren Doktortitel, dieses Mal von der Philosophischen Fakultät der gleichen Universität. Zusätzlich erhielt Velimirović später weitere Ehrendoktortitel von der Universität Glasgow und der Columbia Universität in New York. Während seiner Aufenthalte in der Schweiz und später auch in Großbritannien knüpfte er enge Kontakte zu bedeutenden altkatholischen und anglikanischen Theologen und wurde zu einem leidenschaftlichen Befürworter des ökumenischen Dialogs und Austauschs. Nachdem er für das klösterliche Priestertum in Belgrad bestimmt worden war und den Namen Nikolaj erhalten hatte, wurde Velimirović nach Russland entsandt, wo sich zu jener Zeit das intellektuelle und geistliche Zentrum der Orthodoxen befand. Kurz nach seiner Rückkehr nach Belgrad gewann Velimirović als charismatischer Priester während der schweren Zeiten der beiden Balkankriege und des Beginns des Ersten Weltkriegs an Bedeutung. 1915 wurde er von der serbischen Regierung in diplomatischer Mission nach Großbritannien und in die USA geschickt, wo er die folgenden vier Jahre für die serbische und die jugoslawische Sache warb. Mehrfach wurde er dazu eingeladen, in anglikanischen Kirchen zu predigen, unter anderem auch 765

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in der Londoner St. Pauls Kathedrale. In London traf er auch den Philosophen Dimitrije Mitrinović, der in der serbischen Legion diente und den Velimirović später als seinen einzigen Lehrer verehrte. 1919 wurde der Archimandrit Nikolaj durch die neu vereinigte serbische orthodoxe Kirche zum Bischof von Žiča geweiht. Bald darauf wurde er in die abgelegene und arme Diözese Ohrid/Bitola im heutigen Makedonien geschickt. Obwohl er der Gebildetste und Bedeutendste aller Bischöfe war, stieg Velimirović aufgrund seines auf Konfrontation ausgelegten Naturells nie zum serbischen Patriarchen auf. Dennoch war sein Einfluß als Kleriker in der Zwischenkriegszeit unübertroffen. Velimirović adoptierte und führte eine religiöse Massenbewegung, die als Bogomoljci bekannt wurde. Zunächst eine spontane Bewegung des einfachen orthodoxen Volkes, angetrieben und beeinflußt durch die weite Verbreitung der Neoprotestanten (Nazarener und Adventisten), wurde sie später vom Klerus als ketzerisch verfolgt. Nicht zuletzt dank Velimirovićs Dialog mit diesem wurden die Bogomoljci in der Zwischenkriegszeit zur größten Erneuerungsströmung innerhalb der serbischen orthodoxen Kirche, deren seelsorgerische und kirchliche Auffassungen sie tiefgehend beeinflußten und deren Klöster sie mit Generationen der frommsten Nonnen und Mönche füllten. Während er sein eigenes Bistum leitete und für die Bogomoljci predigte und diese organisierte war Velimirović auch aktiv an der Politik beteiligt, schrieb Bücher über religiöse, moralische oder politische Themen und sammelte einen weiten Kreis von intellektuellen Befürwortern seiner Ansichten um sich, unter denen allmählich immer mehr Nationalisten, Antikommunisten, Antiwestler und Antisemiten waren. Von einem Bewunderer des kroatischen Bischofs Strossmayer und einem Fürsprecher der Vereinigung der Südslawen wandelte sich Velimirović in den Jahren 1935 bis 1937 zu einem überzeugten Gegner des jugoslawischen Konkordats mit der katholischen Kirche. Er wandte sich nach dem Polizeieinsatz während einer Prozession öffentlich gegen das serbische Innenministerium und trug maßgeblich dazu bei, daß das Parlament das Konkordat nicht ratifizierte. Geteilt wurden seine Ideen von einigen radikalen Theologen und Intellektuellen, die den jugoslawischen Nationalisten und der von Dimitrije Ljotić geleiteten rechtsextremen Organisation Zbor nahestanden. Zbor wurde während des Zweiten Weltkriegs zu einer der wichtigsten Gruppen, die mit den deutschen Besatzern zusammenarbeiteten. Unter anderen zählten wichtige Kirchenleute wie Dimitrije Najdanović, Đoko Slijepčević und Aleksa Todorović zu ihr. Dennoch brach Velimirović nie mit den engen Verbindungen, die er zu anglikanischen Geistlichen geknüpft hatte, sondern blieb englandfreundlich eingestellt, was sein Schicksal während der Besetzung, die er vorwiegend in Gefangenschaft verbrachte, besiegelte. Nur wenige Monate, nachdem Serbien besetzt worden war, verhafteten die Nationalsozialisten Bischof Nikolaj 1941, da seine Verbindungen zu probritischen und monarchistischen Četniks verdächtig wurden. Zuerst wurde er im Kloster Ljubostinja in Gefangenschaft gehalten, später in das Kloster Vojlovica gebracht, wo er sich dem serbischen Patriarchen Gavrilo anschloß. Die zwei Kirchenfürsten blieben dort bis September 19��, dann wurden sie wegen des erwarteten Herannahens sowjetischer Truppen nach Dachau geschickt. Als Ehrenhäftlinge wurde ihnen zusammen mit anderen inhaftierten Priestern 766

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ein Recht auf bessere Behandlung eingeräumt. Nach einigen Monaten wurden Patriarch Gavrilo und Bischof Nikolaj unter Aufsicht entlassen. Dies war Teil eines Planes der deutschen Führung, die serbischen Truppen zu stärken, die vor den herannahenden kommunistischen Partisanen und der Roten Armee flohen. So konnte Velimirović bei der Beerdigung von Ljotić, der 19�5 bei einem Autounfall in Slowenien starb, sein Amt ausüben und ihn als strenggläubigen Orthodoxen und Ideologen des serbischen Nationalismus loben. Schließlich wurden Bischof Nikolaj und der Patriarch im Mai 19�5 von den amerikanischen Truppen in Tirol befreit. Im Gegensatz zum Patriarchen kehrte Velimirović nie in das von den Kommunisten kontrollierte Jugoslawien zurück. Er immigrierte stattdessen in die USA, wo er der serbischen Diasporakirche und politischen Organisationen beitrat. Im Jahre 1951 brach Velimirović allerdings jeglichen Kontakt mit dem damaligen Bischof der serbisch-orthodoxen Diözese in den USA und Kanada, Djonisije Milivojević, ab und zog in das russische St. Tichon Kloster in South Canaan, Pennsylvania, wo er 1956 starb. III. Werk Velimirović war eher ein universeller Religionsphilosoph als ein einfacher Theologe. Seine Schriften werden in aller Regel zwei Phasen zugeordnet, die durch den Ersten Weltkrieg abgegrenzt werden. Damals kam er mit Mitrinovićs messianischen und mystischen Ideen in Berührung. Diese und andere theosophische Lehren und psychoanalytische Denkansätze waren in Londoner Intellektuellenkreisen sehr populär und beeinflußten seine späteren Schriften. Insbesondere war Velimirović von Fëdor Dostoevskijs Idee der All-Menschlichkeit und der Verherrlichung der traditionellen, patriarchalischen, ländlichen Werte, die im slavophilen Konzept des „Sammlungsprinzips“ (sobornost’) beispielhaft erklärt werden, angetan. Gleichzeitig wurde Velimirović von Vladimir Solovëvs Schiften über die Theokratie beeinflußt und schlug entsprechend das Konzept der „Gottesknechtschaft“ (Teodulia) vor, um den serbischen Staat zu ordnen. Die Gottesknechtschaft im Sinne Nikolajs ist ein unklares Konstrukt zwischen byzantinischem Panhellenismus und römischem Pantheokratismus und setzt eine idealisierte mittelalterliche Zusammenarbeit zwischen Kirche und Staat voraus. Auf Basis der Vorstellungen Dostoevskijs und Oswald Spenglers über Europa und den Westen sowie der von Thomas Carlyle und Friedrich Nietzsche übernommenen konservativen Zweifel und der Kritik des Rationalismus und Fortschritts, der Demokratie und des Sozialismus verortete Velimirović Serbien zwischen Ost und West. Er predigte, daß eine angeblich slawische und insbesondere serbische Frömmigkeit, die zwischen asiatischen Religionen und westlichem Rationalismus einzuordnen sei, und das Erlebnis des Märtyrertums von Golgatha im Rahmen des Kosovomythos die Serben zur Erfüllung einer Aufgabe bestimmt hatte – der geistlichen Wiedergeburt Europas. Während Velimirovićs Kritik an der zeitgenössischen Gesellschaft scharf und aufschlußreich war, blieben seine Versuche, eine Alternative anzubieten, unbestimmt und utopisch. Vor allem seine sozialen Lehren waren 767

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idealistisch und oberflächlich, wie die Idee des sogenannten Mittelwegs zeigt. Diese Idee entwarf eine Art von gemeinschaftlichem Leben, die in der koinobitischen Tradition orthodoxer Klöster gründete und in der privates und gemeinschaftliches Eigentum erlaubt war. Seine ekklesiologischen und kulturell-philosophischen Anschuldigungen wurden in seinem Synaxarion (Ohridski Prolog) (Das Vorwort von Ohrid) sowie in den Schriften Srpski narod kao Teodul (Das serbische Volk als Knecht Gottes), Reči o Svečoveku (Reden über den All-Menschen) und anderen Werken, die für die Bogomoljci bestimmt waren und zu deren Lieblingslektüre wurden, verbreitet. In der bedeutendsten Analyse der Theologie Velimirovićs charakterisierte Radovan Bigović 1998 diese als theozentrisch, da die Rolle und Freiheit des Menschen vernachlässigt werde. Ein weiteres Problem stellt seine Fehlinterpretation des Glaubensgrundsatzes der Hypostase und das Fehlen der Unterscheidung zwischen Gottes Kraft und seinem Wesen dar. Infolgedessen predigte Velimirović die Unsterblichkeit der Seele und die Sterblichkeit des Körpers, was die Einheit des Individuums zerstört und so die Geburt Christi als Mensch und seine Wiederauferstehung bestreitet. Ungeachtet seiner theologischen Defizite – so schloß Bigović – ist Velimirovićs Verdienst darin zu sehen, daß er für die serbische Theologie wichtige Thematiken angesprochen hat und die so genannte akademische Theologie, Moral und Pietismus, die seit dem 18. Jahrhundert vorherrschend waren, entlarvte. Velimirović und seine Veröffentlichungen haben viele Debatten ausgelöst. Diese reichen von Konflikten innerhalb der Kirche und seiner Gewohnheit des Rauchens bis hin zu seiner Auszeichnung mit einem deutschen Orden im Jahr 1935 für den Wiederaufbau des deutschen Friedhofs in seiner Diözese und zu seiner Verbindung mit Ljotić. Dennoch verursachte seine Inhaftierung in Dachau die meisten Kontroversen. Obwohl er dort nur relativ kurze Zeit verbrachte, wurde Velimirović deswegen später als Märtyrer bewundert. In Dachau schrieb er auch sein umstrittenstes Werk Srpskom narodu kroz tamnički prozor (Schriften an das serbische Volk durch das Gefängnisfenster), in dem er unverhohlen seinen Antisemitismus zum Ausdruck brachte. Einige dieser Debatten sind möglicherweise der Grund für die Verzögerung seiner Heiligsprechung. IV. Die Verehrung Nikolajs Nach langer Verdammung und bewusster Geringschätzung Velimirovićs im kommunistischen Jugoslawien begann der serbische Bischof Westeuropas, Lavrentije Trifunović, in den siebziger Jahren seine Werke vollständig in Deutschland zu veröffentlichen. Ein Jahrzehnt später fingen einige Enthusiasten in Serbien an, seine Verehrung zu fördern. Im Laufe der Jahre wurde Nikolaj Velimirović in den Augen vieler seiner Landsleute zum wichtigsten Serben des zwanzigsten Jahrhunderts. Diese Verehrung entwickelte sich mit Hilfe einflußreicher Stimmen der Kirche im Rahmen der Renaissance eines serbischen Nationalismus. So veröffentlichte 1987 der bekannte Theologe Atanasije Jeftić Velimirovićs Kosovski Zavet (Kosovogelöbnis) im offiziellen Organ der serbischen or768

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Titelbild des in serbischer Sprache erschienenen Bandes Über das Kreuz des Bischofs Nikolaj des russischen Publizisten Pavel V. Tichomirov mit dem Werbetext: Ein russischer Blick auf die serbische Geschichte der Epoche Nikolajs. Das im Belgrader Verlag „Heiliges Rußland“ (Sveta Rusija) erschienene Buch ist Teil des internationalen Interesses an dem Heiligen, das nach 1991 zu zahlreichen Übersetzungen seiner Werke auch ins Russische geführt hat. Gleichzeitig bezeugt die Veröffentlichung das Bedürfnis eines Teils der serbischen Gesellschaft, sich an ein orthodoxes Rußland anzulehnen. Der auf dem Umschlagblatt zitierte Vers von Nikolaj steht für die entsprechende Orientierung seines Weltbildes: Von drei Seiten haben dich schlechte Winde geschlagen, / Bruder Serbe, aus dem Norden, Westen und aus dem Süden. / Nur der Osten ist dir geblieben – / woher dein Seelenfriede kommt. Bildnachweis: Tichomirov, Pavel V.: O krstu svetog vladike Nikolaja. Srpska istorija u epohi svetog Nikolaja Srpskog [Über das Kreuz des Bischofs Nikolaj. Serbische Geschichte in der Epoche des heiligen Nikolaj des Serben]. Beograd 2010.

thodoxen Kirche. Nikolajs Gebeine wurden 1991 nach Serbien überführt und in einer Kapelle in seinem Heimatort zur Ruhe gebettet, was die Verbreitung seines Kultes unterstützte. Am 19. Mai 2003 erkannte die heilige Bischofsversammlung der serbischen orthodoxen Kirche Bischof Nikolaj (Velimirović) von Ohrid und Žiča als Heiligen an und widmete seiner Verehrung zwei Tage im Kalender der Heiligen (18. März und 13. Mai). In Erinnerung an seine Eigenschaften als hervorragender Redner und erfolgreicher 769

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Schriftsteller wird Nikolaj unter den Gläubigen auch der „Neue Chrysostomos“ genannt. In den letzten zehn Jahren hat sich Nikolajs Verehrung auch in Rußland verbreitet, wo beinahe alle seine Bücher übersetzt und veröffentlicht worden sind. Zahlreiche englische und französische Übersetzungen seiner Werke bezeugen gleichzeitig seine Wirkung auch in Amerika und Westeuropa, obgleich es schwer ist abzuschätzen, ob die Rezeption über die serbische Diaspora hinausreicht. V. Auswahlbibliographie a) Werk VeLiMirović, Nikolaj: Sabrana dela [Gesammelte Werke], Bd. 1–12. Hg. v. Srpske Pravoslav. Eparhije Zapadnoevropske. Diseldorf 1976–1978, Himelstir 1983–198�.

b) Darstellungen SLiJepčević, Đoko: Istorija srpske pravoslavne Crkve [Geschichte der serbischen orthodoxen Kirche], Bd. 1–3. Köln/München 1962–1986; RadosavLJević, Artemije: Novi Zlatousti [Der neue Chrysostomus]. Beograd 1986; BreMer, Thomas: Ekklesiale Struktur und Ekklesiologie in der serbischen orthodoxen Kirche im 19. und 20. Jahrhundert. Würzburg 1992; DobriJević, Irinej Mirko: Bishop Nicholai Velimirovich. A Contemporary Orthodox Witness. In: Serbian Studies 10 (1996) 198–209; Subotić, Dragan: Episkop Nikolaj i Pravoslavni bogomoljački pokret [Bischof Nikolaj und die orthodoxe Betbewegung]. Beograd 1996; BiGović, Radovan: Od Svečoveka do bogočoveka. Hrišćanska filosofija vladike Nikolaja Velimirovića [Vom All-Menschen zum Gottmenschen. Christliche Philosophie des Bischofs Nikolaj Velimirović]. Beograd 1998; Grill, Rudolf Chrysostomus: Serbischer Messianismus und Europa bei Bischof Velimirović († 1956). St. Ottilien 1998; HePPell, Muriel: George Bell and Nikolai Velimirovic. Birmingham 2001; NaJdanović, Dimitirije: U Senci Vladike Nikolaja [Im Schatten des Bischofs Nikolaj]. Beograd 2001; JanKović, Milan: Episkop Nikolaj. Život, misao i delo [Bischof Nikolaj. Leben, Denken und Werk], Bd. 1–3. Valjevo 2002–2004; Jevtić, Atanasije: Sveti Vladika Nikolaj Ohridski i Žički [Der heilige Bischof Nikolaj von Ohrid und Žiča]. Kraljevo 2003; Buchenau, Klaus: Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien 1945–1991. Ein serbisch-kroatischer Vergleich. Wiesbaden 2004; ALeKsov, Bojan: Religious Dissent between the Modern and the National. Nazarenes in Hungary and Serbia 1850–191�. Wiesbaden 2006; arx, Urs von: Bishop Nikolaj Velimirović (1880–1956) and his Studies in Bern within the Context of the Old Catholic-Serbian Orthodox Relationship. In: Serbian Studies 20 (2006), 307–339; DiMitriJević, Vladimir: Oklevetani svetac. Sveti vladika Nikolaj i srbofobija [Der verleumdete Heilige. Der heilige Bischof Nikolaj und die Serbophobie]. Gornji Milanovac 2007; Byford, Jovan: Denial and Repression of Antisemitism. Post-Communist Remembrance of the Serbian Bishop Nikolaj Velimirović. Budapest/New York 2008.

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Kardinal Alojzije Stepinac I. Zusammenfassung. – II. Leben und Wirken. – a) Im „Unabhängigen Staat Kroatien“ 1941–1944. – b) Im sozialistischen Jugoslawien. – III. Diskurse: Streitobjekt Stepinac. – a) „Der Böse“: Stepinac als Vertreter der Genozidnation in Tito-Jugoslawien und während der Milošević-Ära. – b) Der „Schöpfer der katholischen kroatischen Kirche“. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der kroatische Kardinal Alojzije Stepinac ist historiographisch ein rezenter Erinnerungsort, der vor allem im (post)jugoslawischen Raum und unter den dortigen politischen Auseinandersetzungen zu lokalisieren ist, zugleich aber auch international Beachtung fand und sowohl durch Inklusion als auch durch Exklusion kollektiv identitätsstiftend wirkte. Besonders während des jugoslawischen Staatszerfalls nach 1990 wurde er im politischen Disput zwischen Kroaten und Serben thematisiert, für deren nationalstaatliche Ambitionen der populäre Geistliche jeweils als positiver oder als negativer Exponent hervorgehoben wurde. Dadurch avancierte er zur sicherlich umstrittensten Persönlichkeit in Jugoslawien. Die Diskussion über den Staatsgründer Tito erreichte den Grad der Verbissenheit keineswegs, wenngleich im Grunde nicht Stepinac selbst das Ziel der Anfeindungen darstellte, sondern das, wofür er nach seinem Tod als Symbolfigur appliziert wurde: den kroatischen Nationalstaat. II. Leben und Wirken Alojzije Stepinac wurde am 8. Mai 1898 in der Gemeinde Krašić im österreichisch-ungarischen Kronland Kroatien-Slawonien geboren. Den Ersten Weltkrieg erlebte er an vorderen und mörderischen Fronten: 1917 in Italien am Isonzo, 1918 geriet er in italienische Gefangenschaft. Nachdem der österreichisch-ungarische Kaiser Karl die Soldaten der habsburgischen Truppen von ihrem Eid entbunden hatte, meldete sich Stepinac für die „Südslawische Legion“, er wurde an die berüchtigte Saloniki-Front verbracht und dann in Makedonien eingesetzt. Im Juni 1919 entließ ihn der junge südslawische Staat, der nach dem Ersten Weltkrieg aus so unterschiedlichen Gebilden wie den Königreichen Serbien, Montenegro und aus den habsburgischen Gebieten in Bosnien-Herzegowina, Kroatien und Slowenien entstanden war, aus dem Militärdienst. Erst nachdem Stepinac Heiratsabsichten und ein Studium der Landwirtschaft aufgegeben hatte, entschloß er sich zu einem Studium der Theologie und der Philosophie an der Gregoriana und am Germanicum in Rom. Beide Studiengänge beendete er mit Promotion. 1930 folgte dort die Priesterweihe. Im Jahr 193� betraute ihn Papst Pius XI., obwohl Stepinac noch nicht das erforderliche Mindestalter von vierzig Jahren erreicht hatte, mit der Aufgabe eines Ko-Adjutors in Zagreb. Dies bedeutete, er wurde als Hilfsbischof mit dem Recht der Nachfolge 771

Katrin Boeckh

eingesetzt; im selben Jahr empfing Stepinac durch den Erzbischof von Zagreb, Antun Bauer, die Bischofsweihe. Drei Jahre später, nach Bauers Tod, rückte er auf den Bischofsstuhl nach. Stepinac brachte den größten Teil seines Lebens in Staaten mit autoritärer Führung zu und war dabei mit drei ganz unterschiedlichen politischen Regimen konfrontiert: Das südslawische Königreich, ab 1929 autoritär von König Alexander I. Karađorđević und dann von Peter II. Karađorđević geführt, wurde 19�1 zerschlagen, und Kroatien sowie Bosnien-Herzegowina wurden als „Unabhängiger Staat Kroatien“ (NDH) unter das faschistische Regime der Ustaša von Hitlers Gnaden gestellt. Die auf den Zweiten Weltkrieg folgende Herrschaft Titos begründete einen kommunistischen Staat Jugoslawien. Keines dieser drei Regime bot Bedingungen, die der katholischen Kirche eine friedliche Existenz garantierten: Im „ersten Jugoslawien“ wurde der serbischen orthodoxen Kirche eine Vorzugsstellung eingeräumt, die der Belgrader Dominanz im Staat entsprach; der keinesfalls unabhängige kroatische Staat während des Krieges instrumentalisierte die katholische Kirche zur Mobilisierung der Bevölkerung für seine Belange und den Kampf gegen den Kommunismus. Das Tito-Regime führte vor allem am Anfang einen aggressiven Kurs gegen alle Glaubensgemeinschaften, der tendenziell bis zum Ende der sozialistischen Herrschaft beibehalten wurde. Die katholische Kirche wurde besonders wegen ihrer Papsttreue als unpatriotisch angegriffen. In diesen drei politischen Konstellationen stand Stepinac an der Spitze der katholischen Kirche in Kroatien. Dabei galt sein besonderes Augenmerk Bedürftigen und der Arbeiterschaft. Daß er die kroatische Caritas-Organisation gründete, trug einmal mehr zu seiner großen Popularität bei, die durch sein Bekenntnis zur kroatischen Nation verstärkt wurde. Die enge und über Jahrhunderte hinweg bestehende Verbundenheit der Kroaten zum Heiligen Stuhl betonte er in einem Brief an den Papst vom Juni 193�. Wie auch deren Väter nicht gezögert hätten, ihr Leben für die katholische Kirche zu geben, werde er ebenfalls nicht zögern, wenn es nötig sei. Gleichzeitig trug er sein Motto vor: In te Domine speravi. Sowohl in seiner patriotischen Einstellung als auch in seiner Loyalität gegenüber der päpstlichen Kirche blieb Stepinac bis zum Ende kompromißlos. Damit polarisierte er insbesondere wegen seiner Haltung während des Zweiten Weltkrieges, während des sozialistischen Jugoslawiens, aber auch über seinen Tod hinaus. a) Im „Unabhängigen Staat Kroatien“ 1941–1944 Für viele Kroaten schien mit dem Zweiten Weltkrieg der Wunsch nach einer eigenen Nationalstaatlichkeit Wirklichkeit zu werden. Nach dem Angriff deutscher und verbündeter Verbände im April 1941 auf Jugoslawien, der die Aufsplitterung des Landes nach sich zog, wurde in Kroatien und Bosnien-Herzegowina unter der Leitung der faschistischen Ustaša der NDH proklamiert. Dieser Staat stand formal in Personalunion mit dem italienischen Königreich. Der Herzog von Aosta, Enzo di Spoleto, wurde zum kroatischen König Tomislav II. designiert, aber nie gekrönt. Daher waren die in Kroatien installier772

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Die Photographie zeigt das Denkmal zu Ehren von Alojzije Stepinac vor der Pfarrkirche in seinem Geburtsort Krašić. Bildnachweis: Privatarchiv Katrin Boeckh.

ten Führungsfiguren komplett von Italien und Deutschland abhängig. Das NDH-Regime leitete eine brutale Verfolgung von Andersdenkenden ein. Symbol hierfür ist das berüchtigte Konzentrationslager Jasenovac, wo neben Oppositionellen jeder Nationalität zuerst und in größter Zahl Serben als das verhaßte traditionelle Feindbild des kroatischen Nationalismus, dann Juden, Kroaten und Roma durch inhumane Zwangsarbeit zu Tode gequält wurden. Zur Ideologie der Ustaša gehörte die Untermauerung des Nationalismus durch eine „katholische“ – weil kroatische – Ausrichtung. Mehrere katholische Geistliche folgten dieser politischen Linie, so daß es schwer war, die Haltung der katholischen 773

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Kirche von jener der nationalistischen Führungsclique zu separieren. Dazu kommt, daß die sozialistische Tito-Regierung später alles unternahm, diese beiden Pole in eins zu setzen, um das vermeintliche „Verbrechen“ von Stepinac zu begründen. Die Öffentlichkeit in Jugoslawien erhielt lange Zeit bewußt keine oder verfälscht dargestellte Informationen. Diese wurden Jahrzehnte später, während der hoch emotionalen Phase des Auseinanderbrechens Jugoslawiens, auch als Manipulationsmasse gezielt eingesetzt. Viele politische Vorwürfe, denen Stepinac auch post mortem ausgesetzt war, lassen sich entkräften, wenn man seine damaligen Aussagen heranzieht, die allerdings zeitgenössisch wenig bekannt waren oder später lange nicht bekannt werden durften. Dreh- und Angelpunkt war die nationale Affinität von Stepinac, die ihm negativ ausgelegt wurde. Sein Bekenntnis zu einer kroatischen Staatlichkeit kam zum Ausdruck, als er nach der Proklamation des kroatischen Staatswesens im Zagreber Dom eine Messe lesen ließ. Die Seelsorge für die katholischen Soldaten – die NDH hatte eigene Truppen ausgehoben – oblag ihm ab 1942 als Militärbischof, was aber eine pastorale, keine politische oder gar militärische Aufgabe war. Zudem ist auch die tatsächliche Einsetzung umstritten, da der NDH-Führer Pavelić 19�1 Vilim Cecelja ernannt hatte. Stepinacs Unternehmungen, Nicht-Kroaten im NDH zu schützen, brachten ihm die Kritik und Anfeindungen der Ustaša-Regierung ein. Als die Ustaša mit Hilfe williger katholischer Geistlicher Zwangstaufen als probates Mittel durchführen ließen, um Serben zu „kroatisieren“, gab Stepinac mit Rücksprache des Vatikans Anweisung, daß kein Nicht-Katholik zu einer Konversion zum Katholizismus gezwungen werden dürfe. Auch gegen die Verfolgung von Juden protestierte Stepinac durch Hirtenbriefe und brachte damit die Ustaša-Führung wie auch die in Kroatien und Bosnien stationierten deutschen Behörden gegen sich auf. Durch seinen persönlichen Einsatz wurden Juden in größerer Zahl versteckt und vor dem Tod gerettet. Ab Juli 1943, nachdem die British Broadcasting Corporation (BBC) und Voice of America (VOA) eine Sendung über die Rettung von Juden durch Stepinac und über seine Ablehnung der Nürnberger Rassegesetze ausgestrahlt hatten, wurden seine Predigten regelmäßig im besetzten Europa verbreitet. b) Im sozialistischen Jugoslawien Nach Kriegsende verließ Stepinac seine Heimat nicht, obwohl er geahnt haben mußte, daß ihm die kommunistische Herrschaft zusetzen würde, da er Religionsverfolgung bereits in der Sowjetunion der 1930er Jahre registriert und sich im Zuge dessen kritisch über den Kommunismus geäußert hatte. Die Konfrontation kam, als sich Stepinac bei einigen Treffen mit dem neuen Staatschef Tito weigerte, diesen und seine Bewegung zu unterstützen – ein Hirtenbrief der kroatischen katholischen Bischöfe vom 22. September 1945 unterstrich dies – und die katholische Kirche Kroatiens vom Vatikan zu lösen. 19�6 wurde Stepinac nach abermaliger Verhaftung ein inszenierter Prozeß gemacht, der an ein gerade laufendes Verfahren gegen kroatische Kriegsverbrecher angehängt wurde. Der Vorwurf lautete auf Kollaboration mit dem Ustaša-Regime, Zwangskonvertierung 77�

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der orthodoxen Christen und Widerstand gegen die neue Macht. Der Prozeß, der mit Hilfe sowjetischer Juristen vorbereitet worden war, trug typische Züge eines Stalinschen Schauprozesses. Die Verteidigung wurde vom Gericht stark behindert, Entlastungszeugen ließ man kaum zu. Entsprechend lautete auch das Urteil 19�6 auf 16 Jahre Gefängnis mit Zwangsarbeit und dem Verlust der bürgerlichen Rechte auf fünf Jahre. Nicht nur der Vatikan protestierte dagegen, sondern auch Politiker im Westen, wo die Presse über den Prozeßverlauf regelmäßig berichtete. Stepinac brachte die Jahre zwischen 1946 und 1951 im Gefängnis von Lepoglava in Nord-Kroatien zu, dann wurde er nach Abänderung seines Urteils in lebenslänglichen Hausarrest in seine Heimatgemeinde Krašić verbracht. Bis zu seinem Tod stand er hier unter ständiger Beobachtung durch die Polizei. Durch die Isolation – diese Maßnahme wurde auch in der Sowjetunion gegen Geistliche unternommen – konnte Stepinac kaum mehr bischöflichen und pastoralen Aufgaben nachkommen. Im Hausarrest wurde Stepinac am 12. Januar 1953 zum Kardinal ernannt. Er verzichtete aber auf die offizielle Übernahme der Kardinalsinsignien und die Investitur in Rom, weil er befürchten mußte, nicht mehr in seine Heimat zurückkehren zu dürfen. Die jugoslawische Regierung brach nach der Kardinalserhöhung die diplomatischen Verbindungen zum Vatikan ab. Für Tito war Stepinac lange Jahre der Störenfried schlechthin. Angebote zur Ausreise, die an ihn herangetragen wurden, lehnte er ab, weil er einer Rückkehr nicht sicher sein konnte. Stepinac erkrankte schließlich an einer leukämieähnlichen Krankheit; 1960 verstarb er. Gerüchte, er sei eines unnatürlichen Todes gestorben, herbeigeführt durch Eingriffe der staatlichen Sicherheitsorgane, wurden erst durch eine Autopsie unabhängiger Mediziner in den 1990er Jahren als zutreffend nachgewiesen. Demzufolge war tatsächlich von einer Vergiftung auszugehen. Nach kirchlicher Deutung starb er somit als Märtyrer. III. Diskurse: Streitobjekt Stepinac Diskurse um Stepinac setzten schon zu seinen Lebzeiten ein. In Jugoslawien waren sie einerseits staatlich zensiert oder gefördert, wenn es um die Diffamierung des Erzbischofs ging. Andererseits entwickelten sie sich im engen Rahmen der katholischen Presse als Reaktion darauf meist auf Exkulpierung und Überhöhung ausgerichtet. Richtiggehende Konflikte um seine Person begannen noch mehr nach seinem Tod, und dies umso heftiger, je schärfer die Auseinandersetzungen um einen von Jugoslawien unabhängigen kroatischen Nationalstaat wurden, als einer dessen historischer Repräsentanten Stepinac betrachtet wurde. Seine Person polarisierte. Die Extreme schwankten zwischen einer Glorifizierung von Stepinac als nahezu Heiligem und seiner Verunglimpfung als Kriegsverbrecher. Grundsätzlich blieb stets die politische Großwetterlage der Rahmen, der die Vehemenz des Diskurses bestimmte. Entscheidend waren die unterschiedlichen Erinnerungen an die Zeit des Zweiten Weltkriegs und die differierenden politischen Motivationen, diese zu aktivieren. 775

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Stepinacs Biographie und Wirken wurden in diesem Rahmen für politische Ziele instrumentalisiert. Daß dies möglich war, hing damit zusammen, daß eine wirklich freie Berichterstattung und Geschichtsschreibung in Tito-Jugoslawien unterdrückt wurde. Daher konnte mit Emotionalisierungen des Diskurses gearbeitet werden, mit Phobien und Aversionen. Diese konnten zugleich wirken, weil es keine offene Aufarbeitung der Vergangenheit gab und weil der Zweite Weltkrieg einseitig von Tito und seinen Partisanen glorifiziert worden war, deren Kriegsverbrechen wiederum verschwiegen wurden. Auf dieser Matrix und einem allgemeinen Informationsdefizit konnten Themen und Ängste der Vergangenheit leicht beschworen werden und ein noch größerer politischer Keil, vor allem während der jugoslawischen „Nachfolgekriege“, zwischen Serben und Kroaten getrieben werden. a) „Der Böse“: Stepinac als Vertreter der Genozidnation in Tito-Jugoslawien und während der Milošević-Ära Nach Titos Tod 1980 erklärten Zeitzeugen, die sich gegenüber dem Regime loyal verhielten, daß die Verfolgung des Erzbischofs politisch begründet gewesen sei. 1985 gab der Staatsanwalt des Schauprozesses Jakov Blažević in einer Zeitschrift zu, daß das Verfahren gegen den Erzbischof konstruiert worden war, weil er sich geweigert hatte, die Verbindungen der katholischen Kirche Kroatiens zum Vatikan zu lösen. Auch der jugoslawische Dissident Milovan Djilas räumte ein, Stepinac sei nicht wegen seiner Politik gegenüber der Ustaša, sondern gegenüber den Kommunisten zum Problem geworden. Diese freimütigen Stellungnahmen gingen aber in der anhaltenden Brandmarkung von Stepinac als Kollaborateur der Ustaša unter. Für seine weitere Stigmatisierung sorgte die staatliche Propaganda wie auch der Kampfgefährte und Biograph Titos Vladimir Dedijer, der in seinen Veröffentlichungen immer wieder einen Nexus zwischen der katholischen Kirche, dem Vatikan und Stepinac einerseits und der Ustaša andererseits herstellte. Vor allem die Photographien von grausam verstümmelten Leichen insinuierten eine nicht nur indirekte Verantwortung von Stepinac an den Mordexzessen im kroatischen Konzentrationslager Jasenovac. Dedijers eigene Mitschriften während der Schauprozesses wollten dessen Rechtsstaatlichkeit nachweisen, und auch weitere Publikationen insbesondere serbischer Verlage beschrieben diesen Prozeß wiederholt als gerechtfertiges Mittel gegen seinen „Verrat“ und sein „Verbrechen“. Im Milošević-Jugoslawien der 1990er Jahre lebte dieser propagandistische Topos erneut auf. Mit steigendem serbischen Nationalismus, der sich an der Kosovofrage entzündete, und während der Implosion Jugoslawiens durch die kriegerischen Auseinandersetzungen, vor allem in Kroatien, in Bosnien und Herzegowina und im Kosovo, meldeten sich erstmals wieder Theologen der serbischen orthodoxen Kirche in der politischen Öffentlichkeit zu Wort und reaktivierten in ihrem Protest gegen die Auflösung Jugoslawiens alte Stereotypen, die auch in Miloševićs nationalserbisches Konzept paßten. Dabei betonten sie das einzigartige Leid, das die Serben seit dem Zweiten Weltkrieg zu 776

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erdulden hätten und das noch nicht beendet sei. Die Auflösung Jugoslawiens wurde interpretiert wie jene im Zweiten Weltkrieg, beide Mal wurden der Vatikan als Kriegstreiber und der gesamte katholische Klerus als „williger Vollstrecker“ ausgemacht. Unter anderem beschuldigten hochrangige Vertreter der serbischen Orthodoxie die katholische Kirche, sie würde einen Feldzug gegen die Orthodoxie führen, ferner, daß der Anteil Roms an dem Jugoslawien-Konflikt jedermann bekannt sei. Stepinac wurde hierbei ebenfalls immer wieder als Archetyp eines katholischen Klerikers, dessen „Vergehen“ während der NDH-Zeit bekannt sei, erwähnt. 2011 wurde Dedijers Werk Jasenovac, das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan in sechster Auflage reproduziert, unter Beibehaltung der massiv überhöhten Zahlen von hier „durch Handlanger der katholischen Kirche“ getöteten Serben. In dieselbe Kerbe schlug der Direktor des Museums der Opfer des Genozids in Belgrad, der lange Jahre im diplomatischen Dienst Tito-Jugoslawiens gestandene Milan Bulajić. Die Hauptaussage seiner zahlreichen Publikationen bestand im Nachweis, daß die serbische Bevölkerung einem „erneuten Genozid“ unterliege und der Vatikan eine tiefe Schuld am Zusammenbruch Jugoslawiens trage. Vor allem Dedijers and Bulajićs Veröffentlichungen hatten erheblichen Anteil an der Ausgestaltung und Popularisierung des Feindbildes Stepinac in Serbien. b) Der „Schöpfer der katholischen kroatischen Kirche“ Je mehr Stepinac in der jugoslawischen Perspektive dämonisiert wurde, desto unantastbarer erschien er in kroatischer Sichtweise, die zwischen einer religiösen und einer nationalen Ausrichtung oder einer Mischung aus Beidem oszillierte. Stepinac wurde zu einer politischen und nationalen Integrationsfigur für viele Kroaten, die in ihm den unerschrockenen Widersacher gegen die Kommunisten seit 1945, aber auch gegen die Schreckensherrschaft der Ustaša erkannten. Im Bestreben, die „Wahrheit“ über Stepinac zu schreiben, die von sozialistisch-jugoslawischen Publikationen entstellt wurde, war es vor allem die kroatische Exilpresse, die dann über das Ziel hinausschoß und Stepinac in übermenschliche Höhen erhob: Stepinac wurde geradezu als „göttlicher Mensch“ geschildert, als eine Person, deren Größe alle irdischen Räume übersteige und förmlich für die Unsterblichkeit geboren sei. Mit der staatlichen Unabhängigkeiterklärung Kroatiens 1991, gefolgt vom Angriff der Jugoslawischen Volksarmee auf kroatische Orte, wurde Stepinac schnell in die Tagespolitik Kroatiens einbezogen. Als Akt der demonstrativen Emanzipation aus dem Sozialismus verabschiedete das neue kroatische Parlament am 1�. Februar 1992 eine Deklaration, in der sie den politischen Prozeß gegen Stepinac 19�6 verurteilte. Stepinac sei deshalb vor ein Schaugericht gestellt worden, weil er gegen die Gewalt, die Verbrechen und die schrecklichen Grausamkeiten der kommunistischen Behörden im Zweiten Weltkrieg ebenso agiert habe, um Verfolgte ohne Rücksicht auf ihre Nationalität und religiöse Denomination zu schützen. Der Grund für seine Verurteilung sei sein Widerstand dagegen gewesen, ein Schisma der katholischen Kirche herbeizuführen. Im postjugosla777

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wischen Kroatien wurde Stepinac medial als Volksheld stilisiert und kommerzialisiert, indem seine Persönlichkeit bei Festivals, bei sonstigen Veranstaltungen, in der Unterhaltungsmusik und auf Briefmarken dargestellt und gefeiert wurde. Innerhalb der katholischen Kirche Kroatiens genoß Stepinac zeitlebens und postum große Verehrung. Dabei war der Besuch seiner viel frequentierten Begräbnisstätte in der Zagreber Kathedrale für viele Gläubige ein religiöses Bedürfnis, das aber auch als Akt der Ablehnung des Tito-Staates zu interpretieren war. Während der jugoslawischen Zeit übernahmen die katholische Presse und vor allem Kardinal Franjo Kuharić, der von Stepinac zum Priester geweiht worden war und nach Kardinal Franjo Šeper sein übernächster Nachfolger wurde, die Erinnerung an Stepinac und seine Verteidigung in der Öffentlichkeit. An jedem Jahrestag seines Todestages hielt Kuharić in der Zagreber Kathedrale Gedenkpredigten, bei denen er aktuelle Themen immer wieder auf Stepinac bezog. 1970 predigte er gegen die ausufernde Liberalisierung und zitierte Stepinac als Lehrer des Glaubens und der Sittlichkeit. 1980 ging es ihm um den Einsatz der katholischen Kirche für die Menschenrechte, wobei er sich auf Stepinac und auf dessen Einsatz für Verfolgte im Ustaša-Regime berief. Für Kuharić selbst war Stepinac gleichzusetzen mit dem Fundament der katholischen Kirche in Kroatien, sie sei die Stepinčeva crkva (Kirche von Stepinac), und sein Erbe gelte es zu bewahren. Im Jahr 1980 begann der kirchliche Kanonisierungsprozeß. Den ersten Schritt dazu hatte der damalige Apostolische Administrator des Zagreber Erzbistums, Kuharić, bereits 1969 initiiert; 1979 legte Kardinal Franjo Šeper als Präfekt der Glaubenskongregation dem Heiligen Vater eine erneute Bitte vor. Die Seligsprechung erfolgte schließlich durch Papst Johannes Paul II. am 3. Oktober 1998 im Wallfahrtsort Marija Bistrica nordwestlich von Zagreb. Dieses Ereignis, das in die schwere Zeit der staatlichen Konsolidierung Kroatiens fiel, wurde entweder direkt oder durch die Fernsehübertragung von nahezu allen (katholischen) Kroaten verfolgt. 1998, gleichzeitig das Jahr des 100. Geburtstages, wurde von der kroatischen Kirchenleitung zum „Stepinac-Jahr“ erhoben; zwei Gedenkmünzen wurden zur Feier des Jubiläums seiner Geburt geprägt. Kardinal Božanić bezeichnete diesen in seinem Hirtenbrief zum hundertsten Jahrestag der Geburt des Gottesdieners Kardinal Alojzije Stepinac als die „leuchtendste Gestalt der katholischen Kirche Kroatiens“. Zur Zeit wird seine Heiligsprechung vorbereitet. Für Gläubige bestehen im Großraum Zagreb drei Orte, an denen Stepinac selbst wirkte und die in völlig unterschiedlicher Weise Wallfahrtsorte auch zu seinen Ehren wurden. In der Gemeinde Krašić, sein Geburts- und Sterbeort, wurde sein Pfarrhaus mit einem bescheidenen Museum für Besucher geöffnet. Es konnte aber dadurch, daß es kein Massen-Wallfahrtsort wurde, seinen ursprünglichen Charakter bewahren. Im kroatischen Marienheiligtum Marija Bistrica, dem Ort der Seligsprechung, stellte man eine Büste von Stepinac auf, zudem wurde eine zu einem Platz hin geöffnete Kirche nach ihm benannt. Überdies wurde der Dom von Zagreb mit seinem Grabmal als Bischofskirche bedeutsam; gleich neben der Kathedrale eröffnete man 2007 ein Stepinac-Museum. Damit wurde Stepinac ein Platz in der Öffentlichkeit eingeräumt. 778

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Insgesamt war die Erinnerung an Stepinac generationenüberdauernd Konjunkturen unterworfen, die oftmals von der Politik diktiert wurden und sowohl inklusiv kroatischkatholisch als auch exklusiv jugoslawisch identitätsstiftend und emotional hoch aufgeladen wirkten. Dieses politische Element hat sich in den letzten Jahren, parallel zur politischen Konsolidierung vor allem Kroatiens und Serbiens, zunehmend reduziert, allerdings wird es wohl niemals völlig das Deutungsmuster für Stepinac als kollektiven Erinnerungsort verlassen, weil die Bewertung des Kardinals in vielem abhängig ist von der Kritikbereitschaft gegenüber dem Tito-Regime.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen stanoJević, Branimir B.: Alojzije Stepinac zločinac ili svetac (Dokumenti o izdaji i zločinu) [Aloizije Stepinac, Verbrecher oder Heiliger (Dokumente über Verrat und Verbrechen)]. Beograd 1985; stepinac, Alojzije: Pisma zagrebačkoga nadbiskupa Alojzija Stepinca predsjedniku Narodne vlade Hrvatske Vladimiru Bakariću godine 19�5 [Briefe des Zagreber Erzbischofs Alojzije Stepinac an den Vorsitzenden der Volksregierung Kroatiens, Vladimir Bakarić, im Jahr 19�5]. In: Croatica Christiana Periodica 16/29 (1992) 137–180; štaMbuK-šKaLić, Marina/KoLanović, Josip/razuM, Stjepan (Hg.): Proces Alojziju Stepincu. Dokumenti [Der Prozeß gegen Alojzije Stepinac. Dokumente]. Zagreb 1997; stepinac, Alojzije: Propovijedi, govori, poruke. 193�.–19�0. [Predigten, Reden, Mitteilungen. 193�–19�0]. Hg. v. Juraj Batelja. Zagreb 2000; Jandrić, Berislav: Kontroverze iz suvremene hrvatske povijesti. Osobe i događaji koji su obilježili hrvatsku povijest nakon Drugoga svjetskog rata [Kontroversen zur zeitgenössischen kroatischen Geschichte. Personen und Erlebnisse, die die kroatische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben], Bd. 1. Zagreb 2006; bateLJa, Juraj (Hg.): Blaženi Alojzije Stepinac. Životopis [Der Selige Alojzije Stepinac. Biographie]. Zagreb 2010; bateLJa, Juraj (Hg.): Dokumenti I, br. 1.–399. (1933.–1943.) [Dokumente I, Nr. 1–399 (1933–1943)]. Zagreb 2010; ders. (Hg.): Dokumenti II. br. �00.–691. (19��. –1998.) [Dokumente II, Nr. �00–691 (19��–1998)]. Zagreb 2010; vraneKović, Josip: Dnevnik. Život u Krašiću zasužnjenog nadbiskupa i kardinala Alojzija Stepinca (5. XII. 1951.– 10. II. 1960.). Svesci 1.–5. [Tagebuch. Das Leben des Erzbischofs und Kardinals Alojzije Stepinac in Krašić im Arrest (5. 12. 1951–10. 2. 1960). Die Hefte 1–5]. Hg. v. Juraj bateLJa. Zagreb 2011.

b) Darstellungen o’brien, Anthony Henry: Archbishop Stepinac, the Man and his Case. Westminster 19�7; Pattee, Richard: The Case of Cardinal Aloysius Stepinac. Milwaukee 1953; piovaneLLi, Maricilla: Un vincitore all’Est ... Profilo biografico del Cardinale Luigi Stepinac. Milano 1966; aLexander, Stella: The Triple Myth. A Life of Archbishop Alojzije Stepinac. Boulder, CO/New York 1987; niKoLić, Vinko (Hg.): Stepinac mu je ime. Zbornik uspomena, svjedočanstava i dokumenata [Sein Name ist Stepinac. Sammelband mit Erinnerungen, Zeugenaussagen und Dokumenten]. München/Barcelona 1978–1980; Mužić, Ivan: Pavelić i Stepinac [Pavelić und Stepinac]. Split 1991; beniGar, Aleksa O.: Alojzije Stepinac. Hrvatski kardinal [Alojzije Stepinac. Der kroatische Kardinal]. Zagreb 21993 [1197�]; bauer, Ernest: Aloisius Kardinal Stepinac. Ein Leben für Wahrheit, Recht und Gerechtigkeit. Recklinghausen 21995 [11979]; boecKh, Katrin: Monolog der Ideologie. Der Prozeß gegen Erzbischof Stepinac 19�6 in der

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Katrin Boeckh damaligen jugoslawischen Presse. In: PrceLa, Frano (Hg.): Dialog. Auf dem Weg zur Wahrheit und zum Glauben/Dijalog. Na putu do istine i vjere. Mainz/Zagreb 1996, 325–336; buchenau, Klaus: Heiliger oder Kriegsverbrecher? Über den Zagreber Erzbischof Alojzije Stepinac und seine Wahrnehmung bei Kroaten und Serben. In: Der christliche Osten 53/3–� (1998) 1�7–162; Krišto, Jure: Katolička crkva i Nezavisna Država Hrvatska. 19�1.–19�5. [Die katholische Kirche und der Unabhängige Staat Kroatien. 19�1–19�5], Bd. 1–2. Zagreb 1998; rivelLi, Marco Aurelio: L’archivescovo del Genocidio. Monsignor Stepinac, il Vaticano, e la dittatura ustascia in Croazia, 1941–1945. Milano 1998; Jandrić, Berislav: Državno-partijska priprema javnosti za suđenje nadbiskupu Stepincu: „Proglašen krivim i prije započetog kaznenog postupka“ [Die Vorbereitung der Öffentlichkeit auf die Verurteilung von Erzbischof Stepinac durch die Staatspartei: „Schuldig erklärt schon vor Beginn des Strafverfahrens“]. In: Croatica Christiana Periodica 2�/�6 (2000) 171–18�; buchenau, Klaus: Orthodoxie und Katholizismus in Jugoslawien 1945–1991. Ein serbisch-kroatischer Vergleich. Wiesbaden 2004; aKMadža, Miroslav: Katolička crkva u Hrvatskoj i komunistički režim 19�5.–1966. [Die katholische Kirche in Kroatien und das kommunistische Regime 1945–1966]. Rijeka 2004; GitMan, Esther: A question of judgment: Dr. Alojzije Stepinac and the Jews. In: Review of Croatian History 2/1 (2006) �7–72; Jandrić, Berislav: Kontroverze iz suvremene hrvatske povijesti. Osobe i događaji koji su obilježili hrvatsku povijest nakon Drugoga svjetskog rata [Kontroversen zur zeitgenössischen kroatischen Geschichte. Personen und Erlebnisse, die die kroatische Geschichte nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt haben], Bd. 1. Zagreb 2006; Kardinal Stepinac. Svjedok istine. (Deseta obljetnica beatifikacije kardinala Alojzija Stepinca, 1998.–2008.) [Kardinal Stepinac. Zeuge der Wahrheit. (Das zehnte Jubiläum der Seligsprechung von Kardinal Alojize Stepinac, 1998–2008)]. Zagreb 2009; rychLaK, Ronald J.: Cardinal Stepinac, Pope Pius XII, and the Roman Catholic Church during the Second World War. In: The Catholic Social Science Review 1� (2009) 367–383; vuJeva, Tomislav, Kollaboration oder begrenzte Loyalität? Die historiographische Diskussion um Erzbischof Alojzije Stepinac von Zagreb und den katholischen Klerus im Unabhängigen Staat Kroatien (1941–1945). Wien 2009; GitMan, Esther: When Courage Prevailed. The Rescue and Survival of Jews in the Independent State of Croatia 1941–1945. St. Paul, MN 2011; dedijer, Vladimir: Jasenovac: Das jugoslawische Auschwitz und der Vatikan. Freiburg 62011 [11988].

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Papst Johannes Paul II. I. Zusammenfassung. – II. Kindheit und Jugend. – III. Kleriker im kommunistischen Polen. – IV. Der Papst und der Zusammenbruch des Kommunismus. – V. Europäische Konzeptionen und Marienverehrung. – VI. Der Papstkult und seine Symbiosen. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Johannes Paul II. (1978–2005) zählt zu den bedeutendsten Päpsten der Neuzeit. Sein Pontifikat ist eng mit der Überwindung des Kommunismus und der Marienverehrung verknüpft. Daher galt und gilt er nicht nur als religiöse Führungsgestalt, sondern auch als menschlich-politische Größe. Vor allem für seine polnischen Landsleute war er nach seiner Papstwahl ein starker Hoffnungsträger; nach der politischen Wende von 1989/90 wurde er Teil des nationalen Mythos.

II. Kindheit und Jugend Karol Wojtyła wurde am 18. Mai 1920 in der polnischen Kleinstadt Wadowice in der Nähe von Krakau geboren. Vor allem sein Vater, ein österreichischer Offizier, prägte mit seiner tiefen Frömmigkeit und Disziplin Kindheit und Jugend des intelligenten Knaben. Starken Einfluß übte auf ihn auch die eigene Nationalkultur aus, die, zutiefst von der katholischen Kirche geprägt, die polnische Identität stärker bestimmte als Politik und Wirtschaft. Seine Familie pflegte die typisch polnische Volksfrömmigkeit in Form von Wallfahrten und Marienverehrung, die in Polen den Charakter eines nationalen Kults hatten. Nach dem Besuch der örtlichen Grundschule wechselte er 1930 auf das Gymnasium von Wadowice, wo er sich intensiv mit der polnischen Nationalliteratur befaßte und mit 14 Jahren begann, Theater zu spielen. Zuerst trat er mit patriotischen Liedern und Versen in einem Schülertheater im Wald auf, dann spielte er auch mit Berufsschauspielern und gewann Preise bei Rezitationswettbewerben. Zusammen mit seinem Vater siedelte Karol nach dem Abitur 1938 nach Krakau über, um dort an der JagiellonenUniversität Literatur zu studieren. Diese schöngeistige, glückliche Zeit wurde durch den Ausbruch des Zweiten Weltkriegs jäh unterbrochen; Anfang November 1939 wurde die Universität geschlossen, die Professoren wies man in ein Konzentrationslager ein. Geistig-spirituell verarbeitete Karol die traumatischen Erfahrungen von Krieg, Besatzung, Verhaftungswellen und Verlust der staatlichen Identität durch Schreiben von Dramen und Gedichten. Ein einfacher Schneider brachte ihm damals die Spiritualität des Karmels nahe und vermittelte ihm Einblicke in die spanische Mystik einer Teresa von Avila beziehungsweise des Johannes vom Kreuz, die auf das Kreuz Christi verwiesen und auf ein ganz Gott geweihtes Leben. Da Wojtyła mit Deportation und Zwangsarbeit 781

Stefan Samerski

rechnen mußte, begann er im Herbst 19�0 in einem Steinbruch zu arbeiten. Im ersten Winter schaufelte er bei bis zu minus 30 Grad auf dem Grund der Grube Kalkstein in eine Lore. Die Arbeitswelt machte auf ihn einen tiefen Eindruck, den er später auch theologisch-philosophisch und poetisch verarbeitete. Schon damals konnte Wojtyła alles um sich herum vergessen und sich im Gebet auf die Innerlichkeit zurückziehen. Die Kriegsund persönlichen Todeserlebnisse führten ihn zum Priestertum: Während der Arbeit sah er einen Kollegen vor seinen Augen sterben; am 18. Februar 19�1 fand er seinen Vater tot in der Wohnung auf; den einzigen Bruder hatte er schon 1932 verloren. Mit knapp 21 Jahren trat der Vollwaise in Krakau ins Priesterseminar ein und fand ein Vorbild im dortigen Erzbischof Adam Sapieha, einer bescheidenen, natürlichen Autorität, die mit den Nationalsozialisten couragiert umging und in jener Zeit zum Symbol der ungebrochenen Identität seines Volkes wurde. Nach einiger Zeit hatte sich Wojtyła mühsam eine philosophische Basis erarbeitet, die ihn gegen jeden radikalen Skeptizismus und moralischen Relativismus feite. Das damals übliche Studium von Aristoteles und Thomas von Aquin verwies ihn auf den Menschen als Ausgangspunkt des Philosophierens und Erkennens. Nach seiner Priesterweihe am 1. November 19�6 feierte er seine erste Messe in der Krypta des Krakauer Wawels, dem Zentrum des polnisch-nationalen und religiösen Gedächtnisses. III. Kleriker im kommunistischen Polen Zum weiteren Studium in Rom freigestellt, begann nun für Wojtyła eine Zeit des Reisens. Wann immer möglich, besuchte er zahlreiche Städte in Frankreich, Belgien, den Niederlanden und Italien und nahm dort Kontakt zur Arbeiterschaft auf. Nach seiner Promotion bei den Dominikanern kehrte er im Juni 19�8 in das kommunistisch regierte Polen zurück, wo er zunächst in der Provinz in der Pfarrseelsorge eingesetzt wurde. Dort organisierte er vordringlich die Jugendarbeit. Schon damals hatte er begriffen, daß die junge Generation die Zukunft der Kirche darstellte und die Laienaktivität unverzichtbar für die ansonsten stark klerikalisierte Kirche Polens war. So verbrachte er auch seine Ferien mit Jugendlichen sportlich im Kanu oder auf Skiern. Den Kommunismus lehnte er aus christlichen und philosophischen Grundsätzen ab, ohne seinem Wesen nach ein politischer Mensch zu sein. Ein Weggenosse urteilte über ihn, er sei „nicht links, nicht rechts und nicht einmal Nationalist“. Nach dem Tod von Sapieha 1951 wurde Wojtyła für zwei Jahre zur Habilitation mit einer Arbeit über Max Scheler in Krakau freigestellt. Dort schloß sich Ende 1953 eine akademische Lehrtätigkeit über die katholische Sozialethik, dann auch über Moralphilosophie an der Katholischen Universität Lublin an. Die Arbeit mit den Studenten war für ihn eine Art Versuchslabor; dort entstanden zahlreiche philosophische Traktate, die immer den Menschen als Person in den Mittelpunkt stellten. Seine ausgeprägte kommunikative Fähigkeit hatte er in der Seelsorge ausgebildet und pflegte sie auch später als Papst. 782

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Am �. Juli 1958 wurde Professor Wojtyła zum Weihbischof von Krakau ernannt. Der junge Bischof war kein aktiver Widerstandskämpfer, trug aber dazu bei, daß eine selbstbewußte junge Generation dem Sozialismus und der Dominanz der Partei einen „kulturellen Widerstand“ entgegensetzte. Ihm war – so später auch als Papst – die kirchliche Durchdringung der Kultur und der Medien sehr wichtig. Der Krakauer Weihbischof trat zwar kompromißlos für kirchliche Belange ein, mied aber, anders als beispielsweise Primas Stefan Wyszyński, eine direkte Konfrontation mit dem Regime. Er setzte auf Gespräche und symbolische Handlungen, wenn es beispielsweise um den Bau neuer, seelsorgerlich notwendiger Kirchen ging. Bekanntestes Beispiel ist die sozialistische Modellstadt Nowa Huta am Rande Krakaus, für die kein Gotteshaus geplant war. Schon 1959 hielt er dort die Christmette unter freiem Himmel ab. Erst 1967 rang man dem Regime eine Baugenehmigung ab, so daß in den folgenden zehn Jahren ein gewaltiger Kirchenbau in der Form einer rettenden Arche errichtet werden konnte, die Maria, der Nationalpatronin und „Königin Polens“, geweiht wurde. Schon am Tag nach der Erteilung der Baugenehmigung hatte der 1964 zum Oberhirten der Diözese avancierte Wojtyła 196� den ersten Spatenstich gesetzt. Im Mai 1977 wurde die Kirche von Wojtyła mit den Worten eingeweiht: „Dies ist keine Stadt von Menschen, […] die nach den Gesetzen und Regeln der Produktion und des Konsums manipuliert werden können. Dies ist eine Stadt der Kinder Gottes.“ Prägend blieb für den jungen polnischen Bischof auch das Zweite Vatikanische Konzil, das die Kirche modernisieren und den aktuellen Erfordernissen der Welt anpassen sollte. Wojtyła besuchte jede Sitzung des Konzils und erlebte hier nach der Isolation im kommunistischen Polen die Weltkirche als universale Gemeinschaft. Das Papsttum begriff er dort als integrierenden Mittelpunkt einer immer vielfältiger werdenden globalen Kirche, er knüpfte zahlreiche Freundschaften – vor allem auch zu seinen deutschen Mitbrüdern – und arbeitete am Konzilsende an der polnischen Vergebungsbitte gegenüber den Deutschen. Überraschend wurde der erst Achtundfünfzigjährige am 16. Oktober 1978 als erster Nichtitaliener nach �55 Jahren zum Papst gewählt. Er trat dieses Amt ganz unkonventionell, offen und schlicht an, machte aber rasch deutlich, daß er seine polnische Marienfrömmigkeit in sein neues Amt integrieren würde. In Fragen der katholischen Doktrin gab es durch ihn hingegen keine Veränderungen. Die Presse überschwemmte die Öffentlichkeit in den ersten Wochen mit Meldungen über einen Pontifex, der sich selber Rühreier kochte, Ski fuhr, Freunde im Krankenhaus besuchte und mit Bekannten zu Abend aß. Man war begeistert über den sportlichen Papst, der sich ganz als Seelsorger zeigte und mit einigen verstaubten Traditionen im Vatikan brach. Der Schwerkraft der römischen Kurie entzog er sich durch eigene Vorstellungen, eine bislang unbekannte Reisetätigkeit und nicht zuletzt durch seinen eigenen personellen Gestaltungswillen innerhalb eines knapp siebenundzwanzigjährigen Pontifikats.

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IV. Der Papst und der Zusammenbruch des Kommunismus Kurz nach der Wahl von Johannes Paul II. befürchtete der sowjetische In- und Auslandsgeheimdienst (KGB) eine Destabilisierung des Ostblocks durch die innenpolitische Erschütterung Polens und der Ukraine, wo der verbotenen griechisch-katholischen Kirche eine gewisse nationale Schlüsselrolle zukam. Auch der damalige sowjetische Außenminister Andrej Gromyko, der bereits wenige Monate später im Vatikan Geheimgespräche aufnahm, äußerte in seinen Erinnerungen: „Der Vatikan hat viele Möglichkeiten zur Beeinflussung seiner Herde.“ Tatsächlich führte der neue Papst aus Polen in der vatikanischen Ostpolitik gleich zu Anfang eine Wende herbei, obgleich der langgediente vatikanische Experte auf diesem Gebiet, Agostino Casaroli, 1979 Chef des päpstlichen Staatssekretariats wurde. Johannes Paul II. wußte, daß die kommunistischen Regime hinter dem Eisernen Vorhang von innen her marode waren und kaum Rückendeckung in der Bevölkerung hatten. Als früherer polnischer Bischof stand er der größten Oppositionsbewegung seines Landes vor, die mit beständigen öffentlichen Hinweisen auf Menschenrechte und Religionsfreiheit einen Keil zwischen Machthaber und Volk treiben konnte. Auch als Papst unterstützte er bis zur Wende die christlichen Zellen des Widerstands aktiv und mahnte zu Besonnenheit und vorsichtigem Vorgehen. Unzweifelhaft hat sich der Papst bis 1991 mehr Zeit für die Angelegenheiten Ostmittel- und Osteuropas genommen als in der zweiten Hälfte seines Pontifikats. Manche Wissenschaftler sprechen sogar von einer deutlichen Zäsur innerhalb seiner Regierungszeit. Vielleicht noch wirksamer als die diplomatischen und politischen Manöver waren seine ersten Pastoralreisen nach Polen, allen voran die von 1979, die wie seine Papstwahl eine unkalkulierbare Breitenwirkung in seiner Heimat und in anderen Ostblockstaaten auslösten. Vor allem die stets wiederholten Worte „Fürchtet Euch nicht!“ flößten der Bevölkerung politischen Widerstandswillen ein und reduzierten zusammen mit seiner charismatischen Persönlichkeit Lethargie und Pessimismus. Die erste Polenreise glich einem Triumphzug: Geschätzte 13 Millionen erlebten den Papst persönlich, nahezu die Gesamtbevölkerung im Rundfunk und Fernsehen – und das, obwohl die staatlichen Behörden die Zugangswege und Verkehrsverbindungen zu den Papstveranstaltungen deutlich erschwert hatten. In Warschau vermied Johannes Paul jedes politische Wort, schaffte aber sofort den so typischen Schulterschluß zwischen Kirche und nationaler Identität, so daß er nur noch ein religiöses Zeugnis ablegen mußte. Dennoch sprach er zaghaft davon, daß es „ohne ein unabhängiges Polen auf der Karte Europas kein gerechtes Europa geben kann“. Johannes Paul konnte dann auch die dortigen Bischöfe zum Dialog mit dem Regime aufrufen und gleichzeitig darauf hinweisen, daß „dem polnischen Episkopat heute ein polnischer Papst zur Seite steht“. In der Arbeitervorstadt Nowa Huta schaltete sich der Pontifex direkt in ideologische Fragen ein, indem er verneinte, daß der Mensch als Produktionsmittel zu verstehen sei. Nur wenige Monate später brach bezeichnenderweise in Polen ein Arbeiteraufstand aus, der für die sozialistischen Regierungen des gesamten Ostblocks eine ernstzunehmende Gefahr bedeutete. Im Juli 1980 traten die Arbeiter in verschiedenen polnischen 78�

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Städten in den Streik und gründeten die Solidarność, die erste freie Gewerkschaft des Ostblocks. An den Werkszäunen hingen nicht nur nationale Symbole und Bilder der Muttergottes von Tschenstochau, sondern auch Portraits des Papstes. Sein Besuch hatte offensichtlich in der Heimat die Hoffnungslosigkeit und Furcht vertrieben. Der Aufstand breitete sich rasch über das ganze Land aus und führte Ende August 1980 zur Anerkennung der inzwischen acht Millionen Mitglieder zählenden Gewerkschaft durch das Regime, wobei der Danziger Arbeiterführer Lech Wałęsa bezeichnenderweise mit einem Papst-Kugelschreiber signierte. Kurz zuvor hatte das Kirchenoberhaupt die Gewerkschaftsführung dringend gebeten, „große Geduld und Maßhalten“ zu üben. Der Kurs der strikten Gewaltlosigkeit wurde dann auch von allen Oppositionsbewegungen in Polen und den übrigen Ostblockländern praktiziert, was nicht unerheblich zu ihrem Erfolg beitrug. Als Ende 1980 ein blitzartiger Einmarsch der Warschauer-Pakt-Staaten drohte, richtete der Papst Mitte Dezember einen Brief an den sowjetischen Staats- und Parteichef Leonid Brežnev, in dem er um den Abbau der Spannungen bat und die bevorstehende Invasion mit dem Überfall der Nationalsozialisten auf Polen 1939 verglich. Einen Monat später empfing Johannes Paul den Danziger Arbeiterführer Wałęsa im Vatikan und lobte dessen reformerische Arbeit für das Gemeinwohl Polens. Überall im Land gingen die Streiks und Auseinandersetzungen mit den Regierungsorganen weiter, während sich der Papst gegen Konfrontation und für die Fortsetzung des Dialogs mit der Regierung aussprach. Es waren nur etwa acht Monate nach der Registrierung der Solidarność, als der Attentäter Mehmet Ali Ağca am 13. Mai 1981 bei einer Generalaudienz in Rom auf den Papst schoß und ihn lebensgefährlich verletzte. Der Mordauftrag konnte später bis zum sowjetischen Militärgeheimdienst (GRU) zurückverfolgt werden. Als dann am 13. Dezember 1981 das Militär in Polen die Macht übernahm und das Kriegsrecht verhängte, war die Weltöffentlichkeit schockiert. Der Papst entsandte schon am 18. Dezember einen Sondernuntius nach Warschau, der mündlich und schriftlich auf die Aufhebung des Kriegsrechts drang und darum bat, den „seit August 1980“ beschrittenen friedlichen Dialog zur „Erneuerung der Gesellschaft“ fortzusetzen. Im Ziel, den Kommunismus im Osten niederzuringen, mit dem neu gewählten USamerikanischen Präsidenten Ronald Reagan einig, ergriff der Papst für die Solidarność als politisches Sprachrohr der polnischen Bevölkerung zwar nicht direkt Partei, hob aber ihre gesellschaftspolitische Arbeit seit Anfang 1982 deutlich in der Öffentlichkeit hervor. Die Unterstützung des Papstes war aller Wahrscheinlichkeit nach aber auch materiell. Während seiner beiden Polenreisen in den Jahren 1983 und 1987 erklärte sich der Pontifex wiederholt zum Selbstbestimmungsrecht der polnischen Gesellschaft. In Danzig rief er die Polen ganz offen auf, „das Recht der Arbeiter auf Selbstverwaltung, auf unabhängige, autonome Gewerkschaften“ zu verteidigen. Dabei gab sich Johannes Paul immer stärker als messianischer und moralischer Erwecker seiner Nation. Einen gewaltigen Impuls für den politischen Wandel in Osteuropa bedeutete der Amtsantritt Michail Gorbačevs als sowjetischer Parteichef 1985 mit seiner Politik der Perestrojka und des Glasnosť. 1988, im Jubiläumsjahr der Taufe Rußlands, drückte der 785

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Papst die Hoffnung auf eine Respektierung der bis dato von der russischen Orthodoxie verfolgten Unierten Kirche der Ukraine sowie auf die Fortsetzung des Entspannungsprozesses „im gesellschaftlichen Leben“ der Sowjetunion aus. Er verband diesen unmißverständlichen Appell mit dem Ruf zur Vereinigung Europas, dessen westliche und östliche kulturelle Traditionen zusammengehörten „wie die beiden Lungen eines Organismus“. Er ließ Gorbačev im Juni 1988 sogar einen Privatbrief im Kreml aushändigen, worin er die sowjetisch-amerikanische Annäherung in Rüstungsfragen lobte und zur weiteren Liberalisierung der Religionspolitik aufrief. Ideologisch ging er allerdings in jenem Jahr auf Distanz zu beiden Wirtschaftssystemen, was einige Verwirrung stiftete: In seiner Enzyklika Sollicitudo rei socialis geißelte er gleicherweise den „marxistischen Kollektivismus des Ostens“ und den „liberalistischen Kapitalismus des Westens“. In dieser Hinsicht konnte der Zusammenbruch des Kommunismus von 1989/90 für den Papst keinen Sieg auf ganzer Linie bedeuten, sondern nur die Lösung eines – wenn auch gewichtigen – Problems. In Polen war unter starker Beteiligung der Kirche im Juni 1989 die kommunistische Herrschaft offiziell zu Ende gegangen; Ungarn hatte bereits seit Mai des Vorjahres einen eigenständigen wirtschaftlichen Reformkurs eingeschlagen und auch außenpolitisch 1989 sehr selbständig agiert, so daß der gewaltlose Systemwechsel durch die Parlamentswahlen vom März 1990 besiegelt werden konnte. In der Tschechoslowakei schwenkte die kommunistische Führung des Landes seit Ende 1989 auf den Reformkurs Gorbačevs ein. Bis Ende 1990 folgten dann auch alle übrigen Staaten des Warschauer Pakts. Die ersten Erfolge stellten sich für den Papst sofort ein: Bis zum Sommer 1990 konnte die römische Kurie alle verwaisten Bischofssitze in Osteuropa besetzen, sei es in Rumänien oder der Ukraine. Diplomatische Beziehungen wurden aufgenommen, Kirchenstaatsverträge ausgehandelt und die unterdrückten, mit Rom verbundenen Kirchen zu neuem Leben erweckt. Im Frühjahr 1990 betrat Johannes Paul erstmals ein postkommunistisches Land, die Tschechoslowakei, wo er die Einheit des christlichen Europa beschwor und vor praktischem Materialismus sowie religiösem Indifferentismus warnte. Auch bei seiner nächsten Reise in sein Heimatland rief der Papst zwischen Freude und Zukunftssorgen dazu auf, in einem freien und pluralistischen Staat nicht auf moralische Normen in der Gesetzgebung und im öffentlichen Leben zu verzichten. Zunehmend geißelte er ungehemmte kapitalistische Entwicklungen und den Werteverfall in den sich neu formierenden Gesellschaften. Mit den Jahren wurde er damit selbst seinen Landsleuten mehr und mehr fremd. Weltweit dagegen führten die zahlreichen lehramtlichen Äußerungen zur päpstlichen Soziallehre zu einer wahrnehmbaren Rezeption: Marktwirtschaftliche und soziale Prinzipien stießen überall auf Akzeptanz wie auch die von der Kirche seit dem 19. Jahrhundert geforderten Solidaritäts- und Subsidiaritätsprinzipien. Als der Papst mit Helmut Kohl im Juni 1996 das Brandenburger Tor durchschritt, war für ihn der Zweite Weltkrieg und die in Jalta zementierte Aufteilung Europas in zwei Blöcke symbolisch beendet: „Herr Bundeskanzler! […] Die Mauer ist gefallen, Berlin und Deutschland sind nicht mehr geteilt. Und Polen ist frei.“ 786

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Papst Johannes Paul II. im Jahr 1991 bei einem Empfang in Warschau mit dem damaligen polnischen Staatspräsidenten Lech Wałęsa. Beide Staatsmänner standen sich stets nahe und unterstützten sich politisch gegenseitig vor und nach der politischen Wende. Dadurch nahmen beide Teil am nationalen Mythos. Bildnachweis: Accattoli, Luigi (Hg.): Johannes Paul II. Köln 2005 [Graz u. a. 12000], 89.

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V. Europäische Konzeptionen und Marienverehrung So wie Johannes Paul immer wieder betonte, daß Europa mit zwei Lungenflügeln – einem westlichen und einem östlichen, slawischen – atme, so förderte er auch ganz praktisch das zusammenwachsende Europa und die Europäische Gemeinschaft. Als einer der ersten Staaten nahm der Vatikan zu den sich neu formierenden Staaten (besonders im Baltikum und im ehemaligen Jugoslawien) diplomatische Beziehungen auf und verstärkte damit deren politischen Emanzipationsprozeß. An der Kurie waren die östlichen Sprachen schon seit etlichen Jahren stärker präsent als zuvor. Vor allem Polnisch hörte man in Rom seit 1978 mehr und mehr: Für die päpstliche Presse und den Rundfunk richtete man eigene Sektionen ein, das Kurienpersonal wurde verstärkt mit Polen aufgefüllt und die Kommunikation stark ausgebaut. Das alles führte schon zu Lebzeiten des Papstes dazu, daß er zu einem populären Geschichtshelden avancierte, der nicht nur den Stolz der Nation beflügelte, sondern auch mit dem Schicksal Polens unlösbar verknüpft wurde. Die Nähe von Papst und Polen manifestierte sich in neun Besuchen ganz deutlich. Diese innere Verbundenheit äußerte sich ferner in der intensiven Marienverehrung, die das Pontifikat von Johannes Paul II. prägte und in alle Welt ausstrahlte. Gleich zu Anfang fügte er ein großes ‚M‘ in sein Papstwappen ein, das er mit dem Leitspruch Totus tuus (Ganz dein) versah. An alle Teilnehmer seiner Privatmessen verschenkte er Rosenkränze und besuchte mindestens einmal alle wichtigen Marienwallfahrtsorte der Welt. Immer wieder empfahl er den Gläubigen das Gebet zu Maria und erweiterte 2002 die drei sogenannten Geheimnisse (den freudenreichen, schmerzhaften und glorreichen Rosenkranz) um ein weiteres: den lichtreichen Rosenkranz, der das Wirken Jesu auf Erden meditieren soll. Viele päpstliche Dokumente enden mit Passagen über die Bedeutung der Muttergottes, der zu Ehren er 1987/88 ein Gedenk- und Gebetsjahr und 2002/03 ein Rosenkranzjahr ausrief. Auch sein Überleben nach dem Attentat von 1981 führte er auf die Hilfe Mariens zurück und ließ das Projektil 1992 in die Krone der Marienfigur des portugiesischen Wallfahrtsorts Fatima einsetzen. Diese besondere Beziehung zur Muttergottes stammte aus seiner Heimat Polen, wo Maria seit dem 17. Jahrhundert als unbestrittene Identifikationsfigur und Landespatronin verehrt wird. Und das öffentliche Bekenntnis zu Maria als Schutzpatronin des Landes – nicht der Regierung – hatte in der Zeit des Kommunismus bereits eine Art Oppositionscharakter: Maria war in den Augen des Papstes so etwas wie eine uneinnehmbare „Festung, die der eindringende Feind nicht zu bezwingen vermochte“. Der Papst bezog diese Wendung auf das polnische Nationalheiligtum Tschenstochau, doch lassen sich diese Worte auch auf die moderne Situation des Glaubens in der Auseinandersetzung mit Irrlehren und dem Zeitgeist übertragen. Maria beherrschte für ihn die Geschichte und enthüllte als apokalyptische Frau die ganze Dramatik der Epoche. Waren solche päpstlichen Gedankengänge vor allem in Polen und in katholisch geprägten Ostblockstaaten nachvollziehbar, so erntete der Papst damit in der westlichen Welt wenig Beifall. Hier wird erneut deutlich, daß Johannes Paul II. stark aus seinen traditionellen kulturellen Wurzeln schöpfte, um dann als Pontifex selbst das kollektive Gedächtnis und den nationalen Mythos zu bedienen. 788

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VI. Der Papstkult und seine Symbiosen Trotz seiner historischen Verdienste um sein Heimatland und andere Ostblockstaaten kühlte sich dann in den letzten Regierungsjahren das Verhältnis von Papst und postkommunistischen Staaten merklich ab. Auch in Polen sprach man davon, daß der Pontifex seine Landsleute angesichts der rasanten wirtschaftlichen und politischen Entwicklung des Staates nicht mehr verstehe. Sein Tod 2005 verankerte ihn jedoch unumstößlich im kulturellen Gedächtnis Polens als Teil des nationalen Mythos; seine Seligsprechung im Jahr 2011 und die bevorstehende Heiligsprechung legitimieren die kultische Verehrung des Papstes. Immer wieder war vom größten Polen in der Geschichte die Rede, der durch sein Engagement gegen den Kommunismus auch andere Völker zur Freiheit geführt habe. Damit wurde er zu einer Gestalt des polnischen Messianismus, nachdem Polen durch Leiden auserkoren sei, andere Nationen zu retten. Dieser Gedanke, gepaart mit dem missionarischen Eifer des polnischen Katholizismus, stieß vor allem bei den Ostkirchen und den östlichen Nachbarn Polens auf Skepsis, fürchtete man doch von einer solchen charismatischen Gestalt zumindest Minorisierung, schlimmstenfalls Zurückdrängung. Auf der anderen Seite verehrten die romnahen Ostkirchen wie etwa die Armenier in der Ukraine oder die verschiedenen Unierten Kirchen, die in der Sowjetunion rigide Unterdrückung erleiden mußten, den Papst, der ihnen seit 1978 Unterstützung und jede Art von Aufwertung – bis zu einem Papstbesuch – zuteil werden ließ. So stößt etwa in der Lemberger Kathedrale der Armenier jeder Besucher auf Papstbilder und Gedenktafeln. Gerade Johannes Paul war es, der bei seinen Pastoralbesuchen immer wieder zur Versöhnung zwischen den Konfessionen beziehungsweise Religionen und den verschiedenen Ethnien und Staaten aufgerufen hatte. In Rumänien zeigte dieses Engagement aber kaum Widerhall, vor allem bei den orthodoxen Christen des Landes nicht, die Johannes Paul gern als Sprungbrett zur Annäherung an die orthodoxen Großkirchen (Rußland, Griechenland) genutzt hätte. Auch zu diesem Zweck förderte er die Verankerung orthodoxer Heiliger in der katholischen Kultpraxis. Tiefe, häufig sogar politisch motivierte Verehrung genießt Johannes Paul II. besonders in den katholisch geprägten postkommunistischen Staaten wie Litauen, der Slowakei, Kroatien und Slowenien. Hier ist er – ähnlich wie in Ungarn – eine der wichtigsten Heldenfiguren der Gegenwart, wobei der europäische Gedanke in der Memoria eine zunehmend geringere Rolle spielt. Im stark säkularisierten Tschechien etwa ist die Wertschätzung überwiegend auf den katholischen Volksteil beschränkt, obgleich der Papst unmittelbar vor der „Samtenen Revolution“ Agnes von Böhmen mit Signalwirkung heiliggesprochen hatte und damit auch den dortigen nationalen Mythos bedient und eine breit vermittelbare Persönlichkeit der Caritas sakralisiert hatte. Formen und Intensität der Verehrung sind in Polen am ausgeprägtesten. Nach der politischen Wende von 1989/90, also noch zu Lebzeiten des Papstes, hatte jede Stadt eine wichtige Verkehrsachse nach ihm benannt; keine größere Kirche kommt ohne eine zumindest lebensgroße Statue oder eine überdimensionierte Gedenktafel aus. Geschätzte tausend Schulen Polens tragen heute seinen Namen, und über 3.000 Denkmäler zieren das Land. Mit der Geschichte der gewerkschaftlichen und politischen Solidarność ist er 789

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untrennbar verknüpft. Die Stätten seines Wirkens und seiner Papstbesuche treten bei der Pflege der Memoria besonders hervor. Hier wird er nahtlos in die nationale Geschichtstradition des Landes eingeordnet. Besondere Präsenz findet sein Gedenken verständlicherweise an den polnischen Marienwallfahrtsorten, allen voran Tschenstochau als dem Gravitationszentrum neuzeitlichem national-religiösen Gedenkens des Landes. Hier hat ein anonymer Investor eine knapp 1� Meter hohe Papststatue gestiftet, die gegenüber dem Paulinerkloster aufgestellt wird. Das Gedenken an den polnischen Papst ist immer noch emotional aufgeladen, soll aber auch wirtschaftlichen und Werbezwecken dienen, da man mit der Statue hofft, ins „Guinness-Buch der Rekorde“ zu kommen. Durch die Abnahme des kirchlichen Einflusses auf Politik und Gesellschaft in Polen wurde Johannes Paul II. in den letzten Jahren von einem religiös-katholischen zu einem nationalpatriotischen Symbol, was sich auch in Wahlkämpfen und in parteipolitischen Auseinandersetzungen beobachten läßt. Die Symbiose von Papstdevotion und Marienverehrung läßt sich in den letzten Jahren aber auch in anderen Ländern beobachten. In den bedeutendsten marianischen Wallfahrtsorten des Landes stehen mittlerweile große Denkmäler von Johannes Paul II., zum Beispiel im kroatischen Marija Bistrica, so daß es hier zu einer kultischen Erweiterung und Aktualisierung der traditionellen Marienverehrung kommt. Der Intention des Papstes entsprechend, sind solche Wallfahrtsorte national-ethnisch übergreifende Kultorte geworden, die zugleich der Begegnung und der Aussöhnung dienen. Ein weiteres Phänomen dieses speziellen Papstkultes ist die außerordentliche Wertschätzung, die seinem Nachfolger Benedikt XVI. während seines Pontifikats zuteil geworden ist. Bekanntlich verband Johannes Paul II. und den deutschen gelehrten Kurienkardinal eine persönliche und fachlich fundierte Freundschaft. Nach seinem Amtsantritt veränderte Benedikt den stark polnisch geprägten Personalbestand der Kurie kaum; die Heimat seines Vorgängers besuchte er zudem auffallend früh. Die Ära des Johannes Paul II. im Vatikan ging daher eigentlich erst mit dem Rücktritt des Ratzinger-Papstes im Februar 2013 zu Ende. VII. Auswahlbibliographie a) Quellen Acta Apostolicae Sedis. Città del Vaticano 1978–2005; Johannes pauL ii.: Die Schwelle der Hoffnung überschreiten. Hamburg 1994; ders.: Auf, Laßt uns gehen! Erinnerungen und Gedanken. Augsburg 2004; ders.: Erinnerung und Identität. Gespräche an der Schwelle zwischen den Jahrtausenden. Augsburg 2005; Santo Subito. Dokumenty procesu beatyfikacyjnego Sługi Bożego Jana Pawła II [Sofort heilig. Dokumente des Beatifikationsprozesses des Diener Gottes Johannes Paul II.]. Bearb. v. Krzysztof sKoWrońsKi. Kraków 2005; Johannes pauL ii.: Die menschliche Liebe im göttlichen Heilsplan. Eine Theologie des Leibes. Kisslegg 22008 [Vallendar-Schönstatt 11985].

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b) Darstellungen MaLińsKi, Miescysław: Johannes Paul. Sein Leben von einem Freund erzählt. Freiburg/Br. 1979; Stark im Glauben. Johannes Paul II. in Polen. Die Reise in Bild und Text. Kevelaer 1979; fröhLinG, Thomas Friedrich: Johannes Paul II. Ein Leben. Berlin/Frankfurt/M. 1995; ross, Jan: Der Papst Johannes Paul II. – Drama und Geheimnis. Berlin 42002 [12000]; saMersKi, Stefan: Der Beitrag der Katholischen Kirche für die kulturell-nationale Identität Polens im 20. Jahrhundert. In: netteLMann, Lothar/ adaMczyK, Dariusz (Hg.): Zur Frage einer polnischen Nationalkultur. Hannover 2002, �1–57; WeiGel, George: Zeuge der Hoffnung. Johannes Paul II. Eine Biographie. Paderborn 2003; bartoszeWsKi, Władysław (Hg.): Die Kraft des Augenblicks. Begegnungen mit Papst Johannes Paul II. Freiburg/Br. 2004; rabanus, Joachim: Europa in der Sicht Papst Johannes Paul II. Paderborn 200�; accattoLi, Luigi (Hg.): Johannes Paul II. Köln 2005 [Graz u. a. 12000]; fiLLer, Ulrich: Geschichte einer großen Sehnsucht. Ein Portrait der hl. Schwester Maria Faustyna Kowalska. Kisslegg 2005; rossi, Fabrizio: Der Vatikan. Politik und Organisation. München 32005 [12004]; dziWisz, Stanisław: Una vita con Karol. Milano 2006; saMersKi, Stefan: Johannes Paul II. München 2008; ders.: Teufel und Weihwasser. Der Papst und die Erosion des Kommunismus. In: Osteuropa 59 (2009) 183–193; binGen, Dieter: Wojtyłas Erben. In: Osteuropa 6 (2009) 101–112; saMersKi, Stefan: Johannes Paul II. In: fuchs, John Andreas/neuMann, Michael (Hg.): Mythen Europas. Schlüsselfiguren der Imagination. Regensburg 2009, 116–133.

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IV. Kommunikate: Die ideelle Dimension der Erinnerung

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Die Taufe Polens – das Jahr 966 I. Zusammenfassung. – II. Die älteste Überlieferung. – III. Pflege der Erinnerung: – a) älteste Tradition (12.–13. Jahrhundert). – b) Ansichten der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen lokalen Tradition (14.–18. Jahrhundert). – c) Historiographie und populäres Schrifttum im 19. und 20. Jahrhundert. – d) Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Taufe des Landes, die als Beginn der nationalen Geschichte gilt, wird in Polen traditionell mit der Taufe von Herzog Mieszko I. im Jahr 966 gleichgesetzt. Das Ereignis selbst ist nur aus spärlichen Erwähnungen in Quellen bekannt, die weder den Ort der Taufe noch den Täufer nennen. Der Anfang der christlichen Geschichte war in hohem Maße bedeutungsgeladen für die spätere nationale Geschichte. Aus diesem Grund erfuhr die Reflexion über das Jahr 966 immer wieder neue, auf die konkrete Gegenwartssituation bezogene Aktualisierungen. Je nach den politischen Umständen wurden verschiedene Orte, vor allem die jeweiligen Hauptstädte (Gnesen, Posen und Krakau), mit der Annahme des Christentums durch Mieszko verbunden. Die Erinnerung der Taufe weist folgende Mythologisierungen auf: die Hervorhebung einer göttlichen Obhut über das Land und die Annahme der dauerhaften geistlichen Nähe und Interessengleichheit Polens und des Heiligen Stuhls. Dies implizierte die Betonung des an Polen gebundenen Schutzauftrags des westlichen Glaubens und der Zivilisation vor dem östlichen „Barbarentum“ sowie die Gleichsetzung des „echten“ Polentums mit dem Katholizismus. II. Die älteste Überlieferung Die früheste Quelle, die die Taufe Mieszkos erwähnt, ist die Anfang des 11. Jahrhunderts entstandene Chronik Thietmars von Merseburg. Danach erfolgte die Konversion des piastischen Herrschers nach seiner Eheschließung mit Dobrawa, der Tochter des böhmischen Herzogs Boleslav I. Thietmar gab kein Datum der Taufe an. Offensichtlich sah er jedoch die Frau als Urheberin der Bekehrung ihres Ehegatten an, was den in hochmittelalterlichen Bekehrungsgeschichten zu findenden Topos der „überredenden Frau“ (mulier suadens) aufgreift. Die ältesten polnischen Annalen, die vermutlich aus dem 11. Jahrhundert stammen, aber nur in Abschriften seit dem 13. Jahrhundert erhalten sind, teilen lediglich die Ankunft Dobrawas in Polen (965), die Taufe Mieszkos (965 oder 966) und schließlich die Berufung eines Bischofs für Polen, der wahrscheinlich in Posen residierte, zum Jahr 968 mit. Hinweise in der kirchenslawischen Vita Methodii (Ende 9. Jahrhundert) über die Taufe eines Herzogs im Gebiet der oberen Weichsel, die als Christianisierungserfolge des Großmährischen Reiches interpretiert worden sind, sind unklar und durch keine andere Überlieferung bestätigt. 795

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III. Pflege der Erinnerung a) älteste Tradition (12.–13. Jahrhundert) In der ältesten in Polen entstandenen Chronik teilt der sogenannte Gallus Anonymus zu Beginn des 12. Jahrhunderts eine Fabel über die Taufe mit, die deutlich vor den Zeitpunkt des Glaubenswechsels zurückgreift. Danach kam Mieszko blind zur Welt. Erst nach sieben Jahren erlangte er das Augenlicht während seiner Kopfschurfeier. Die Heilung von der Blindheit wurde als Allegorie auf die Abwendung des Landes vom Heidentum verstanden. Vor der Heirat Mieszkos mit Dobrawa stellte diese die Bedingung, daß jener das Christentum annehme. Obwohl er sich hierzu bereit erklärte und es zur Eheschließung kam, wollte Dobrawa mit ihrem Gatten vor dessen Taufe nicht geschlechtlich verkehren. Das Motiv der sexuellen Abstinenz, das später ergänzt wird durch die Ausgestaltung seiner vorchristlichen Promiskuität, sollte die Tatsache der Eheschließung mit einem Heiden entschärfen und mögliche Vorwürfe entkräften, in einer nichtsakramentalen Beziehung gelebt zu haben, was die Vorstellung des sakralisierten Beginns der Geschichte beeinträchtigen könnte. Vinzenz Kadłubek, Chronist und Bischof von Krakau, wiederholte zu Beginn des 12. Jahrhunderts nur die Erzählung des Gallus. Er fügte jedoch der polnischen Frühgeschichte die Erzählung von Kämpfen der Polen mit Alexander dem Großen und den Römern bei. Diese von späteren Geschichtsschreibern bis zum 18. Jahrhundert gern übernommenen Erzählungen überlagerten und kanonisierten die historische Überlieferung über die Taufe Mieszkos I. in einem solchen Maße, daß lediglich in wenigen polnischen spätmittelalterlichen und neuzeitlichen Werken, welche sich mit den Anfängen des Landes befaßten, neue, spärlich gehaltene Kommentare zur Taufe im Jahr 966 hinzukamen. b) Ansichten der spätmittelalterlichen und neuzeitlichen lokalen Tradition (14.–18. Jahrhundert) Im späteren Mittelalter wurde die Vorstellung des Glaubenswechsels mit einem konkreten Ort verbunden, an dem die Taufe Mieszkos vollzogen worden sei. Zum ersten Mal findet sich eine solche Konkretisierung in einer Version der Polnisch-Schlesischen Chronik (Ende des 13. Jahrhunderts). Der anonyme Autor bemühte sich, den polnischen Namen von Posen – Poznań – mit dem Vorgang des Glaubenswechsels zu erklären und so zu deuten, daß gerade dort Mieszko I. den christlichen Glauben angenommen und erkannt haben soll (polnisch: poznać = erkennen). Hier kann man einen Reflex großpolnischer Eliten sehen, ihre eigene „Hauptstadt“ ideologisch zu stützen, um in der Rivalität mit Kleinpolen – dort wurde der Kult des heiligen Stanislaus befördert – zu bestehen. Ein anderer Geschichtsschreiber, Sędziwoj aus Czechło (2. Hälfte des 15. Jahrhunderts) schrieb, Mieszko I. sei im böhmischen Prag getauft worden. In einer Redaktion (Version C) seiner Chronik erscheint ein interessantes Motiv: Die mit Mieszko in Prag 796

Die Taufe Polens – das Jahr 966

eingetroffenen Herren hätten dem Priester während der Zeremonie zugerufen, er solle den Herzog mit Weihwasser begießen, wodurch das ganze Volk den Namen Polanen bekommen habe (polnisch: polani = begießen). Es ist möglich, daß diese Erzählung als Reflex von Legenden über die Christianisierung der Polen durch Adalbert von Prag entstanden ist, von dem auch, etwa in der Vita minor S. Stanislai (13. Jahrhundert), behauptet wird, er sei der erste Erzbischof von Gnesen gewesen. Diese Erzählungen wurden vielerorts mit der Überzeugung verbunden, Adalbert hätte auch die lokale Bevölkerung getauft. Daran sollten die nach seinem Namen benannten Wasserquellen in Großpolen (Trzemeszno) sowie Steine (Strzelno, Budziejewko, Gościerzyn) erinnern – manchmal mit Vertiefungen, dem angeblichen Fußabdruck des heiligen Adalbert. Jan Długosz erweiterte die Erzählung über die Bekehrung Mieszkos I. in seinen monumentalen „Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae“ (entstanden um 1�70–1�80) und schuf für die polnische Frühzeit ein Narrativ, das die zeitgenössische Struktur der polnischen Kirche mit der mythischen Anfangszeit verbinden sollte. Zum ersten Mal findet sich bei ihm die vermeintlich vollständige Namensform Mieszkos als „Mieczsław“, die danach als „Mieczysław“ in der polnischen Historiographie bis zum Ende des 19. Jahrhunderts benutzt wurde. Dabei wird eine etymologische Umdeutung des Namens faßbar: Bezog sich der Name „Mieszko“ auf die Verwirrung wegen der Blindheit des Herzogsohnes (poln.: mieszać = verwirren) – diese Deutung findet sich schon bei Kadłubek –, so signalisierte der neue Name „Mieczsław (Mieczysław)“ den Ruhm (poln.: mieć = haben, sław = berühmt) des ersten polnischen Herzogs. Ein weiteres neues Element, das von Długosz in die Erzählung eingeführt wurde, ist die Nachricht, Mieszko hätte sich für die Taufe durch die „Überredung der Katholiken“ (nicht „Christen“) entschieden. Hiermit wollte der Krakauer Kanoniker vermutlich Andeutungen zurückweisen, das Christentum könnte nach Polen aus Mähren oder Böhmen vermittelt worden sein – im slawischen Ritus, der mit der „schismatischen“ Orthodoxie oder auch mit dem Hussitentum assoziiert wurde. Der Chronist betonte ferner, daß Dobrawa ohne die Annahme der Taufe durch Mieszko nicht nach Polen gekommen wäre. Der Herzog zögerte zunächst und wurde erst durch eine Traumerscheinung dazu bewogen, der Forderung nachzugeben. Erst danach begab sich Dobrawa 965 nach Polen. Anschließend teilt Długosz mit, daß der Herzog am 7. März 965 die Anordnung erteilt habe, sämtliche heidnische Statuen im Land zu zerstören. Unmittelbar nach der Taufe, im Jahr 966, seien die Erzkathedralen in Gnesen und Krakau sowie sieben Bischofskirchen errichtet worden. Die fälschliche Bezeichnung Krakaus als Erzbistumssitz – tatsächlich wurde Krakau hierzu erst 1924 erhoben – erklärt sich aus seiner exponierten Stellung als Hauptstadt des Landes, die schon in dessen ältester Geschichte angelegt gewesen sein soll. Nach Długosz verfaßte kein anderer altpolnischer Geschichtsschreiber eine solch ausführliche Geschichte über die Taufe des Landes. Das Motiv wurde von anderen Fabeln zurückgedrängt: von den von Kadłubek ausgedachten antiken Geschichten und von der legendären Genealogie der Piasten, die auch in der bildenden Kunst vielfach aufgegriffen wurde. Mieszko I. trat in diesem Zusammenhang als Schlüsselperson auf, mit der die 797

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heidnische Zeit abgeschlossen wurde – sein Attribut war stets das Kreuz, das er in seiner rechten Hand hielt. Jedes Kompendium der Landesgeschichte behandelte freilich die Taufe Mieszkos I. mit jeweils unterschiedlichen Akzenten. So behauptete der Diplomat und Bischof von Ermland Marcin Kromer 1555, daß sowohl die Taufe als auch die Heirat Mieszkos in Krakau stattgefunden hätten. Kromer führte ferner aus, daß dort bereits Christen gelebt hätten, unter deren Einfluß sich Mieszko für die Bekehrung entschieden haben soll. Beachtenswert ist hier die Rationalisierung der verkürzten Erzählung, in der auf übernatürliche Motive verzichtet wird. Im 17. Jahrhundert wurden diesem Narrativ keine neuen Inhalte hinzugefügt. Die Taufe Polens wurde aber im Zusammenhang mit dem Konzept des antemurale christianitatis thematisiert, in dem man Polen als „Bollwerk des Christentums“, als Schützer Europas vor Tataren, Türken, sogar vor den orthodoxen Schismatikern stilisierte. Während der Konflikte mit dem protestantischen Schweden wurde die besondere Verbindung Polens mit Rom und mit dem Kult der Gottesmutter gekoppelt. Zum Ausdruck dieser Ideen wurde die „neue Taufe“, das Gelübde König Johann II. Kasimirs, das er 1656 in Verbindung mit der als Wunder betrachteten, erfolgreichen Abwehr des Schwedenangrifs bei Tschenstochau ablegte. Adam Naruszewicz, in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts Hofhistoriograph von König Stanislaus II. August Poniatowski, brachte in seine mehrbändige polnische Geschichte Elemente des aufklärerischen Rationalismus ein. So führte das Wissen über das Großmährische Reich dazu, daß er dieses als Ausgangspunkt für die Christianisierung Polens verstand. Naruszewicz verortete jedoch die Taufe Mieszkos nicht mehr in Krakau, sondern wieder in Gnesen. Er behauptete auch, die Eheschließung des Herzogs mit Dobrawa habe vor der Taufe stattgefunden. Der widersprüchlichen neuzeitlichen Überlieferung vertrauend, übernahm Naruszewicz jedoch recht viele, historisch nicht belegte fiktive Einzelheiten dieses Ereignisses. Der polnisch-litauische Historienmaler Franciszek Smuglewicz illustrierte das Werk von Naruszewicz, wobei die Szene Die Zerstörung der Götzenbilder die Taufe Polens kommentierte. Hundert Jahre später übernahm Jan Matejko dieses Motiv für sein Ölgemälde Die Einführung des Christentums. c) Historiographie und populäres Schrifttum im 19. und 20. Jahrhundert Die entstehende kritische Geschichtswissenschaft des 19. Jahrhunderts versuchte, nicht abgesicherte Überlieferungen aus der historischen Darstellung auszuscheiden. Joachim Lelewel ließ deshalb 1829 bei der Schilderung der Taufe 966 die Nachricht über die anfängliche Blindheit Mieszkos I. weg. Aber auch er schrieb, daß 982 das ganze Volk den christlichen Glauben angenommen hätte. Generell behauptete man – neben Lelewel etwa Michał Bobrzyński und Adam Naruszewicz –, daß die Taufentscheidung durch die Furcht vor einer deutschen Expansion zu erklären sei. Alle damaligen polnischen Geschichtsschreiber versuchten die Kontakte Polens mit dem Heiligen Stuhl zu betonen; so soll die polnische Kirche bereits in der Anfangszeit eine besondere Beziehung zu Rom 798

Die Taufe Polens – das Jahr 966

gehabt haben, wovon die Einrichtung eines Missionsbistums gezeugt hätte, das durch die Übertragung des polnischen Staates an den heiligen Petrus (die Dagome iudex-Urkunde) gewissermaßen besiegelt worden sei. Allgemein wurde behauptet, daß die Taufe Mieszkos in Gnesen stattgefunden hätte. Man zweifelte auch nicht an der angeblich im 10. Jahrhundert vollzogenen Konversion, wenn auch nicht der ganzen „Nation“, dann doch ihres überwiegenden Teils. Nur selten erschienen seit Beginn des 20. Jahrhunderts, besonders in künstlerischen oder nationalistischen Kreisen, Tendenzen, das heidnische Slaventum zu romantisieren und die Taufe von 966 als eine Katastrophe für die vermeintlich ursprüngliche slawische Welt darzustellen. Das bislang wichtigste Ereignis in der Auseinandersetzung mit der Christianisierung Polens waren die Vorbereitungen auf das 1966 gefeierte Millennium der Taufe Mieszkos, bei der freilich die Deutungen der kommunistischen Machthaber und kirchlicher Kreise aufeinanderstießen. Die von Innenminister Mieczysław Moczar koordinierten staatlichen Gedenkfeiern sollten den religiösen Charakter des Jubiläums verdecken, indem sie eine andere Akzentuierung vornahmen und die Ereignisse nationalistisch sowie antideutsch interpretierten. Diese propagandistische Konzeption war durch keinen spektakulären politischen Auftritt geprägt, sondern vielmehr durch einen Zyklus von Reden und Presseartikeln geformt, der die kirchlichen Würdenträger wegen ihres Willens zur Versöhnung mit den Deutschen attackierte. Dazu kamen sorgfältig geplante Veranstaltungen. So versuchte der erste Sekretär (Parteichef) der Polnischen Vereinigten Arbeiterpartei, Władysław Gomułka, Mitte April 966 in Gnesen mit einer großen öffentlichen Kundgebung die Bedeutung der Kirche zu relativieren, indem er die Millenniumsfeier der Taufe Mieszkos mit dem 21. Jahrestag der Überschreitung von Oder und Neiße durch die polnische „Volksarmee“ 1945 verband. Am 1. Mai 1966 wurde in Kattowitz nicht nur der Tag der Arbeit, sondern auch und vor allem der 45. Jahrestag des dritten Schlesischen Aufstandes von 1921 gefeiert. Am 22. Juli fand in Warschau eine „Parade der Jahrtausendfeier“ statt, ein militärischer Festzug, in dem die Darstellung der „Ritter aus der Schlacht von Grunwald/Tannenberg“ (1�10) eine große Rolle spielte. In der Kulturpolitik stellte man mit dem 1959 verkündeten Programm der Errichtung von „1000 Schulen für das Jahrtausend des polnischen Staates“ einen Bezug zur Millenniumsfeier her. 1956 wurde mit der Erschaffung des „Museums der Anfänge des polnischen Staates“ in Gnesen begonnen. Es erschienen zahlreiche wissenschaftliche und populäre Publikationen, die die Anfänge des polnischen Staates thematisierten. Nicht immer erfüllten sie die Erwartungen der politischen Machthaber: So versuchte der Warschauer Mediävist Jerzy Dowiat, der die einzige wissenschaftliche Monographie über die Taufe 966 schrieb, zu beweisen, daß sich der Vorgang am 1�. April 966 in Regensburg ereignet habe, was jedoch angesichts der Spekulativität der These auf keine wissenschaftliche Akzeptanz stieß. Ein großer Teil der Forscher unterstützte den antideutschen Ansatz. Das zeigte sich vor allem in der Hervorhebung der angeblich seit tausend Jahren bestehenden permanenten Bedrohung der polnischen Westgrenze durch den „deutschen Imperialismus“, vor dem die Taufe und die postulierten Beziehungen zu Rom schützen sollten. 799

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Die Kirche stellte einen unmittelbaren Bezug zur religiösen Bedeutung der Millenniumsfeier her. Schon im August 1956 wurde das sogenannte Gelübde Johann II. Kasimirs in Tschenstochau erneuert. Von besonderer Bedeutung war der von Primas Stefan Wyszyński angeregte Hirtenbrief der polnischen Bischöfe an ihre deutschen Amtsbrüder vom 18. November 1965, in dem der polnische Episkopat alles Unrecht verzieh, das die Polen von den Deutschen in den letzten tausend Jahren erfahren hatten und um die Verzeihung aller Vergehen bat, welche Polen den Deutschen gegenüber auf dem Gewissen haben. Auf diese Weise wollte man eine Art Grundlage für die moralische Erneuerung der Nation vor der Millenniumsfeier schaffen, die sich auf ideologisch bedeutende Punkte des mythologisierten Geschichtsbewußtseins bezog. Den Höhepunkt bildeten zwei Feiern: am 14. April (dem angenommenen Tag der Taufe Mieszkos) 1966 in Gnesen, wo der Sitz des ersten polnischen Erzbistums war, sowie am 3. Mai (Marienfeiertag, Tag der polnischen Verfassung von 1791) 1966 in Tschenstochau. Auf diese Weise wurden die beiden bedeutendsten ideologischen Zentren Polens, das mittelalterliche in Gnesen und das neuzeitliche in Tschenstochau, in Beziehung zueinander gesetzt. d) Gegenwart Die polnische Historiographie hat seit den 1960er Jahren aufgehört, den Grund für die Taufentscheidung im Jahr 966 in der Furcht vor „den deutschen bewaffneten Evangelisatoren“ (Michał Bobrzyński) zu sehen. Herausgearbeitet wird eher die Vielschichtigkeit und Multikausalität der Situation, die zur Entscheidung des Herzogs geführt habe. Gewöhnlich wird als Ort der Taufe Mieszkos Gnesen oder Posen angenommen. Bis zur Gegenwart betonen die polnischen Historiker allerdings fast nur den politischen Hintergrund der Konversion, während weltanschauliche und mentale Gründe der Taufentscheidung kaum reflektiert werden. Auch von archäologischer Seite wurden zu diesem Thema Beiträge geliefert. Um 1960 entdeckte man im Innern des im 10. Jahrhundert erbauten Posener Domes ein großes Becken. Seine Funktion ist nicht klar – einige Forscher meinen, es wäre ein Behältnis für die Anfertigung von Mörtel gewesen. In den letzten Jahren wurde jedoch auch die Vermutung geäußert, daß diese Vertiefung ein Taufbecken gewesen sein könnte, möglicherweise für die piastische Elite. Genauso wurden Vertiefungen im Innern der herzoglichen Kapelle in Ostrów Lednicki bei Gnesen gedeutet. Hier ist die Deutungsabsicht erkennbar, schwer erklärbare archäologische Befunde mit der ältesten Phase der Christianisierung in Beziehung zu setzen. Es handelt sich um Versuche, eine materielle Verbindung mit der mythischen Anfangszeit herzustellen. Es scheint, als ob auf diese Weise die Mediävisten Großpolens, aber auch die lokalen Behörden und die kirchlichen Würdenträger versuchen, immerfort daran zu erinnern, wo die Wiege des polnischen Christentums – so der Titel einer großen archäologischen Ausstellung in Gnesen im Jahr 2009 – liegt. Dieses Bemühen läßt sich vielleicht dadurch erklären, daß seit 19�6 der polnische Primas in Warschau residierte. 800

Die Taufe Polens – das Jahr 966

Jan Matejko: Zaprowadzenie chrześcijaństwa R.P. 965 (Die Einführung des Christentums 965). Das 1889 fertiggestellte Ölgemälde eröffnet seinen Zyklus Dzieje cywilizacji w Polsce (Die Geschichte der Zivilisation in Polen). Am Ufer eines Sees mit der Burg auf der Insel Ostrów Lednicki im Hintergrund steht Mieszko I., in der rechten Hand sein Schwert, die linke Hand am Kreuz; am rechten Bildrand neben ihm sieht man seine Gefolgschaft (drużyna). In der linken Bildhälfte tauft im bischöflichen Ornat der heilige Adalbert Mieszkos jüngeren Bruder Czcibor; rechts von ihm, in der Mitte des Bildes, steht mit geöffnetem Buch Radim-Gaudentius, der Bruder Adalberts und spätere erste Erzbischof von Gnesen. Links vor Adalbert sieht man mit einer Kerze in der Hand Dobrawa, die Gattin Mieszkos. Bildnachweis: Muzeum Narodowie w Warszawie, Signatur MP 3894.

Ähnliche Tendenzen zeigen sich bei den Versuchen, eine historische Tradition mit Ostrów Lednicki als dem Ort zu verbinden, an dem sich angeblich die ersten Piasten taufen ließen – die Insel unweit von Gnesen verfügt über gut erhaltene Ruinen einer frühpiastischen Pfalz sowie weite Wiesen für die in der Frühlings- und Sommerzeit stattfindenden Treffen polnischer Katholiken. Die Kundgebungen werden von Dominikanern organisiert und haben eher einen informellen Charakter. Die Teilnehmer dieser Lagerfeuertreffen glauben, dort eine Verbindung zu ihren ersten christlichen Vorfahren herstellen zu können.

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IV. Auswahlbibliographie a) Quellen bieLoWsKi, August (Hg.): Rocznik Sędziwoja [Die Annalen von Sędziwoj]. In: Monumenta Poloniae Historica. Pomniki Dziejowe Polski, Bd. 2. Lwów 1872, 871–880; perLbach, Max (Hg.): Annales Sandivogii. In: Monumenta Germaniae Historica. Scriptores 29. Hannover 1892, �2�–�30; ćWiKLińsKi, Ludwik (Hg.): Kronika Polska [Polnische Chronik]. In: Monumenta Poloniae Historica. Pomniki Dziejowe Polski, Bd. 3. Lwów 1878, 578–656; KętrzyńsKi, Wojciech (Hg.): Vita Sancti Stanislai episcopi Cracoviensis (Vita minor). In: Monumenta Poloniae Historica. Pomniki Dziejowe Polski, Bd. �. Lwów 188�, 238–285; MaLeczyńsKi, Karol (Hg.): Galli Anonymi Cronica et gesta ducum sive principum Polonorum. Kraków 1952 (Monumenta Poloniae Historica N.S. 2), dt. Ausgabe: buJnoch, Josef (Hg.): Polens Anfänge – Gallus Anonymus: Chronik und Taten der Herzöge und Fürsten von Polen. Graz/ Wien/Köln 1978; pLezia, Marian (Hg.): Magistri Vincentii Chronica Polonorum. Kraków 199� (MonuMonumenta Poloniae Historica N.S. Pomniki Dziejowe Polski II/11); hoLtzMann, Robert (Hg.): Thietmari Merseburgensis episcopi Chronicon. Berolini 1935 (Monumenta Germaniae Historica. Scriptores rerum Germanicarum N.S. 9); triLLMich, Werner (Hg.): Thietmar von Merseburg, Chronik. Berlin 1966 (Ausgewählte Quellen zur Deutschen Geschichte des Mittelalters 9); dąbroWsKi, Jan (Hg.): Ioannis Dlugossi Annales seu Cronicae incliti Regni Poloniae, Bd. I/3. Varsoviae 196�; KroMer, Marcin: Kronika polska [Die polnische Chronik]. Sanok 1857; leleWel, Joachim: Historia Polski do końca panowania Stefana Batorego [Geschichte Polens bis zur Regierung von Stefan Batory]. Warszawa 1962; ders.: Polska. Dzieje i rzeczy jej. Bd. 2 [Polen: seine Geschichte und Themen]. Poznań 1859; naruszeWicz, Adam: Historya narodu polskiego [Geschichte des polnischen Volkes], Bd. �. Warszawa 1803; bobrzyńsKi, Michał: Dzieje Polski w zarysie [Geschichte Polens im Grundriß]. Warszawa 1879 [ND 1987].

b) Darstellungen doWiat, Jerzy: Chrzest Polski [Die Taufe Polens]. Warszawa 1958; stasieWsKi, Bernhard: Die Jahrtausendfeier Polens in kirchengeschichtlicher Sicht. In: Jahrbücher für Geschichte Osteuropas N.F. 8 (1960) 313–329; LancKorońsKa, Karolina: Studies on the Roman-Slavonic Rite in Poland. Roma 1961; doWiat, Jerzy: Metryka chrztu Mieszka I i jej geneza [Die Taufurkunde Mieszkos und ihre Entstehung]. Warszawa 1961; Millennium Poloniae Christianae. Roma 1966; haLecKi, Oskar: A History of Poland. London 1978; JaKiMoWicz, Teresa: Temat historyczny w sztuce Jagiellonów [Das historische Thema in der Kunst der Jagiellonen]. Warszawa/Poznań 1985; fąfroWicz, Małgorzata: Piasta „Malowane dzieje“. Opowieść o Piaście – zapis historyczno-literacki – Pierwowzory i wzorce osobowe bohatera [Die „gemalte Geschichte“ von Piast. Die Erzählung über Piast – die historisch-literarische Aufzeichnung – die Archetypen und Muster des Helden]. In: Rocznik Historii Sztuki 18 (1990) 159–220; LesiaKoWsKi, Krzysztof: 1000-lecie czy millenium? Ze źródeł archiwalnych [Jahrtausend oder Millennium? Aus archivalischen Quellen]. In: Życie i Myśl 2/1996, 35–�2; GoduLa, Róża: Mit początku w legendzie świętego Wojciecha [Der Mythos des Anfangs in der Adalbert-Legende]. In: KurnatoWsKa, Zofia (Hg.): Tropami Świętego Wojciecha. Poznań 1999, 195–220; paradoWsKa, Maria: Święty Wojciech w kulturze ludowej Wielkopolski [Der heilige Adalbert in der Volkskultur Großpolens]. In: KurnatoWsKa, Zofia (Hg.): Tropami Świętego Wojciecha. Poznań 1999, 389–�07; WyrozuMsKi, Jerzy: Dzieje Polski piastowskiej (VIII wiek – 1370) [Die Geschichte Polens in der Piastenzeit (8. Jahrhundert – 1370)]. Kraków 1999; KurnatoWsKa, Zofia: Die Christianisierung Polens im Lichte der archäologischen Quellen. In: WieczoreK, Alfried/hinz, Hans-Martin (Hg.): Europas Mitte um 1000. Beiträge zur

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Die Taufe Polens – das Jahr 966 Geschichte, Kunst und Archäologie, Bd. 1. Stuttgart 2000, 490–493; strzeLczyK, Jerzy: Die Christianisierung Polens im Lichte der schriftlichen Quellen. Ebd., 97–128; Mazur, Mariusz: Polityczne kampanie prasowe w okresie rządów Władysława Gomułki [Die politischen Pressekampagnen in der Regierungszeit von Władysław Gomułka]. Lublin 200�, 37–100; Jasienica, Paweł: Polska Piastów [Das Polen der Piasten]. Kraków 2007.

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Antemurale Christianitatis I. Zusammenfassung. – II. Polen. – III. Ungarn. – IV. Kroatien. – V. Weitere Verbreitung. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die allegorische Darstellung des eigenen Landes als antemurale Christianitatis (Vormauer der Christenheit) ist ein europäisches Phänomen, das beinahe überall dort anzutreffen ist, wo das abendländisch-lateinische Christentum an andere Kulturregionen, wie etwa die islamische oder orthodoxe, angrenzte. Vor allem in Ungarn, Polen und Kroatien, aber auch im Mittelmeerraum, auf der iberischen Halbinsel und im Baltikum bildete sich seit dem ausgehenden Mittelalter eine Topik heraus, die jeweils das eigene Land und die eigene Gemeinschaft zu einer „Vormauer der Christenheit“ – säkularisiert dann zu einer „Vormauer Europas“ – stilisierte. Die rhetorischen Wurzeln dieser Topik reichen bis in die Mitte des 13. Jahrhunderts zurück, als im Zusammenhang mit den Mongoleneinfällen sowohl vom Heiligen Stuhl als auch von den Adressaten der päpstlichen Kreuzzugspropaganda in Polen und Ungarn beiden Ländern an den fines christianitatis eine Schlüsselrolle als Verteidiger des Christentums zugeschrieben wurde. Ab dem 14. Jahrhundert wich der vage Grenzraumbegriff allmählich den aus dem militärischen Wortschatz entliehenen Allegorien zur Umschreibung der christlichen „Vorposten“ (scutum, clipeus, propugnaculum, arx, fortalitium, praesidium, murus, munimen[-tum] oder der am weitesten verbreitete Terminus antemurale). Durch den Rückgriff der herrschenden Dynastien in Ostmitteleuropa (Hunyadi und Jagiellonen) auf diese neue Rhetorik entstand zwischen den 1440er und 1520er Jahren ein öffentlichkeitswirksamer Antemurale-Diskurs als gezieltes publizistisches Instrument, mit dem zusätzliche Legitimation und finanzielle Unterstützung erreicht werden sollten. In Zeiten der Türkenkriege erlebte das suggestive Bild der sich in einer Festung befindenden und von Feinden umringten Gemeinschaft, die auf den Vormauern verteidigt werden müsse, eine starke Zunahme und führte zu einer europaweiten Diffusion der Verteidigungstopoi. Ihre Verbreitung und Popularisierung im übrigen Europa verdankte der Antemurale-Topos zunächst vor allem den Humanisten, ab dem späten 16. Jahrhundert auch den Jesuiten. Als supranationale Trägerschichten waren sie mit ihren an die Respublica litteraria gerichteten Publikationen maßgeblich für die innere wie äußere, europaweite Popularisierung und Rezeption der AntemuraleVorstellung verantwortlich. Ein wichtiges Instrument bei der Propagierung dieses Bildes war seit der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts der Buchdruck. Er ermöglichte es, die allegorischen Antemurale-Topoi in vielfacher Ausfertigung in ganz Europa zu veröffentlichen. Einschlägige, die jeweiligen Länder als Bollwerk des Christentums darstellende Einblattdrucke 80�

Antemurale Christianitatis

und Frontispize zierende Holzstiche sorgten auch außerhalb der Gelehrtenkreise für eine weite Rezeption dieser Vorstellung. Die nationalen Bewegungen des 19. und 20. Jahrhunderts instrumentalisierten dann den Antemurale-Topos durch den Rückgriff und Verweis auf die frühneuzeitliche Bollwerksrhetorik zur Festigung und Legitimierung der nationalen Identität. Besonders im Fall der ostmitteleuropäischen Länder diente das Bild der „Vormauer der Christenheit“ als integrativer Orientierungsanker des Kollektivgedächtnisses, der dem eigenen Land, sowohl nach innen als auch nach außen, die Europäizität, das heißt die Zugehörigkeit zu einem christlichen Abendland beziehungsweise zu Europa, zuschreibt. II. Polen Die Ursprünge der polnischen Antemurale-Vorstellung basieren auf den hochmittelalterlichen Grenzumschreibungen des Landes. Dem regnum Poloniae wurde vornehmlich vom Papsttum die Rolle eines „Grenzgebietes der Christenheit“ zugeschrieben. Das an einer Kultur- und Konfessionsgrenze gelegene Polen sei, so eine nach 1250 im übrigen Abendland weitverbreitete Meinung, an seinen nördlichen und östlichen Grenzen von heidnischen Prußen und Litauern, schismatischen Ruthenen und wilden Tataren umgeben, die Jahr für Jahr in das Land einfielen, es plünderten und verwüsteten – so formulierte es beispielsweise Papst Urban IV. 126� in einem Schreiben an den böhmischen König. Vor allem die Mongolen- und Tatareneinfälle untermauerten dieses Bild. Berichte wie der des Franziskaners Johannes de Plano Carpini (12�7), der in Polens Niederlage gegen die Mongolen in der Schlacht von Liegnitz 12�1 ein Opfer zur Errettung des restlichen Abendlandes sah, stilisierten Polen zur Schirmmacht der abendländischen Christenheit. Unter den letzten zwei Piasten auf dem polnischen Thron, Władysław I. Łokietek und seinem Sohn Kasimir dem Großen, wurde das Grenzdasein verstärkt für außenpolitische Ziele instrumentalisiert. Im diplomatischen Ringen mit den Luxemburgern und dem Deutschen Orden suchten die beiden Herrscher als „dem Apostolischen Stuhl unmittelbar Unterstellte“ – so eine ab 1250 in den Korrespondenzen der polnischen Herrscher mit den Päpsten immer wiederkehrende Hervorhebung des Verhältnisses zwischen Polen und Rom – Unterstützung bei der Kurie. Für die Verteidigung des Abendlandes an seinen äußersten Grenzen forderten Władysław und Kasimir vom Papsttum Anleihen, Zehnterlässe, Subsidien und die Ausstellung von Kreuzzugsbullen, die auch finanzielle Vorteile in der Form von Kreuzzugsgeldern mit sich brachten. Aussagekräftig ist in diesem Zusammenhang besonders der Briefverkehr von Kasimir mit Papst Clemens VI. und mit dem Erzbischof von Gnesen aus den 1340er Jahren. Um die Annexion des ruthenischen Fürstentums Galizien-Wolhynien zu legitimieren, wurde das an Kleinpolen angrenzende Land als ein „uneinnehmbarer Schild gegen das grausame Volk der Tataren“ dargestellt (Władysław I. an Papst Johannes XXII. 1323), mit dessen Standhaftigkeit die Sicherheit Polens und damit des Abendlandes als ganzem eng verknüpft sei. 805

Paul Srodecki

Die Jagiellonen sorgten am Ausgang des Mittelalters dann für einen beachtlichen Ausbau der polnischen Bollwerksvorstellung. Bereits Władysław II. Jagiełło, der erste Jagiellone auf dem polnischen Thron, setzte die unter den letzten zwei Piasten erprobte Darstellung des Königreichs Polen als „Schild der Christenheit“ im diplomatischen Ringen mit dem Deutschen Orden während des Konstanzer Konzils ein. Sein Sohn, Władysław III., der neben der polnischen auch die ungarische Krone erwerben konnte, wurde durch seine beiden Kreuzzüge gegen die Osmanen und nicht zuletzt durch seinen tragischen Tod in der Schlacht von Warna (1444) zum Märtyrerkönig stilisiert. Ihm widmete der am Krakauer Hof wirkende Toskaner Humanist Filippo „Callimachus“ Buonaccorsi das heroisierende, zwischen 1�8� und 1�88 verfaßte Werk Historia de rege Vladislao. In diese Zeit fällt auch der früheste nachweisbare Gebrauch des Terminus antemurale in bezug auf Polen: Hieronymus Lando, Gesandter von Papst Pius II., soll Polen in seinem Werben für einen erneuten Kreuzzug gegen die Türken bereits 1462, so der polnische Chronist Jan Długosz, als scutum (Schild), murus (Mauer) und antemurale (Vormauer) des Christentums beschrieben haben. Diese neue, aus dem Befestigungswesen entliehene Rhetorik wurde schnell von den polnischen Diplomaten – dies belegt eine Rede von Jan Ostroróg, dem Berater Kasimirs IV., 1�67 in Rom – adaptiert. Durch die europaweite Vernetzung der im Sinn der Respublica litteraria wirkenden Humanisten gelang dann im ausgehenden Mittelalter eine breite Diffusion der polnischen Bollwerksdarstellung im restlichen Abendland. Bereits Filippo Buonaccorsi pries Polen in mehreren panegyrischen Schriften, etwa 1�90 in De bello Turcis inferendo oratio, als „unserer Religion Burg und Bollwerk“. Wenig später beschrieb Sebastian Brant in seinem 1�98 erschienenen Werk Thurcorum terror et potentia das Jagiellonenreich als die Festung Europas, und der Italiener Annibale Caro rühmte das Land bereits in italienischer Sprache als antemuraglia di christianita. Seit dem frühen 16. Jahrhundert vermischte sich die Antemurale-Vorstellung mit einem weiteren Topos, dem SarmatiaKonzept, das seinerseits auf der im späten Mittelalter aufgekommenen sarmatischen origo-Konstruktion basierte. So entstand in der hofnahen jagiellonischen Publizistik wie in der humanistischen Geschichtsschreibung recht rasch das Bild vom sarmatischen Königreich Polen, das als Vormauer und Schutzwall des christlichen Abendlandes fortwährenden Angriffen der Ungläubigen und Schismatiker ausgesetzt sei. In diesem Geist verband 1521 der aus dem Elsaß stammende Krakauer Diplomat und Sekretär des polnischen Königs Jost Ludwig Dietz beide Topoi, als er Polen als Sarmatiae regnum und als „Mauer, Graben, Wall und Bollwerk“ bezeichnete. Die sich mehrenden Konflikte mit dem aufstrebenden Großfürstentum Moskau erweiterten am Ausgang des Mittelalters die Palette der abzuwehrenden Feinde um einen weiteren Akteur. Seit dem 16. Jahrhundert wurde von polnischer Seite nun verstärkt auf die Rolle Polens im Kampf nicht nur gegen die ungläubigen Tataren und Osmanen, sondern auch gegen die „schismatischen“ Moskowiter hingewiesen. Ins 16. Jahrhundert fällt ferner die Vermischung der Bollwerksrhetorik mit dem immer öfter als Äquivalent zum christlichen Abendland gebrauchten Europabegriff. Die Gleichsetzung der respublica christiana mit Europa und der abendländischen Zivilisation, dazu die Gegenüberstellung 806

Antemurale Christianitatis

Asiens als eines Hortes des Unglaubens und der Unfreiheit sollten als Blaupause für die späteren Ausführungen der Aufklärung über die „Vormauer der europäischen Zivilisation“ dienen. So wurde bereits Ende des 16. Jahrhunderts der Triumph Stefan Batorys über Ivan IV., den Schrecklichen, von dem Historiographen und Diplomaten Krzysztof Warszewicki als ein Triumph der Zivilisation und der Freiheit über den Despotismus und die Barbarei besungen. Im Zuge der Reformation und der sich häufenden Spannungen mit protestantischen Ländern wie Schweden oder Brandenburg kam es ab 1550 zu einer Konfessionalisierung des Bollwerkstopos. So appellierte etwa der Kardinal und päpstliche Gesandte in Polen, Giovanni Francesco Commendone, während des polnischen Interregnums von 1573 an den polnischen Adel, einen Katholiken als Herrscher zu wählen, denn nur dieser könne „dieses Bollwerk der Christenheit“ verteidigen. Der Jesuit Jakub Wujek forderte im Widmungsbrief der Postilla Catholica (158�) den polnischen König auf, Polen, die „Mauer der ganzen Christenheit“, nicht nur vor den Moskowitern, Türken und Tataren zu beschützen, sondern es auch von schweren Verfehlungen, Ketzereien und Gotteslästerungen zu befreien. Angesichts des Einmarsches schwedischer Truppen 1655 und der erfolgreichen Verteidigung des Paulinerklosters Jasna Góra in Tschenstochau gegen eine Übermacht Schwedens erklärte der Woiwode von Sandomir, Aleksander Koniecpolski, in einem Manifest Anfang 1656, Polen sei die „Vormauer des Christentums und eine seit Jahrhunderten unerschütterliche Schanze der katholischen Kirche“. Ausschlaggebend für die weitere Vertiefung des Bildes von Polen als Vormauer der Christenheit im Kollektivgedächtnis des Unionsstaates war die Adaption der Rhetorik durch den polnischen Adel seit der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts. Später als in Ungarn entdeckte die polnische szlachta, die einen im europäischen Vergleich hohen Anteil an der Gesellschaft hatte, die politischen Möglichkeiten und den propagandistischen Zweck einer solchen Selbstdarstellung. Der durch die innenpolitischen Entwicklungen des späten Mittelalters in seiner Position gestärkte Adel setzte die Rzeczpospolita Obojga Narodów nun mit seinem Stand gleich. Der Titel einer Vormauer der Christenheit wurde ab dem 17. Jahrhundert in allererster Linie mit den Errungenschaften der polnischen Adelsrepublik assoziiert. Jetzt hing das Wohl des Abendlandes nicht länger ausschließlich von der Standhaftigkeit Polens nach außen ab. Der Adel begann um 1600 vielmehr, die Antemurale-Darstellung auch mit der Betonung der Unversehrtheit der politischen Ordnung zu verbinden. Zu der Abwehr äußerer Feinde trat seither die Bewahrung des politischen Status quo im Innern, das Festhalten an der „Goldenen Freiheit“ des polnischen Adels. Gleichwohl wurde die innenpolitische Bedeutung der „Goldenen Freiheit“ mit der Antemurale-Topik in Zusammenhang gebracht: Polen als Bastion des Katholizismus konnte allein deswegen die muslimischen Osmanen und Tataren, häretischen Schweden und schismatischen Moskowiter abwehren, weil es, so das Selbstverständnis der szlachta, eine vollkommene politische Ordnung besitze, die freilich nur den Adel selbst einschloß. Fiele der auf den Werten des liberum veto und nihil novi aufgebaute adelige Parlamentarismus, fiele Polen selbst, und mit dem Land stünde das (katholische) Abendland seinen Feinden weit offen. 807

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Die sich mehrenden Kriege gegen die Osmanen im 17. Jahrhundert (1620–1621, 1633–163�, 1672–1676 und 1683–1699) und die glänzenden Siege der polnischen Streitkräfte bei Chocim 1621 und 1673 und besonders bei Wien 1683 untermauerten diese Auffassung der auf der adeligen Freiheit aufgebauten und unbezwungenen Vormauer der Christenheit. Der in diesem Geist erzogene Johann Sobieski erklärte nach seiner Wahl zum polnischen König 167�, er sei bereit, seine Regierung in den Dienst „der Verteidigung der gesamten Christenheit und der polnischen Krone“ zu stellen, habe doch der „unersättliche Hochmut“ der Osmanen Europa keine andere Vormauer mehr gelassen. Als Verbreitungsmedien dieser Vorstellungen dienten der szlachta die Reichs- und Landtagspublizistik sowie die politische Oratorik im Sejm. So begründeten etwa adelige Abgeordnete auf einer Sejmsitzung 1632 eine Petition, derzufolge geistlichen Orden der Erwerb von Land untersagt werden sollte, mit dem Argument, der Ritterstand als „Vormauer der Christenheit“ dürfe nicht verarmen. Der Diplomat Jerzy Ossoliński trug diese Vorstellung auch im Ausland vor, als er 1633 vor dem Heiligen Stuhl in einer in mindestens zehn Auflagen in lateinischer und polnischer Sprache gedruckten Rede allegorisch postulierte, die Polen hätten Europa vor dem Halbmond und den Moskowitern (die nur dem Namen nach Christen, tatsächlich aber noch schlimmer als die Ungläubigen seien) mit ihren bloßen Körpern verteidigt. 1672 verkündete der königliche Beichtvater Adrian Piekarski vor dem Sejm, der Adel beschütze die polnische Krone an ihren Grenzen und sorge so auch für den Schutz und die Verbreitung des römisch-katholischen Glaubens. Eine den Humanisten vergleichbare Rolle bei der Verbreitung der Bollwerksrhetorik kam ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts den Jesuiten zu. So war es auch ein Jesuit, der dem lateinischen Terminus antemurale seine bis heute gebräuchliche polnische Übersetzung gab: In seiner post mortem erschienenen Bibelübersetzung (1599) übersetzte Jakub Wujek antemurale – der Begriff taucht in der Vulgata zwei Mal auf, bei Jes 26,1 und in Klgl 2,8 – zum ersten Mal mit przedmurze. Ferner ging man dazu über, das Bild der christlichen Vormauer nicht mehr nur mit der regierenden Dynastie zu verbinden – es wurde gebräuchlich, auch adelige Helden als Beschützer der Heimat und des Abendlandes zu besingen. So wurde etwa der Schlesier Bernhard von Prittwitz, der in Diensten König Sigismunds I. an der südostpolnischen Peripherie im Kampf gegen die Tataren, Osmanen und Walachen Karriere gemacht hatte, um 1600 von Krzysztof Warszewicki, einem Jesuiten, als „die Mauer Podoliens“ (murus Podoliae) gerühmt, während der Pionier der polnischen Genealogie, Bartłomiej Paprocki, ihn bereits 1575 als den „Schrecken der Tataren“ (terror Tartarorum) ebenso zu einem Vorbild für jeden Adeligen gemacht hatte. Mit den Jesuiten in der Zeit der Gegenreformation ist auch das Aufkommen der Muttergottes Maria als Patronin Polens verbunden. Vor dem Hintergrund äußerer und innerer Bedrohungen durch Andersgläubige wurde sie in der sarmatischen Ideologie des antemurale zur Abgrenzung gegen äußere Feinde sowie zur Stärkung und Entwicklung einer nationalen Identität in einem multiethnischen und multinationalen Staat funktionalisiert. Neben der Marienverehrung fand der Antemurale-Topos in der Verschmelzung mit populären Heiligenfiguren eine weitere Verbreitungsform. Antemurale-Begriff und -Topoi 808

Antemurale Christianitatis

wurden im 17. Jahrhundert gern mit der Verehrung des hl. Florian, des hl. Kasimir und mit dem Kult um den hl. Hyazinth verschmolzen. So wurde 1623, zwei Jahre nach der erfolgreichen Verteidigung der Festung Chocim durch die Polen gegen die Osmanen, der Jahrestag der Beendigung der Belagerung (10. Oktober) vom Heiligen Stuhl zum Gedenktag für den de facto-Sieg der Polen über die Osmanen und zum Festtag zu Ehren der Gottesmutter Maria sowie der polnischen Nationalheiligen erklärt. In diesem Geist ist auch die Weihe Polens der Muttergottes Maria durch König Johann II. Kasimir von Polen 1656 in Lemberg zu verstehen. Nach 1600 tauchten auch erstmals ikonographische Darstellungen des polnischen Bollwerks auf. Eine immer wiederkehrende Allegorie ist die Darstellung der Polonia als antemurale Christianitatis. Das 1607 von Jan Jurkowski verfaßte Epos Chorągiew Wandalinowa (Die Fahne des Wandalin) enthält einen Holzstich, der den mythologischen Weichselhelden Wandalin eine Fahne halten läßt. Auf ihr ist die Polonia dargestellt, die von den allegorischen Gestalten ihrer Gegner, einem Schweden mit einem Dreizack, einem Moskowiter mit einer Streitaxt, einem tatarischen Bogenschützen und schließlich einem türkischen Artilleristen, bedroht wird. Auf einem Holzstich, der dem Werk Forteca duchowna Królestwa Polskiego (Die geistige Festung des polnischen Königreichs) von Piotr Pruszcz aus dem Jahr 1662 beigegeben wurde, wird die Polonia als eine geistige Festung des Christentums dargestellt. Ein Kupferstich in Jakub Kazimierz Haurs Publikation Skład abo Skarbiec znakomitych sekretów ekonomiej ziemiańskiej (Die Zusammensetzung oder Schatzkammer der hervorragenden Geheimnisse der Gutsbesitzerökonomie) aus dem Jahr 1693 trägt gar den Titel antemurale christianitatis Polonia; zu den Füßen der Polonia knien in der Allegorie Papst und König nieder. Die Ideen der Aufklärung fanden im 18. Jahrhundert schnelle Verbreitung unter den geistigen Eliten Polens. Diskussionen um die „Goldene Freiheit“ des Adels und um politische Reformen lösten zugleich einen Zugehörigkeitsdiskurs aus, der Polen zum östlichsten Vorposten der europäischen Zivilisation stilisierte. Das Polen des ausgehenden 18. Jahrhunderts sah sich als eine Wiege republikanisch-freiheitlicher Reformbestrebungen und stellte sich in eine Linie mit den Entwicklungen in den neu entstandenen Vereinigten Staaten von Amerika und dem revolutionären Frankreich. Im 19. und 20. Jahrhundert entdeckte dann die aufkommende nationale Bewegung den Antemurale-Topos für sich. In Zeiten fehlender Eigenstaatlichkeit – Polen verschwand nach seiner dritten Teilung 1795 für mehr als 120 Jahre von der politischen Karte Europas – sollte der Rückgriff auf die Selbstbeschreibung als einstige „Vormauer“ des Abendlandes der äußeren Anerkennung des Polentums im übrigen Europa dienen. Er verhalf überdies den auf eine innere Konsolidierung angelegten In- und Exklusionsstrategien zur Herausbildung eines polnisch-nationalen Denkens. Dabei fand eine allmähliche Säkularisierung der Bollwerksrhetorik statt: Nun wurde in dem durch die Aufklärung und die Französische Revolution freiheitlich gesinnten Westen des Kontinents vor allem die geopolitische Bedeutung Polens in der europäischen Geschichte anerkannt. Aus einer „Vormauer der Christenheit“ wurde eine „Vormauer der Zivilisation“, die den „liberalen Westen“ vor dem „autokratischen Osten“ zu verteidigen habe. Besonders 809

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1830/31, 18�8/�9 und 1863/6�, in den Jahren europäischer Revolutionen und gescheiterter polnischer Aufstände gegen die Teilungsmächte also, gedachte man im Westen wie in Polen der historischen Rolle Polens als „Bollwerk gegen Barbarei und Unfreiheit“, so etwa in Jules Michelets 185� veröffentlichtem Werk Légendes démocratiques du Nord, in Karl Marx’ Rede vom 23. Januar 1875 auf der Londoner Festveranstaltung zum zwölften Jahrestag des polnischen Aufstands von 1863/6� oder in der 1899 verfaßten Schrift Niepodległość Polski w programie socjalistycznym (Die Unabhängigkeit Polens im sozialistischen Programm) des polnischen Sozialisten Kazimierz Kelles-Krauz. In Polen diente die säkularisierte Version der althergebrachten religiösen Feindbilder der Selbstbestätigung und der Abgrenzung gegenüber einer anderen, fremden Kollektivität. Zur Popularisierung des Antemurale-Bildes außerhalb der geistigen Eliten trugen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts diverse politisch-publizistische Aufsätze und historische Romane bei, die in Zeiten des Fehlens eines unabhängigen polnischen Staates Polens einstige Stellung als Vormauer der Christenheit ins Kollektivgedächtnis riefen – so in dem von Józef Ignacy Kraszewski 1861 in der Gazeta Polska publizierten Aufsatz Odczyty o cywilizacyi w Polsce (Vorträge zur Zivilisation in Polen) und in seinem im späten 17. Jahrhundert spielenden Roman Historia o Janaszu Korczaku i o pięknej miecznikównie (Die Geschichte über Janasz Korczak und die hübsche Tochter des Schwertträgers) aus dem Jahr 187� oder in Henryk Sienkiewicz’ als Trylogia 188� bis 1888 veröffentlichten Werken Ogniem i mieczem (Mit Feuer und Schwert), Potop (Die Sintflut) und Pan Wołodyjowski (Herr Wołodyjowski). Gleichwohl wurde im Zuge der panslawistischen Bewegungen im 19. und frühen 20. Jahrhundert von polnischen Eliten die Überzeugung propagiert, Polen sei stets auch ein antemurale des Slawentums gegen die Germanisierung aus dem Westen gewesen – beispielsweise von Roman Dmowski, dem späteren Gründer der nationalkonservativen Bewegung Narodowa Demokracja, der in seiner 1908 erschienenen Schrift Niemcy, Rosja i kwestia Polska (Deutschland, Rußland und die polnische Frage) in Polen das Hauptbollwerk des Slawentums gegen Deutschlands „Drang nach Osten“ sah. Rußland hingegen wurde die Zugehörigkeit zur slawischen Welt von seiten der polnischen Historiographie und politischen Publizistik verwehrt, indem man das Zarenreich in eine mongolischasiatische Tradition stellte. So schrieb 1851 der Historiker Jędrzej Moraczewski, Polens ambivalente Mission „im Kreis der zivilisierten Völker“ sei schon immer einerseits die Verteidigung der slawischen Welt gegen den Westen, andererseits die Abwehr Europas vor dem barbarischen Asien gewesen. Auf diese Muster griff man nach der Wiedererlangung der Souveränität in der Zwischenkriegszeit gern zurück. Insbesondere nach dem für Polen siegreichen polnischsowjetischen Krieg der Jahre 1919 bis 1921 wurde an die Rolle der Polonia als Verteidigerin Europas vor dem Bolschewismus erinnert, etwa von dem Philosophen und Publizisten Wincenty Lutosławski, der 1922 schrieb: „Europa braucht eine lebendige Mauer, eine freie Rzeczpospolita, die sie vor dem Osten beschützen würde. Das ist Polens Daseinsberechtigung – seine Mission.“ Vor allem die katholische Kirche in Polen trat in den Jahren 1919 bis 1939 als wichtige Trägerschicht der gegen die Sowjetunion 810

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gerichteten Bollwerksrhetorik auf. „Vormauer zu sein“, das sei auch im 20. Jahrhundert Polens Aufgabe, so der katholische Priester und Chefredakteur des vom Jesuitenorden herausgegebenen Przegląd Powszechny, Jan Urban, 1927. Ähnliche Artikel erschienen in der von dem Franziskanerorden ab 1935 herausgegebenen Zeitschrift Mały Dziennik. Andererseits wurde Schlesien in mehreren, im Geist von Dmowski publizierten Schriften zur polnischen Vormauer gegenüber dem Westen stilisiert, so im 1939 veröffentlichten Werk Śląsk przedmurzem Polski 963–1138 (Schlesien als Vormauer Polens 963–1138) von Kazimierz Stańczyk. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die kommunistische Propaganda in der neuentstandenen und von der Sowjetunion abhängigen Volksrepublik Polen den ursprünglich christlichen Antemurale-Topos zugunsten der Betonung von „antifeudalen“ Bewegungen in der polnischen Geschichte aus dem nationalen Kollektivgedächtnis zu streichen. Die katholische Kirche instrumentalisierte hingegen die Vormauervorstellung zu einem wichtigen Orientierungsanker der polnischen Opposition. So bekräftigte der polnische Primas Stefan Wyszyński 1966 während der Feierlichkeiten zum tausendjährigen Jubiläum der Taufe Polens, das Land würde auch in der Zukunft seine Zugehörigkeit zum römisch-katholischen Abendland als „Vormauer der Christenheit“ unter Beweis stellen. In den 1980er Jahren schließlich bemühte sich die unabhängige Gewerkschaft Solidarność, sich als eine Vormauer der westlichen Zivilisation gegen das im Abstieg begriffene kommunistische Regime darzustellen. Auch nach dem Systemwechsel 1989 wurde und wird dieses Bild in der Dritten Polnischen Republik immer wieder ins Kollektivgedächtnis der Polen gerufen. Diverse wissenschaftliche und belletristische Publikationen, aber auch pathetische Verfilmungen historischer Ereignisse, wie Jerzy Hoffmans Filme Ogniem i mieczem (1999, Mit Feuer und Schwert) und 1920 Bitwa Warszawska (2011, 1920. Die Schlacht bei Warschau), sorgen für die Präsenz der Antemurale-Vorstellung in der polnischen Öffentlichkeit. Vornehmlich von nationalkonservativen Parteien und Gruppierungen wird dieses Bild des öfteren für eigene politische Zwecke verwendet, so beispielsweise von der rechtspopulistischen Kaczyński-Partei Prawo i Sprawiedliwość (PiS, Recht und Gerechtigkeit). III. Ungarn Ähnlich wie in Polen reichen die Wurzeln der Antemurale-Rhetorik in Ungarn bis ins hohe Mittelalter zurück, und ebenso wie beim nördlichen Nachbarn sind die ersten Vermerke hier mit dem Mongolensturm des 13. Jahrhunderts verbunden (Schlacht bei Muhi 1241). Bereits Béla IV. bezeichnete sein „an die Heiden angrenzendes Königreich“ als die „Pforte“ zum christlichen Abendland, die nicht eingenommen werden dürfe. In mehreren an den Westen gerichteten Schreiben forderte der ungarische König militärische und finanzielle Unterstützung im Kampf gegen die Feinde des Abendlandes. Pro defensione Christianitatis sollten nach dem Willen der Päpste Gregor IX. und Innozenz IV. auch die griechisch-orthodoxen Völker Südosteuropas bekriegt werden. 811

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Nach 1350 kamen die Ungarn dann mit einer neuen aus Asien kommenden Bedrohung in Berührung. Das aufstrebende Osmanische Reich breitete sich stetig nach Norden aus und gefährdete die seit dem Hochmittelalter von der ungarischen Krone behauptete hegemoniale Stellung in Südosteuropa. Unter diesen Vorzeichen ist der 1396 vom ungarischen König Sigismund von Luxemburg inszenierte Kreuzzug gegen die Osmanen zu sehen, der vor den Toren des schwer befestigten Nikopolis in einer vernichtenden Niederlage des christlichen Heeres endete. Von der osmanischen Militärmacht tief beeindruckt, organisierte Sigismund daraufhin die Verteidigung des Landes neu und legte den Grundstein für den Ausbau eines Verteidigungsgürtels an der südlichen Donau. In Zeiten des Großen Abendländischen Schismas wurden die Verdienste des Luxemburgers im Kampf gegen die Osmanen von Päpsten wie von Gegenpäpsten honoriert, die Ungarn als „Schild, unbezwingbare Mauer und starken Arm des christlichen Glaubens“ priesen – so Johannes (XXIII.) und Gregor XII. in den Jahren 1410 und 1414. Vom römischen Kardinalskolleg wiederum wurde der Luxemburger ebenfalls Anfang des 15. Jahrhunderts mit dem Titel eines defensor Ecclesiae ausgezeichnet. Zugleich legte das Kolleg mit der Bezeichnung des Königreichs Ungarn als propugnaculum et clipeus Christianitatis eines der frühesten Zeugnisse der allegorischen Bollwerksdarstellung ab. An dieses Bild knüpfte Władysław III. von Polen, ab 1��0 auch ungarischer König, an, als er bei seinem Regierungsantritt in Ofen Ungarn und Polen gleichermaßen als „Mauer und Schild der Gläubigen zum Ruhm des göttlichen Namens und zum Schutz des katholischen Glaubens“ bezeichnete. Sein Tod in der Schlacht von Warna 1��� ließ den Jagiellonen auch in Ungarn zum Märtyrerkönig und zur Personifikation des athleta Christi werden. Für die Diffusion des ungarischen Bollwerks-Topos im Abendland sorgten seit den 1450er Jahren die in Gelehrtenzirkeln europaweit vernetzten Humanisten. Enea Silvio Piccolomini – ab 1�58 als Pius II. Papst – festigte in mehreren propagandistischen und panegyrischen Schriften das Bild Ungarns als christliches Bollwerk gegen die Osmanen. Seine Hervorhebung Ungarns als antemurale Christianitatis war hierbei eng mit dem Haus Hunyadi verbunden. Der ungarische Reichsverweser Johann Hunyadi wurde in mehreren Schreiben Piccolominis, unter anderem an Papst Nikolaus V., als „Streiter Christi“ hervorgehoben. Besonders in dessen Sohn, den ungarischen König Matthias Corvinus, setzte der Humanist und spätere Papst größte Hoffnungen und rühmte dessen Herrschaftsbereich 1463 als christianitatis inviolabile scutum. Matthias kämpfte allerdings während seiner langen zweiunddreißigjährigen Regierungszeit nur selten gegen die Osmanen, vielmehr instrumentalisierte der Corvine, wie schon seinerzeit Béla IV., die Bollwerksrhetorik für finanzielle Subsidien und rechtfertigte mit ihr gar seine gegen andere christliche Länder geführten Kriege. Die an seinem Hof versammelten Humanisten (Antonio Bonfini, Janus Pannonius, János Vitéz) dienten Matthias als wirksame Werkzeuge bei der Popularisierung seines Herrscherbildes als Verteidiger der Christenheit. Durch deren Wirken fand die Darstellung des ungarischen antemurale schnell und nachhaltig Verbreitung im übrigen Abendland, was diverse zeitgenössische italienische, französische, deutsche oder polnische Beschreibungen Ungarns als Bollwerk der Christenheit aus dem späten 15. und 16. Jahrhundert beweisen. 812

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Gern griffen auch seine Nachfolger auf dem ungarischen Thron, die Jagiellonen Władysław II. Jagiellończyk und sein Sohn Ludwig II., auf dieses allegorische Selbstbild zurück. In der Zeit des „Jagiellonischen Europa“, als um 1500 mit Polen, Litauen, Böhmen und Ungarn das gesamte östliche Mitteleuropa unter der Herrschaft der Jagiellonendynastie stand, baten gemeinsame Gesandte und Oratoren der jeweiligen Höfe wiederholt vor der Reichstagsöffentlichkeit um finanzielle Unterstützung in ihrem Status als antemurale. Nicolaus Rosenberg trug auf den Reichstagen in Freiburg im Breisgau (1�98) und Worms (1500) als ungarischer, böhmischer und polnischer Gesandter die Hilfsersuche der Jagiellonen im Kampf gegen die Osmanen vor, indem er die Bedeutung der jagiellonischen Länder für die Sicherheit des Heiligen Römischen Reichs hervorhob. Nach der Niederlage Ungarns und dem Tod Ludwigs II. in der Schlacht von Mohács 1526 gegen die Osmanen und der darauf folgenden Zerschlagung des mittelalterlichen Königreichs Ungarn wurde der Vormauer-Topos allmählich auf andere nördlicher beziehungsweise westlicher gelegene Gebiete übertragen. Die von den Habsburgern beherrschten ungarischen Gebiete wurden nun zum Teil eines breiten, auch andere habsburgische Territorien wie Kroatien, Slawonien oder Österreich umfassenden Befestigungsgürtels und zur Vormauer vornehmlich des Alten Reiches stilisiert. Zwar wurde das alte Bild des antemurale Christianitatis auch in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts immer wieder von dichtenden Grenzsoldaten – von Bálint Balassi in seinem um 1589 geschriebenen Gedicht „Abschied von der Heimat“ etwa oder in den 1549 bis 1562 an Tamás Nádasdy adressierten Briefen des Oberbefehlshabers des Palatin für die Südfront, Ákos Csányi – auf ganz Ungarn bezogen, mit der Vertreibung der Osmanen aus Ungarn infolge des Großen Türkenkrieges (1683–1699) verlor der Topos allerdings allmählich an realpolitischer Relevanz und somit auch an Wirkung. Ähnlich wie in Polen entdeckten auch in Ungarn die Romantik und die Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts die frühneuzeitliche Bollwerksrhetorik als einen vereinigenden Inklusions- und Exklusionsfaktor. Dichter wie Sándor Petőfi, János Arany, Ferenc Kölcsey oder Mór Jókai bauten nicht selten in idealisierter Form den Bollwerks-Topos als Kennzeichen ungarischer Identität in ihre Werke ein – als berühmtes Gedicht mag wohl Kölcseys A magyar nép zivataros századaiból (Aus den stürmischen Jahrhunderten des ungarischen Volks) dienen, dessen Text, 1823 verfaßt, 1903 zur offiziellen ungarischen Nationalhymne erhoben wurde. Eine weitere Parallele zum polnischen Topos stellt die Säkularisierung der Antemurale-Rhetorik dar. Nach der Niederschlagung der Ungarischen Revolution 18�8/�9 durch österreichische und russische Truppen wurde aus der Vormauer der Christenheit nach und nach eine „Bastion der Freiheit“. Besonders nach dem Einmarsch russischer Truppen 18�9 wurde Ungarn, genau wie Polen, zum Vorposten der europäischen Zivilisation erhoben. Der emigrierte Freiheitskämpfer Lajos Kossuth verbreitete in seinen Reden dieses Bild im westlichen Europa wie in den Vereinigten Staaten von Amerika: Ungarn sei, so Kossuth in einer Rede in den USA Ende 1851, „die Vorhut der Zivilisation und der religiösen Freiheit für den ganzen europäischen Kontinent gegen die Übergriffe des russischen Despotismus, so wie es einst die Barriere des Christentums gegen den Islam gewesen war“. 813

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Der zunehmend antirussische Charakter des Bollwerks-Topos sollte nach dem Ersten Weltkrieg und der gescheiterten Räterepublik von 1919 neuen Schub bekommen. Nun wurde Ungarn gleich dem neu entstandenen polnischen Staat zu einer Mauer gegen den Bolschewismus stilisiert. Im Sog des Rechtsrucks der Zwischenkriegszeit wurde der Antemurale-Topos von Politik und Wissenschaft als nationaler Orientierungsanker instrumentalisiert. Auch in Ungarn war man nun bemüht, mithilfe der Vormauer-Rhetorik die eigene Zugehörigkeit ganz klar im abendländischen Westen zu verorten. Gleichwohl wurde der Antemurale-Topos als Argumentationsgrundlage sowohl für den Nachweis der Herausbildung des ungarischen Nationalbewußtseins während der Türkenzeit als auch für die Grenzrevisionspolitik der ungarischen Rechten, die sich mit den Gebietsverlusten nach dem Ersten Weltkrieg nicht abfinden wollte, genutzt. Eine führende Rolle bei dieser Reaktivierung des Bollwerks-Topos kam hierbei namentlich dem Historiker Gyula Szekfű zu, der in mehreren Publikationen in den 1920er und 1930er Jahren Ungarn zum Vorposten des abendländisch-christlichen Kulturkreises stilisierte und damit auch die irredentistischen Bestrebungen der ungarischen Revanchisten zu legitimieren suchte. Abermals vermischte sich dabei die Antemurale-Topik mit anderen Topoi nationaler Identitätsstiftung. Dem Bild des propugnaculum Christianitatis wurden häufig die miteinander korrespondierenden Topoi der fertilitas Pannoniae (Pannoniens Reichtum) und der querela Hungariae (Ungarns Klage) zur Seite gestellt, so beispielsweise in der ungarischen Nationalhymne. Und auch der oft mit dem Bollwerksbild gepaarte Marienkult der Patrona Hungariae fand in der Verehrung Mariens als Königin von Polen ein polnisches Äquivalent. IV. Kroatien Anders als in Polen und Ungarn reichen die Wurzeln der kroatischen Antemurale-Rhetorik nicht bis ins Mittelalter zurück. Zwar lassen sich im späten Mittelalter allegorische Bollwerksumschreibungen einzelner kroatisch-dalmatinischer Städte finden – so wurde etwa Dubrovnik, das seit 1358 die Herrschaft der ungarischen Krone anerkannte, 1�5� vom ungarischen König Ladislaus Postumus als „Schild unseres Königreichs Dalmatien“ beschrieben –, da Kroatien aber seit 1102 in Personalunion von ungarischen Königen regiert wurde und somit einen festen Bestandteil der Corona Regni Hungariae bildete, betrafen die allegorischen Bollwerksdarstellungen bis in die Frühe Neuzeit zumeist nur Ungarn. Erst mit dem Untergang des mittelalterlichen Ungarn und der Anerkennung des Habsburgers Ferdinand I. als König von Ungarn und Kroatien durch den kroatischen Adel in der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts taucht Kroatien verstärkt in den Quellen als antemurale Christianitatis auf. Bis heute ist es in Kroatien üblich, dieses Bild auf Papst Leo X. zurückzuführen, der am 12. Dezember 1519 während eines Konsistoriums Kroatien als scudum solidissimum et antemurale Christianitatis, den härtesten Schild und die Vormauer der Christenheit, beschrieben haben soll. Allerdings läßt sich diese Zuschreibung, wie Franjo Šanjek 1993 nachwies, nicht in zeitgenössischen Quellen belegen. Auf 81�

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einem Reichstag in Nürnberg im November 1522 bezeichnete der österreichische Erzherzog Ferdinand I. Kroatien als „Zwingermauer“, während die „ritterlichen Kroaten“ wie ein Schild den habsburgischen Ländern Steiermark, Kärnten und Krain sowie ganz Zentral- und Westeuropa vorstünden. Die Bollwerksrhetorik wurde recht bald von den kroatischen Eliten adaptiert. Bereits im September 1522 beschrieb Bernardin Frankopan vor dem Reichstag in Nürnberg seine Heimat als „Schild und Pforte des Christentums“. Mit einem Schreiben an Papst Hadrian VI. lieferte sein Sohn ein Jahr später das erste belegbare Zeugnis des Antemurale-Begriffs in bezug auf Kroatien: Krsto Frankopan nannte Kroatien 1523 „Bollwerk und Tor des Christentums und insbesondere der angrenzenden Länder Kärnten, Krain, Friaul und Italien“. Bis zum Ende der Türkenkriege im frühen 18. Jahrhundert sollte sich Kroatien immer wieder mit dem Titel eines christlichen Bollwerks schmücken. Die kroatischen Dichter der Romantik griffen im 19. Jahrhundert – in dieser Hinsicht den zeitgleichen Entwicklungen in Polen und Ungarn vergleichbar – auf das alte Vormauer-Bild zurück. Sie versuchten Beweise für das „Auserwähltsein“ der Kroaten als Verteidiger des Abendlandes bereits im Hochmittelalter zu finden. Die unter den Historikern umstrittene, da von keinen zeitgenössischen Quellen belegte Schlacht auf dem Grobničko polje, in der kroatische Truppen 12�2 ein mongolisches Heer in die Flucht geschlagen haben sollen, nutzten Dichter wie Dimitrija Demeter (Grobničko polje, 18�2, Das Grobnik-Feld) oder Petar Preradović (Na Grobniku, 1851, Auf dem Grobnik) für die Propagierung des kroatischen antemurale und seiner jahrhundertealten Bedeutung für den Westen. Das Bild Kroatiens als abendländisch-christliche Vormauer war eines der zentralen und identitätsstiftenden Elemente beim kroatischen Nationsbildungsprozeß. Die allegorische Darstellung der das Abendland verteidigenden Croatia wurde auch von der Historienmalerei des 19. Jahrhunderts festgehalten, wie in dem Gemälde mit dem einschlägigen Titel Antemurale Christianitatis (1892) des Malers Ferdinand Quiquerez. Zur Hauptfigur dieses neuen kroatischen Bewußtseins sollte der Ban Nikola Šubić Zrinski werden, der bis heute die ihm von der kroatischen Nationalbewegung im 19. Jahrhundert verliehene Stellung als „kroatischer Leonidas“ im nationalen Kollektivgedächtnis bewahren konnte. Zrinski fand nach mehreren, in Diensten der Habsburger geführten Kämpfen gegen die Osmanen bei der Belagerung von Szigetvár 1566 den Tod, die Festung konnte allerdings von den Christen gehalten werden. Bereits in der Mitte des 17. Jahrhunderts widmete der Urenkel Zrinskis, Nikolaus Zrinski, seinem Vorfahren und der erfolgreichen Verteidigung von Szigetvár das Epos Obsidio Szigetiana (16�5–16�8). Während aber die panegyrische Schrift noch im Geist anderer, die eigene Dynastie emporhebender Werke der Frühen Neuzeit verfaßt worden ist, stilisierten die kroatischen Dichter der Romantik und aufkommenden Nationalbewegung des 19. Jahrhunderts die Schlacht um Szigetvár zur kroatischen Version der antiken Schlacht bei den Thermopylen und Zrinski zum kroatischen Nationalhelden schlechthin, so beispielsweise in der Oper Nikola Šubić Zrinski des Komponisten Ivan Zajc und des Librettisten Hugo Badalić aus dem Jahr 1876. 815

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In dem nach dem Ersten Weltkrieg neu entstandenen Königreich Jugoslawien und später in der blockfreien jugoslawischen Volksrepublik diente der Antemurale-Topos vor allem den nationalkonservativen Kreisen, die gegen den jugoslawischen Föderalismus und für ein unabhängiges Kroatien kämpften, als nationaler Erinnerungsort. In dem kurzlebigen „Unabhängigen Staat Kroatien“ (1941–1945), einem Satellitenstaat des nationalsozialistischen Deutschland, wurde das Bild Kroatiens als Bollwerk gegen den Osten beziehungsweise den Bolschewismus propagiert. Das Ustaša-Regime war darum bemüht, die Eigenständigkeit und Andersartigkeit der Kroaten gegenüber anderen südslawischen Völkern wie etwa den Serben hervorzuheben. In gewissem Sinne knüpfte dann fast ein halbes Jahrhundert später, kurz vor dem Auseinanderbrechen der Volksrepublik Jugoslawien, die erstarkende nationalkonservative kroatische Publizistik vermehrt an dieses identitätsstiftende Selbstbild Kroatiens als antemurale an und unterstrich die ethnische und konfessionelle Eigenständigkeit der Kroaten innerhalb des jugoslawischen Bundesstaates. Der Schriftsteller und spätere Parteigänger Franjo Tuđmans, Ivan Aralica, erinnerte in mehreren in den späten 1980er und frühen 1990er Jahren verfaßten Schriften an die kroatische Antemurale-Metapher. Nach der Sezession Kroatiens und dem Zerfall Jugoslawiens instrumentalisierte besonders die nationalkonservative Partei HDZ rund um ihren Gründer und den ersten Präsidenten des unabhängigen Kroatiens, Franjo Tuđman, den Antemurale-Topos, um das nationale und konfessionelle Selbstverständnis des südslawischen Landes zu legitimieren. Der Rückgriff auf die allegorischen Antemurale-Topoi und die Propagierung historisch konstruierter Bedrohungsszenarien sollten unter Tuđman die Notwendigkeit einer permanenten Selbstverteidigung suggerieren. Auch nach dem Tod Tuđmans 1999 und der damit einhergehenden sogenannten zweiten Transition in Kroatien blieb der Antemurale-Topos als Bestandteil des kroatischen Kollektivgedächtnisses ein identitätsstiftender Orientierungsanker, der bis heute in diversen Kontexten, in Grenzdiskursen, Bedrohungsszenarien oder in der Frage nach der Europäizität der kroatischen Nation, zur Legitimierung des nationalen Selbstverständnisses eingesetzt wird. V. Weitere Verbreitung Neben Polen, Ungarn und Kroatien taucht der Begriff und die Vorstellung einer Vormauer der Christenheit auch in anderen „Grenzregionen“ der lateinischen Christenheit auf. Spanien wurde im Zuge der Reconquista zur „Festung des Glaubens“ emporgehoben, die hauptsächlich von Spanien getragene Seeschlacht von Lepanto 1571 zum letzten Kreuzzug stilisiert. Österreich und die 1529 und 1683 durch die Osmanen belagerte Stadt Wien wurden ab dem frühen 16. Jahrhundert als Vormauer des Abendlandes, vornehmlich aber des römisch-deutschen Reiches glorifiziert. In den 1930er Jahren diente das alte Bollwerksbild den Nationalsozialisten als propagandistisches Instrument. Noch vor dem „Anschluß“ Österreichs an das Deutsche Reich 1938 rief die österreichische Rechte das Land zum „Schild, Pionier und Brücke des Deutschtums“ aus: „Österreich war 816

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immer der Schutzwall gegen den westwärts stürmenden Osten. Awaren-, Magyaren-, Türkenstürme und bolschewistische Einbrüche wurden hier aufgefangen“, so war in den 193�/35 verfaßten Richtlinien zur Führerausbildung der austrofaschistischen Organisation „Vaterländische Front“ zu lesen. In Albanien wird bis heute an die Rolle des Landes bei der Verteidigung des Abendlandes gegen die Osmanen in der Mitte des 15. Jahrhunderts erinnert, so etwa in dem albanisch-sowjetischen Monumentalfilm Skënderbeu aus dem Jahr 1953. Unter Fürst Gjergj Kastrioti „Skanderbeg“, der von den Päpsten Nikolaus V., Kalixt III., Pius II. und Paul II. mit dem Titel eines athleta Christi ausgezeichnet wurde, konnten die Albaner jahrelang erfolgreich die osmanischen Eroberungsversuche abwehren. Auch Venedig mit seinen diversen Besitzungen im Mittelmeerraum und die vom Johanniterorden verteidigten Inseln Rhodos und Malta beanspruchten dieses Bild. Das seit der arabischen Expansion im frühen Mittelalter von Christen und Moslems hart umkämpfte Malta gelangte als Bollwerk der Christenheit in der Frühen Neuzeit zu europaweitem Ruhm. Diese Stellung verdankte die Insel in erster Linie der erfolgreichen Abwehr mehrerer osmanischer Eroberungsversuche im 16. und 17. Jahrhundert, als die vom Johanniterorden stark befestigte Insel mit ihrer Schlüsselstellung im Mittelmeer zwischen 1533 und 1546 zahlreichen Angriffen des osmanischen Korsaren Khair ad-Din Barbarossa trotzte und der großen Belagerung 1565 durch den osmanischen General Lala Kara Mustafa Paşa widerstand. Diese ist hauptsächlich mit dem Namen des Großmeisters des Malteserordens und Begründers und Namensgebers der heutigen maltesischen Hauptstadt, Jean de la Valette, verbunden. Malta festigte mit diesem Ausharren an der südlichsten Grenze des Abendlandes das Bild eines Bollwerks der Christenheit. So wurden nach der großen Belagerung von 1565 gar im protestantischen England Dankgebete anläßlich der erfolgreichen Abwehr Maltas gesprochen, wobei die Mittelmeerinsel als keye and fortes of chrystendome gepriesen wurde. Der deutsche Polyhistor Hieronymus Megiser widmete ihr noch 1606 ein Werk mit dem Titel Propugnaculum Europae und beschrieb sie als der Christenheit einige frontier und vormaur […] wider den Erbfeind. Neben dem Johanniterorden wurde mit dem Deutschen Orden ein weiterer geistlicher Ritterorden zum Bollwerk des Abendlandes stilisiert. Bereits während seines kurzen Aufenthalts im Burzenland 1211 bis 1225 bezeichneten sowohl der ungarische König Andreas II. als auch die Päpste Honorius III. und Gregor IX. den Orden als Bollwerk Ungarns und der ganzen Christenheit. Dieses Bild wurde in der Folgezeit jedoch hauptsächlich mit den nach 1226 einsetzenden Kreuzzügen des Ordens gegen die baltischen Prußen und Litauer und der Errichtung des Ordensstaates in Preußen verbunden. Im diplomatischen Ringen mit Polen unter den letzten zwei Piasten im 1�. Jahrhundert und unter den Jagiellonen auf den Konzilen von Konstanz und Basel berief sich der Orden immer wieder auf seine Rolle als „wahres“ christliches Bollwerk und stellte somit das polnische Vormauer-Selbstbild in Frage. Noch nach der Säkularisierung des Ordensstaates 1525 und seiner Umwandlung in ein weltliches, von Polen abhängiges Herzogtum erinnerte der erste preußische Herzog Albrecht von Hohenzollern an die einstige Stellung des Ordensstaates als „der Christenheit Stütze und Bollwerk“. Dieser Topos wurde 817

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dann im späten 19. und frühen 20. Jahrhundert von der deutschen Nationalbewegung erneut aufgegriffen und gehörte fortan zum Repertoire national-konservativer Geschichtsschreibung – exemplarisch sei hier nur auf Heinrich von Treitschke und seine Stilisierung des Deutschen Ordens zum deutschen Bollwerk gegen die „Slawenflut“ verwiesen. Nach der Niederlage Deutschlands im Ersten Weltkrieg und Gebietsverlusten zugunsten des neu entstandenen Polen vereinnahmten die Nationalsozialisten das Bollwerksbild des Ordens zur Unterstreichung des „Deutschtums im Osten“. Auch die Donaufürstentümer Walachei und Moldau beanspruchten für sich vor allem im 15. und frühen 16. Jahrhundert das Bild einer die Christenheit schützenden Mauer. Vlad Țepeș Drăculea, historische Vorlage der Romanfigur Bram Stokers, rühmte in mehreren Schreiben an Matthias Corvinus seinen Widerstand gegen das Osmanische Reich und dessen Expansion auf dem Balkan und beschrieb sich selbst, obwohl orthodoxer Christ, als Verteidiger des katholischen Glaubens. Sein Cousin auf dem moldauischen Thron, Ștefan cel Mare, wurde von Papst Sixtus IV. 1�7� gar mit dem Titel eines athleta Christi ausgezeichnet, ein Ehrentitel, der sonst nur Herrschern der lateinischen Christenheit vorbehalten war. Stefan war es auch, der das Bild der die abendländische Christenheit verteidigenden Donaufürstentümer mit eifriger Propagandatätigkeit verstärkte. So wurden sowohl die Walachei als auch die Moldau etwa in einem 1�77 an den venezianischen Senat gerichteten Schreiben des moldauischen Woiwoden als Verteidigungsfestung und Grenzwächter Ungarns und Polens beschrieben. Nur diese beiden Fürstentümer, so Ștefan, hinderten die Osmanen am Einfall ins restliche Europa. Petru Rareş, Ștefans unehelicher Sohn und Nachfolger auf dem moldauischen Thron, schrieb noch 15�2 an den polnischen König Sigismund I., die Moldau sei sowohl die Pforte als auch zugleich der Schlüssel zu Ungarn und Polen, doch geriet dieses Bild recht bald in Vergessenheit, nachdem beide Donaufürstentümer am Ausgang des Mittelalters für Jahrhunderte zu osmanischen Vasallen wurden und infolgedessen auf muslimischer Seite gegen christliche Staaten kämpften. In Anknüpfung hieran griff erst die rumänische Nationalbewegung im 19. und 20. Jahrhundert auf den Bollwerks-Topos zurück und verarbeitete diesen in vielen literarischen Werken. Zur Zeit des rumänischen Nationalkommunismus unter Nicolae Ceaușescu wurde der Topos in regimefreundlichen Historienfilmen über Vlad Țepeș Drăculea und Ștefan cel Mare instrumentalisiert und trug zur Legitimation des Führerkults um Ceaușescu bei. Auch nach dem Fall des Kommunismus 1989 wird dieser Topos im heutigen Rumänien und Moldawien benutzt, so zum Beispiel in dem 1992 erschienenen Dokumentarfilm „Dieses Tor der Christenheit“ (Această poartă a creştinătăţii) von Boris Ciobanu, der die Anfänge und die Verteidigung des Christentums im südlichen Karpatenraum im Mittelalter thematisiert. Die Donaufürstentümer bilden jedoch nicht die einzigen Beispiele für die Übertragung einer ursprünglich abendländisch-lateinischen Bollwerksvorstellung auf Länder, die zur orthodoxen Christenheit gehören. Auch die ukrainischen Kosaken stellten sich seit dem 16. Jahrhundert als „Bastion des Christentums“ dar. Dieses Bild instrumentalisierte die ukrainische Nationalbewegung seit dem 19. Jahrhundert als Teil eines identitätsstiften818

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Jan Aleksander Gorczyn, Forteca duchowna Królestwa Polskiego [Die geistige Festung des polnischen Königreichs], 1662, Holzstich. Das Titelbild des gleichnamigen Buches von Piotr Pruszcz (Cracoviae 1662) stellt die allegorische Polonia, umgeben von dem sagenhaften Ahnherrn der Polen, Lech, und dem ersten polnischen König, Bolesław Chrobry, als eine geistige Festung des Christentums dar. In der dahinterliegenden, befestigten civitas Dei wacht die von polnischen Schutzheiligen umringte Maria als Patronin Polens. Bildnachweis: Privatarchiv Paul Srodecki.

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den politischen Mythos und ließ es zu einem der Fundamente des nation building werden. Ein weiteres Beispiel dieser Vereinnahmung des Antemurale-Topos bietet das zaristische Rußland, das besonders seit der Zeit Peters des Großen seine historischen, im Kampf gegen die Mongolen und Tataren liegenden Wurzeln zur Selbstdarstellung als christliches Bollwerk einband. Im Fall von Rußland wurden die Bollwerks-Topoi, die in literarischen Werken wie Aleksandr Puškins Boris Godunov (1825) weite Verbreitung in der russischen Bevölkerung fanden, vor allem im 19. Jahrhundert als propagandistisches Mittel der Diplomatie zur Legitimierung der Eroberung und Kolonialisierung der überwiegend in Asien liegenden Gebiete eingesetzt. VI. Auswahlbibliographie a) Polen rhode, Gotthold: Die Ostgrenze Polens. Politische Entwicklung, kulturelle Bedeutung und geistige Auswirkung, Bd. 1. Köln/Graz 1955; GrabsKi, Andrzej Feliks: Polska w opiniach Europy zachodniej XIV–XV w. [Polen in der Meinung des westlichen Europa im 1�. und 15. Jahrhundert]. Warszawa 1968; tazbir, Janusz: Rzeczpospolita i świat. Studia z dziejów kultury XVII wieku [Die Adelsrepublik und die Welt. Studien zur Kulturgeschichte des 17. Jahrhunderts]. Warszawa 1971; KnoLL, Paul W.: Poland as antemurale christianitatis in the Late Middle Ages. In: The Catholic Historical Review 60 (197�) 381–�01; Graciotti, Sante: L’antemurale Pollacco in Italia tra Cinquecento e seicento. In: ŚLasKi, Jan (Hg.): Il barocchi di un mito. Barocco fra Italia e Polonia. Warszawa 1977, 303–323; Weintraub, Wiktor: Renaissance Poland and Antemurale Christianitatis. In: Harvard Ukrainian Studies � (1980) 920– 930; tazbir, Janusz: Polskie przedmurze chrześcijańskiej Europy. Mity a rzeczywistość historyczna [Die polnische Vormauer des christlichen Europa. Mythen und die historische Wirklichkeit]. Warszawa 1987; rothe, Hans: Die Stellung Polen-Litauens in der Kulturgeschichte Europas zwischen Ost und West. In: hecKer, Hans/sPieler, Silke (Hg.): Nationales Selbstverständnis und politische Ordnung. Abgrenzungen und Zusammenleben in Ost-Mitteleuropa bis zum Zweiten Weltkrieg. Bonn 1991, 9–23; oLszeWsKi, Henryk: The Ideology of the Polish-Lituanian Commonwealth as the Bulwark of Christianity. In: Polish Western Affairs 33 (1992) 69–86; KrzyżaniaKoWa, Jadwiga: Polen als antemurale Christianitatis. Zur Vorgeschichte eines Mythos. In: saLdern, Adelheid von (Hg.): Mythen in Geschichte und Geschichtsschreibung aus polnischer und deutscher Sicht. Münster 1996, 132–146; KurtyKa, Janusz: Podolia. The ‚Rotating Borderland‘ at the Crossroads of Civilizations in the Middle Ages and in the Modern Period. In: JaneczeK, Andrzej/Wünsch, Thomas (Hg.): On the Frontier of Latin Europe. Integration and Segregation in Red Ruthenia, 1350–1600. Warszawa 200�, 119–187; tazbir, Janusz: Polska przedmurzem Europy [Polen als Vormauer Europas]. Warszawa 200�; Gąsior, Agnieszka: Die Gottesmutter. Marias Stellung in der religiösen und politischen Kultur Polens. In: saMersKi, Stefan (Hg.): Die Renaissance der Nationalpatrone. Erinnerungskulturen in Ostmitteleuropa im 20./21. Jahrhundert. Köln/Weimar/Wien 2007, 77–98; Kraft, Claudia/steffen, Katrin (Hg.): Europas Platz in Europa. Polnische Europa-Konzeptionen vom Mittelalter bis zum EU-Beitritt. Osnabrück 2007.

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Der serbische Kosovomythos I. Zusammenfassung. – II. Die Schlacht auf dem Amselfeld. – III. Die Entwicklung des Mythos in Spätmittelalter und Frühneuzeit. – IV. Diskursive Veränderungen nach 1800. – V. Die Umgestaltung des Mythos nach 1980. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 wurde früh in geistlichen Gesängen, in der weltlichen Chronistik und in epischen Liedern und Erzählungen dargestellt. Erst im 19. Jahrhundert bündelten serbische Intellektuelle die unterschiedlichen, bisher nicht mit moderner nationaler Bedeutung aufgeladenen Erzählstränge. Sie versahen den Mythos mit zahlreichen neuen Elementen und machten ihn zur bedeutendsten der weltlichen und religiösen nationalen Erinnerungsfiguren. Dennoch wurden gerade diese Diskurse auch kontrovers geführt. Neben der nationalen politischen Ausgestaltung des Gedenkens entstand zu Ende des 19. Jahrhunderts auch eine nationalkirchliche Erinnerungspolitik. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts verstärkte sich die Sakralisierung der Nation mithilfe des Mythos. Das Gedenken der Schlacht auf dem Amselfeld spielte im Sozialismus keine nennenswerte Rolle. Es erlebte aber nach 1980 eine bis in die Gegenwart andauernde Wiederbelebung, trotz oder gerade wegen des faktischen Verlustes des Gebiets für den serbischen Staat.

II. Die Schlacht auf dem Amselfeld Im Jahr 1388 bat der serbische Adlige Đurađ II. Balšić um osmanische Unterstützung, um gegen den bosnischen König Tvrtko vorzugehen. Nach einer ersten Niederlage versuchte Sultan Murad I. 1389 über das von serbischen Adligen beherrschte Amselfeld (serbisch Kosovo polje, albanisch Fushë Kosovë) erneut gegen Tvrtko zu ziehen. Dabei stieß er auf ein Heer serbischer und bosnischer Adliger. Die schriftlichen Informationen aus der Zeit unmittelbar nach der Schlacht über diese sind karg und widersprüchlich. Aus serbischen Quellen ist bekannt, daß die Schlacht gegen die Türken, auf deren Seite laut einer florentinischen Chronik auch Byzantiner und Genueser standen, nach dem julianischen Kalender am 15. Juni 1389, das heißt nach dem gregorianischen Kalender am 28. Juni, stattfand. Die Heere trafen sich auf dem Amselfeld, südlich des Flusses Laba, am Ort, wo nach der Schlacht das Grabmal Murads errichtet wurde. Das Zentrum des serbischen Heeres wurde von dem Fürsten Lazar befehligt, der linke Flügel von Vuk Branković und der rechte vom bosnischen Herzog Vlatko Vuković. Murad befehligte das Zentrum des osmanischen Heeres, sein Sohn Bayezid dessen rechten Flügel und sein zweitältester Sohn Yakub Çelebi kommandierte den linken. Murad fiel ganz am Anfang 823

Radmila Radić

der Schlacht. Bayezid ging darauf zum Gegenangriff über und führte den entscheidenden Schlag gegen das serbische Heer. Später wurde Fürst Lazar wahrscheinlich verwundet, gefangen genommen und kurz darauf hingerichtet. Das osmanische Heer war doppelt so groß wie das serbische. Die Verluste während der nur wenige Stunden dauernden Schlacht waren auf beiden Seiten zahlreich, wobei die osmanischen viel größer als die serbischen ausfielen. Es scheint, als ob die Zeitgenossen selbst keine klare Vorstellung vom Ergebnis der Schlacht hatten. In manchen ausländischen zeitgenössischen Quellen, die in der christlichen Welt entstanden, wurde sogar betont, daß die Serben siegreich waren. Keine Quelle aus christlicher Perspektive aus dem 1�. und 15. Jahrhundert spricht von einem osmanischen Sieg. Erst später wurden die Nachrichten über die Schlacht umfangreicher, aber nicht zuverlässiger oder genauer. Dennoch wurde die Schlacht in Gesängen, Erzählungen und in der weltlichen Historiographie später zum zentralen Ereignis der serbischen Geschichte. Die schlimmsten Folgen bekamen Lazars Nachfolger zu spüren. Unmittelbar nach der Schlacht überfiel der König von Ungarn und Kroatien, Sigismund, serbische Länder, wobei er die Politik Ludwigs I. fortsetzte. Um die Verheerung des Landes von Norden her zu verhindern, unterwarf sich Fürstin Milica mit ihren Söhnen Stefan und Vuk den Osmanen. Vuk Branković leistete noch einige Zeit Widerstand. Er mußte sich aber 1392 Bayezid unterwerfen und Tribut für das ganze Land entrichten. Im Herbst 1396 fiel Vuk in osmanische Hände. Den größten Teil seiner Länder überließen die Türken dem Nachfolger Lazars. Sie behielten jedoch strategische Punkte unter eigener Kontrolle. Serbien überdauerte als Vasallenfürstentum bis 1459. Dennoch wurden im serbischen historischen Gedächtnis die Ereignisse im Zusammenhang mit der Schlacht auf dem Amselfeld zu einer symbolischen Zäsur zwischen Unabhängigkeit und Unterwerfung. Unmittelbar nach der Schlacht und dem Tod des Fürsten entstand für die Bedürfnisse der Dynastie der Lazarević die kirchliche Legende von der Schlacht, in der Lazar im Mittelpunkt stand. Da Fürst Lazar und seine Krieger den christlichen Glauben und die Kirche verteidigend fielen, wurde er zu den Märtyrern gezählt. Sein Heiligenkult steht in einer langen Reihe von kanonisierten serbischen Herrschern, die mit Simeon Nemanja und Sava ihren Anfang nahm. Im Zusammenhang mit Lazars Heiligsprechung 1390/91, die den Kult des gefallenen Fürsten festigte, entstand der erste thematisch abgerundete Textzyklus über die Schlacht auf dem Amselfeld. Die serbische Kirche, die – solange das Erzbistum (bis 1�75) und später das Patriarchat von Peć (1566–1766) bestand – der einzige organisierte Vertreter des serbischen Volkes innerhalb des osmanischen Herrschaftssystems war, bewahrte die Erinnerung an die Herrschaft der Nemanjiden. III. Die Entwicklung des Mythos in Spätmittelalter und Frühneuzeit Die Entwicklung des Kosovomythos machte mehrere Phasen durch, in denen die Kirche, die Volksepik und spätere historische Ereignisse unterschiedliche Rollen spielten. Die Schlacht auf dem Amselfeld wurde als großes Kollektivdrama zu einer unerschöpflichen 82�

Der serbische Kosovomythos

Quelle an mythischem Material, das den Rahmen für alle späteren großen mythologischen Produktionen lieferte. Die serbische Kirche verehrte Lazar als heilig und legitimierte auf diese Weise die Nachfolge des Herrscherhauses der Lazarević. Der Kult wurde auch durch bildliche Darstellungen wie Ikonen verbreitet. Die Lazar-Legende wurde in der Folge mehrfach erneuert, beispielsweise während der großen Wanderung der Serben nach Ungarn 1690 und der Überführung der Reliquien Lazars aus dem Kloster Ravanica über Szentendre ins gleichfalls ungarische Kloster Vrdnik. Die Gebeine blieben dort bis 1942. Dann wurden sie nach Belgrad gebracht, wo sie bis zum Tag des heiligen Veit im Jahr 1988 ruhten. Die mündliche Volkstradition übernahm alle Hauptmotive der Überlieferung aus der geschriebenen kirchlichen Literatur und machte daraus ihre epischen mündlichen Chroniken. Die Legende hat ihre Grundlage im Heldentum und im Verrat. Das Verratsmotiv entstand im Laufe der Jahrhunderte in mehreren Etappen. In der Chronik von Peć von 1402 wurde der Verrat nur als Möglichkeit erwähnt, nicht aber als Ereignis, das tatsächlich stattgefunden hatte. Ende des 15. Jahrhunderts wurde das Verratsmotiv in einer späten osmanischen Chronik in Zusammenhang mit einer nicht näher beschriebenen Gruppe von Menschen gebracht. Erst der Ragusaner Mavro Orbini erwähnte in seinem Werk Il regno degli Slavi, das 1601 auf Italienisch veröffentlicht wurde, sowohl den Namen des Vuk Branković, des Schwiegersohns Lazars, als auch den Verrat. Die Historiker Ljubomir Kovačević und Ilarion Ruvarac bewiesen Ende des 19. Jahrhunderts, daß Vuk Branković keinen Verrat auf dem Amselfeld begangen hatte. Sie kamen unabhängig voneinander zum gleichen Schluß, und bis zum heutigen Tag wurden ihre Ergebnisse nicht widerlegt. Dennoch blieb das Motiv des Verrats präsent und wurde oft in Zusammenhang mit unterschiedlichen politischen Motiven und religiösen Interessen aktualisiert. Das andere Motiv der Legende, das des Heldentums, entwickelte sich als weltlicher Diskurs und wurde mit dem Namen des Helden Miloš Obilić (oder Kobilić) verknüpft, der Murad ermordet haben soll. Sein Name taucht in den Quellen erst im 15. Jahrhundert auf, und seine historische Existenz bleibt zweifelhaft. Die Miloš zugeschriebenen Motive nahmen in der epischen Dichtung unterschiedliche Formen an und zogen in der Form der Heldenepik früh die Aufmerksamkeit der mündlichen Tradition auf sich. Die Ritterlichkeit des Miloš und seine Selbstüberwindung in der Schlacht auf dem Amselfeld beeinflußten das Entstehen des Kultes. Die Kirche hat ihn im 19. Jahrhundert heilig gesprochen. Schon früher war sein Antlitz auf Fresken auch mit Heiligenschein abgebildet worden. Es kommt aber nicht von ungefähr, daß zuerst die Heldentat von Miloš und erst viel später sein Name erwähnt wurden. Das Recht, glorifiziert und verehrt zu werden, genoß ausschließlich Fürst Lazar, der gewöhnlich die Verkörperung all derer war, die auf dem Amselfeld tapfer kämpften und den Märtyrertod starben. Miloš’ Heldentat war damit ein Teil der Heldentat der Krieger Lazars. Während Vuk Branković als Schurke in jeder Hinsicht galt, war Miloš sein Gegensatz, der stolz, gerecht und treu gewesen sein soll. Die lückenhafte Kenntnis des Ereignisses, das die Zeitgenossen erschütterte, wurde bald in eine Legende umgeschmiedet, die später mit neuen Motiven erneuert wurde und sich weiter verbreitete. Die ersten Spuren der Legende sind schon in den oben erwähnten 825

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Texten aus dem späten 1�. Jahrhundert zu finden. Ihr Ursprung lag nicht in der Volksliteratur, sondern stand im Zusammenhang mit der Schöpfung des Kults des gefallenen Fürsten Lazar. Mit der Zeit verdrängte der Held den Märtyrer. In den späteren Texten wurde mehr auf Lazars kriegerische Tüchtigkeit und auf seinen Helden- und nicht Märtyrertod bestanden. Mavro Orbini veröffentlichte die entwickelte und abgerundete Version der Legende in seinem bereits genannten Werk. Nach Orbini wurde der Kreis der Helden ausgedehnt und neue Einzelheiten hinzugefügt. Ende des 15. Jahrhunderts wurden das Motiv der Frauen, die aus Eitelkeit ihre Ehegatten anfeindeten, das Motiv des Mädchens vom Amselfeld, das der Mutter und der Brüder Jugović, der Amselfeld-Pfingstrosen und viele andere eingeflochten. Im frühen 18. Jahrhundert verfaßte ein unbekannter Schriftsteller in der in Montenegro gelegenen Bucht von Kotor Žitije svjatago kneza Lazara, Miloša Obilića, Vuka Brankovića i ostale srpske gospode (Vita des Fürsten Lazar, Miloš Obilić, Vuk Branković und anderer Herren). Diese späte Vita wurde zur endgültigen und abgerundeten Form der Legende und kursierte auch als Priča o boju na Kosovu (Die Geschichte von der Schlacht auf dem Amselfeld) . Sie wurde während des 18. und 19. Jahrhunderts in vielen serbischen Gebieten häufig abgeschrieben und gelesen. Die große Zahl der erhaltenen Varianten des Manuskripts der Priča (36) bezeugt eine intensive Tradition. Die Forschung hat festgestellt, daß es sich um eine gut durchdachte Kompilation handelt, deren Verfasser das Werk von Mavro Orbini, alte serbische Chroniken und Viten, mündliche Erzählungen sowie die Volksepik verwendete. Von größerer Bedeutung ist, wie die Ereignisse der Schlacht auf dem Amselfeld zu einem Bestandteil der mündlichen Volkspoesie wurden, die sich in der serbischen Gemeinschaft unter der osmanischen Herrschaft entwickelte. In diesen Gedichten wurden die historischen Persönlichkeiten in die mythischen Archetypen des Guten und des Bösen umgewandelt. Über Jahrhunderte erfolgte die Mythisierung der Kosovo-Legende in später Überlieferung in Zehnsilbern. Die mündliche Überlieferung verbreitete sich in den kurzen Versen der epischen Gedichte rasch und leicht. Die serbische Epik steht unter dem Zeichen des Amselfelds: Der Vor-Amselfelder Zyklus ahnt die Niederlage, der Amselfelder Zyklus beschreibt sie und der Nach-Amselfelder betrauert sie. Sima Ćirković behauptet, die ersten Schöpfer und Hörer der Epik seien Standesgenossen der Amselfeld-Helden gewesen, Krieger aus der patriarchalischen Stammesgesellschaft, von der Militärgrenze sowie aus den Uskoken- und Haidukenbanden, die in den epischen Helden Musterbeispiele kriegerischer Tüchtigkeit und ritterlicher Ethik abgaben. Im Rahmen der Dichtung erfolgte die Verknüpfung des Untergangs des serbischen Reiches mit der Schlacht auf dem Amselfeld und die Entstehung unterschiedlicher Legenden über die Herkunft der Familien, Siedlungen, Ortschaften und Denkmäler, die in einem Zusammenhang mit dem Amselfeld und seinen Helden stehen. Das epische Bild von der Schlacht auf dem Amselfeld und deren Helden wurde nach den Regeln des Genres gestaltet und dem Stil der Epoche angepaßt. Es erfüllte über Jahrhunderte die Bedürfnisse unterschiedlicher serbischer Gemeinschaften. Die Schlacht auf dem Amselfeld, mit den Einzelheiten aus der Überlieferung bereichert, wirkte auf die späteren Generationen und gestaltete das historische Bewußtsein. 826

Der serbische Kosovomythos

IV. Diskursive Veränderungen nach 1800 Der zunächst anationale Mythos war bis ins 19. Jahrhundert nicht nur unter Serben populär und wurde erst dann stärker mit nationaler Bedeutung aufgeladen. Überdies war die Schlacht auf dem Amselfeld bis dahin im Vergleich mit anderen Ereignissen und Persönlichkeiten (wie etwa Kraljević Marko) nicht das Hauptthema der serbischen Epik. Während des Ersten Serbischen Aufstandes von 180� bis 1813 war der Kult Stefans des Erstgekrönten wichtiger als der Kult des Fürsten Lazar. Der populärste serbische Volksheld, Kraljević Marko, war eine Eigentümlichkeit, da es sich um eine Persönlichkeit handelt, die der Mythos ganz anders darstellte, als sie in historischen Quellen beschrieben wurde. Der Glaube an seine Rückkehr ging davon aus, Kraljević Marko sei auf dem ŠaraGebirge eingeschlafen. Wenn er erwache, würde er das ehemalige serbische Kaiserreich erneuern und das Amselfeld rächen. Zur Zeit des Anfangs des Ersten Balkankrieges im Oktober 1912 wurde im Volk davon gesprochen, Kraljević Marko sei endlich aufgewacht. Die Rache für das Amselfeld wurde im 19. und 20. Jahrhundert als das wichtigste Vermächtnis der serbischen Orthodoxie beschworen. Eine Rekonstruktion der serbischen religiös-nationalen Mythologie begann mit den Aufständen gegen die Osmanen und mit der Entstehung des serbischen Staates. Ein großer Teil der Aufstandsführer waren orthodoxe Geistliche, die das Bauerntum an die tragische Schlacht erinnerten. Der Kosovomythos wurde mit ideologischen Ansprüchen aktualisiert und zur Mobilisierung während der Befreiungskriege eingesetzt. Dank der Tradition der orthodoxen Kirche und dem späteren Wirken der serbischen Geschichtsschreiber erhielt die Volksepik über die Schlacht auf dem Amselfeld eine Vermittlerrolle zwischen dem alten und dem neuen serbischen Staat. Die montenegrinischen Stämme leiteten ihre Herkunft von Helden des Amselfelds ab. Der montenegrinische Fürst Peter Petrović Njegoš schrieb den Untergang des mittelalterlichen serbischen Königreichs der Sündhaftigkeit der Menschen und der Entfremdung von Gott zu. Njegoš erhob Miloš im Gorski vijenac (Bergkranz) zum Muster aller ritterlichen Tugenden. Die zum Islam übergetretenen Slawen betrachtete Njegoš als Verräter. Andere Schriftsteller gestalteten Lazars christologisches Porträt. Das Märtyrertum der Helden des Amselfelds, die den Tod und das Himmelreich dem Leben unter den Ungläubigen vorzogen, wurde zu einem Märtyrertum für die nationale Befreiung. Die Mythen spielten eine Rolle auch bei Dositej Obradović, Lukijan Mušicki, Jovan Sterija Popović, und sogar die Anhänger der illyrischen Bewegung mit Ljudevit Gaj an der Spitze hatten eine Neigung zur Kosovogeschichte. Während des 19. Jahrhunderts wurde die Thematik immer häufiger von serbischen Schriftstellern, Malern und Dichtern gebraucht. Für die Verbreitung der epischen Lieder in Serbien, aber auch in Deutschland, war die Sammlung und Herausgabe serbischer Volkslieder durch den Philologen Vuk Karadžić in Leipzig von 1823 an sowie der Druck ihrer deutschen Übersetzung durch Therese von Jacob 1825/1826 entscheidend. Die weitere internationale Rezeption des Mythos bleibt hier ausgeklammert. Eine Reihe serbischer Kultur- und Kunstveranstaltungen wurde den Helden vom Amselfeld und 827

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dem Motiv selbst gewidmet. Eine Sonderrolle spielte bei dieser Ideologisierung das serbische Schulwesen. Der Kosovomythos wurde zum wesentlichen Kristallisationspunkt der modernen serbischen religiösen und nationalen Identität. Die ganze nachfolgende Geschichte erschien als eine Fortsetzung dieser Schlacht. Der Führer des Aufstandes, Đorđe Petrović, genannt Karađorđe, wurde als Rächer der Niederlage dargestellt. In seinen Reden berief er sich auf die Schlacht auf dem Amselfeld, auf die Erbschaft der Nemanjiden und der Orthodoxie. Er verglich seine Befehlshaber mit spartanischen und römischen Helden und mit Obilić und verteilte Auszeichnungen mit dessen Namen. Von den Kriegen im 19. Jahrhundert bis zum Ende des 20. Jahrhunderts trugen die serbischen Militäreinheiten die Namen der Kosovohelden. König Peter I. Karađorđević, der der neue Lazar genannt wurde, zündete nach dem Ersten Balkankrieg das Bischofslicht im Kloster Dečani an. Die serbische Publizistik stellte die Eroberung Altserbiens, wie man das Gebiet nun nannte, als Rückkehr nach Jerusalem dar. Während des Ersten Weltkrieges schlug Živojin Mišić vor, daß die serbische Armee vor den überlegenen Truppen des Feindes auf dem Amselfeld halt machen, sich um Peć sammeln und dort Widerstand leisten sollte. Trotz der Kritik an der mythologischen Deutung der Schlacht auf dem Amselfeld durch einzelne Historiker und des Sieges in der serbischen Historiographie des 19. Jahrhunderts prägte sich die Volkstradition über die serbische Niederlage so tief ins Bewußtsein sowohl der einfachen Leute als auch der Historiker ein, daß sie allgemein akzeptabel wurde. Als der serbische Staat im letzten Viertel des 19. Jahrhunderts seine nationalen und politischen Institutionen aufbaute, erfuhr der Mythos eine neue Metamorphose. Neben der nationalen gewann er auch politische und ideologische Bedeutung. Die junge Monarchie wollte das Amselfeld rächen sowie ihren Platz zwischen Rußland und Österreich-Ungarn finden. Besonders bedeutende Momente waren dabei die 500-Jahrfeier der Schlacht auf dem Amselfeld in Kruševac 1889 und die erste architektonische Darstellung des Mythos Anfang des 20. Jahrhunderts im Projekt des kroatischen und jugoslawischen Künstlers Ivan Meštrović, des Tempels zu Ehren des heiligen Veit. Während es sich im ersten Fall um eine Befreiungsmanifestation handelte, wobei zugleich die Fundamente des Denkmals zu Ehren Lazars und der Pulverkammer eingeweiht wurden, handelte es sich im zweiten Fall um eine schon ausgebaute Ideologie mit eigener Ikonographie und mit politischem Unterton. In einem Aufruf aus dem Jahr 1913 stand, daß „die serbische Nationalreligion, vom Tempel des heiligen Veit“ symbolisiert, „der tiefste Inhalt der jugoslawischen Kultur“ werden solle. Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts griff eine ganzen Reihe von Literaten wie Milan Rakić, Miloš Crnjanski, Aleksa Šantić und andere den Mythos auf. Ähnlich wie Christus entschied sich Lazar in ihren Werken zwischen dem Erden- und Himmelreich für das letztgenannte. Manche Autoren bezeichneten diese Entscheidung nun als Wendepunkt im historischen Schicksal des ganzen serbischen Volkes. Als Beispiel wird die Rede des serbischen Premierministers Nikola Pašić nach dem Zusammenbruch Serbiens im Ersten Weltkrieg angeführt, in der er sagte „es wäre besser, wenn wir alle als freie Menschen sterben, als daß wir wie Sklaven leben“. Patriarch Gavrilo Dožić sollte am Tag des Putsches am 27. März 19�1 Gleiches verkünden. 828

Der serbische Kosovomythos

Der Kult des heiligen Veit entwickelte sich parallel zum Amselfeldmythos. Der heilige Veit wurde mit dem Gott der Westslawen, Svantevid, in Verbindung gebracht, aber auch mit dem in der römisch-katholischen Kirche verehrten Märtyrer des 3. Jahrhunderts, Vitus, an dessen Todestag Fürst Lazar gestorben war. Die serbische orthodoxe Kirche versuchte mit dem heiligen Veit den heidnischen Svantevid zu verdrängen. Am 15. Juni (am 28. nach dem gregorianischen Kalender) feierte die Kirche früher den Tag des alttestamentarischen Propheten Amos, der der Legende nach auch der Schutzpatron des Fürsten Lazar war. Der Veitstag wurde im 19. Jahrhundert zu einem Fest des serbischen Volkes und der Kirche. Er wurde 18�9 institutionalisiert und zum ersten Mal 1851 gefeiert. Im Kalenderteil des serbischen Staatsschematismus befand er sich seit 186� ohne als Feiertag zu gelten und seit 1890 als Feiertag. An der großen 500-Jahrfeier der Schlacht auf dem Amselfeld 1889 waren alle serbischen Institutionen vertreten. Es wurde in der Vojvodina, in Syrmien, Montenegro und in Bosnien gefeiert und auf Initiative von Franjo Rački sogar in Zagreb. Als Kirchenfest wurde der Tag des heiligen Veit seit 1892 begangen. Während des 20. Jahrhunderts wurde der Veitstag zum wichtigsten nationalen Fest- und Feiertag. Die Bedeutung des Veitstags im 20. Jahrhundert wird aus einer Reihe historischer Ereignisse, die an diesem Tag stattfanden, ersichtlich: die Ermordung von Franz Ferdinand in Sarajevo 1914, die Verabschiedung der ersten Verfassung des Königreichs der Serben, Kroaten und Slowenen 1921 oder die Volksversammlung 1993. Mit dem Ende des Ersten Weltkrieges und der Gründung Jugoslawiens stellte sich unter den serbischen Intellektuellen die Frage, worauf man die Identität der Nationalkultur in der Zukunft bauen sollte. Sie meinten, der Kult der Helden, Rächer und Märtyrer sei verbraucht. Der Schatten des Kosovo wurde beseitigt, aber es war nicht klar genug, was weiter zu tun war. Mit den ersten Enttäuschungen über den neuen Staat wurde der Mythos wieder ins Leben gerufen. Die Kirche spielte eine Schlüsselrolle in seiner Wiederbelebung. In ihrer Deutung symbolisierten die Opfer des heiligen Sava und des Fürsten Lazar das Märtyrertum der Serben durch die Jahrhunderte. Nach der mythischen Vorstellung der Kirche seien die Serben ein himmlisches, auserwähltes Volk geworden, eine geopferte Nation, die durch ihre ganze Geschichte gedemütigt wurde. Eine solche Verwicklung sieht aber ein triumphales Ende in der Zukunft vor. Die orthodoxe Kirche war im Spätmittelalter sehr eng mit der herrschenden Dynastie verbunden. Sie organisierte sich im 19. Jahrhundert als Staats- oder Nationalkirche. Religiöse und nationale Identität verschmolzen dabei in einer mythischen Selbstwahrnehmung. Die Kircheninteressen blieben auch im 20. Jahrhundert mit den Interessen der Machthaber verflochten. Im Sommer 1939 wurde der 550. Jahrestag der Schlacht auf dem Amselfeld gefeiert, wobei 100.000 Menschen anwesend waren. Damals drehte man auch die Schlachtszenen für einen Film, an denen auch Angehörige der Armee teilnahmen. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde der Mythos bis um 1970 beinahe zu einem Tabuthema. Mit neuen Publikationen über die Schlacht auch in der Zeitschrift der serbischen orthodoxen Kirche zur Mitte der 1980er Jahre und den 600-Jahren-Feier der Schlacht auf dem Amselfeld 1989 wurde er aber zur Plattform eines erneuerten serbischen Nationalismus und half, das Ende des jugoslawischen Bundesstaates und den Bürgerkrieg einzuläuten. 829

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Die von Geistlichen der serbischen orthodoxen Kirche vorangetriebene Sakralisierung des Mythos fand auch seitens weltlicher Akteure zunehmend Nachahmer: Im Rahmen des „jugoslawischen Projektes“ entwarf der bedeutende kroatische Künstler Ivan Meštrović bereits 190� den Plan des Baus eines gigantischen Tempels auf dem Amselfeld, um dort der Schlacht und des mit ihr verbundenen Mythos sakral zu gedenken. Das Modell und mehrere monumentale Statuen von Helden der Schlacht, die den Tempel zieren sollten, wurden in den folgenden Jahren auf internationalen Ausstellungen gezeigt. Bildnachweis der Photographie des Modells von 1912: Narodni Muzej Kruševac.

V. Die Umgestaltung des Mythos nach 1980 Literarische Texte über das Thema Kosovo wurden nach 1980 immer häufiger. Diese Revitalisierung des Mythos stand in direkter Verbindung mit der damaligen Lage im Kosovo. Der Mythos ist im modernen serbischen Drama, in der Malerei, in der Musik und im Film präsent. Laut der modernen Deutung ist der Kosovoschwur eine Anrufung des heiligen Kreuzes im Himmelreich. Der Schlacht auf dem Amselfeld wird im serbischen Diskurs nicht als einer Niederlage gedacht, sondern als Offenbarung des Schwurs und als Erneuerung des serbischen Volkes. Die häufige Berufung auf den Kosovo-Schwur, die Entscheidung des serbischen Volkes für das Himmelreich und nicht für das vorübergehende Erdenreich, ist eine Rechtfertigungsstrategie der Theologen der Zwischen830

Der serbische Kosovomythos

kriegszeit sowie der Jahre nach 1980 für die Gleichsetzung des Religiösen mit dem Nationalen in der Orthodoxie. Der Tod des Fürsten Lazar und seines Heeres wird in diesem Diskurs als die Entscheidung für den Märtyrertod und das „Himmelreich“, für das „heilige Kreuz und die goldene Freiheit“ oder als spiritueller Triumph in der Entscheidung für das Ideal der christlichen Zivilisation gedeutet. Kosovo wird als die Bestätigung und das Siegel der Identität des serbischen Volkes dargestellt. Die Schlacht wird zum Schlüssel für das Verständnis der Geschichte sowie zur Verbindung mit der mittelalterlichen serbischen Herrschaft. Die Serben werden als freiheitsliebendes Volk dargestellt, aber als ein sündhaftes, das sich von seiner Geschichte, Kultur, von seinem Alphabet und von der Orthodoxie abgewendet habe. Gemäß vielen Deutungen war es das Vermächtnis der Märtyrer, sich neuen Veitstagen zu stellen, um mit einem neuen Kampf für die alten und die neuen Sünden zu büßen, die zum Untergang geführt haben. Damit sollte durch Eintracht und Vereinigung als heldenhafte Selbstopferung das „verlorene Paradies“ in der Form des idealisierten Nemanjidenstaates oder des Zarenreiches von Stefan Dušan zurückgewonnen werden. Die Serbische Orthodoxie ist ohne Kosovo nicht zu begreifen, zumal im Kosovokult nationale Niederlage und Auferstehung vereint sind. Die Kirche und das Volk verzeihen in dieser Vorstellung das erlittene Übel, aber sie vergessen es nicht – es bleibt im Gedächtnis, aber nicht aus Haß gegen die Täter, sondern aus Liebe und Achtung für die Leidenden. Es wird behauptet, seit dem Fürsten Lazar würden die Serben vor allem ein „himmlisches Serbien“ errichten, das dank aller Opfer, die die Serben während ihrer Geschichte aufbringen mußten, zum größten Himmelsstaat geworden sei. Kosovo wird zum „teuersten serbischen Wort“ stilisiert, als Land, das nicht zu verkaufen ist, weil sich darin serbische Heiligtümer und Gräber befinden. In den späten 1990er Jahren verpuffte die fortwährende nationale Aufladung des Mythos in Serbien weitgehend. Heute, nach der international, aber nicht von Serbien anerkannten Unabhängigkeit der Republik Kosova, sind Stimmen zu hören, die von zwei Wegen sprechen: Von dem einen, den Fürst Lazar ging, und von dem anderen, den Stefan Nemanja und Miloš Obrenović einschlugen. Letztere bevorzugten bei der Begegnung mit Stärkeren den Weg der Diplomatie und der Verhandlungen und nicht die Selbstopferung. VI. Auswahlbibliographie a) Quellen braun, Maximilian: „Kosovo“. Die Schlacht auf dem Amselfelde in geschichtlicher und epischer Überlieferung. Leipzig 1937; trifunović, Đorđe: Srpski srednjovekovni spisi o knezu Lazaru i kosovskom boju [Mittelalterliche Schriften über den Fürsten Lazar und die Schlacht auf dem Amselfeld]. Kruševac 1968; Đurić, Vojslav (Hg.): Kosovski boj u srpskoj književnosti [Die Schlacht auf dem Amselfeld in der serbischen Literatur]. Beograd 1990; MedaKović, Dejan: Kosovski boj u likovnim umetnostima [Die Schlacht auf dem Amselfeld in bildlichen Darstellungen]. Beograd 1990.

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b) Darstellungen saMardžić, Radovan: Oko istorijskog i legendarnog u kosovskom predanju [Über Historisches und Legendäres in der Überlieferung der Schlacht auf dem Amselfeld]. In: saMardžić, Radovan (Hg.): Usmena narodna hronika. Beograd 1969, 31–36; trifunović, Lazar: Likovni izraz kosovskog predanja [Die Kosovoüberlieferung in bildlichen Darstellungen]. In: Književne novine 285 v. 27. Februar 1971; Popović, Miodrag: Vidovdan i Časni krst. Ogled iz književne arheologije [Der Veitstag und das Ehrenkreuz. Essay über die literarische Archäologie]. Beograd 1976; MihaLJčić, Rade: Lazar Hrebeljanović. Istorija, kult, predanje [Lazar Hrebeljanović. Geschichte, Kult, Tradition]. Beograd 198�; MiLin, Lazar: Razgovori o veri. Apologetska čitanka [Gespräche über den Glauben. Apologetisches Lesebuch]. Beograd 1985; Jeftić, Atanasije: Kosovski zavet [Das Vermächtnis des Amselfelds]. In: Glas crkve 15/3,1 (1987) 53–60; MarKović, Marko: Tajna Kosova [Das Geheimnis des Amselfelds]. In: Glas crkve 16/4,3 (1988) 15–18; boGdanović, Dimitrije: Kosovska bitka u istoriji i svesti srpskog naroda [Die Schlacht auf dem Amselfeld in der Geschichte und im Bewußtsein des serbischen Volks]. In: Glas crkve 17/5,3 (1989) 12–1�; MihaLJčić, Rade: The Battle of Kosovo in History and in Popular Tradition. Belgrade 1989; bandić, Dušan: Carstvo zemaljsko i Carstvo nebesko. Ogledi o narodnoj religiji [Das irdische und das himmlische Reich. Essays über die Volksreligion]. Beograd 1990; ćirKović, Sima (Hg.): Kosovska bitka u istoriografiji. Okrugli sto [Die Schlacht auf dem Amselfeld in der Historiographie. Ein Runder Tisch]. Beograd 1990; vucinich, Wayne S./eMMert, Thomas A. (Hg.): Kosovo – Legacy of Medieval Battle. Minneapolis 1991, 309–330; tasić, Nikola (Hg.): Kosovska bitka 1389. godine i njene posledice [Die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 und ihre Folgen]. Himelstir 1989. Beograd 1991; sLiJepčević, Đoko: Istorija Srpske pravoslavne crkve [Geschichte der serbischen orthodoxen Kirche], Bd. 1–3.. Beograd 1991; iLić, Veselin: Kultna i religijska svest u (srednjevekovnoj) kulturi Srba [Verehrungs- und Religionsbewußtsein in der (mittelalterlichen) Kultur der Serben]. In: živKović, Gordana (Hg.): Šta nam nudi pravoslavlje danas. Niš 1993, 177–187; đurović, Bogdan: Pravoslavlje i razvoj kod Srba u XVIII veku [Orthodoxie und Entwicklung bei den Serben im 18. Jahrhundert]. In: đurović, Bogdan (Hg.): Religija i razvoj. Niš 1995, 85–91; radić, Radmila: Crkva i „srpsko pitanje“. Srpska pravoslavna crkva u poratnim i ratnim godinama [Die Kirche und die „serbische Frage“. Die serbische orthodoxe Kirche in den Nachkriegs- und Kriegsjahren]. In: Republika 123 (1995) 1–16; saMardžić, Slobodan: Veberov koncept tenzije i modernizacijski procesi u Srbiji u vreme sticanja nezavisnosti [Webers Konzept der Spannung und Modernisierungsprozesse in Serbien während der Erlangung der Unabhängigkeit]. In: đurović, Bogdan (Hg.): Religija i razvoj. Niš 1995, 92–95; veLiKonJa, Mitja: Bosanski religijski mozaiki [Bosnische religiöse Mosaiken]. Ljubljana 1998; PrPa, Branka: Traganja za kulturnim identitetom [Die Suche nach einer kulturellen Identität]. In: Republika 218–219 (1999) 1–18; toManić, Milorad: Srpska crkva u ratu i ratovi u njoj [Die serbische Kirche im Krieg und Kriege in ihr]. Beograd 2001; popov, Nebojša (Hg.): Srpska strana rata. Trauma i katarza u istorijskom pamćenju [Trauma und Katharsis im historischen Gedächtnis]. Beograd 1996; chiari, Bernhard/KesseLrinG, Agilolf (Hg.): Wegweiser zur Geschichte. Kosovo. Paderborn u. a. 2006; MaKuLJević, Nenad: Umetnost i nacionalna ideja u XIX veku [Kunst und nationale Idee im 19. Jahrhundert]. Beograd 2006; sundhaussen, Holm: Geschichte Serbiens. 19.–21. Jahrhundert. Wien/Köln/Weimar 2007; schMitt, Oliver Jens: Kosovo. Kurze Geschichte einer zentralbalkanischen Landschaft. Wien/Köln/Weimar 2008.

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Die Schlacht bei Warna 1444 I. Zusammenfassung. – II. Die Schlacht bei Warna. – III. Bedeutung des Erinnerungsortes. – a) Der Tod von König Władysław III. – b) Christentum und Osmanisches Reich – Anfänge des AntemuraleGedankens. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Schlacht bei Warna am 10. November 1444 brachte eine der schwersten Niederlagen des Christentums gegen die Osmanen im Spätmittelalter. Die Erinnerung daran umfaßt sowohl die militärischen Folgen der Schlacht als auch den Tod des Jagiellonen Władysław III., genannt „von Warna“ (polnisch Warneńczyk), König von Polen und Ungarn. Bereits im 15. Jahrhundert stand der Zusatz „von Warna“ für die gescheiterte Zusammenarbeit der christlichen Völker gegen die Osmanen. II. Die Schlacht bei Warna Die Schlacht selbst kann zu jenen militärischen Ereignissen des 15. Jahrhunderts gezählt werden, deren Ziel es war, die auf der Balkanhalbinsel expandierenden Osmanen abzuwehren und das christliche Europa vor ihrem Zugriff zu bewahren. Als damit zusammenhängende Kriegsereignisse gelten die seit der Schlacht bei Nikopolis (1397) während der Regierungszeit Sigismunds von Luxemburg erlittenen militärischen Niederlagen Ungarns gegen die Osmanen (1�28 Golubac, 1�38 Siebenbürgen, 1�39 Szendrő, 1440 Belagerung von Belgrad). Die wichtigste Folge dieser Expansionsbestrebungen war die osmanische Besetzung Serbiens. Nach der Thronbesteigung König Władysławs in Ungarn 1��0 unternahm Johann Hunyadi im Auftrag des Jagiellonen mehrere Feldzüge gegen die Osmanen auf der Balkanhalbinsel (1442, 1443), in deren Verlauf Serbien zunächst zurückerobert werden konnte. Damit schien es nicht mehr ausgeschlossen zu sein, die Macht der Osmanen auf der Balkanhalbinsel brechen zu können. Ermuntert von Hunyadis Erfolgen, deren Darstellung vom Feldherrn selbst mehr oder weniger zugunsten der christlichen Seite gefälscht worden waren, versuchte der Heilige Stuhl, eine internationale Koalition zu schmieden. Initiator dieses Projektes war Kardinal Giuliano Cesarini, der einige Jahre zuvor auch an der Einrichtung der Kirchenunion auf dem Konzil in Florenz beteiligt gewesen war. Die hochfliegenden Pläne der Kurie sahen vor, das Osmanische Reich sowohl zu Lande (durch Władysław und Hunyadi mit dem königlichen Heer) als auch auf dem Mittelmeer, am Bosporus und bei den Dardanellen anzugreifen und dadurch die anatolischen und rumelischen Teile des Reiches voneinander zu trennen. Sultan Murad II. mußte infolge der in den Jahren 1��2/�3 erlittenen Niederlagen unter Bedingungen um Frieden bitten, die für die Osmanen dermaßen nachteilig und für die 833

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Christen so günstig schienen, daß sie von den polnischen Verhandlungsabgeordneten geradezu als „unglaublich“ bezeichnet wurden. Als Friedensbedingung hätte der Sultan Serbien beziehungsweise die dort gelegenen osmanischen Befestigungen räumen und für zehn Jahre den Frieden garantieren müssen. Da er aber selbst wußte, daß dies bei der damaligen Kriegslust der Christen unmöglich war, versuchte er, einen Frieden mit Hilfe seines Schwiegervaters Đurađ Branković zu erreichen. Der in Ungarn weilende ehemalige serbische Despot sollte für die Vermittlung eines Sonderfriedens zwischen dem Sultan und dem ungarischen König seinen Grundbesitz in Serbien zurück bekommen. Hunyadi wurde ebenfalls für diese Lösung geködert, indem Branković versprach, ihm mehrere seiner in Ungarn liegenden Besitztümer (Debrecen und Umgebung) zu überlassen, sofern er den Sonderfrieden tatsächlich erwirken würde. Zu ersten Verhandlungen kam es in Szeged. Cesarini versuchte dort, den König zu einer Fortsetzung des Krieges zu überreden. Hunyadi aber wollte einen gültigen Friedensvertrag erlangen und die Güter von Branković übernehmen. Um beiden Forderungen zu entsprechen, legten Hunyadi und die Großen des Landes in Szeged am �. August 1��� einen Eid ab, in dem sie sich verpflichteten, den begonnenen Feldzug unter allen Umständen fortzusetzen. In den Text des Eides wurde der Passus aufgenommen, daß jegliche mit den Osmanen bereits geschlossenen oder später mit ihnen abzuschließenden Friedenseide ungültig sein sollten. Unter diesen Umständen kam es zwei Wochen später in Wardein zum Friedensschluß mit den Osmanen. König Władysław weigerte sich allerdings trotz der Forderungen der osmanischen Gesandtschaft, den Eid auf den Frieden zu leisten. Die Osmanen mußten sich mit dem Eid von Hunyadi begnügen, berichteten aber nach ihrer Rückkehr dem Sultan, der ungarische König hätte ebenfalls den Friedenseid abgelegt. Als Folge des Friedenspaktes wurden die Burgen in Serbien geräumt und an Branković zurückgegeben. Hunyadi wurde von Kardinal Cesarini daraufhin von seinem den Osmanen gegenüber abgelegten Eid entbunden, so daß ein erneuter Feldzug gegen die Osmanen eingeleitet werden konnte. Hunyadi und der König zogen entlang der Donau nach Süden, wo sie entgegen ihrer Erwartung bereits am 10. November 1444 auf das osmanische Heer trafen, dessen Überfahrt aus Asien durch die Flotte der christlichen Mächte nicht hatte verhindert werden können. Es kam zur folgenschweren Schlacht bei Warna. Diese endete aus Sicht der christlichen Verbündeten mit einer katastrophalen Niederlage. Sowohl der König als auch Kardinal Cesarini starben noch am Ort des Geschehens. III. Bedeutung des Erinnerungsortes a) Der Tod von König Władysław III. Warna wird in Polen und Ungarn in erster Linie als Todesort von Władysław erinnert, der zu seiner Zeit als einer der begabtesten Herrscher der Region galt. Die polnische Hofgeschichtsschreibung begann bereits kurz nach dem Tod des Königs, Władysław ein 83�

Die Schlacht bei Warna 1444

Stahlstich zur Schlacht von Warna von 1���. Grafik, ausgeführt 1896 von Ignacy Łopieński nach einem Gemälde von Jan Matejko (1879). Die historistische Darstellung steht für die nationale Aufladung des polnischen Gedenkens der Schlacht. Bildnachweis: Privatarchiv Dániel Bagi.

historiographisches Denkmal zu errichten. Der aus Italien gebürtige, am polnischen Hof tätige Humanist Filippo Buonaccorsi, genannt Callimachus, widmete dem Untergang des Königs mit seiner Historia de rege Vladislao ein eigenständiges Werk. In der umfassenden Darstellung der polnischen Geschichte von Jan Długosz wurden die Schlacht und die Tragödie von Władysławs Tod für die spätere Geschichtsschreibung verankert. Im 19. Jahrhundert wurde die Schlacht endgültig zu einem festen Bestandteil der modernen nationalen Erinnerungskultur. Jan Matejko gestaltete mit seinem Gemälde Bitwa pod Warną (Schlacht bei Warna) 1879 die visuelle historistische Erscheinungsform des Ereignisses. Die Erinnerung an den Tod des jungen Königs wurde 1935 durch ein in Warna errichtetes Mausoleum erneuert. Kontroverser als in Polen fällt die Erinnerung an Władysławs Tod in der ungarischen Geschichtskultur aus. Dabei war zweierlei zu beachten: zum einen, daß die ersten großen Darstellungen über die Geschichte Ungarns, die auch diese Schlacht behandelten, in der Regierungszeit von Matthias Corvinus, einem Sohn Johann Hunyadis, entstanden; zum anderen, daß die tatsächliche Macht der Hunyadi überhaupt erst durch den Tod des Jagiellonenkönigs ihren Anfang nahm, denn Johann Hunyadi war nach dem 1444 beginnenden Interregnum an die Spitze der Regierung getreten. Die Schlacht von Warna und der Tod Władysławs wurden daher zugunsten des Sieges von Hunyadi bei Belgrad im Jahr 1�56 835

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in den Hintergrund gedrängt. Die mit der Schlacht bei Warna verbundenen Vorstellungen sind auch durch den Schock von Mohács (1526) überlagert worden. Mohács steht, wegen des Todes des in Böhmen und Ungarn herrschenden Jagiellonen Ludwig II. für die Epochengrenze zwischen der Geschichte des mittelalterlichen Königreichs Ungarns und der neuzeitlichen Geschichte des Landes – einschließlich der folgenden Aufteilung Ungarns und seiner partiellen Beherrschung durch die Osmanen. b) Christentum und Osmanisches Reich – Anfänge des Antemurale-Gedankens Eine andere Erinnerungsebene bilden die mit der Schlacht untrennbar verflochtenen Vorstellungen über die Verteidigung des Christentums und über Bestrebungen, die Balkanhalbinsel zurückzuerobern. Beteiligt sind in diesem Fall, abgesehen von der polnischen und ungarischen Politik respektive der Geschichtsschreibung des späten 15. und frühen 16. Jahrhunderts, auch serbische und bulgarische nationale Erinnerungszusammenhänge. Die der Schlacht von Warna vorangegangenen Friedensschlüsse von Szeged und Wardein hatten für die christlichen Länder recht günstige Bedingungen enthalten. Nach 1444 wurden die zuvor abgelehnten Konzessionen seitens der Osmanen zum Ausgangspunkt neuer Forderungen der Christen: Sie standen für die Möglichkeit einer Befreiung der Balkanhalbinsel von den Osmanen. Auf sie verwies man auf den in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts meistens in Italien abgehaltenen „Türkenkonferenzen“, auf denen nach Wegen gesucht wurde, die politischen wie religiösen Gefahren durch das Osmanische Reich abzuwehren. Im 20. Jahrhundert wurde diese Erinnerungsebene teilweise umgewandelt, indem die Schlacht zum sozialistischen Erinnerungsort wurde. Sie sollte – unterstützt durch die symbolischen, auf dem Schlachtfeld aufgestellten Betonsarkophage, denen die Staatswappen der beteiligten, zur Zeit des Denkmalbaus sozialistischen Länder beigegeben wurden – die ewige Kooperation der osteuropäischen Völker gegen die Eroberer zum Ausdruck bringen. Diese letztere Bestrebung ist untrennbar verbunden mit der als Kreuzung nationalhistorischer Vorstellungen und marxistisch-leninistischer Geschichtsdeutung entstandenen Doktrin, gemäß der die Sowjetunion auserwählt sei, die Befreiung der osteuropäischen Völker durchzusetzen und die Ergebnisse des russisch-osmanischen Krieges im Jahr 1878 zu vollenden. IV. Auswahlbibliographie a) Quellen Juhász, Lajos (Hg.): Martius Galeottus, De egregie, sapienter, iocose dictis et factis regis Mathiae ad inclytum ducem Johannem eius filium liber. Lipsiae 193�; fóGeL, József u. a. (Hg.): Antonius de Bonfini, Rerum Ungaricarum decades quatuor cum dimida, Bd. 1–4. Lipsiae 1936–1941; LichońsKa, Irmina (Hg.): Philippi Callimachi Historia de Rege Vladislao. Warszawa 1961; KoWaLeWsKi, Thaddaeus (Hg.):

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Die Schlacht bei Warna 1444 Philippi Callimachi Attila. Warszawa 1962; pLezia, Marian u. a. (Hg.): Joannis Dlugossii Annales seu cronicae incliti Regni Poloniae, Bd. 11: 1�31–1���. Varsaviae 2001.

b) Darstellungen KoczersKa, Maria: Mentalność Jana Długosza w świetle jego twórczości [Die Mentalität von Jan Długosz im Spiegel seines Werkes]. In: Studia Źródłoznawcze 5 (1971) 109–1�0; enGeL, Pál: A szegedi eskű és a váradi béke. Adalék sz 1444. év eseménytörténetéhez [Der Szegeder Eid und der Wardeiner Friede. Beiträge zur Geschichte des Jahres 1444]. In: baLázs, Éva H./füGedi, Erik/ MaKsay, Ferenc (Hg.): Mályusz Elemér Emlékkönyv. Budapest 198�, 77–96; füGedi, Erik: Two Kinds of Enemies, two Kinds of Ideology. The Hungrian-Turkish Wars in the Fifteenth Century. In: McGuire, Brian Patrick (Hg.): War and Peace in the Middle Ages. Copenhagen 1987, 1�6–160; baczKoWsKi, Krzysztof: Rady Kallimacha [Kallimachs Ratschläge]. Kraków 1989; potKoWsKi, Edward: Warna 1444. Warszawa 1990; WyrozuMsKi, Jerzy: Polska czasów Władysława Warneńczyka [Polen in der Zeit von Władysław von Warna]. In: quirini-popłaWsKa, Danuta (Hg.): Świat chrześcijański i Turcy osmańscy w dobie bitwy pod Warną. Kraków 1995, 7–1�.

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Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85 I. Zusammenfassung. – II. Der Weg zum Kuttenberger Religionsfrieden. – III. Religiöse Toleranz in Böhmen vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart. – a) Religiöse Toleranz in Böhmen vor 1620. – b) Die Rekatholisierung. – c) Vom Toleranzpatent von 1781 zum modernen religiösen Pluralismus. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85 markiert in der religiösen und politischen Entwicklung Böhmens den Übergang vom Zeitalter des Hussitismus des 15. Jahrhunderts zur folgenden Periode der konfessionellen Koexistenz. Die Vereinbarung zwischen den beiden maßgeblichen religiösen Lagern in Böhmen, den Katholiken und den Utraquisten, wurde durch die Tatsache erzwungen, daß einerseits keine der beiden Parteien den Kampf um die politische Vorherrschaft für sich zu entscheiden vermochte, andererseits aber eine Fortsetzung des Konflikts die Existenz des gesamten politischen und gesellschaftlichen Systems des Königreichs Böhmen in Frage gestellt hätte. Der Kuttenberger Religionsfrieden war das erste staatsrechtlich verbindliche Regelwerk in der Geschichte des christlichen Abendlandes, in dem für ein ganzes Land die Existenz einer weiteren kirchlichen Gemeinschaft neben der katholischen Kirche gesetzlich anerkannt wurde. Bemerkenswert ist auch der umfassende soziale Geltungsbereich des Kuttenberger Religionsfriedens, denn er bezog sich nicht nur auf die privilegierten Schichten der Gesellschaft, sondern ermöglichte auch den Untertanen die freie Wahl des religiösen Bekenntnisses. Auf seiner Grundlage entwickelte sich im Reformationsjahrhundert in Böhmen eine multikonfessionelle Gesellschaft, die mit der Rekatholisierung nach der Schlacht am Weißen Berg bei Prag (1620) ihr Ende fand.

II. Der Weg zum Kuttenberger Religionsfrieden Die von der hussitischen Revolution ausgelösten militärischen Konflikte wurden 1�36 durch eine Einigung zwischen Vertretern der böhmischen Hussiten und des Basler Konzils weitgehend beigelegt. Die sogenannten Kompaktaten, die am 5. Juni 1436 in Iglau verkündigt wurden, beruhten auf der beiderseitigen Anerkennung einer abgeschwächten Fassung der Vier Prager Artikel und ermöglichten Kaiser Sigismund die Rückkehr auf den böhmischen Thron. Damit war ein Dokument vorhanden, das der Existenz des Utraquismus – das heißt die Partei derer, die die Kommunion unter beiderlei Gestalt, sub utraque, empfingen – erstmals eine Rechtsgrundlage verlieh und das bis zum Jahr 1�85 die grundlegende Norm für die Koexistenz der beiden kirchlichen Parteien darstellte. Obwohl die ursprüngliche Absicht der Iglauer Kompaktaten die Wiederherstellung der 838

Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85

kirchlichen Einheit gewesen war, war ihre Folge ein religiöser Dualismus, aus dem sich im Verlauf des 16. Jahrhunderts ein konfessioneller Pluralismus entwickeln sollte. Nach einer kurzen Zeit relativer politischer Stabilität in der Mitte des 15. Jahrhunderts verschlechterte sich das Verhältnis der Utraquisten zu den Nachbarländern erneut, als Papst Pius II. im Jahr 1�62 die Kompaktaten für ungültig erklärte und sein Nachfolger Paul II. gegen den seit 1�58 regierenden „Hussitenkönig“ Georg von Podiebrad zu einem Kreuzzug aufrief. Dessen Führung übernahm der ungarische König Matthias Corvinus, der aber weder Georg von Podiebrad noch dessen Nachfolger Władysław II. Jagiellończyk (seit 1�71) die Herrschaft über Böhmen entreißen konnte. Während der Friedensverhandlungen zwischen Władysław und Matthias Corvinus erwies es sich als notwendig, auch einen neuen Ausgleich zwischen den zerstrittenen böhmischen Katholiken und Utraquisten zu erreichen. Ein Teil der katholischen Magnaten Böhmens war im Krieg auf die Seite von Corvinus übergegangen. Auch die katholikenfreundliche Haltung König Władysławs, der eine Wiedereingliederung der Utraquisten in die römische Jurisdiktion anstrebte, wurde von vielen Utraquisten als Bedrohung wahrgenommen. Daher traf man Vorkehrungen zur Stabilisierung der utraquistischen kirchlichen Strukturen. Im August trat im Prager Collegium Carolinum eine Synode der utraquistischen Stände und Geistlichen zusammen, die beschlossen, ihr Bekenntnis mit ihrem Leben und Gut zu verteidigen und den König zu Verhandlungen zur Wiederbesetzung des seit den Hussitenkriegen vakanten Prager Erzbistums zu veranlassen. Die Utraquisten, die an der Lehre von der apostolischen Sukzession festhielten, litten an einem ständigen Mangel an geweihten Priestern. Als Behelfslösung schlugen sie die Wahl eines eigenen Bischofs oder die Berufung eines Bischofs aus Italien vor, wo sich die meisten böhmischen Kandidaten die für das Priesteramt erforderliche Weihe zu verschaffen pflegten. Ferner reorganisierte die Synode das Konsistorium „unter beiderlei Gestalt“ als kirchenleitende Behörde der Utraquisten. Ihm gehörten acht Priester und vier Laien an. Seitdem im Juli 1�79 im mährischen Olmütz ein Friedensvertrag zwischen Władysław und Matthias Corvinus geschlossen worden war, wurden wichtige politische Ämter im Königreich Böhmen wieder mit katholischen Vertretern des Herrenstandes besetzt. Innerhalb des böhmischen Herrenstandes gewannen die Katholiken so sehr die Oberhand, daß das politische Gleichgewicht bedroht war. Auf ihren wiedererlangten Grundherrschaften setzten die katholischen Herren als Inhaber der Patronatsrechte katholische Geistliche ein, was dazu führte, daß die Utraquisten diese Pfarrkirchen verloren. Die Spannungen äußerten sich in konkreten Konflikten. So kam es am Fronleichnamsfest 1�80 zu Schlägereien in der Prager Altstadt, als eine katholische und eine utraquistische Prozession aufeinanderstießen. Zur Eskalation trug überdies der Tod des utraquistischen Pfarrers Michal Polák im Gefängnis auf der Burg Karlstein bei, der von den Utraquisten umgehend zum Glaubensmärtyrer nach dem Vorbild des Jan Hus und des Hieronymus von Prag stilisiert wurde. Um eine Beilegung des konfessionellen Konflikts bemühte sich der Sankt-JakobsLandtag vom Juni 1�81. Im Landtagsabschied sind wichtige Elemente religiöser Toleranz niedergelegt. Vertriebene Priester sollten in ihre früheren Pfarreien zurückkehren, 839

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den Untertanen wurde zugestanden, ohne Behinderung von seiten der Obrigkeit und der Geistlichkeit Kirchen ihres jeweiligen Bekenntnisses zu besuchen. Die Priester sollten den Gläubigen die Sakramente gemäß deren Bekenntnis reichen und Angehörigen der anderen Partei nicht das Begräbnis verweigern. Beide Seiten sollten Zank, Schmähungen und Übergriffe strikt unterlassen und wurden mit Nachdruck zu Liebe, Frieden und Eintracht ermahnt. Im April 1�82 ließ sich trotz päpstlichen Verbots Augustino Luciani – der Titularbischof von Santorin hatte bereits in Italien irregulär utraquistische Priester geweiht – in Böhmen nieder. Bei der utraquistischen Synode von Schlan im Oktober 1�82 erreichte der böhmische Oberstkanzler Johann von Schellenberg die Bildung von zwei Delegationen, die mit den katholischen Magnaten, unter denen sich ebenfalls Vertreter einer bemerkenswert toleranten Haltung befanden, einen Religionsfrieden erörtern sollten. Erschwert wurden die Verhandlungen dadurch, daß die utraquistische Seite auf einer Vereinbarung „auf ewige Zeiten“ bestand, die Katholiken jedoch mit Rücksicht auf mögliche künftige Verhandlungen mit der Kurie eine Befristung auf acht Jahre vorschlugen. Als Kompromiß wurde eine Geltungsdauer von zwanzig bis dreißig Jahren vorgeschlagen. Die Zuspitzung der Lage in Prag führte zu einer Unterbrechung der Verhandlungen. Der König hatte in der Prager Altstadt und in der Neustadt Bürgermeister eingesetzt, die sich aktiv an der Verfolgung utraquistischer Priester im Jahr 1�80 beteiligt hatten. Als Reaktion auf die Entscheidung des Monarchen bildete sich auf einer utraquistischen Synode in Böhmisch Brod ein Bündnis der utraquistischen Städte, Ritter und Herren. Als die Prager Utraquisten am 2�. September 1�83 eine katholische Verschwörung, die einen gewaltsamen Schlag gegen die Utraquisten vorbereitet hatte, aufdeckten, kam es zur offenen Konfrontation. Die Prager Rathäuser wurden gestürmt, die Bürgermeister aus den Fenstern geworfen und zum Teil erschlagen. Die Utraquisten übernahmen die Macht. Die aufgebrachte Menge stürmte anschließend die Klöster und vertrieb Mönche und katholische Prediger aus Prag. Die Aufständischen besetzten auch die Prager Burg und den Wyschehrad und ließen die katholischen Verschwörer nach eingehender Untersuchung hinrichten. Gleichzeitig erklärten die Utraquisten ihre Treue gegenüber König Władysław, sofern dieser ihnen die Freiheiten belasse, die er in den Wahlkapitulationen zugesagt hatte. Obwohl die Prager Ereignisse die Verhandlungen über den Religionsfrieden verzögerten, stärkten sie die Verhandlungsposition der Utraquisten. Erst im September 1�83 wurde der Streit zwischen dem zwischenzeitlich in Kuttenberg residierenden König und den Prager Städten vertraglich beigelegt. Dadurch konnten nun auch die Verhandlungen über den Religionsfrieden wieder aufgenommen werden. In der zweiten Jahreshälfte 1�8� wurden die entscheidenden Punkte des Vertragswerkes ausgehandelt; man vereinbarte eine Geltungsdauer von 32 Jahren. Über den endgültigen Wortlaut wurde im März 1�85 beiderseitiges Einvernehmen erzielt. Das neue Regelwerk, das als Kuttenberger Religionsfrieden bekannt wurde, wurde vom böhmischen Landtag angenommen, der zwischen dem 13. und 20. März 1�85 in der Pfarrkirche St. Jakob in Kuttenberg zusammentrat. Die Wahl des Ortes war kein Zufall. Kuttenberg, nach Prag die bedeutendste Stadt im Königreich Böhmen und zeitweilig 8�0

Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85

Residenzstadt König Władysławs, bot für beide Seiten ruhigere Bedingungen als die Hauptstadt Prag. Zudem gab es in Kuttenberg bereits eine lokale Tradition der gegenseitigen religiösen Duldung. Im März 1�37 hatte König Sigismund der Stadt ein Privileg verliehen, durch das Kuttenberg die ökonomische Bedeutung zurückerlangen sollte, die es in der Zeit vor den Hussitenkriegen besessen hatte. Den katholischen Einwohnern, die nach der Hinwendung der Stadt zum Hussitismus vertrieben worden waren, wurde das Recht auf Rückkehr und Rückgabe ihres Eigentums verbrieft, in der Barbarakirche wurde für die Katholiken wieder katholischer Gottesdienst zugelassen. Mit dem Abschluß des Vertrags wurden die Voraussetzungen für eine langfristige friedliche Koexistenz beider religiöser Parteien geschaffen. In dem Dokument verpflichteten sich beide Seiten, die jeweils andere weder zu schmähen noch deren Rechte zu verletzen, sondern einander in Liebe zu begegnen. Die Obrigkeiten beider Seiten wurden verpflichtet, den Glauben ihrer Untertanen zu respektieren und ihnen zu erlauben, „ihr Heil gemäß ihrem Glauben und ihren Gebräuchen zu suchen“. Die Freiheit des Bekenntnisses war nicht auf die Angehörigen der Landstände beschränkt, sondern bezog sich auch auf die Untertanen. Hierin liegt ein wesentlicher Unterschied zwischen dem Kuttenberger und dem Augsburger Religionsfrieden von 1555, der auf dem Prinzip cuius regio, eius religio beruhte. In Böhmen hatten alle Gläubigen das Recht, zwischen der Teilnahme am katholischen oder am utraquistischen Gottesdienst zu wählen. Zugleich wurde festgelegt, daß an utraquistischen Pfarrkirchen keine katholischen Priester installiert werden durften und umgekehrt. Ein mit den Regelungen des Augsburger Religionsfriedens vergleichbares ius reformandi, also das Recht der Obrigkeiten, auf ihren Grundherrschaften die kirchlichen Verhältnisse nach ihrem eigenen Bekenntnis zu ordnen, war somit ausgeschlossen. Ohnehin hätte ein solches Recht angesichts des häufigen Wechsels der Besitzer unausweichlich zu neuen Konflikten geführt. Als Geltungsdauer wurden 31 Jahre ausgehandelt, wobei ausdrücklich die Möglichkeit offengehalten wurde, Verhandlungen mit der Kurie zum Zweck der Wiederanerkennung der Kompaktaten aufzunehmen, deren fortdauernde Geltung im Kuttenberger Vertrag im vollen Umfang anerkannt wurde. Im Falle einer Einigung mit dem Papst sollte der Kuttenberger Religionsfriede unbegrenzt weitergelten. Das Kuttenberger Regelwerk war Bestandteil des Landesrechts und sollte am Sankt Wenzelstag 1�85 Rechtskraft erlangen. Zu diesem Termin verloren alle bisherigen kirchenpolitischen Regelungen, die dem neuen Vertrag widersprachen, ihre Gültigkeit. Eine uneingeschränkte Religionsfreiheit war durch den Kuttenberger Religionsfrieden jedoch nicht gewährleistet, denn er bezog sich nicht auf die Angehörigen nonkonformistischer Gruppierungen. Zur Zeit seiner Entstehung betraf dies vor allem die Brüder-Unität, der keinerlei Schutz vor Verfolgung gewährt wurde. Aus der Sicht der beiden dominierenden religiösen Parteien verletzte die BrüderUnität die herrschende Ordnung. Deren bloße Existenz bedeutete für die Utraquisten eine Bedrohung ihrer Bemühungen um eine Einigung mit Rom und damit letztlich eine Bedrohung für die Existenz des Utraquismus überhaupt. Zum Zustandekommen des Kuttenberger Religionsfriedens trug maßgeblich die gegenseitige Annäherung von Vertretern des utraquistischen und des katholischen Adels 8�1

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bei, insbesondere die pragmatische Haltung einiger Schlüsselfiguren aus dem Herrenstand, etwa Johann von Schellenberg und Wilhelm von Pernstein, die zu einem überkonfessionellen Christentum jenseits der konfessionellen Spaltungen tendierten. Dagegen waren der Klerus der beiden Parteien oder die beiden Konsistorien am Zustandekommen des Religionsfriedens nicht aktiv beteiligt. Für die religiösen Verhältnisse in Böhmen und Mähren in dieser Epoche ist es bezeichnend, daß sich vor allem die weltlichen Stände für die religiöse Duldsamkeit einsetzten, während die Prälaten, Prediger und Theologen eher ein Hindernis für deren Verwirklichung waren. Einflußreiche Vertreter des Herrenstandes sahen im Gemeinwohl des Landes (bonum commune) einen Wert, der den unterschiedlichen Interpretationen der Bibel übergeordnet sei. Auch für den katholischen Adel war die Aussicht auf einen langfristigen Frieden und eine stabile Koexistenz zweier legaler Konfessionen offenbar wichtiger als uneingeschränkter Gehorsam gegenüber den Weisungen der Kurie. Eine zweite wichtige Voraussetzung war das Aufkommen eines Toleranzdiskurses, der sich in zeitgenössischen literarischen Werken niederschlug, sich aber auch in ganz konkreten Verhaltensweisen äußerte, so etwa in den häufig bezeugten Mischehen zwischen Angehörigen unterschiedlicher Bekenntnisse, wobei beide Partner an ihrem jeweiligen Glauben festhielten. Frühe Toleranzargumente, wonach man in Glaubensdingen nicht zur Gewalt greifen dürfe, sondern danach trachten solle, den Andersgläubigen durch Geduld zu überzeugen, finden sich in der Schrift Dialogus des katholischen Humanisten Johann von Rabenstein oder in einem Traktat des Prokop von Neuhaus, eines Angehörigen der Brüder-Unität. Die Überzeugung, daß der Glaube eine Gabe Gottes sei, die niemand erzwingen könne, war bis zum Beginn des 17. Jahrhunderts das Leitmotiv des Toleranzdiskurses. Der Gedanke der religiösen Toleranz, der im letzten Viertel des 15. Jahrhunderts in Böhmen greifbar wird, setzte sich gleichzeitig auch in Mähren durch. Gemäß dem Olmützer Friedensschluß von 1�79 behielt Matthias Corvinus die Herrschaft über Mähren und die übrigen Nebenländer der Böhmischen Krone, Schlesien und die Lausitzen, wobei er sich grundlegender Eingriffe in die religiösen Verhältnisse der einzelnen Territorien enthielt. Die Koexistenz der beiden Mehrheitskonfessionen folgte in Mähren faktisch ähnlichen Grundsätzen wie in Böhmen. Auch hier blieben die Kompaktaten in Geltung und waren im Landesrecht verankert. Einige Aspekte der religiösen Praxis, die für die friedliche Koexistenz wichtig erschienen, wurden durch das ständische Landrecht geregelt. So entschied das Gericht etwa, daß die Priester verpflichtet seien, alle Gläubigen ohne Ansehen des Bekenntnisses zu den Sakramenten zuzulassen, abgesehen von der Kommunion, die die Gläubigen jeweils von Geistlichen ihrer Konfession empfangen sollten. Eine formale Rechtsgrundlage für die Koexistenz beider Konfessionen wurde in Mähren, wo der Kuttenberger Religionsfrieden keine Gesetzeskraft hatte, jedoch nicht geschaffen. Ähnlich wie in Böhmen waren in Mähren überkonfessionell denkende Ständepolitiker die maßgeblichen Vertreter des Toleranzgedankens, darunter der Landeshauptmann Ctibor Tovačovsk� von Cimburg oder der Magnat Wilhelm von Pernstein. 8�2

Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85

III. Religiöse Toleranz in Böhmen vom 15. Jahrhundert bis zur Gegenwart a) Religiöse Toleranz in Böhmen vor 1620 Noch vor Ablauf der einunddreißigjährigen Frist wurde der Kuttenberger Religionsfrieden, der zu einer Entspannung des Verhältnisses zwischen Utraquisten und Katholiken geführt hatte, beim Landtag, der im April 1512 in Prag zusammentrat, „auf ewige Zeiten“ verlängert. Beide Seiten waren sich einig, daß weitere Verhandlungen mit der Kurie über die Wiederbesetzung des Prager Erzbistums notwendig seien. Diese Bemühungen führten jedoch zu keinem Ergebnis. Unterdessen setzte innerhalb des utraquistischen Lagers eine dynamische Entwicklung ein, die die kirchenpolitische Situation grundlegend verändern sollte. Eine Gruppe radikaler Utraquisten begann, sich der Brüder-Unität anzunähern. An der Situation der Brüder-Unität wird die Begrenztheit des Kuttenberger Religionsfriedens deutlich, aber auch das Vorhandensein von Handlungsspielräumen, durch die sich die Regelungen des Religionsfriedens umgehen ließen. Die Brüder-Unität war ständiger Bedrohung von seiten des Landesherrn und eines Teils des utraquistischen Klerus ausgesetzt. Im Jahr 1508 wurde das sogenannte Sankt-Jakobs-Mandat erlassen, in dem Verfolgungsmaßnahmen gegen die Unität angeordnet wurden. Nun war die Brüder-Unität ganz auf den Schutz lokaler Grundherren angewiesen. Zu den wichtigsten Beschützern der Unität in Böhmen gehörten die Herrengeschlechter der Kostka von Postupitz, Pernstein und Kraiger von Kraigk. Trotz wiederholter Verfolgungswellen, denen die Unität und andere Gruppierungen ausgesetzt waren, war das Ausmaß der Unterdrükkung von religiösen Nonkonformisten in Böhmen weitaus geringer als im römisch-deutschen Reich oder in anderen Teilen Europas. Neue Herausforderungen für die Koexistenz zweier Konfessionen und das in Böhmen praktizierte Toleranzmodell erbrachten das Einsetzen der europäischen Reformation um 1520, der Beginn der habsburgischen Herrschaft in den böhmischen Ländern 1526 und die vom Trienter Konzil ausgehende katholische Reform. In Böhmen breiteten sich insbesondere unter der deutschsprachigen Bevölkerung die Lehren Martin Luthers und später auch anderer Reformatoren aus. Unter den Utraquisten stieß die neue Religion auf unterschiedliche Resonanz, die von einer begeisterten Annahme reformatorischer Theologie und Praxis bis zur offenen Ablehnung durch konservative Utraquisten reichte. Dieser konfessionelle Pluralisierungsprozeß führte bald zu grundsätzlichen Problemen in der Anwendung des Kuttenberger Regelwerkes, das im Prinzip keinen Raum für konfessionelle Neuerungen ließ. Bereits vor der Mitte des 16. Jahrhunderts war es offensichtlich, daß der lutherisch orientierte Flügel innerhalb des Utraquismus sich nur noch formal auf den Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85 berufen konnte. Die Lutheraner erhoben zwar den Anspruch, daß ihre Lehre nicht im Gegensatz zu den Kompaktaten stehe, und konnten insofern als Utraquisten gelten, für die die Schutzbestimmungen des Kuttenberger Religionsfriedens galten. Andrerseits war damit aber für die böhmischen Protestanten die Möglichkeit ausgeschlossen, ein neues Glaubensbekenntnis anzunehmen und eigene kirchliche Strukturen zu bilden. Die Niederschlagung des Ständeauf8�3

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stands 15�7 bot dem katholischen Landesherrn Ferdinand I. die Möglichkeit zu Eingriffen in die religiösen Verhältnisse in Böhmen, auch wenn es ihm nicht gelang, die weitere Ausbreitung des Luthertums in Böhmen in den 1550er Jahren zu verhindern. Empfindlicher trafen die von Ferdinand angeordneten gegenreformatorischen Maßnahmen die Brüder-Unität, welche sich nach der Inhaftierung ihres Bischofs Jan Augusta gezwungen sah, den Schwerpunkt ihrer Tätigkeit nach Mähren zu verlagern, wo die Bedingungen insgesamt wesentlich günstiger waren. Das Einsetzen der katholischen Reform, die missionarische Tätigkeit der Jesuiten in Böhmen seit 1555, die Wiederbesetzung des Prager Erzbistums 1561 und die gegenreformatorischen Maßnahmen der habsburgischen Landesherren führten in der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts zu einem Zusammenrücken der nichtkatholischen Stände. Dabei galt es zunächst, die Interessenskonflikte und konfessionellen Spaltungen, die das evangelische Lager schwächten, zu überwinden. In den 1560er Jahren wurde die Kirchenpolitik zum Hauptanliegen der ständischen Opposition. Im Verlauf des böhmischen Landtags vom Frühjahr 1567 gelang es den nichtkatholischen Ständen, die Aufhebung der Kompaktaten durchzusetzen. Davon erhofften sie sich neue Entfaltungsmöglichkeiten für den böhmischen Protestantismus. Abgesehen von der Außerkraftsetzung der Kompaktaten blieb der Kuttenberger Religionsfrieden aber nach wie vor in Geltung. Ein bedeutender Erfolg der ständischen Opposition war das Zustandekommen der Confessio Bohemica, die während des Landtags von 1575 von einer Kommission der Stände ausgearbeitet worden war und anschließend Kaiser Maximilian II. vorgelegt wurde. Der Landesherr nahm die Confessio zur Kenntnis und versprach, keine religionspolitischen Maßnahmen gegen den Willen der Stände zu ergreifen. Die Böhmische Konfession zeichnete sich durch ein Streben nach Überwindung der innerprotestantischen Lehrgegensätze und nach religiöser Duldsamkeit aus. Die Confessio Bohemica, deren Inhalt deutlich dem Augsburgischen Bekenntnis von 1530 verpflichtet ist, verbindet ein gemäßigtes Luthertum im Sinne Melanchthons mit Traditionen des böhmischen Utraquismus. Die Absicht der mit der Ausarbeitung des Textes betrauten Kommission war es, einen Bekenntnistext zu schaffen, der für alle böhmischen Protestanten annehmbar sein sollte und so als gemeinsame Grundlage für eine rechtliche Anerkennung dienen könnte. Daher wurden auch Vertreter der Brüder-Unität in die Redaktion des Textes miteinbezogen. Als Ergebnis des innerprotestantischen Einigungsprozesses, der sich in der Böhmischen Konfession manifestierte, stand nun ein nach außen geeint auftretendes evangelisches Lager dem Katholizismus gegenüber. Die ursprünglich auf die Koexistenz von Utraquismus und Katholizismus bezogenen Regelungen des Kuttenberger Religionsfriedens fanden beim Zusammenleben von Protestanten und Katholiken Anwendung. Im letzten Viertel des 16. Jahrhunderts verschärften sich die konfessionellen Konflikte in Böhmen so sehr, daß um 1600 das Prinzip der religiösen Duldsamkeit in eine kritische Phase geriet. Zu der Konfrontation trugen sowohl die Intensivierung gegenreformatorischer Maßnahmen von katholischer Seite als auch die konfessionelle Konsolidierung der Protestanten bei. Auf politischer Ebene wurden die Katholiken aus den ständestaatlichen Ämtern verdrängt. Das Fehlen einer Regelung zur Wahrung der konfessionellen Parität 8��

Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85

bei der Besetzung von politischen Ämtern erwies sich als ein Schwachpunkt des Kuttenberger Religionsfriedens. Dennoch kann das ausgehende 16. Jahrhundert als Beleg für die Funktionsfähigkeit einer multikonfessionellen Gesellschaft gelten, die sich auf der Grundlage des Toleranzprinzips entfaltete. Die Verwirklichung der konfessionellen Koexistenz auf lokaler Ebene lässt sich am Beispiel von Kuttenberg beobachten. Die städtische Obrigkeit, die Pfarrkirche St. Jakob und die Kirche St. Barbara gehörten formal dem utraquistischen Bekenntnis an, wobei sich im späten 16. Jahrhundert eine deutliche Tendenz zum Calvinismus bemerkbar machte. Die Pfarrkirche St. Georg war seit den 1570er Jahren Sitz einer lutherischen Gemeinde, ferner fanden in Privathäusern der Stadt Gottesdienste der Brüder-Unität statt. In Sichtweite der Kuttenberger Stadtmauern kamen Katholiken im Zisterzienserkloster Sedlec zu eigenen Gottesdiensten zusammen. Trotz der faktisch gelebten Multikonfessionalität besaß der böhmische Protestantismus nach wie vor keine staatsrechtliche Existenzgrundlage und war ständig durch gegenreformatorische Maßnahmen von seiten der katholischen habsburgischen Landesherren bedroht. Im ersten Jahrzehnt des 17. Jahrhunderts wurde diese Gefahr als so akut wahrgenommen, daß sich die ständische Opposition entschloß, den Landesherrn, Rudolf II., unter Androhung einer militärischen Konfrontation zur Gewährung des sogenannten Majestätsbriefs vom Juli 1609 zu zwingen. Der Majestätsbrief garantierte allen Nichtkatholiken, die sich zur Böhmischen Konfession von 1575 bekannten, Religionsfreiheit, ging also weit über die Regelungen des Kuttenberger Religionsfriedens hinaus und bezog auch die Brüder-Unität mit ein. Die Konfliktkonstellation, aus der heraus der Majestätsbrief von 1609 entstand, unterschied sich beträchtlich von den Hintergründen des Kuttenberger Religionsfriedens. Während letzterer auf einem Konsens der Vertreter zweier religiöser Parteien beruhte, wurde der Majestätsbrief gegen den Widerstand einflussreicher Vertreter des Katholizismus vom Landesherrn erlassen und berücksichtigte einseitig die Forderungen der Protestanten. Damit war der Weg zu neuen Konfrontationen vorgezeichnet. Diese brachen 1618 mit dem Beginn des Ständeaufstands aus, durch den das Zeitalter der religiösen Toleranz in Böhmen nach wenigen Jahren ein Ende fand. Als Reaktion auf die gegenreformatorischen Maßnahmen der vorangegangenen Jahrzehnte wiesen die Stände im Juni 1618 die Jesuiten aus Böhmen aus und schränkten die Tätigkeit der übrigen katholischen Orden ein. Der Zugang von Katholiken zu politischen Ämtern wurde von der Verpflichtung auf die im Majestätsbrief garantierte Religionsfreiheit und einem Eid auf die Confoederatio Bohemica vom 31. Juli 1619 abhängig gemacht, von bestimmten politischen Ämtern wurden Katholiken ganz ausgeschlossen. In Mähren, wo weder eine formale gesetzliche Grundlage der Religionsfreiheit vorhanden war noch der Majestätsbrief Rudolfs II. galt, erreichte die faktisch herrschende religiöse Toleranz im 16. Jahrhundert ein Ausmaß, das nur mit den zeitgenössischen Verhältnissen in Siebenbürgen oder Polen vergleichbar war. Die mährischen Stände machten die Duldung religiöser Gruppierungen nicht von deren Zustimmung zu einem bestimmten Bekenntnistext abhängig, sondern begründeten ihre tolerante Haltung mit den traditionellen ständischen Freiheiten. Als der Landesherr Ferdinand I. auf dem mährischen Landtag in Brünn 1550 Maßnahmen gegen religiöse Neuerungen und gegen 8�5

Jiří Just

die Duldung von religiösen Nonkonformisten in Mähren einforderte, erhielt er vom Landeshauptmann Wenzel von Ludanitz die schroffe Antwort: „Eher wird Mähren in Feuer und Asche zugrunde gehen, als irgendeinen Zwang in Glaubensdingen zu dulden.“ Mähren wurde im Verlauf des 16. Jahrhunderts zum Auswanderungsziel zahlreicher Glaubensflüchtlinge, darunter utraquistische Priester, die in Böhmen wegen ihrer Neigung zum Calvinismus verfolgt wurden, aber auch Täufer aus Süddeutschland und der Schweiz und italienische Nonkonformisten und Antitrinitarier. Der prominenteste mährische Ständepolitiker um die Wende des 16. zum 17. Jahrhundert war der Magnat Karl der Ältere von Žerotín, ein Angehöriger der Brüder-Unität und standhafter Verteidiger der mährischen Verfassungstraditionen und Freiheiten. Der Einfluß Žerotíns, der sich in der Tradition des überkonfessionellen Standesethos des mährischen Herrenstandes der konfessionellen Polarisierung widersetzte, trug maßgeblich dazu bei, daß die mährischen Stände im Jahr 1618 einen Anschluss an den böhmischen Ständeaufstand verweigerten. b) Die Rekatholisierung Die Niederlage des böhmischen Ständeheeres im Jahr 1620 bedeutete das Ende des konfessionellen Pluralismus in Böhmen und Mähren und bot der siegreichen habsburgischen Seite die Gelegenheit zur Durchsetzung des konfessionellen Monopols des Katholizismus. Kaiser Ferdinand II. erließ im Mai 1627 für Böhmen und ein Jahr später für Mähren die sogenannte Verneuerte Landesordnung, durch welche alle bisher geltenden religionsrechtlichen Regelungen aufgehoben wurden. Der Katholizismus wurde zur einzigen legalen Konfession erklärt. Alle Personen, die sich nicht zum Glauben des Landesherrn bekennen wollten, hatten das Land zu verlassen. Der untertänigen Bevölkerung stand nicht einmal diese Möglichkeit offen, ihr blieb nur der Übertritt zum Katholizismus. Im Reformationspatent Ferdinands II. vom November 1627 wurde angeordnet, daß auch der evangelische Adel innerhalb von drei Monaten zum Katholizismus übertreten oder ins Exil gehen müsse. Die Durchsetzung der Rekatholisierung nahm mehrere Jahrzehnte in Anspruch und stieß auf vielerlei Hindernisse. Dazu gehörte vor allem der Mangel an katholischen Geistlichen, ein hartnäckiger Kryptoprotestantismus und die unübersichtliche politische Lage bis zum Ende des Dreißigjährigen Krieges. Die Tradition der religiösen Toleranz wirkte unter den böhmischen und mährischen Exulanten weiter, zumal sich diese in vielen Fällen nur schwer in die konfessionellen Verhältnisse ihrer neuen Umgebung integrieren konnten. Die Schwierigkeit der böhmischen Exulanten, sich an Lehre und Kultus der protestantischen Landeskirchen ihrer Aufnahmeländer anzupassen, resultierte nicht zuletzt aus der Art und Weise, wie der Kuttenberger Religionsfrieden im späten 16. Jahrhundert zur Anwendung gekommen war: daß der böhmische Protestantismus nämlich nach außen durch die formale Wahrung der utraquistischen Identität zusammengehalten wurde, nach innen aber eine große theologische Bandbreite und damit verbunden eine Tendenz zur Indifferenz gegenüber den innerprotestantischen Lehrunterschieden aufwies. Unter den böhmischen Protestanten im 8�6

Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85

Exil blieb der Toleranzgedanke ein wichtiger Gegenstand theologischer und politischer Reflexion. Der Utraquist Pavel Stránsk� vertrat in seinem Werk Respublica Bohemiae (163�) die Auffassung, daß religiöse Toleranz ein charakteristisches Merkmal des böhmischen Christentums seit seinen Ursprüngen sei. Er zeichnete ein Bild der böhmischen Kirchengeschichte, wonach bereits die Christianisierung Böhmens gewaltfrei verlaufen sei und zu einer friedlichen Koexistenz der Anhänger des lateinischen und des byzantinischen Ritus geführt habe. Die Gewährung des Majestätsbriefs durch Rudolf II., der Verlauf des Ständeaufstands 1618–1620, die Entwicklung der Frömmigkeit in Böhmen und das städtische evangelische Schulwesen wurden von Stránsk� idealisierend unter das Vorzeichen der religiösen Toleranz gestellt. Auch die irenischen Bemühungen des Bischofs der Brüder-Unität im Exil, Johann Amos Comenius, sind ein Nachhall des böhmischen Toleranzdiskurses. Comenius verstand religiösen Pluralismus jedoch als bedauerliche Folge von Uneinigkeit und konfessionellen Spaltungen. Er propagierte das Projekt einer Wiederherstellung der Einheit der christlichen Kirche durch ein allgemeines Konzil aller christlichen Konfessionen einschließlich der östlich-orthodoxen Kirchen. Nach seiner Überzeugung besitzen alle Konfessionen Teilaspekte der christlichen Wahrheit, durch die sie den übrigen Kirchen dienen und zur Überwindung der Spaltung und der Uneinigkeit der Christenheit beitragen können. Das Denken des Comenius, dem das Prinzip der Gewissensfreiheit und die entschiedene Ablehnung von Gewaltanwendung in Glaubensdingen zugrundeliegen, kann somit zugleich als letzter Höhepunkt der böhmischen Toleranztradition und als Vorwegnahme des ökumenischen Gedankens der Moderne gelten. c) Vom Toleranzpatent von 1781 zum modernen religiösen Pluralismus Nicht nur im Exil, auch in Böhmen und Mähren blieb der Toleranzgedanke über die Rekatholisierung hinaus lebendig, insbesondere durch die trotz schwerer Verfolgungen andauernde Existenz einer kryptoprotestantischen Tradition im 17. und 18. Jahrhundert. Das konfessionelle Monopol des Katholizismus wurde in Böhmen und Mähren nie vollständig durchgesetzt. Als Beginn einer neuen Phase der religiösen Toleranz in den böhmischen Ländern kann trotz seiner engen Begrenzungen das 1781 unter dem Einfluß der Aufklärung erlassene Toleranzpatent Kaiser Josephs II. gelten. Der Erlaß ermöglichte es den Kryptoprotestanten, sich entweder zur Augsburgischen oder zur Helvetischen Konfession zu bekennen, entsprechend wurden lutherische und reformierte kirchliche Strukturen geschaffen. Allerdings blieben der Übertritt zum Protestantismus und das kirchliche Leben der evangelischen Gemeinden von einer Reihe von einschränkenden Bedingungen erschwert. Die privilegierte Stellung der katholischen Kirche blieb gewahrt, während die beiden evangelischen Bekenntnisse lediglich geduldet wurden. Um einen Nachhall der für den böhmischen Protestantismus der Zeit vor 1620 charakteristischen Indifferenz gegenüber den innerprotestantischen Lehrunterschieden dürfte es sich bei der Schwierigkeit vieler übertrittswilliger Gläubiger handeln, ihre religiösen 8�7

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Wandmalerei mit der Darstellung eines hussitischen Kelchs und dem Motto Veritas vincit in der Pfarrkirche St. Jakob im böhmischen Kuttenberg. Im März 1�85 trat in der damals utraquistischen Kirche der böhmische Landtag zusammen und beschloß die als Kuttenberger Religionsfrieden bekannte Übereinkunft zwischen Utraquisten und Katholiken. Der Beschluß brachte das Ende der Religionskriege in den böhmischen Ländern und ermöglichte ein friedliches Zusammenleben auf dem Grundsatz der religiösen Toleranz. Bildnachweis: Fragment einer Wandmalerei in der Münzerkapelle des nördlichen Seitenschiffs der Pfarrkirche St. Jakob in Kuttenberg, nach 1460. Foto: Karolina Justová.

Vorstellungen eindeutig einer der beiden legalen protestantischen Konfessionen zuzuordnen. Zuweilen kam es vor, daß ganze Gemeinden vom einen evangelischen Bekenntnis zum anderen übertraten oder daß an einem Ort Gemeinden beider protestantischer Konfessionen entstanden. Schritte zur rechtlichen Gleichstellung der beiden legalen protestantischen Kirchen mit dem Katholizismus erfolgten erst mit dem sogenannten Protestantenpatent von 1861. Vollständige Religionsfreiheit gewährte schließlich die Verfassung vom Dezember 1867. In der Folge entstanden auch in Böhmen und Mähren Freikirchen und andere 8�8

Der Kuttenberger Religionsfrieden von 1�85

kleinere Religionsgemeinschaften, so 1870 die Herrnhuter Evangelische Brüder-Unität, 1880 die freien reformierten Gemeinden und 1885 die Baptisten. Die Rechtslage änderte sich grundlegend erst infolge des kommunistischen Umsturzes nach dem Zweiten Weltkrieg. 1949 wurde ein Religionsgesetz erlassen, durch das die Entfaltungsmöglichkeiten der Kirchen stark beschränkt und diese einer strengen staatlichen Kontrolle unterstellt wurden. Nach dem Zusammenbruch des kommunistischen Regimes wurden 1991/92 neue Gesetze erlassen, wonach neuentstehende Religionsgemeinschaften erst ab einer Mitgliederzahl von mindestens 10.000 Personen die staatliche Anerkennung erlangen können. Damit war in der Tschechischen Republik die Möglichkeit zur Registrierung neuer Kirchen und Religionsgemeinschaften praktisch ausgeschlossen. Eine Gesetzesänderung von 2002 brachte einerseits eine Liberalisierung, indem die für die staatliche Anerkennung notwendige Mitgliederzahl auf 300 Personen gesenkt wurde. Andererseits wurden jedoch die Möglichkeiten neu entstandener Religionsgemeinschaften zur Wirksamkeit im öffentlich-rechtlichen Bereich stark eingeschränkt. Ein Gesetz von 2012 über die Wiederherstellung des während der kommunistischen Herrschaft enteigneten kirchlichen Eigentums sieht die Herbeiführung einer vollständigen Trennung von Staat und Kirchen in mehreren Schritten im Verlauf der kommenden Jahre vor. Der Kuttenberger Religionsfrieden, der in Böhmen zur frühen Entfaltung von Elementen der Religionsfreiheit führte und eine maßgebliche Voraussetzung für die Entstehung einer Tradition der religiösen Toleranz darstellte, erfährt in der öffentlichen und kirchlichen Erinnerungskultur in der Tschechischen Republik und in der historischen Forschung nicht die Aufmerksamkeit, die seiner Bedeutung gerecht würde. Dagegen wies der Historiker František Palack� dem Kuttenberger Religionsfrieden bereits im 19. Jahrhundert einen Ehrenplatz in der nationalen historischen Tradition zu, indem er ihn mit einer seither häufig zitierten Formulierung als „die erfreuliche Frucht der neueren Bildung, Verträglichkeit und christlichen Liebe“ bezeichnete.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen sternberG, Kaspar (Hg.): Umrisse einer Geschichte der böhmischen Bergwerke, Bd. 1/2: Urkundenbuch zur Geschichte der böhmischen Bergwerke. Prag 1837; paLacKý, František (Hg.): Archiv česk� čili staré písemné památky české i moravské [Böhmisches Archiv oder alte schriftliche böhmische und mährische Denkmäler aus heimischen und ausländischen Archiven], Bd. 5. Praha 1862; z rabšteJna, Jan: Dialogus. Hg. v. Bohumil ryba. Praha 19�6; toeGeL, Miroslav (Hg.): Documenta Bohemica Bellum tricennale illustrantia, Bd. 2: Der Beginn des Dreißigjährigen Krieges. Der Kampf um Böhmen. 1618–1621. Prag 1972; MoLnár, Amedeo: Neznám� spis Prokopa z Jindřichova Hradce [Eine unbekannte Schrift des Prokop von Neuhaus]. In: Husitsk� Tábor 6–7 (1983–198�) �23–��8; Just, Jiří/ rothKeGeL, Martin (Hg.): Confessio Bohemica. 1575/1609. In: MühLinG, Andreas/opitz, Peter (Hg.): Reformierte Bekenntnisschriften, Bd. 3/1: 1570–1599. Neukirchen/Vluyn 2012, �7–176.

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b) Darstellungen hreJsa, Ferdinand: Die Böhmische Konfession, ihre Entstehung, ihr Wesen und ihre Geschichte. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 35 (191�) 81–123, 37 (1916) 33–5�, 38 (1917) 96–17�; říčan, Rudolf: Zur Frage des Ökumenismus, der Gewissensfreiheit und der religiösen Duldung in der tschechischen Reformation. In: Communio viatorum 7 (196�) 265– 28�; zeMan, Jarold K.: The Rise of Religious Liberty in the Czech Reformation. In: Central European History 6 (1973) 128–1�7; barton, Peter F. (Hg.): Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II., ihren Voraussetzungen und ihren Folgen. Wien 1981; eberhard, Winfried: Konfessionsbildung und Stände in Böhmen 1�78–1530. München/ Wien 1981; MezníK, Jaroslav: Religious toleration in Moravia in the 16th century. In: Kosmas. Journal of Czechoslovak and Central European Studies 3–� (198�/85) 109–123; eberhard, Winfried: Entstehungsbedingungen für öffentliche Toleranz am Beispiel des Kuttenberger Religionsfriedens von 1�85. In: Communio Viatorum 29 (1986) 129–15�; seibt, Ferdinand: Das Toleranzproblem im alten böhmischen Staat. In: ders.: Mittelalter und Gegenwart. Ausgewählte Aufsätze. Hg. v. Winfried eberhard und Heinz-Dieter heiMann. Sigmaringen 1987, 265–276; šMaheL, František: Svoboda slova, svatá válka a tolerance z nutnosti v husitském období [Die Freiheit des Gotteswortes, heiliger Krieg und erzwungene Toleranz im hussitischen Böhmen]. In: Česk� časopis historick� 92 (199�) 6��–679; Machovec, Milan (Hg.): Problém tolerance v dějinách a v perspektivě [Das Problem der Toleranz in Geschichte und Gegenwart]. Praha 1995; fudGe, Thomas A.: The Problem of Religious Liberty in Early Modern Bohemia. In: Communio viatorum 38 (1996) 6�–87; páneK, Jaroslav: The question of tolerance in Bohemia and Moravia in the age of the Reformation. In: Grell, Ole Peter/scribner, Bob (Hg.): Tolerance and intolerance in the European Reformation. Cambridge/New York/Melbourne 1996, 231–2�8; bahLcKe, Joachim/böMeLburG, Hans-Jürgen/KersKen, Norbert (Hg.): Ständefreiheit und Staatsgestaltung in Ostmitteleuropa. Übernationale Gemeinsamkeiten in der politischen Kultur vom 16.–18. Jahrhundert. Leipzig 1996; šMaheL, František: Pax externa et interna. Vom Heiligen Krieg zur Erzwungenen Toleranz im hussitischen Böhmen (1�19–1�85). In: patschovsKy, Alexander/ziMMerMann, Harald (Hg.): Toleranz im Mittelalter. Sigmaringen 1998, 221–273; MaceK, Josef: Víra a zbožnost jagellonského věku [Glaube und Frömmigkeit der Jagiellonenzeit]. Praha 2001; válKa, Josef: Husitství na Moravě. Náboženská snášenlivost. Jan Amos Komensk� [Hussitismus in Mähren. Religiöse Toleranz. Johann Amos Comenius]. Brno 2005; čorneJ, Petr/bartLová, Milena: Velké dějiny zemí Koruny české [Große Geschichte der Länder der Böhmischen Krone], Bd. 6. Praha/Litomyšl 2007; bahLcKe, Joachim: Religionsfreiheit und Reichsbewußtsein. Deutungen des Augsburger Religionsfriedens im böhmisch-schlesischen Raum. In: schiLLinG, Heinz/sMoLinsKy, Heribert (Hg.): Der Augsburger Religionsfrieden 1555. Heidelberg 2007, 389–�13; Louthan, Howard: Converting Bohemia. Force and persuasion in the Catholic Reformation. Cambridge 2009; Just, Jiří: 9.7.1609. Rudolfův Majestát. Světla a stíny náboženské svobody [9.7.1609. Der Majestätsbrief Rudolfs II. Licht und Schatten der Religionsfreiheit]. Praha 2009; Just, Jiří/nešpor, Zdeněk R./MatěJKa, Ondřej: Luteráni v česk�ch zemích v proměnách staletí [Lutheraner in Böhmen, Mähren und Schlesien im Laufe der Jahrhunderte]. Praha 2009; bahLcKe, Joachim: Die tschechische und slowakische Geschichtsschreibung zu Reformation und konfessionellem Zeitalter vom Zweiten Weltkrieg bis zur Gegenwart. In: Archiv für Reformationsgeschichte 100 (2009) 155–17�; eberhard, Winfried: Toleranz und Religionsfreiheit im 15.–17. Jahrhundert in Mitteleuropa. Probleme und Prozesse. In: hLaváčeK, Petr (Hg.): Bruncvík a víla. Prem�šlení o kulturní a politické identitě Evropy – Bruncwik und die Nymphe. Die Überlegungen zur kulturellen und politischen Identität Europas. Praha 2010, 55–72; ders.: Das Problem der Toleranz und die Entwicklung der hussitisch-katholischen Koexistenz im 15. Jahrhundert. In: MachiLeK, Franz (Hg.): Die hussitische Revolution. Religiöse, politische und regionale Aspekte. Köln/Weimar/Wien 2012, 93–105.

Jiří Just (Aus dem Tschechischen von Martin Rothkegel)

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Die Schlacht bei Mohács 1526 I. Zusammenfassung. – II. Ursachen und Folgen der Schlacht bei Mohács. – III. Protestantische und humanistische Interpretationsrichtungen im 16. und 17. Jahrhundert. – IV. Politische und künstlerische Verarbeitung sowie katholischer Kult im 18. und 19. Jahrhundert. – V. Trianon als „zweites Mohács“ in der Zwischenkriegszeit. – VI. Das Schlachtfeld als Erinnerungsort im Sozialismus: Der Historische Gedächtnispark Mohács. – VII. Die „Mohács-Diskussion“ seit den 1960er Jahren. – VIII. Die Versachlichung des nationalen Identitätsdiskurses seit 1990. – IX. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Stadt Mohács liegt im heutigen Ungarn in unmittelbarer Nähe zur kroatischen Grenze. Zu Beginn des 16. Jahrhunderts befand sie sich rund 200 Kilometer nördlich der Südgrenze des Stephansreiches. Im Umland des einstigen Marktfleckens, am rechten Donauufer, fand im Spätsommer 1526 die Schlacht statt, in der die Regionalmacht Ungarn dem geballten Vordringen des osmanischen Heeres chancenlos ausgeliefert war. Der Ausdruck „Katastrophe von Mohács“ (mohácsi veszedelem), auch „Unheil von Mohács“ (mohácsi vész), ist schon im Ungarn des 16. Jahrhunderts belegbar. Seine Besonderheit liegt darin, daß er nicht bloß auf den militärischen Ausgang des Ereignisses und dessen mittelbare Folgen für die ungarische Staatlichkeit verweist. Die bereits von Zeitgenossen beschriebene Schlacht bei Mohács markiert in ungarischer Sicht auch den staatlichen Niedergang des mittelalterlichen Ungarn, in der traditionellen Lesart symbolisiert sie sogar den Verfall der ungarischen Nation. Ort und Ereignis haben sich so zu einem Thema vermengt, dessen Bearbeitungen über den realgeschichtlichen Bezugsrahmen hinausweisen. Die Kultivierung des Gedenkens an die Niederlage von Christen gegen Muslime gewann früh protestantische, später auch katholische Züge, zunächst im Sinn der Annahme einer göttlichen Strafe für irdische Sünden. Das Gedenken war aber während der Jahrhunderte nie ausschließlich religiös motiviert; ab Mitte des 19. Jahrhunderts nahm das nationale Motiv sogar überhand. Die Autoren, in der weit überwiegenden Mehrheit Magyaren, sahen sich häufig herausgefordert, auch an den Erörterungen um das ungarische Geschichts-, Nations- und Staatsbewußtsein mitzuwirken. Grundzug dieses Erinnerns war, daß es weder in religiöser noch in nationaler Hinsicht ein Feindbild aufbaute. Die streckenweise harte Kritik kehrte es vielmehr nach innen. Der markante Selbstbezug dieser Vergangenheitsbewältigung ergänzte sich im 20. Jahrhundert um den Anspruch nach wissenschaftlicher Untersuchung der Schlacht und ihres Ortes, an dem seit 1976 eine historische Gedenkstätte den Niedergang und die teilweise osmanische Besetzung Ungarns, zugleich – im Sinn der in jüngerer Zeit maßgeblichen Interpretationsart – aber auch seinen Verbleib in der Gemeinschaft der christlichen Staaten vergegenwärtigt. 851

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II. Ursachen und Folgen der Schlacht bei Mohács IndasdüstereBildvonderSchlachtbeiMohácsfügensichdievorangehendenZerwürfnisse einerseits innerhalb der Aristokratie, andererseits zwischen dem Hoch- und Gemeinadel ein, die im Kontext der desolaten wirtschaftlichen und sozialen Lage die Abwehrkraft Ungarns verhängnisvoll geschwächt hatten. Die osmanische Expansionspolitik war seit den frühen 1520er Jahren dem Westen zugewandt und bestrebt gewesen, die Macht der Habsburgerdynastie zu brechen. Ungarn war deren Verbündeter und geriet nach mißratenen Friedensverhandlungen ins Visier des Sultans. Am Nachmittag des 29. August 1526 standen sich ungleiche Kräfte gegenüber. Im Söldnerheer Ludwigs II., des ungarischen Königs aus dem Geschlecht der Jagiellonen, kämpften etwa 25.000 bis 27.000 Mann. Sultan Süleyman I. hatte rund 60.000 bis 70.000 Soldaten unter Waffen. Die osmanischen Truppen waren auch logistisch und technisch weit überlegen. Nach kaum zwei Stunden war die ungarische Armee beinahe vollständig vernichtet. Neben 28 Magnaten, sieben Prälaten sowie rund 500 Adeligen ließen etwa 10.000 Infanteristen und �.000 Reiter ihr Leben auf dem Schlachtfeld. Der König entkam dem Gemetzel, ertrank aber auf der Flucht in einem Bach. Die siegreichen Truppen zogen sich in ihr Reich zurück, nachdem sie die Hauptstadt Ofen und das Donau-Theiß-Zwischenstromland geplündert sowie, nach zeitgenössischen Schätzungen, rund 200.000 Personen gefangengenommen hatten. Eine Generation später kehrten sie aber zurück, um eine Ausbreitung der habsburgischen Macht nach Osten zu verhindern. Die Folge war die osmanische Besetzung Mittelungarns, die rund 150 Jahre dauerte. Schon im Jahr der Schlacht von Mohács wurde Erzherzog Ferdinand von Habsburg zum ungarischen König gewählt, weil Ludwig II. kinderlos verstorben war. Allerdings hievte gleichzeitig die Gegenpartei den siebenbürgischen Woiwoden Johann I. Zápolya auf den Thron. Der Bürgerkrieg in diesem Doppelkönigtum führte zur Zweiteilung des Landes, die Rückkehr der Osmanen dann zur Dreiteilung des Stephansreiches. Um 1566 stand dessen Gebiet zu rund �0 Prozent unter osmanischer Verwaltung, während das nordwestliche „königliche Ungarn“ vom Wiener Hof regiert wurde und im Osten das Vasallenfürstentum Siebenbürgen verhältnismäßig autonom, aber dem Sultan tributpflichtig war. Erst jetzt, da Ungarn in der geopolitischen Pufferzone zwischen dem Machtbereich der Habsburger und der Hohen Pforte zergliedert war, begann die ungarische Niederlage bei Mohács ihre Wirkung für die öffentliche Wahrnehmung zu entfalten. III. Protestantische und humanistische Interpretationsrichtungen im 16. und 17. Jahrhundert In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts bildeten sich zwei ungarische Denkschulen heraus. Die protestantische Elite übertrug die aus Wittenberg von heimgekehrten Scholaren vermittelte Geschichtsauffassung Martin Luthers und Philipp Melanchthons 852

Die Schlacht bei Mohács 1526

auf Ungarn. Sie formte die Meinung aus, daß Kirche und Staat bei der Anwendung der reformatorischen Lehren des Christentums versagt, damit das Reich der Strafe Gottes ausgeliefert und an den Rand des Abgrunds geführt hätten. Dieses Urteil verbreitete sich mit dem protestantischen Schrifttum kirchlicher und weltlicher Autoren im Kreise des Bürgertums der freien königlichen Städte sowie bei der Bauernschaft der Marktflecken und Dörfer. Das gleiche Ergebnis der Schlacht bei Mohács stellten jene Intellektuelle fest, die nach ihrem Studium in Italien, vor allem in Padua, in Ungarn die humanistische Geschichtsschreibung begründeten. Als Anhänger des aristotelisch-neuplatonischen Weltbildes lehnten sie aber die Lehre von der göttlichen Wirkungsmacht in historischen Vorgängen ab. Auch sie erklärten den Zusammenbruch des mittelalterlichen Ungarn mit schwerwiegenden Verfehlungen der einheimischen Aristokratie, die vor Mohács in inneren Machtkämpfen auf Eigennutz, nicht aber auf das Landeswohl bedacht gewesen sei. Den Ausweg aus der Verderbnis erhofften sie sich allerdings nicht durch himmlische Hilfe. Die Kernfrage der humanistischen Geschichtsschreiber Ungarns war in diesem Zusammenhang, welche politische Konzeption die Wiedervereinigung der einzelnen Reichsteile ermöglichen würde. Die konfessionell differenzierte Antwort barg zwei Lösungsoptionen: Während katholische Autoren die Vertreibung der osmanischen Besatzungsmacht nur im Verbund mit dem Haus Habsburg für möglich hielten, sprachen protestantische der Dynastie die Stärke und den Willen zu diesem entscheidenden Gegenschlag ab und empfahlen die Anpassung an die Erwartungen der Hohen Pforte, um im Schutz der östlichen Vormacht die ungarische Staatlichkeit vor weiterem Schaden zu bewahren und auf ihre Reintegration ohne habsburgische Beteiligung hinzuarbeiten. Ein weiteres Unterscheidungsmerkmal der humanistischen Auslegung war, daß sie in ihren beiden Optionen die Gedankenwelt des Adels bestimmte, wobei die osmanische Orientierung maßgeblich in Siebenbürgen von den Fürsprechern der kleinstaatlichen Autonomie des Fürstentums gefördert wurde. IV. Politische und künstlerische Verarbeitung sowie katholischer Kult im 18. und 19. Jahrhundert In der ersten Phase der Rezeptionsgeschichte hatte die konfessionelle Begründung zwei Dimensionen: die der innerweltlich-menschlichen Schuld sowie die der metaphysischgöttlichen Strafe. In der Epoche der Aufklärung wurde dann in Dichtung und politischen Denkschriften die These von der göttlichen Strafe durch jene vom irdischen Versagen endgültig abgelöst. Gemäß dieser Deutung hätte die selbstverschuldete Niederlage in der Schlacht bei Mohács die Zwietracht als eine ungarische Charaktereigenschaft entlarvt. Gleichzeitig bürgerte sich allmählich der Brauch ein, Parallelen zwischen 1526 und der eigenen Zeit zu ziehen. Gegen Ende des 18. Jahrhunderts begann sich aber auch ein religiöser, katholischer Kult um die Schlacht herauszubilden, der ein in der Erinnerungskultur bezeichnender853

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weise „zweite Schlacht bei Mohács“ genanntes Ereignis mit einbezog. In der Schlacht bei Nagyharsány errangen am 12. August 1687 die österreichisch-ungarisch-bayerisch-kroatischen Truppen einen überwältigenden Sieg über die osmanische Armee und trugen so entscheidend zu deren Verdrängung aus Mittelungarn bei. Aus dem um diesen positiven Gegenpol erweiterten Blickwinkel ließ der Bischof von Fünfkirchen ab 1817 in Mohács den Jahrestag der ersten Schlacht als städtisches Fest begehen, in dem ausdrücklich auch der Gefallenen der zweiten Schlacht gedacht wurde. Die dort gehaltenen kirchlichen Trauerreden stellen die wichtigsten Textdenkmäler des katholischen Mohács-Kults im 19. Jahrhundert dar. In der Romantik und im Vormärz erstarkte zugleich die Tendenz zur Dramatisierung der Folgen der Schlacht von 1526, die sich in der dichterisch und publizistisch gezeichneten Vision vom Nationstod zuspitzte. Aus jenem Zeitraum ist die metaphorische Kennzeichnung des Schlachtfeldes als „großer Friedhof unserer nationalen Größe“ überliefert. Diese Verbildlichung des nationalen Untergangs lebte aber nicht aus dem Gefühl aktueller Existenzbedrohung, sondern sollte ein historisches Lehrbeispiel für die verheerenden Auswirkungen von innerer Zwietracht vergegenwärtigen. Die 182� von Károly Kisfaludy, einer der literarischen Führungsgestalten des Reformzeitalters, verfaßte Elegie Mohács schloß mit den Zeilen: „Der Ungar lebt, Buda steht noch! Die Vergangenheit möge jetzt nur Beispiel sein,/ […] Und du blühe, Trauerfeld! […]/ Einstiger Friedhof unserer nationalen Größe, Mohács!“ Diese Metapher blieb im Diskurs des vormärzlichen Ungarn erhalten. Am „furchtbaren Licht des Halbmondes öffnete sich das Grab des Vaterlandes“, so beklagte Zsigmond Baron Kemény, einer der angehenden politischen, publizistischen und belletristischen Wortführer der Reformgeneration, in einer 1838 erschienenen Denkschrift den Niedergang des mittelalterlichen Ungarn. Er tat dies jedoch nicht etwa mit der Absicht, diesem Niedergang an der „nationalen Bahre“ eine unbezweifelbare Endgültigkeit zuzuschreiben, sondern um die Ursachen aktuell verwertbar herauszuarbeiten, auf daß „der Tod lehre, zu leben“. Einen ebenfalls ermunternden Vergleich zwischen der jeweiligen Gegenwart und dem einstigen Schlachtfeld zog der seit den 18�0er Jahren nachweisbare Ausspruch „Bei Mohács ging auch mehr verloren“, der zu einem der bekanntesten geflügelten Worte im ungarischen Sprachraum werden sollte und auch heute noch gern verwendet wird. Der differenzierenden Behandlung der Frage nach der Verantwortung war im ersten Drittel des 19. Jahrhunderts die Absicht beigemischt, die Forderung der Reformbewegung nach Demokratisierung und Verbürgerlichung zu untermauern. So rückten die Herrscher und die Aristokraten in den Mittelpunkt der Kritik, die für die spätmittelalterliche Jagiellonenzeit befand, daß „nach den inmitten der Kämpfe der Regierung und der Oberschicht verursachten Beben“ der „Zerfall der bürgerlichen Verhältnisse, Entwürdigung und – Mohács“ gefolgt waren. Die Kapitulation der ungarischen Armee bei Hellburg am 13. August 18�9, die nach zeitweiligen Erfolgen der bürgerlichen Revolution die militärische Niederlage des antihabsburgischen Freiheitskampfes besiegelte, lieferte eine neue Analogie, die aber im folgenden Jahrzehnt des österreichischen Neoabsolutismus tabuisiert wurde. Umso deut85�

Die Schlacht bei Mohács 1526

licher war der ungarische Anspruch, der vorerst gescheiterten nationalliberalen Generation ins Gedächtnis zu rufen, daß das Land das Unheil von Mohács überlebt hatte. Diese in den 1850er Jahren journalistisch beförderte Umdeutung ersetzte das Bild von der todgeweihten Nation durch das der lebensmutigen Nation, die Schicksalsschläge heldenhaft überwindet. An ihr war die Historienmalerei mit Darstellungen der Schlacht und des Todes König Ludwigs II. beteiligt, in denen der Glaube an die Wiederkehr der ungarischen Eigenständigkeit im Rahmen der Habsburgermonarchie durchschimmerte. Sie boten den visuellen Rahmen zur Sakralisierung und somit auch zum Gedanken der Auferstehung der Nation. Gleichzeitig verlieh die ungarische Historiographie der Mohács-Interpretation ein noch stärkeres nationales Merkmal. Ihre in der Unabhängigkeitstradition der Jahre 18�8/�9 maßgeblichen Vertreter beschrieben die Schlacht – mit Anklängen an die politischen Verhältnisse ihrer Zeit – als Ausgangspunkt der habsburgisch fremdgeleiteten ungarischen Geschichtsentwicklung. V. Trianon als „zweites Mohács“ in der Zwischenkriegszeit Die Mohács-Diskussion nahm nach dem Zusammenbruch der Österreichisch-Ungarischen Monarchie wieder markante Züge an. Als habe er in einem verallgemeinerten Krisengefühl den Untergang vorhergesehen und abwenden wollen, hatte zuvor einer der literarischen Hauptvertreter der ungarischen Moderne mit einem seiner berühmtesten Gedichte – „Wir brauchen Mohács“ – die Sehnsucht nach einem Schicksalsschlag ausgedrückt, der eine geistig-moralische Erneuerung auslösen möge. Aufgrund des 1920 im Pariser Vorort Trianon unterzeichneten Friedensvertrags verlor Ungarn 71 Prozent seines Gebiets und 62 Prozent seiner Bevölkerung; mehrheitlich an die Nachfolgestaaten Tschechoslowakei, Rumänien und Jugoslawien. Entsprechend tief ausgeprägt war das Gefühl erlittenen Unrechts in der ungarischen Gesellschaft, wobei sich die Erinnerung an Mohács und die Verarbeitung der neuesten Kriegsniederlage wechselseitig beeinflußten. Das Ergebnis der Schlacht von 1526 galt – wie im 16. und im 17. Jahrhundert – als Strafe für die Verletzung christlicher Frömmigkeit und Moral, allerdings mit dem Unterschied, daß jetzt eine der Deutungsvarianten die Schuld dafür gleichsam rückwirkend auslagerte: Ungarn habe 1526 seinen Mann gestanden, sei aber von Europa im Stich gelassen worden. Diese Auffassung entsprach dem Topos „Wir sind allein“, einer Stimmungslage, die in der Zwischenkriegszeit in der politischen und kulturellen Elite Ungarns weit verbreitet war. Die ungarische Geschichtsschreibung hingegen war auf eine in westlicher Richtung versöhnliche Bewertung der frühneuzeitlichen Landesgeschichte eingeschwenkt, mit der sie betonte, daß nach Mohács die habsburgische Machtübernahme den endgültigen Zerfall der ungarischen Staatseinheit immerhin verhindert hatte. Die Deutungsnähe zur Politik der nationalen Integrität offenbarte sich in charakteristischer Weise anläßlich des �00. Jahrestages der Schlacht, der in und bei Mohács vom 20. August bis 5. September 1926 begangen wurde. Hochrangige Persönlichkeiten aus Po855

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litik, Militär, Kirche und Kultur entwarfen zwei Grundthesen, mit denen sie das Thema eigenartigerweise sowohl versachlichten als auch politisierten. Zum einen erinnerten sie mehrheitlich daran, daß die innen- und außenpolitischen Verfehlungen der ungarischen Führung in der Jagiellonenzeit wesentlich die Katastrophe heraufbeschworen hatten, die allerdings wegen der osmanischen Übermacht auch unter günstigeren inneren Voraussetzungen unvermeidlich gewesen wäre. Zum anderen zogen die Reden eine Parallele zwischen Mohács und Trianon, um der Landesöffentlichkeit die Zuversicht zu vermitteln, daß das Unheil, wenn es schon im „zweiten Mohács“ – also durch den Friedensvertrag von Trianon – wieder über die Nation hereinbrechen mußte, erneut überwunden werden könne. Der Höhepunkt der Feierlichkeiten war die Rede des Staatsoberhauptes Ungarns, in der der einstige Schicksalsschlag der ungarischen Nation ebenfalls in entscheidendem Maße als selbst verursacht dargestellt wurde, im gleichen Atemzug aber die nachkommenden Generationen für ihren Einsatz beim Wiederaufbau des Staates gelobt wurden. Anschließend setzte Reichsverweser Miklós Horthy den genius loci in der Würdigung der Beziehungen Ungarns zur Türkei – zugleich in einem diplomatisch formulierten Angebot an Jugoslawien – um: „Aus dem einstigen Feind wurde ein guter Freund. Die Gegensätze zwischen den beiden uralten verwandten Rassen haben sich eingeebnet […]. Von dem guten Freund aber, mit dem wir in den südlichen Randgebieten so lange durch das lebensnotwendige Interesse der gemeinsamen Abwehr verbunden waren, haben uns zuletzt leider tiefgreifende Gegensätze getrennt. Ich glaube und hoffe, daß auch hier die alte Freundschaft und Verständnis wiederkehren können.“ Mohács zog mit Verweis auf eben diese Rede anderthalb Jahrzehnte später in eines der erschütterndsten Dokumente ungarischer Politik im 20. Jahrhundert ein. Der Budapester Ministerrat setzte sich mit seiner Entscheidung für die Beteiligung am deutschen Feldzug gegen Jugoslawien über den mit dem südlichen Nachbarstaat am 12. Dezember 1940 geschlossenen „ewigen Freundschaftsvertrag“ hinweg. Daraufhin nahm sich der ungarische Ministerpräsident Pál Teleki das Leben. Seinen Abschiedsbrief an Reichsverweser Horthy vom 3. April 1941 begann er mit den Worten: „Exzellenz! Wir sind wortbrüchig geworden – aus Feigheit gegenüber dem auf der Rede von Mohács beruhenden Vertrag über ewigen Frieden.“ VI. Das Schlachtfeld als Erinnerungsort im Sozialismus: Der Historische Gedächtnispark Mohács Nach 19�5 bediente sich die offizielle ungarische Rückbesinnung der Lehren des Jahres 1526 und der Motive des Klassenkampfes. Fester Bezugsrahmen war dabei der Bauernkrieg von 1514 in Ungarn, in dem der Adel jene soziale Schicht vernichtend geschlagen habe, deren Wehrfähigkeit ihm ein Jahrzehnt später zugute gekommen wäre. Zu den Folgen der Schlacht nahm die marxistisch-leninistische Interpretation entgegen der in der Zwischenkriegszeit mehrheitlichen Auffassung der bürgerlichen Geschichtsschreibung einen antihabsburgischen Standpunkt ein. 856

Die Schlacht bei Mohács 1526

Die Photographie zeigt die historische Gedenkstätte Mohács. Erkennbar sind die Hügel zweier Massengräber. Rechts vorn steht eine Holzstatue König Ludwigs II., links hinten jene Sultan Süleymans I., hinter dem Hügel ein 1990 errichtetes Holzkreuz. Bildnachweis: Aufnahme Thomas Ifland, 2011.

Es hing mit archäologischem Finderglück zusammen, daß das Thema Mohács in der sozialistischen Epoche nicht im ideologischen Wertungsschema eingezwängt blieb. Im September 1960 kamen bei der Untersuchung des Schlachtfeldes zwei Massengräber zum Vorschein, in denen man dereinst rund 240 Soldaten bestattet hatte, die in der Schlacht auf ungarischer Seite gefallen, wiewohl sie nicht unbedingt ungarischer Nationalität gewesen waren. Hatte sich zuvor die Katastrophe für die Nachwelt auf einem Feld ohne scharfe territoriale Umrisse abgespielt, wurde sie nun auf einem konkreten Gebiet erfahrbar. Diese enge Verknüpfung von Geschichte und Ort der Schlacht vollendete die Entwicklung von Mohács hin zu einem Erinnerungsort, der nicht bloß das dort Geschehene ins Gedächtnis ruft. Seine feste Raumbindung prägte die mythische Fähigkeit des Ereignisses aus, die eigene Historie in nachgeborene Entwürfe gesellschaftlicher Identität gleichsam selbst einzubringen. Nach der archäologischen Entdeckung initiierte der Rat der Stadt Mohács die Errichtung eines Gedenkplatzes. Bald begann auch eine publizistische und wissenschaftliche Auseinandersetzung über den Stellenwert der Schlacht in der ungarischen Geschichte. Kaum ein Jahrzehnt nach der Niederschlagung und Vergeltung des Volksaufstands von 1956 war sie in erheblichem Maße vom Anspruch auf historische Neubegründung der 857

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nationalen Identität geleitet. So behinderte sie zunächst die Ausarbeitung einer fachlich schlüssigen und auch für die Staatspartei tragbaren Konzeption für die Gestaltung des Erinnerungsortes. Die „Historische Gedenkstätte Mohács“ (Mohácsi Történelmi Emlékhely) wurde erst 1976 zum �50. Jahrestag der Schlacht aufgrund eines 1973 gefaßten gemeinsamen Beschlusses des Rates des Komitates Baranya sowie des Landesamtes für Naturschutz und mit Finanzierung der Regierung südlich der Stadt, im Umfeld der 1960 entdeckten beiden Massengräber, in einem rund acht Hektar großen Naturschutzgebiet unter Mitwirkung führender Architekten, Bildhauer und Goldschmiedekünstler errichtet. Während der Bauphase, in die sich zuletzt auch zahlreiche Soldaten der Ungarischen Volksarmee und Zivilisten in ehrenamtlicher Arbeit einschalteten, wurden drei weitere Massengräber entdeckt. Die Gedenkstätte wurde bis 1990 mehrfach erweitert und 2011, zum �85. Jahrestag, mit einem mehrfunktionalen und reich ausgestatteten Besucherzentrum weiter ausgebaut und auf die Liste der „Nationalen Erinnerungsorte“ (Nemzeti Emlékhely) gesetzt. Sie beherbergt heute eine historische Ausstellung mit informativen Schautafeln, allegorischen Denkmälern, Holzstatuen bekannter und unbekannter ungarischer und türkischer Soldaten sowie einen Friedhofsgarten mit den inzwischen fünf bekannten Massengräbern. Der riesige Mauerbogen des Eingangstores ist an der Spitze durchbrochen, wie es die staatliche und nationale Einheit Ungarns infolge des osmanischen Vormarsches war. Die verstreuten rund 120 stilisierten hölzernen Grabzeichen sollten, so eine der konzeptionellen Überlegungen, die in den ungarischen Volksfriedhöfen des Karpatenraumes bereits im 16. Jahrhundert verbreitete calvinistische Bestattungssitte vergegenwärtigen, deren Ursprünge in urungarische Zeit zurückgereicht hätten – kultgeschichtlich belegbar sind sie allerdings erst ab dem 19. Jahrhundert. Ein Kreuz fehlte zunächst auf dem ganzen Areal, dessen kreisrundartiges, den Eindruck der Ausweglosigkeit erweckendes Alleensystem von einer Achse wie von einem Pfeil zweigeteilt wird. 1990 wurde am Ende der Achse ein Kreuz aufgestellt, das mit seinen zehn Metern die Grabzeichen deutlich überragt. Das Gelände umzäunen �00 Bäume – etwa so viele Personen wurden in den fünf Massengräbern bestattet. Das Standbild Sultan Süleymans I. unweit dem von König Ludwig II. sowie das Denkmal der gefallenen polnischen Soldaten bezeugen, daß der Park mit all den nationalungarischen Assoziationen einer verbindenden Geschichtsbelebung dienen soll. Den Eindruck des friedfertigen Erinnerns bestätigen die seither an den Jahrestagen wiederkehrenden Kranzniederlegungen ungarischer Organisationen und Schulklassen sowie der türkischen Botschaft. Die Konzeption der Gedenkstätte entsprang einem durch fachliche Aspekte gemäßigten „volkstümlichen Patriotismus“, einem in Parteikreisen postulierten sozialistischen Nationalbewußtsein, das auch durch die Erinnerung an die Schlacht bei Mohács wach gehalten werden sollte. Bei der feierlichen Eröffnung des Gedächtnisparks am 29. August 1976 war es der stellvertretende Vorsitzende der „Patriotischen Volksfront“ (Hazafias Népfront), Gyula Ortutay, ein im In- und Ausland hoch angesehener Volkskundler, der dem ideologischen Erziehungsanspruch das wissenschaftliche Aufklärungsziel beimischte. Die Niederlage bei Mohács habe nicht nur den Endpunkt einer inneren Fehl858

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entwicklung markiert; über die selbst verschuldete Ursache, die „Niederträchtigkeit der herrschenden Klasse hinaus“ sei sie „gleichermaßen durch die Entfaltung der türkischen Großmacht und die internationale Teilnahmslosigkeit“ bedingt gewesen. In ihr habe sich zwar das „Alleingelassensein der ungarischen Nation“ ausgedrückt, doch „gegenüber der türkischen Großmacht, deren organisierter Militärkraft und vorausblickenden Strategie hätte sich auch ein stärkeres, einheitlicheres Ungarn nicht behaupten können“. Vor allem der erste Teil dieser insgesamt sachlichen These lieferte den Angelpunkt zur Abrechnung mit dem Topos „Wir sind allein“, die zum Abschluß der Rede die Überlegenheit des sozialistischen Gesellschaftssystems in nationaler Perspektive herausstellen sollte: „Das Andenken von Mohács vermag in uns gerade dieses Selbstbewußtsein zu wecken: Das heutige Ungarn ist nicht mehr allein, ist nicht ein auf sich gestelltes Volk der Welt. Es ist schöpferischer Teilnehmer am Bündnis der sozialistischen Nationen – nicht mit den Ängsten des kleinen Volkes, sondern mit der Sicherheit des gleichrangigen sozialistischen Bündnispartners.“ So bot sich auch der umdeutende Rückgriff auf das vom Beginn des 20. Jahrhunderts überlieferte Dichterwort von Gyula Ortutay „Wir brauchen Mohács“ an: „Wir brauchen kein Mohács, aber all das, was uns Mohács und unsere gesamte Nationalgeschichte lehrt, haben wir gelernt! [...] So erinnern wir uns, nach 450 Jahren, an die 20.000 Toten auf dem Schlachtfeld bei Mohács, an den jungen König – nicht mit fruchtlosem Gejammer, sondern in selbstbewußter Verantwortung für die Zukunft der Nation.“ VII. Die „Mohács-Diskussion“ seit den 1960er Jahren Die Feier des 450. Jahrestages fügte sich mit ihrer doppeldeutigen Rhetorik in die bereits seit einem Jahrzehnt auf zwei Bahnen laufenden „Mohács-Diskussion“ (Mohácsvita) ein. Diese entspann sich Mitte der 1960er Jahre um eine realgeschichtliche Frage: Warum verzichteten die Osmanen 1526, nach der gewonnenen Schlacht, und 1529, bei ihrem ersten Feldzug gegen Wien, auf die Besetzung Ungarns, warum ließen sie sich damit weitere 15 Jahre Zeit? Für den Autor, der die Diskussion auf einer publizistischessayistischen Bahn angestoßen hatte und seinem Erklärungsansatz bis zuletzt treu blieb, hatte es die Hohe Pforte selbst nach der Schlacht bei Mohács nicht auf eine Einverleibung Ungarns abgesehen. Die osmanische Besetzung des mittleren Landesteils sei erst als Reaktion auf den sträflichen Egoismus des ungarischen Adels erfolgt, der zunächst zwei Könige gewählt und sich dann auf die habsburgische Seite geschlagen habe, anstatt den einheimischen Herrscher zu unterstützen, der mit osmanischem Wohlwollen die Unabhängigkeit des Landes zu sichern bestrebt gewesen sei. Innerhalb des wissenschaftlichen Stranges der Mohács-Diskussion erfuhr diese These eine bedingte und eine gänzliche Ablehnung, wobei die letztere Antwort auch die weniger radikale Kritik verwarf. Zum einen wurde die harsche Adelsschelte als ideologisch motiviert und überzogen bezeichnet, zugleich aber ebenfalls betont, daß der Sultan mit dem militärischen Schlag Ungarn ursprünglich nicht unterjochen, sondern 859

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nur zu einer zumindest neutralen Außenpolitik nötigen wollte, welche die Habsburger jedenfalls dem Karpatenraum ferngehalten hätte. Seine Absicht auf eine nachbarschaftliche Verständigung habe er auch nach der Schlacht zum Ausdruck gebracht, die ungarischen Magnaten hätten dieses Süleymansche Angebot jedoch mißachtet und schließlich seine Rücknahme verursacht, indem sie den Thronanspruch der Habsburger für das ganze Land anerkannten. Damit hätte der Erzrivale Grund genug gehabt, wieder – und nun mit bleibenden Folgen – ins Landesinnere vorzurücken und 1541 auch die Hauptstadt Ofen einzunehmen. Nach dem Standpunkt, den letztlich beide bisher skizzierten Interpretationen vertraten, habe Ungarn mit der Niederlage bei Mohács nicht zwangsläufig, sondern infolge falscher Entscheidungen seiner Führung die Chance vertan, mit einer Orientierung hin zum osmanischen Reich seine Integrität und Unabhängigkeit zu bewahren. Die in der ungarischen Historiographie tonangebende Mehrheit zog jedoch am anderen wissenschaftlichen Strang der Mohács-Diskussion: Sie stritt die Existenz eines solchen Angebots von Süleyman vehement ab und erklärte den zeitweiligen osmanischen Rückzug mit der Strategie der sukzessiven Eroberung, der keine Friedensabsicht zugrunde gelegen habe. Domokos Kosáry beispielsweise schrieb, es sei falsch zu behaupten, daß Ungarn die drohende „Katastrophe mit mehr diplomatischem Geschick und Eifer endgültig hätte abwenden können. Es ist offenkundig, daß es nicht alle seine Kraft gut zu entfalten vermochte. Aber die Größe der Aufgabe überstieg zweifellos alle seine Kraft.“ Die publizistisch-essayistischen Beiträge der Mohács-Diskussion spiegelten nach 1960 thematisch, gedanklich und begrifflich die marxistische Geschichtsauffassung wider. Ihr wichtigster Autor, István Nemeskürty, bediente sich des aus der frühen Rezeptionsgeschichte bekannten Motivs der Strafe Gottes, die das Volk im Bewußtsein angenommen habe, vor 1526 „einem schlechten Glauben gedient zu haben“. Hieraus erkläre sich die danach rasante Ausbreitung der Reformation mit ihrer ungarischsprachigen „harten antifeudalen Gesellschaftskritik“. Doch die Ausschaltung der wehrbereiten und vaterlandstreuen Unterschicht im Bauernkrieg von 1514 habe sich bitter gerächt: „Die Kinder des für Mohács verantwortlichen ungarischen Adels stellten keine staatsführende Klasse mehr dar, wurde doch der ‚halbe Kragen‘, wie man damals das königliche Ungarn bezeichnete, von habsburgischen Beamten regiert: Die ungarischen Adligen haben ihre Leibeigenen nur ausgebeutet und manchmal, die Besten unter ihnen, ihr Blut geopfert für die Patria.“ Ungarn habe sich zum „freiwilligen Vasall der stärksten europäischen christlichen Großmacht“ abgewertet, wenn auch der Betrachter „heute beim Rückblick in die Vergangenheit“ der Meinung sei, daß es „richtig“ daran getan habe. Jedenfalls zeige sich im Thema von Mohács „verblüffend die Habsburg-Orientierung der ungarischen Geschichtswissenschaft im letzten Jahrhundert und deren bis heute anhaltende Wirkung“, so Nemeskürty. Es kennzeichnete die zwiespältige Meinungslage im engeren und weiteren Umfeld der Entscheidungsträger, daß zur Konzipierung des im Zeichen des „volkstümlichen Patriotismus“ öffentlich eingeweihten Gedächtnisparks nicht der Hauptvertreter des antifeudalistischen und antihabsburgischen Flügels der Mohács-Diskussion eingeladen wurde. 860

Die Schlacht bei Mohács 1526

Dem fachlichen Beraterausschuß gehörten zwei seiner prominenten Kritiker an, die den „historisch-realistischen“ Ansatz entwickelt hatten, unter anderem mit der These, daß am Schlachtplan der heldenhaften ungarischen Armee „fachlich nichts auszusetzen“ sei. VIII. Die Versachlichung des nationalen Identitätsdiskurses seit 1990 Die jüngere ungarische Frühneuzeitforschung pflegt in der allgemeinen Bilanz des 16. und des 17. Jahrhunderts darauf zu verweisen, daß die rund einhundertfünfzigjährige Zergliederung des Stephansreiches die ungarische Gesamtstaatsidee nicht aufgehoben, sondern vielmehr weiter belebt habe. Diese These hellt das düstere Mohács-Bild auch in breiter geistes- und kulturgeschichtlicher Perspektive auf. Sie besagt, daß die Dynastie ab dem ersten Drittel des 16. Jahrhunderts nicht mehr nur erbvertraglich berechtigt, sondern aus Gründen des Selbstschutzes auch geopolitisch genötigt war, die ungarische Krone für alle Gebiete des Stephansreiches zu erlangen. Diese hartnäckig verfolgte Gesamtreichskonzeption führte letztlich zur Zurückdrängung der Osmanen aus dem Donau-Karpatenraum. So habe das Königreich Ungarn nach der Schlacht bei Mohács zwar seine selbständige Führungsrolle in der Region eingebüßt und anderthalb Jahrhunderte hindurch unter verheerenden politischen, wirtschaftlichen und sozialen Folgen seiner Zerrissenheit in der Pufferzone zwischen den beiden wetteifernden Mächten gelitten. Anders als Serbien nach der Schlacht auf dem Amselfeld 1389 sei ihm aber der vollständige Zusammenbruch seiner Staatlichkeit erspart geblieben. Der von den Habsburgern durchgesetzte Thronanspruch habe Ungarn den Weg in die Donaumonarchie gewiesen, in deren Rahmen es Teil des „christlichen Kulturkreises“ blieb. Dieser Standpunkt kennzeichnet jene in den vergangenen zwei Jahrzehnten erstarkte Richtung der ungarischen Geschichtswissenschaft, die in der Ausbreitung der habsburgischen Herrschaft zunächst auf die nordöstlichen Gebiete des Stephansreiches nicht den Beginn einer vierhundertjährigen ungarischen Fehlentwicklung sah und somit von der vormaligen nationalmarxistischen These abrückte. Diese positive Umdeutung der Anfänge und ersten Phase österreichisch-ungarischer Staatsverbindung hat die Schlacht bei Mohács ihrer unüberwindbaren Tragik enthoben und mit dazu beigetragen, daß in der Mohács-Diskussion nach 1990 die wissenschaftliche Betrachtung Oberhand gewann. Nur mehr vereinzelt hielt der Erinnerungsort für eine symbolische und gegenwartsbezogene Instrumentalisierung her, so bei der Verarbeitung des Trianon-Traumas für die journalistisch aufgewärmte Bezeichnung des Zerfalls des historischen Ungarn nach dem Ersten Weltkrieg als „zweites Mohács“. Ein weiteres Beispiel ist die geistesgeschichtliche Einbettung der vom ersten Ministerpräsidenten des postkommunistischen Ungarn auf der örtlichen Gedenkveranstaltung im August 1991, im Schatten des Moskauer Putsches und der schwelenden südslawischen Krise, vorgetragenen politischen Botschaft, nach der Ungarn „genügend Mohács durchlebt“ habe und keine weiteren brauche, um „zu sich zu kommen“, sich auf seine vor Jahresfrist errichtete Demokratie zu besinnen und friedliche Nachbarschaftskontakte zu pflegen. 861

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Die ungarische Mohács-Diskussion regte nach 1965 sowohl das Nationalgefühl als auch den historiographischen Sachverstand an, ohne daß dem populären Ansatz die Zustimmung der Fachkritik zuteil geworden wäre. Spätestens nach 1990 wurde die Debatte von Wissenschaftlern geführt; insofern kann sie in ihrer zweibahnigen Urform als beendet betrachtet werden. Allerdings ist im Schulwesen Ungarns die jahrhundertelange Legendenbildung um die Schlacht vielfach heute noch wirksam. Auch die Politik hat bei der jüngsten Gedenkfeier 2011 ihre Rhetorik im Namen einer gegen innere und äußere Feinde gewappneten Nation geschärft. Hiervon unabhängig behandelt heute die wissenschaftlich maßgebliche Interpretationsart die Schlacht bei Mohács in ihrem zeitgenössischen Kontext und lehnt sowohl eine Überbewertung als auch eine Leugnung der ungarischen Verantwortung an der Tragödie ab, die sie nicht Sündenböcken zuzuschreiben, sondern als unvermeidbar darzustellen empfiehlt. Die jüngste, militärgeschichtlich ausgerichtete Mohács-Forschung weist nach, daß die ungarische Armee im Kräftemessen mit dem osmanischen Gegner trotz durchdachter Strategie ihrer Führung untergehen mußte. Dieser Grundthese folgt das neueste Produkt der realistischen Verarbeitungsschule, eine computeranimierte filmische Rekonstruktion der Schlacht, die nach vierjähriger Arbeit einer ungarischen Expertengruppe zum �85. Jahrestag fertiggestellt wurde und online zugänglich ist. Die Übersicht über die ungarische Rezeptionsgeschichte der Schlacht zeigt, daß die Spiegelung der Katastrophe in der jeweiligen Gegenwart zwar über weite Strecken die Erinnerung an den Ort Mohács bestimmte, sie jedoch ab der Mitte des 19. Jahrhunderts immer wieder durch Deutungen ergänzt oder sogar abgelöst wurde, aus der einstigen nationalen Tragödie also zukunftsweisende Lehren gezogen worden waren. Diesem Anspruch dienten auch die ideologisch-politischen Zugriffe im 20. Jahrhundert, die bemerkenswerterweise keine Feindbilder entwarfen, sondern in der bisweilen überzogen strengen Auseinandersetzung mit der einstigen Eigenverantwortung nachbarschaftliche Friedfertigkeit bekundeten. Das Schlüsselereignis beim Zusammenbruch des mittelalterlichen Königreichs Ungarn trieb so eine vornehmlich nach innen gerichtete, aber nicht nur trauerverhüllte Vergangenheitsbewältigung voran, die sich bereits im 16. Jahrhundert in Gang gesetzt hatte. Die Memoria war zuerst von religiösen, später dann zunehmend von säkularen Motiven geprägt; auf lange Sicht ordnete sie das bis ins 20. Jahrhundert hinein mit wechselnder Intensität beibehaltene sakrale Element dem nationalen unter. Beredtes und fachkundiges Zeugnis für den übertragenen Sinn ihrer religiösen Note ist die sinngemäß schon in der Zwischenkriegszeit vertretene und neuestens betonte These, nach der die mehrstufigen Folgen der Niederlage gegen die osmanische Übermacht die ungarische Staatlichkeit der christlichen Kulturgemeinschaft erhalten hätten. In diesem Zusammenhang entfaltete der historisierende Identitätsdiskurs eine wohltuende Gestaltungskraft, weil er die Klage über den Verlust der regionalen Machtstellung, die Dreiteilung und osmanische Besetzung sowie die gleichzeitig beginnende Eingliederung Ungarns in die Habsburgermonarchie nicht verabsolutierte, sondern wiederholt objektiven Prüfungen unterzog. 862

Die Schlacht bei Mohács 1526

Die Schlacht bei Mohács löste im Rahmen dieser doppelbahnigen Verarbeitung wehmütige, mitunter wehleidige, aber stets auch selbstkritische Gedanken und somit ein insgesamt konstruktives Gedenken aus. Die betroffenen Wissenschaftszweige steuerten einer überschäumenden und unüberwindbaren Mythisierung entgegen. Sie haben mit dem Umfang auch die Verlässlichkeit des Wissens über diesen Erinnerungsort vermehrt und damit ein ostmitteleuropäisches Beispiel für die notwendige und mögliche Versachlichung des Denkens über die nationale Vergangenheit geliefert. IX. Auswahlbibliographie a) Quellen New Zeyttung, wie der turckischen Keyser mit dem König von Ungern dye Schlacht gethan hat auff den Tag Johannis Enthauptung; Newe zeyttung, wie es mit der schlacht zwüschen dem Künig von Ungern und dem Türckischen Keyßer ergangen […]. [Speyer] 1526; Katona, Tamás (Hg.): Mohács emlékezete. A mohácsi csatára vonatkozó legfontosabb magyar, nyugati és török források. A csatahely régészeti feltárásának eredményei [Das Andenken von Mohács. Die wichtigsten ungarischen, westlichen und türkischen Quellen zur Schlacht von Mohács. Die Ergebnisse der archäologischen Untersuchung des Schlachtortes]. Budapest 21979 [11976]; brodericus, Stephanus: De conflictu Hungarorum cum Turcis ad Mohatz verissima descriptio. Cracoviae 1527. Hg. v. Petrus KuLcsár. Budapest 1985; brodarics, István: Igaz leírás a magyaroknak a törökökkel Mohácsnál vívott csatájáról [Wahre Beschreibung der Schlacht der Ungarn bei Mohács gegen die Türken]. Budapest 1983; szabó, János B. (Hg.): Mohács. Budapest 2006.

b) Darstellungen KeMény, Zsigmond: A mohácsi veszedelem okairól [Über die Gründe der Katastrophe von Mohács]. [Budapest?] 1838 [ND 1983]; KisfaLudy, Károly: Mohács [182�]. In: ders.: Válogatott munkái. Hg. v. József bánóczi. Budapest [um 1903], 55–58; ady, Endre: Nekünk Mohács kell [Wir brauchen Mohács] [1908]. In: ders.: Összes versei. Hg. v. Gyula föLdessy. Budapest 1950; GyalóKay, Eugen von [Jenő]: Die Schlacht bei Mohács (29. August 1526). In: Ungarische Jahrbücher 6 (1927) 228–257; Teleki Pál miniszterelnök öngyilkossága előtt Horthy Miklóshoz írt búcsúlevele [Vor seinem Selbstmord verfasster Abschiedsbrief von Ministerpräsident Pál Teleki an Miklós Horthy]. O.O. 19�1; PaPP, László: A mohácsi csatahely kutatása [Die Erforschung des Schlachtfeldes bei Mohács]. In: doMbay, János (Hg.): A Janus Pannonius Múzeum évkönyve 1960. Pécs 1961, 196–253; neMesKürty, István: Ez történt Mohács után. Tudósítás a magyar történelem tizenöt esztendejéről [Das geschah nach Mohács. Bericht über 15 Jahre ungarischer Geschichte]. Budapest 31975 [11966]; ders.: Önfia vágta sebét. Krónika Dózsa György tetteiről. Ez történt Mohács után. Elfelejtett évtized [Verletzt vom eigenen Kind. Die Chronik der Taten von György Dózsa. Das geschah nach Mohács. Das vergessene Jahrzehnt]. Budapest 2 1980 [11975]; Perjés, Géza: Az országút szélére vetett ország. A magyar állam fennmaradásának a kérdése a Mohácstól Buda elestéig tartó időben [Das an den Wegesrand gedrängte Land. Die Frage des Fortbestands des ungarischen Staates von Mohács bis zum Fall von Ofen]. Budapest 1975; MitzKi, Ervin (Hg.): Tudományos emlékülés a mohácsi csata 450. évfordulója alkalmából [Wissenschaftliche Gedenkveranstaltung zum �50. Jahrestag der Schlacht von Mohács]. Pécs 1976; szaKáLy, Ferenc: A mohácsi csata [Die Schlacht von Mohács]. Budapest 31981 [11975]; Perjés, Géza: Mohács. Budapest

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Szigetvár 1566 I. Zusammenfassung. – II. Das historische Ereignis. – III. Der Zrínyi-Kult in Ungarn und in Kroatien. – IV. Szigetvár, ein gemeinsamer Erinnerungsort von Ungarn, Kroaten und Türken. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Im Jahr 1566 wurde die in Südwestungarn liegende Festung Szigetvár von einem osmanischen Heer unter Sultan Süleyman I. belagert. Der Festungskommandant Nikolaus Šubić Zrínyi mußte nach zwei Monaten die Verteidigung aufgeben. Er entschied sich zusammen mit seinen Soldaten zu einem Ausfall aus der Festung und wählte damit den Heldentod. In Anbetracht der doppelten kroatisch-ungarischen Identität der Familie Zrínyi stellt der Zrínyi-Kult eine gemeinsame Erinnerung von Ungarn und Kroaten an die Türkenkriege dar. Der Kult wurde jedoch getrennt gepflegt, nicht zuletzt deshalb, weil die Erinnerung an Zrínyis Tat im Entstehungsprozeß der modernen ungarischen und kroatischen Nation eine unterschiedliche Rolle einnahm. Zudem spielt die Stadt als Sterbeort Sultan Süleymans I., einem der bedeutendsten Sultane des Osmanischen Reiches, auch in der historischen Erinnerung der Türken eine gewichtige Rolle. Der Tod der beiden Kontrahenten während der Festungsbelagerung macht den Ort zu einem Erinnerungsort besonderer Art.

II. Das historische Ereignis Bereits vor 1566 wurde die königliche Festung Szigetvár zweimal von osmanischen Truppen belagert. Sie konnten jedoch sowohl 155� von Palatin Tamás Nádasdy als auch zwei Jahre später vom kroatischen Ban Nikolaus Šubić Zrínyi zurückgeschlagen werden. 1561 ernannte man Zrínyi zum Kommandanten der Festung. Zur schicksalhaften Wende im Kampf um den Besitz von Szigetvár kam es 1566, als Süleyman I. persönlich an der Spitze eines Heeres von etwa 90.000 Soldaten und 300 Geschützen gegen die Festung zog. Auf der anderen Seite standen lediglich 2.500 kroatische und ungarische Soldaten mit 69 Geschützen. Die bei Raab stationierten Entlastungstruppen wurden, anders als von Kaiser Maximilian II. versprochen, nicht nach Szigetvár entsandt. Die historische Forschung geht davon aus, daß der Kaiser den mächtig gewordenen Kontrahenten offenbar absichtlich ins offene Messer laufen ließ. Die Folge davon war, daß die Verteidiger von Szigetvár im Sommer 1566 gegenüber der osmanischen Übermacht auf sich allein gestellt blieben. Die am 6. August belagerte Stadt mußte schon nach wenigen Tagen aufgegeben werden. Die Verteidiger zogen sich in die Festung zurück und konnten die Angriffe der folgenden Tage zunächst noch abwehren. Der Sultan versuchte Zrínyi mehr865

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mals zur Kapitulation zu bewegen, indem er ihm die Statthalterschaft in Illyrien sowie Besitztümer in Bosnien versprach und ihm überdies mit der Ermordung seines angeblich gefangengenommenen einzigen Sohnes drohte. Ein letztes Angebot Süleymans zum Aufgeben der Festung wies Zrínyi am 5. September zurück. In der darauffolgenden Nacht erlag der bereits 72 Jahre alte Sultan der Gicht, die Verteidiger konnten jedoch den geheimgehaltenen Tod nicht zu ihrem Vorteil nutzen. Am 7. September wurde der Turm, in den sich die letzten Verteidiger zurückgezogen hatten, ohne Unterlaß beschossen, so daß er am folgenden Tag in Flammen aufging. In dieser ausweglosen Lage zog Zrínyi den Heldentod der Kapitulation vor und stürmte mit seinen rund 500 verbliebenen Soldaten in die von den Osmanen besetzte Außenburg. Fast alle Verteidiger fielen, der schwer verwundete Zrínyi selbst wurde gefangengenommen und enthauptet. Seinen Körper bestatteten die Osmanen mit militärischem Pomp, seinen in Samt gehüllten Kopf dagegen sandte man Maximilian II. zusammen mit einem Schreiben. Darin hieß es: „Hier schicken wir den Kopf Eures tapfersten Mannes, an dem Ihr auch in Zukunft großen Bedarf gehabt hättet“. III. Der Zrínyi-Kult in Ungarn und in Kroatien Fast zeitgleich mit der Einnahme der Festung Szigetvár durch die Osmanen berichteten die neuen Massenmedien der Zeit, die Newe[n] Zeytung[en], über die Ereignisse in Südungarn. Zrínyi, bereits während der Belagerung der Festung als der „ritterlich Graff von Serin“ bezeichnet, wurde nach seinem Tod in der Eliten- und Volkskultur gleichermaßen gewürdigt; während die „Kriegsleut daheim hintern Ofen beym Wein“ gesessen seien, opferte er für die Christenheit sein Leben, hieß es in einem der zeitgenössischen Berichte. Auch in- und ausländische Autoren gedachten Zrínyi in lateinischen, italienischen oder spanischen Chroniken und Epen, so etwa Samuel Budina 1568, Alfonso Ulloa 1569, Brno Krnarutić und Christan Schesaeus 1570 oder Pietro Bizari 1573. Nur wenige Jahre nach dem Fall Szigetvárs wurde das Lied Ein hüpsch new Lied von dem Graffen, Thewren Ritter und Helden Graff Niclaus von Serin in mehreren Auflagen im deutschsprachigen Raum verbreitet. Auch in ungarischen und kroatischen Liedern – História az Szigetvárnak veszéséről (Erzählung über den Fall Szigetvárs), Pjesma o Sigetu (Lied über Szigetvár) – besang man den Verlust Szigetvárs als einer Vormauer der Christenheit. Zrínyis heldenhafte Tat und die gesteigerte Angst in Europa vor den Osmanen trugen zur Verbreitung bildlicher Darstellungen über den Helden von Szigetvár bei. Eines der ikonographisch bedeutendsten Werke der Zeit stellt der Holzschnitt Germania eilt der von den Osmanen bedrängten Hungaria zur Hilfe von Johann Nel aus dem Jahr 1581 dar. In dieser allegorischen Darstellung der Querela Hungaria wird Zrínyi in die Reihe der großen Türkenkämpfer Ungarns aufgenommen. Wie eng das gestiegene Interesse der Deutschen an den Türkenkriegen und der einsetzende Zrínyi-Kult in Ungarn miteinander verbunden waren, wird in der 1587 in Wittenberg herausgegebenen Gedichtsammlung 866

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De Sigetho Hungariae propugnaculo deutlich. Das Zrínyi-Album, ein typisches Werk des internationalen Späthumanismus, wurde auf Bestellung von Imre Forgách, einem Schwiegersohn Zrínyis, angefertigt und auch von ihm bezahlt. Es enthielt Texte von Autoren aus Ungarn, aber auch von evangelischen Ungarn, die in Wittenberg studierten. Eine dritte Textgruppe stellte Petrus Albinus, Professor an der Universität Wittenberg sowie späterer Hofgeschichtsschreiber und Sekretär Herzog Augusts von Sachsen, aus verschiedenen europäischen Quellen zusammen. All diesen Texten war gemein, daß die Autoren Zrínyi unabhängig von ihrem eigenen Bekenntnis als propugnaculum Christianitatis (Vormauer der Christenheit) priesen. Das genannte Album wurde zum Wegbereiter für das barocke Heldenepos des Dichters und Feldherrn Nikolaus Zrínyi, Urenkel des Helden von Szigetvár. Er verfaßte 16�5/�6 das lateinische Epos Obsidio Szigetiana, in dem er, „der ganzen Welt ein Beispiel gebend“, den moralischen Sieg des Unterlegenen besang. Dieses historische Muster gedieh mit der Zeit zu einem Mythos, der in der ungarischen Mentalität bis zum heutigen Tag virulent blieb, wie zuletzt der Literaturhistoriker András Szabó feststellte. Die Bedeutung des Heldenepos bestand vor allem in der gemeinschaftsbildenden Geschichtsdeutung, die ausgehend von der realpolitisch wie militärisch zerrütteten Lage im Königreich Ungarn während des 17. Jahrhunderts Heldenmut und Tatkraft der Ahnen als Vorbild für die Zukunft postulierte. Das Epos brachte zugleich die konkreten politischen Bestrebungen des Urenkels zum Vorschein: die Befreiung Ungarns aus eigener Kraft und die Errichtung einer ständischen Monarchie mit einem aus den eigenen Reihen stammenden König. Die an einigen Stellen abgeänderte kroatische Übersetzung des Epos durch den Bruder des Dichters, Peter Zrínyi, der bei der Aufteilung des Familienvermögens 16�9 die kroatischen Besitzungen erhielt, stellt die kroatische Parallele des politischen Programms dar. In beiden Fällen stand der Urgroßvater als athleta Christi, als Prototyp des im Kampf mit den Gegnern des Christentums gefallenen Märtyrerhelden, im Mittelpunkt. Dadurch sollte auch die politische Berufung der Zrínyi-Familie im Stephansreich legitimiert werden. Nach der Befreiung Ungarns und dem Kompromißfrieden zwischen den ungarischen Ständen und der Herrscherdynastie von 1711 verblaßte der Ruhm des Szigetvárer Helden, die Erinnerung an ihn wurde nur noch im begrenzten Rahmen durch jesuitische Schuldramen gepflegt. Entsprechend der pädagogischen Zielsetzung der Societas Jesu kehrte man in diesen Stücken, so etwa in dem 1738 in Preßburg aufgeführten Werk des in Wien und Ungarn wirkenden Jesuiten Andreas Friz, die moralische Überlegenheit des Türkenkämpfers hervor. Gefördert durch den gesamtstaatlichen Patriotismus am Wiener Hof, nahm der ZrínyiKult Anfang des 19. Jahrhunderts einen neuen Aufschwung, nun allerdings in vollständig säkularisierter Form. Um den Zusammenhalt der Völker untereinander zu festigen, war man bestrebt, die Geschichte des 180� begründeten Kaisertums Österreich auch mit Hilfe literarischer und künstlerischer Mittel darzustellen. 1822 regte der österreichische Schriftsteller und Historiker Joseph von Hormayr in seinem Archiv für Geschichte, Statistik, Literatur und Kunst an, die Vergangenheit der Gesamtmonarchie durch die Darstellung von historischen Ereignissen Ungarns auf Gemälden zu thematisieren; in 867

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diesem Zusammenhang bezeichnete er Zrínyi als „Leonidas von Sigeth“. Ein Jahr später erschien der Aufruf Erzherzog Josephs, Palatins von Ungarn, zur Subskription von drei Gemälden für das Ungarische Nationalmuseum. Neben dem Landtag von 17�1, als die ungarischen Stände ihre Unterstützung für Maria Theresia gegen Preußen beschlossen, und der Krönung von Franz I. zum ungarischen König 1792 sollte Zrínyis heldenhafter Tod abgebildet werden. Zrínyis Opfer für die Verteidigung der Christenheit im Dienst des Kaisers schien für den Wiener Hof der geeignete Stoff zu sein, um den Verbund zwischen Nation und Herrscher besonders zu betonen. Mit dem Gemälde über Zrínyis Ausfall aus der Festung wurde der Wiener Hofmaler Peter Krafft beauftragt; das von ihm geschaffene Werk befindet sich bis heute im Besitz der Ungarischen Nationalgalerie. In den anschließenden Debatten über Kraffts Zrínyi-Darstellung in Ungarn wurde allerdings deutlich, daß das Gemälde nicht den von Wien gewünschten Reichszusammenhalt, sondern den von der ungarischen Elite getragenen HungarusPatriotismus verstärkte. Einen Höhepunkt der gesamtstaatlichen Bestrebungen stellte zweifelsohne das 1812 von Theodor Körner, einem gebürtigen Dresdner, verfaßte und im Wiener Burgtheater mit großem Erfolg aufgeführte Zrínyi-Drama dar. Körner bearbeitete den Zrínyi-Stoff vor dem aktuellen politischen Hintergrund der napoleonischen Fremdherrschaft, so daß er auch für die sich entfaltende ungarische und kroatische Nationalbewegung von besonderem Interesse war. Körners Drama wurde ab 1818 von Ofen bis Klausenburg in ungarischer und ab 18�0 in Agram in kroatischer Sprache vielfach aufgeführt. Während das Theaterstück in Ungarn jedoch schon bald wegen seiner schwachen Dramaturgie in Vergessenheit geriet, übte es in Kroatien starken Einfluß auf die Entstehung des modernen nationalsprachigen Theaters aus. Körners Drama lieferte die Textvorlage für Hugo Badalić, der das Libretto für die 1876 uraufgeführte kroatische Nationaloper von Ivan Zajc, Nikola Šubić Zrinjski, schrieb. So wurden sowohl das Drama selbst als auch die heroisierte Zrínyi-Figur Teile der neuen kroatischen Identität. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts löste sich der ungarische vom kroatischen Zrínyi-Kult. Während in Ungarn der Held von Szigetvár zusammen mit seinem Urenkel Nikolaus in den Mittelpunkt von Literatur und bildenden Künsten rückte, wurde in Kroatien der kroatische Ban Peter Zrínyi – der wegen seiner Teilnahme an der antihabsburgischen Magnatenverschwörung 1671 zum Tode verurteilt worden war – zur neuen nationalen Symbolfigur. 1866, als der kroatische Sabor über das dreihundertjährige Jubiläum des Ausbruchs Zrínyis aus der Festung Szigetvár beriet, lehnte der Parlamentsabgeordnete und feurigste Befürworter der kroatischen Unabhängigkeit, Ante Starčević, jedwede Feierlichkeit mit dem Argument ab, daß Nikolaus Šubić Zrínyi keineswegs einen kroatischen Leonidas darstelle, denn er habe in Szigetvár die Feinde seines eigenen Vaterlandes – und damit waren die Ungarn gemeint – verteidigt. Während Peter Zrínyis Gestalt im 20. Jahrhundert von der kroatischen Elite weiter heroisiert wurde, kam dem Helden von Szigetvár lediglich eine untergeordnete Rolle zu. Seine Erinnerung wurde nur in der Volksdichtung aufrechterhalten, wobei die historische Gestalt jedoch immer mehr verblaßte. 868

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Im ungarischen Szigetvár hielt man dagegen bereits am 7. September 1833 zum ersten Mal Zrínyi-Feierlichkeiten ab, die damit zu den ältesten Gedenkfeierlichkeiten Ungarns überhaupt gehören. Initiatoren waren der katholische Stadtpfarrer Konrád Góczy und der Oberstuhlrichter des Kreisamtes, József Mérey. Anläßlich des dreihundertjährigen Jubiläums des Ausfalls Zrínyis aus der Festung stiftete ein Nachkomme seines Fahnenträgers Lőrinc Juranics, der Fünfkirchner Großpropst László Juranics, 2.500 Forint für die jährlich abzuhaltenden Feierlichkeiten. Der Geistliche legte damit die Grundlagen für die jährlich vom bürgerlichen Leseverein veranstalteten Feste in Szigetvár. In der Hauptstadt Ofen-Pest wurde das dreihundertjährige Jubiläum mit Mór Jókais bekanntestem Theaterstück A szigetvári vértanúk (Die Märtyrer von Szigetvár) gefeiert. Auch Dichter und Maler griffen den historischen Stoff vielfach auf. 1878 setzte man Zrínyi in Szigetvár das erste Denkmal, 1902 wurde in Budapest die erste Statue errichtet. Der Zrínyi-Stoff war zugleich geeignet, die inmitten der Nationalfeierlichkeiten erfolgte Heroisierung der ungarischen Geschichte kritisch zu hinterfragen. Die bereits 1865, im Vorfeld des dreihundertjährigen Jubiläums, von Ferenc Salamon veröffentlichte erste quellennahe Zrínyi-Monographie stellte den Helden als Prototypen der frühneuzeitlichen Magnaten dar, der seine Eigeninteressen nicht minder zielstrebig verfolgte wie diejenigen des Vaterlandes. Die Popularisierung von Salamons Forschungsergebnissen übernahm der Geschichtslehrer Gyula Sebestyén mit einem zuerst 1878, dann in weiteren Auflagen publizierten Zrínyi-Buch. Zur Zeit der Feierlichkeiten zum ungarischen Millennium warf der ungarische Schriftsteller Kálmán Mikszáth in seinem satirischen Roman Új Zrínyiász (Der neue Zrínyi) Fragen der Funktion der historischen Erinnerung in einer Gesellschaft am Beispiel des Szigetvárer Helden auf. Dazu ließ Mikszáth Zrínyi durch ein Wunder vom Tode auferstehen und an seinen eigenen Jubiläumsfeierlichkeiten im Jahr 1898 teilnehmen. Einen solchen Entfremdungseffekt nutzte auch der Maler Tivadar Csontváry Kosztka 1903 für die Darstellung der historischen Tat auf seinem Gemälde Zrínyi kirohanása (Zrínyis Ausfall): Zrínyi bricht allein aus der Festung aus und richtet anstelle eines Schwertes eine Pistole auf die angriffsbereiten Osmanen, die sich hinter einem Ziehbrunnen befinden. Die Szigetvárer Festung, ein im klassizistischen Stil errichtetes Gebäude, wird zu beiden Seiten von grünenden Palmen in Kübeln umrahmt, wobei der hintere Teil des Gebäudes in Flammen aufgeht. Vergangenheit und Gegenwart, symbolische und konkrete Welt verschmelzen auf Csontvárys Gemälde zu einer Einheit. Neben der Elitenkultur lebte der Zrínyi-Stoff in der ungarischen Volkskultur weiter, wobei auch hier – ähnlich wie in der kroatischen Volkskultur – nicht die wahren historischen Gestalten, Zrínyi und Süleyman I. also, im Mittelpunkt standen. In billigen Groschenromanen und Kalendern wurde Zrínyi als unerschrockener Held und bedeutender Türkensieger beschrieben, etwa in der 1857 erschienenen Broschüre von Imre Medve Szigethvár ostroma 1566-ban, vagy Zrinyi Miklós halála (Szigetvárs Belagerung 1566 oder Zrínyis Tod). In dem von zwei Weltkriegen markierten 20. Jahrhundert erlangte allerdings auch in Ungarn nicht der Szigetvárer Held, sondern dessen Urenkel Nikolaus, der siegreiche Feldherr und zugleich erfolgreiche Autor von militärwissenschaftlichen Traktaten, be869

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sondere Bedeutung. So trug die zwischen 1898 und 19�� in Fünfkirchen existierende militärische Mittelschule des Landes nicht den Namen des Szigetvárer Helden, obwohl Fünfkirchen nur 35 Kilometer vom historischen Ort entfernt liegt. Die 1955 errichtete ungarische Militärakademie wurde ebenfalls nicht nach ihm, sondern nach dem Dichter Zrínyi benannt. Der Szigetvárer Held gehört aber zum Lehrstoff jedes Grundschulkindes; seine Erinnerung wird überdies im Rahmen von Jubiläen und wissenschaftlichen Publikationen wachgehalten. Den im Jahr 2008 begangenen 500. Geburtstag des Szigetvárer Helden nahmen ungarische und kroatische Historiker und Literaturwissenschaftler zum Anlaß, die bis dahin isolierten, nebeneinander betriebenen Zrínyi-Forschungen zu verbinden – ganz im Sinne der doppelten ungarisch-kroatischen Identität und dem damit einhergehenden historischen Erbe der Zrínyi-Familie. IV. Szigetvár, ein gemeinsamer Erinnerungsort von Ungarn, Kroaten und Türken Besonders lebendig ist die Erinnerung an Nikolaus Šubić Zrínyi in Szigetvár. Neben der Festung mit der Sultan-Süleyman-Moschee erinnert die nach der osmanischen Zeit zur katholischen Kirche umgebaute ehemalige Pascha-Ali-Moschee an die Ereignisse. 1789, anläßlich des hundertjährigen Jubiläums der Rückeroberung der Stadt, wurde die Kirche renoviert und der Barockmaler Stephan Dorffmeister mit der Anfertigung eines Kuppelfreskos über die historischen Ereignisse beauftragt. Dorffmeister stellte den Tod der beiden ebenbürtigen Kontrahenten 1566 dar. Straßen und öffentliche Institutionen wie Schulen tragen Namen der ungarischen und kroatischen Helden von Szigetvár. Mehrere Statuen der Verteidiger und der Chronisten der Ereignisse wurden in der Kleinstadt bereits aufgestellt, zuletzt 2009 die erste ganzfigürliche Darstellung Zrínyis in Szigetvár, ein Werk des kroatischen Bildhauers Michael Štebih. Der Künstler hatte bereits 2008 im kroatischen Tschakturn, im einstigen Wohnort der Zrínyi-Familie, eine Zrínyi-Statue errichtet. Bezeichnend für die nach wie vor unterschiedliche Erinnerungstradition von Ungarn und Kroaten ist die Tatsache, daß Štebih in Čakovec Zrínyi in der Rüstung eines kaiserlichen Generals, in Szigetvár dagegen in der traditionellen adeligen Bekleidung und mit Schwert in der Hand abbildete, so wie er in der historischen Erinnerung der Ungarn lebt. Die Zrínyi-Feierlichkeiten werden seit 1959 von dem im gleichen Jahr gegründeten „Verein der Burgfreunde“ organisiert. Der Verein verfolgt neben der Traditionspflege das Ziel, Dokumente zur Belagerung der Stadt und zur Tätigkeit Zrínyis als Festungskommandant zu sammeln und die Ereignisse im Rahmen von Tagungen und Publikationen aufzubereiten. Die Traditionspflege, die nach wie vor von der gesamten Stadt getragen wird, nimmt verschiedene Formen an. Zu den mehrtägigen Festveranstaltungen gehören beispielsweise Burgfestspiele oder Darbietungen von Gruppen, die sich historischen Kostümen und Waffen widmen. 2009 führte man am historischen Ort die Rockoper Zrínyi 1566 auf. 870

Szigetvár 1566

Fast zeitgleich mit der Einnahme der Festung Szigetvár durch die Osmanen berichteten die neuen Massenmedien der Zeit, die illustrierten Flugblätter, über die Ereignisse in Südungarn. Der unbekannte Stecher dieses Bildes stellte den Szigetvárer Helden als Festungskommandanten mit den Schlüsseln von Szigetvár in der einen und mit einem Gewehr in der anderen Hand dar. Im Hintergrund erscheint die Belagerungsszene. Das gesamte Bild wird von einem Engel gekrönt, der Zrínyi im Namen der Christenheit den Siegeskranz bringt. Dadurch wird der Szigetvárer Held zum propugnaculum Christianitatis stilisiert. Bildnachweis: Herzog August Bibliothek, Wolfenbüttel, Nr. E 1.1. Geom. 2 (8–9).

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Die Darstellung wurde nach einer landesweiten Abstimmung in Ungarn zum bedeutendsten kulturellen Ereignis des Jahres gewählt. 2010 beging man die Feierlichkeiten bereits an zwei Schauplätzen, in Szigetvár und Čakovec, als gemeinsames Projekt. Dieses sollte dem Ziel dienen, die Bewohner beider Städte zusammenzuführen, „um im 21. Jahrhundert aus der gemeinsamen Vergangenheit und dem gemeinsamen historischen Erbe Kraft schöpfend den Weg der Zrínyis gemeinsam betreten zu können“, wie die Szigetvárer Organisatoren betonten. Im Sinne eines gemeinsamen historischen Erbes pflegt Szigetvár auch zum türkischen Trabzon intensive Beziehungen, der Stadt also, in der Sultan Süleyman der Prächtige 1495 geboren wurde. Als der Sultan während der Belagerung von Szigetvár 1566 starb, wurde sein Körper nach islamischem Gebrauch einbalsamiert und nach Konstantinopel überführt; sein Herz und die inneren Organe bestattete man jedoch der historischen Überlieferung nach am Ort seines Zelts oder in dessen Nähe, im heutigen Turbék, einem Vorort von Szigetvár. Süleymans Sohn und Nachfolger, Selim II., ließ später über dem Grab ein Mausoleum errichten. Die von vielen bewunderte Marmortürbe gehörte zur wichtigen Pilgerstätte der Muslime im Osmanischen Reich. Nach der Rückeroberung von Szigetvár wurde die Grabstätte 1693 auf kaiserlichen Befehl abgerissen. An ihrer Stelle errichteten die Bewohner eine katholische Kirche, auf deren Hauptaltar die helfende Gottesmutter aufgestellt wurde, deren Wirken die Christen die Befreiung des Landes von den Osmanen zuschrieben. So wurde Turbék im 18. Jahrhundert zum Wallfahrtsort der römisch-katholischen Ungarn, Kroaten und Deutschen aus der Umgebung. In dem Ende des 18. Jahrhunderts erweiterten Kirchengebäude verweist der Weihwasserbehälter, ein Teil des ursprünglich zum rituellen Waschen der Muslime benutzten Reinigungsbrunnens, bis heute auf die Marmortürbe des großen Sultans. Des 500. Geburtstags von Sultan Süleyman gedachte die Türkei mit der Einrichtung eines Parks am Rande der Stadt Szigetvár, in dem man beiden Widersachern von 1566 ein Denkmal setzte. Ermöglicht wurde der vom Präsidenten der Türkischen Republik und vom ungarischen Minister für Unterricht und Kultur eröffnete Gedenkpark im Rahmen des 199� abgeschlossenen türkisch-ungarischen Vertrags, der auch die Pflege der historischen Erinnerungsorte einbezieht. Stellen etwa die Wohnhäuser von Franz II. Rákóczi im türkischen Tekirdağ und von Lajos Kossuth in Kütahya wichtige Erinnerungsorte der Ungarn in der Türkei dar, so gehört Szigetvár zu den wichtigen historischen Orten der Türken in Ungarn. Die gemeinsame Erinnerung an die Ereignisse im Jahr 1566 führte 1998 zur Unterzeichnung einer Städtepartnerschaft zwischen Szigetvár und Trabzon. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Außzug etlicher Zeitungen/ von der Türcken Kriegshandlung von Zigeth/ vnd andern orten im Künigreich Hungern/ auch auf dem Adriatischen Meer. Nürnberg 1566; budina, Samuel: Historia Sigethi, Totivs Sclavoniae Fortissimi Propvgnacvli, quod a Solymanno Turcarum Imperatore nuper captum

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Márta Fata 873

Das Religionsedikt von Thorenburg (1568) I. Zusammenfassung. – II. Die Religionsedikte des siebenbürgischen Landtages 1542–1571. – III. Die siebenbürgischen Religionsedikte (1557–1568) in der Gedenkkultur. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Im Januar 1568 verabschiedete der Landtag des Fürstentums Siebenbürgen in Thorenburg einen Beschluß über das Recht auf freie Wahl und Ausübung der Religion. In dem entsprechenden Artikel des Landtagsabschieds wurden nicht nur eine unbeschränkte Predigtfreiheit im gesamten Fürstentum zugestanden, sondern darüber hinaus auch grundsätzlich Störungen, Beleidigungen oder Benachteiligungen aufgrund religiöser Zugehörigkeit untersagt. Damit steht das als „Toleranzedikt“ oder auch „Religionsfrieden von Thorenburg“ in die Geschichtsschreibung eingegangene Edikt gleichsam am Ende einer Reihe von Landtagsabschieden, die seit den 15�0er Jahren schrittweise das Prinzip der Religionsfreiheit durchgesetzt, erweitert und so der sich in Siebenbürgen ausprägenden Mehrkonfessionalität Rechnung getragen hatten. Unter Bezugnahme auf frühere Beschlüsse des Landtages wurden theologisch und rechtlich Weichen gestellt: Ausgehend von der Annahme, daß „der Glaube Gottes Geschenk“ für jedermann sei, konstatierte der Landtag 1568 in ungarischer Sprache erstmals eine über das im westlichen Europa etablierte Territorialprinzip (cuius regio, eius religio) hinausgehende grundsätzliche Bekenntnisfreiheit, die drei Jahre später noch einmal erneuert wurde. Neben den Katholiken bezogen sich die vom siebenbürgischen Landtag in den Jahren 15�2 bis 1571 formulierten Beschlüsse zu Religionsfreiheit und Toleranz freilich allein auf die sich ausformenden Reformkonfessionen der Lutheraner, Calvinisten und Unitarier sowie die verbliebenen Anhänger der Alten lateinischen Kirche; ein vergleichbarer Religionsschutz für (rumänische) Orthodoxe oder Juden war nicht vorgesehen. Entsprechend avancierten die einschlägigen Landtagsedikte, für die der Beschluß von Thorenburg 1568 im Folgenden stellvertretend stehen soll, vor allem in konfessionellen (unitarisch, calvinistisch) oder nationalen (Ungarn) Kontexten zu bedeutenden „geistigen Erinnerungsorten“, die sich in materiellen Memorialgegenständen wie in Gedenktafeln oder bildlichen Darstellungen ebenso wie in religiösen Bekenntnissen oder Gedenkfeierlichkeiten manifestierten. II. Die Religionsedikte des siebenbürgischen Landtages 1542–1571 Die Beschlüsse, die der siebenbürgische Landtag seit den 1540er Jahren zu religiösen Angelegenheiten faßte, sind vor dem Hintergrund der Ausformung und Etablierung einer eigenen siebenbürgischen Staatlichkeit zu verstehen: Als nämlich nach dem Tod des ungarischen Königs Johann I. Zápolya (1540) dessen Sohn Johann Sigismund, entgegen den vertraglichen Vereinbarungen mit den Habsburgern, gleichfalls zum König gewählt 87�

Das Religionsedikt von Thorenburg (1568)

wurde, kam es zu einer Fortsetzung der Teilung des Königreichs Ungarn. Neben das habsburgisch regierte „Königliche Ungarn“ im Westen und das seit 1541 osmanisch verwaltete Zentralungarn trat nun Siebenbürgen als Vasall des Osmanischen Reiches. Trotz seiner Tributpflicht gegenüber den Osmanen bewahrte das siebenbürgische Fürstentum weitgehende Autonomie in „internen“ Fragen, zu denen auch religiöse Angelegenheiten gezählt wurden und deren Klärung ständischen Zusammenkünften oblag (Landtagsedikt 1542). Dieses Verständnis von politischer und institutioneller Zuständigkeit bildete die Grundlage für die Verabschiedung der ersten Religionsgesetze durch die Landtage. Während die katholische Landesherrschaft, welche die Königinwitwe Isabella bis 1559 als Regentin für ihren Sohn gemeinsam mit einem Vizeregenten ausübte, zunächst nicht regulativ auf die rasche regionale Verbreitung der Reformation in Siebenbürgen reagierte, bemühten sich vor allem die Landtage um die Bewahrung des Status quo und somit den Schutz der katholischen Kirche. Das Landtagsedikt von 1545 untersagte religiöse Neuerungen, das von 15�8 sprach sich für die Beibehaltung des Status quo aus. Diese frühen Maßgaben erwiesen sich jedoch als wirkungslos, und so war bereits 1552 in einem Landtagsbeschluß von einer „evangelischen“ und einer „katholischen“ Partei (fautores partis evangelicae/papisticae) und der Notwendigkeit eines Religionsfriedens zwischen ihnen die Rede. Daß nun auch politisch die Existenz zweier Konfessionen und der Bedarf einer gesetzlichen Regelung ihres Verhältnisses zueinander anerkannt war, zeigten die immer weitreichenderen Bemühungen um einen konfessionellen Frieden der folgenden Jahre, die im Landtagsabschied des Jahres 1557 gleichsam ihren ersten Höhepunkt fanden. So war der hier festgehaltene Beschluß der konfessionellen Wahlfreiheit, allerdings allein bezogen auf die „alte“ katholische und die „neue“ evangelische Auslegung, grundlegend für die Edikte zur gleichberechtigten Anerkennung mehrerer Konfessionen und kann mithin als erstes „Toleranzgesetz“ des siebenbürgischen Landtags verstanden werden. Gleichzeitig erinnert der im Gesetz von 1557 enthaltene Hinweis auf Divergenzen innerhalb der evangelischen Lehre auch daran, daß für jene Zeit keinesfalls von einer geeinten und bereits institutionalisierten evangelischen Kirche auszugehen ist. Vielmehr machte die Verbreitung des helvetischen Bekenntnisses durch die Calvinisten vor allem unter den siebenbürgischen Ungarn eine theologische wie auch politische Auseinandersetzung mit den Lehren der besonders in sächsischen Gebieten etablierten Lutheraner notwendig. In den Jahren der nunmehr eigenständigen Herrschaft Johann Sigismunds (1559–1571) kam es deshalb zu einer dichten Abfolge evangelischer Glaubensgespräche, rechtlicher Regelungen und zahlreicher Landtagsbeschlüsse, durch die Siebenbürgen seine prägende multikonfessionelle Struktur erhielt. Der zweite „Meilenstein“ dieser Entwicklung wurde 1564 gesetzt, als der Landtag in Anknüpfung an die Ergebnisse vorangegangener Synoden und Religionsdisputationen zwischen einer ungarischen ecclesia Coloswariensis nationis videlicet Hungariae helvetischer Ausrichtung und einer sächsischen Kirchenorganisation ecclesia Cibinensis gentis Saxonicalis wittenbergischer Ausrichtung unterschied und jedem Geistlichen sowie jeder Gemeinde die konfessionelle Wahlfreiheit zugestand. Neben Katholiken und Lutheranern zählten damit fortan auch die Calvinisten zu den Konfessionen, die politisch anerkannt und geschützt wurden. 875

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Vier Jahre später wurden diese Maßgaben bei der Tagung des Landtags in der Thorenburger Kirche nicht nur bestätigt, sondern sogar erweitert. Gemäß dem Beschluß des Jahres 1568 sollten fortan „aller Orten die Prediger das Evangelium predigen [und] verkündigen [dürfen], jeder nach seinem Verständnis“; überdies wurden Religionsstörungen jeder Art umfassend verboten. Zusätzliche Bedeutung erhielt die hier erstmals allgemein formulierte Bekenntnisfreiheit durch eine theologische Begründung, der zufolge der Glaube „Gottes Geschenk“ sei und (in Anlehnung an Römer 10,17) durch das „Hören von Gottes Wort“ entstehe. Dieses Postulat einer grundsätzlichen Einheit im Glauben ermöglichte die Akzeptanz mehrerer Glaubensauslegungen und somit eine friedliche Koexistenz verschiedener Konfessionen. Aufgrund des Prinzips der allgemeinen Bekenntnisfreiheit ist das Edikt von 1568 verschiedentlich auch als indirekte Anerkennung der Unitarier verstanden worden, die sich in den 1560er Jahren mit der Unterstützung Johann Sigismunds, der sich im Laufe der Jahre allen drei reformierten Ansichten zuwendete, vor allem im Umfeld des Fürstenhofes etabliert hatten. Anders als die weitgehend national gebundenen lutherischen und calvinistischen Kirchen entwickelte sich mit den Unitariern eine Kirchenorganisation, die sich übernational bei Deutschen und Ungarn und in mehreren sozialen Schichten durchzusetzen vermochte. 1571 wurden die Thorenburger Beschlüsse im Rahmen des Landtages zu Neumarkt – des letzten, der in der Regierungszeit Johann Sigismunds stattfand – erneuert und bestätigt. Noch einmal wurde bekräftigt, daß die Predigt „überall frei“ möglich sein solle und daß niemand „wegen seines Bekenntnisses“ benachteiligt werden dürfe. Auch diese Betonung der Bekenntnisfreiheit in Bezug auf alle Konfessionen läßt annehmen, daß sich mit den Unitariern eine vierte anerkannte Konfessionskirche etabliert hatte. In diesem Kontext gilt das Edikt von Thorenburg auch als Symbol für die Gleichberechtigung von Katholiken, Lutheranern, Calvinisten und Unitariern – jenen vier Konfessionen, deren offizielle Anerkennung mit der einprägsamen Formel der vier religiones receptae im Jahr 1595 durch den Landtag in Weißenburg festgeschrieben wurde. III. Die siebenbürgischen Religionsedikte (1557–1568) in der Gedenkkultur Dieser Ausbildung der Tolerierung von vier verschiedenen Konfessionen entspricht, daß die Religionsbeschlüsse, die der siebenbürgische Landtag im 16. Jahrhundert erließ, zum Bezugspunkt und Erinnerungsort für ganz unterschiedliche Gruppen wurden. Dabei war das Gedenken offenbar zumeist konfessionell oder national beeinflußt oder gar gelenkt; eine religions- oder nationsübergreifende Ausdeutung der Ereignisse durch mehrere Gemeinschaften läßt sich dagegen kaum ausmachen. Je nach Kontext wurden die Millenniumsfeiern in den Jahren 1896 und 2000 oder aber wichtige Jubiläumsjahre des Erlasses bestimmter Edikte zum Anlaß genommen, der wirkmächtigen Texte zu gedenken. Diese vielschichtige Gedenkkultur soll im Folgenden anhand des Umgangs mit den Landtagsbeschlüssen von 1557 und 1568 nachgezeichnet werden. 876

Das Religionsedikt von Thorenburg (1568)

Im von der calvinistischen Kirche dominierten Fürstentum Siebenbürgen 1604/1605– 1690 sowie nachfolgend in der ersten Phase der Herrschaft der katholischen Habsburgerdynastie1688/1690/1711–1781 wurde aus theologischen Gründen die Erinnerung an die Beschlüsse des Thorenburger Landtags nicht propagiert. Die Vertreter beider christlichen Glaubensrichtungen strebten die eindeutige Dominanz ihrer Konfession über die anderen an, was dem Geist von 1568 widersprach. Die im 17. und 18. Jahrhundert durch die Landesherren ständig unterdrückte und verfolgte unitarische Kirche Siebenbürgens verlor im Zuge dieser Zwangsmaßnahmen nicht nur große Teile ihrer Anhängerschaft an die calvinistische Kirche, sondern auch nahezu ihre gesamte geistige Führungsschicht. Dadurch waren die Möglichkeiten der Unitarier, ihren Glauben in Form von Schriftzeugnissen zu verteidigen, stark eingeschränkt. Die punktuelle Berufung auf die Beschlüsse der Thorenburger und Neumarkter Landtage von 1568 und 1571 spielte für ihre Verteidigung aber gerade in dieser rund 180jährigen Phase von Verfolgung, Verboten und Unterdrückung eine maßgebliche Rolle. Im 19. Jahrhundert nahmen die politisch motivierte „Wiederentdeckung“ konfessioneller Identitäten und die gezielte Berufung auf bedeutende Momente der evangelischen Geschichte in Ungarn Gestalt an. So wurde etwa die ungarische Unabhängigkeitsbewegung gegen die Habsburger 18�8/�9 als Kampf gegen eine jahrhundertelange katholische Unterdrückung propagiert, und entsprechend präsentierten sich nach deren Niederschlagung vor allem Mitglieder der evangelischen Kirchen als rechtmäßige Vertreter der „Nation“. Zunehmend wurden im öffentlichen Diskurs der 1850er und 1860er Jahre nationale sowie konfessionelle Belange verknüpft und die Bedeutung protestantischer Errungenschaften für die Ideen der Nationalbewegung betont. Ein erster Höhepunkt dieser Entwicklung waren sicherlich die Feierlichkeiten, die anläßlich des 300. Todestages von Jean Calvin 186� in den reformierten Kirchendistrikten in Ungarn und Siebenbürgen ausgerichtet wurden. In Klausenburg stand dabei nicht nur die Person Calvins im Mittelpunkt der Gedenkfeier, sondern auch der Landtagsbeschluß von 156�, in dem die gleichberechtigte Anerkennung von Katholiken, Lutheranern und Calvinisten und damit auch die Etablierung zweier evangelischer Kirchen gebilligt worden war. Vier Jahre später nahm in ähnlicher Weise die Unitarische Kirche den 300. Jahrestag des Thorenburger Edikts von 1568 zum Anlaß, der gesetzlichen Errungenschaften jenes Jahres im Rahmen einer Festsynode zu gedenken. Ergänzend zu dieser Zusammenkunft, die in Thorenburg abgehalten wurde, fanden Festveranstaltungen in England und den Vereinigten Staaten von Amerika statt, bei denen die unitarische Kirche in Siebenbürgen als europäischer Vorreiter im Kampf um Toleranz und religiöse Gleichberechtigung gewürdigt wurde. Die argumentative Verknüpfung der erstmaligen Festschreibung konfessioneller Wahlfreiheit mit der Ausformung einer aufgeklärten und fortschrittlichen Staatlichkeit wurde für den Umgang mit den siebenbürgischen Religionsgesetzen prägend und beeinflußte die Verortung der Beschlüsse sowohl in der unitarischen als auch in der ungarischen Erinnerungskultur nachhaltig. Im Vorfeld der 1896 aus Anlaß der ungarischen Landnahme veranstalteten Millenniumsfeiern beispielsweise beschlossen die Verantwortlichen der Stadt Thorenburg und 877

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des Komitats Torda-Aranyos, durch die Stiftung eines Gemäldes dem Landtag von 1568 ein Denkmal zu setzen. Gleichzeitig sollte auf diese Weise die eigene Bedeutung für die ungarische Geschichte unterstrichen werden, denn das Bild sollte als ein Beitrag von Stadt und Komitat bei der Millenniumsausstellung gezeigt werden. Im Bestreben, „ein so bedeutendes historisches Ereignis, bei dem 300 Jahre zuvor die unitarische Gleichberechtigung verkündet wurde, in einem vergleichbar großen Bild zu verewigen“, beauftragte man den ungarischen Maler Aladár Körösfői-Kriesch 1895 mit der Herstellung eines repräsentativen Gemäldes. Körösfői-Kriesch sollte in seinem Werk den Moment einfangen, da der „im kleinen Siebenbürgen erstmals entfachte Komet“ den Gedanken von Freiheit und Toleranz in das Dunkel der Welt getragen habe. Für die Stadt sollte das in Auftrag gegebene Bild Mahnmal und Aufforderung zugleich sein, „Freiheit, Gleichheit und Toleranz ewig zu ihren Gedanken“ zu zählen. Um die Auswahl einer für eine bildliche Darstellung geeigneten Szene des Landtags zu erleichtern, erbat die Stadt von Vertretern der Unitarischen Kirche archivierte Informationen und beauftragte dann eine Historikerkommission mit der Dokumentation und Rekonstruktion der Ereignisse des Jahres 1568. Das letztlich gewählte Bildmotiv, der Moment der Verkündung der Bekenntnisfreiheit während des Landtages, steht ganz im Zeichen der Bemühungen der städtischen Verantwortlichen, die historische Bedeutung Thorenburgs als Ort von Freiheit und Toleranz besonders eindrücklich zu präsentieren. Aladár Körösfői-Kriesch setzte es in einem monumentalen Ölgemälde (3 x 4 m) in einer dramatisierenden Interpretation in Szene: Inmitten der Versammlung ist der Reformer Franz Davidis dargestellt, der den linken Arm wie zum Schwur erhoben hat und symbolisch für die Bedeutung der hier erklärten konfessionellen Gleichberechtigung von einem Lichtstrahl beleuchtet wird. Daß der ursprüngliche Titel des Gemäldes Der Landtag von Thorenburg 1567 das dargestellte Ereignis trotz eines klaren Auftrags seitens der Stadt und des Komitats zeitlich falsch verortete, mag auf einen Irrtum des Künstlers zurückzuführen sein. Von 1896 bis 1898 war Der Landtag von Thorenburg im Rahmen der ungarischen Millenniumsausstellung in Budapest zu sehen und kehrte danach nach Thorenburg zurück. In den Wirren des Zweiten Weltkrieges offenbar für einige Zeit in Vergessenheit geraten, wurde das Bild 1979 anläßlich des �00. Todestages von Franz Davidis erstmals restauriert und dem neuen Stadtmuseum von Thorenburg übergeben. Weitere Restaurierungsarbeiten erfolgten auf Betreiben der Unitarischen Kirche Siebenbürgens und verschiedener internationaler Vereinigungen unitarischer Kirchen; im gleichfalls restaurierten Historischen Museum zu Thorenburg (Muzeul de Istorie Turda) wurde das Gemälde im Jahr 2011 wieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Hatte man das Bild von Körösfői-Kriesch zu Beginn des 20. Jahrhunderts noch vor allem künstlerisch gewürdigt, so nahm es im Laufe der Jahre selbst einen Platz in der Gedenkkultur vornehmlich der Unitarischen Kirche ein. Exemplarisch für die jährlichen Memorialfeiern der Unitarischen Kirche Siebenbürgens seien die Festivitäten genannt, die im Januar 2012 anläßlich des ���jährigen Jubiläums des Thorenburger Edikts von 1568 begangen wurden und zu deren offiziellem Programm nicht nur ein Festgottesdienst, sondern auch der Besuch der Ausstellung des Ölgemäldes gehörte. 878

Das Religionsedikt von Thorenburg (1568)

Sicherlich ist mit der Unitarischen Kirche jener Kontext angesprochen, in dem am kontinuierlichsten des Edikts von 1568 gedacht wurde und wird. Dabei gilt die erstmals umfassend formulierte Bekenntnisfreiheit nicht nur als Gründungsdatum der Unitarischen Kirche, sondern deren Anerkennung auch als „Gipfelpunkt“ einer europaweit einzigartigen Ausprägung von Freiheit und Toleranz. Regelmäßig richten Gemeinden der Unitarischen Kirche zwischen dem 6. und 13. Januar (dem historischen Datum der Landtagssitzung) Festgottesdienste und Gedenkfestivitäten aus, in deren Kontext bisweilen auch ein feierliches Bekenntnis zu den Grundsätzen von 1568 gesprochen oder erneuert wird; „runde“ Jubiläen werden zum Anlaß für größere Erinnerungsfeiern genommen. So wurde das Jahr 1993, in dem sich der Erlaß des Religionsgesetzes von 1568 zum �25. Mal jährte, zu einem „Erinnerungsjahr“ ausgestaltet, in dem nach einem Festgottesdienst im Januar wissenschaftliche Tagungen sowie zahlreiche Gedenkfeierlichkeiten veranstaltet wurden. Daß es sich hierbei um vornehmlich konfessionelle und, der Kirchenorganisation entsprechend, übernationale Aktivitäten handelt, belegt auch die Stiftung einer Gedenktafel durch die Unitarische Kirche im „Millenniumsjahr 2000“. Die Tafel wurde an der römisch-katholischen Kirche in Thorenburg, dem historischen Sitzungsort des Landtags, angebracht. Eine Inschrift in ungarischer, rumänischer und englischer Sprache erinnert an den Thorenburger Landtag 1568 und seine Errungenschaften („In dieser Kirche wurden auf dem Landtag in Thorenburg, abgehalten im Jahr 1568, zum ersten Mal Bekenntnisfreiheit und religiöse Toleranz proklamiert“). Auf diese Weise erfolgte zugleich eine Würdigung des historischen Ortes, von Stadt und Kirche als konkreter und greifbarer Ort der Erinnerung. Dagegen hat sich für die moderne ungarische Gedenkkultur vor allem die Propagierung der mit den siebenbürgischen Religionsgesetzen verbundenen Werte wie „Freiheit“ und „Toleranz“ als prägend erwiesen. So veröffentlichte die Ungarische Post im April 2007 ein Blatt mit zwei Sonderbriefmarken, von denen eine der Proklamation Franz II. Rákóczis zum Fürsten von Siebenbürgen durch den Landtag von Neumarkt, die andere dagegen den Religionsedikten des Thorenburger Landtages gewidmet war. Mit der letztgenannten Briefmarke wurde indes nicht Bezug auf den Beschluß von 1568 genommen, vielmehr sollte sie, analog zum 300jährigen Jubiläum der Rákóczi-Wahl, an den 450. Jahrestag des Edikts von 1557 erinnern, in dessen Rahmen erstmals die konfessionelle Wahlfreiheit begründet worden war. Das von Isabella, der Mutter Johann Sigismunds, erlassene Edikt wurde freilich nicht kontextunabhängig gewürdigt. Vielmehr begründete die Ungarische Post ihre Auswahl damit, daß die Idee von religiöser Freiheit auf der Grundlage des 1557 festgeschriebenen Grundsatzes in den darauffolgenden Jahren fortentwickelt worden sei und 1568 schließlich im Prinzip des Schutzes aller protestantischen Konfessionen ihren Höhepunkt gefunden habe. Vor diesem Hintergrund ist sicherlich auch die bildliche Ausgestaltung der Briefmarke zu verstehen, denn anstelle der Regentin Isabella ist im Bildvordergrund ein Porträt Johann Sigismunds zu sehen, dessen eigenständige Regierung freilich erst 1559 begann. Zugleich verwies eine stilisierte Zeichnung der katholischen Kirche von Thorenburg sowie einiger ihrer ornamentalen Ausgestaltungen im Hintergrund der Briefmarke auf den Landtag als verantwortliches 879

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Das im Auftrag der Stadt Thorenburg und des Komitats Torda-Aranyos durch den ungarischen Maler Aladár Körösfői-Kriesch 1895 gemalte Gemälde stellt den Landtag von Thorenburg dar, und zwar den Moment der Verkündigung der Formel von den vier religiones receptae. Das Bild ist seit 2011 nach langen Restaurierungsarbeiten wieder in Thorenburg ausgestellt. Bildnachweis: Privatarchiv Meinolf Arens.

Forum für die Verabschiedung jener bedeutenden Grundsätze. Einmal mehr rücken hier die Religionsgesetze – verstanden als Ausweis von Freiheit, Toleranz und eigenständiger Staatlichkeit – in den Fokus des Gedenkens. Als Anknüpfung an diese Lesart oder vielmehr als deren Überhöhung ist wohl die Präsentation eines Druckes des Religionsedikts von 1568 in der wegen ihrer Konzeption viel diskutierten Ausstellung „Helden, Könige, Heilige. Bilder und Dokumente ungarischer Geschichte“ (Hősök, királyok, szentek. A magyar történelem képei és emlékei) zu verstehen. Die Ausstellung der Ungarischen Nationalgalerie Budapest, die im Januar 2012 anläßlich des Inkrafttretens der neuen ungarischen Verfassung eröffnet wurde, präsentierte Bilder und bedeutende Dokumente „schicksalsreicher Ereignisse“ und „berühmter Helden“ der ungarischen Geschichte. Der Landtagsbeschluß von 1568 war in der Abteilung zu sehen, die Bücher, Manuskripte und Dokumente „der ungarischen Geschichte und Staatlichkeit“ zeigte. Ausgestellt war ein Abdruck des Textes in einer ungarisch-sprachigen Gesetzessammlung. Den Angaben der Ausstellungsmacher zufolge fand das Dokument aufgrund seiner herausragenden Bedeutung als Vorreiter der europäischen Toleranzgesetzgebung Berücksichtigung. 880

Das Religionsedikt von Thorenburg (1568)

Bis heute, so offenbart die Zusammenschau, stellen die siebenbürgischen Religionsgesetze des 16. Jahrhunderts mit ihren einzigartigen Regelungen zur gleichberechtigten Anerkennung von vier Konfessionen rege diskutierte Momente der historischen Erinnerung dar. Zweifelsohne kommt in der Reihe der Religionsgesetze dem verschiedentlich als „Blüte“ der zeitgenössischen Debatten um ein friedliches Miteinander der Konfessionen interpretierten Edikt von 1568 eine besondere Bedeutung zu. Sowohl konfessionell als auch national organisierten Gruppen diente es als Argument für ihre jeweils ganz eigene Ausdeutung der Geschehnisse, etwa für die imaginierte Gründungsgeschichte einer freiheitlich orientierten und modernen Unitarischen Kirche oder als Zeugnis für die Friedfertigkeit, Toleranz und fortschrittliche Eigenständigkeit siebenbürgischer Staatlichkeit, die mit dem Argument der historischen Kontinuität dann als ungarisch verstanden wurde. Das Religionsedikt von 1568 und die ihm vorausgegangenen Beschlüsse sind mithin als „geistiger Erinnerungsort“ zu verstehen, der besonders im 19. und 20. Jahrhundert in einer recht vielschichtigen Gedenkkultur an Bedeutung gewann.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen teutsch, Georg Daniel (Hg.): Urkundenbuch der Evangelischen Landeskirche A. B. in Siebenbürgen, Bd. 1. Hermannstadt 1862; A háromszázados jubileumhoz [Zum 300jährigen Jubiläum (Bericht über die Jubiläumssynode der Unitarischen Kirche)]. In: Keresztény Magvető � (1868) 236–252; sziLáGyi, Sándor (Hg.): Erdélyi Országgyűlési Emlékek [Denkmäler siebenbürgischer Reichstage], Bd. 2 1556– 1576. Budapest 1876; nyiredy, Szabolcs: 1993: A tordai országgyűlés �25 éves jubileuma [1993: Das 425jährige Jubiläum des Landtags von Torda]. Budapest 1994; WoLGast, Eike (Hg.): Die evangelischen Kirchenordnungen des XVI. Jahrhunderts, Bd. 24. Siebenbürgen. Das Fürstentum Siebenbürgen. Das Rechtsgebiet und die Kirche der Siebenbürger Sachsen. Bearbeitet von Martin arMGart. Tübingen 2012.

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Die Warschauer Konföderation von 1573 I. Zusammenfassung. – II. Vorgeschichte. – III. Die Konföderation. – IV. Unmittelbare Rezeption. – a) Der Kampf um die rechtliche Bestätigung. – b) Die weitere Entwicklung im politischen Kontext der Adelsrepublik. – V. Moderner Bedeutungsumfang. – VI. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Mit dem Konvokationssejm von Warschau 1573 verbindet sich ein auch international Aufsehen erregender Versuch zur Erhaltung des Religionsfriedens in der alten Adelsrepublik. Es ging um die Sicherung der religiösen Freiheiten aller christlichen Konfessionen, was sich verfassungspolitisch in einer Gleichstellung des protestantischen mit dem katholischen Adel äußerte. Obwohl die Landbevölkerung und die Bürger der nichtköniglichen Städte davon ausgenommen waren, entwickelte die Warschauer Konföderation eine integrative Dynamik im politischen und sozialen Leben der Adelsrepublik. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Auseinandersetzung um die rechtliche Bestätigung und die juristische Sanktionierung der Konföderation zu einem Jahrzehnte währenden Dauerproblem des Sejm wurde. Zugleich entwickelte sich die Warschauer Konföderation zu einem Kampfmittel gegen die Durchsetzung der Gegenreformation. Seit den 1630er Jahren verstärkte sich diese Tendenz: Die Konföderation mutierte zu einem identifikatorischen Merkmal vor allem der protestantischen Konfessionen, während sie für die katholische Seite zusehends an Gewicht verlor. Die Erinnerung an sie wurde nach dem Ende Polen-Litauens von protestantischen Gruppen weitergetragen, bevor sie in kommunistischer Zeit ideologisch instrumentalisiert und gegen den Katholizismus gekehrt wurde. Als Ausweis der Multikonfessionalität und Multikulturalität über weite Strecken der polnischen Geschichte bildet die Warschauer Konföderation heute ein eher allgemeines Symbol religiöser Toleranz und Glaubensfreiheit.

II. Vorgeschichte Als „Warschauer Konföderation“ wird der Sejmbeschluß vom 28. Januar 1573 bezeichnet, der in die Verfassungsgrundlagen des polnisch-litauischen Staates einging und später im Eid der polnischen Thronfolger bestätigt wurde. Auf seine Entstehung hatten sowohl die inneren Verhältnisse in der Rzeczpospolita als auch die religiöse und politische Situation im damaligen Europa Einfluß. Das Fundament für die Entstehung dieses Dokuments war jedoch vor allem die jahrhundertelange Tradition der Koexistenz von verschiedenen Religionen in Polen und Litauen – in Territorien also, die von 1385 an (mit kurzen Unterbrechungen) mittels einer Union verbunden waren. Durch diese Staaten verlief eine von zahlreichen Interaktionen gekennzeichnete Grenze zwischen dem östlichen und 883

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westlichen Katholizismus einerseits sowie zwischen der orthodoxen Kirche und dem Katholizismus andererseits. Auf dem Gebiet des Großfürstentums Litauen, das vom 13. Jahrhundert bis zum Anfang des 15. Jahrhunderts umfangreiche Gebiete des ehemaligen Kiewer Staates erobert hatte, stellten die Orthodoxen die deutliche Mehrheit der Bevölkerung. Anfang des 16. Jahrhunderts bildeten sie etwa vier Fünftel der Bevölkerung. Die litauischen Herrscher mußten, obwohl Litauen 1385/86 die Taufe im katholischen Ritus erhalten hatte, eine nachgiebige Politik gegenüber den ruthenischen Gebieten betreiben, um den Frieden auf dem Territorium des gesamten Staates zu sichern. Die Konfessionspolitik der in Litauen herrschenden Gediminiden und später der Jagiellonen erlaubte es den Tataren, den Armeniern, den Karäern und – seit Ende des 14. Jahrhunderts – auch den Juden, sich auf dem Gebiet des Großfürstentums Litauen niederzulassen. Für ihre Ansiedlung gaben wirtschaftliche oder, wie im Fall der Tataren, militärische Gründe den Ausschlag. Eine ähnliche Politik betrieb im Königreich Polen der letzte polnische Herrscher aus der Dynastie der Piasten, Kasimir der Große. Dies hing mit dem von ihm eingeleiteten Prozeß der Anbindung der ruthenischen Gebiete an Polen zusammen. Die Toleranzpolitik gegenüber den Nichtkatholiken führte nicht zwangsläufig zur Schwächung der Position der katholischen Kirche, da der Katholizismus formell die privilegierte Konfession sowohl in Polen als auch in Litauen blieb. Ein Beweis dafür ist beispielsweise die Tatsache, daß im Oberhaus des polnischen Parlaments, dem Senat, die römisch-katholischen Bischöfe weiterhin ihre garantierten Stammsitze hatten. Ähnliche Vorrechte besaßen die orthodoxen Bischöfe nicht. Im Großfürstentum Litauen war es den Orthodoxen lange Zeit verwehrt, die vier höchsten staatlichen Ämter zu bekleiden; überdies war es ihnen formal nicht erlaubt, neue orthodoxe Kirchen in denjenigen Gebieten zu errichten, in denen ein zahlenmäßiges Gleichgewicht zwischen Katholiken und Orthodoxen herrschte. Auf der anderen Seite konnten die Orthodoxen zumeist ohne Behinderungen ihre religiösen Praktiken durchführen; religiöse Synkretismen von orthodoxen und katholischen Bräuchen in den Ostgebieten Polen-Litauens sind seit dem Spätmittelalter vielfach belegt. An der konfliktvermeidenden Religionspolitik der Herrscher aus der Dynastie der Jagiellonen änderte sich generell auch dann nichts, als die Reformation in Polen und Litauen einsetzte. Obwohl Sigismund I. der Alte, gestützt auf die Beschlüsse der Kirchensynoden, einige Edikte erließ, welche die konfessionelle Propaganda im Geist der Reformation, den Besitz von protestantisch geprägten Büchern und das Studieren auf den protestantischen Hochschulen verboten, wurden diese nicht voll umgesetzt. Mit der Bestrafung der „Ketzer“ waren in der Praxis die Kirchengerichte beschäftigt, die in einigen wenigen derartigen Prozessen die Angeklagten höchstens zur Verbannung verurteilten. Während der Herrschaftszeit des Sohnes von Sigismund dem Alten, Sigismund II. August, dem letzten König der Jagiellonen-Dynastie, konnte sich die Reformation bereits ungehindert entwikkeln, und in Polen und Litauen begann die „goldene Epoche“ der religiösen Toleranz. Zur Entwicklung der Toleranz und indirekt auch zur Ausbreitung der Reformation trug ebenfalls die reformatorisch eingestellte Adelsbewegung, genannt Exekutionsbewegung, bei. Sie forderte insbesondere die Einhaltung der Gesetze und die Rückgabe 88�

Die Warschauer Konföderation von 1573

der sich illegitim in den Händen von Magnaten befindlichen Güter; ihr Einfluß auf die inneren Ereignisse in Polen machte sich nach 1650 bemerkbar. Die Mehrheit der Bewegung war protestantisch. Im Großfürstentum Litauen dagegen hatte für die Entwicklung des Protestantismus der Umstand große Bedeutung, daß die Führung der Reformationsbewegung durch die dort mächtigste Familie, die Radziwiłł, übernommen wurde. Dem Beispiel der Vertreter dieser Familie folgte auch der überwiegende Teil der damaligen politischen Eliten, sowohl der katholischen als auch der orthodoxen. Sie hatten ihre bisherige Konfession meist zugunsten des Calvinismus aufgegeben, seltener zugunsten des Luthertums oder des Antitrinitariertums. Ein wichtiges Ereignis für das Entstehen der Rechtgrundlagen für die religiöse Toleranz im Großfürstentum Litauen war der Erlaß eines Privilegs durch Sigismund August während des Sejms in Wilna 1563. Mit diesem Rechtsakt wurden die Orthodoxen und Protestanten zu den höchsten Ämtern im Staat zugelassen. In Litauen wurde dadurch de facto die Gleichberechtigung unter den Adeligen hergestellt, unabhängig von ihrer Konfession. Der König beabsichtigte, durch dieses Privileg die Basis für die engere Union zwischen Litauen und Polen durch die Gewinnung der litauisch-ruthenischen Seite für dieses Vorhaben zu schaffen. Tatsächlich wurde im Jahr 1569 in Lublin die polnisch-litauische Union auf den Grundlagen der föderalen Idee beschlossen, für die das wichtigste Bindeglied die Existenz der gemeinsamen zentralen Staatsorgane mit dem Sejm an der Spitze geworden war. Das Privileg von 1563, das im Jahr 1568 von dem litauischen Sejm in Grodno bestätigt und erweitert wurde, führte nach der Union von Lublin zu einer Verstärkung der Bemühungen in den Reihen der polnischen und der litauischen Protestanten, den Beschluß eines Gesetzes zu erreichen. Es sollte in einer eindeutigen Weise die Gleichberechtigung der Konfessionen auf dem gesamten Gebiet der Rzeczpospolita garantieren. Dazu wurden die Protestanten, aber auch ein Teil der Katholiken, von den religiös motivierten Kämpfen im damaligen Europa, hauptsächlich in Frankreich, angeregt. Es gab zwar auch in Polen und in Litauen religiöse Auseinandersetzungen, hauptsächlich zwischen Katholiken und Protestanten, aber ihr Ausmaß war unvergleichlich kleiner als im westlichen Europa. Man bemühte sich, einer Zuspitzung solcher Konflikte zuvorzukommen. Der polnische, litauische und ruthenische Adel aus der Rzeczpospolita, der zum protestantischen Glauben konvertierte (am häufigsten zum Calvinismus), verfügte in der Regel über keine dogmatisch starren Grundlagen. Aus diesem Grund war es in der Adelsrepublik einfacher, zu einer Verständigung zwischen den wichtigsten protestantischen Splittergruppen zu gelangen. Das betraf Calvinisten, Böhmische Brüder und Lutheraner, nicht jedoch die Arianer. Zu dieser Übereinkunft kam es vor allem dank der Initiative der Laienpatrone der Reformation auf der gemeinsamen Synode dieser Gruppen in Sandomierz im Juni 1570. Der Konsens von Sandomierz legte das gemeinsame theologische Glaubensfundament für diese drei protestantischen Glaubensrichtungen. Und obwohl die Lutheraner, die unter dem Einfluß ihrer Glaubensbrüder im Heiligen Römischen Reich deutscher Nation standen, relativ schnell davon Abstand nahmen, ist die Einigung doch auf ein positives Echo bei den Protestanten in verschiedenen Teilen Europas gestoßen. 885

Tomasz Kempa

III. Die Konföderation Die Einigung von Sandomierz war ein Präludium für das Zustandekommen der Warschauer Konföderation. Ein Teil der beteiligten Laienpatrone der Reformation unternahm Anstrengungen, auf dem Sejm von 1570 ein die Religionsfreiheit für alle Christen garantierendes Gesetz zu verabschieden. Das Vorhaben fand jedoch damals keine Zustimmung der Katholiken. Günstigere Bedingungen für eine Verabschiedung bestanden im Juli 1572 nach dem Tod des letzten Jagiellonenherrschers. Es war die Zeit einer schweren Prüfung für die Beziehungen zwischen den Litauern und den Polen nach der kurz zuvor geschlossenen Union, aber auch eine Prüfung für den gesamten Adel und die Magnaten, da es in der Rzeczpospolita damals noch kein Gesetz gab, das eindeutig die Wahl des neuen Königs bestimmte. Diese Frage sollte erst auf den lokalen Versammlungen des Adels während des unmittelbar folgenden Interregnums entschieden werden. Die Verantwortung für die innere Situation im Staat veranlaßte den Adel zur Bildung von Adelsvereinigungen („Konföderationen“) in den Woiwodschaften und auf Kreisebene, um Frieden und Sicherheit zu gewährleisten. Während des Konvokationstages in Warschau 1573, der die Bedingungen für den Zeitpunkt der Königswahl detailliert bestimmen sollte, waren sowohl der Adel als auch die Magnaten, die formell einen Stand bildeten, besonders bemüht, den Religionsfrieden zu sichern. Es war dies eine Reaktion auf das Blutbad der „Bartholomäusnacht“ in Frankreich (23./2�.8.1572), was eine weitere Phase der Religionskämpfe in diesem Staat hervorrief. Die Sache schien umso dringender, als einer der beiden Hauptkandidaten für den polnischen Thron Heinrich von Valois war, ein Bruder des französischen Königs Karl IX. Gerade die Anhänger der französischen Kandidatur (allen voran der Magnat Piotr Zborowski) brachten eine Gesetzesinitiative ein, welche die religiösen Freiheiten aller christlichen Konfessionen sichern sollte. Es ging ihnen darum, diejenigen zu beruhigen, die eine Zuspitzung der religiösen Situation in der Rzeczpospolita nach der eventuellen Übernahme der Regierung durch einen Franzosen fürchteten. Die Hauptinitiative bei der Vorbereitung der Warschauer Konföderation ergriffen die Protestanten, darunter der mit der Exekutionsbewegung in Verbindung stehende Adel. Die Konföderation wurde mit überwiegender Stimmenmehrheit verabschiedet, auch der Katholiken. Der Krakauer Bischof und polnische Vizekanzler Franciszek Krasiński unterschrieb sie mit den Worten propter bonum pacis. Sie wurde jedoch von den übrigen katholischen Bischöfen sowie dem Adel aus Masowien nicht akzeptiert. Die Konföderation bedeutete de jure die Bestätigung der in der Rzeczpospolita vorherrschenden Ordnung. Sie sicherte dem gesamten nichtkatholischen Adel Religionsfreiheit und Gleichstellung mit dem katholischen Adel zu. Sie verkündete einen bedingungslosen und ewigen Frieden unter allen christlichen Konfessionen – und stellte im allgemeinen fest, daß im Fall einer Verletzung des religiösen Friedens, insbesondere wenn aus religiösen Gründen Blut fließen sollte, mit einer entschiedenen Reaktion des übrigen Adels gerechnet werden müsse. Aus den Formulierungen des Konföderationsaktes ist deutlich zu sehen, daß sie nicht die Bauern und die Bewohner von privaten (das heißt adeligen) Städten umfaßte, so daß sich in den Besitztümern des Adels nicht automatisch die Anwendung der 886

Die Warschauer Konföderation von 1573

Regel cuius regio, eius religio ergab. Ohne Zweifel hatten aber die Verfasser die Gültigkeit der Konföderation für die Bewohner der königlichen Städte im Auge, da unter den Beschlußführenden der Konföderation auch die „Städte der Krone“ aufgeführt waren. In den darauffolgenden Dekaden wurde der Rechtsakt jedoch allmählich nur noch als ein Gesetz angesehen, das lediglich auf das „politische Volk“ der Rzeczpospolita, also auf den Adelsstand, anwendbar war. Die vom Adel während des Konvokationssejms beschlossene Konföderation benötigte noch die Zustimmung des Monarchen. Der Schritt, durch den diese Zustimmung erzielt wurde, war die Einbindung des Wortlauts der Konföderation in die Articuli Henriciani (Artykuły Henrykowskie), die vom Elektionssejm 1573 beschlossen wurden und den König an bestimmte rechtliche Vorgaben banden. Als Verfassungsgesetz waren sie Teil der Grundlagen der Staatsordnung der Rzeczpospolita. Der neue König, Heinrich von Valois, ratifizierte zwar das neue Gesetz 157� in Paris im Beisein der ihn in Empfang nehmenden polnischen Abgeordneten, er weigerte sich aber, dies während des Krönungssejm zu wiederholen. Er verpflichtete sich lediglich allgemein dazu, zwischen den Nichtkatholiken den Frieden zu bewahren. Ohne Einwand dagegen wurde die Warschauer Konföderation von dem nächsten König, Stefan Batory, ratifiziert, und von diesem Zeitpunkt an erlangte die Konföderation den Status eines in vollem Umfang geltenden Gesetzes. IV. Unmittelbare Rezeption a) Der Kampf um die rechtliche Bestätigung Die Warschauer Konföderation stieß bei einem Teil der Katholiken auf Gegenwehr, als sich die Glaubensverhältnisse in der Rzeczpospolita verschoben und die Gegenreformation in Gang kam. Von Anfang an wurde die Konföderation vom Papst abgelehnt, was das Verhältnis der Katholiken zu diesem Beschluß, insbesondere was die Geistlichkeit angeht, nicht unerheblich beeinflußte. Die 1577 in Piotrków tagende Synode der polnischen Bischöfe, auf der auch die Beschlüsse des Konzils von Trient angenommen wurden, exkommunizierte alle Anhänger der Warschauer Konföderation. Dieser Beschluß wurde jedoch nicht publik gemacht, da man sich dessen bewußt war, wie unpopulär er in der Bevölkerung erscheinen würde – zumal sich König Stefan Batory gegen ihn ausgesprochen hatte. Die Warschauer Konföderation gewann Ende des 16. Jahrhunderts zunehmend an Bedeutung bei den Nichtkatholiken, als sich die Religionsunruhen verstärkten, von denen hauptsächlich die Protestanten betroffen waren. Es ging um Attacken gegen protestantische Kirchen, Friedhöfe und gelegentlich auch gegen evangelische Geistliche, die hauptsächlich in den großen Städten der Krone stattfanden (Krakau, Wilna, Posen, Lublin). Zu diesem Zeitpunkt wurde Polen-Litauen von Sigismund III. Wasa regiert, einem Anhänger der Gegenreformation in ihrer sanften Form. Seine Politik war vor allem da887

Tomasz Kempa

durch gekennzeichnet, daß er in die höchsten Ämter im Staat (Senatoren) nur Katholiken berief und zudem auf Handlungen der Intoleranz gegen die Nichtkatholiken nur zögerlich reagierte. Das motivierte die Protestanten zur Aktivität, indem sie auf der einen Seite die Erfüllung der Warschauer Konföderation anmahnten und gleichzeitig die Forderung stellten, der Sejm solle die Prozeduren zur Bestrafung der Anstifter von Glaubensunruhen gesetzlich regeln. Damit begann der Kampf um den „Beschluß des Prozesses der Warschauer Konföderation“. Einen starken Zuspruch erhielt der Rechtsakt der Konföderation im Großfürstentum Litauen, wo er ein Teil des III. Litauischen Statuts wurde, das die Kodifizierung des litauischen Rechts darstellte; Sigismund III. bewilligte das Statut, als er die Macht in der Adelsrepublik übernahm. Die Rivalität zwischen den Anhängern der religiösen Toleranz und deren Gegnern spielte sich hauptsächlich im Sejm und während der den Sejmversammlungen vorangehenden lokalen Versammlungen des Adels (Sejmiki) ab. Ursprünglich befanden sich in den Reihen derjenigen, die die Forderungen der Protestanten unterstützten, auch eine große Anzahl des katholischen Adels sowie katholische Senatoren, die die Warschauer Konföderation verteidigt hatten. Somit bildete die Konföderation auch für diese Gruppe einen wichtigen Ort der Erinnerung. Gleichzeitig tobte eine immer härtere Auseinandersetzung zwischen den Anhängern der religiösen Toleranz und den Ideologen der Gegenreformation auf dem Feld der polemischen Literatur. Der Zeitraum, in dem die meisten polemischen katholischen und protestantischen Publikationen erschienen, waren die 1590er Jahre sowie die erste Dekade des 17. Jahrhunderts. Die Hauptthemen der Auseinandersetzung, abgesehen von rein theologischen Fragen, waren die Warschauer Konföderation und die religiöse Toleranz. Die polemischen Katholiken (mit Piotr Skarga an der Spitze) behaupteten, daß die Vielzahl und Vielgestaltigkeit der in der Rzeczpospolita vorkommenden Konfessionen eine Quelle für Spannungen und eine Gefährdung für die Einheit des Staates bildeten. Die Anhänger der religiösen Toleranz dagegen meinten, daß in der Vielvölkergesellschaft der Adelsrepublik die Warschauer Konföderation eine Garantie für den inneren Frieden sei. Die Publizisten der Gegenreformation versuchten, die Rechtmäßigkeit der Konföderation in Frage zu stellen, indem sie darlegten, sie sei während des Interregnums durch den Konvokationssejm verabschiedet worden und lediglich als Bedingung für die Königswahl relevant. Diese Stimmen verteidigten auch die Politik Sigismunds III., indem sie vorbrachten, daß er die religiösen Freiheiten der Nichtkatholiken achte, und daß es nicht notwendig sei, neue, die Warschauer Konföderation präzisierende Gesetze zu beschließen. In der Zwischenzeit gewannen die Protestanten im Kampf gegen die Gegenreformation wichtige Verbündete. Es waren die Orthodoxen, die sich gegen die 1595/96 geschlossene Union von Brest stellten. Die auf Initiative der orthodoxen Bischöfe der Metropolie Kiew geschlossene Union ordnete die orthodoxe Kirche in der Rzeczpospolita Rom unter. Aus Sicht des Königs bedeutete das, daß die neue unierte (griechisch-katholische) Kirche die Rechtsnachfolgerin der orthodoxen Kirche von vor der Union war. Die Mehrheit der Orthodoxen akzeptierte jedoch die partikuläre Union nicht und begann den Kampf um ihre Abschaffung sowie um die Wiederherstellung der orthodoxen 888

Die Warschauer Konföderation von 1573

Die abgebildete Urkunde bekräftigte den Rechtsakt der Warschauer Konföderation vom 28. Januar 1573. Bildnachweis: Archiwum Główne Akt Dawnych, Warszawa, Abteilung Pergaminy, Nr. 4467.

Strukturen. An die Spitze der Opposition stellte sich der damals reichste Magnat in der Rzeczpospolita und Woiwode von Kiew, Fürst Konstjantyn Vasyľ Ostroz’kyj, der den Protestanten die Zusammenarbeit bei der Verteidigung ihrer religiösen Freiheiten anbot. Die Kooperation begann 1595 mit einer Synode der drei protestantischen Konfessionen (Calvinisten, Böhmische Brüder und Lutheraner) in Thorn, zu der auch die Gesandtschaft Ostroz’kyjs sowie Vertreter von anderen orthodoxen Konfessionen kamen. Die Orthodoxen hatten dabei schon früher die religiöse Toleranz in der Rzeczpospolita verteidigt; so hatte Ostroz’kyj bereits während des Sejm von 1592 eine harte Bestrafung der Täter des Angriffs auf die calvinistische Kirche in Wilna angemahnt. Sie beriefen sich unter anderem auf den Sejmbeschluß der Warschauer Konföderation, in dem ein kurzer Passus enthalten ist, welcher der orthodoxen Kirche den besonderen Schutz ihres Vermögens garantierte. Die politische Zusammenarbeit – während der lokalen Versammlungen (Sejmiki), des Sejm sowie in den Gerichten – zwischen den Protestanten und den Orthodoxen wurde von der Versammlung in Wilna im Jahr 1599 besiegelt. Die Hauptrollen bei der Initiative zu dieser Zusammenarbeit spielten dabei die mächtigsten Patrone der orthodoxen Kirche (Ostroz’kyj) und der Reformation (die Radziwiłł von der Linie Birsen sowie Vertreter des Hauses Leszczyński: Andrzej, der Woiwode von Brest in Kujawien, und sein Sohn Rafał, der Woiwode von Rawa). Sie alle, samt ihrer Klientel sowie den mehr oder minder von ihnen abhängigen Führern des nicht katholischen Adels, beriefen 889

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sich in ihrem politischen Kampf gegen die Anhänger der Gegenreformation regelmäßig auf die Warschauer Konföderation. Sie kultivierten nicht nur die Erinnerung an sie, sondern warben auch dafür, so daß der Kreis derjenigen, für die dieser Beschluß einen wichtigen Ort der Erinnerung darstellte, ständig wuchs. Während des Sejm konnten die mit den katholischen Anhängern der Warschauer Konföderation zusammenarbeitenden Nichtkatholiken keinen spektakulären Erfolg einfahren, obwohl es auf der anderen Seite gelang, die Handlungen des Lagers der Gegenreformation weitgehend zu blockieren. Sigismund III. und die geistlichen Senatoren praktizierten oft die Taktik, die von den Nichtkatholiken begehrten rechtlichen Lösungen auf die nächste Sitzung des Sejm zu schieben. Auf diese Weise wurde der „Prozeßbeschluß der Warschauer Konföderation“ ständig vertagt. 1606, während der gegen den König gerichteten Rebellion von Zebrzydowski (bei dem auch die Nichtkatholiken eine wichtige Rolle spielten), stand der Wortlaut des Gesetzes bereit, das die allgemeinen Formulierungen über die Bestrafung der Anstifter von Glaubensunruhen, enthalten in der Warschauer Konföderation, präzisierte. Jedoch stimmte Sigismund III. unter dem Einfluß seiner jesuitischen Berater diesem Gesetz nicht zu. Während der Sejmtagungen in den Jahren 1607 und 1609 erreichten lediglich die Orthodoxen die rechtliche Bestätigung der Existenz ihrer Konfession in der Rzeczpospolita. In den darauffolgenden Dekaden wurde es für die Nichtkatholiken immer schwerer, die Abgeordneten und Senatoren zum Kampf um den „Prozeßbeschluß der Warschauer Konföderation“ zu mobilisieren. Der Anteil des katholischen Adels, der bereit gewesen wäre, ihre Forderungen aktiv zu unterstützen und damit die Warschauer Konföderation zu verteidigen, verringerte sich ständig. Lediglich nach der Zerstörung der calvinistischen Kirche in Wilna 1611 gelang es den Protestanten, eine breite Koalition aufzubauen, die die Bestrafung der Verursacher dieser Unruhen forderte. Trotzdem entging die Mehrheit der Täter der Bestrafung. Erst am Ende der Herrschaft Sigismunds III. errangen die Nichtkatholiken einen wichtigen Sieg. Der König, der sich um die Wahl seines Sohnes Władysław bemühte, stimmte während des Sejm von 1630 dem Beschluß eines Gesetzes zu, das sich auf die Warschauer Konföderation bezog. Es stellte fest, daß die Verursacher der Glaubensunruhen, die „unter dem Vorwand der katholischen Religion“ begangen worden seien, von den „Tribunalgerichten“ (der höchsten Gerichtsinstanz für den Adel, bestehend aus adeligen Vertretern) verurteilt werden sollten. Genau das hatten seit längerem die Protestanten und die sie unterstützenden Orthodoxen sowie ein Teil der Katholiken gefordert. Allerdings war es für den König in dieser Zeit leichter, ein solches Gesetz zu akzeptieren, da beide „Tribunalgerichte“ (getrennt für die Krone Polen und das Großfürstentum Litauen) von Katholiken dominiert waren, die zum Großteil die Warschauer Konföderation nicht akzeptierten. Es war also unwahrscheinlich, daß sie für die Nichtkatholiken günstige Entscheidungen fällen würden. Eine Bestätigung dessen stellte das Urteil dar, das 1638 durch das Sejmgericht, in dem adelige Abgeordnete und Senatoren saßen, verkündet wurde. Kraft dieses Gesetzes wurde die schon damals in Europa berühmte arianische Akademie in Raków geschlossen, und die Arianer mußten diese Stadt, die einem Adelsbesitz angehörte, verlassen. Somit wurde nicht nur die War890

Die Warschauer Konföderation von 1573

schauer Konföderation, sondern auch das Recht des Eigentums des Adels verletzt. Das war ein für die frühere Rzeczpospolita undenkbares Ereignis. b) Die weitere Entwicklung im politischen Kontext der Adelsrepublik Während der Herrschaft von Władysław IV. Wasa wurde im Verlauf der Sejmtagungen nicht mehr so oft auf die Warschauer Konföderation Bezug genommen, was beweist, daß sie in der kollektiven Erinnerung der Polen und Litauer an Bedeutung verloren hatte. Dies betraf jedoch nur die Katholiken. Verantwortlich für die schwindende Bedeutung war die abnehmende Zahl des nicht katholischen Adels in der Rzeczpospolita, was sich in seiner Repräsentanz im Sejm widerspiegelte. Dieser Prozeß war unmittelbar mit der im gesamten Staat zunehmenden Ideologie der Gegenreformation verbunden, die das Denken der jungen Generation, erzogen in den Jesuitenkollegs, beeinflußte. Ein anderer Grund für den seltenen Bezug auf die Warschauer Konföderation war die Tatsache, daß König Władysław IV. im Gegensatz zu seinem Vater ein eher toleranter Herrscher war, der sich für die Rzeczpospolita Konfessionsfreiheiten aufrichtig wünschte. Daher trug er am Anfang seiner Herrschaft zur Wiedererrichtung der höheren Hierarchie der orthodoxen Kirche bei und versuchte auf jegliche Religionsunruhen zu reagieren. Der Beitrag zum Zustandekommen des berühmten Colloquium Charitativum in Thorn 1645 war symptomatisch für seine Religionspolitik. Während dieser Zusammenkunft von katholischen und protestantischen Geistlichen (Lutheraner, Calvinisten und Böhmische Brüder) wurde auch auf die Problematik der Warschauer Konföderation Bezug genommen, obwohl in den Gesprächen hauptsächlich theologische Fragen zur Diskussion standen. Das Colloquium führte jedoch am Ende zu keiner konkreten Verständigung. Einen enormen Einfluß auf das Schicksal der religiösen Toleranz im gesamten Staat und somit auch auf das Verhältnis zur Warschauer Konföderation hatten die Kriege, die Polen-Litauen Mitte des 17. Jahrhunderts führte. Die Gegner waren nichtkatholische Staaten: Rußland, Schweden, Preußen und Siebenbürgen; als einzig sicherer Verbündeter verblieb die katholische Monarchie der Habsburger. In dieser Situation gewann die Rzeczpospolita für die Mehrheit ihrer Bürger den Charakter einer Festung des Katholizismus. Hinzu kam, daß ein Teil der Protestanten in der Adelsrepublik (insbesondere die Böhmischen Brüder) sowie die Arianer mit den Besatzungsmächten (Schweden) und kurzzeitigen Invasoren (Siebenbürgen) kooperierten. Dies blieb nicht ohne Folgen für die Gestaltung der negativen Beziehungen der Mehrheit des katholischen Adels zu den Nichtkatholiken – zumal im Hintergrund die seit einigen Dekaden von der katholischen Kirche betriebene Bewußtseinsformung im Geist der Gegenreformation wirkte. Als Konsequenz daraus beschloß der Sejm 1658, die Arianer aus dem Land zu vertreiben. Faktisch jedoch wurden schon nach 1638 die Rede- und die Glaubensfreiheit der Arianer eingeschränkt, was besonders in den zentral liegenden Gebieten der Rzeczpospolita sichtbar wurde. Die Haltung der Protestanten bei diesen Vorgängen war verhältnismäßig passiv. 891

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In der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts bekamen auch die Protestanten und die Orthodoxen die Einschränkungen ihrer politischen und religiösen Freiheiten zu spüren. Im Jahre 1668 verbot der Sejm die Konversion vom Katholizismus zu anderen christlichen Konfessionen. 1673 wurde den Nichtkatholiken der Zutritt zum Adelsstand verwehrt. Später wurde den Protestanten und den Orthodoxen das Recht genommen, für den Sejm zu kandidieren, in den „Tribunalgerichten“ zu sitzen und letztlich sogar die lokalen Adelsämter zu bekleiden. Es verringerte sich auch die Anzahl der orthodoxen und protestantischen Kirchen (die größten Verluste erlitten die Böhmischen Brüder). Dieser Prozeß verlief jedoch auf quasi natürliche Weise, indem dahinter sehr oft die Konversion zum Katholizismus oder der Tod der nichtkatholischen Patrone stand. Generell genossen die Nichtkatholiken in der Rzeczpospolita, trotz der Einschränkung der politischen Rechte, immer noch ein gewisses Maß an religiösen Freiheiten. Die Warschauer Konföderation galt, wenngleich in eingeschränkter Form weiter. Auf sie wurde jedoch immer seltener in den Sejmdebatten Bezug genommen. Im 18. Jahrhundert wurden die Konfessionsfragen durch die politische Aktivität der benachbarten Großmächte, vor allem durch Rußland und Preußen, machtpolitisch instrumentalisiert. Insbesondere nach dem Thorner Tumult 172� erwarb sich die Rzeczpospolita den Ruf eines in Bezug auf die religiösen Freiheiten eher intoleranten Staates. Indes unterschied sich Polen-Litauen in dieser Frage nicht von den meisten damaligen europäischen Staaten. Nichtsdestoweniger versuchten die Nichtkatholiken, weiterhin um ihre Rechte zu kämpfen, indem sie sich auf die Warschauer Konföderation beriefen. Als ein Fehler erwies sich jedoch ihre Zusammenarbeit mit Rußland in den Jahren 1767/68. Die Politik der Zarin Katharina II., die eine Zuspitzung der konfessionellen Verhältnisse in der Rzeczpospolita zum Ziel hatte, führte zu einem zahlenmäßigen Anstieg des katholischen Adels, dessen Verhältnis zu den Nichtkatholiken eher ablehnend und manchmal sogar feindlich war. Die Katholiken waren zu dieser Zeit weit davon entfernt, die in dem Rechtsakt der Warschauer Konföderation niedergeschriebenen Werte zu pflegen. Erst am Ende des Bestehens Polen-Litauens begannen Reformatoren (mehrheitlich Katholiken), die das Ziel der Erneuerung und Stärkung des Staates vor Augen hatten, die Bedeutung der Konföderation aufs Neue zu entdecken. V. Moderner Bedeutungsumfang Die Zeit der Teilungen Polens begünstigte im allgemeinen nicht die Pflege der Erinnerung an die Warschauer Konföderation – wenn man sich ihrer doch erinnerte, dann taten es, wie nicht anders zu erwarten, hauptsächlich die Protestanten. Die Bedeutung der Konföderation und die Existenz der religiösen Freiheiten in Polen-Litauen wurden auch durch die in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts entstehende moderne polnische Historiographie unterstrichen. In der Zeit zwischen den beiden Weltkriegen schrieben polnische Historiker – besonders diejenigen, die in Verbindung mit der Zeitschrift Reformacja w Polsce (Reformation in Polen) standen –, Katholiken wie Protestanten noch nachdrück892

Die Warschauer Konföderation von 1573

licher über die historische Bedeutung der Warschauer Konföderation. Im Fokus stand nicht nur Polen, sondern ganz Europa. Dies war umso wichtiger, als der damaligen polnischen Staatsgewalt grundsätzlich der Typus des Polen als eines Katholiken in das politische Konzept paßte. Aus diesem Grund kam die Politik der polnischen Regierungen den Anliegen der Glaubens- und nationalen Minderheiten in den Jahren 1918 bis 1939 kaum entgegen. Die Warschauer Konföderation stellte damals einen Ort der Erinnerung für eine deutliche Minderheit in der polnischen Gesellschaft dar. Immer noch lebendig war die Erinnerung an sie allerdings im Kreis der Protestanten. Im kommunistischen Polen dagegen wurde die Politik gegenüber den Minderheiten in den Dienst der damals herrschenden Ideologie gestellt, was in der Praxis einen scharfen Kurs der Machthaber gegenüber allen religiösen Gruppen sowie den nationalen Minderheiten bedeutete. Um die Position der katholischen Kirche in Polen, die von einer entschiedenen Mehrheit der Gesellschaft unterstützt wurde, zu schwächen, förderten jedoch die Machthaber diejenigen Ansätze in der Historiographie, die die vermeintliche Rückständigkeit und geistige Enge des polnischen Katholizismus aufzeigen wollten. Daher herrschte in der damaligen polnischen Geschichtsschreibung eine ziemlich einseitige Kritik an der Gegenreformation, und gleichzeitig wurde nachdrücklich auf die Darstellung der polnischen Tradition der religiösen Toleranz, deren Rechtsgrundlage hauptsächlich die Warschauer Konföderation war, Wert gelegt. So erhielten Arbeiten zur Geschichte der polnischen Reformation sowie zur religiösen Toleranz des 16. bis 17. Jahrhunderts, die gleichzeitig in der westeuropäischen Historiographie Resonanz fanden, besonders dank der auch in englischer und deutscher Sprache veröffentlichten Arbeiten von Janusz Tazbir, einen starken Schub. Langfristig bedeutsam wurde, daß die Forschungsergebnisse der polnischen Historiker mittels der populärwissenschaftlichen Literatur und der Schulbücher in das allgemeine Bewußtsein der Polen einzudringen begannen. In einem großen Teil der Gesellschaft bildete sich die Meinung heraus, daß Polen (und früher die polnisch-litauische Adelsrepublik) ein Staat gewesen war, in dem verschiedengläubige Menschen und Menschen aus anderen Kulturen geachtet wurden – was aber in dieser Generalisierung nicht zutrifft. In diesem Kontext wurde der Warschauer Konföderation eine besondere Rolle zugesprochen. Die Mehrheit der heutigen Polen pflegt – obwohl sie die Warschauer Konföderation kaum in Erinnerung hat – die Ansicht, daß Polen-Litauen ein multikonfessionelles und multikulturelles Staatswesen war, in dem Traditionen religiöser Toleranz über lange Zeit hinweg fest verwurzelt waren. Die Warschauer Konföderation spielte und spielt immer noch eine besondere Rolle in der Erinnerungskultur der polnischen Protestanten; in einem geringeren Ausmaß trifft das auch auf die Orthodoxen zu. Die Erinnerung an die Warschauer Konföderation sowie an die im Großfürstentum Litauen und später in der gesamten Rzeczpospolita (nach 1569) herrschende religiöse Toleranz wird auch im heutigen Litauen kultiviert. Dies spiegelt sich in der zeitgenössischen litauischen Historiographie sowie in den Schulbüchern wider. Es sollte jedoch beachtet werden, daß die Warschauer Konföderation nicht nur für die Bürger von Polen und Litauen zu einem Teil der Erinnerungskultur wurde. Man wird 893

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durch diesen Beschluß im Jahr 1573 den polnisch-litauischen Staat – neben Siebenbürgen – als einen der in Glaubensdingen am ehesten toleranten Staaten im Europa seiner Zeit bezeichnen dürfen; ein Teil der Historiker sprach von einem „Asyl für Häretiker“. Der als Warschauer Konföderation bekannte Sejmbeschluß wurde zu einem Muster für rechtliche Lösungen in Fällen, wo es um die Unterdrückung religiöser Gruppen in Europa generell ging. Daher finden sich Übersetzungen dieses Dokuments in alle größeren westeuropäischen Sprachen, was die Verbreitung in vielen europäischen Ländern garantierte. Die französischen Hugenotten etwa beriefen sich darauf, und sie wurden in ihren Bemühungen um religiöse Freiheiten nicht zufällig von polnischen Protestanten unterstützt. Zur Verbreitung der Toleranzideen und der Inhalte der Warschauer Konföderation in Europa trugen wesentlich die polnischen Arianer bei. Paradoxerweise half dazu ihre Vertreibung aus der Rzeczpospolita im Jahr 1658, indem die Publikationen der arianischen Emigranten einen wesentlichen Einfluß auf die Philosophie der Aufklärung ausüben konnten. Auf großes Interesse stößt die Warschauer Konföderation bei der zeitgenössischen europäischen Historiographie, was besonders nach den politischen Veränderungen der Wende von 1989/90 spürbar wurde. Auf diese Weise prägten sich dieser Rechtsakt und der ihn begleitende Prozeß der religiösen Toleranz immer stärker in die Erinnerungskultur der Europäer ein. Hinzu kommt, daß der Text der Konföderation in die Liste der „Welterinnerung“ der UNESCO eingetragen wurde – was ihn als ein Gut ausweist, das der Verbreitung in der gesamten Menschheit würdig ist. Der als Warschauer Konföderation bekannte Sejmbeschluß bekam damit den Status eines der wichtigsten Rechtstexte der Menschheit zuerkannt und darf als ein Teil der Welterinnerungskultur bezeichnet werden.

VI. Auswahlbibliographie sobiesKi, Wacław: Nienawiść wyznaniowa tłumów za rządów Zygmunta III [Religiöser Haß in der Gesellschaft unter der Regierung Sigismunds III.]. Warszawa 1902; GraboWsKi, Tadeusz: Z dziejów literatury kalwińskiej w Polsce 1550–1630 [Zur Geschichte der calvinistischen Literatur in Polen 1550– 1630]. Kraków 1906; sobiesKi, Wacław: Polska a hugenoci po nocy św. Bartłomieja [Polen und die Hugenotten nach der Bartholomäusnacht]. Kraków 1910; haLecKi, Oskar: Zgoda Sandomierska 1570 r. [Der Konsens von Sandomierz im Jahr 1570]. Warszawa 1915; GraboWsKi, Tadeusz: Literatura luterska w Polsce wieku XVI (1530–1630) [Lutherische Literatur in Polen im 16. Jahrhundert (1530–1630)]. Poznań 1920; budKa, Włodzimierz: Kto podpisał Konfederację Warszawską 1573 r.? [Wer unterzeichnete die Warschauer Konföderation von 1573?]. In: Reformacja w Polsce 1/� (1921) 31�–319; sieMieńsKi, Józef: Drugi akt konfederacji warszawskiej 1573 r. Przyczynek archiwalny do historii ustroju Polski [Der zweite Akt der Warschauer Konföderation von 1573. Ein archivalischer Beitrag zur Geschichte der polnischen Verfassung]. Kraków 1930; ptaszycKi, Stanisław: Konfederacja warszawska w III Statucie Litewskim [Die Warschauer Konföderation im III. Litauischen Statut]. In: ehrenKreutz, Stefan (Hg.): Księga pamiątkowa ku uczczeniu �00 rocznicy wydania I Statutu Litewskiego. Wilno 1935; LecLer, Joseph: Histoire de la tolérance au siècle de la Réforme, Bd. 1–2. Paris 195�; oGonoWsKi, Zbigniew: Z zagadnień tolerancji w Polsce XVII w. [Zum Problem der Toleranz in Polen im 17. Jahrhundert]. Warszawa 1958; KaMen, Henry: The Rise of Toleration. London 1957; szczucKi, Lech/

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Die Warschauer Konföderation von 1573 tazbir, Janusz (Hg.): Literatura ariańska w Polsce XVI wieku. Antologia [Die arianische Literatur in Polen im 16. Jahrhundert. Eine Anthologie]. Warszawa 1959; schraMM, Gottfried: Der polnische Adel und die Reformation 15�8–1607. Wiesbaden 1965; sKWarczyńsKi, Paweł: Szkice z dziejów reformacji w Europie środkowo-wschodniej [Skizze zur Geschichte der Reformation in Ostmitteleuropa]. Londyn 1967; tazbir, Janusz:: A State Without Stakes: Polish Religious Toleration in the Sixteenth and Seventeenth Centuries. Warszawa 1973; Jobert, Ambroise: De Luther à Mohila. La Pologne dans la crise de la Chrétienté 1517–16�8. Paris 197�; KoroLKo, Mirosław: Klejnot swobodnego sumienia. Polemika wokół konfederacji warszawskiej w latach 1573–1658 [Das Kleinod des freien Gewissens. Die Polemik um die Warschauer Konföderation in den Jahren 1573–1658]. Warszawa 197�; saLMonoWicz, Stanisław: Geneza i treść uchwał Konfederacji Warszawskiej [Genese und Inhalt der Beschlüsse der Warschauer Konföderation]. In: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 19 (197�) 7–30; tazbir, Janusz: Polskie i obce opinie o konfederacji warszawskiej [Polen und die öffentliche Meinung zur Warschauer Konföderation]. In: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 19 (197�) 151–160; Wisner, Henryk: Walka o realizację konfederacji warszawskiej za panowania Zygmunta III Wazy [Der Kampf um die Realisierung der Warschauer Konföderation in der Regierungszeit Sigismunds III. Wasa]. In: Odrodzenie i Reformacja w Polsce 19 (197�) 129–1�9; tazbir, Janusz: Bracia polscy na wygnaniu. Studia z dziejów emigracji ariańskiej [Die Polnischen Brüder im Exil. Studien zur Geschichte der arianischen Emigration]. Warszawa 1977; ders.: Geschichte der polnischen Toleranz. Warszawa 1977; WoJaK, Tadeusz: Szkice z dziejów reformacji w Polsce XVI i XVII w. [Skizzen zur Geschichte der Reformation in Polen im 16. und 17. Jahrhundert]. Warszawa 1977; KosMan, Marceli: Protestanci i kontrreformacja. Z dziejów tolerancji w Rzeczypospolitej XVI–XVIII w. [Die Protestanten und die Gegenreformation. Zur Geschichte der Toleranz in der Adelsrepublik im 16.–18. Jahrhundert]. Wrocław 1978; KoroLKo, Mirosław/ tazbir, Janusz (Hg.): Konfederacja warszawska 1573 roku wielka karta polskiej tolerancji [Die Warschauer Konföderation von 1573 als Charta der polnischen Toleranz]. Warszawa 1980; tazbir, Janusz: Die Religionsgespräche in Polen. In: Müller, Gerhard (Hg.): Die Religionsgespräche der Reformationszeit. Gütersloh 1980, 127–1�3; MaciuszKo, Janusz: Konfederacja warszawska 1573 roku. Geneza, pierwsze lata obowiązywania [Die Warschauer Konföderation 1573. Genese und erste Jahre der Geltung]. Warszawa 198�; dzięGieLeWsKi, Jan: O tolerancję dla zdominowanych. Polityka wyznaniowa Rzeczypospolitej w latach panowania Władysława IV [Zur Toleranz für die Beherrschten. Glaubenspolitik in Polen in der Herrschaftszeit von Władysław IV.]. Warszawa 1986; tazbir, Janusz: Polskie przedmurze chrześcijańskiej Europy. Mity a rzeczywistość historyczna [Die polnische Vormauer des Christentums in Europa. Mythen und historische Realität]. Warszawa 1987; JarMińsKi, Leszek: Bez użycia siły. Działalność polityczna protestantów w Rzeczypospolitej u schyłku XVI wieku [Ohne Einsatz von Gewalt. Die politische Tätigkeit der Protestanten in Polen am Ende des 16. Jahrhunderts]. Warszawa 1992; tazbir, Janusz: Reformacja w Polsce. Szkice o ludziach i doktrynie [Die Reformation in Polen. Skizzen über Menschen und Doktrinen]. Warszawa 1993; drabina, Jan: Die Religionspolitik von König Władysław Jagiello im polnisch-litauischen Reich in den Jahren 1385–1�3�. In: Zeitschrift für Ostmitteleuropa-Forschung �3 (199�) 161–173; KrieGseisen, Wojciech: Ewangelicy polscy i litewscy w epoce saskiej (1696–1763). Sytuacja prawna, organizacja i stosunki międzywyznaniowe [Die polnischen und litauischen Protestanten in der Sachsenzeit (1696–1763). Rechtliche Lage, Organisation und interkonfessionelle Beziehungen]. Warszawa 1996; Müller, Michael G.: Zweite Reformation und städtische Autonomie im Königlichen Preußen. Danzig, Elbing und Thorn in der Epoche der Konfessionalisierung (1557–1660). Berlin 1997; bérenGer, Jean: Tolérance ou paix de religion en Europe centrale (1�15–1792). Paris 1999; LuKšaitė, Ingė: Reformacija Lietuvos Didžiojoje Kunigaikštystėje ir Mažojoje Lietuvoje XVI a. trečias dešimtmetis – XVII a. primas dešimtmetis [Die Reformation im Großfürstentum Litauen und in Kleinlitauen 1520–1610]. Vilnius 1999; Müller, Michael G.: Tolerancja religijna a sprawa dysydentów w Polsce w drugiej połowie XVIII wieku [Religiöse Toleranz und die Frage der Dissidenten in Polen in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts]. In: Wiek Oświecenia 15 (1999) 19–29; KłoczoWsKi, Jerzy: Tolerancja w Rzeczypospolitej polsko-litewskiej: konstytucja z 1573

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Tomasz Kempa roku o zachowaniu pokoju religijnego [Toleranz in der polnisch-litauischen Adelsrepublik: Die Konstitution von 1573 zur Erhaltung des religiösen Friedens]. In: ders. (Hg.): istoria Europy ŚrodkowoWschodniej, Bd 2. Lublin 2000, 88–112; WilK, Stanisław (Hg.): Chrześcijaństwo w dialogu kultur na ziemiach Rzeczypospolitej [Das Christentum im Dialog der Kulturen in den Ländern der Adelsrepublik]. Lublin 2003; Wołoszyn, Jacek Witold: Problematyka wyznaniowa w praktyce parlamentarnej Rzeczypospolitej w latach 16�8–1696 [Die konfessionelle Problematik in der parlamentarischen Praxis der Adelsrepublik in den Jahren 16�8–1696]. Warszawa 2003; Müller, Hans-Joachim: Irenik als Kommunikationsreform. Das Colloquium Charitativum von Thorn 1645. Göttingen 2004; Wünsch, Thomas/JaneczeK, Andrzej (Hg.): On the Frontier of Latin Europe. Integration and Segregation in Red Ruthenia, 1350–1600. Warsaw 2004; osterrieder, Markus: Das wehrhafte Friedensreich. Bilder von Krieg und Frieden in Polen-Litauen (1505–1595). Wiesbaden 2005; KeMPa, Tomasz: Wobec kontrreformacji. Protestanci i prawosławni w obronie swobód wyznaniowych w Rzeczypospolitej w końcu XVI i w pierwszej połowie XVII wieku [Im Angesicht der Gegenreformation. Protestanten und Orthodoxe in der Verteidigung der Glaubensfreiheiten in Polen am Ende des 16. und in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts]. Toruń 2007; brüninG, Alfons: Unio non est unitas. Polen-Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter, 1569–16�8. Wiesbaden 2008; Müller, Michael G.: Toleranz vor der Toleranz. Konfessionelle Kohabitation und Religionsfrieden im frühneuzeitlichen Ostmitteleuropa. In: KLeinMann, Yvonne (Hg.): Kommunikation durch symbolische Akte. Religiöse Heterogenität und politische Herrschaft in Polen-Litauen. Stuttgart 2010, 59–75.

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Die Union von Brest I. Zusammenfassung. – II. Der Weg zum Abschluß der Kirchenunion. – III. Wirkungsgeschichte. – a) Zwischen Katholizismus und Orthodoxie bis 1700. – b) In der Habsburgermonarchie und im Rußländischen Reich bis 1918. – c) Zwischen Fremdherrschaft und Unabhängigkeit seit 1918. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die Union von Brest 1595/96 ist die maßgebende römisch-griechische Kirchenunion der Frühen Neuzeit. Sie sollte die Territorien des östlichen Polen-Litauen (heute überwiegend Ukraine und Belarus) dem Einfluß des Moskauer Patriarchats entziehen. Darüber hinaus ist sie die Grundlage nationaler Sonderentwicklungen insbesondere der Ukraine sowie ethnoreligiöser Konkurrenz in Polen und in der Slowakei. Die Bezeichnung unierte Kirche wird heute allerdings oft als ungenau und abwertend angesehen und durch griechischkatholische Kirche ersetzt.

II. Der Weg zum Abschluß der Kirchenunion Die Union von Brest geht auf Konzilien des 15. Jahrhunderts zurück, im Rahmen derer die West- und die Ostkirche, die einander seit dem Großen Schisma von 105� gegenüberstanden, auf päpstliche Initiative wieder zusammengeführt werden sollten. Zentrale Voraussetzung für die Betreibung einer derartigen Kirchenunion war eine grundlegende Krise der Orthodoxie sowohl hinsichtlich ihrer spirituellen Glaubwürdigkeit als auch im Hinblick auf ihre geographische Reichweite: Neben der fortschreitenden Expansion des Osmanischen Reiches im Südosten Europas (Eroberung Konstantinopels 1453) wurden interne Verfallstendenzen des orthodoxen Klerus sowie westliche theologische Einflüsse angeprangert. Vertreter der römischen Kurie und der Jesuiten, etwa Piotr Skarga, Hofprediger König Sigismunds III. Wasa, und Antonio Possevino, päpstlicher Legat in Moskau, strebten unter diesen Vorzeichen eine Union der katholischen und der orthodoxen Kirchen auf dem Gebiet der polnisch-litauischen Republik an; unmittelbarer Anlaß war die Schaffung des Moskauer Patriarchats, der der Patriarch von Konstantinopel, Jeremias II., 1589 zustimmen mußte. Daraufhin wurde das Interesse an einer Union auch bei den orthodoxen Bischöfen auf polnisch-litauischem Gebiet deutlich: Ihr Ziel war zum einen die Zurückdrängung des Moskauer Einflusses, zum anderen eine politische und gesellschaftliche Gleichberechtigung in Polen-Litauen. Auf der Synode von Brest 1595 legte der Metropolit von Halyč-Kiew, Michail Rahoza, schließlich ein 33 Artikel umfassendes Unionskonzept vor, das die Zustimmung Sigismunds III. und Papst Clemens’ VIII. fand. Die orthodoxe Hierarchie erkannte die päpstliche Autorität in Fragen des Glaubens und der Moral sowie die katholischen Dog897

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men an, behielt sich jedoch die Ausübung der bisherigen liturgischen Gebräuche und das Recht auf Priesterehe vor. Außerdem sollte der König von Polen und Großfürst von Litauen die Beibehaltung von Rechten, Pfründen und Kirchen, den eventuell nötigen Schutz gegenüber dem Patriarchen von Konstantinopel und die Vertretung im Senat garantieren. Angesichts eines breiten Konsenses stimmten Ipatij Potij, Bischof von Volodymyr-Brest, und Kyrillo Terlec’kyj, Bischof von Luc’k, am 1. Dezember 1595 in Rom der Union zu, die am 23. Dezember in der päpstlichen Bulle Magnus Dominus et laudabilis nimis bestätigt wurde. Nach der Privilegierung der somit geschaffenen unierten Kirche durch den Papst am 23. Februar 1596 erfolgte im Oktober ihre feierliche Verkündung auf der Synode von Brest. III. Wirkungsgeschichte a) Zwischen Katholizismus und Orthodoxie bis 1700 Zunächst war die unierte Kirche die einzige in der polnisch-litauischen Republik anerkannte Kirche des östlichen Ritus. Sie hatte anfangs nur geringen Zulauf. Mächtige Anhänger der Orthodoxie waren nicht zu ihrer Anerkennung bereit und artikulierten bereits im Zuge der feierlichen Unionsverkündung Widerstand, als dessen Vertreter vor allem der niedere Klerus und die unter dem Fürsten Konstjantyn Ostroz’kyj formierten weltlichen Würdenträger auftraten. Erst während der Amtszeiten der Metropoliten Ipatij Potij und Jazėp Veľjamin Rucki erlebte die unierte Kirche in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts bedeutenden Zulauf. Dennoch blieben Landtage, Reichstage und gelegentliche Adelserhebungen zu Beginn des Jahrhunderts von Bemühungen um eine zumindest partielle Anerkennung orthodoxer Institutionen gekennzeichnet. Ab 1620 setzte Patriarch Theophanes III. von Jerusalem orthodoxe Bischöfe für das polnisch-litauische Gebiet ein, die mit Unterstützung der Kosaken Ansprüche auf Pfründe und Kirchen der Unierten stellten und eine Einigung mit deren Hierarchen suchten. Vor allem die Idee der Stärkung Kiews durch Schaffung eines Patriarchates erwies sich als verbindendes Element zwischen Unierten und Orthodoxen. Die 1622 von Papst Clemens VIII. ins Leben gerufene Sacra Congregatio de Propaganda Fide bemühte sich unterdessen von 1624 bis 1629 weiter um die Durchsetzung der Union. Die Vertreter der Union konnten das Martyrium des Erzbischofs von Polack, Josafat Kuncevyč, der 1623 in Witebsk von Gegnern der Union erschlagen worden war, zu ihren eigenen Zwecken nutzen: Im Gedenken Josafats und dank der 1627 erfolgten Konversion des orthodoxen Polemikers Meletij Smotryc’kyj zum Unionsgedanken festigte sich auch ihre Unterstützung durch katholische Bischöfe und Magnaten. Ihre Haltung schwankte in dieser Zeit zwischen Verteidigung und Angriff: Zum einen mußten 1632 der neu gewählte König Władysław IV. und der Sejm die orthodoxe Kirche anerkennen, zum anderen dehnte die 16�6 abgeschlossene Union von Užhorod den Einfluß der Union von Brest auf das Gebiet der ungarischen Stephanskrone aus. 898

Die Union von Brest

Ernsthaft gefährdet war der Bestand der unierten Kirche durch den Ausbruch des Kosaken-Aufstandes unter Führung von Bohdan Chmeľnyc’kyj 16�8. Eine erhebliche Anzahl Unierter wurde durch die Aufständischen getötet; in Zboriv 16�9 und 1658 in Hadjač wurden Pläne zur Auflösung ihrer Kirche lanciert. In den nächsten Jahren erlitt die unierte Kirche wegen der ständigen Kriege Polen-Litauens gegen Moskau und die Kosaken weitere beträchtliche Verluste. Mit dem Waffenstillstand von Andrusiv wurde zwar die östliche Ukraine 1667 an Moskau abgetreten, die unierte Kirche in der westlichen, am rechten Ufer des Dnjepr gelegenen Ukraine hingegen gestärkt. Ihre überlebenden Würdenträger bewegten den Adel dazu, die Union anzunehmen und zu fördern, orthodoxe Kirchenfürsten hingegen auszuschalten oder in ihrer Amtsausübung zu behindern. 1685 schließlich führten Patriarch Ioakim und Hetman Ivan Samojlovyč die Metropolie Kiew in die Jurisdiktion des Patriarchats Moskaus. In der westlichen Ukraine erhöhten die polnischen Autoritäten daraufhin durchaus erfolgreich den Druck auf die orthodoxen Bischöfe, sich der Union von Brest anzuschließen: 1691 folgte die Diözese Przemyśl unter Bischof Inokentij Vynnyc’kyj dieser Vorgabe. Bereits 1702 war nur mehr eine Diözese unter polnisch-litauischer Herrschaft orthodox. Mit der Synode von Zamość 1720 konsolidierte sich eine unierte konfessionelle Identität. b) In der Habsburgermonarchie und im Rußländischen Reich bis 1918 Im Verlauf des 18. Jahrhunderts führte die rußländische Einflußnahme zur Polarisierung des Adels in Polen-Litauen zwischen Katholizismus und Orthodoxie. Während der Teilungen des Landes übte die russisch-orthodoxe Kirche in den ins Rußländische Reich eingegliederten Teilen zum einen Druck auf die Anhänger der Union von Brest aus und war zum anderen eine attraktive Option. Katharina II. übernahm die Argumentation orthodoxer Geistlicher, der polnische Staat und der katholische Glaube und damit die Union seien nicht mit ostslawischer orthodoxer Identität vereinbar. Entscheidend für die neue imperiale Identität war die Deutung der sogenannten Westrussen als Teil des russischen Volkes. Der Zulauf zur Orthodoxie war groß, und Repressionen gegen die verbliebenen Unierten wurden im frühen 19. Jahrhundert nur vorübergehend gelockert. Man löste die unierte Kirche 1839 schließlich zunächst in den Westgebieten auf und konfiszierte ihre Kirchengüter, russifizierte die Schulen und erklärte alle Unierten zu Orthodoxen. 1875 wurde die unierte Kirche auch auf dem Gebiet des Königreiches Polen, wo sie immer eine marginale Rolle gespielt hatte, aufgelöst. Im Rahmen der Habsburgermonarchie hingegen wurde den Unierten des neuen Kronlandes Galizien-Lodomerien Gleichrangigkeit mit der römisch-katholischen Kirche garantiert und ihre Kirche 177� zur „griechisch-katholischen Kirche“ aufgewertet; im 18. Jahrhundert dürften sich etwa vier Millionen Gläubige zu ihr bekannt haben. Die habsburgischen Behörden förderten den ruthenischen Klerus und die Entstehung von Bildungsinstitutionen. Kaiser Joseph II. beispielsweise übergab ihm 178� die Karmeliterkirche von Przemyśl. Den neuen politischen Gegebenheiten wurde in der Reorgani899

Christoph Augustynowicz

sation der Kirchenverwaltung dadurch Rechnung getragen, daß Papst Pius VII. 1807 die griechisch-katholische Metropolie mit Sitz in Lemberg einrichtete. Die Union von Brest wurde im Rahmen der konfessionellen und ethnischen Vielfältigkeit Galiziens bald zum nationsbildenden Faktor und vor dem Hintergrund des polnischen und ruthenisch-ukrainischen Geisteslebens von Wortführern mehrerer Nationalbewegungen vereinnahmt: Im polnischen Diskurs wurde die Union als Konfliktmoment innerhalb einer Nation gesehen, im ruthenisch-ukrainischen hingegen als Element eines Konflikts zwischen zwei Nationen. Seitens der Ruthenen wurde einerseits die darin angelegte Möglichkeit betont, an westliche Entwicklungen anzuschließen, wobei die Skepsis gegenüber der polnisch konnotierten römisch-katholischen Kirche immer blieb; gelegentlich wurden hier sogar Empfehlungen zur Zulassung der Priesterehe und zur Abschaffung der Liturgie in Latein laut. Andererseits bot die Existenz der Ruthenen in der Habsburgermonarchie eine gute Möglichkeit für rußländische Interventionen: Im Lager der Russophilen fanden sich diejenigen, die sich im Sinn einer Hinwendung zur Orthodoxie vom Unionsgedanken distanzierten, etwa um den Priester Ivan Naumovyč. Die Heiligsprechung von Josafat Kuncevyč 1867 sollte der Union den Rücken stärken, wurde allerdings seitens der Ruthenen als pro-polnischer Akt angefeindet. Zeitlich fiel dies mit der sogenannten Galizischen Autonomie von 1867 zusammen, in deren Rahmen Wien die Polen Galiziens durch Einführung eines eigenen Landtags und der polnischen Amtssprache bevorzugte. Die ukrainischen Nationalpopulisten sahen angesichts dieser Entwicklung die unierte Kirche als nationale Kirche der Ruthenen, hielten zur Union von Brest dabei allerdings pragmatische Distanz. Vor dem Hintergrund einer breiten Emigration aus Galizien wurde die Diskussion um die Union von Brest auch über den Atlantik in die USA getragen. Im Land selbst schätzten die polnischen und die ruthenisch-ukrainischen gesellschaftspolitischen Lager den Unionsakt im späten 19. Jahrhundert einhellig eher negativ ein, so daß die Feierlichkeiten zum 300. Jahrestag im Jahr 1896 eher religiös ausgerichtet waren und auf beiden Seiten keine nationalen Massen mobilisieren konnten.

c) Zwischen Fremdherrschaft und Unabhängigkeit seit 1918 In der Zweiten Polnischen Republik erhielt die griechisch-katholische Kirche der ukrainischen Minderheit trotz forcierter ethnischer Homogenisierung eine eigene Metropolie in Lemberg mit drei Diözesen. Zentrale Figur war der 1900 noch unter habsburgischer Regierung eingesetzte Metropolit Andrej Šeptyc’kyj. Die Diskussion um den Zulauf zur griechisch-katholischen Kirche in der Zwischenkriegszeit steht stellvertretend für die polnisch-ukrainische Konkurrenz: Gemäß polnischen Angaben hatte sie 3,3 Millionen Anhänger (1931), gemäß ukrainischen Angaben 5,5 Millionen (1939). In der Tschechoslowakei war die Union nur am Rande in nationale Debatten der Zwischenkriegszeit eingebunden. 900

Die Union von Brest

Mit der sowjetischen Invasion in Ostpolen im September 1939 wurde der griechischkatholische Klerus als Handlanger der polnischen Großgrundbesitzer und der Bourgeoisie diffamiert, 1940 setzten Repressionen ein. Darüber hinaus stellte die 1939 eingerichtete Demarkationslinie zwischen Generalgouvernement und Sowjetrepublik entlang des San eine sechsstellige Zahl von Ukrainern unter nationalsozialistische Herrschaft. Vereinzelt flüchteten griechisch-katholische Priester sogar in diese Gebiete. Šeptyc’kyj betonte in dieser Situation die Möglichkeit, die Union von Brest zur Ausweitung des Katholizismus einzusetzen und richtete mit zögerlicher Unterstützung des Heiligen Stuhls griechisch-katholische Exarchate für die gesamte Sowjetunion ein. Die russisch-orthodoxe Kirche ihrerseits wollte die sowjetische Autorität im Sinn einer Missionierung Galiziens nutzen. Im März 1941 wurde die Einsetzung eines orthodoxen Bischofs in Lemberg angesetzt, die jedoch wegen des Angriffs Deutschlands auf die Sowjetunion im Juni des Jahres nicht vollzogen wurde. Die Brester Union war nach wie vor Symbol der Hoffnung auf eine selbständige Ukraine, während die Aktivität sämtlicher ukrainischer Kirchen unter nationalsozialistischer Herrschaft unterdrückt blieb. Šeptyc’kyj bemühte sich zwar um Aufrechterhaltung der seelsorgerlichen Tätigkeit auch im Zusammenspiel mit den nationalsozialistischen Behörden, leistete aber aktiven Widerstand gegen die Vernichtung der Juden. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde die griechisch-katholische Kirche angesichts der sowjetischen Dominanz endgültig in die Defensive gedrängt. Im April 1945 ordnete Stalin die Verhaftung ihrer gesamten Hierarchie an. Die polnische Regierung hingegen erkannte sie kurzfristig an und erneuerte die Diözese Przemyśl. Die Aufhebung der Union durch das vom sowjetischen Geheimdienst (NKWD) überwachte Konzil von Lemberg im März 19�6 zog nun auch in Polen Repressionen gegen die griechisch-katholische Geistlichkeit nach sich. 19�9 wurde schließlich die karpato-ukrainische griechisch-katholische Diözese Munkatsch ebenfalls dem Moskauer Patriarchat einverleibt. Rückzugsgebiete des Brester Unionsgedankens wurden unter kommunistischer Herrschaft zum einen der Untergrund, wo eine rege Seelsorge- und Bildungstätigkeit einsetzte, zum anderen Regionen in der östlichen Slowakei und punktuell in Polen und zum dritten die ukrainische Migrationsbewegung. Insbesondere im Westen wurde nach 1960 die Errichtung eines ukrainisch-katholischen Patriarchates vorangetrieben. In der Ukraine selbst bekehrten staatliche sowjetische und kirchliche Behörden zwei bis drei Millionen Anhänger der Union zur Orthodoxie. Dagegen hatte die im Untergrund agierende griechisch-katholische Kirche seit 1975 Rückhalt bei der Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) und in Rom, von wo aus der Metropolit von Halyč, Josyf Slipyj, seit seiner Emigration 1963 bis zu seinem Tod 198� wirkte. Die kleinste Zahl von Anhängern der Union lebte nach 1945 in der Slowakei, da der Großteil der Karpato-Ukraine der Sowjetunion zugefallen war. Lediglich die Diözese Prešov befand sich auf dem Gebiet des tschechoslowakischen Staates. Auch diese slowakische unierte Gemeinde mußte 1950 zur Orthodoxie konvertieren. Im Untergrund bestand weiterhin eine unierte Seelsorge, deren Priester sich nicht selten als Fabrikarbeiter tarnten. Die Wiederzulassung der griechisch-katholischen Kirche war eine der ersten 901

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Maßnahmen der Regierung Dubček während des „Prager Frühlings“ 1968: Von 2�1 betroffenen Gemeinden blieben lediglich fünf orthodox. Selbst nach der Intervention durch den Warschauer Pakt sah die neue tschechoslowakische Regierung von einem neuerlichen Verbot der unierten Kirche ab. In Polen war die Situation durch die Westverschiebung des Staatsterritoriums nach dem Zweiten Weltkrieg brisanter: Etwa 270.000 Ukrainer und Lemken waren von Umsiedlungsaktionen aus Ostgalizien und Westweißrußland ins südliche Ostpreußen, nach Pommern und Schlesien unmittelbar betroffen. Die griechisch-katholische Kirche stand bei den häufigen Konflikten zwischen römisch-katholischer Kirche und kommunistischem Staat in der Regel abseits und war somit relativ sicher. Ihre Gemeinden waren zwar dem Primas von Polen unterstellt, wurden aber dennoch nicht aufgelöst. Die Priesterausbildung erfolgte zwar im Rahmen der römisch-katholischen Hochschule in Lublin, sie blieb auf diese Weise aber möglich. Der Gedanke der Union von Brest hatte also unmißverständlich nationale Implikationen angenommen, die beim Zusammenbruch des sowjetischen Systems evident wurden. Die Forderung nach der Wiederherstellung der Union in der Westukraine wurde nun zum Massenphänomen und führte zur Legalisierung der griechisch-katholischen Kirche im Dezember 1989. Slipyjs Nachfolger Myroslav Ivan Ljubačivs’kyj übersiedelte 1991 von Rom nach Lemberg. Die folgenden Jahre waren von Bemühungen um eine Ökumene zwischen römischem Katholizismus und Orthodoxie bestimmt, die allerdings Marginalisierungsängste und Widerstände der Unionsanhänger hervorriefen. Rom gestand der griechisch-katholischen Kirche in Polen 1989 einen eigenen Weihbischof für die Diözese Przemyśl zu: Jan Martyniak wurde 1991 zum Diözesanbischof erhoben. In der Stadt kam es im selben Jahr im Rahmen eines Besuchs von Papst Johannes Paul II. zu Auseinandersetzungen um die Karmeliterkirche. Eine Diözesanreform ordnete das Bistum im folgenden Jahr ausdrücklich der lateinischen Kirchenprovinz Warschau zu. Nach dem Protest der Griechisch-Katholischen über diesen Schritt unterstellte sich der Heilige Stuhl 1993 die Diözese Przemyśl direkt, wodurch die griechisch-katholische Kirche Polens in den Genuß des unmittelbaren Schutzes des Papstes kam; Martyniak blieb jedoch Mitglied der polnischen Bischofskonferenz. 1996 wurde er schließlich im Rahmen einer neuerlichen Reform zum Erzbischof und Metropoliten der Metropolie Przemyśl-Warschau erhoben. In der westlichen Ukraine hingegen erlangte die griechisch-katholische Kirche im Zuge der Unabhängigkeit seit 1991 rasch ihre dominante Position wieder. Sie zählt hier über 3.000 Pfarren (2003). In Weißrußland bekennen sich heute nur wenige Tausend Gläubige in ihrem Sinn. Gelegentliche Auseinandersetzungen zwischen Katholizismus und Orthodoxie in der Ukraine standen bald im Schatten der Auseinandersetzungen zwischen einer nach Moskau und einer anderen, nach Kiew orientierten Orthodoxie. Ein wesentlicher Schritt zur Verständigung, aber auch zur anhaltenden Diskussion über die konfessionellen Beziehungen waren die Feiern zum 400. Jahrestag der Union im Jahr 1996, die von nahezu sämtlichen griechisch-katholischen Gemeinden und an vielen Orten in der Ukraine begangen wurden. Ljubomyr Husar, das Haupt der griechisch-katho902

Die Union von Brest

lischen Kirche, führte seit 2001 den Titel eines Großerzbischofs von Lemberg und seit der Verlegung des Metropolitansitzes nach Kiew 2005 den eines Großerzbischofs von Kiew-Halyč. Er trat im Februar 2011 aus Altersgründen zurück. Die Brester Union als nationaler und religiöser Erinnerungsort nahm seit den 1980er Jahren innerhalb der Debatten um die nationale, kulturelle und geistige Ausrichtung der modernen ukrainischen Nation eine Schlüßelrolle ein.

„Die Predigt Skargas“ (Jan Matejko, 186�). Das Gemälde des wichtigsten polnischen Historienmalers des 19. Jahrhunderts stellt eine Predigt von Piotr Skarga, der als einer der Initiatoren der Union von Brest gilt, vor König Sigismund III. Wasa dar. Es entstand ganz im Rahmen des polnischen Januaraufstandes und bezeugt eine in diesen Jahren verstärkte polnisch-nationale Deutung der Ereignisse des ausgehenden 16. Jahrhunderts. Bildnachweis: Nationalmuseum Warschau.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen WeLyKyi, Athanasius G. (Hg.): Documenta unionis Berestensis eiusque auctorum (1590–1600). Roma 1970.

b) Darstellungen KaMensKiJ, Dmitrij Bantyš: Istoričeskoe izvestie o voznikšej v Poľše Unii [Historische Materialien und Dokumente zur in Polen entstandenen Union]. Moskva 1805; spiLLMann, Joseph: Die Union von Brest. Eine Episode des Kampfes zwischen Einheit und Schisma in der ruthenischen Kirche. In: Stimmen aus

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Christoph Augustynowicz Maria-Laach. Katholische Blätter 10 (1876) �17–�39, 11 (1876) 77–100, 38�–�02; ders.: Joseph Velami Rutski und der hl. Josaphat Kuncewicz, die beiden Vorkämpfer der Union von Brest. In: Stimmen aus Maria-Laach. Katholische Blätter 12 (1877) 61–76, 150–169, 395–�10, �89–508; peLesz, Julian: Geschichte der Union der ruthenischen Kirche mit Rom von den ältesten Zeiten bis auf die Gegenwart, Bd. 1–2. Wien 1878–1880; LiKoWsKi, Edward: Unia Brzeska [Die Union von Brest] (1596). Poznań 1896; MasLanyK, Franz: Kurzer Umriß der inneren Verhältnisse in der Halitscher Metropolie bis zum Jahr 1590. Ein Beitrag zur Geschichte der Union von Brest. Innsbruck 1928; WaGner, Oskar: Die Union von Brest im Lichte des polnischen Staatsgedankens. Wien 1929; LeWicKi, Kazimierz: Książę Konstanty Ostrogski a Unja Brzeska 1596 r. [Fürst Konstantin Ostrogski und die Union von Brest von 1596]. Lwów 1933; haLecKi, Oskar: From Florence to Brest (1�39–1596). Rome 1958; Madey, Johannes: Kirche zwischen Ost und West. Beiträge zur Geschichte der Ukrainischen und Weißruthenischen Kirche. München 1969; veLyKy, Atanasii: Berestia, Church Union of. In: KubiJovyč, Volodymyr (Hg.): Encyclopedia of Ukraine, Bd. 1. Toronto/Buffalo/London 198�, 205f.; MaGocsi, Paul R./KraWchuK, Andrii (Hg.): Morality and Reality. The Life and Times of Andrej Sheptysky. Edmonton 1989; zLepKo, Dmitrij: Die Ukrainische Katholische Kirche – orthodoxer Herkunft, römischer Zugehörigkeit. München 1991; dzięGieLeWsKi, Jan: Unia Brzeska 1596 [Die Union von Brest 1596]. In: Encyklopedia Historii Polski. Dzieje Polityczne, Bd. 2. Warszawa 1995, 50�f.; stricKer, Gerd: GriechischKatholische Kirche – Union von Brest. In: Menschen, Bernhard (Hg.): Rußland – Politik und Religion in Geschichte und Gegenwart. Nettetal 1995, 120–137; Analecta Ordinis S. Basilii Magni. Anno CCC Unionis Berestensis et CCCL Unionis Užhorodensis. Roma 1996; bociurKiW, Bohdan Rostyslav: The Ukrainian Greek Catholic Church and the Soviet State (1939–1950). Edmonton/Toronto 1996; GaJduK, Nikolaj: Brestskaja unija 1596 goda [Die Union von Brest im Jahr 1596]. Minsk 1996; stirneMann, Alfred/WiLfinGer, Gerhard (Hg.): Religion und Kirchen im alten Österreich. Innsbruck/Wien 1996; zaKrzeWsKi, Andrzej J./fałoWsKi, Janusz (Hg.): 400-lecie Unii Brzeskiej [400 Jahre Union von Brest]. Częstochowa 1996; Groen, Bert/van den bercKen, Wil (Hg.): Four Hundred Years Union of Brest (1596–1996). A Critical Re-Evaluation. Leuven 1998; hiMKa, John-Paul: Religion and Nationality in Western Ukraine. The Greek Catholic Church and the Ruthenian National Movement in Galicia, 1867– 1900. Montreal u. a. 1999; GudziaK, Borys A.: Crisis and Reform. The Kyivan Metropolitanate, the Patriarchate of Constantinople, and the Genesis of the Union of Brest. Harward 2001; pLoKhy, Serhii/ sysyn, Frank E. (Hg.): Religion and Nation in Modern Ukraine. Edmonton/Toronto 2003; yeKeLchyK, Serhy: Uniate Church. In: MiLLar, James (Hg.): Encyclopedia of Russian History, Bd. 4. New York u. a. 2004, 1605f.; Marte, Johann (Hg.): Internationales Forschungsgespräch der Stiftung PRO ORIENTE zur Brester Union. Würzburg 2004; ders.: Internationales Forschungsgespräch der Stiftung PRO ORIENTE zur Brester Union II. Würzburg 2005; BrüninG, Alfons: Unio non est unitas. Polen-Litauens Weg im konfessionellen Zeitalter. Wiesbaden 2008; Marte, Johann/turiJ, Oleh (Hg.): Die Union von Brest (1596) in Geschichte und Geschichtsschreibung: Versuch einer Zwischenbilanz. Lviv 2008; sKinner, barbara: The Western Front of the Eastern Church. Uniate and Orthodox Conflict in 18th-Century Poland, Ukraine, Belarus, and Russia. De Kalb 2009; doLbiLov, Michajl: russkij kraj, čužaja vera. Ėtnkonfessionaľnaja politika imperii v Litve i Belorussii pri Aleksandre II [Russisches Land, fremder Glaube. Die ethnokonfessionelle Politik des Reichs in Litauen und Weißrußland unter Aleksandr II.]. Moskva 2010; Marte, Johann u. a. (Hg.): Die Brester Union. Forschungsresultate einer interkonfessionellen und internationalen Arbeitsgemeinschaft der Wiener Stiftung PRO ORIENTE. Teil 1: Vorgeschichte und Ereignisse der Jahre 1595/96. Würzburg 2010.

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Die Union von Marča I. Zusammenfassung. – II. Geschichtlicher Überblick. – III. Die Union im historischen Gedächtnis. – a) Im 19. Jahrhundert. – b) Von der Zwischenkriegszeit bis zur Gegenwart. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Unter allen Versuchen, orthodoxe Südslawen in eine Union mit Rom zu bringen, hatte die 1611 beschlossene Union von Marča auf dem Gebiet an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze den anhaltendsten Einfluß. Obwohl die Mehrheit der orthodoxen Bevölkerung dort die Union nicht annahm und sich die Union von Marča auf Dauer nur in einem begrenzten Gebiet gehalten hat, kam ihr im Wettkampf der nationalen Identitätsentwürfe von Serben und Kroaten seit dem 19. Jahrhundert eine ungemein wichtige Rolle zu.

II. Geschichtlicher Überblick In der katholischen Kirche gewann nach dem Mißerfolg der Union von Florenz die Idee regionaler Unionen an Boden, die das grundsätzliche Bemühen um eine Kircheinheit trotz theologischer, ekklesiologischer und politischer Unterschiede bezeugen. Dabei hatte die Union von Marča in der Militärgrenze der Habsburgermonarchie die größte Bedeutung, was die Anbindung der (orthodoxen) Südslawen an Rom betrifft. Das Sankt Michaelskloster in Marča im Komitat Varaždin an der slawonischen Militärgrenze wurde 1611 zum Sitz eines neuen griechisch-katholischen Bistums erhoben. Obwohl das ganze Königreich Ungarn, zu dem auch Kroatien gehörte, zum Jurisdiktionsbereich des ersten Amtsinhabers, Bischof Simeon Vratanja, erklärt wurde, beschränkte sich dessen Rechtsprechung hauptsächlich auf die Militärgrenze. Dort waren seit dem späten 16. Jahrhundert Orthodoxe angesiedelt worden. Die Mehrheit der orthodoxen Bevölkerung an der Militärgrenze nahm die Union jedoch nicht an, da der Wiener Hof in der ersten Hälfte des 17. Jahrhunderts auf eine Durchsetzung der Pläne verzichtete, um Unruhen unter der Grenzbevölkerung zu verhindern. Nicht wenige der Bischöfe zogen die Obhut des Patriarchats von Peć der Oberhoheit der Päpste vor, jedenfalls bis 1671, als Pavao Zorčić zum griechisch-katholischen Bischof ernannt wurde. Er war vom Wiener Hof ausgewählt worden und nicht von der orthodoxen Grenzbevölkerung, wie das zuvor der Fall gewesen war. Zorčić war der erste griechisch-katholische Bischof von Marča, der katholische Schulen besucht und am Collegium Illirico-Hungaricum in Bologna studiert hatte. Sowohl er als auch die Bischöfe von Marča nach ihm suchten die Bestätigung von Rom, nahmen die Position eines Vikars des Zagreber Bischofs für die Christen des griechischen Ritus an und lösten alle Verbindungen mit den orthodoxen Patriarchen von Peć. Daher verloren sie unter den 905

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Gläubigen, Priestern und Ordensgeistlichen an Rückhalt. Nach der Ankunft des Patriarchen von Peć, Arsenij III. Crnojević, in der Monarchie und der Gründung der orthodoxen Metropolie Karlovac waren die griechisch-katholischen Bischöfe von Marča nur mehr für eine geringe Zahl von Gläubigen zuständig. Das einzige Gebiet, auf dem die Union von Marča später dennoch dauerhaft wirkte, war Žumberak im Komitat Karlovac. Diese kleine Enklave war umgeben von sogenannten Zivilterritorien: Kranjska im Norden, Westen und Südwesten sowie Kroatien im Südosten. Das Gebiet wies eine Bevölkerung von lediglich 6.000 Menschen auf, die von der habsburgischen Regierung leicht unter Druck gesetzt werden konnten. 1750 begann der österreichische Militärkommandant Leopold Eugen Freiherr von Scherzer eine systematische Kampagne zur Vertreibung des verbliebenen orthodoxen Klerus und zur Durchsetzung der Loyalität der Bevölkerung zum unierten Bistum. Der orthodoxe Bischof von Karlovac Danilo Jakšić bemühte sich, seine kirchliche Jurisdiktion auch in Žumberak zu verstärken. Der Wiener Hof ließ dies jedoch nicht zu und verbot ihm schon 1770 jegliche Tätigkeit dort. Gleichzeitig versuchte Maria Theresia das Problem der Zugehörigkeit des Klosters und der Kirche von Marča zu lösen, was die orthodoxen Bewohner an der Militärgrenze des Varaždiner Generalats 1717 insofern förderten, als sie die Auffassung vertraten, Marča gehöre ihnen und nicht den griechisch-katholischen Gläubigen. Der Kriegsrat beschloß daraufhin, daß sich in Marča den vorhandenen Quellenbelegen nach nur griechisch-katholische Bischöfe befinden dürften. Dennoch wiederholten die orthodoxen Repräsentanten ihre Forderung, als der Wiener Hof 173� im Varaždiner Generalat das orthodoxe Bistum Lepavina-Severin mit Sitz in Severin gründete. Die orthodoxen Grenzbewohner vertrieben 1735 den neuen griechisch-katholischen Bischof, Silvester Ivanović, aus Marča. Ein neuer griechisch-katholischer Bischof, Teofil Pašić, wurde erst 1738 ernannt, das Zentrum des Bistums aber war fortan nicht mehr Marča, sondern Pribić in Žumberak. Im selben Jahr beschloß der Wiener Hof, Marča der Jurisdiktion des Zagreber Bischofs zurückzugeben, allerdings steckten orthodoxe Grenzbewohner das Kloster und die Kirche von Marča im Juni 1739 in Brand. Als 1751 ein neuer griechisch-katholischer Bischof, Gabrijel Palković, ernannt worden war, erließ Maria Theresia eine Anordnung für die Einwohner an der Militärgrenze, daß die Union nicht mit Gewalt eingeführt werden solle. Marča solle nicht den orthodoxen Gläubigen gehören, weil es den griechisch-katholischen Gläubigen ungerechtfertigterweise entzogen worden sei. Sie forderte von der Hierarchie der orthodoxen Metropolie in Karlovac, sich von Marča zu trennen. Der Befehlshaber des Generalats von Varaždin, Benvenuto von Petazzi, wurde angewiesen, orthodoxe Geistliche und Ordensleute aus Marča und dessen Umgebung zu entfernen. Die orthodoxen Vertreter verzichteten auf der Versammlung in Severin 1755 unter der Bedingung, daß sie der römisch-katholischen Kirche und nicht der griechisch-katholischen zufiele, auf alle Rechte an Marča, woraufhin die Kirche dem Piaristenorden übergeben wurde. Die Ordensleute kamen bereits 1755 nach Marča und eröffnete dort eine Schule, die sich aber aufgrund von Spannungen mit ihrem Mutterhaus und wegen der Entfernung 906

Die Union von Marča

Marčas von den Hauptverkehrsstraßen nicht halten konnte und nach Bjelovar verlegt wurde. Als Maria Theresia beschloß, die in Ungarn bestehenden griechisch-katholischen Bistümer aus der Jurisdiktion der römisch-katholischen Bischöfe zu nehmen und sie als unabhängige Bistümer zu errichten, schlug der griechisch-katholische Bischof Bazilije Božičković als Mittelpunkt eines neuen, unabhängigen griechisch-katholischen Bistums die Stadt Križevci vor, in der bereits ein griechisch-katholisches Kloster bestand. Papst Pius VI. gründete 1777 auf Vorschlag Maria Theresias das selbständige griechisch-katholische Bistum Križevci. Es zählte zunächst nur wenige Tausende Gläubige in Žumberak; später nahm es griechisch-katholische ruthenische Siedler aus Kroatien und Bosnien auf. Das Bistum existiert bis heute. III. Die Union im historischen Gedächtnis a) Im 19. Jahrhundert Obwohl die Union von Marča im ursprünglich vorgesehenen Territorium faktisch gescheitert ist und über lange Zeit nur auf einem sehr kleinen Gebiet Bestand hatte, fiel ihr doch eine bemerkenswerte Rolle in den nationalen Identitätsentwürfen von Serben und Kroaten zu. Der Streit über die Union wurde in verschiedenen Situationen wiederbelebt und als Argument in der kroatischen und serbischen Politik im Habsburgerreich eingesetzt. Die Instrumentalisierung des historischen Gedächtnisses zu religiösen Konflikten der Vergangenheit war auf beiden Seiten gebräuchlich. Außerdem entwickelte sich der Nationalismus von Serben und Kroaten innerhalb einer jeweils einheitlichen Kirche, der während dieser kritischen Periode zentrale Funktionen der sozialen und kulturellen Organisation zukamen. In diesem Zusammenhang bot die Geschichte der Unionsversuche reichliches Material für die Kristallisation und Gestaltung nationaler Diskurse. Serbische Historiker betrieben die Geschichtsschreibung des Klosters in der Diözese von Marča vom 19. Jahrhundert an im Kontext der Erforschung der Ursprünge des serbischen Volkes in Kroatien, der Geschichte der serbisch-orthodoxen Kirche in Kroatien und der Geschichte der Militärgrenze. Die Metropolie von Karlowitz, die später zur serbisch-orthodoxen Kirche umgestaltet wurde, spielte im serbischen Geschichtsbild eine entscheidende Rolle in dem jahrhundertelangen Kampf um die Bestätigung und Bewahrung der Rechte der orthodoxen Kolonisten und diente als Speerspitze gegen die Vorstellung einer angeblichen unierten Verschwörung. Lange habe die Metropolie sprachliche und kulturelle Reformen mit dem Vorwand zurückgewiesen, daß diese Serben in die Union bringen würden. Andererseits lehnten katholische Historiker die Auffassung ab, daß die Einführung der Union unmittelbar mit der Veränderung der ethnischen oder nationalen Identität der Gläubigen zusammenhing. Vielmehr wurde die Überwindung der bestehenden theologischen Auseinandersetzungen des katholischen Westens und des orthodoxen Ostens betont. Hingegen unterstrich die serbische Geschichtsschreibung die Rolle der konfessio907

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nellen Identität sowie die Unterordnung der christlich-orthodoxen Gläubigen unter das Patriarchat von Peć sowie deren Zugehörigkeit zur serbischen Ethnie. Die Union zeige, mit welchen Mitteln die katholische Kirche und Wien versucht hätten, die ethnischen Besonderheiten und das nationale Bewußtsein des serbischen Volkes vom 16. Jahrhundert an auszulöschen. Gemäß der serbischen Geschichtsschreibung ist das serbische Volk als orthodoxes Volk unter dem Patriarchen von Peć geeint, das auch Ungarn, Kroatien, das venezianische Dalmatien sowie die Militärgrenze umfassen sollte. Der Widerstand der orthodoxen Bewohner an der Militärgrenze gegen die Union wird als Kampf für das nationale Überleben des serbischen Volkes in Kroatien und für die Erhaltung der serbischen Identität ab dem frühen 17. Jahrhundert beschrieben. Die serbische Geschichtsschreibung bezieht sich auf die kirchliche Tradition der serbisch-orthodoxen Kirche und der Diözese und sieht Marča als serbisches und orthodoxes Bistum. Sie erklärt dessen Entstehen durch die Ansiedlung von Serben im Kreis Varaždin schon im 15. Jahrhundert oder aber mit den Entscheidungen des Generallandtags in Bruck an der Mur 1578 und der Einsetzung des orthodoxen Bischofs Gabriel in Varaždin. Neben dem Abschluß der Ansiedlung orthodoxer Christen der serbischen Volksgruppe an der Militärgrenze beweise die Union die These, der Staat und die Behörden der Militärgrenze sowie die katholische Kirche hätten gemeinsamen Druck auf die orthodoxen Serben in der Krajina ausgeübt. Mit keinem Wort erwähnte die serbische Geschichtsschreibung jedoch Konversionen vom katholischen Gläubigen zur Orthodoxie. Die Bischöfe von Marča ließen sich in der Zeit zwischen 1630 und 16�8 in Peć und nicht in Rom weihen. Dies diente der serbischen Historiographie als Beweis ihrer angeblichen Rolle als Verteidiger des Serbentums und der vermeintlich ausschließlich serbischen Untertanen an der Militärgrenze im Geltungsbereich des Gesetzeskorpus der Statuta Valachorum. In ihren Augen war die Religionspolitik des Wiener Hofes während des Bestehens des Bistums von Marča ein Beispiel für die intolerante Politik der prokatholischen habsburgischen Behörden gegenüber den Serben. Obwohl Wien beschlosen hatte, Marča der orthodoxen Kirche mit dem Argument zu entziehen, daß das Kloster immer ein Sitz der griechisch-katholischen Kirche gewesen sei, blieb es in der serbischen historischen Erinnerung ein integraler Bestandteil der Geschichte der serbisch-orthodoxen Kirche und der Serben in Kroatien als Sitz ihrer ersten Diözese in der Habsburgermonarchie. Als interethnische und interreligiöse Spannungen im 19. Jahrhundert an Bedeutung gewannen, gewann auch die historische Deutung der Union an Gewicht. Auf der katholischen beziehungsweise kroatischen Seite waren fast alle Autoren, deren Arbeiten sich mit der Geschichte der Vereinigung befaßten, katholische Prälaten. Wenn sie nicht bestritten, daß die Vereinigung nie vollzogen worden war, verwarfen sie für gewöhnlich die These einer erzwungenen oder opportunistischen Annahme der Union. Außerdem behaupteten sie, daß die von ihr Betroffenen orthodoxe Kroaten, Walachen, Albaner und eben keine Serben gewesen waren. Während die kroatischen Autoren auf dem walachischen ethnischen Ursprung der Unierten beharrten, waren sich die serbischen Autoren darin einig, die Union als Mittel zu verdammen, das serbische nationale Bewußtsein zu verändern und die Assimilation von Serben und Kroaten zu erreichen. Serbische Autoren 908

Die Union von Marča

Plakat zur Feier des �00. Jahrestages der Union von Marča 2011, das auf die Erneuerung der kirchlichen Einheit in Kroatien und die Einrichtung des griechisch-unierten Bistums in Marča abhebt. In der Mitte ist eine frühneuzeitliche Darstellung der Muttergottes mit Kind mit kirchenslawischer Inschrift zu sehen. Bildnachweis: Udruga Uskok Sošice (Verband der Uskoken von Sošice).

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sahen häufig kritiklos alle Akteure der Union als Feinde, die sich bemühten, die angeblich gefestigte serbische nationale Identität der Gläubigen zu zerstören. Insbesondere die katholische Kirche wurde als Gegner aller Serben beschrieben. Die Historiker der Militärgrenze, die sich im Laufe des 19. Jahrhunderts in Kroatien mit der Geschichte der Diözese von Marča und der Union beschäftigten, verwiesen in erster Linie auf Werke der serbischen Geschichtsschreibung, etwa auf die zweibändige Darstellung Johann von Csaplovics’ Slavonien und zum Theil Croatien. Ein Beitrag zur Völker- und Länderkunde aus dem Jahr 1819. Dessen spärliche Informationen über das Bistum Marča als serbisch-orthodoxe Diözese mit Sitz Marča, das der Wiener Hof zu Unrecht und unter ständigem Druck der Militärregierung und der katholischen Kirche den orthodoxen Bewohnern an der Militärgrenze weggenommen habe, akzeptierten viele kroatische und ausländische Historiker, obschon der Text von Csaplovics viele sachliche und zeitliche Fehler aufwies. Auch die Darstellung von Johann Heinrich Schwicker Zur Geschichte der kirchlichen Union in der Croatischen Militärgrenze (187�) erwies sich als einflußreich bei der weiteren Festigung der historiographischen und erinnerungskulturellen Diskurse. b) Von der Zwischenkriegszeit bis zur Gegenwart Die intensivste Zeit der Kontroversen über die Union waren die 1920er und 1930er Jahre, als auf kroatischer Seite mehrere Arbeiten des griechisch-katholischen Bischofs Janka Šimrak erschienen. Dessen Aussagen über die angeblich massenhafte und freiwillige Annahme der orthodoxen Union unter den Grenzleuten (Walachen) in Marča im Frühjahr 1611 sind allerdings nicht durch andere Quellen belegt – genausowenig wie andere Thesen des Autors: zur zögerlichen Haltung der Wiener Hof- und Militärbehörden gegenüber den griechisch-katholischen Bischöfen in Marča, mit Hilfe militärischer Macht die Union auszuweiten, zur Bevorzugung der orthodoxen Bischöfe und des Klerus in der Krajina und zur Mitschuld der Bischöfe von Zagreb am Scheitern bei der Ausweitung der Union. In Kroatien wurden diese Thesen nur von Historikern und Theologen der katholischen Kirche rezipiert, die neben dem Bistum von Marča die dogmatischen und ekklesiologischen Unterschiede zwischen den beiden Kirchen und die Beziehungen der katholischen Kirche zum orthodoxen Patriarchat von Peć während der Frühen Neuzeit untersuchten. Auf der serbischen Seite erschienen zwischen den Weltkriegen bedeutende Werke von Aleksandar Ivić und Radoslav Grujić. Ein gemeinsames Merkmal dieser Historiker ist eine durchweg negative Bewertung der habsburgischen Religionspolitik in der Krajina. Uneinigkeit gab es über die Frage nach den Ursachen, die den Wiener Hof auf eine gewaltsame Einführung der Union drängen ließen, die letztlich ihr Scheitern begünstigte und zu einer Stärkung der serbisch-orthodoxen Kirche im Gebiet der Krajina führte. In den Auseinandersetzungen zwischen den Kirchen und ihren Gelehrten im Jugoslawien der Zwischenkriegszeit festigte sich die Verbindung von Religion und Nation, um den Gegensatz zwischen Serben und Kroaten ideologisch zu festigen. Im Zweiten 910

Die Union von Marča

Weltkrieg radikalisierten sich diese Antagonismen zwischen beiden Völkern zu maßloser Gewalt. Orthodoxe beziehungsweise Serben wurden durch das faschistische Regime der kroatischen Ustaša verfolgt und in großer Zahl getötet, einschließlich der meisten Bischöfe. Neben Strategien der Vertreibung, Tötung oder der Bekehrung zum Katholizismus kam es zum Versuch, den Krieg als eine Gelegenheit zu nutzen, das alte Projekt der Union mit Rom in die Tat umzusetzen. Der Sieg der kommunistischen Partisanen führte zu einer verhältnismäßig ruhigen Zeit, bis die Debatten über die Union im Jugoslawien der 1980er Jahre wiederbelebt wurden. Insbesondere in der serbischen nationalistischen publizistischen Kampagne spielten sie eine wichtige Rolle. Für die serbische öffentliche Meinung wurde die Vereinigung von Marča direkt mit den gewaltsamen Bekehrungen und Hinrichtungen von Serben im Ustaša-Kroatien während des Zweiten Weltkriegs in Verbindung gebracht. Außerdem wurden neue Versionen der vermeintlichen unierten Verschwörung in Serbien entworfen, um der veränderten Situation zu entsprechen. So gewann diese die Bedeutung eines Paradigmas, um mit allen Arten des Ungehorsams und des Widerstands gegen die Rhetorik der nationalen Einheit und nationalen Verpflichtung umzugehen. Heute gibt es nicht mehr als 3.000 Angehörige der Unierten Kirche, die verlassen in den hügeligen Dörfern von Žumberak leben, einer Randregion Kroatiens an der Grenze zu Slowenien. Die Union von Marča versagte offensichtlich, aber sie hatte bedeutende negative Folgen. So wurde durch sie die Kluft zwischen Orthodoxie und Katholizismus vertieft. Außerdem wurden die verschiedenen Deutungen der Ereignisse, die die Union von Marča umgeben, als demagogische Waffen in verbalen Auseinandersetzungen oder in echten Konflikten zwischen serbischen und kroatischen Nationalisten – besonders in den Zeiten politischer und gesellschaftlicher Krisen – verwendet, um Gefühle nationaler Antagonismen anzustacheln.

IV. Auswahlbibliographie a) Quellen niLLes, Nicolaus: Symbolae ad illustrandam historiam Ecclesiae Orientalis in terris Coronae S. Stephani [...], Bd. 1–2. Innsbruck 1885; suttner, Ernst Christoph: Quellen zur Geschichte der Kirchenunionen des 16. bis 18. Jahrhunderts. Freiburg 2010.

b) Darstellungen csapLovics, Johann von: Slavonien und zum Theil Croatien. Ein Beitrag zur Völker- und Länderkunde. Theils aus eigener Ansicht und Erfahrung (1809–1812), theils auch aus späteren zuverlässigen Mittheilungen der Insassen, Bd. 1–2. Pesth 1819; Lopašić, Radoslav: Žumberak. Zagreb 1881; SchWicKer, Johann Heinrich: Zur Geschichte der kirchlichen Union in der Croatischen Militärgrenze. Eine geschichtliche Studie nach den Acten des Archives der ehemaligen königlich ungarischen Hofkanzlei. In:

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Bojan Aleksov/Zlatko Kudelić Archiv für österreichische Geschichte 52 (187�) 275–�00; Grbić, Manojlo: Karlovačko vladičanstvo [Das Bistum Karlovac], Bd. 1–3. Karlovac 1891–1893; Badovinac, Nikola: Žumberak i Marindol [Žumberak und Marindol]. Zagreb 1896; GruJić, Radoslav: Propast manastira Marče – po arhivskim podacima [Der Niedergang des Klosters Marča auf der Grundlage von Archivalien]. Zagreb 1908; Kostić, Mita: Carski duhovnici propagatori unije među Srbima [Kaiserliche Kleriker als Propagandisten der Union unter den Serben]. Sremski Karlovci 1922; ŠiMraK, Janko: Povijest Marčansko-svidničke eparhije i crkvene unije u jugoslovenskim zemljama [Geschichte des Bistums Marča und der kirchlichen Union in den südslawischen Ländern]. In: Bogoslovska smotra 12 (192�) 6�–81, 178–181, 305–311, �13–�18; GruJić, Radoslav: Marčanska unija i unija u Žumberku [Die Unionen von Marča und Žumberak]. Sremski Karlovci 1938; Nežić, Carolus: De Pravoslavis Jugoslavis saec. XVII ad Catholicam Fidem Reversis. Romae 1940; Radonić, Jovan: Rimska kurija i Južnoslovenske zemlje od XVI do XIX veka [Die römische Kurie und die südslawischen Länder vom 16. bis 19. Jahrhundert]. Beograd 1950; vries, Wilhelm de: Rom und die Patriarchate des Ostens. Freiburg/München 1963; LacKo, Michael: Unionsbewegungen im slavischen Raum und in Rumänien. In: nyssen, Wilhelm/ schuLz, Hans-Joachim/Wiertz, Paul (Hg.): Handbuch der Ostkirchenkunde, Bd. 1. Düsseldorf 198�, 269–286; Džudžar, Giorgio: La chiesa Cattolica di Rito Bizantino-Slavo in Jugoslavia. Roma 1986; Kašić, Dušan: Otpor Marčanskoj uniji. Lepavinsko-severinska eparhija [Widerstand gegen die kirchliche Union von Marča. Die Diözese Lepavina-Severin]. Beograd 1986; IKić, Niko, Der Begriff „Union“ im Entstehungsprozeß der unierten Diözese von Marča (Križevci). St. Ottilien 1989; PiriGyi, István: A magyarországi görög katolikusok története [Geschichte der Griechisch-Katholischen in Ungarn], Bd. 1–2. Nyíregyház 1990; GavriLović, Slavko: Iz istorije Srba u Hrvatskoj, Slavoniji i Ugarskoj XV– XVIII vek [Aus der Geschichte der Serben in Kroatien, Slawonien und Ungarn. 15.–18. Jahrhundert]. Beograd 1993; ders.: Unijaćenje Srba u Hrvatskoj, Slavoniji i Baranji (XVI–XVIII vek) [Unionen von Serben in Kroatien, Slawonien und der Baranja. 16.–18. Jahrhundert]. In: RanKović, Dragutin (Hg.): Srpski narod van granica današnje SR Jugoslavije od kraja XV veka do 191�. godine. Beograd 1996, 37–�7; Kaser, Karl: Freier Bauer und Soldat. Die Militarisierung der agrarischen Gesellschaft an der kroatisch-slawonischen Militärgrenze (1535–1881). Wien 1997; Maner, Hans-Christian: Unierte Kirchen und Nationsbildungsprozesse im ostmitteleuropäischen Vergleich. In: Comparativ 8/5 (1998) 92–105; Jeftić, Atanasije: O unijaćenju na prostoru Srpske pravoslavne crkve [Über die Union auf dem Gebiet der serbisch-orthodoxen Kirche]. In: DiMitriJević, Vladimir (Hg.): Pravoslavna crkva i Rimokatolicizam. Gornji Milanovac 2002, 332–346; buGeL, Walerian: Ekleziologie Užhorodké unie a jejích dědiců na pozadí doby [Die Ekklesiologie der Union von Užhorod und ihr Erbe für die Nachwelt]. Olomouc 2003; Kašić, Dušan: Srpska naselja i crkve u sjevernoj Hrvatskoj i Slavoniji [Serbische Siedlungen und Kirchen in Nordkroatien und Slawonien]. Zagreb 2004; bahLcKe, Joachim: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005; aLeKsov, Bojan: The ,Union‘ as a Seed of Dissension between Serbs and Croats. In: Maner, Hans-Christian/SpannenberGer, Norbert (Hg.): Konfessionelle Identität und Nationsbildung. Die griechisch-katholischen Kirchen in Ostmittel- und Südosteuropa im 19. und 20. Jahrhundert. Stuttgart 2007, 211–223; KudeLić, Zlatko: Marčanska biskupija. Habsburgovci, pravoslavlje i crkvena unija u Hrvatsko-slavonskoj vojnoj krajini (1611–1755) [Das Bistum Marča. Habsburger, Orthodoxie und kirchliche Union in Kroatien und an der slawonischen Militärgrenze (1611–1755)]. Zagreb 2007; ders.: Čaplovičeva povijest Marčanske biskupije [Die Geschichte des Bistums Marča von Čaplovič]. In: Povijesni prilozi 38 (2010) 135–182.

Bojan Aleksov/Zlatko Kudelić

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Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 I. Zusammenfassung. – II. Der böhmische Ständeaufstand und die Schlacht am Weißen Berg. – III. Die politischen, sozialen und kulturellen Folgen der Schlacht. – IV. Der Weiße Berg in der kollektiven Erinnerung. – a) Die Mythisierung der Schlacht im Barock. – b) Nationale Zuschreibungen im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts. – c) Das Motiv des Weißen Berges in der modernen tschechischen Gesellschaft. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Der Weiße Berg (Bílá hora) ist die geographische Bezeichnung eines Hügels, der mit 382 Metern über dem Meeresspiegel den höchsten Teil des Prager Plateaus bildet; er liegt etwa 6 Kilometer westlich der Prager Burg. Der Name stammt von dem weißen Tonschiefer, den man dort im Mittelalter abbaute. Am 8. November 1620 trafen am Weißen Berg die Truppen der böhmischen Ständekonföderation mit den vereinigten Armeen Kaiser Ferdinands II. und der katholischen Liga mehrerer Reichsfürsten aufeinander. Die Niederlage der Ständearmee bedeutete zugleich das Ende des Aufstands, der mit dem Prager Fenstersturz vom 23. Mai 1618 in Böhmen seinen Anfang genommen hatte. Folge der Schlacht auf dem Weißen Berg waren nicht nur scharfe Gerichts- und Eigentumsstrafen für die am Aufstand Beteiligten, sondern auch radikale politische, soziale und kulturelle Veränderungen in Staat und Gesellschaft Böhmens. Die Schlacht steht ferner für den Übergang von religiöser Pluralität und Glaubensfreiheit hin zum geschlossenen Konfessionsstaat, in dem das katholische Bekenntnis zum Staatsgrundgesetz erhoben wurde. Bílá hora ist mithin nicht nur ein geographischer Ort, wo seit 1920 zur Erinnerung an die Ereignisse drei Jahrhunderte zuvor ein steinernes Denkmal steht, sondern auch und vor allem ein außerordentlicher Erinnerungsort für die tschechische Nation, der zu unterschiedlichen Zeiten verschiedene Wertungen und Zuschreibungen erfuhr. Während der Weiße Berg von den katholischen Landesbewohnern Böhmens und Mährens im 17. und 18. Jahrhundert als Behauptung der römischen Kirche und Sieg des rechtmäßigen Herrschers ausschließlich positiv besetzt war, wertete ihn die sich während des 19. Jahrhunderts konstituierende tschechische Nation als Symbol nationaler Demütigung, politischen Niedergangs und anhaltender kultureller Unterdrückung. Die Niederlage des Ständeaufstands 1620 trennte fortan auch begrifflich zwei große Zeitabschnitte, die gegensätzlicher nicht hätten sein können: die doba predbělohorská, die glanzvolle Epoche vor der Schlacht am Weißen Berg, in der das Königreich Böhmen als ein Paradefeld ständischer Repräsentation und Machtfülle gilt, und die doba pobělohorská, die Epoche nach dem folgenschweren Zusammenstoß von ständischer Libertät und monarchischer Autorität, die fortan als radikaler Bruch mit allen bisherigen Landestraditionen verstanden wurde. 913

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II. Der böhmische Ständeaufstand und die Schlacht am Weißen Berg Die Auseinandersetzung zwischen dem Herrscher und der Ständeopposition im Königreich Böhmen, die einen machtpolitischen und einen religiösen Aspekt besaß, spitzte sich seit Anfang des 17. Jahrhunderts merklich zu. Die Dynastiekrise im Haus Habsburg, die sich nach kurzer Zeit zu einer tiefen Staatskrise entwickelte, trug in den folgenden zwei Jahrzehnten ganz entscheidend zur Radikalisierung der Ständepolitik bei. Der größte Teil der Opposition gehörte evangelischen Bekenntnissen an, während der Monarch und seine Anhänger zum katholischen Lager gehörten und sich innen- wie außenpolitisch auf Rom und die katholischen Mächte, insbesondere auf Spanien, stützen konnten. Der Majestätsbrief für freie Religionsausübung, den Rudolf II. 1609 unter dem Druck der böhmischen und schlesischen Stände erlassen hatte, legalisierte diejenigen evangelischen Kirchen, die sich 1575 zur Confessio Bohemica bekannt hatten. Er sicherte den evangelischen Ständen einschließlich der Brüder-Unität zudem eine gemeinsame und eigenständige Kirchenorganisation zu. Der innere Frieden währte jedoch nicht lange, und auch die Regierungsübernahme von Rudolfs Bruder Matthias brachte keine Wende. Das katholische Lager, das sich um den neuen Herrscher sammelte, suchte schon bald nach 1612 die früheren Zugeständnisse systematisch auszuhöhlen und rückgängig zu machen. Das religiöse und politische Konfliktpotential wuchs besonders in Böhmen an. Die Spannungen gipfelten in der „Defenestrierung“ der kaiserlichen Statthalter auf der Prager Burg am 23. Mai 1618: Der berühmte Fenstersturz markiert den Beginn des böhmischen Ständeaufstands gegen den habsburgischen Oberherrn. Ein Jahr später, im August 1619, wurde Ferdinand II. abgesetzt, der bereits zwei Jahre zuvor als böhmischer König angenommen worden war und nach dem Tod von Matthias im März 1619 die Regierung in Böhmen hätte übernehmen sollen. Die böhmischen Länder schlossen sich Ende Juli in der Confoederatio Bohemica zusammen und wählten mit Kurfürst Friedrich V. von der Pfalz die wichtigste Führungspersönlichkeit der Reformierten im Reich zum neuen König. Mit seiner Wahl hoffte man, nicht nur die Unterstützung der evangelischen Reichsstände, der Union, zu gewinnen, sondern auch die Fürsprache anderer europäischer Höfe. Die Hoffnungen erfüllten sich allerdings nicht; das böhmisch-pfälzische Lager blieb international weitgehend isoliert. Ab Sommer 1620 geriet die Prager Regierung dann vollends in die Defensive. Das ständische Heer war aufgrund ausbleibender Soldzahlungen stark demoralisiert, Fälle von Ungehorsam und Aufruhr häuften sich. Im September fiel die vereinigte Armee des Kaisers und der katholischen Liga in Südböhmen ein. Das Oberkommando hatte formell der bayerische Herzog Maximilian I.; die Truppen der Liga führte Feldmarschall Jan Tserclaes Tilly, der höchste Kommandant des kaiserlichen Heeres war der oberste Feldmarschall Karl Bonaventura Buquoy. Ende Oktober lagen sich die Kaiserlichen und die ständischen Truppen bei Rakonitz gegenüber. Von einigen blutigen Scharmützeln abgesehen, kam es jedoch zu keinen größeren Kampfhandlungen. Zudem bemühten sich die Kommandanten des Ständeheeres, Fürst Christian I. von Anhalt-Bernburg, Georg 914

Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620

Friedrich von Hohenlohe und Heinrich Mattias Graf Thurn, eine Entscheidungsschlacht zu vermeiden. Nüchtern betrachtet war der militärische Zusammenstoß im Spätherbst 1620 eine der kürzesten Schlachten der langjährigen Auseinandersetzung, die Zeitgenossen schon Mitte des 17. Jahrhunderts als Dreißigjährigen Krieg bezeichneten. Aufgrund des Terrains konnte das Heer nur vom Fuß des Berges angegriffen werden. Für größere Befestigungsarbeiten hatte die Zeit allerdings nicht gereicht. Dass es den nach Auflösung des Morgennebels angreifenden kaiserlichen Truppen dennoch in kürzester Zeit gelang, die Schanzen zu ersteigen und dem Gegner alle Vorteile des Geländes zu nehmen, gibt Militärhistorikern bis heute kein geringes Rätsel auf. Auch ist unklar, warum das böhmische Heer bereits nach kaum mehr als einer Stunde nicht nur im Rückzug begriffen war, sondern geradezu in heilloser Flucht das Weite suchte. Es spricht manches dafür, dass ein Zusammenhang zwischen dem überraschenden Rückzug der böhmischen Truppenteile und den auch in dieser Zeit außergewöhnlichen Gewaltexzessen besteht, die innerhalb weniger Stunden mehreren Tausend Menschen das Leben kosteten. Die religiöse Aufladung des Kampfes gegen die aus katholischer Sicht gottlose Ketzerei in Prag, der Glaube an die apokalyptische Endzeit, in der die Heere von Christ und Antichrist unausweichlich zu einer letzten Schlacht aufeinanderträfen, und die Wirkmächtigkeit einzelner Feldprediger haben offenbar das Ihre dazu beigetragen, die katholischen Anhänger des Kaisers zur äußersten Kraftanstrengung anzuspornen. Tatsächlich lassen sich Parallelen zwischen der Schlacht am Weißen Berg und der berühmten Seeschlacht von Lepanto im Jahr 1571 ziehen: Auch im Kampf der Heiligen Liga gegen die Osmanen im Mittelmeer, die in aufwendiger Propaganda als Erbfeinde der Christenheit gebrandmarkt worden waren, hatten Prophezeiungen, religiöse Symbole und mystische Erfahrungen eine beachtliche Rolle gespielt. Bis zu den Toren Prags wurden die völlig erschöpften und demoralisierten Truppen Anhalts von den nachsetzenden Feinden verfolgt. Auf eine Verteidigung der gut befestigten Prager Städte verzichtete man, und eigentümlicherweise unterblieb auch jeder Versuch, die weiterhin kampffähigen Truppen zu sammeln. Als Herzog Maximilian von Bayern um die Mittagszeit des 9. November 1620 in Prag seinen Einzug hielt, hatte Friedrich V., der an der Schlacht persönlich nicht teilgenommen hatte, die Landeshauptstadt bereits Hals über Kopf verlassen. Im Chaos der übereilten Flucht ließ man sogar zwei wichtige Kutschen mit Archivalien und hochbrisanten Korrespondenzen zurück. Die sofort nach München gebrachten Papiere wurden sorgfältig gesichtet, ausgewertet und nach 1621 sukzessive in Auswahl veröffentlicht, um das rechtmäßige Vorgehen der katholischen Seite zu belegen. Der modern anmutende Propagandakrieg, der den militärischen Kampf mit anderen Mitteln fortsetzte, hatte verheerende Wirkungen für die Glaubwürdigkeit der evangelischen Seite und erleichterte dem Kaiser 1623 die mit dem Reichsrecht nicht zu vereinbarende Übertragung der pfälzischen Kurwürde auf den Bayernherzog. Für Friedrich V. selbst aber, der von seinen Gegnern nur noch spöttisch als der „Winterkönig“ tituliert wurde, hatte unmittelbar mit der Schlacht am Weißen Berg ein lebenslanges Exil begonnen. 915

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III. Die politischen, sozialen und kulturellen Folgen der Schlacht Die Schlacht vom 8. November 1620, die zumindest in Böhmen für klare politische Verhältnisse sorgte, bedeutete nicht das Ende der Konflikte in Mitteleuropa. Sie beendete noch nicht einmal den sogenannten böhmisch-pfälzischen Krieg, jenen meist als Einheit gesehenen ersten Abschnitt des Dreißigjährigen Krieges in den Jahren 1618 bis 1623. Die unmittelbare Folge der Schlacht in Böhmen war der Zusammenbruch des Ständeaufstands. König Friedrich und diejenigen Befehlshaber, die mit ihm Prag verlassen hatten, waren nicht in der Lage, weiterhin organisierten Widerstand zu leisten. In den böhmischen Ländern fanden im Laufe des Jahres 1621 Prozesse gegen einige Dutzend der am Aufstand aktiv Beteiligten statt, die nicht rechtzeitig emigriert waren; 27 von ihnen wurden am 21. Juni 1621 auf dem Altstädter Ring in Prag hingerichtet, eine ganze Reihe weiterer Angeklagter blieb im Kerker. Durchschlagend waren die Folgen der Niederlage von 1620 für Verfassung, Politik und Gesellschaft. Der Niederschlagung der Ständeerhebung folgten Vertreibungsaktionen und Zwangsbekehrungen, einschneidende Eingriffe in die bisherige Besitzstruktur und die rechtliche Verankerung eines absolutistischen Herrschaftssystems. Um dem als illoyal eingestuften Adel die ökonomische Grundlage zu entziehen, belegte in den Jahren 1623 bis 1626 eine vom Kaiser eingesetzte Kommission allein in Böhmen 680 Personen sowie 50 Städte mit Vermögensverlust; in der Markgrafschaft Mähren kamen nochmals 300 Adelige hinzu. Nutznießer war nicht nur der heimische katholische Adel, sondern auch und vor allem eine Gruppe auswärtiger Familien, die nun im Lande Fuß faßte. Festgeschrieben wurde die verfassungsrechtliche Systemveränderung nach der Schlacht am Weißen Berg in der „Verneuerten Landesordnung“ für Böhmen (1627) und Mähren (1628), die – wiederholt revidiert – bis ins 19. Jahrhundert gültig blieb. Mit dem Verfassungsoktroi wurde der katholische Glaube als einzige im Land anerkannte Konfession festgeschrieben, die Zusammensetzung des Landtags geändert (die katholische Geistlichkeit bildete fortan den Ersten Stand) und die böhmischen Länder zum Erbkönigreich des Hauses Habsburg proklamiert. Damit beanspruchten die Habsburger künftig die alleinige Autorität in allen Fragen der Gesetzgebung, der obersten Rechtsprechung sowie der Beamtenernennung und -absetzung. IV. Der Weiße Berg in der kollektiven Erinnerung a) Die Mythisierung der Schlacht im Barock Der Wandel, den Böhmen und Mähren infolge der ständischen Niederlage von 1620 erlebten, war derart tiefgreifend und fundamental, daß schon die Zeitgenossen die Schlacht auf dem Weißen Berg als Umbruch und Zäsur werteten. Die Bedeutung, die man den Ereignissen zuschrieb, war naturgemäß abhängig von der jeweiligen gesellschaftlichen Stellung und dem eigenen religiösen Bekenntnis. Für die Protestanten, die zur Konversion oder zur Emigration gezwungen wurden, war der Weiße Berg eine einzige Tragö916

Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620

die: Sie kam einer Liquidation des bisherigen politischen Systems und vor allem einer vollständigen Aufhebung der Toleranzgesetzgebung gleich. Die Verantwortung dafür übertrug man vor allem den Habsburgern, deren Haß auf die böhmischen Eliten 1620 offen zum Ausdruck gekommen sei, und deren katholischen Verbündeten; daneben wurde aber auch auf den unzureichenden Opferwillen und das sündige Leben der böhmischen Utraquisten, Brüder und Lutheraner verwiesen. In Kreisen der Brüder-Unität, die besonderer Verfolgung ausgesetzt war, entstand die Auffassung, daß die Stände nur deshalb gescheitert seien, weil sie ihre politischen Partikularinteressen stärker gewichtet hätten als Gottes Wahrheit und den Kampf um religiöse Freiheit. Für die katholische Seite dagegen war die Schlacht auf dem Weißen Berg ein überragender Sieg der Rechtgläubigen und Kaisertreuen. Die einem Wunder gleichkommende Hilfe, die Maria nach Auffassung der Katholiken dem vereinigten kaiserlich-ligistischen Heer hatte zukommen lassen, wurde mit einem Bild der Anbetung der Hirten in der Darstellung der heiligen Familie verbunden. Dieses Bild, das durch Soldaten der Ständearmee angeblich beschädigt und sogar geschändet wurde, ist der Legende nach von Dominicus a Jesu Maria (Domingo Ruzzola), einem aus Spanien gebürtigen Ordensgeneral der Unbeschuhten Karmeliter, im Herbst 1620 in Strakonitz gefunden worden, als der Pater das Ligaheer auf seinem Zug nach Böhmen begleitete. Der Karmelit spornte die katholischen Krieger in der Schlacht mit diesem Bild emphatisch an: Daß dieses während des Kampfes in himmlischem Glanz erstrahlt sei, wurde als Wink Marias für die Rechtmäßigkeit der eigenen Sache verstanden. Durch diese Legende entstand eine Verbindung zwischen den Ereignissen von 1620 und der spezifischen Frömmigkeit der Habsburger (pietas austriaca), die den militärischen Sieg am Weißen Berg ausdrücklich der Hilfe Mariens zuschrieb. Der Kult der siegreichen Jungfrau Maria, in dessen Zentrum die Legende um Dominicus a Jesu Maria stand, entfaltete sich in dem neu errichteten Kloster der Unbeschuhten Karmeliter auf der Prager Kleinseite bei der Kirche der siegreichen Jungfrau Maria. Er wurde aber auch auf dem Plateau des Weißen Berges ausgeübt, denn das Schlachtfeld entwickelte sich binnen kurzer Zeit zu einem wichtigen Ort religiöser Erinnerung. Am Ort der Kampfhandlungen errichtete man Anfang der 1620er Jahre zum Gedächtnis der Schlacht und der Jungfrau Maria eine kleine viereckige Kapelle, zu der 1624 erstmals Dankprozessionen führten. Damit demonstrierte sowohl die katholische Hierarchie als auch der kaiserliche Hof den Rang, den man der Schlacht und dem Eingreifen der Jungfrau Maria in das Geschehen zuschrieb. In den unsicheren Zeiten des Dreißigjährigen Krieges hielt sich diese Tradition der Prozessionen allerdings nur kurz; seit den 1630er Jahren führten die katholischen Umzüge vorrangig zum Karmeliterkloster auf die Prager Kleinseite, wo sich eine Kopie des Strakonitzer Bildes befand. Nach der Verwüstung der Kapelle auf dem Weißen Berg durch die Schweden 163� wurde der Andachtsraum als Beinhaus benutzt, in dem die bei Feldarbeiten auf dem Schlachtfeld gefundenen sterblichen Überreste der gefallenen Soldaten aufbewahrt wurden. Die ursprünglich ins Auge gefaßte Gründung eines Servitenklosters auf dem ehemaligen Schlachtfeld konnte nicht realisiert werden, obwohl man bereits mit dem Bau be917

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gonnen und hierfür auch Unterstützung bei Ferdinand II. gefunden hatte, der 1628 bei den Gründungsfeierlichkeiten persönlich anwesend war. Es gab jedoch am Ort zu wenig Wasser, und auch ansonsten war der fernab vom Zentrum liegende Platz für einen Bettelorden, der auf ein städtisches Milieu angewiesen war, vergleichsweise ungünstig. Wie sich später an den Einfällen sächsischer und schwedischer Truppen zeigte, wäre ein Kloster an einer vielbefahrenen Landstraße zudem durch jedes feindliche Heer, das von Westen nach Prag marschierte, stark bedroht gewesen. Die Serviten verkauften daher das Grundstück mit dem in Teilen schon errichteten Kloster bereits nach wenigen Jahren. Im Geist barocker Frömmigkeit entstand im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in den Prager Städten eine Vereinigung katholischer Bürger und Künstler, die mit öffentlichen Spenden auf dem Platz der Kapelle am Schlachtfeld des Weißen Berges eine Wallfahrtsstätte mit einem neuen Gotteshaus, der Kirche der siegreichen Jungfrau Maria, errichteten, zu dem regelmäßig Prozessionen aus den Prager Städten führten. Diese fanden erst mit der josephinischen Religionspolitik ein Ende, durch die das Prozessionswesen und andere Formen barocker Frömmigkeit in der Habsburgermonarchie massiv beschränkt werden sollten. Der Einschnitt, den der Weiße Berg markierte, stellte für die katholischen Geschichtsschreiber und Intellektuellen in den böhmischen Ländern des 17. und 18. Jahrhunderts ein unzweifelhaft positives Faktum dar. Vereinzelt gab es allerdings Geistliche, die sich kritisch zu den Folgen des Systemwechsels nach 1620 und zu den kulturellen und mentalen Auswirkungen der Schlacht auf dem Weißen Berg äußerten. Diese Geistlichen, denen ein ausgeprägtes Landesbewußtsein zueigen war, wiesen auf die Schwächung der böhmischen Staatlichkeit und die Zurückdrängung der tschechischen Traditionen, Bräuche und Überlieferungen hin. Dies gilt etwa für den 1621 in Königgrätz geborenen Jesuiten Bohuslav Balbín, der heute als bedeutendster Vertreter der böhmischen Barockhistoriographie gilt. In einem vom Wiener Hof heftig kritisierten, 1677 nur in einer zensierten Fassung gedruckten Werk über die Geschichte Böhmens veröffentlichte er eine Karte des Landes in der Form einer Rose (Bohemiae rosa), deren Mittelpunkt zwar Prag darstellt, die ihre ganze Kraft aber aus Wien und Österreich zieht. Das die Rose krönende Iustitia et Pietate (Mit Gerechtigkeit und Frömmigkeit), ein nur leicht abgewandelter Wahlspruch Kaiser und König Ferdinands III., war allerdings doppeldeutig. Balbín kritisierte zwar nicht die rigide Rekatholisierung seiner Heimat, die er sogar nach Kräften unterstützte. Die Art und Weise aber, wie man sich in Wien über die Traditionen und kulturellen Eigenheiten Böhmens hinwegsetzte, empfand er als zutiefst ungehörig und beschämend. b) Nationale Zuschreibungen im 19. und zu Anfang des 20. Jahrhunderts Ein anderes zentrales Werk Balbíns, seine 1672/73 verfaßte Abhandlung De regni Bohemiae felici quondam nunc calamitoso statu, enthielt recht persönliche Ansichten des Autors und war ursprünglich nicht für die Veröffentlichung vorgesehen. In ihr ging es nicht nur um eine Verteidigung der tschechischen Sprache, sondern auch um eine Kritik der 918

Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620

Stellung des böhmischen Staates nach der Niederlage von 1620. Die Abhandlung, die mit dem Gebet geendet hatte, der heilige Wenzel möge die Tschechen weder in der Gegenwart noch in der Zukunft aussterben lassen, konnte bezeichnenderweise erst ein Jahrhundert später unter dem Titel Dissertatio apologetica pro lingua Slavonica, praecipue Bohemica durch František Martin Pelcl publiziert werden. Die Veröffentlichung fiel in die Zeit eines erwachenden tschechischen Nationalbewußtseins, das sich in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts allerdings noch ganz auf Teile des Adels, der Geistlichkeit und des gehobenen Bürgertums beschränkte. Die kritische Beschäftigung mit der Vergangenheit Böhmens und Mährens führte in diesen Kreisen zu einer neuen Wertschätzung der aus dem kulturellen Leben nahezu gänzlich verschwundenen tschechischen Sprache. Auch die Ablösung der lateinischen Unterrichtssprache auf den Gymnasien der Jesuiten und Piaristen durch die beiden Volkssprachen in Böhmen und Mähren kam dem Tschechischen zugute. Durch die Staats- und Gesellschaftsreformen Josephs II., die zugleich die ältere Barockfrömmigkeit zurückdrängten, verlor überdies das Religiöse seine frühere Wirkmächtigkeit. Diese unter dem Begriff einer „nationalen Wiedergeburt“ der Tschechen bekannten Wandlungsprozesse, die Ende des 18. Jahrhunderts einsetzten und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts ihren Höhepunkt fanden, führten auch zu einer neuen Sicht auf den Weißen Berg. Die Ereignisse von 1620 verloren zwar nicht ihre religiöse Dimension, doch trat diese deutlich in den Hintergrund. Für die erste Generation der „Wiederentdecker“ waren Vaterlandsliebe und Katholizismus noch kein Gegensatz. Doch schon bald wurde der Weiße Berg zum Synonym für das schändlichste Ereignis der eigenen Nationalgeschichte. Prägend für dieses Geschichtsbild wurde vor allem der evangelische Archivar und Historiker František Palack�, der 1836 den ersten, noch in deutscher Sprache veröffentlichten Band seiner Geschichte von Böhmen veröffentlichte, die bis 1867 auf zehn Bände anwuchs und zum maßgeblichen Referenzwerk des gesamten 19. Jahrhunderts avancierte. Zwar reichte seine Darstellung zeitlich nur bis zum Jahr 1526, doch war sein vernichtendes Urteil über den Weißen Berg und dessen Folgen für die tschechische Kultur und Eigenstaatlichkeit aus zahlreichen Einzelhinweisen unzweideutig zu ermitteln. In seiner Geschichtskonstruktion, die auf einer vermeintlich unablässigen Auseinandersetzung des Tschechentums mit dem Deutschtum basierte, heroisierte Palack� demgegenüber die Zeit der hussitischen Reformation. Im Geist dieser nationalen Ideologie erschien der Ständeaufstand der Jahre 1618– 1620 einseitig als ein Kampf der tschechischen Nation um die eigenen Rechte und um politische Emanzipation gegenüber dem deutschen Landesherrn, dessen Herrschaft ohne weitere Differenzierung als Fremdherrschaft galt. Die Schlacht am Weißen Berg, das Gegenbild zur hussitischen Glanzzeit, wurde nicht nur als militärische Niederlage und politisch-rechtliche Zäsur, sondern auch und vor allem als tiefe nationale Tragödie interpretiert. Zur Popularisierung und Anerkennung dieses Mythos vom Weißen Berg in der breiteren Öffentlichkeit trug die politische Aktivität der tschechischen Gesellschaft im Revolutionsjahr 18�8 bei, als erstmals die Idee einer „Wiedergutmachung des Weißen Berges“ in der politischen Publizistik auftauchte. Nach Auffassung des tschechischen 919

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Intellektuellen und Politikers Karel Havlíček Borovsk� war die „Schmach des Weißen Berges“ ein ausreichender Grund, um den Widerstand gegen das Deutschtum und die Wiener Regierung zu legitimieren. Die Deutung des Weißen Berges als eine nationale Katastrophe, die während des 19. Jahrhunderts tief in das historische Bewußtsein der tschechischen Landesbewohner eindrang, läßt sich in der Belletristik und den bildenden Künsten ebenso aufzeigen wie in der Praxis des Schullunterrichts. Der Geschichte der böhmischen Länder in der Zeit von 1620 bis zur „nationalen Wiedergeburt“ wurde seit Anfang des 20. Jahrhunderts als temno, als „dunkle Epoche“, bezeichnet. Der Begriff geht zurück auf den gleichnamigen Titel eines historischen Romans von Alois Jirásek, einem tschechischen Geschichtslehrer und Schriftsteller, aus dem Jahr 1915. Wie kaum ein zweiter Autor trug Jirásek, der die Themen seiner höchst populären Romane stets der eigenen Geschichte entnahm, zur Stärkung des tschechischen Geschichtsbewußtseins bei. Seine Bedeutung für die Nationalbewegung läßt sich nicht zuletzt daran erkennen, daß er bei der Proklamation der Tschechoslowakischen Republik 1918 die Eidesformel des tschechischen Volkes verlas. Die Mythisierung des Weißen Berges ließ den Gedanken aufkommen, am Ort der Schlacht von 1620 ein dem Ereignis angemessenes Denkmal zu errichten. Die Initiative dazu kam 1904 vom tschechischen Turnverein Sokol. Unter den Entwürfen, die führende tschechische Künstler anfertigten, ragte das Projekt des Bildhauers Stanislav Suchard und des Architekten Josef Gočár heraus, das ein monumentales Grabmal als Symbol für die nationale Unterjochung der tschechischen Nation vorsah. Der Entwurf stieß allerdings in Wien auf entschiedene Ablehnung. Vor Ausbruch des Ersten Weltkriegs wurde das Vorhaben nicht mehr weiter verfolgt. Erst 1920, zwei Jahre nach der Begründung eines selbständigen Staates der Tschechen und Slowaken, errichtete man auf Kosten des Sokol auf der Höhe des Weißen Berges einen Gedenkstein, dessen Ausmaße allerdings sehr viel bescheidener ausfielen als ursprünglich geplant. Der Wille, das Geschehen auf dem Weißen Berg zu revidieren, läßt sich im Jahr 1918 im Zuge des Zerfalls Österreich-Ungarns und der Entstehung des neuen tschechoslowakischen Staates besonders deutlich beobachten. Am 3. November, eine Woche nach der Ausrufung der Republik, kam es auf dem Weißen Berg zu einer Volksversammlung, bei der die Auseinandersetzung des Jahres 1620 ganz im Sinn des im 19. Jahrhundert entstandenen nationalen Mythos gewertet wurde. Teilnehmer dieses tabor, das an die hussitischen Massenwallfahrten des 15. Jahrhunderts erinnerte, waren es, die nach ihrer Rückkehr nach Prag maßgeblich an der Zerstörung der Mariensäule auf dem Altstädter Ring beteiligt waren. Das frühbarocke Denkmal von 1650 war zwar als Dank an die Jungfrau Maria für die Bewahrung Prags bei der schwedischen Belagerung von 16�8 errichtet worden, doch sahen die Prager Anfang des 20. Jahrhunderts in der Mariensäule ein Siegesdenkmal für die Schlacht am Weißen Berg. Die Aktion war nicht Ergebnis eines spontanen Volkszorns, als die es später dargestellt wurde, sondern Resultat genauer Vorbereitungen, für die im wesentlichen eine Gruppe radikaler Intellektueller um den Schriftsteller František Sauer aus Žižkov verantwortlich war. 920

Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620

Dominik a Jesu Maria mit einem Gnadenbild der Jungfrau Maria vor der Schlacht am Weißen Berg 1620. Fresko im Gewölbe der südlichen Kuppel der Wallfahrtskapelle am Weißen Berg von Wenzel Lorenz Reiner, einem aus Prag gebürtigen Maler und Freskanten, aus dem Jahr 1718. Reiner, der neben zahlreichen Tafel- und Altarbildern auch momumentale Schlachtenbilder schuf, zählt zu den bedeutendsten Künstlern des böhmischen Barock. Bildnachweis: Privatarchiv Jiří Mikulec.

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c) Das Motiv des Weißen Berges in der modernen tschechischen Gesellschaft Mit dem Ende Österreich-Ungarns und der Entstehung der selbständigen Republik verlor die politische Dimension beim Mythos des Weißen Berges zwar an Bedeutung, blieb aber im Kern dennoch erhalten. Sie überlebte gleichsam in der Kunst und im Geschichtsunterricht, trotz breiter Aufklärungsbemühungen namentlich in wissenschaftlichen Kreisen. Ältere Zuschreibungen wurden sowohl bei verschiedenen Erinnerungsveranstaltungen im Jahr 1920 deutlich als auch – mit zeitgenössischen Anpassungen an andere Formen der Fremdherrschaft – während der Zeit des Münchner Abkommens 1938 und der Besatzung durch das nationalsozialistische Deutschland wenig später. Nach dem Zweiten Weltkrieg nutzten kommunistische Kräfte den Mythos vom Weißen Berg in ihrer politischen Agitation, um mit der „Wiedergutmachung“ der Ereignisse von 1620 die eigenen Pläne bei der Bevölkerungspolitik und der Bodenreform durchzusetzen, bei denen die deutschen Einwohner der Tschechoslowakei kollektiv als Verräter und Kollaboranten erschienen. Entsprechende Muster, die ohne alle religiösen Zuschreibungen auskamen, zeigten sich auch in der kommunistischen Geschichtsauffassung. Die eindeutig ideologischen Motive verschwanden zwar nach dem Zusammenbruch des sowjetischen Systems 1989/91, das Symbol des Weißen Berges als nationale Katastrophe ist gleichwohl im öffentlichen Geschichtsbewußtsein unverändert präsent. Dies zeigt sich beispielsweise bei kirchlichen Anlässen und Aktionen religiöser Gruppen, etwa bei den Versammlungen evangelischer Gemeinschaften zum Jahrestag der Hinrichtung der Teilnehmer des Ständeaufstands am 21. Juni 1621 auf dem Altstädter Ring. Entgegengesetzten Charakter hatte das ökumenische Bemühen um eine Beisetzung der sterblichen Überreste der am Weißen Berg gefallenen Soldaten, zu der sich Würdenträger der verschiedenen christlichen Kirchen am 7. November 1999 bei der Wallfahrtskirche am Weißen Berg versammelten. Daneben werden ältere Motive der Interpretation des Weißen Berges, meist in einer relativ plumpen Zuspitzung, gelegentlich in politischen Auseinandersetzungen verwendet, so zum Beispiel bei den parlamentarischen Verhandlungen um einen Beitritt der Tschechischen Republik zur Europäischen Union 2003 oder im Zusammenhang mit der Genehmigung der Restitution von kirchlichem Eigentum im Jahr 2012. Der Begriff „Weißer Berg“ ist freilich, ob bei solchen politischen Äußerungen oder bei entsprechenden Darstellungen in den Medien, inhaltlich weitgehend entleert und wird nur publikumswirksam als Code für eine drohende gesellschaftliche Tragödie benutzt. V. Auswahlbibliographie GindeLy, Anton: Geschichte des dreissigjährigen Krieges, Bd. 1/3. Prag 1878; Krebs, Julius: Die Schlacht am Weissen Berge bei Prag (8. November 1620) im Zusammenhange der kriegerischen Ereignisse. Breslau 1879; Krofta, Kamil: Bílá hora [Der Weiße Berg]. Praha 1913; peKař, Josef: Bílá hora. Její příčiny a následky [Der Weiße Berg. Seine Ursachen und Folgen]. Praha 1921; teiGe, Josef u. a.: Na Bílé hoře [Auf dem Weißen Berg]. Praha 1921; stLouKaL, Karel: Bílá hora a Staroměstské náměstí

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Die Schlacht am Weißen Berg bei Prag 1620 [Der Weiße Berg und der Altstädter Ring]. Praha 1921; hrubý, František: Nové příspěvky k historii bitvy na Bílé hoře [Neue Beiträge zur Geschichte der Schlacht am Weißen Berg]. In: Česk� časopis historick� 27 (1922) 277–288; tapié, Victor-Lucien: Bílá hora a francouzská politika [Der Weiße Berg und die französische Politik]. Praha 1936; chudoba, Bohdan: Španělé na Bílé hoře [Spanier auf dem Weißen Berg]. Praha 19�5; poLišensKý, Josef: Anglie a Bílá hora [England und der Weiße Berg]. Praha 1949; ders.: Nizozemská politika a Bílá hora [Die niederländische Politik und der Weiße Berg]. Praha 1958; KavKa, František: Bílá hora a české dějiny [Der Weiße Berg und die tschechische Geschichte]. Praha 1962; petráň, Josef: Staroměstská exekuce. Několik stránek z dějin povstání feudálních stavů proti Habsburkům v letech 1618–1620 [Die Altstädter Exekution. Einige Seiten aus der Geschichte des Aufstands der Feudalstände gegen die Habsburger in den Jahren 1618–1620]. Praha 1972 [ND 1985, 1996, 2004]; páneK, Jaroslav: Úloha stavovství v předbělohorské době (V�voj názorů novodobé české historiografie) [Die Rolle des Ständewesens in der Zeit vor der Schlacht am Weißen Berg (Die Entwicklung der Ansichten der neuzeitlichen tschechischen Historiographie)]. In: Československ� časopis historick� 25 (1977) 732–761; Macura, Vladimír: Znamení zrodu. České obrození jako kulturní typ [Geburtszeichen. Die tschechische nationale Wiedergeburt als kultureller Typ]. Praha 1983 [21995]; petráň, Josef: Bitva na Bílé hoře podle současného stavu znalostí [Die Schlacht am Weißen Berg nach zeitgenössischem Kenntnisstand]. In: Folia Historica Bohemica 8 (1985) 109–13�; ders.: Na téma m�tu Bílá hora [Zum Thema des Mythos „Weißer Berg“]. In: hLedíKová, Zdeňka (Hg.): Traditio et cultus. Miscellanea historica Bohemica Miloslao Vlk, archiepiscopo Pragensi, ab eius collegis amicisque ad annum sexagesimum dedicata. Praha 1993, 1�1–162; raK, Jiří: B�vali Čechové. České historické m�ty a stereotypy [Es waren die Tschechen. Tschechische historische Mythen und Stereotypen]. Jinočany 1994; eberhard, Winfried: Reformation and Counterreformation in East Central Europe. In: brady, Thomas A. Jr./oberMan, Heiko A./tracy, James D. (Hg.): Handbook of European History 1400–1600. Late Middle Ages, Renaissance and Reformation, Bd. 2. Leiden/New York/Köln 1995, 551–58�; hoJda, Zdeněk/poKorný, Jiří: Pomníky a zapomníky [Denkmäler und „Vergessenheitsmäler“]. Praha/Litomyšl 1996; hoJda, Zdeněk: Náboženská perzekuce po Bílé hoře jako součást českého m�tu. Příspěvek k poznání v�tvarn�ch a literárních zdrojů historického vědomí v 19. století [Die religiöse Verfolgung nach der Schlacht am Weißen Berg als Bestandteil des tschechischen Mythos. Ein Beitrag zur Kenntnis der künstlerischen und literarischen Quellen des historischen Bewußtseins im 19. Jahrhundert]. In: hLaváčeK, Ivan/hrdina, Jan (Hg.): Facta probant homines. Sborník příspěvků k životnímu jubileu prof. dr. Zdeňky Hledíkové. Praha 1998, 181–203; uhLíř, Dušan: Čern� den na Bílé hoře: 8. listopad 1620 [Ein schwarzer Tag auf dem Weißen Berg: 8. November 1620]. Brno 1998; petráň, Josef/petráňová, Lydia: The White Mountain as a symbol in modern Czech history. In: teich, Mikuláš (Hg.): Bohemia in History. Cambridge 1998, 1�3–163; chaLine, Olivier: La bataille de la Montagne Blanche (8 novembre 1620). Un mystique chez les guerriers. Paris 2002; Kučera, Jan P.: 8.11.1620: Bílá hora – O potracení starobylé slávy české [8.11.1620: Der Weiße Berg – Über die Fehlgeburt der alten tschechischen Herrlichkeit]. Praha 2003; Maťa, Peter/WinKeLbauer, Thomas: Die Habsburgermonarchie 1620 bis 17�0. Leistungen und Grenzen des Absolutismus-Paradigmas. Stuttgart 2006; JürGens-Kirchhoff, Annegret: Der Beitrag der Schlachtenmalerei zur Konstruktion von Kriegstypen. In: beyrau, Dietrich/ hochGeschWender, Michael/LanGeWiesche, Dieter (Hg.): Formen des Krieges. Von der Antike bis zur Gegenwart. Paderborn u. a. 2007, ��3–�68; páneK, Jaroslav: Bitva na Bílé hoře a Bělohorsk� m�tus [Die Schlacht am Weißen Berg und der Mythos Weißer Berg]. In: Akademická encyklopedie česk�ch dějin, Bd. 1. Praha 2009, 20�–207, 172–17�; bahLcKe, Joachim: 1620 – Schlacht am Weißen Berg bei Prag: Ursachen, Verlauf und Folgen des Zusammenstoßes von ständischer Libertät und monarchischer Autorität. In: scheutz, Martin/strohMeyer, Arno (Hg.): Von Lier nach Brüssel. Schlüsseljahre österreichischer Geschichte (1�96–1995). Innsbruck/Wien/Bozen 2010, 79–97.

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Die ungarischen Galeerensklaven I. Zusammenfassung. – II. Historischer Hintergrund. – III. Das Schicksal der Galeerensklaven. – IV. Die Erinnerung an die Galeerensklaven. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Als ungarische Galeerensklaven werden jene protestantischen Pastoren und Prediger bezeichnet, die im Frühjahr 167� von einem in Preßburg im Habsburgerreich aufgestellten Gericht im Rahmen eines Schauprozesses verurteilt wurden. Zahlreiche Geistliche hatten infolge des Urteils dieses Gerichts ihre Gemeinden zu verlassen, andere mußten ins Exil gehen, ein Teil von ihnen wiederum wurde als Ruderer auf italienische Galeeren verkauft. Diese Form der Strafe, vor allem für Schwerverbrecher, war in Ungarn auch noch in späterer Zeit durchaus üblich. Durch oben genannte Galeerensklaven aber wurde sie in Europa zum Skandal, da die Verurteilten an den evangelischen Höfen viele Verteidiger fanden, die ihre Stimme für die Glaubensgenossen erhoben. In der religiösen Erinnerung wurde das Schicksal dieser Galeerensklaven zum Symbol der Protestantenverfolgung und des habsburgischen Absolutismus in Ungarn schlechthin. Gleichzeitig verband man mit dem Schicksal dieser Pastoren und Prediger den Nachweis besonderer Gesinnungstreue im außerkirchlichen Bereich. II. Historischer Hintergrund Obwohl die Religionsfreiheit der Protestanten im habsburgischen Teil des Königreichs Ungarn durch die Artikel des Wiener Friedens (1606) und des Linzer Friedens (16�7) garantiert worden war, forcierte Kaiser Leopold I. seit seinem Regierungsantritt 1658 die Rekatholisierung in den Ländern der Habsburgermonarchie. Die Unzufriedenheit der ungarischen Stände mit seiner Regierung wuchs während des Krieges mit dem Osmanischen Reich in den Jahren 1663/64 weiter, als Leopold I. im Rahmen der Friedensverhandlungen mit dem Sultan die vorausgegangenen militärischen Erfolge der kaiserlichen Truppen bei Mogersdorf nicht nutzbringend einsetzen konnte. Gegen den Herrscher begann sich eine Opposition zu bilden, an deren Spitze die höchsten Würdenträger des Landes standen. Ihnen schlossen sich die mehrheitlich von Protestanten bewohnten Komitate und königlichen Freistädte im habsburgischen Teil des dreigeteilten Ungarn an. Als die Verschwörung der Magnaten aufgedeckt und deren Anführer 1671 wegen Hochverrats zum Tode verurteilt wurden, nutzten Leopold I. und der katholische Episkopat den Ungehorsam zu einem massiven Angriff gegen die Protestanten. Das königliche Ungarn wurde von kaiserlichen Truppen besetzt, die protestantische Geistliche und Lehrer im Auftrag katholischer Kirchenfürsten vertrieben und sowohl lutherische als auch 924

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reformierte Kirchen und Schulen konfiszierten. Im Laufe weniger Monate wurden mehr als 300 Gotteshäuser und Dutzende von Schulen beschlagnahmt. Jedem Widerstand wurde mit größter Strenge begegnet. Die gewaltsame Rekatholisierung verursachte im Sommer 1672 bei der auch durch andere Maßnahmen verunsicherten Bevölkerung einen Aufstand. Leopold I. hob daraufhin kurzerhand die ungarische Ständeverfassung auf und richtete einige Monate später ein außerordentliches Gericht ein, das nicht nur die Schuldigen bestrafen, sondern faktisch auch das Land von den Protestanten befreien sollte. Das Gremium, dem der Graner Erzbischof György Szelepcsényi vorsaß, erhielt in protestantischen Kreisen rasch den Namen „Preßburger Blutgericht“. Szelepcsényi entschloß sich zunächst in der Stadt Preßburg, dem Sitz des ungarischen Landtags, gegen jene protestantischen Geistlichen und Bürger vorzugehen, die bei der Wegnahme ihrer Kirche Widerstand geleistet hatten. Fünfzig Bürger sowie alle 15 lutherischen Geistlichen und Lehrer der Stadt wurden von dem außerordentlichen Gericht wegen Treuebruchs angeklagt und verurteilt. Nach mehrmonatiger Haft schob man die Geistlichen ins Ausland ab, die Bürger hingegen wurden erst nach wiederholter Intervention Kurfürst Johann Georgs II. von Sachsen entlassen. Nach dieser ersten Gerichtsverhandlung entschied sich der Erzbischof für einen erneuten Prozeß, dieses Mal gegen alle protestantischen Geistlichen und Lehrer auf dem gesamten Gebiet des königlichen Ungarns. In einem Befehl vom 23. August 1673 an alle protestantischen Geistlichen und Lehrer ließ er diese nach Preßburg einberufen. Der Aufforderung des Primas folgten allerdings lediglich 35 Personen, vor allem Geistliche aus den Komitaten Turz, Sohl und Liptau. Von den Erschienenen kamen letztlich 2� Personen vor Gericht, unter ihnen die Superintendenten Joachim Kalinka aus Trentschin und Márton Tarnóczi aus Neutra, der Superintendent für Transdanubien, István Fekete, und der der sechs oberungarischen königlichen Freistädte, Michael Liefmann. Dem Gericht, das sich aus insgesamt 32 Mitgliedern zusammensetzte, gehörten mit einer Ausnahme ausschließlich Vertreter der hierarchia catholica und der katholischen Magnaten an. Das einzige protestantische Mitglied resignierte schon nach den ersten Verhören wegen der aus seiner Sicht fehlenden Unvoreingenommenheit des Gerichts. Die evangelischen Geistlichen wurden beschuldigt, an der Ermordung katholischer Priester beteiligt gewesen zu sein, sich gegen den Herrscher aufgelehnt zu haben oder ein Bündnis mit den Osmanen eingegangen zu sein. Da ihnen keinerlei Verteidigungsmöglichkeit eingeräumt wurde, blieb ihnen nur die Wahl zwischen der Todesstrafe oder einem Schuldbekenntnis – in diesem Fall mußten sie sich entweder für das Exil entscheiden oder zu einem Rücktritt von ihrem kirchlichen Amt verpflichten. Eine dritte Möglichkeit stellte die Konversion zum römisch-katholischen Bekenntnis durch die Unterzeichnung der sogenannten Formel der Neukatholiken dar, die später im Ausland als „ungarischer Fluch“ bekannt wurde. Der Großteil der Beschuldigten entschied sich, ein Schuldbekenntnis zu unterschreiben, zwei wählten den Konfessionswechsel, ein Angeklagter starb noch während des Prozesses. Das durch diesen Erfolg ermunterte Gericht unter dem Vorsitz des Erzbischofs begann daraufhin im Frühjahr 167�, eine das ganze Land erfassende Rekatholisierung in Angriff zu nehmen. Alle nichtkatholischen Geistlichen und Lehrer im königlichen Ungarn soll925

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ten zusammen mit jenen der zu Siebenbürgen gehörenden ungarischen Komitate und des osmanisch besetzten Landesteils vor Gericht gestellt werden. Die Zahl der Protestanten in allen Landesteilen wurde auf 2.600 Personen geschätzt. Dem Erzbischof gelang es jedoch nicht, den Plan im vollen Umfang zu verwirklichen, denn weder aus Siebenbürgen noch aus dem osmanischen Herrschaftsbereich erschienen die Angeklagten. So wurden schließlich 735 Personen aus dem habsburgischen Teil Ungarns angeklagt. Wie viele von ihnen tatsächlich nach Preßburg kamen, ist nicht bekannt. Vor Gericht standen nachweislich 336 Personen: 256 Lutheraner und achtzig Reformierte. Das Gericht tagte ab März 167� in der gleichen Zusammensetzung wie im Vorjahr, auch die Anklagen und Strafmaßnahmen waren die gleichen. Nach mehrwöchigen Verhören, Überzeugungsversuchen und Drohungen mit der Todesstrafe unterzeichnete die Mehrheit von ihnen ein Schuldbekenntnis und verließ die Heimat. Einige Angeklagte unterschrieben die Formel der Neukatholiken, sieben wurden wegen Krankheit freigesprochen. Dagegen wählten 9� Personen die Todesstrafe, unter ihnen fünfzig Reformierte und �� Lutheraner. III. Das Schicksal der Galeerensklaven Die mit Leopold I. im Krieg gegen Frankreich verbündeten protestantischen Mächte, darunter England, Sachsen, Schweden, Brandenburg und die Niederlande, intervenierten für die Freilassung der verhafteten und zum Tode verurteilten Glaubensgenossen. Der Kaiser entschied daher außenpolitischer Rücksichtnahmen wegen, die Todesstrafe nicht zu vollstrecken, sondern die Verurteilten als Galeerensklaven zu verkaufen. Während der bis März 1675 dauernden Haft in den Festungen von Berencs, Komorn, Kapuvár, Sárvár, Eberhardt und Leopoldstadt, wo die Geistlichen nicht nur körperliche Schwerstarbeit leisten mußten, sondern auch vielfach gefoltert wurden, konvertierten 21 Häftlinge; drei weitere starben an Hunger. Im März 1675 wurden schließlich 6� Personen auf die Galeeren verkauft. Die erste Gruppe mit �2 Häftlingen wurde am 18. März in Richtung Neapel getrieben, wobei während des mühsamen Marsches drei starben, einer zur katholischen Kirche übertrat und drei weiteren Häftlingen die Flucht gelang. Sechs Personen waren infolge von Erschöpfung im Gefängnis von Teate in Haft geblieben. Den Hafen von Neapel erreichten am 7. Mai 1675 schließlich dreißig Männer, die auf Galeeren verkauft wurden. Sie wurden am 11. Februar 1676 unerwartet von dem niederländischen Admiral Michiel Adrianszoon de Ruyter befreit, wobei sechs von ihnen den Tag der Befreiung nicht mehr erlebten. Der niederländische Admiral hatte den Umstand, daß sich das Königreich Neapel zum Krieg gegen Frankreich entschieden hatte und somit zum Verbündeten der Niederlande und Leopolds I. geworden war, zu nutzen verstanden und die Häftlinge freigekauft. Die zweite Gruppe mit zwanzig Verurteilten wurde Anfang Juli 1675 ebenfalls in Richtung Neapel getrieben. Da zwei Gefangenen in Triest die Flucht gelungen war, wurden die verbliebenen Häftlinge in das Gefängnis von Bakar eingesperrt, wo drei von ihnen starben und zehn konvertierten. Die restlichen Gefangenen kamen aufgrund eines 926

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Befehls Kaiser Leopolds I. frei. Die Anordnung hatte der Herrscher auf Druck seiner Verbündeten am 5. März 1676 erlassen. Den Freigelassenen wurde jedoch nicht gestattet, in die Heimat zurückzukehren. Diejenigen Geistlichen, die die Galeeren überlebten, wurden zunächst von der Stadt Zürich aufgenommen. Die meisten von ihnen konnten erst nach Jahren wieder nach Ungarn zurückkehren. IV. Die Erinnerung an die Galeerensklaven In der Bewertung dieser Ereignisse war sich die ungarische Kirchengeschichtsforschung lange Zeit nicht einig. Angesichts der konfessionellen und politischen Teilung der ungarischen Gesellschaft bis in die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Frage in Ungarn höchst kontrovers erörtert. Während protestantische Autoren die Ereignisse als extremes Unrecht seitens der katholischen und weltlichen Macht deuteten und die Galeerensklaven als Märtyrer beider evangelischen Kirchen bewerteten, versuchten katholische Autoren die Ereignisse zu marginalisieren. In der ungarischen Geschichtsforschung dagegen überwog seit jeher die auch heute noch vorherrschende Ansicht, daß die Preßburger Gerichte und die als Galeerensklaven verkauften protestantischen Prediger den Höhepunkt der Gewaltmaßnahmen des habsburgischen Absolutismus gegen die Protestanten in Ungarn bildeten. In der slowakischen Geschichtsschreibung wiederum, in der die Ablehnung derjenigen Konzepte und Aufstände, die sich gegen den Wiener Hof und die Politik der Habsburger richteten, als eine genuin antiungarische Position eine lange Tradition hat, herrscht im allgemeinen eine gewisse Reserviertheit gegenüber dem Thema vor. All dies hat zur Folge, daß sich die Gedächtnisorte der Galeerensklaven, obwohl sich unter ihnen zahlreiche Prediger slowakischer und deutscher Herkunft aus dem heutigen Gebiet der Slowakei befanden, hauptsächlich im heutigen Ungarn zu finden sind. Träger der Erinnerung war lange Zeit die reiche Memorialliteratur der befreiten Galeerensklaven, die in lateinischer Sprache hauptsächlich im Ausland – in den Niederlanden, in der Schweiz und im Fall der Lutheraner vor allem im römisch-deutschen Reich – erschienen ist. Die Darstellung eines der Verurteilten, Bálint Kocsi Csergő, spielte dabei eine herausragende Rolle: Die 1676 niedergeschriebenen Erinnerungen (Narratio brevis de oppressa libertate ecclesiarum Hungaricarum) wurden zunächst in handschriftlichen Kopien verbreitet, bis sie schließlich 1728 in Utrecht auch im Druck erschienen. Andere authentische Aufzeichnungen, wie das mit aussagekräftigen Bildern versehene Werk Naauwkeurig verhaal van de Vervolginge aangerecht tegens de Euangelise Leeraren in Hungarien (168�) des Amsterdamer Arztes Abraham van Poot, bewahrten ebenfalls die Erinnerung an das Schicksal der Galeerensklaven. Vor allem den ungarischen Reformierten gelang es, die Erinnerung an die Ereignisse bis zur Gegenwart wach zu halten. In Debrecen wurde am 21. September 1895 eine acht Meter hohe Säule im Gedenkpark der Stadt mit finanzieller Hilfe einer Debrecener Bürgerin, der Witwe des Mihály Hegyi, aufgestellt. An der einen Seite der Säule wird an die Galeerensklaven, an der anderen Seite an deren Befreier – den Nationalhelden 927

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Träger der Erinnerung an die Galeerensklaven war lange Zeit die reiche Memorialliteratur, die hauptsächlich im Ausland erschienen ist. Das mit aussagekräftigen Bildern versehene Werk Naauwkeurig verhaal van de Vervolginge aangerecht tegens de Euangelise Leeraren in Hungarien des Amsterdamer Arztes Abraham van Poot von 168� war besonders geeignet, das Schicksal der ungarischen Galeerensklaven zum Symbol der Protestantenverfolgung zu stilisieren. Bildnachweis: Bitskey, István/Pusztay, Gábor (Hg.): Michiel de Ruyter és Magyarország [Michiel de Ruyter und Ungarn]. Debrecen 2008, 65.

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der Niederländer, Admiral Michiel du Ruyter – erinnert. An einer dritten Seite ist eine Galeere als Symbol der Leiden mit der Bibel als Symbol des festen Glaubens abgebildet. Auch das Zitat des Apostels Petrus „Ich habe einen guten Kampf gekämpft, ich habe den Lauf vollendet, ich habe Treue gehalten“ (2. Tim �, 7–8) mahnt den Betrachter zur Glaubensfestigkeit der Galeerensklaven. Die Gedenksäule steht somit einerseits für die Solidarität der Protestanten, andererseits allgemein für Gesinnungstreue. Die Debrecener Bürger wurden durch die Säule seit Ende des 19. Jahrhunderts vor allem an diese Gesinnungstreue erinnert. Darauf verweist die in der Stadt geborene bekannte ungarische Schriftstellerin Magda Szabó, eine Nachfahrin des Galeerensklaven János Jablonczai Pethes, mit ihrem Rückblick an die in Debrecen verbrachten Jahre: „Das erste Geschenk Debrecens war die pädagogische Kraft der Säule der Galeerensklaven. Der Mensch harrt nicht deswegen aus, damit sein Name irgendwann an ein Denkmal kommt. Jeder vernünftige Mensch mag unerkannt leben, nach der Arbeit seinen Garten pflegen und all das verrichten, was seine Neigung und sein Interesse ihm vorgezeichnet haben. Aber es kommt manchmal vor, daß der Mensch dazu genötigt wird, zum Helden zu werden. Wenn du mit dir selbst in Frieden leben möchtest, mußt du es rechtzeitig lernen, daß du nur nach deinem Glauben und deiner Überzeugung leben kannst und nach diesen mußt du dich entscheiden, wenn du gefragt wirst.“ Diese Botschaft trug auch das Gedicht eines anderen bekannten ungarischen Dichters des 20. Jahrhunderts, Lőrinc Szabó, weit in das Land hinaus. In seinem Gedicht Die Säule der Galeerensklaven erinnerte sich der ehemalige Debrecener Schüler an das Beispiel der Galeerensklaven als Quelle der Güte, der Menschlichkeit und der Freiheit gegenüber einem „schwarzen Rom“. Mitglieder der Debrecener Gemeinde der „Großen Kirche“ und Schüler des Reformierten Kollegiums legen an der Säule jedes Jahr am Tag der Reformation einen Kranz nieder. An eine besonders nachdenkliche Kranzniederlegung erinnert seit 2006 der von der reformierten Kirche gestiftete Bronzekranz an der Treppe der Säule. Anläßlich seines Besuchs in Ungarn brachte Papst Johannes Paul II. 1991 sein Bedauern für die an den Protestanten verübten Sünden der katholischen Kirche zum Ausdruck. Seither symbolisiert die Säule der Galeerensklaven auch die Versöhnung der christlichen Konfessionen. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Kocsi cserGö, Bálint: Narratio brevis de oppressa libertate Ecclesiarum Hungaricarum. In: Országos Széchényi Könyvtár, Quart. Lat. 1187; poot, Abraham van: Naauwkeurig verhaal van de Vervolginge aangerecht tegens de Euangelise Leeraren in Hungarien. Amsterdam 168�; herpay, Gábor (Hg.): Otokocsi Fóris, Ferenc: Furor bestiae contra testes Jesu Christi in Hungaria. Budapest 1933; varGa s., Katalin (Hg.): Vitetnek ítélőszékre ... Az 167�-es gályarabper jegyzőkönyve [Sie werden vor Gericht gestellt ... Das Protokoll der Gerichtsverhandlungen der Galeerensklaven im Jahr 167�]. Pozsony 2002.

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b) Darstellungen rácz, Károly: A pozsonyi vértörvényszék áldozatai 167�-ben [Die Opfer des Preßburger Blutgerichts von 167�]. Sárospatak 187� [²1889]; thury, Etele: Adatok a magyar protestáns gályarab lelkészek történetéhez [Angaben zur Geschichte der ungarischen protestantischen Galeerensklaven-Prediger]. Budapest 1912; MiKlós, Ödön: Holland intervenció a magyar protestántizmus érdekében (167�–1680) [Die niederländische Intervention im Interesse des ungarischen Protestantismus (167�–1680)]. Pápa 1918; benczédi, László: A prédikátorperek történeti háttere. A lipóti abszolutizmus adó- és valláspolitikájának összefüggései [Die historischen Hintergründe der Predigerprozesse. Die steuer- und konfessionspolitischen Zusammenhänge des leopoldinischen Absolutismus]. In: Theológiai Szemle 17 (1975) 199–206, 262–267; ders.: Szelepcsényi érsek ügye és a lipóti abszolutizmus megalapozása 1670 őszén [Die Angelegenheit des Erzbischofs Szelepcsényi und die Anfänge des Leopoldinischen Absolutismus im Herbst 1670]. In: Történelmi Szemle 18 (1975) �88–502; Ladányi, Sándor: A gyászévtized történetének forrásai és szakirodalma. (Eredmények és feladatok) [Quellen und Fachliteratur der Trauerdekade. (Ergebnisse und Aufgaben)]. In: Theologia Szemle 17 (1975) 15–23; fabinyi, Tibor: A gyászévtized evangélikus történetírói [Die lutherischen Geschichtsschreiber der Trauerdekade]. In: Theológia Szemle 17 (1975) 258–26�; fabinyi, Tibor/Ladányi, Sándor/MaKKai, László (Hg.): Galeria omnium sanctorum. A magyarországi gályarab prédikátorok emlékezete [Die Erinnerung an die ungarischen Galeerensklaven]. Budapest 1976; barton, Peter F./MaKKai, László (Hg.): Rebellion oder Religion? Budapest 1977; benczédi, László: Rendiség, abszolutizmus és centralizáció a XVII. század végi Magyarországon (166�–1685) [Ständetum, Absolutismus und Zentralisierung in Ungarn am Ende des 17. Jahrhunderts (166�–1685)]. Budapest 1980; Péter, Katalin: A magyarországi protestáns prédikátorok és tanítók ellen indított per 167�-ben [Das gegen die ungarischen protestantischen Prediger und Lehrer eingeleitete Gerichtsverfahren 167�]. In: A Ráday Gyűjtemény Évkönyve 3 (198�) 31–39; dies.: A katolikus megújulás és a protestáns reformáció [Katholische Erneuerung und protestantische Reformation]. In: dies.: Papok és nemesek. Magyar művelődéstörténeti tanulmányok a reformációval kezdődő másfél évszázadtól. Budapest 1995, 5–14; borus, József: Die Befreiung der ungarischen Galeerensklaven – Admiral Michiel de Ruyter. In: reinGrabner, Gustav/schLaG, Gerald (Hg.): Reformation und Gegenreformation im Pannonischen Raum. Eisenstadt 1999, 2�3–256; bitsKey, István/pusztay, Gábor (Hg.): Michiel de Ruyter és Magyarország [Michiel de Ruyter und Ungarn]. Debrecen 2008.

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Hungaria eliberata I. Zusammenfassung. – II. Historischer Hintergrund. – III. Hindernisse der Erinnerung. – IV. Gedenkorte und Erinnerungsformen. – V. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Ende des 17. Jahrhunderts ging die mehr als anderthalb Jahrhunderte währende Herrschaft des Osmanischen Reiches in Ungarn zu Ende. Nachdem es den Habsburgern 1683 gelungen war, Wien gegen die Osmanen zu verteidigen, gingen sie zum Gegenangriff über. Wichtige Ereignisse des Krieges waren die Rückeroberung Ofens, der Hauptstadt des mittelalterlichen Königreichs Ungarn, im Jahr 1686, die Niederlage der Osmanen bei Nagyharsány ein Jahr später sowie der Sieg Prinz Eugens von Savoyen bei Zenta 1697. Im Frieden von Karlowitz (1699) gelang es, den von den Osmanen besetzten Teil Ungarns mit Ausnahme des Temeswarer Banats zu befreien. Papst Innozenz XI. erklärte die Rückeroberung des Landes zum Kreuzzug gegen den Islam. Die Hungaria eliberata, das von den Osmanen befreite Ungarn, verfestigte sich in der historischen Erinnerung der Ungarn jedoch nicht nur als Sieg über den Islam, sondern trägt durchaus ambivalente Merkmale. II. Historischer Hintergrund Infolge der osmanischen Eroberung wurde das mittelalterliche Königreich Ungarn 1541 in drei Teile gespalten: in das von den Osmanen eingenommene Zentralungarn, in das königliche Ungarn im Westen und Norden des Landes unter den Habsburgern und im Südosten in das sich im 16. Jahrhundert etablierende Fürstentum Siebenbürgen als von den Osmanen abhängiger Vasallenstaat. 1664 gelang es der kaiserlichen Armee, die osmanische Hauptstreitmacht zu schlagen, doch wurde in dem darauffolgenden Frieden von Eisenburg vom 10. August 1664 der Status quo der Grenzen bestätigt. Nicht zuletzt als Ergebnis dieser passiven Osmanenpolitik Kaiser Leopolds I. lehnten sich ungarische und kroatische Magnaten auf. Konnte die Wesselényi-Verschwörung 1671 noch von Wien niedergeworfen werden, so führte der Thököly-Aufstand bei Lichte besehen zu einem vierten Staatsgebilde in Nordostungarn. Die Hohe Pforte bereitete 1683, die Gunst der Stunde ergreifend, einen zweiten Feldzug gegen Wien vor. Die Belagerung der kaiserlichen Residenzstadt blieb jedoch erfolglos. Papst Innozenz XI. vermittelte ein Bündnis zwischen dem römisch-deutschen Kaiser und dem polnischen König Johann III. Sobieski, stellte eineinhalb Millionen Gulden für den Kriegszug zur Verfügung und trug so das Seine zu dem Sieg in Wien 1683 bei, der das Ende der Türkenherrschaft in Ungarn einleitete. Zur Feier des Sieges führte der Papst für die gesamte Weltkirche 931

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den Festtag Mariä Namen am 12. September ein, der sich im katholischen deutschen und ungarischen Sprachraum rasch verbreitete. Das Papsttum versuchte die Macht der Osmanen in Europa nach dem Sieg auf dem Kahlenberg (1683) auf Dauer zurückzudrängen. Aufgrund der Initiative Innozenz’ XI. schlossen Leopold I., Johann III. Sobieski und die Republik Venedig mit der „Heiligen Liga“ ein neues Bündnis gegen das Osmanische Reich. Im Dezember 1685 rief der Papst zu einem christlichen Kreuzzug gegen die Osmanen auf. Zum Sturm auf Ofen im Sommer 1686 kamen Truppen sowohl aus den katholischen Staaten Europas – vor allem Spanien, den deutschen und den italienischen Territorialstaaten – als auch aus den protestantischen, darunter England, Brandenburg-Preußen und Sachsen. Zwischen 1685 und 1689 konnten mit vereinter Kraft Gebiete ganz oder zeitweise zurückerobert werden, welche seit mehr als zwei Jahrhunderten zum Osmanischen Reich gehört hatten: Ungarn, Siebenbürgen und Serbien. Das von Prinz Karl von Lothringen und von Herzog Maximilian Emmanuel von Bayern angeführte, international zusammengesetzte Heer eroberte am 2. September 1686 Ofen zurück. Karl von Lothringen siegte am 12. August 1687 beim südungarischen Nagyharsány über den Großwesir; ein Jahr später nahmen die kaiserlichen Truppen Belgrad ein. Wenig später fielen das serbische Niš und das bulgarische Vidin. Zu der vom Papst erhofften Verdrängung der Osmanen aus Europa kam es jedoch nicht. Nach 1683 wurde für die europäischen Mächte deutlich, daß die Osmanen nicht mehr die Entschlossenheit und die militärische Fähigkeit besaßen, um zu einer Eroberung Gesamteuropas aufzubrechen, so daß das Interesse an der Osmanenfrage in der internationalen Politik spürbar zurückging. Doch schon 1688 kam es zu einer vorübergehenden Wende, als König Ludwig XIV. von Frankreich den vom Papst ausgehandelten Waffenstillstand brach und ins Rheingebiet einmarschierte, wodurch die kaiserlichen Heere vom Kampffeld im Südosten abgezogen werden mußten. In der Folge gelang es den Osmanen, Belgrad, Serbien und Bulgarien zurückzuerobern. Der letzte wichtige Sieg der christlichen Heere wurde von Prinz Eugen bei Zenta am 11. September 1697 errungen. Mit dem darauf folgenden Frieden von Karlowitz am 26. Januar 1699 wurden die Grenzen wieder für längere Zeit gefestigt. Nur das Banat konnte 1717 noch gewonnen werden. III. Hindernisse der Erinnerung In nahezu ganz Europa wurde die als Befreiung dargestellte Rückeroberung Ungarns euphorisch gefeiert. Freudenfeste wurden abgehalten, Gedenkplaketten geprägt und zahlreiche Beschreibungen und bildliche Darstellungen über die Schlachten und Helden publiziert, die die genannten Vorstöße als gesamteuropäische Siege über den „Erbfeind der Christenheit“ für lange Zeit im Bewußtsein verankerten. Zwar wurde die Hungaria eliberata auch in den Ländern der Stephanskrone gefeiert, doch gewannen die Befreiungskriege in der ungarischen Erinnerungskultur nur langsam an Bedeutung. Der Grund dafür waren die Konflikte, die zwischen den Habsburgern und den ungarischen Ständen im 17. und noch zu Beginn des 18. Jahrhunderts ausbrachen. Infolge der habsburgischen 932

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Politik konnten sich ungarische Truppen an der Befreiung der Heimat nicht wesentlich beteiligen. Selbst bei der Rückeroberung Ofens blieben die Ungarn unterrepräsentiert: Die ungarischen Truppen machten nur ein Fünftel der rund 80.000 Mann zählenden Belagerungsarmee aus. Die mit kaiserlichen Waffen errungenen Siege über die Osmanen stärkten einseitig die Position der Habsburger. Schon 1687 waren die ungarischen Stände deshalb gezwungen, auf ihr altes Recht der freien Königswahl zu verzichten. Die weltlichen Grundbesitzer konnten ihre früheren Besitzungen ferner nur gegen Zahlung einer zehnprozentigen Waffenablösungssumme und unter Vorweisung von Dokumenten über ihre Besitzrechte zurückerhalten. Die während der Befreiungskriege mehrmals angehobenen Kriegssteuern und die Überwinterung der kaiserlichen Truppen in Ungarn führten wiederum in der Bevölkerung zu Unruhen. Die Unzufriedenheit mündete 1697 zunächst in einen Aufstand der Bauern im Tokajer Gebiet, in den Jahren von 1703 bis 1711 dann in einen flächendeckenden Freiheitskampf unter Führung von Franz II. Rákóczi. So konnte es geschehen, daß sich Kaiser Leopold I. etwa auf der Schaumünze, die vom Nürnberger Medailleur Hans Jacob Wolrab aus Anlaß der Rückeroberung Ofens geschlagen worden war, als neuzeitlicher Josua und allegorisch als Verteidiger der Christenheit international feiern ließ, während für die Ungarn die sogenannte Befreiung von den Osmanen durch die Habsburger keine wesentliche Verbesserung ihrer Lage brachte. Unter diesen Umständen änderte sich das Bild der Osmanen in Ungarn rasch. Die einstigen Gegner zählten im 18. und 19. Jahrhundert längst nicht mehr zu den „Erbfeinden“, nachdem auch Symbolfiguren der ungarischen Freiheit wie Franz II. Rákóczi 1711 und Lajos Kossuth 18�9 vor der Vergeltung der Wiener Regierung gerade in der Türkei Exil fanden. Vielgelesene Autoren der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts projizierten die Sympathie der Zeitgenossen für die Türkei in die Frühe Neuzeit zurück, so etwa der Hauptarchivar des ungarischen Parlaments, Sándor Takáts, mit seinen gründlich recherchierten und lebendig erzählten Aufsätzen zum 17. Jahrhundert. Der landesweit bekannte Schriftsteller Mór Jókai beschrieb in seinem 1853 erschienenen Roman Török világ Magyarországon (Türkenwelt in Ungarn) neben dem Sultan auch den römisch-deutschen Kaiser und ungarischen König aus dem Haus Habsburg als Übel in der Geschichte Ungarns und Siebenbürgens. Ein zweites Hindernis für die Etablierung einer Memorialkultur stellte die konkurrierende Erinnerung der Teilnehmer dar. So gab es beim Sturm auf Ofen eine Rivalität, wer zuerst die Burg erstürmt habe – die kaiserlichen oder die ungarischen Soldaten. Martin Günther Pechmann aus Bayern wurde 1698 von Leopold I. in den Baronsstand erhoben, weil er der erste bei der Belagerung gewesen sei, der eine der Basteien bestiegen habe. Der Urkunde von Palatin Pál Esterházy von 1707 nach war jedoch János Fiáth, ein Ungar, der erste. Nach der zeitgenössischen Chronik von Mihály Cserei gebührte dieser Titel wiederum Oberst Dávid Petneházy. Die Erinnerung an die genauen Ereignisse während des Angriffs verblaßte nicht zuletzt wegen des nachfolgenden Bevölkerungswechsels in Ofen, so daß schon bald keine Zeitzeugen mehr zu ermitteln waren. So überrascht es nicht, daß die Bewohner Ofens im Juli 17�6 in einem feierlichen Trauerzug von Oberst Endre Ramocsaházy Abschied nahmen, der von sich ebenfalls behaupten konnte, 933

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beim Sturm als erster auf die Burg gelangt zu sein. In der ungarischen Geschichtsschreibung setzte deshalb vor allem nach dem österreichisch-ungarischen Ausgleich von 1867 nicht nur die Veröffentlichung der bis dahin größtenteils unbekannten zeithistorischen Aufzeichnungen, Tagebücher und anderen Quellen ein, es begann auch die Suche nach Belegen für die tatsächliche Größe der ungarischen Truppen in den Befreiungskriegen. In der seit dem 18. Jahrhundert zum größten Teil von Ungarn und zum kleineren Teil von Serben bewohnten Stadt Zenta gab es eine andere erinnerungskulturelle Konkurrenz, die bis heute in der unterschiedlichen Bezeichnung der Kriege gegen die Osmanen zwischen 1683 und 1699 zum Ausdruck kommt. In der ungarischen Geschichtsschreibung wird der Krieg als „Befreiungskrieg“, in der serbischen dagegen als „Wiener Krieg“ bezeichnet. Während der Krieg bei den Ungarn demzufolge einer Befreiung der osmanisch besetzten Gebiete gleichkommt, verweist die serbische Bezeichnung nicht auf das Ziel des Krieges, sondern auf dessen Wendepunkt. 1816, als sich die Stadt zum ersten Mal an den Befreiungskrieg erinnerte, konkurrierten zunächst die historischen Fakten mit der Legende. Sowohl in der ungarischen als auch in der serbischen Volkserinnerung war der Sieg einem göttlichen Wunder zu verdanken. Nach einer Variante der ungarischen Legende war der Sieg der Gottesmutter zu verdanken, während die Serben die Niederlage der Osmanen damit erklärten, daß Gott die Feinde wegen deren Sünden bestrafte, weil diese die Reliquien des heiligen Sava verbrannt hatten. IV. Gedenkorte und Erinnerungsformen In der Hauptstadt Budapest begann die organisierte Erinnerung an die Befreiungskriege erst anläßlich des zweihundertjährigen Jubiläums im Jahr 1886. Historiker legten Dutzende von Quellenausgaben vor und mußten dabei zum ersten Mal feststellen, daß in den in- und ausländischen Archiven eine große Zahl bisher unbekannter Quellen, Tagebücher und Karten zu den Ereignissen aufbewahrt wurde. Der Historiker Árpád Károlyi publizierte anhand eigener Quellenrecherchen die erste Monographie über die Rückeroberung Ungarns. Zahlreiche Artikel erschienen in Zeitungen und Zeitschriften auch auf dem Land. Der Szatmárer Gymnasiallehrer Antal Gyurits beispielsweise übersetzte die Chronik des Paters Casimirio Freschot über Ofens Belagerung von 1686 ins Ungarische und wollte zugleich die Versäumnisse der Dichtkunst damit entschuldigen, daß er mit einer etwas umgeformten Übersetzung eines Liedes von Horaz an Karl von Lothringen erinnerte: „Womit schuldest du, oh Ungar, dem Karl/ dafür sind die Ofner Burg und der zerstörte/ Halbmond Beweise [...]“. Die Hauptstadt, die mit der Organisation der Gedenkveranstaltungen verspätet begann, beauftragte 1885 einen der erfolgreichen jungen Maler der Zeit, Gyula Benczúr, mit der Anfertigung eines großformatigen Gemäldes über die Rückeroberung Ofens. Benczúr studierte anhand der vorhandenen Publikationen die Ereignisse und erhielt auch von der Ungarischen Akademie genaue Anleitungen, um die internationale Zusammenarbeit bei der Befreiung von Ofen hervorzukehren. Benczúrs Gemälde stellte einen Siegeszug 934

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Im Jahr 1685 rief der Papst zu einem christlichen Kreuzzug gegen die Osmanen auf. Zum Sturm auf das ungarische Ofen versammelten sich im Sommer 1686 Truppen aus ganz Europa. Der Sieg über die Osmanen wurde euphorisch gefeiert. Man hielt Freudenfeste ab, prägte Gedenkplaketten und publizierte zahlreiche Beschreibungen und bildliche Darstellungen über die einzelnen Gefechte. Sébastien Le Clerc stellte die Belagerung Ofens sowie anderer ungarischer Städte – Szeged, Simontornya, Fünfkirchen, Siklós und Kaposvár – dar, die nach dem Sieg in der ungarischen Metropole ebenfalls befreit werden konnten. Bildnachweis: Privatarchiv János Barta.

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unter der Leitung von Karl von Lothringen und Prinz Eugen dar, betonte jedoch auch die ungarische Präsenz mit der Figur von Dávid Petneházy im Mittelpunkt. Ein zweites Denkmal des Befreiungskriegs erhielt Budapest eher zufällig. Die Stadt Zenta wollte des zweihundertjährigen Jubiläums der Schlacht von 1697 mit der Errichtung einer Reiterstatue des Prinzen Eugen gedenken. Man bestellte die Statue 1896 beim Budapester Bildhauer József Róna; das kostspielige Vorhaben konnte jedoch trotz einer Spendenaktion in Zenta nicht verwirklicht werden. So wurde schließlich die vom Künstler 1899 fertig gestellte Reiterstatue des Prinzen Eugen auf Vorschlag des ungarischen Ministerpräsidenten, Kálmán Széll, von Kaiser Franz Joseph I. gekauft und ein Jahr später vor dem Burgpalais in Ofen provisorisch aufgestellt. Für den Platz war ursprünglich eine Statue des Kaisers selbst geplant gewesen, die jedoch niemals angefertigt wurde. So steht die zunächst nur vorübergehend aufgestellte Reiterstatue noch immer in der Ofner Burg und erinnert an die Schlacht bei Zenta. Nach dem Ersten Weltkrieg brachte der Friedensvertrag von Trianon neuen Schwung in das Gedenken an Ungarns Rückeroberung. Im dem weitgehend zerrütteten Land wollte man nicht nur die Erinnerung an den nationalen Zusammenhalt stärken, sondern auch den religiösen und ideologischen Hintergrund jener Ereignisse hervorkehren. Die Begeisterung bei der Auswahl der Gedenkorte und der Texte führte allerdings nicht selten zu Irrtümern. Die 1930 an der Graner Bastei der Burg angebrachte Gedenktafel beispielsweise nennt auch den Namen von Palatin Pál Esterházy neben demjenigen Karls von Lothringen. Der Palatin, der an der Verteidigung von Wien 1683 und an der ersten Belagerung Ofens 168� teilgenommen hatte, war jedoch 1686 gar nicht unter den Kämpfern gewesen. Der dritte Name auf der Gedenktafel war der von János Fiáth. Dies stärkte die Tradition weiter, wonach er der erste gewesen sei, der die Mauer der Burg erklommen habe. Auch den europäischen Heeren widmete man, gewissermaßen im Sinne der neuen Waffenbrüderschaft, verschiedene Gedenktafeln. So erinnert eine Tafel von 1934 an die spanischen Soldaten, und 1936 stiftete die ungarisch-italienische Gesellschaft Oberstleutnant Michele d’Asti, der „im schicksalsvollen Angriff“ sein Leben geopfert habe, an der Außenmauer der Budapester Matthiaskirche ein Denkmal. Auf dem Hess-AndrásPlatz steht eine Statue von Papst Innozenz XI., der die „Heilige Liga“ ins Leben gerufen und die Befreiung Ungarns wesentlich vorangetrieben hatte. Im Relief am Sockel der Statue wird der Papst beim Erlaß seiner Bulle abgebildet, in der er zum Glaubenskrieg aufgerufen hatte. Auf dem anderen Relief werden leitende Persönlichkeiten der „Heiligen Liga“ – Papst Innozenz XI., Kaiser Leopold I., König Johann III. Sobieski von Polen und der Doge von Venedig, Marco Antonio Giustiniani – dargestellt. Nachkommen des bei der Stürmung der Burg gefallenen ungarischen Soldaten György Szabó ließen schon 1932 das Grabmal des bei der Rückeroberung umgekommenen Abdurrahman Paşa neu gestalten. Nach der Inschrift des auf der Anjou-Bastei stehenden Grabmals war der letzte osmanische Befehlshaber von Ofen „ein heldenhafter Gegner“. Nach dem Zweiten Weltkrieg versuchte die marxistische Geschichtsschreibung die Bedeutung des Befreiungskriegs herabzusetzen. Vulgärmarxistische Historiker wie Ala936

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dár Mód bewerteten sogar die Türkenherrschaft positiver als die vierhundert Jahre anhaltende Regierung der Habsburgerdynastie. In Zenta feierte man die Erinnerung an die Schlacht seit 1816 regelmäßig unter der Leitung des Magistrats. Der Piarist Ferenc Ugróczi veröffentlichte die erste Monographie zur Geschichte der Schlacht. Seine Arbeit wurde vom Gymnasiallehrer Gyula Dudás, einem aktiven Mitglied der Historischen Gesellschaft des Komitats Bács-Bodrog, weitergeführt; er veröffentlichte zahlreiche unbekannte Quellen und hielt mit seinen Untersuchungen die Erinnerung an die Befreiung in Zenta bis 1914 aufrecht. Die Stadt ließ auch ein bescheidenes Denkmal anstelle der geplanten Reiterstatue errichten. Nach dem Ersten Weltkrieg wurde in Zenta – das nun im Königreich der Serben, Kroaten und Slowenen lag – die Erinnerung an das historische Ereignis nicht weitergeführt, weil Ereignis und Fest als Relikt der ungarischen Zeit bewertet wurden. Lediglich der Gymnasialdirektor Milivoje V. Knežević gedachte in einer Monographie der Schlacht bei Zenta. Erst als sich Historiker und Künstler nach der Gründung des Stadtmuseums und des Archivs 1946 mit dem Thema auseinanderzusetzen begannen, deutete sich eine Wende an. Die jährlichen Festveranstaltungen wurden allerdings erst in den 1990er Jahren wieder eingeführt, nachdem die Stadtverwaltung den 11. September zum Tag der Stadt erklärt hatte. Infolge der nationalen Gegensätze wurde der Feiertag jedoch von den einheimischen Serben zunächst nicht angenommen. Erst das dreihundertjährige Jubiläum, in dessen Rahmen das Denkmal renoviert wurde, führte zu einem allmählichen Umdenken der Serben, wenngleich am Denkmal lediglich eine ungarische Inschrift an die Schlacht erinnert. Man errichtete ferner eine Gedenkkirche, in der jedes Jahr am 11. September ein Gedenkgottesdienst abgehalten wird. Mit dem Bau der Kirche trat das religiöse Motiv anstelle des nationalen Elements in den Vordergrund, wie der Zentaer Historiker Attila Pejin feststellte. Damit wurde jedoch keine in die Zukunft weisende Funktion der Erinnerung gefunden, weil dadurch katholische Ungarn und orthodoxe Serben einander bei Lichte besehen nicht näher gebracht werden. Zudem mangelt es an einem festlichen Ritual. Dennoch spielt die Schlacht bei Zenta erneut eine wichtige Rolle im historischen Bewußtsein der Bewohner von Zenta. V. Auswahlbibliographie a) Quellen Gyurits, Antal (Hg.): Budavár visszafoglalása, 1686 (Casimirio Freschot atya krónikája) [Ofens Rückeroberung, 1686 (Chronik des Paters Casimirio Freschot)]. Szatmár 1886; thaLy, Kálmán (Hg.): Dobay Zsigmond naplója, 1686 [Das Tagebuch von Zsigmond Dobay, 1686]. In: Monumenta Hungariae Historica, Bd. II/22. Pest 1868, �15–�58; bubics, Zsigmond (Hg.): Cornaro Frigyes velencei követ jelentései Buda visszafoglalásának 1686-ban történt ostromáról és visszavételéről [Meldungen des venezianischen Gesandten Federico Cornaro über den Sturm und die Rückeroberung Ofens 1686]. Kassa 1891; KároLyi, Árpád (Hg.): Henrik szász herceg és brandenburgi lovas ezredes naplója Buda 1686-os ostromáról [Tagebuch des Reiterkapitäns Heinrich Prinz von Sachsen über die Belagerung

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János Barta Ofens 1686]. In: Történelmi Tár. Budapest 1886, 503–520, 695–710; Götz, K. (Hg.): Károly Gusztáv baden-durlachi őrgróf jelentései az 1685–1686. évi táborozásról [Meldungen Karl Gustavs, Markgraf von Baden-Durlach, über die Feldlager in den Jahren 1685–1686]. In: Történelmi Tár. Budapest 1887, 275–292, �95–510, 765–780. Budapest 1888, 1�0–159; thaLy, Kálmán (Hg.): Ottlyk György Önéletírása 1663–1711 [Selbstbiographie von György Ottlyk 1663–1711]. Budapest 1875; szaKáLy, Ferenc (Hg.): Schulhof Izsák: Budai krónika [Schulhof Izsák: Ofner Chronik]. Budapest 1981; naGy, Lajos/ szita, László (Hg.): Budától Belgrádig. Válogatott dokumentumrészletek az 1686–1688. évi törökellenes hadjáratokhoz [Von Ofen bis Belgrad. Ausgewählte Dokumente zu den Feldzügen gegen die Osmanen 1686–1688]. Pécs 1987; szita, László/seeWann, Gerhard (Hg.): A legnagyobb győzelem. Dokumentumok az 1697. évi török elleni hadjárat és a zentai csata történetéhez [Der größte Sieg. Dokumente zum Feldzug gegen die Osmanen und zur Geschichte der Schlacht bei Zenta 1697]. Pécs/ Szigetvár 1997.

b) Darstellungen uGróczi, Ferenc: Zentai ütközet [Die Schlacht bei Zenta]. Szeged 1816; dudás, Gyula: A zentai csata [Die Schlacht von Zenta]. Zenta 1885; KároLyi, Árpád: Buda és Pest visszavívása 1686-ban [Die Rückeroberung von Ofen und Pest 1686]. Budapest 1886; néMethy, Lajos: Kik voltak elsők Budavárában [Wer war der Erste in der Ofner Burg?]. In: Századok 20 (1886) 579–589; KároLyi, Árpád/WeLLMann, Imre: Buda és Pest visszavívása 1686-ban [Die Rückeroberung von Ofen und Pest 1686]. Budapest 1936; barKer, Thomas M.: Doppeladler und Halbmond. Entscheidungsjahr 1683. Graz/Wien/Köln 1982; várKonyi, Ágnes: Buda visszavívása 1686 [Die Rückeroberung von Ofen 1686]. Budapest 198�; barta, János: Budavár visszavétele [Die Rückeroberung Ofens]. Budapest 1985; szaKáLy, Ferenc: Hungaria eliberata. Die Rückeroberung von Buda im Jahr 1686 und Ungarns Befreiung von der Osmanenherrschaft (1683–1718). Budapest 1986; barta, László/baLassy, Ildikó (Hg.): A zentai csata [Die Schlacht bei Zenta]. Zenta 1995; baLassy, Ildikó: A zentai Eugen-szobor regénye [Die Geschichte der Zentaer Eugen-Statue]. In: barta, László/baLassy, Ildikó (Hg.): A zentai csata. Zenta 1995, 25–51; peJin, Attila: A zentai csata emlékezete [Das Gedenken an die Schlacht bei Zenta]. Zenta 2001; bahLcKe, Joachim: Hungaria eliberata? Zum Zusammenstoß von altständischer Libertät und monarchischer Autorität in Ungarn an der Wende vom 17. zum 18. Jahrhundert. In: Maťa, Petr/WinKeLbauer, Thomas (Hg.): Die Habsburgermonarchie 1620 bis 17�0. Leistungen und Grenzen des Absolutismus-Paradigmas. Stuttgart 2006, 301–315; peJin, Attila: Lokális és/vagy nemzeti? Történelmi tudathasadásaink és emlékezetkieséseink [Lokal und/oder national? Historische Bewußtseinsspaltungen und Erinnerungslücken]. In: PaPP, Richárd/szarKa, László (Hg.): Bennünk élő múltjaink. Történelmi tudat – kulturális emlékezet. Zenta 2008, 107–139.

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Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia I. Zusammenfassung. – II. Geschichtlicher Überblick. – a) Eingliederung Siebenbürgens in das Habsburgerreich. – b) Die Synode des Jahres 1697. – c) Die Synode des Jahres 1698 und die Große Synode von 1700. – d) Die ersten Jahrzehnte (1701–1737). – III. Grundlinien der Erinnerung an die Union. – a) Vorgeschichte und historischer Kontext. – b) Die Realisierung der Union. – c) Die Jahrzehnte nach der Union (1701–1737). – d) Alba Iulia als Symbolort der nationalen Einheit. – e) Die kommunistische Periode und die Zwangsunion in Alba Iulia von 1948. – f) Die Union von Alba Iulia in der rumänischen Erinnerung nach 1989. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia wurde 1697–1701 beschlossen. In ihrer Folge trat ein Teil der griechisch-orthodoxen siebenbürgischen Rumänen zum Katholizismus über. Das Ereignis ist in der gesamtrumänischen Erinnerung ein strittiges, häufig polemisch debattiertes Thema. Griechisch-katholische Historiker nehmen meist eine defensive Haltung ein und heben aus ihrer Sicht positive Ergebnisse der Union für alle Rumänen hervor: den Aufbau eines rumänischen Bildungssystems etwa, das Eintreten der Unierten für die Rechte der nicht als ständische Nation anerkannten siebenbürgischen Rumänen oder wichtige Impulse für die Entwicklung der rumänischen Sprache, Kultur und nationalen Identität. Die antiunionistische Historiographie hingegen übt Kritik an den Unierten und wirft ihnen die angebliche Spaltung der Nation vor. Dabei betont sie beispielsweise materielle Beweggründe des unierten Klerus für den Übertritt sowie dessen Instrumentalisierung durch die Habsburger. In Alba Iulia selbst konnte sich die Union erinnerungskulturell nicht manifestieren, da das unierte Bistum bereits 1716 die Stadt verlassen mußte. Es wurde nach Fogarasch und später nach Blasenburg verlegt, das zum kulturellen und kirchlichen Zentrum der rumänischen Unierten wurde. Alba Iulia entwickelte sich ab dem 19. Jahrhundert zu einem gesamtrumänischen Symbolort der nationalstaatlichen Einheit – die Ausrufung Michaels des Tapferen als Herrscher Siebenbürgens und der Donaufürstentümer im Jahr 1600 wurde retrospektiv zur ersten nationalstaatlichen Vereinigung der Rumänen stilisiert –, mit der Gründung der rumänischen unierten Kirche wird sie jedoch fast nur von den Unierten und dem orthodoxen Klerus verbunden. Erinnerungskulturelle Bedeutung erlangte die Union erneut 19�8, als die kommunistische Partei genau 250 Jahre nach dem ersten Unionsbeschluß ihre Aufhebung in der orthodoxen Kathedrale in Alba Iulia inszenierte: Nach 1989 wurde das Verbot der Unierten Kirche wieder rückgängig gemacht, ihre Präsenz in der Stadt bleibt jedoch gering.

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I. Geschichtlicher Überblick a) Eingliederung Siebenbürgens in das Habsburgerreich Im Zuge der Zurückdrängung der Osmanen aus dem Territorium des früheren Königreichs Ungarn nahm die habsburgische Armee 1687 das Fürstentum Siebenbürgen ein. Noch vor der Eingliederung begannen Bestrebungen, die Stellung der Katholiken gegenüber den politisch dominierenden Standesnationen der ungarischen Adeligen, der Szekler und der Siebenbürger Sachsen zu stärken, die größtenteils der reformierten und der lutherischen Kirche angehörten. Die römischen Katholiken, meist Ungarn, machten nur einen kleinen Teil der siebenbürgischen Bevölkerung aus. Um den katholischen Anteil zu erhöhen und letztlich eine konfessionelle Überzahl zu bewirken, entschlossen sich die Habsburger nicht für eine gewaltsame Rekatholisierung Siebenbürgens, sondern zielten hauptsächlich auf die Konversion der griechisch-orthodoxen Rumänen. Diese stellten die Mehrheitsbevölkerung, waren allerdings von politischen Rechten ausgeschlossen und als Standesnation und Konfession nicht anerkannt, sondern lediglich geduldet. Das mit der Union verbundene Angebot von politischen, rechtlichen und steuerlichen Privilegien für den Klerus und der Aufbau rumänischer Schulen waren deshalb ansprechend. Weitere Gründe für die habsburgisch-katholische Initiative lagen in den teilweise erfolgreichen Bestrebungen der ungarischen Calvinisten, die Rumänen für eine Konversion zu gewinnen oder in diesem Sinne zu beeinflussen, sowie in der Absicht, die Katholisierung der orthodoxen Donaufürstentümer vorzubereiten. b) Die Synode des Jahres 1697 Wie bei anderen Unionen folgte die katholische Kirche auch hier dem Prinzip, zunächst die Kirchenführung zu konvertieren, die den Prozeß der Katholisierung schließlich unter jesuitischer Aufsicht in die untere Kirchenhierarchie sowie zu den Laien tragen sollte. Dementsprechend konzentrierten sich die Bemühungen der Jesuiten auf die oberste Kirchenhierarchie und den Metropoliten Teofil von Alba Iulia. Die jesuitischen Bestrebungen hatten nach wenigen Jahren Erfolg, der Metropolit erklärte sich zur Union bereit und berief für 1697 eine Synode nach Alba Iulia ein, womit der Unionsprozeß eingeleitet wurde. Diese akzeptierte die vier für eine griechisch-katholische Union festgelegten florentinischen Glaubenssätze. Von besonderer Bedeutung war überdies der im Beschluß formulierte Anspruch, daß die unierten Geistlichen dieselben Rechte wie die römischkatholischen erhalten sollten. Die Synode ging darüber sogar weiter hinaus und forderte für die unierten Laien, daß diesen alle politischen Ämter offenstehen sollten. Der Beschluß der Synode konnte vom Wiener Hof allerdings nicht angenommen werden; Teofil verstarb kurze Zeit nach seiner Unterzeichnung. Sein Nachfolger Athanasie Anghel Popa mußte entscheiden, ob er die Union annehmen oder den Schritt seines Vorgängers rückgängig machen wollte. 940

Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia

c) Die Synode des Jahres 1698 und die Große Synode von 1700 Athanasie stand von Beginn an unter starkem Druck sowohl der orthodoxen Kirchenhierarchie als auch des Woiwoden der Walachei; dennoch entschloß er sich zum endgültigen Bruch. Für Oktober 1698 berief Athanasie eine Synode ein, die unter Teilnahme einer größeren Anzahl an Erzpriestern als im Vorjahr die Vereinigung bestätigte. Um den Beschluß gegenüber den privilegierten Nationen abzusichern – neben den Reformierten und Lutheranern hatten sogar römisch-katholische Priester aus dem Szeklerland gegen die Union protestiert –, erbat Athanasie die Ausstellung eines kaiserlichen Unionsdiploms (1699; auch als Erstes Leopoldinisches Diplom bezeichnet), das die Privilegien für die Gleichstellung des unierten Klerus garantierte. Aufgrund anhaltender Proteste der privilegierten Siebenbürger berief Athanasie 1700 eine große Synode ein. Neben angeblich mehr als 1.600 Geistlichen nahmen erstmals auch Laien als Vertreter ihrer Heimatorte teil. Die vorherigen Beschlüsse wurden bestätigt. Die Wiener Hofkanzlei erklärte sich sogar bereit, neben dem Klerus auch die Laien politisch gleichzustellen; anscheinend sah man keine andere Möglichkeit, um die Rumänen möglichst vollständig zu konvertieren. Dennoch mußten seitens der Unierten empfindliche Zugeständnisse gemacht werden: Der Rang einer Metropolie – die orthodoxe bestand seit spätestens 1599 – wurde aufgehoben, der unierte Bischof dem Erzbischof in Gran unterstellt. Diesem wurde zudem ein jesuitischer Theologe zur Seite gegeben, der als causarum auditor generalis den unierten Bischof zu unterstützen und implizit zu überwachen hatte. Unangetastet blieb die Liturgie, die weiterhin nach östlichem Ritus abgehalten werden konnte. Der habsburgische Landesherr ordnete die Gründung rumänischer Schulen in den größeren Städten an, die unter jesuitischer Aufsicht katholische Bildung vermitteln sollten. Das Diplom wurde am 19. März 1701 ausgestellt, Athanasies feierliche Einsetzung in Alba Iulia fand am 25. Juni statt. d) Die ersten Jahrzehnte (1701–1737) Aus Sicht der konvertierten Kleriker konnten die Unionsbeschlüsse trotz Schwächung der kirchlichen Autonomie und der Herabstufung zum Bistum als Erfolg angesehen werden: Der östliche Ritus durfte fast unverändert beibehalten werden, der calvinistische Einfluß wurde sukzessive ausgeschaltet, die rumänische Unierte Kirche stand unter dem Schutz des Herrscherhauses. Die Gleichstellung konnte jedoch nur teilweise realisiert werden; allein die Beendigung der Leibeigenschaft für die unierten Geistlichen und deren Familien bedeutete spürbare materielle Verluste für die Mitglieder der privilegierten Stände, darunter vor allem für die ungarischen Adeligen, deren Widerstand entsprechend groß und nicht selten auch erfolgreich war. Die Unionsdiplome schufen jedoch für die Rechte der unierten Rumänen eine juristische Grundlage, die über Jahrzehnte hinweg einen Kampf um politische Rechte überhaupt erst ermöglichte. 941

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Für einen Großteil der unierten Laien waren mit der Union in der Regel keine unmittelbaren Veränderungen verbunden. Aufgrund der gleich gebliebenen Liturgie und weil einige Priester den Übertritt für sich und ihre Gemeinde im Geheimen vollzogen, waren viele Gläubige sich der Konvertierung anfangs gar nicht bewußt. Fiel zudem ein Dorfpriester von der Union ab, so folgte ihm prinzipiell die gesamte Gemeinde. Diese Abhängigkeit von den Eliten sowie die geringe Einbindung der unteren Schichten der Gläubigen waren auch mitverursacht durch den Umstand, daß in den ersten Jahrzehnten dem Bistum oftmals Mittel und Möglichkeiten fehlten, um die Union substantiell und nachhaltig zu festigen. Als einer der Hauptgründe für die wachsenden Schwierigkeiten ist ferner zu beachten, daß mit dem Übertritt für die Laien keine Aufhebung der Leibeigenschaft verbunden war, sondern häufig sogar noch höhere Abgaben wie etwa der Kirchenzehnt hinzukamen. Die Union wurde daher nicht nur vom orthodoxen Klerus, sondern auch von den Laien oft als materiell motivierter Opportunismus der Geistlichen wahrgenommen und entsprechend angefeindet. Dies führte zu einer Reihe schwerwiegender Krisen und einer empfindlichen Verzögerung der Stabilisierung der unierten Kirche. Unmittelbar existenzbedrohend war der kurz nach der Union ausbrechende antihabsburgische Kuruzzenkrieg unter Franz II. Rákóczi. Eines der Hauptziele dieses Aufstands war die Unterstützung weiterer habsburgischer Katholisierungsbestrebungen. In Siebenbürgen wurde er zu einem nicht geringen Anteil von leibeigenen Rumänen mitgetragen, denen Rákóczi die Aufhebung der Leibeigenschaft versprochen hatte, woraufhin sie bereitwillig gegen den als privilegierte Elite wahrgenommenen unierten Klerus vorgingen. Angesichts dieser fragilen Konstruktion war die unierte Kirche äußerst beeinflußbar durch politische Konjunkturen und abhängig von der Unterstützung der Habsburger. Der zweite Ereigniskomplex, der die Entwicklung der rumänischen unierten Kirche empfindlich erschwerte und zurückwarf, bildeten das sogenannte Interimat (1713–1723) sowie der erzwungene Umzug nach Fogarasch (1716). Athanasie verstarb 1713. Die Synode zur Wahl eines Nachfolgers empfahl, wie im zweiten Unionsdiplom vorgesehen, dem Kaiser drei Kandidaten. Der Favorit des Hofes, der römisch-katholische Rumäne Ioan Giurgiu Pataki, war allerdings nicht darunter. Die Hofkanzlei mißachtete daraufhin das Wahlrecht der Synode und zwang einen Teil des unierten Klerus, sich für Pataki auszusprechen, der vom Hof schließlich zum Bischof bestimmt wurde. Seine Einsetzung verzögerte sich jedoch bis 1723, bedingt insbesondere durch den erzwungenen Umzug des unierten Bistums: Seit 1556 residierte aufgrund calvinistischer Intervention kein römisch-katholischer Bischof mehr in Alba Iulia und in Siebenbürgen. Mit der endgültigen Etablierung der habsburgischen Herrschaft nach Beendigung des Kuruzzenkrieges konnte 1713 wieder ein katholischer Bischof für Alba Iulia ernannt werden. Kirchenrechtlich wie politisch war die Anwesenheit zweier katholischer Bischöfe in einer Stadt jedoch problematisch. Die Habsburger bestanden daher auf dem Auszug des weniger privilegierten Bischofs; der rumänische mußte daraufhin seinen Sitz nach Fogarasch verlegen, wo einige kleinere Güter und ein baufälliges Schloß zur Verfügung standen. Aufgrund der ungeeigneten Räumlichkeiten und mangelnder finanzieller Unterstützung aus Wien war der 1723 in Fogarasch eingesetzte Pataki gezwungen, in einem Dorf zu residieren. 942

Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia

Zum Dorfbischof degradiert und überdies mit dem eigenen Klerus wegen seiner Veränderung der Liturgie in Streit geraten, war Patakis Wirken (nicht zuletzt bedingt durch seinen frühen Tod 1726) von geringer Nachhaltigkeit. In den Zeitraum des Interimats fällt auch der Beginn des Ausbaus Alba Iulias zu einer Festung. Zur Vorbereitung eines neuen Krieges gegen das Osmanische Reich sollte die Stadt mit modernen Befestigungen ausgestattet werden. Hinderlich waren dabei die unierte Kathedrale sowie der umliegende Klosterkomplex. Der Abriß erfolgte 171�, außerhalb der Stadtmauern wurden mit den Materialien eine neue Kirche – die heutige Trinitätskirche – und ein Kloster errichtet. Die ungünstige Lage in Fogarasch bewog Patakis Nachfolger, Ioan Inocenţiu Micu Klein, den Umzug des Bistums nach Blasendorf für das Jahr 1737 vozubereiten; dort standen zahlreiche Einkommensquellen zur Verfügung sowie repräsentative Gebäude, welche ein standesgemäßes Erscheinungsbild für einen Bischof boten und überdies die Grundlage, die geplanten Bildungsinitiativen unter rumänischer Leitung umzusetzen. Mit dem Umzug endete die unmittelbar mit der Union verbundene erste, instabile Phase in der Geschichte der rumänischen unierten Kirche. Blasendorf wurde zum neuen Zentrum der Unierten, das bis ins 20. Jahrhundert Unabhängigkeit, Legitimität und Bildung repräsentierte, womit auch ein neues Kapitel in der historischen Erinnerung der Rumänen begann, welche sehr bald die Wirren der ersten Unionsjahrzehnte überlagern sollte. III. Grundlinien der Erinnerung an die Union Die Erinnerung der Unierten an das Ereignis der Union ist von einer defensiven, apologetischen Haltung geprägt. Begründet liegt dies hauptsächlich in der Minderheitenposition der Unierten unter der rumänischen Bevölkerung diesseits und jenseits der Karpaten und in ihrem mangelnden Erfolg, die von den Habsburgern versprochenen Privilegien einzufordern. Die Entscheidung zum Abfall von der orthodoxen Kirche war deshalb seit jeher starker Kritik ausgesetzt. Die unierte Historiographie begegnet ihr mit dem Metanarrativ, daß die unierte Kirche eine bedeutende positive Wirkung in nahezu allen Bereichen des rumänischen Lebens entfaltet habe. Außerdem sei die Union vom konvertierten Klerus von Beginn an mit Blick auf alle Rumänen Siebenbürgens und somit im Sinne ethnischer Solidarität beschlossen worden. a) Vorgeschichte und historischer Kontext Die Notwendigkeit der Entscheidung für die Union wurde von der unierten Historiographie in drei Punkten dargestellt: Erstens sei der östliche Ritus durch die Erfolge der Calvinisten gefährdet gewesen; diese hätten bis Ende des 17. Jahrhunderts einen für den Fortbestand der Orthodoxie bedrohlichen Einfluß entfaltet, da sie einerseits kirchenhierarchisch dem Metropoliten und somit dem Klerus übergeordnet waren und andererseits durch Einrichtung rumänischer Schulen und der Förderung des Rumänischen nachhaltig 943

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auf die Rumänen wirken konnten. Die orthodoxe Kirche habe auf diese Situation nicht in angemessener Weise reagieren können. Die Union mit der katholischen Kirche habe dagegen die Beibehaltung des östlichen Ritus mit nur minimalen theologischen Zugeständnissen ermöglicht und die Rumänen somit vor einer äußerst nachteiligen kirchlichen Entwicklung bewahrt, in deren Folge sie ihre traditionelle konfessionelle Identität zumindest teilweise aufgegeben hätten. Zweitens habe die Union erstmals die Erringung der politischen Rechte der privilegierten Nationen in Aussicht gestellt. Eine politische Vertretung der Rumänen, welche eine Änderung ihrer diskriminierenden Stellung hätte betreiben können, existierte nicht. 1692 stellte der katholische Oberherr jedoch dem unierten Klerus im gesamten Reich dieselben Rechte wie dem römisch-katholischen in Aussicht. Die Union und die Politisierung der rumänischen unierten Kirche erscheinen somit in der unierten Historiographie als der langfristig einzig gangbare Weg zur sukzessiven politischen Gleichstellung aller Gläubigen. Drittens wird gerade die Unmöglichkeit einer wirksamen Thematisierung und Aufhebung der Diskriminierung der Rumänen bis Ende des 17. Jahrhunderts den Orthodoxen angelastet: Diese hätten kein Bildungssystem aufgebaut, aus dem Führungspersönlichkeiten hervorgehen konnten, die in der Lage gewesen wären, die Anliegen ihrer Nation kompetent und mit Erfolg zu artikulieren. Die unierte Historiographie betont ausdrücklich, daß die Union untrennbar mit der Absicht verbunden war, mit staatlicher und katholischer Unterstützung ein rumänisches Schulwesen aufzubauen. Die Union sei somit geradezu als Geburtshelfer des rumänischen Bildungswesens in Siebenbürgen anzusehen, welches über Generationen die Grundlage für die Artikulation politischer Rechtsansprüche legte. b) Die Realisierung der Union Bei der Umsetzung der Union während der Synoden und Verhandlungen der Jahre 1697 bis 1701 werden von der antiunionistischen Historiographie insbesondere zwei Punkte kritisiert: die Herabstufung der orthodoxen Metropolie zum katholischen Bistum sowie die spätere Mißachtung des Wahlrechts der Synode zur Bestimmung des Bischofs. Seit etwa 1599 war Alba Iulia durch Entscheidung Michaels des Tapferen orthodoxer Metropolitensitz. Nach der Katholisierung wurde es jedoch zum Bistum herabgestuft und dem Erzbistum Gran unterstellt. Zwar blieb die unierte Kirche damit innerhalb Siebenbürgens und vom 171� eingesetzten römisch-katholischen Bischof in Alba Iulia unabhängig, die Herabstufung sowie die Unterstellung unter einen ungarischen Erzbischof wird jedoch als erniedrigende Maßnahme betrachtet. Die unierte Historiographie reagiert auf diesen Verlust der Kirchenautonomie mit den gängigen Argumenten für die Notwendigkeit der Union, wobei vor allem die erlangte Unabhängigkeit gegenüber den Calvinisten als besonderer Gewinn hervorgehoben wird, der für den Autonomieverlust entschädigt habe. Eine deutliche Kritik an der katholischen Kirche wird wie auch in 944

Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia

anderen Fällen allerdings selten artikuliert, bisweilen wird die Thematisierung der Herabstufung von der modernen unierten Historiographie sogar völlig übergangen. Daß es überhaupt zur Herabstufung kam, wird teilweise noch auf folgende Weise erklärt: Der ehemals orthodoxe Klerus sei aufgrund seiner traditionellen Bildung gar nicht befähigt gewesen, sich gegenüber dem Wiener Hof mit seinen Forderungen durchzusetzen. Mit dieser Perspektivierung betont die unierte Historiographie den aufklärerischen Impuls, den die unierte Kirche im Gegensatz zur orthodoxen erbracht habe. Mit der Herabstufung eng verbunden ist auch die Kritik an der Mißachtung des Wahlrechts der Synode. Das legt den Schluß nahe, daß die Unionssynoden zu ungeschickt gewesen seien und die Habsburger kein wirkliches Interesse an einer tatsächlichen Ausübung der Rechte der rumänischen Unierten hatten. Während im ersten Unionsdiplom der Synode das Recht zugesprochen wurde, ihren Bischof selbst zu wählen, sollte gemäß dem zweiten Diplom der Kaiser aus drei von der Synode bestimmten Kandidaten wählen. Angesichts dieser empfindlichen Einschränkung eines traditionellen Rechts versuchen einige moderne unierte Historiker, die unierte Kirche durch das teilweise nicht nachvollziehbare Konstrukt zweier Unionen zu exkulpieren: Die Synode von 1698 habe in legitimer Weise auf der Beibehaltung der alten Rechte im Gegenzug für den Übertritt bestanden, das zweite Unionsdiplom von 1701 mißachtete diese jedoch und priorisierte die Interessen der Habsburger. Eine Motivation sei dabei auch gewesen, daß der Wiener Hof die Siebenbürger Rumänen von denjenigen aus den Donaufürstentümern durch die Förderung einer möglichst stark von der Orthodoxie distanzierten kirchlichen Entwicklung abspalten wollte. Bei der ersten Union handele es sich somit um die traditionell orientierte, rumänisch geprägte und somit „richtige“ Union, bei der zweiten jedoch um ein gegen die Rumänen gerichtetes Diktat, das zur nationalen Unterdrückungsgeschichte aller Rumänen gezählt wird. Das Zwei-Unionen-Modell eignet sich somit für die Darstellung der Unierten als Opfer und bewirkt den Abbau von Distanz zu den orthodoxen Rumänen: Der Wunsch nach Kontinuität der orthodoxen Tradition wird unterstrichen, alle Mängel der Unionsbeschlüsse dagegen allein den Habsburgern angelastet. Eine ähnliche Richtung schlägt die antiunionistische Historiographie ein; die erste Union sei, insbesondere mit Blick auf die Interessen des Klerus, eher die richtige gewesen. Sie habe aber nicht durchgesetzt werden können und sei deshalb allgemein ein Fehler gewesen. Einige besonders radikale Historiker plädieren sogar dafür, daß die zweite Union nie stattgefunden habe – die erhaltenen Quellen seien nur Fälschungen – und lediglich ein historiographisches Konstrukt sei; die Unierten hätten sich demnach ohne weiteres den Forderungen der Habsburger 1701 ergeben. Eine weitere Richtung leugnet zwar nicht die erste Union, betrachtet die Diplome jedoch als Betrug durch Jesuiten und Habsburger am unierten Klerus; die endgültigen, lateinischsprachigen Fassungen der Beschlüsse seien manipuliert worden, um die Unierten stärker unterdrücken und ihren Ritus latinisieren zu können. Das Bild der guten ersten und der falschen, aufgezwungenen zweiten Union bleibt in diesen Nationalhistoriographien insgesamt erhalten, obwohl gerade die zweite diejenige war, die die auf die Eliten ausgerichteten Beschlüsse von 1698 überwand und Privilegien für alle Gläubigen einforderte. Entsprechend erinnert 945

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die gegen das Zwei-Unionen-Modell gerichtete, gemäßigte unierte Historiographie vor allem an die Einsicht der Kirchenelite, daß diese mit Akzeptierung des Diploms von 1701 zwar die eigene kirchliche Autonomie aufgab, dafür jedoch einen konstruktiven und kontinuierlichen Prozeß der Privilegiengewinnung nicht nur für wenige, sondern für alle unierten Rumänen einleiten konnte. Partikulare kirchliche Rechte seien gegen nationale getauscht worden. Mit der Vorstellung, daß die Union kein Ereignis gewesen sei, wie beim Zwei-Unionen-Modell angenommen, sondern ein beeinflußbarer, dynamischer Prozeß, werden auch Mängel der Union von Alba Iulia relativiert. Bei den Diplomen handele es sich um die Verfassung der Union, deren Bestimmungen erst im Laufe des 18. Jahrhunderts in Kraft gesetzt worden seien und modifiziert werden mußten. Die Leistung der „Gründungsväter“ der Union sei es gewesen, den Mut und die Einsicht besessen zu haben, daß die Kirchenvereinigung für alle Siebenbürger Rumänen der richtige Weg sei. Durch diese Entflechtung der konstitutiven Ereignisse in der Erinnerung sowie bedingt durch den Umzug nach Fogarasch und Blasendorf verliert Alba Iulia als Gründungsort der unierten Kirche an erinnerungskultureller Bedeutung. Der Abriß der historischen Sakralbauten in Alba Iulia – der in der Erinnerung der Unierten kaum, bei den Orthodoxen jedoch als Verlust der vorgeblich von Michael dem Tapferen gestifteten Kathedrale thematisiert wird – sowie die Abwesenheit des hohen unierten Klerus in der Stadt bewirkten überdies, daß dort keine zeitgenössischen architektonischen Erinnerungsorte erhalten blieben. Alba Iulia wurde in der unierten Erinnerung zur „Stadt der Vereinigung“ (oraşul Unirii), wo die Geschichte der rumänischen unierten Kirche begann, ansonsten war es bis 1918 jedoch wenig präsent. c) Die Jahrzehnte nach der Union (1701–1737) Die Zeit des Kuruzzenkrieges, des Interimats und des kurzen Fogarascher Bistums hinterließ keine festen Anhaltspunkte für eine intensive und positive Erinnerung. Es ist daher ein erinnerungskultureller Sprung mit einer Lücke von 1701 bis 1737 zu beobachten, als Bischof Inocenţiu Micu Klein nach Blasendorf umzog und die in den Diplomen garantierten Rechte tatsächlich einzufordern begann. Einer Errungenschaft wird jedoch unmittelbar nach der Union gedacht: des Aufbaus eines Schulsystems für Rumänen. Dieses war das einzige Versprechen, das sowohl die Habsburger als auch die katholische Kirche den Unierten umgehend und in vollem Maße erfüllten. Die Jesuiten erzogen die junge Generation unierter Geistlicher, die im Laufe des 18. Jahrhunderts Bedeutendes leisten sollten. Bis heute stellen die Unierten die Bildung als hervorragendste Errungenschaft ihrer Kirche dar, die auch die Grundlage bereitete für die sogenannte Siebenbürgische Schule, eine Reihe unierter Gelehrter, die mit ihren weithin rezipierten Werken für die rumänische Kultur, Geschichte und Sprache und für die Entstehung des Nationalbewußtseins eine hohe Wirkung entfalteten. Bildung wurde somit zum besten Argument der Unierten, das nicht einmal von der antiunionistischen Historiographie angegriffen werden konnte, zumal die Schulen auch orthodoxen Schülern offenstanden. Die Darstellung 946

Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia

Die um 1965 erstellte Abbildung zeigt konstitutive Erinnerungsorte der orthodoxen Metropolie Siebenbürgens im Kommunismus. Ehemals unierte Kirchengebäude wurden in das orthodoxe Kulturerbe integriert. Bildnachweis: Emilian Birdaş: Alba Iulia, Oraş bimilenar [Alba Iulia, eine zweitausendjährige Stadt]. Alba Iulia 1978, 8.

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der Union von Alba Iulia als Entscheidung für die Bildung zeugt aber letztlich davon, daß die bei der Union gestellten politischen Forderungen der Unierten größtenteils unerfüllt blieben. Im defensiven Diskurs der unierten Historiographie wurde das Lob der Errungenschaften des Bildungssystems kompensatorisch eingesetzt. d) Alba Iulia als Symbolort der nationalen Einheit Alba Iulia trat als bedeutender Ort für die unierte Kirche in der Mitte des 19. Jahrhunderts erneut in Erscheinung. Auf der rumänischen Volksversammlung in Blasendorf 18�8 wurde von den Versammelten gefordert, die alte Metropolie wiederherzustellen. Der Wiener Hof und auch die katholische Kirche unterstützten die Forderung, 1855 wurde die unierte Metropolie zu Alba Iulia und Fogarasch gegründet. Der Metropolit behielt jedoch seinen Sitz in Blasendorf, was darauf hindeutet, daß nicht so sehr die Anziehungskraft Alba Iulias als Gründungsort der Union die entscheidende Rolle spielte, sondern der Wunsch nach einer Rangerhöhung zum Erzbistum. Als weitere Gründe kamen hinzu, daß Blasendorf ein seit über einem Jahrhundert funktionierendes Kirchenzentrum war und daß in Alba Iulia keine Kirche existierte, die als standesgemäße Kathedrale hätte fungieren können. Mit dem Erstarken des rumänischen Nationalbewußtseins sollte auch die Rolle Alba Iulias für die Erinnerung der Nationalgeschichte bedeutend werden. Im Jahr 1600 hatte Michael der Tapfere in der Stadt die Vereinigung der Donaufürstentümer mit Siebenbürgen proklamiert. Retrospektiv wurde seine Herrschaft zur ersten nationalstaatlichen Vereinigung der Rumänen verklärt, Alba Iulia zum Symbol der rumänischen Einheit. Für die Unierten ergab sich damit die Situation, daß ihr religiöser Erinnerungsort auch zu einem nationalen wurde. Eine symbolische Verbindung der Ereignisse der Jahre 1600 und 1700 im Rahmen der Erinnerung Alba Iulias ist aber dennoch nicht möglich gewesen: Sogar im 19. Jahrhundert bekannte sich weniger als die Hälfte der Siebenbürger Rumänen zur unierten Kirche, die somit ein innerrumänischer Trennungsfaktor nicht nur in Siebenbürgen, sondern auch gegenüber den Donaufürstentümern blieb. In Alba Iulia, das nun selbst von den orthodoxen Rumänen als „Stadt der Vereinigung“ bezeichnet wurde, konnte daher nur schwerlich eines Beschlusses gedacht werden, der über Jahrhunderte die konfessionelle Teilung der Rumänen festlegte. Die unierte Historiographie versuchte dem Vorwurf, daß in Alba Iulia die Spaltung der Rumänen beschlossen worden wäre, mit der Vorstellung zu begegnen, daß das Ziel der Unierten von Beginn an nicht nur die konfessionelle, sondern auch die politische Vereinigung gewesen sei. Hierbei wurde insbesondere auf die Bemühungen der Unierten hingewiesen, die Siebenbürger Rumänen als natio valachica zu etablieren, unabhängig von ihrer Konfession. Der radikale Teil der unierten Historiographie sprach überdies von einem angeblichen Plan der Unierten zur nationalen Einheit, die sich 1918 schließlich planmäßig ereignet habe. Zu dieser Behauptung paßt der Umstand, daß 1918 Iuliu Hossu, der unierte Bischof von Klausenburg und Gherla, in Alba Iulia die Proklamation zur Ver9�8

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einigung Siebenbürgens mit dem Königreich Rumänien vorlas. Dennoch wird von den orthodoxen Rumänen als einziger Beitrag der Unierten zur nationalen Einheit das Wirken der Siebenbürgischen Schule betrachtet. Bei der Bewertung ihrer Erfolge wird deutlich, daß diese mehr der Nationszugehörigkeit der Gelehrten und deren nationalromantischem Idealismus als ihrer Konfessionszugehörigkeit zugesprochen werden; dasselbe gilt für Iuliu Hossu, der in Quellen und Historiographie zur Vereinigung 1918 häufig nur als „Bischof“ bezeichnet wird, ohne auf seine Konfession einzugehen. Angesichts dieser Distanz der orthodoxen Rumänen ist die versuchte Integration der Unierten und der Union von Alba Iulia in die nationale Vereinigungsideologie als mißlungen zu bezeichnen. Auf eine Synchronisierung mit der Nationalgeschichte zielt ferner eine extreme unierte Argumentationsrichtung: Byzantiner und Slawen hätten demnach den ursprünglich nicht zur Orthodoxie gehörenden romanischen Rumänen ihre Religion aufgezwungen. Die Orthodoxie sei einerseits – so einige besonders radikale unierte Historiker – verglichen mit dem Katholizismus eine weniger entwickelte Religion, andererseits lehre sie Passivität und lähme die geschichtsbildende Kraft der Rumänen, wogegen der Katholizismus Dynamik vermittele und daher die Erreichung der nationalen Ziele des rumänischen Volkes am besten ermögliche. Die Union von Alba Iulia sei ein mutiger Schritt voller Einsicht in die historische Situation der Rumänen gewesen, der sie zurückführte in die spirituelle und kulturelle Gemeinschaft der europäischen und romanischen Völker, von der die Rumänen durch die slawisch-byzantinische Welt isoliert worden seien. e) Die kommunistische Periode und die Zwangsunion in Alba Iulia von 1948 Neben dem Jahr 1700 stellt das Jahr 19�8 für die Geschichte der rumänischen unierten Kirche das wichtigste Datum dar: Auf Anordnung Stalins wurde in jenem Jahr die unierte Kirche vom kommunistischen Regime Rumäniens verboten. Zuvor war ihre Vereinigung mit der rumänischen orthodoxen Kirche inszeniert worden. Zur formellen Legitimierung dieser Maßnahme bediente sich das Regime des Vereinigungsmythos von Alba Iulia, indem es die Auflösung als spirituelle Wiedervereinigung der Rumänen darstellte: Der offizielle Beschluß der Auflösung wurde am 1. Dezember erlassen, dem Tag der Vereinigung von 1918. Die Proklamation und die Zeremonie der Kirchenvereinigung wurden in Alba Iulia am 21. Oktober, nach gregorianischem Kalender genau 250 Jahre nach dem ersten Unionsbeschluß Athanasies, im Hof der orthodoxen Kathedrale abgehalten. An das Ereignis erinnert bis heute eine in kommunistischer Zeit angebrachte Gedenktafel in der Vorhalle der Kathedrale: „Hier fanden sich nach 250 Jahren die durch Zwang und hinterlistige Versprechungen entzweiten Brüder in demselben Gesetz der Vorfahren wieder, am 21. Oktober 19�8.“ Die Trinitätskirche, umgangssprachlich „Krönungskathedrale“ (Catedrala Încoronării) genannt, die Anfang der 1920er Jahre für die Krönung Ferdinands I. als König Großrumäniens errichtet worden war, wurde auf Anordnung des Regimes umbenannt in „Kathedrale der Wiedervervollständigung“ (Catedrala Reîntregirii). 949

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Das Ereignis wurde von der Kirchenführung als derart bedeutend und konstitutiv empfunden, daß es mit einem großen Gemälde an einem der zentralsten Orte der rumänischen orthodoxen Kirche illustriert wurde: im repräsentativen Saal der Heiligen Synode in Bukarest, aufgestellt unmittelbar hinter dem Sitz des Patriarchen. Die dunkel gekleideten unierten Geistlichen gehen gebeugten Hauptes zum Eingang der Kathedrale, wo sie vom Patriarchen und den erhöht stehenden orthodoxen Klerikern wohlwollend empfangen werden; eine deutliche Anspielung auf das Gleichnis des verlorenen Sohnes. Mehrere Nationalfahnen sind abgebildet, womit einerseits die nationale Bedeutung des Ereignisses hervorgehoben wird, andererseits soll der Betrachter an die Photographien der Volksversammlung von 1918 erinnert werden und den Eindruck erhalten, es handele sich um historisch parallele Ereignisse. Kommunistische Symbole wurden nicht abgebildet; die orthodoxe Kirche habe, so die Aussage des Gemäldes, die Vereinigung mit den Unierten aus eigener Kraft bewirkt, das heißt getragen durch das Festhalten an der nationalen Solidarität und durch Vermittlung des wahren Christentums in der Heimat den Katholizismus überwunden. Sowohl das kommunistische Regime als auch die orthodoxe Kirche bemühten sich hier um die erinnerungskulturelle Perspektivierung, daß auch sie der Vereinigungsideologie anhingen und historisch Bedeutendes leisten konnten, ebenso wie 1918 die Nationalbewegung und die Monarchie. Die orthodoxe Kirche wollte besonders betonen, daß sie die bis 19�8 noch ausbleibende religiöse Vereinigung erreichen konnte und somit in ihrem Wirkungsbereich einen Beitrag zur Nationalgeschichte geleistet und diese stets begleitet habe. Dennoch wurde das Ereignis, vermutlich mit Blick auf seinen gewaltsamen Charakter, eher diskret behandelt – abgesehen von historiographischen Diskursen –, was auch durch den neuen Namen der Kathedrale belegt wird, der sich nicht explizit auf die spirituelle Vereinigung bezieht, sondern auch die nationalstaatliche von 1918 meinen kann beziehungsweise diese nicht ausschließt. Die unierte Historiographie thematisiert das Ereignis gleichfalls eher zweitrangig; viel schwerer wiegt für sie die jahrzehntelange Kollaboration des orthodoxen Klerus mit dem Regime bei der Unterdrückung der Unierten. Mit der inszenierten Vereinigung wurde die orthodoxe Kirche zum Rechtsnachfolger der Unierten und übernahm deren Kirchengebäude und zahlreiche andere Besitztümer. Bezogen auf die Union von Alba Iulia wird dies erinnerungskulturell von Bedeutung, da die orthodoxe Kirche hiermit das Erbe der 171� abgerissenen unierten Kathedrale und des umliegenden Klosterkomplexes mitsamt Klosterkirche übernahm. In ihrer Geschichtsschreibung verschwieg sie meist, daß diese eigentlich der unierten Kirche gehört hatten beziehungsweise in deren Besitz übergegangen waren. Der Abriß durch die Österreicher wird daher als Angriff auf die orthodoxe Kirche und die rumänische Kontinuität in Alba Iulia dargestellt. Da seit dem 16. Jahrhundert ein orthodoxes Bistum in Alba Iulia belegt ist, legitimierte die orthodoxe Kirche die Krönungskathedrale als Fortsetzung der abgerissenen und beanspruchte damit die Deutungsgewalt über die Geschichte der Unierten in Alba Iulia. In Alba Iulia besteht damit bis heute eine erinnerungskulturelle Konkurrenz zwischen Unierten und Orthodoxen um die Kontinuität in der Stadt. 950

Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia

Aufgrund der stark veränderten Situation in der kommunistischen Periode änderten sich auch das Bild der Union von Alba Iulia in der orthodoxen Historiographie sowie insgesamt ihre Perspektive auf die unierte Kirche. Um eine historisch gültige Rechtsnachfolge antreten zu können, mußte bereits die Gründung der unierten Kirche rechtlich und moralisch delegitimiert werden. Die Unionsverhandlungen wurden daher im Kontext eines Angriffs auf die rumänische orthodoxe Kirche dargestellt: Die extreme orthodoxe Historiographie sprach von „Terror und Gewalt“ seitens der Habsburger und von „Lüge und Betrug“ seitens der Jesuiten, die auf den orthodoxen Klerus eingewirkt hätten, sich der katholischen Kirche zu unterwerfen. Alba Iulia wird dabei zum Ort der Verteidigung der Orthodoxie stilisiert und Athanasie zum Anführer der Verteidiger, der sich gemeinsam mit seinem Klerus gegen alle Einschüchterungsversuche wehrte, jede rechtlich bindende Unterschrift verweigerte und letztlich, nach Wien gebracht, der Gewalt weichen und das ohne weitere Verhandlungen überreichte zweite Unionsdiplom akzeptieren mußte. Die orthodoxe Historiographie betont, daß höchstens einige Priester aufgrund der angebotenen Privilegien die Union annahmen, jedoch kein einziges Dorf den Übertritt akzeptiert habe. Der Unionsbeschluß wird somit zum Gewaltakt und für juristisch ungültig erklärt sowie minimalisiert und als undemokratisch dargestellt. Als Konsequenz bestand die orthodoxe Kirche eigentlich weiter, weswegen die extreme Historiographie auch von „zwei orthodoxen Kirchen“ in Siebenbürgen spricht. Die Union von Alba Iulia wurde dabei – in Umkehrung der unierten Perspektive – zur Zwangsunion erklärt, die „Wiederherstellung“ der Kircheneinheit 19�8 dagegen zur freiwilligen Vereinigung. f) Die Union von Alba Iulia in der rumänischen Erinnerung nach 1989 Mit dem Sturz des kommunistischen Regimes trat die griechisch-katholische Kirche aus der Illegalität. Es wurde offenbar, daß ihre kirchlichen Strukturen im Untergrund weiterhin funktionsfähig geblieben waren. Dennoch sollte sie sich nicht mehr erholen können. Zahlreiche Gläubige waren zur orthodoxen Kirche konvertiert, die nun endgültig zur rumänischen Nationalkirche wurde. Aktuell beträgt der Anteil der Unierten an der rumänischen Bevölkerung nur etwa ein Prozent. Eine erinnerungskulturelle Pflege der Union von Alba Iulia stellt deswegen und aufgrund der Notwendigkeit, die Unterdrückung in der kommunistischen Zeit aufzuarbeiten, keine politische Priorität dar. Eine Zeremonie, welche die Erklärung von 19�8 rückgängig machen oder eine Versöhnung der Schwesterkirchen inszenieren würde, fand nie statt. Beide Kirchen behandeln das Thema erstaunlich diskret und verzichten auf eine Debatte. Die historiographische Ausrichtung hat sich mittlerweile auf beiden Seiten etwa auf dieselben Positionen des Zeitraums vor 19�8 zurückgezogen, jedoch mit dem Unterschied, daß die unierte Historiographie ihre Kirche wegen der kommunistischen Verbrechen an ihrem Klerus besonders stark als Opfer darstellen kann. Sie hat somit den moralischen Vorteil gegenüber den Orthodoxen und wird aus diesem Grund auch von atheistisch geprägten Rumänen eindeutig bevorzugt, welche den Katholizismus als fort951

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schrittlichere Religion begreifen. Die Union von Alba Iulia wird beispielsweise in Blogs von Amateurhistorikern als mutige und richtige Hinwendung zur westlichen Kultur betrachtet, die schließlich von den Orthodoxen und den Kommunisten als verbündete Vertreter einer Anti-Moderne zunichtegemacht worden sei. In Alba Iulia selbst bleibt die Union von Alba Iulia in der öffentlichen Wahrnehmung nach wie vor kaum präsent. Im Tourismuskonzept der Stadt spielt sie keine Rolle, da sie architektonisch nicht sichtbar ist und aus den erwähnten Gründen auch keine nennenswerte touristische Nachfrage nach einem Erinnerungsort besteht. Beispielhaft für den Umgang mit der unierten Erinnerung steht die Trinitätskirche, wo auch Bischof Athanasie bestattet liegt. Sein Grab ist gepflegt und restauriert und gibt Auskunft über die „Heilige Vereinigung mit der Heiligen apostolischen römischen Kirche“, ist aber ansonsten schmucklos und unauffällig. Am Kircheneingang wurde eine Inschrift angebracht, die den Sakralbau als Kulturdenkmal der orthodoxen Kirche kennzeichnet. Am auffälligsten ist das vor einigen Jahren vor dem Eingang aufgestellte Denkmal Michaels des Tapferen, das darauf hinweist, daß die frühere Metropolie vom Woiwoden gegründet wurde, also implizit nach seinem Willen die orthodoxe Kirche an diesem Ort gegenwärtig sein solle. Mit Blick auf die gesamte Erinnerungslandschaft der Stadt kann die im Hof der Trinitätskirche konstruierte Erinnerung als radikal gelten – die unierte Kirche, mit Ausnahme des Grabmonuments Athanasies, wird hier einer damnatio memoriae unterzogen –, sie ist aber grundsätzlich dennoch repräsentativ: Die unierte Geschichte wird diskret, aber konsequent durch die Instrumentalisierung des nationalen Einheits- und Opfermythos und des Narrativs über eine angebliche orthodoxe Kontinuität in Siebenbürgen minimalisiert oder übergangen. IV. Auswahlbibliographie pâcLişanu, Zenovie: Cum ar trebui scrisă istoria unirii [Wie die Geschichte der Union geschrieben werden müßte]. In: Cultura Creştină 5/9 (1915) 271–27�; oțetea, Andrei u. a. (Hg): Istoria Romîniei, III: Feudalismul dezvoltat în secolul al XVII-lea și la începutul secolului al XVIII-lea. Destrămarea feudalismului și formarea relațiilor capitaliste [Geschichte Rumäniens, III: Der entwickelte Feudalismus im 17. und zu Beginn des 18. Jahrhunderts. Der Niedergang des Feudalismus und die Formierung des Kapitalismus]. București 196�; bârLea, Octavian: Ostkirchliche Tradition und Westlicher Katholizimus. Die rumänische Unierte Kirche zwischen 1713 und 1727. München 1966; şincai, Gheorghe: Hronica Românilor [Chronik der Rumänen], Bd. 3. Bucureşti 1969 [¹1811]; birdas, Emilian: Alba Iulia, Oraş bimilenar [Alba Iulia, eine zweitausendjährige Stadt]. Alba Iulia 1978; Josan, Nicolae: Muzeul Unirii Alba Iulia [Das Vereinigungsmuseum in Alba Iulia]. Bucureşti 1985; spieLMann-sebestyén, Mihály: Unirea cu Roma în istoriografia maghiară [Die Vereinigung mit Rom in der ungarischen Geschichtsschreibung]. In: Altera (1996) 185–198; soMeşan, Maria: Începuturile Bisericii Române Unite cu Roma [Die Anfänge der mit Rom unierten rumänischen Kirche]. București 1999; 300 de ani de la Unirea Bisericii româneşti din Transilvania cu Biserica Romei [300 Jahre seit der Vereinigung der rumänischen Kirche Siebenbürgens mit der Kirche Roms]. Cluj-Napoca 2000; barta, Cristian/pintea, Zaharie (Hg.): Biserica Română Unită cu Roma, Greco-Catolică: Istorie şi spiritualitate. 150 de ani de la înfiinţarea Mitropoliei Române Unite cu Roma, Greco-Catolică la Blaj [Die griechisch-katholische, mit Rom unierte rumänische Kirche: Geschichte und Spiritualität. 150 Jahre seit der Gründung der grie-

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Die griechisch-katholische Kirchenunion in Alba Iulia chisch-katholischen, mit Rom unierten rumänischen Metropolie in Blasendorf]. Blaj 2003; câMpeanu, Remus: Biserica Româna Unita. Între istorie şi istoriografie [Die rumänische unierte Kirche. Zwischen Geschichte und Geschichtsschreibung]. Cluj 2003; vasiLe, Cristian: Între Vatican şi Kremlin. Biserica Greco-Catolica în timpul regimului communist [Zwischen Vatikan und Kreml. Die griechisch-katholische Kirche in der Zeit des kommunistischen Regimes]. Bucureşti 200�.

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Die Altranstädter Konvention I. Zusammenfassung. – II. Anlaß, Einzelbestimmungen und Wirkungen. – III. Publizistik und Historiographie. – a) Vor 1740. – b) Nach 1740. – IV. Visualisierungen der Erinnerung. – V. Die Bewegung der betenden Kinder. – VI. Rezeption im 20. Jahrhundert. – VII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Am 1. September 1707 schlossen Kaiser Joseph I. und König Karl XII. von Schweden einen Religionsvertrag, der die rechtliche und konfessionspolitische Situation der in Schlesien lebenden Lutheraner zum Gegenstand hatte. Ziel des Abkommens war die Beseitigung verschiedener Diskriminierungen, die Festschreibung des Rechts auf freie Religionsausübung sowie die Rückgabe der seit 1653/54 von der katholischen Seite enteigneten Kirchen. Die Altranstädter Konvention fand in Publizistik und Historiographie im ersten Drittel des 18. Jahrhunderts in Schlesien und in anderen Reichsterritorien starke Beachtung. Die Erinnerung an den eigentlichen Vertragsabschluß wurde jedoch schon bald durch die Erbauung der Gnadenkirchen sowie durch den Herrschaftswechsel von 17�0/�1, den Ersten Schlesischen Krieg und den Breslauer Frieden von 17�2 überlagert. Seit Ende des 19. Jahrhunderts, vor allem seit dem 200. Jahrestag der Konvention 1907, ist eine erneute Auseinandersetzung mit deren Anlaß, rechtlichen Bestimmungen und Wirkungen zu beobachten.

II. Anlaß, Einzelbestimmungen und Wirkungen Karl XII. hatte 1706 auf seinem Kriegszug gegen Sachsen und Polen das Oderland durchquert. Die schlesischen Protestanten, von denen viele den schwedischen König als künftigen Befreier von der restriktiven Konfessionspolitik der katholischen Habsburger ansahen und verehrten, nutzten die Gelegenheit, ihre religiösen Gravamina vorzutragen. Sie verknüpften mit der nach zähen Verhandlungen in Altranstädt bei Leipzig abgeschlossenen Konvention die Hoffnung, nicht mehr aufgrund ihrer Konfession benachteiligt zu werden und ihre Religion künftig frei und gleichberechtigt ausüben zu können. Zusammen mit dem im Februar 1709 ratifizierten Breslauer Exekutionsrezeß, das heißt der offiziellen Bestätigung beider Seiten, daß die Konvention erfüllt worden sei, bildete das Vertragswerk bis ins 19. Jahrhundert die verfassungsrechtliche Grundlage des schlesischen Protestantismus. Es enthielt unter anderem folgende Bestimmungen: Die nach 16�8 zwangsweise (re)katholisierten Kirchen und Schulen in den Fürstentümern Liegnitz, Brieg, Münsterberg und Oels sowie der Stadt Breslau sollten den Evangelischen „wieder eingeräumet“ (Art. I, § 1) und keine weiteren mehr genommen werden (Art. I, § 8); insgesamt wurden 125 Kirchen zurückgegeben. Des weiteren wurde die private Re954

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ligionsausübung in ganz Schlesien ausdrücklich erlaubt (Art. I, § 3). Außerdem sollten alle Adeligen und Untertanen, „in so weit sie dazu geschickt seyn“, unabhängig von ihrer Konfessionszugehörigkeit öffentliche Ämter bekleiden dürfen (Art. I, § 9). Die Friedenskirchengemeinden durften nun Schulen errichten (Art. I, § 2). In Liegnitz, Brieg, Wohlau, Münsterberg und Oels wurde die Errichtung von Konsistorien erlaubt (Art. I, § 7), was die Etablierung einer protestantischen Kirchenstruktur ermöglichte. All diese Vergünstigungen galten jedoch ausschließlich für Lutheraner, nicht für die Reformierten. Mit der Altranstädter Konvention erhielten die lutherischen Schlesier eine eindeutige Rechtsgrundlage. Der Religionsvertrag stellte eine Ergänzung und auch Präzisierung der Bestimmungen des Westfälischen Friedens von 16�8 dar, der Schlesien innerhalb der österreichischen Monarchie schon einmal eine konfessionelle Sonderregelung eingeräumt hatte, obwohl die schlesischen Fürsten und Stände nicht zu den unmittelbaren Reichsständen zählten und sie ihre Interessen weder persönlich noch durch Gesandtschaften auf dem Kongreß vertreten konnten. Der Versuch der Habsburger, ähnlich wie in Böhmen und Mähren auch aus Schlesien wieder ein konfessionell homogenes, katholisches Land zu machen, war infolge des energischen, macht- und konfessionspolitisch motivierten Eingreifens Schwedens zu Beginn des 18. Jahrhunderts endgültig gescheitert. III. Publizistik und Historiographie a) Vor 1740 Das genaue Publikationsdatum der Konvention ist unsicher. Fest steht, daß sie in Breslau zwischen dem 11. und 17. September 1707 bekanntgemacht wurde; in den einzelnen Fürstentümern kam die Kunde mit leichter Verzögerung an (zuletzt in Schweidnitz am 23. September). Die ersten Kirchen wurden bereits Mitte September an die Lutheraner zurückgegeben, was in der Bevölkerung laut einem Bericht des kaiserlichen Gesandten am schwedischen Hof, Ludwig von Zinzendorf, „Zulauff des Gemeinen Manns auf dem Marche, und Exclamationen“ zur Folge hatte. Die unmittelbaren Reaktionen auf den Abschluß des Vertrags in Schlesien fielen allerdings gemischt aus: Die Lutheraner feierten ihn mehrheitlich als Wendepunkt der habsburgischen Religionspolitik und als endgültige Festschreibung ihrer verfassungsmäßigen Rechte. Noch im Januar 1708 schrieb der schwedische Generalbevollmächtigte der Verhandlungen, Freiherr Henning von Stralenheim, in einem Brief, der in der Leipziger Zeitschrift Unschuldige Nachrichten von alten und neuen theologischen Sachen, Büchern, Uhrkunden, Controversien, Anmerckungen und Vorschlägen veröffentlicht wurde, von der Freude der Lutheraner über das göttliche Geschenk. Trotz der Unterstützung von seiten Englands, der Niederlande und Preußens scheiterte der Versuch der Reformierten, in den Religionsvertrag aufgenommen zu werden. Die Katholiken lehnten die Vereinbarung gänzlich ab. Katholische Parodien, Spottgedichte und -lieder auf Karl XII. und Stralenheim sind bereits für 1707 belegt. So wurden beispielsweise mehrere Strophen eines eigens für 955

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Stralenheim verfaßten Sonetts („Erquicktes Schlesien! ach danke Deinem Gott/ Und zünde Weihrauch an in Kirchen und Altären/ Die Dir der tapfre Held läßt unversehrt gewähren,/ Da er Dich frei gemacht von der Gewissens-Noth./ So lang in Schlesien wird Licht und Weihrauch brennen,/ Wird man den Stralenheim auch einen Pharos nennen“) von katholischer Seite umgedichtet zu: „Verblendetes Schlesien! ach gebe Deinem Gott/ Und was des Kaisers ist an Kirchen und Altären!/ Nimm, was Dein Landesfürst aus Gnaden will gewähren,/ Und mach dich also frei von der Gewissens-Noth,/ So lang in Schlesien wird Licht und Weihrauch brennen,/ Wird man den Kaiser doch nur Deinen Herren nennen“. Nach Karls Niederlage gegen Zar Peter von Rußland bei Poltawa am 8. Juli 1709 nahm die Zahl der satirischen und polemischen Gedichte enorm zu. Noch zum Tod des schwedischen Königs im Jahr 1718 sind zahlreiche Spottverse überliefert. Unter den schlesischen Lutheranern setzte dagegen bald nach Abschluß der Konvention eine bis ins 20. Jahrhundert andauernde Legendenbildung um die Person Karls XII. ein. Einer erstmals in den 17�0er Jahren bei Jöran Andersson Nordberg erwähnten, später weiter popularisierten Legende nach soll der König auf seinem Marsch durch Schlesien einem einfachen Schuster geschworen haben, nicht eher ruhen zu wollen, als bis er alle seine Glaubensgenossen aus ihrer Not errettet habe. Vor allem Stralenheim verstand es, die Publizistik innerhalb und außerhalb Schlesiens für seine und Karls Zwecke zu nutzen. So ließ er neben den obligatorischen Flugschriften auch Vertragsunterlagen sowie Korrespondenzen veröffentlichen, die unter anderem auf den großen Messen in Frankfurt am Main und Leipzig verkauft wurden. Dies führte dazu, daß die Entwicklung von den Verhandlungen um die eigentliche Konvention bis zur 1709 erfolgten kaiserlichen Genehmigung von sechs zusätzlichen – später so genannten – Gnadenkirchen von der Öffentlichkeit genauestens verfolgt werden konnte. Außerhalb des Oderlandes nahmen sich Zeitschriften wie die Leipziger Europäische Fama, die Nürnberger Europäische Staats-Cantzley und die bereits erwähnten Unschuldigen Nachrichten des Themas an und verschafften ihm so eine größere geographische Verbreitung. Noch im Jahr 1720 widmete das in Frankfurt am Main erscheinende Theatrum Europæum der Konvention, dem Rezeß und der Errichtung der Gnadenkirchen breiten Raum. Geschuldet war dies dem namentlich nicht genannten Herausgeber, dem 1705 aus Schlesien vertriebenen evangelischen Pfarrer Daniel Schneider. Das Theatrum Europæum berichtete aber nicht nur über die eigentlichen Ereignisse, sondern druckte auch zahlreiche Vertragsunterlagen und Korrespondenzen ab. Anders dagegen die Europäische Fama: Gegründet vom evangelischen Literaten und Theologen Philipp Balthasar Sinold von Schütz, verfolgte sie kritisch die Durchführung der Konvention bis zum Exekutionsrezeß und den anschließend erfolgenden Bau der Gnadenkirchen. Sinold von Schütz war es auch, der unter dem Pseudonym „Irenicus Ehrenkron“ 1708 und 1709 eine zweibändige Schlesische Kirchen-Historie veröffentlichte, in der er die katholische Kirche und besonders die Jesuiten als Hauptschuldige für die Diskriminierung der Protestanten ausmachte: „alle diejenigen Drängnisse, die die Evangel[ischen] Schlesier ausstehen musten, rühreten eintzig und alleine von dem Römischen Idolo, und 956

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den blutgierigen Anschlägen der Jesuiter, und anderer Päbstl[icher] Clerisey her, welche […] hinter S[eine]r Maj[estät] Rücken alles thaten, was ihrem Boßheitsvollen Hertzen nur gelüstete“. Die vordergründige Verteidigung des Reichsoberhauptes zieht sich durch das gesamte Werk. Verweise auf die zeitgenössische gesamteuropäische politische Situation mit dem Spanischen Erbfolgekrieg im Südwesten und dem Großen Nordischen Krieg im Nordosten des Kontinents, durch die Joseph gewissermaßen zur Anerkennung der Altranstädter Konvention gedrängt worden war, finden sich nicht, ebensowenig Hinweise auf die diplomatischen Verhandlungen im Vorfeld. Statt dessen zog Sinold eine simple heilsgeschichtliche Erklärung heran, nach der „die himmlische Barmherzigkeit eine Erlösung“ geschaffen habe; Karl XII. und Joseph I., von den Schlesiern als „zweiter Gustav Adolf“ beziehungsweise „neuer Salomo“ angesehen, seien lediglich die Werkzeuge Gottes gewesen. Die Schlesische Kirchen-Historie wurde zwar 1711 vom Breslauer Magistrat verboten, fand aber trotzdem weitere Verbreitung. Obwohl Sinold von Schützens Darstellung aufgrund ihrer polemischen Konzeption und Argumentation selbst unter den Protestanten auf ein geteiltes Echo stieß, blieb sie doch für lange Zeit das maßgebliche Referenzwerk. Sie prägte – verstärkt noch durch fehlende alternative Beschreibungen der Ereignisse – über Jahrzehnte die Erinnerung an die Altranstädter Konvention. In den Jahren 1710 und 1711 erschien dann die ebenfalls zweibändige Schlesische Kern-Chronicke von Johann David Köhler, der zur Zeit des Vertragsabschlusses als Sekretär Stralenheims fungiert hatte, im Druck. Beide Werke boten aufgrund der zeitlichen Nähe zum eigentlichen Ereignis zwar keine wirkliche Analyse der Nachwirkungen, verhalfen der Konvention aber mittels des Abdrucks von diplomatischen Noten, Korrespondenzen und Vertragsunterlagen zumindest zu einer größeren Transparenz. b) Nach 1740 Nach Josephs I. Tod 1711 setzte unter dessen Nachfolger Karl VI. erneut eine wesentlich restriktivere Religionspolitik ein. Auch die Zensur in Schlesien wurde wieder verschärft. So dauerte es mehrere Jahrzehnte, bis – dann bereits unter preußischer Regierung – eine weitere kirchengeschichtliche Darstellung vorgelegt wurde, die eine der Kirchen-Historie des Sinold von Schütz und der Köhlerschen Kern-Chronicke vergleichbare Rezeption aufweisen konnte: die 1768 publizierte Protestantische Kirchen-Geschichte des gebürtigen Schlesiers und lutherischen Geistlichen Johann Adam Hensel. Ebenso wie Sinold von Schütz lastete Hensel die religiöse Benachteiligung der schlesischen Protestanten vor Abschluß der Altranstädter Konvention vor allem der römisch-katholischen Kirche an; „die gar zu grosse Devotion und Ergebenheit“ des Kaiserhauses vor der Kurie habe dem katholischen Klerus in Schlesien „ziemlich freye Hände gelassen, den armen Protestanten mancherley Druckungen zuzufügen“. Die dadurch verursachten Klagen seien „von Wien zu weit entfernt gewesen, als daß man sie daselbst jedesmal deutlich vernommen und denselben gehörig hätte abhelfen können“. Erst durch göttliches Eingreifen 957

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– in Gestalt König Karls XII. – sei es zur „wunderlich[en]“ Befreiung des lutherischen Schlesien gekommen. Insgesamt war Hensels Sicht auf den Vertrag jedoch durchaus kritisch. Er gab zu, daß „die altranstädtische Convention der protestantischen Kirche in Schlesien zu besonderem Troste hat dienen sollen, und es auch in der That sehr viel gethan hat“, mußte aber dennoch feststellen, daß nicht nur einmal „wider den klaren Buchstaben der Tractaten gehandelt“ worden sei. Die weitaus wichtigere konfessionspolitische Zäsur war für den Verfasser der Regierungswechsel des Jahres 17�0. Mit seiner irenischen Grundhaltung und seinem Streben nach Unparteilichkeit stand Hensel nicht nur an der Grenze zwischen konfessionellem und aufgeklärtem Zeitalter, sondern aufgrund seines Alters auch an der Schwelle zwischen Gedächtnis und Geschichte. Im Jahr 1689 geboren, gehörte er 1768 zu den wenigen, die die Verhandlungen und den Abschluß der Altranstädter Konvention noch bewußt verfolgt hatten und somit eine individuelle Erinnerung an die Ereignisse besaßen. Gleichwohl betrachtete er in seinem Werk den Herrschaftswechsel von den Habsburgern zu den Hohenzollern und nicht die Konvention als maßgebliche Wendemarke für die schlesischen Lutheraner. In der Folge verloren Konvention und Exekutionsrezeß weiter an Bedeutung und wurden – beispielsweise in Karl Ludwig von Klöber und Hellscheborns Von Schlesien (1788) oder in Friedrich Wilhelm Pachalys Sammlung verschiedner Schriften (1790) – nur noch am Rande behandelt. Karl XII. erfuhr in der borussischen Geschichtsschreibung des 19. Jahrhunderts eine deutliche Aufwertung, während umgekehrt die Rolle der Habsburger in der deutschen Geschichte immer offener kritisiert wurde. Eine identitätsstiftende Funktion als Erinnerungsort im eigentlichen Sinn erfüllte die Konvention zu jener Zeit allerdings nicht mehr. Erst gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde sie neuerlich gewürdigt und hervorgehoben. IV. Visualisierungen der Erinnerung Zahlreich sind die Gedenkmedaillen, die entweder die Konvention, die Gnadenkirchen oder das sogenannte Schlesische Kinderbeten zum Gegenstand haben. Die schlesischen Stände zeigten Stralenheim mit einer 1708 eigens geprägten Gedenkmedaille ihre Dankbarkeit „ob fidem regi et relig[ioni] in/ restaurat[ione] sacrorum/ Silesiac[orum] praest[itiam]“. Joseph I. wurde laut einer Zusammenstellung des Breslauer Numismatikers Johann Christian Kundmann (Die Heimsuchungen GOTTES, 17�2) lediglich einmal in Porträtform abgebildet, und zwar in der bereits erwähnten Analogie zu Salomo. Karl XII. als der treibenden Kraft für den Abschluß des Vertragswerks gedachte und dankte man hingegen mit diversen Medaillen: Neben der Darstellung als Porträt – unter anderem 1708 auf dem Avers zusammen mit Königin Anna von England als einer Garantin der Konvention – findet sich auch eine ebenfalls 1708 geschlagene Medaille, die Karl als Reiter in kriegerischer Pose zeigt. Auf dem Revers ist ein Verweis auf Jer 50,�� eingeprägt („Wer ist der Jüngling, den ich wider sie rüsten werde?“). Während 958

Die Altranstädter Konvention

man Joseph als gnädigen Herrscher porträtierte, kam dem schwedischen König die Rolle des Streiters für die protestantische Sache zu. Biblische Motive wie der brennende Dornbusch oder der Palmzweig zeigen die früh einsetzende protestantisch-heilsgeschichtliche Mystifizierung der Person Karls XII. Von König Gustav II. Adolf entliehen wurde ferner die Löwen-Metaphorik, die nicht nur auf Medaillen und Stichen, sondern auch auf dem Frontispiz der Kirchen-Historie von Sinold von Schütz verwendet wurde. Parallel zur heilsgeschichtlichen Deutung bildete man jedoch auch die konkrete verfassungsrechtliche Dimension ab: Auf einer Medaille von 1708 hält der Löwe den Westfälischen Friedensvertrag in seiner Pranke. Die Umschrift „Monstrando restituit rem“ verdeutlicht die Einschätzung des Religionsvertrags seitens der Protestanten: Diese waren sich durchaus im klaren darüber, daß mit der Altranstädter Konvention bei Lichte besehen lediglich religiöse Privilegien verankert wurden, die bereits 16�8 im Westfälischen Frieden gewährt worden waren. Karl XII. konnte diese insofern „zeigen“, also rechtlich belegen, da die Schlesier nichts verlangt hatten, was ihnen nicht ohnehin zustand. In diesem Sinn ist auch die Abbildung des Palmbaums auf derselben Medaille zu verstehen (Ps 92,13: „Der Gerechte gedeiht wie ein Palmbaum“): Durch die Konvention war den protestantischen Schlesiern endlich Gerechtigkeit widerfahren. Eine undatierte Variation dieser Gedenkmünze mit gekröntem Löwen, Confessio Augustana statt Westfälischem Frieden und Palmzweigen anstelle eines Palmbaums war als regulärer schwedischer Taler im Umlauf. Auch bei dieser Prägung deutet die Umschrift auf Wiederherstellung, nicht auf Erneuerung („collapsam fortiter restituit“); sie ist zugleich die einzige, die den Religionsvertrag namentlich erwähnt: Im Abschnitt wird sowohl des „TRACTAT[us] ALTRANSTAD[iensis]“ als auch des Rezesses 1709 gedacht. Der Westfälische Friedensvertrag als Grundlage des Altranstädter Vertragswerks wurde darüber hinaus mehrfach auf Stichen abgebildet, zum Beispiel auf einem allegorischen Kupferstich von Christian Fritzsch aus dem Jahr 17�5: Dort kniet die Personifikation Schlesiens vor Karl XII. nieder und reicht dem König das Dokument. Joseph I. betrachtet die Szenerie aus der Entfernung, ist aber gleichwohl im Vordergrund: Von ihm allein beziehungsweise von seiner Einwilligung hing am Ende das Zustandekommen der Altranstädter Konvention ab. Ein nicht genau datierbarer, jedoch dem unmittelbaren zeitlichen Umfeld der Konvention zuzuordnender anonymer Kupferstich, der auch als Flugblatt verbreitet wurde, zeigt Karl in bestimmender Pose, mit dem Schwert in der Hand, am Verhandlungstisch mit den kaiserlichen Diplomaten, denen er die Bedingungen diktiert (Abb.). Links im Bild ist Papst Clemens XI. mit einem Bannstrahl zu sehen, hinter ihm stehen Kardinäle und Priester und über ihm Mönche, die gleichfalls gegen den Vertragsabschluß protestieren. Trotzdem hat Karl die Aufmerksamkeit fast aller kaiserlichen Räte. Zwei von ihnen – in der Bildmitte – scheinen direkt auf das Schwert zu blicken, wohl wissend, daß der Schwedenkönig im Fall einer Weigerung das Oderland aufgrund seiner militärischen Übermacht rasch einnehmen könnte. Das Zentrum des Bildes nimmt neben der Verhandlungsrunde eines der vorherrschenden Verhandlungsthemen ein: In der oberen Hälfte des Stiches sind gesperrte protestantische Kirchen abgebildet, vor denen sich das schwedi959

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Le triomphe de Luther, anonymer Kupferstich um 1707. Die allegorische Darstellung zeigt die Verhandlungen Schwedens mit den kaiserlichen Unterhändlern. Umlaufend werden der päpstliche Widerstand, die konfessionellen Vorläufer (Luther, Westfälischer Frieden) sowie ein zentraler Gegenstand der Vertragsverhandlungen – die Rückgabe der ehemals protestantischen schlesischen Kirchen – thematisiert. Bildnachweis: Ernst Carlson: Der Vertrag zwischen Karl XII. von Schweden und Kaiser Joseph I. zu Altranstädt 1707. Stockholm 1907, nach 20.

sche Heer postiert hat. Am rechten Bildrand ist Luther zu sehen, der wiederum den Westfälischen Friedensvertrag in Händen hält. Carlson betitelte den Stich mit dem Ausruf Le triomphe de Luther – für ihn war es Karl XII., der nach knapp zwei Jahrhunderten der Reformation endgültig zu ihrem Recht verhalf. V. Die Bewegung der betenden Kinder Eine Sonderstellung innerhalb der Erinnerungskultur im Kontext der Altranstädter Konvention nimmt das sogenannte Schlesische Kinderbeten ein. Kinder im Alter zwischen ungefähr fünf und 14 Jahren versammelten sich täglich – zum Teil sogar mehrere Male – auf freiem Feld oder später auf städtischen Plätzen und zelebrierten etwa einstündige Andachten mit Liedern und Gebeten. Diese der Volksfrömmigkeit zuzurechnende Bewegung manifestierte sich gegen Ende des Jahres 1707. Als Entstehungsorte gelten unter anderem Sprottau (Herzogtum Glogau) und Hirschberg (Herzogtum Schweidnitz); von 960

Die Altranstädter Konvention

dort breitete sich das Phänomen weiter nach Süden aus. Zu Beginn liefen diese Andachten geordnet ab und wurden von vielen Geistlichen mit Wohlwollen betrachtet. Mit der Ankunft der Bewegung in Breslau im Februar 1708 verwandelte sich das Kinderbeten jedoch, so der Breslauer Kircheninspektor Caspar Neumann in seinem Unvorgreifflichen Gutachten, zu einem „fast allgemeinen Auffstande der Jugend“. In der Anfangszeit war zunächst die erwartete Rückgabe der reduzierten evangelischen Kirchen ein Kernthema der Kindergottesdienste. Der Pietist Johann Wilhelm Petersen hielt in seinem 1709 erschienenen Werk Die Macht der Kinder in der letzten Zeit folgendes Gedicht fest: „1. Ach! lieber Gott/ wir haben doch von dir gar viel empfangen/ Und gleichwohl hoffen wir auch noch Was grössers zu erlangen. Du hast sehr viel an uns gethan/ Drum ruffen wir dich weiter an/ Erhöre deine Kinder! 2. Verschaffe doch genädiglich/ Daß wir auch Kirchen haben/ Viel tausend Menschen sehnen sich/ Nach diesen theuren Gaben. Ach höre doch, wie alles schreyt/ Der Weg zur Kirchen ist sehr weit/ Erbarm dich deiner Kinder! 3. O lieber Gott! erwecke doch/ Uns deines Josephs Güte. Vielleicht erhört derselbe noch Der kleinen Kinder Bitte. Du hast ja sonst das theure Pfand/ Des Kaysers Hertz in deiner Hand/ Ach! wend es zu uns Kindern.“ Mit fortschreitender Dauer des Kinderbetens formierten sich zunehmend kritische Stimmen, die vor allem in der lutherischen Orthodoxie und den ihr nahestehenden Publikationsorganen beheimatet waren. Auf pietistischer Seite hingegen – bei Petersen etwa oder in der Europäischen FAMA – propagierte man die Bewegung als ein rein göttliches Werk. Neumann wiederum sprach von einem casus mixtus, der teils von Gott, teils von menschlicher Hand, aber ebenso vom Teufel gelenkt sei. Stralenheim, der Ende Februar 1708 eine Kinderandacht in Breslau besuchte, erkannte, welches Potential das Kinderbeten als Drohkulisse für die andauernden Verhandlungen um die Kirchenrückgabe bot. Ob die Bewegung tatsächlich einen solchen Einfluß hatte, ist umstritten. Hinzu kommt, daß sie schon im April 1708 wieder abgeklungen bzw. von der lutherischen Kirche in geordnete Bahnen gelenkt worden war und demnach bei den Verhandlungen über die Gnadenkirchen in der zweiten Hälfte des Jahres keine Rolle mehr spielte. Bedeutend gewichtiger war der Wirkungsgrad des Kinderbetens in der Publizistik, Historiographie und in bildlichen Darstellungen. Die betenden Kinder jedenfalls konnten sich als Ausdruck der volkstümlichen Frömmigkeit einen festen Platz in der schlesischen protestantischen Erinnerungskultur sichern.

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VI. Rezeption im 20. Jahrhundert Weder im 18. noch im 19. Jahrhundert wurde die Konvention im Rahmen von Gedenkfeiern oder Festschriften breiter gewürdigt. Erst 1907 beging man in Schlesien anläßlich des zweihundertsten Jahrestags ein solches Jubiläum. Am 25. August wurde der Konvention auf Anordnung des Königlichen Konsistoriums in den Gottesdiensten aller evangelischen Gemeinden gedacht. Die Hauptfeier fand am 16. September in der MariaMagdalena-Kirche in Breslau statt. Bestandteil des Jubiläums waren außerdem über das ganze Land verteilte, von Geistlichen gehaltene Vorträge sowie Konzerte. Hierbei läßt sich allerdings nicht mehr von Erinnerung im engeren Wortsinn sprechen; der Vertragsabschluß und sein konfessioneller Kontext wurden vielmehr politisch instrumentalisiert, und zwar sowohl von Preußen als auch von Schweden. Während Preußen die Geschehnisse national-protestantisch umdeutete, inszenierte sich Schweden einmal mehr als Vorkämpfer für Toleranz in Glaubensdingen. Neben der Herausgabe einer Gedenkschrift auf Deutsch wie auf Schwedisch veranlaßte die schwedische Regierung die Aufstellung eines Obelisken im Innenhof des Altranstädter Schlosses, der vom schwedischen Kronprinzen Gustav persönlich eingeweiht wurde. 1935 stellte man überdies in der Teschener Gnadenkirche eine von schwedischen Protestanten gestiftete Büste Karls XII. auf. Auch nach der Vertreibung der Deutschen aus Schlesien wurden 1957 und 1959 noch einmal Jubiläen anläßlich der Konvention bzw. des Exekutionsrezesses begangen. Ebenso ließ die deutsche Botschaft in Stockholm 1968 am 250. Todestag Karls XII. einen Kranz mit der Aufschrift „Die Evangelischen Schlesier in Dankbarkeit für Altranstädt 1707“ niederlegen. Zum dreihundertjährigen Jubiläum fand neben diversen Konferenzen in Deutschland und Polen sowie einer Ausstellung zum Thema „300 Jahre Konvention von Altranstädt – 300 Jahre schlesische Toleranz“ im Schlesischen Museum zu Görlitz ein Festakt im Schloß Altranstädt statt. All diese Bemühungen können aber nicht darüber hinwegtäuschen, daß die Altranstädter Konvention heute kaum mehr in der Erinnerungskultur beziehungsweise im öffentlichen Bewußtsein verankert ist.

VII. Auswahlbibliographie a) Quellen: ehrenKron, Irenicus [sinoLd von schütz, Philipp Balthasar]: Schlesische Kirchen-Historie. Worinnen der Schlesier unterschiedliche Religionen und GOttes-Dienste [...] vorgestellet werden/ Wobey zugleich die von dasigen Evangelischen Ständen Wider die Päbstlichen Eingriffe Geführten Beschwerden Nebst denen darauff erfolgten allergnädigsten Käyserl. Begnadigungen und […] PRIVILEGIIS mit beygefüget worden […]. Frankfurt 11708 [Freystadt 21715]; neuMann, Caspar: Unvorgreiffliches Guttachten Uber die in Schlesien offentlich Bethende Kinder/ Welches […] den 29. Februar. 1708. In der damahligen Abend-Predigt seiner Gemeine fürgetragen/ Und den 18. Martij am Sonntage Lætare Nebst einem Anhange vermehret […]. Breslau 1708; ehrenKron, Irenicus [sinoLd von schütz, Philipp Balthasar]: Der Schlesischen Kirchen-Historie Anderer Theil/ Worinnen Was der Schlesischen Religi-

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Die Altranstädter Konvention ons-Angelegenheiten halber Vor der Hohen Käyserl. und Königl. Schwedischen COMMISSION Ferner vorgegangen und gehandelt worden Kürtzlich enthalten […]. Freiburg 1709; petersen, Johann Wilhelm: Die Macht der Kinder in der Letzten Zeit/ Auf Veranlassung Der kleinen Prediger/ Oder/ der betenden Kinder in Schlesien/ Aus der Heiligen Schrifft vorgestellet […]. Frankfurt/Leipzig 1709; KöhLer, Johann David: Schlesische Kern-Chronicke […]. Nebst einer umständlichen Erzehlung von der Executions-Commission von der Altranstädtischen Convention, Bd. 1–2. Nürnberg 1710–1711; Bericht/ Wie Die Gerechtsame Der Evangelisch-Reformirten in dem Hertzogthum Schlesien/ Ihr Religions-Exercitium, und desselben Restitution […] annis 1707. 1708. 1709. 1710. und 1711 Verschiedentlich darthun und deduciren lassen […]. o. O. 1711; nordberG, Georg A.: Konung Carl den XIItes HISTORIA, Bd. 1–2. Stockholm 17�0 (deutsch u. d. T.: Leben CARL des Zwölften Königs von Schweden […], Bd. 1–3. Hamburg 17�5–1751); KundMann, Johann Christian: Die Heimsuchungen GOTTES in Zorn und Gnade Uber das Hertzogthum Schlesien in Müntzen […]. Leipzig [17�2]; henseL, Johann Adam: Protestantische Kirchen-Geschichte der Gemeinen in Schlesien […] bis auf das gegenwärtige 1768ste Jahr […]. Leipzig/Liegnitz 1768; [KLöber und heLLscheborn, Karl Ludwig von:] Von Schlesien vor und seit dem jar MDCCXXXX, Bd. 1–2. Freiburg [i.e. Breslau] 11785 [21788]; pachaLy, Friedrich Wilhelm: Sammlung verschiedner Schriften über Schlesiens Geschichte und Verfassung […], Bd. 1–2. Breslau 1790–1801.

b) Darstellungen: PalM, H[ermann]: Satiren und Spottgedichte aus Schlesien auf Karl XII. und die Alt-Ranstädter Convention. Nach Handschriften des Königl. Provinzial-Archivs u. der Königl. Universitäts-Bibliothek. In: Schlesische Provinzialblätter N.F. 3 (186�) 32�–331; GoLL, Jaroslav: Der Vertrag von Alt-Ranstaedt. Oesterreich und Schweden 1706–1707. Ein Beitrag zur Geschichte der österreichischen Politik während des nordischen Krieges. Prag 1879; schiMMeLpfenniG, [Carl Adolph]: Die Altranstädter Convention und ihre Durchführung im Fürstenthum Brieg. In: 62. Jahres-Bericht der Schlesischen Gesellschaft für vaterländische Cultur (1885) 352–368; carLson, Ernst: Fördraget mellan Karl XII och kejsaren i Altranstädt 1707. Stockholm 1907 (deutsch u. d. T.: Der Vertrag zwischen Karl XII. von Schweden und Kaiser Joseph I. zu Altranstädt 1707. Stockholm 1907); duMrese, [Hans]: Zur Legendenbildung um Karl XII. In: Correspondenzblatt des Vereins für Geschichte der evangel[ischen] Kirche Schlesiens 11 (1909) 271–27�; Leube, Hans: Volkstum und Protestantismus. Aus den Anfängen der schlesischen Kirchengeschichtsschreibung. In: Jahrbuch des Vereins für Schlesische Kirchengeschichte 29 (1939) 11–27; conrads, Norbert: Die Durchführung der Altranstädter Konvention in Schlesien 1707–1709. Köln/Wien 1971; paWeLitzKi, Richard: Das „Schlesische Kinderbeten“. In: Jahrbuch für schlesische Kirchengeschichte N.F. 65 (1986) 91–100; Kovács, Elisabeth: Österreichische Kirchenpolitik in Schlesien 1707 bis 1790 (Aus Wiener Sicht). In: bauMGart, Peter (Hg.): Kontinuität und Wandel. Schlesien zwischen Österreich und Preußen. Sigmaringen 1990, 239–256; bahLcKe, Joachim: Religion und Politik in Schlesien. Konfessionspolitische Strukturen unter österreichischer und preußischer Herrschaft (1650–1800). In: Blätter für deutsche Landesgeschichte 13� (1998) 33–57; schott, Christian-Erdmann: Die Bedeutung des Westfälischen Friedens für die Evangelischen in Schlesien. In: hey, Bernd (Hg.): Der Westfälische Frieden 16�8 und der deutsche Protestantismus. Bielefeld 1998, 99–111; deventer, Jörg: Gegenreformation in Schlesien. Die habsburgische Rekatholisierungspolitik in Glogau und Schweidnitz 1526–1707. Köln/Weimar/Wien 2003; pLachta, Bodo: Zensur in Schlesien. In: Garber, Klaus (Hg.): Kulturgeschichte Schlesiens in der Frühen Neuzeit, Bd. 1. Tübingen 2005, 521–535; Metasch, Frank (Hg.): 300 Jahre Altranstädter Konvention – 300 Jahre schlesische Toleranz. 300 lat ugody Altransztadzkiej – 300 lat Śląskiej tolerancji. Dresden 2007; WoLf, Jürgen Rainer (Hg.): 1707–2007 Altranstädter Konvention. Ein Meilenstein religiöser Toleranz in Europa. Halle/Saale 2008; sörries, Reiner: Von Kaisers Gnaden. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger Reich.

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Susanne Mall Köln/Weimar/Wien 2008; conrads, Norbert: Die Bedeutung der Altranstädter Konvention für die Entwicklung der europäischen Toleranz [2008]. In: ders.: Schlesien in der Frühmoderne. Zur politischen und geistigen Kultur eines habsburgischen Landes. Hg. v. Joachim bahLcKe. Köln/Weimar/Wien 2009, 149–160; czaiKa, Otfried: Carolus Redivivus oder der wiedererwachende nordische Löwe. Das Bild Karls XII. als Retter des Protestantismus in der proschwedischen Publizistik. In: harc, Lucina/Wąs, Gabriela (Hg.): Religia i polityka. Kwestie wyznaniowe i konflikty polityczne w Europie w XIII wieku. Wrocław 2009, 57–83; berGerhausen, Hans-Wolfgang (Hg.): Die Altranstädter Konvention von 1707. Beiträge zu ihrer Entstehungsgeschichte und zu ihrer Bedeutung für die konfessionelle Entwicklung in Schlesien. Würzburg 2009; GehrKe, Roland: Europäische Großmacht, protestantische Schutzmacht. Der Aufstieg Brandenburg-Preußens im Jahrhundert nach dem Dreißigjährigen Krieg (16�8–17�0). In: bahLcKe, Joachim/dybaŚ, Bogusław/rudoLph, Hartmut (Hg.): Brückenschläge. Daniel Ernst Jablonski im Europa der Frühaufklärung. Dößel 2010, 136–151.

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Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus I. Zusammenfassung. – II. Die josephinische Toleranz und ihre Folgen. – III. Toleranzkirchen – Toleranzgemeinden. – IV. Besonderheiten in Böhmen und Mähren. – V. Toleranzgemeinden als Landgemeinden. – VI. Das innere Leben der Toleranzkirche. – VII. Das Ende der Toleranzkirche und die Entwicklung eines Geschichtsbewußtseins. – VIII. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Mit „Toleranzgemeinden“ beziehungsweise „Toleranzkirche“ werden jene evangelischen Pfarrgemeinden bezeichnet, die aufgrund des von Kaiser Joseph II. erlassenen Toleranzpatents von 1781 im habsburgischen Herrschaftsgebiet gegründet werden konnten. Das Patent sollte aber auch der Homogenisierung des Reiches und der Stärkung seiner wirtschaftlichen Prosperität dienen. Darüber hinaus erhoffte sich der Kaiser durch Erlaß des Toleranzpatents größeren außenpolitischen Spielraum gegenüber den protestantischen Mächten, vor allem gegenüber Preußen. Mit dem Toleranzpatent wurde für die österreichischen Erbländer und für Böhmen und Mähren die seit der Gegenreformation von den Habsburgern betriebene Politik der konsequenten Intoleranz gegenüber den dortigen „Geheimprotestanten“ beendet und der Protestantismus legalisiert. Die damals entstandenen Toleranzgemeinden mit ihren heute nur mehr zum Teil erhaltenen charakteristischen „Bethäusern“ sind Erinnerungsorte für den Toleranzgedanken Josephs II. und seine besondere Religionspolitik gegenüber den „Akatholiken“. Überdies verdichtet sich an diesen Orten symbolhaft das besondere Schicksal der Protestanten in den habsburgischen Gebieten seit den Tagen von Reformation und Gegenreformation. Für die evangelischen Kirchen der Erblande und für Böhmen und Mähren sind die Toleranzgemeinden Symbole für die Glaubenstreue und den Widerstandsgeist eines eindrucksvollen evangelischen Laienchristentums in der Zeit des sogenannten Geheimprotestantismus, welches das evangelische Bekenntnis seit der Gegenreformation mehr oder weniger im Untergrund bis 1781 am Leben erhalten hatte. Die Toleranzbethäuser mit ihrem charakteristischen Aussehen sind eindrückliche Erinnerungsorte der allmählichen Entwicklung religiöser Toleranz in Europa. II. Die josephinische Toleranz und ihre Folgen Das Toleranzpatent trat im Oktober 1781 in Kraft und wurde in den Folgemonaten im gesamten habsburgischen Herrschaftsgebiet publiziert. Es galt für die Protestanten und die „nichtunierten Griechen“. Das Patent bestimmte, daß in jenen Orten und Regionen, wo sich 500 Seelen oder 100 Familien öffentlich als Evangelische meldeten und registrieren ließen, eine Gemeinde gegründet werden durfte, wenn die dafür benötigten 965

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finanziellen Mittel nachgewiesen werden konnten. Genannt wurden im Patent zwei evangelische Konfessionen, zu denen sich die Untertanen melden konnten: das Luthertum und die reformierte Konfession, die in der Amtssprache seither als „evangelisch A. B.“ (Augsburgisches Bekenntnis) und „evangelisch H. B.“ (Helvetisches Bekenntnis) bezeichnet wurden. Auf eigene Kosten durften die so neugegründeten evangelischen Pfarrgemeinden Geistliche und Lehrer anstellen sowie Gotteshäuser („Bethäuser“) und evangelische Schulen errichten. Ebenso konnten nun eigene Friedhöfe angelegt werden. Die Bethäuser mußten dabei in ihrem äußeren Erscheinungsbild einem bürgerlichen Haus entsprechen; alles, was nach außen an ein Kirchengebäude hätte erinnern können, war – ganz in der Tradition der schlesischen Friedenskirchen – verboten. So durften die Bethäuser keinen Turm, kein Geläute, keine nachgotischen langen Kirchenfenster, keine nach außen sichtbare Apsis und keinen öffentlichen Eingang von der Straße besitzen. Außerdem durften sie offiziell nicht als „Kirchen“, sondern mußten als Bethäuser bezeichnet werden. Seit dem 1. Januar 1783 mußten jene, die sich nach diesem Zeitpunkt als Protestanten meldeten, beim katholischen Ortspfarrer einen sechswöchigen Unterricht in der katholischen Lehre absolvieren. Die Bestimmung hatte den Zweck, Übertritte zum Protestantismus einzudämmen, da die Behörden von deren Ausmaß überrascht waren. Trotz aller einschränkenden Bestimmungen wurde das Toleranzpatent, das in den Folgejahren durch eine Reihe von Ausführungsverordnungen ergänzt und konkretisiert wurde, von den Protestanten euphorisch begrüßt. Es ist zu beachten, daß das Toleranzpatent für die jeweiligen habsburgischen Herrschaftsgebiete ganz unterschiedliche Auswirkungen hatte. Während für die Geheimprotestanten der Erblande und der böhmischen Länder mit dem Toleranzpatent die Zeit der Verfolgung und Illegalität beendet war, hatte es demgegenüber für die Protestanten im Königreich Ungarn zwar ebenfalls große Auswirkungen, hier aber bedeutete es nur, daß nun zu den schon seit 1681 bestehenden alten evangelischen Artikulargemeinden zusätzlich neue Pfarrgemeinden gegründet werden durften. In Ungarn hat das Toleranzpatent also eine ältere Rechtstradition überlagert. Während in den Erblanden und in den böhmischen Ländern erstmals seit den Tagen der Gegenreformation legal evangelische Gemeinden entstehen durften, konnte in Ungarn in Folge des Toleranzpatents das evangelische Pfarrnetz verdichtet und eine größere Selbständigkeit der evangelischen Kirche erreicht werden. Ähnliches wie für Ungarn gilt für Österreichisch-Schlesien, wo in Teschen schon seit 1707 eine weit ausstrahlende Gnadenkirche mit eigenem Konsistorium bestand, sowie für Galizien und einige kleinere Gebiete. Joseph II. hatte zunächst gemäß seiner Staatsräson mit dem Toleranzpatent eine einheitliche Gesetzgebung für alle Nichtkatholiken in seinen Herrschaftsgebieten angestrebt. Das Toleranzpatent geriet deshalb außer in Österreichisch-Schlesien noch in Asch, im Dorf Fleißen bei Eger, in Galizien und in Triest in Konflikt mit älteren Vorrechten. Die dortigen Protestanten hatten bereits vor 1781 größere Freiheiten besessen, als ihnen das neu erlassene Toleranzpatent nun gewährte. Nach Verhandlungen, die sich im Fall von Galizien länger hinzogen, blieben diese älteren Vorrechte, die zumeist die eigene Matrikelführung und die Stolgebühren betrafen, dann doch weitestgehend unangetastet. 966

Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus

Obwohl Joseph II. für Ungarn schon beim Erlaß des Toleranzpatents von vornherein die in manchen Komitaten bestehenden älteren Privilegien bestätigt hatte, gab es auch hier – trotz aller Euphorie über das Patent – kritische Stimmen, weil man in ihm nicht auf die alten Friedensverträge Bezug genommen hatte und das Gesetz aus Sicht der Ungarn nicht verfassungsgemäß in einem Landtag zustandegekommen, sondern vom Kaiser nur gnadenhalber erlassen worden war. Aufgrund dieser regionalen und länderbezogenen Unterschiede werden in der Literatur deshalb in erster Linie die neu konstituierten Toleranzgemeinden in den Erblanden sowie jene in Böhmen und Mähren, wo die ehemaligen Geheimprotestanten aus dem Untergrund auftauchten, als „Toleranzkirchen“ bezeichnet. In Ungarn wurden demgegenüber die Toleranzgemeinden in eine mit dem Toleranzpatent entstehende größere kirchliche Organisation eingebracht, die trotz dieser unterschiedlichen Gestalt im ersten Jahrzehnt nach Erlaß des Toleranzpatents zunächst ebenfalls noch als Toleranzkirche bezeichnet werden kann. In Ungarn wurden aber bereits 1791 unter Leopold II. die aus ungarischer Sicht bestehenden Verfassungsmängel auf einem Landtag in Ödenburg ausgebessert und die beschränkenden Bestimmungen des Toleranzpatents für die neu gegründeten Toleranzgemeinden mit wenigen Ausnahmen aufgehoben, so daß die evangelischen Kirchen Ungarns seither tatsächlich autonom waren und deshalb keine Toleranzkirchen mehr darstellten. Dagegen endete die Ära der Toleranzkirche in den Erblanden und in Böhmen und Mähren erst mit dem Revolutionsjahr 18�8. In den österreichischen Erblanden – also ohne das heutige Burgenland – wurden bis 1795 insgesamt 28 Gemeinden (ohne Tochtergemeinden) gegründet, wobei der Schwerpunkt in Kärnten und Oberösterreich lag. Darunter befand sich bemerkenswerterweise auch eine slowenischsprachige Gemeinde (Agoritschach), deren geistliche Lektüre slowenische Drucke des 16. Jahrhunderts gewesen waren, die sich aber im Laufe des 19. Jahrhunderts assimilierte. In Böhmen und Mähren bestanden um 1790 insgesamt bereits 2� Gemeinden A. B. und 51 H. B., einschließlich der Filialgemeinden waren es 32 in Mähren und 45 in Böhmen, und zwar mehrheitlich tschechischsprachige. Die Toleranzgemeinden wurden dort vor allem in Südmähren, im mährisch-böhmischen Bergland sowie in Ostböhmen und im Elbtal gegründet. In Österreichisch-Schlesien zählte man bis 1787 elf Toleranzgemeinden, ab 1820 waren es endgültig zwölf. In Ungarn gründeten die Protestanten bis 178� insgesamt 165 lutherische und 102 reformierte Muttergemeinden, zu denen noch 586 lutherische und 162 reformierte Filialgemeinden gehörten. Diese besaßen zwar keinen eigenen Pastor, aber ein eigenes Bethaus mit Schule, so daß man hier insgesamt auf 1.015 Gemeinden kommt. Von diesen ungarischen Toleranzgemeinden befanden sich 8� auf dem Gebiet der heutigen Slowakei. Wie in Ungarn entstanden zusätzlich zu den schon bestehenden Pfarren 18 Toleranzgemeinden in Galizien (davon zwei reformiert) und vier lutherische Gemeinden in der Bukowina. Die Zahl der während der ersten Gründungswelle ins Leben gerufenen Toleranzgemeinden erhöhte sich bis 18�8 nur mehr unwesentlich. Die Ursache hierfür ist unter anderem in der zunehmend restriktiven Politik der staatlichen Behörden zu sehen, die sich in den ersten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts mancherorts mit ersten ultramontanen Regungen vereinen konnte. 967

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III. Toleranzkirchen – Toleranzgemeinden Das religionspolitische Ziel Josephs II. war „Mission durch Toleranz“. Mit aufgeklärtem Optimismus hofften er und seine Berater, daß durch eine moderne, ganz auf Seelsorge ausgerichtete kirchliche Praxis die Protestanten am ehesten in die katholische Staatskirche integriert werden könnten, um so ein einheitliches Kirchentum zu erreichen. Um die Religionspolitik Josephs II. richtig beurteilen zu können, muß man sich die Tatsache vor Augen halten, daß auf eine neu gegründete Toleranzgemeinde gleich acht neue katholische Pfarrgründungen kamen, die aus dem Religionsfond finanziert wurden, der seinerseits aus den Klosteraufhebungen gespeist wurde. Ganz auf dieser Linie intendierte das Toleranzpatent deshalb keineswegs, wie schon die Bestimmungen bezüglich der Bethäuser deutlich machen, die Entstehung einer eigenen neuen evangelischen „Kirche“ neben der katholischen: Das Patent gewährte kein „öffentliches Religionsexerzitium“, das auch künftig allein der katholischen Kirche vorbehalten blieb, sondern nur ein vom Staat anerkanntes „Privatexerzitium“. Der Staat stimmte trotz der gewährten Toleranz den Lehren der Protestanten inhaltlich nicht zu. Die Evangelischen wurden im Toleranzpatent und in der öffentlichen Amtssprache deshalb über die dominante katholische Konfession definiert, die in den Augen des Staates allein wirkliche Kirche war: Sie wurden als „Akatholiken“ bezeichnet. Folgerichtig durften deshalb die Akatholiken auch nicht ihr eigenes Selbstverständnis als Kirche öffentlich repräsentieren; ihnen wurde nur die Errichtung von „Bethäusern“ erlaubt, aber nicht von „Kirchen“. Dem entsprach die reale rechtliche Situation vor Ort, die sich in einer Reihe einschränkender Bestimmungen äußerte. Die neu entstandenen Toleranzgemeinden blieben weiterhin in das bestehende katholische Parochialnetz einbezogen. Evangelische Taufen, Heiraten und Beerdigungen mußten vom katholischen Pfarrer bestätigt werden, dem auch die amtliche Matrikelführung oblag. Auch wenn die Toleranzgemeinden eigene Kirchenbücher führten, waren doch nur die Matrikeln der katholischen Pfarren rechtsgültig. Da die katholischen Gemeinden beziehungsweise die katholische Kirche durch die Gründung von Toleranzgemeinden keine finanziellen Einbußen erleiden durften, mußten die Stolgebühren weiterhin dem katholischen Geistlichen bezahlt werden, so daß die akatholischen Gemeindeglieder diese nun doppelt zu entrichten hatten: einmal für die katholische Pfarre und einmal für die eigene. Taufen von evangelischen Kindern konnten, sofern dies nicht anders möglich war, ebenfalls vom katholischen Geistlichen vorgenommen werden. Der evangelische Pastor durfte sich außerdem nicht wie sein katholischer Kollege „Pfarrer“ nennen. Auch die individuelle Dispenspflicht für Akatholiken bei Liegenschaftserwerb und bei der Bewerbung für Bürger- und Meisterrechte sind hier zu nennen. In gemischtkonfessionellen Ehen mußten im Fall, daß der Vater Katholik war, alle Kinder katholisch getauft werden. War der Vater evangelisch, folgten nur die Söhne seiner Konfession. Die Bestimmungen des Toleranzpatents gingen so zwar insgesamt eindeutig über die Gewährung einer bloßen religiösen Gewissensfreiheit und einer häuslichen Andacht (devotio domestica) hinaus, erreichten aber eben nur die Stufe des religiösen Privatexerzi968

Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus

tiums. Insofern kann sogar die Frage gestellt werden, ob überhaupt von einer eigenen evangelischen „Toleranzkirche“ gesprochen werden darf. Dabei handelt es sich allerdings um die katholisch geprägte Rechtssicht des Staates. Die evangelischen Toleranzgemeinden empfanden die einschränkenden Bestimmungen zwar als schmerzlich, verstanden sich aber selbstverständlich als Kirche. Die Gemeindeglieder und ihre Pastoren wußten und betonten, daß ihre rechtliche Situation als Religionsgemeinschaft durchaus der Definition von Kirche in den evangelischen Bekenntnisschriften entsprach, nach der Kirche überall schon dort ist, wo das Wort Gottes gepredigt und die Sakramente rite gespendet werden. Zudem besaßen die Toleranzgemeinden mit den zwei Konsistorien (A. B. und H. B.) in Wien, an deren Spitze ein gemeinsamer (katholischer) Präsident stand, sowie mit dem Amt der Superintendenten eine eigene „Kirchenleitung“ und damit tatsächlich eine eigene Kirchenorganisation. Bezeichnenderweise versuchten die Toleranzgemeinden von Beginn an immer wieder, ihre Bethäuser möglichst kirchenähnlich zu machen. Dies zeigen unter anderem Beispiele in Kärnten, wo man offenbar das napoleonische Intermezzo für solche Adaptierungen an den Bethäusern nutzte (Anbau einer Apsis, Einbau langer Kirchenfenster). Prägend für die Toleranzkirche waren trotz der übergreifenden Kirchenorganisation in der Praxis des seelsorgerlichen und liturgischen Lebens insgesamt die einzelnen weitgehend eigenständig agierenden Toleranzgemeinden vor Ort, so daß aufgrund der rechtlichen und wirtschaftlichen Gegebenheit und durch die mit den neuen Pastoren kommenden verschiedenen Traditionen sowie wegen der konfessionell komplexen Lage in Böhmen und Mähren eine gewisse Vielfalt entstand. IV. Besonderheiten in Böhmen und Mähren Problematisch in seiner Anwendung erwies sich das Toleranzpatent in der Praxis für Böhmen und Mähren, da das Patent nur zwei Konfessionen (A. B. und H. B.) vorsah. Die Hussiten und die Böhmischen Brüder wurden im Patent nicht genannt, so daß sich Personen, die sich einer diese beiden Traditionen verpflichtet fühlten, für eine der beiden im Text explizit genannten Konfessionen entscheiden mußten. Zum Teil wurden sie diesen auch nach dem Gutdünken der Behörden einfach zugeordnet. Die Verbundenheit mit Frömmigkeitstraditionen des Hussitismus und der Böhmischen Brüder dürfte ein Grund dafür gewesen sein, daß sich in Böhmen und Mähren etliche Gläubige nach 1781 zwar von der katholischen Kirche abwandten, sich dann aber weigerten, in eine der beiden evangelischen Konfessionen einzutreten oder sich zunächst gar „freikirchlich“ organisierten. In dieser Situation setzten ab etwa 1782, oft nach den ersten Predigten der neuinstallierten Pastoren, bemerkenswerte Übertrittsbewegungen zwischen den beiden offiziell anerkannten Konfessionen ein. Manche Gemeinden spalteten sich in dieser Zeit. Dies stellt ein Spezifikum für Böhmen und Mähren dar, das aus der besonderen Christentumsgeschichte dieser Länder herrührt. Die Gemeindemitglieder wurden sich offenbar erst allmählich ihrer religiösen Identität bewußt. Das Reformiertentum dürfte vielen, die 969

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vor 1781 im Untergrund im Umkreis einer vagierenden Frömmigkeit in der Tradition des Hussitismus und der Böhmischen Brüder gelebt hatten, in ihren eigenen religiösen Überzeugungen nähergestanden haben. Ein eindrückliches Denkmal für diese Entwicklungen in Böhmen und Mähren sind die zwei Toleranzbethäuser in dem kleinen südböhmischen Dorf Groß Lhota, die von der örtlichen reformierten und lutherischen Toleranzgemeinde errichtet worden waren. Die Tendenzen hin zu reformierten Traditionen und der plötzliche Bedarf an Pastoren wurden von Beginn an von den ungarischen Reformierten registriert. Bereits 178� waren 33 reformierte Magyaren als Pastoren in den Toleranzgemeinden in Böhmen und Mähren tätig, eine Zahl, die sich in den ersten zwei Jahrzehnten auf 67 erhöhen sollte. Die reformierten Kollegien in Ungarn – allen voran in Debrecen – bildeten kostenlos böhmische und mährische Theologiestudenten aus. Auch die Kontakte zu den reformierten tschechischen Exilgemeinden (Berlin) spielten hierbei eine Rolle. Neben diesen Faktoren ist der Hang zum Reformiertentum ferner mit dem in allen Regionen zu beobachtenden Widerstand der Toleranzgemeinden und ehemaligen Geheimprotestanten gegenüber obrigkeitlicher Bevormundung in religiösen Fragen zu erklären. Dieser Unmut äußerte sich in Böhmen und Mähren in der Hinwendung zu einer betont antikatholischen Haltung, die man bei den Reformierten besser gewährleistet sah als bei den Lutheranern. Auch für die lutherischen Toleranzgemeinden waren Pastoren aus Ungarn, vor allem aus der Slowakei, wichtig. Bis 1800 waren 51 lutherische und 67 reformierte ungarische Prediger in Böhmen und Mähren tätig. Als weiteres Charakteristikum ist auf die vereinzelten freikirchlichen, mitunter sektenähnlichen Gemeindegründungen der sogenannten Deisten/Israeliten („Lamplbrüder“) hinzuweisen, die schwerpunktmäßig in der Region Chrudim auftraten. V. Toleranzgemeinden als Landgemeinden Bei den entstehenden Toleranzgemeinden ist zwischen denjenigen in den großen Städten und den in ländlichen Regionen zu unterscheiden. Die klassischen und meisten Gemeinden bildeten sich auf dem Land und setzten sich aus Bauern, Handwerkern und deren Familien zusammen, waren entsprechend arm oder wenig vermögend. Die Gemeinden in den Städten entstanden dagegen mehrheitlich später und waren häufig Filialgemeinden von benachbarten ländlichen Toleranzgemeinden. Sonderfälle stellen dabei die Gemeinden in Wien, Prag und Brünn dar. So wurden in Wien die privilegierten Gesandtschaftskapellen der lutherischen und reformierten Staaten zusammengelegt und in eine lutherische und eine reformierte Toleranzgemeinde umgewandelt; die ersten Pfarrer waren für die Lutheraner der dänische und für die Reformierten der holländische Gesandtschaftsprediger. In Prag wurde eine von einem Patron finanzierte Militärgemeinde zum Kristallisationspunkt der Gemeinde, der Militärpfarrer nach einigen Jahren der Pastor der Toleranzgemeinde. In Brünn bildete sich eine von Unternehmern finanzierte Gemeinde. Diese Stadtgemeinden waren vergleichsweise vermögend. Die Entstehung der ländlichen Toleranzgemeinden war nur durch die beeindruckende Initiative und den Opferwil970

Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus

len der ehemaligen Geheimprotestanten möglich, die als Laien ihre Gemeinden oft unter widrigen Umständen organisieren mußten. Auf eigene Kosten waren ein Grundstück für das Bethaus und die Schule bereitzustellen und auch die Bauten zu finanzieren, nur selten wurden sie von der Grundherrschaft unterstützt. Bis zur Ankunft des ersten Pastors hielten sie – so wie früher im Untergrund – Wortgottesdienste, nun allerdings öffentlich. Obwohl nach einiger Zeit Spenden aus dem Ausland eintrafen, trugen die Gemeinden selbst doch die finanzielle Hauptlast. Von größter Bedeutung für die Toleranzgemeinden waren die im Patent bewilligten konfessionellen Grundschulen. Zu einer Toleranzgemeinde gehörten stets Bethaus und Schule, beide bildeten eine untrennbare Einheit. Man baute deshalb kleine evangelische Zentren mit Bethaus, Schule, Pfarrhaus und evangelischem Friedhof. Der Schulunterricht war für die religiöse Sozialisation der Heranwachsenden zentral, lernte man doch in erster Linie anhand der biblischen Geschichten und anhand des Katechismus Lesen und Schreiben. Gerade in den Landregionen erwies sich der Unterricht in den neuen Schulen als attraktiv, in manchen Gebieten ist ein regelrechter Alphabetisierungsschub zu beobachten. Im Unterschied zu den Pastoren mußten die Lehrer Landeskinder sein. VI. Das innere Leben der Toleranzkirche War die Toleranzgesetzgebung auch einengend, so konnte die Toleranzkirche doch nach innen ungehindert evangelisches Leben entfalten – ganz so, wie ihre Gotteshäuser nach außen bürgerlichen Häusern glichen, in ihrem Innern aber nach allen Regeln der Kunst als typische spätbarocke Kirchenräume gestaltet waren. Die Ankunft des ersten Pastors samt der Pfarrfrau seit den Tagen der Gegenreformation wurde in den ehemals geheimprotestantischen Gebieten mit ihrem katholischen Umfeld sehnsüchtig erwartet. Sie wurden mit Jubel und der größten Ehrerbietung begrüßt. Bald jedoch stellten sich nicht selten Irritationen ein. In den ehemals geheimprotestantischen Regionen trafen die in religiösen Fragen selbstbewußten ehemaligen Geheimprotestanten, die zuvor als Laien im Untergrund mit Hausgemeinden ihre evangelische Identität zeitweise unter großen Gefahren bewahrt hatten, erstmals auf Berufstheologen, die oft aus einem anderen Frömmigkeitsmilieu stammten und außerdem geistlichen Gehorsam erwarteten. Es kam vielerorts zu Spannungen zwischen den an Universitäten in aufgeklärter Theologie geschulten Pastoren und den eigenwilligen Gemeindemitgliedern, die noch ganz in der Frömmigkeit der alten Erbauungsliteratur lebten. Bei Visitationen brachten nicht selten Gemeindemitglieder den Wunsch vor, der Pastor möge doch wenigstens hin und wieder über den Punkt der Rechtfertigung predigen. Da der josephinische Staat Einheitlichkeit auch im evangelischen Kultus wollte, war man bestrebt, eine einheitliche Agende und ein gemeinsames Gesangbuch einzuführen. Insbesondere beim Gesangbuch werden in den Erbländern (Kärnten, Steiermark und Oberösterreich) zum Teil schwere Konflikte zwischen der Kirchenleitung beziehungsweise den Pastoren und den Gemeinden sichtbar. Die Pastoren, die die Gesangbücher 971

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durchzusetzen hatten, stießen dabei auf eine Mauer des Widerstands, der sich zunächst am aufklärerischen Geist der neuen Gesangbücher entzündete, in dem die Gemeinden ihre alten vertrauten Lieder vermißten, die ihnen während der Verfolgungszeit Trost gespendet hatten. Der aufgeklärte Staat hatte besonders „antikatholische“ sowie konfessionell konfliktträchtige Lieder und Passagen getilgt, weil sie nicht dem Geist der josephinischen Toleranz entsprachen. Doch gerade diese Lieder waren vor 1781 identitätsstiftend gewesen. Damit untrennbar verwoben war schließlich ein allgemeiner Widerstandsgeist der Toleranzgemeinden gegen die obrigkeitliche Bevormundung in religiösen Fragen. Die Gläubigen reagierten so, wie sie es bereits vor dem Toleranzpatent unter anderen Vorzeichen praktiziert hatten. Zu Reibungen und Mißverständnissen mit den neuen Pastoren kam es auch im konfessionell und religiös unübersichtlichen Umfeld in Böhmen und Mähren, wo vor allem in den ersten Jahren sprachliche Schwierigkeiten und religiöse Differenzen zwischen den Gemeinden und ihren neuen Pastoren zu beobachten sind. Allgemein traf das pfarrherrliche Selbstverständnis auf wißbegierige und neugierige, aber eben auch auf selbstbewußte Gemeindemitglieder, die schon andere Zeiten erlebt hatten und die neben den Sonntagsgottesdiensten weiterhin ihre alten Hausandachten pflegten. Neben aufgeklärten Geistern gab es unter den Pastoren eine pietistische Richtung, die zum Teil von der sich gerade formierenden Erweckungsbewegung geprägt war. Hier wurden die „Basler Christentumsgesellschaft“ und ihre Niederlassung in Nürnberg (Johann Tobias Kießling) aktiv. Es gelang ihr aber nur, in Oberösterreich auf Dauer Fuß zu fassen, vergleichbare Bemühungen in Böhmen und Mähren blieben erfolglos. Dort wurde die Erweckungsbewegung in den Toleranzgemeinden dann aber in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts sehr einflußreich. Insgesamt war die Frömmigkeit der Lutheraner in den Toleranzgemeinden von einem erdverbundenen Katechismusluthertum und der alten Postillenliteratur, bei den Reformierten durch die Orthodoxie geprägt. Gegenüber den aufgeklärten Predigten der ersten Pastorengeneration war man weitestgehend resistent geblieben. Während sich in den städtischen Gemeinden bald liberale Strömungen regten, blieben die Toleranzgemeinden traditionsverhaftet. VII. Das Ende der Toleranzkirche und die Entwicklung eines Geschichtsbewußtseins War in den Jahren nach 1781 von den Protestanten das Toleranzpatent noch euphorisch begrüßt worden, so wurden dessen Bestimmungen mit der Zeit mehr und mehr als einengend und diskriminierend empfunden, wozu in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch die immer restriktiver werdende Auslegung und Anwendung des Toleranzpatents seitens der Behörden kam. Zugleich wurden in katholischen Kreisen die ersten ultramontanen Regungen virulent. Die Behörden begannen, entgegen den Intentionen Josephs II., das Toleranzpatent recht bald als reines Gnadenprivileg zu interpretieren. In der Zeit des Vormärz wurden deshalb mancherorts Neugründungen von Gemeinden möglichst verhindert. Eindrücklich läßt sich diese Linie der staatlichen Behörden beim Umgang mit 972

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den „Boosianern“ in Gallneukirchen beobachten, wo einigen hundert katholischen Konvertiten der Übertritt verweigert wurde, vor allem aber am tragischen Fall der evangelischen Zillertaler, denen nicht nur die Gemeindegründung verweigert, sondern die sogar (trotz Toleranzpatent) noch 1837 aus Glaubensgründen aus Tirol ausgewiesen wurden. Zu erwähnen ist für Oberkärnten und Oberösterreich ferner das französisch-bayerische Intermezzo während der napoleonischen Kriege, das den Protestanten kurze Zeit eine moderne Religionsgesetzgebung verschaffte, die Erleichterungen und auch vermehrt Eintritte brachte. Die in dieser Phase bewilligten Gemeindegründungen wurden von den Habsburgern jedoch bezeichnenderweise wieder aufgehoben. Die Ära der Toleranzkirche endete erst nach 67 Jahren mit dem Revolutionsjahr 18�8, das als einen weiteren Schritt zur Gleichberechtigung nun die eigene Matrikelführung bewilligte, den Zwang zur doppelten Stolgebühr aufhob sowie die letzten Einschränkungen bei den bürgerlichen Rechten beseitigte und die einschränkenden Vorschriften beim Bau der Gotteshäuser aufhob. Zeitgenössische Berichte verraten, daß insbesondere der letzte Punkt, der ab nun den Bau „richtiger“ Kirchen ermöglichte, sofort demonstrativ in Szene gesetzt wurde: Kirchtürme wuchsen an den Bethäusern vielerorts aus dem Boden. Alte Bethäuser wurden durch neugotische Kirchen ersetzt. In Schladming in der Steiermark ist die Vorgangsweise beim Neubau der Kirche beispielhaft und für das Lebensgefühl der letzten Jahrzehnte der Toleranzzeit höchst aufschlußreich. Zunächst beschafften sich die Schladminger als erstes eine Glocke, mit der sofort geläutet und damit das gleichberechtige „Kirchesein“ demonstriert wurde – mit dem Kirchenbau hatte man noch gar nicht begonnen. Danach errichtete man den Turm als weiteres öffentliches Zeichen für eine Kirche und erst im Anschluß das Kirchenschiff mit dem Gestühl für die Gemeinde. Auch wenn die Zeit der Toleranzkirche 18�8 ihr Ende fand, so entwickelten die Toleranzgemeinden vor allem in den Gebieten Cisleithaniens im Lauf der Zeit ein zuvor nur in Ansätzen vorhandenes spezifisches Selbstbewußtsein und damit verbunden eine besondere Identität, die sie bis heute prägt. Diese gründete anfangs auf eine besondere Verehrung für Joseph II. Seit dem Toleranzpatent hielten die Toleranzgemeinden und mit ihnen die evangelischen Kirchen in Österreich, Tschechien, der Slowakei und in Ungarn dessen Andenken hoch – dies stellt einen bezeichnenden Unterschied zum katholischen kirchlichen Bereich dar. Von 1781 an bis ins 20. Jahrhundert wurden Inschriften, Gedenktafeln und Denkmäler an Bethäusern beziehungsweise Kirchen, öffentlichen Gebäuden und Plätzen errichtet und Porträts von Joseph II. in den Bethäusern aufgehängt, wo sie der Gemeinde ständig vor Augen standen. Die psychologische Wirkung des Toleranzpatents unter den Evangelischen sowie das Selbstverständnis der Toleranzgemeinden spiegelt exemplarisch noch heute eine Inschrift an der Decke der Kirche in Feld am See in Kärnten wider, die die Geschichte der Gemeinde mit einer eigenen Zeitrechnung beginnen läßt: „Unter Joseph dem Zweiten, Deutschlands gnädigem Kayser, dem Vater der weisen Religionsduldung, ward dieses Bethaus zur Beförderung der evangelischen Christentumslehre errichtet im sechsten Jahr der hiesigen Toleranz 1787“. Porträts von Joseph II. befanden sich – und befinden sich zum Teil noch heute – auch in den Privathäusern der Gemeindemitglieder. Das Refor973

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Die wohl bald nach dem Toleranzpatent entstandene Tafel aus Mähren stellt ein eindrucksvolles Zeugnis der in den Toleranzgemeinden herrschenden Verehrung Kaiser Josephs II. dar. Sie verrät aber auch den absolutistischen Geist des Toleranzpatents. Die Inschrift unter dem kaiserlichen Wappen zitiert Joseph II. Der Kaiser weist darin auf sein „aus Gottes Gnaden“ bewilligtes Toleranzpatent hin, das einen lange gehegten Wunsch der Gemeinde und ihrer Vorfahren erfülle. Er erwarte, daß die Gemeinde deshalb nicht nur Gott dem Herrn danke, sondern auch ihres kaiserlichen Wohltäters gedenke. Hinterglasmalerei, Městské muzeum, Brünn/Brno. Bildnachweis: Eva Malmuková: Patent zvaný toleranční [Das sogenannte Toleranzpatent]. Praha 1999.

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mationsfest wurde bis 18�8 zugleich mit dem offiziellen Toleranzfest am 2. November gefeiert. In den Gesangbüchern fand sich ein eigenes Lied, das allein der josephinischen Toleranz gewidmet war und diese feierte. 1781 ist für alle evangelischen Kirchen in den ehemaligen habsburgischen Gebieten bis heute ein zentrales Gedenkjahr geblieben. Die Toleranzgemeinden mit ihren inzwischen zumeist zu Kirchen umgewandelten alten Bethäusern sind in den betreffenden Regionen bis zur Gegenwart eindrucksvolle Erinnerungsorte für eine – trotz Rekatholisierung und Gegenreformation, trotz Ausweisungen, Emigrationen, Zwangsumsiedlungen und Deportationen – seit der Zeit der Reformation ununterbrochene und autochthone evangelische Tradition auf dem Gebiet des Habsburgerreiches mit seiner katholischen Dynastie. VIII. Auswahlbibliographie a) Quellen Gesammelte K. K. Verordnungen im Toleranzgeschäfte 1781–1783. Wien 1783; KropatscheK, Josef (Hg.): Handbuch aller unter der Regierung Joseph II. für die k. k. Erbländer erlassenen Verordnungen und Gesetze [...] vom Jahre 1780 bis [1789]. Wien 1785–1790; Österreichischer Toleranz-Bote, das ist neueingerichteter allgemeiner Reichs-Kalender für alle Religionsgesellschaften in den kaiserlichen Erbstaaten. Wien 1787–1808 [1809–1816 u. d. T.: Kaiserlich-österreichischer Toleranzbote]; Sammlung einiger Nachrichten in Betreff des in den österreichischen Staaten durch Göttliche sonderbare Gnade neuaufgehenden Licht des Evangeliums. In Beziehung auf Ober-Österreich, Kärnthen, Steyermark und einigen Gemeinden in Ober- und Nieder-Ungarn. Frankfurt 1787; eisenbach, Georg Michael: Die von Kaiser Joseph II. in seinem Staate zwar gegründete aber von der römischen Hierarchie untergrabene Toleranz. Frankfurt/Leipzig 1789; arneth, Alfred Ritter von (Hg.): Maria Theresia und Joseph II. Ihre Correspondenz sammt Briefen Joseph’s an seinen Bruder Leopold, Bd. 2. Wien 1867; Loesche, Georg: Von der Duldung zur Gleichberechtigung. Archivalische Beiträge zur Geschichte des Protestantismus in Österreich 1781–1861. Wien/Leipzig 1911; ders.: Inneres Leben der österreichischen Toleranzkirche. Archivalische Beiträge zur Kirchen- und Sittengeschichte des Protestantismus in Österreich 1781–1861. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 36 (1915) VI–XII, 1–531; bednář, František: Zápas moravsk�ch evangelíků o náboženskou svobodu v letech 1777–1781. Prameny k dějinám tolerančniho patentu [Der Kampf der mährischen Protestanten um Religionsfreiheit in den Jahren 1777–1781. Quellen zur Geschichte des Toleranzpatents]. Praha 1931; Maas, Ferdinand: Der Josephinismus. Quellen zu seiner Geschichte in Österreich 1760–1850, Bd. 1–5. Wien 1953; KLuetinG, Harm (Hg.): Der Josephinismus. Ausgewählte Quellen zur Geschichte der theresianisch-josephinischen Reformen. Darmstadt 1995.

b) Darstellungen franK, Karl Gustav: Das Toleranz-Patent Kaiser Joseph II. Urkundliche Geschichte seiner Entstehung und seiner Folgen. Wien 1882; Winter, Eduard: Der Josefinismus. Die Geschichte des österreichischen Reformkatholizismus 17�0–18�8. Berlin 1962; reischer, Franz: Die Toleranzgemeinden Kärntens nach einem Visitationsbericht vom Jahre 1786. Klagenfurt 1965; WoLny, Reinhard Joseph: Die josephinische Toleranz unter besonderer Berücksichtigung ihres geistlichen Wegbegleiters Johann Leopold

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Rudolf Leeb Hay. München 1973; hofhansL, Ernst: Nachlese zum oberösterreichischen Gesangbuchstreit. Ein Beitrag zur österreichischen Frömmigkeitsgeschichte. In: Jahrbuch der Gesellschaft für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 9� (1978) 96–106; bucsay, Michaly: Der Protestantismus in Ungarn 1521–1978. Ungarns Reformationskirchen in Geschichte und Gegenwart, Bd. 1–2. Wien/Köln/ Graz 1977–1979; WaGner, Oskar: Mutterkirche vieler Länder. Geschichte der evangelischen Kirche im Herzogtum Teschen 15�5–1918/20. Wien u. a. 1978; barton, Peter F. (Hg.): Im Zeichen der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts im Reiche Joseph II. Wien 1981; ders. (Hg.): Im Lichte der Toleranz. Aufsätze zur Toleranzgesetzgebung des 18. Jahrhunderts in den Reichen Joseph II. Wien 1981; LenK, Irene/saKrausKy, Oskar (Hg.): Evangelisch in Österreich. 200 Jahre Toleranzpatent. Ausstellung im Prunksaal der Österreichischen Nationalbibliothek. Wien 1981; heiLinGsetzer, Georg: Die ideellen und politischen Grundlagen des Toleranzpatentes von 1781. In: Oberösterreichische Heimatblätter 36 (1982) 69–80; schWarz, Karl: Die Josephinische Toleranz und ihre Überwindung im Lichte einer oberösterreichischen Denkschrift. In: Jahrbuch des oberösterreichischen Musealvereines 130 (1985) 123–135; KarnieL, Josef: Die Toleranzpolitik Kaiser Josephs II. Gerlingen 1985; saKrausKy, Oskar: St. Ruprecht am Moos. Die Geschichte einer evangelischen Pfarrgemeinde im Großraum Villach. St. Ruprecht 1986; schWarz, Karl: Exercitium religionis privatum. In: Zeitschrift der Savigny-Stiftung für Rechtsgeschichte, Kann. Abt. 105 (1988) 258–281; Leeb, Rudolf/heroLd, Erwin: Das österreichische josephinische Toleranzbethaus. Zur historischen Einordnung eines Symboles. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 107/108 (1991/92) 2–23; Melville, Ralph: Der evangelische Gustav-Adolf-Verein und die böhmischen Protestanten im Vormärz. In: eberhard, Winfried u. a. (Hg.): Westmitteleuropa/Ostmitteleuropa: Vergleiche und Beziehungen. München 1992, 209–228; KLinGenstein, Grete: Modes of Religous Tolerance and Intolerance in Eighteenth-Century Habsburg Politics. In: Austrian History Yearbook 24 (1993) 1–16; Gottas, Friedrich: Der Protestantismus in Österreich und Ungarn vom Ende des 18. Jahrhunderts (1781) bis zum Anfang des 20. Jahrhunderts (1918) – Parallelen und Unterschiede. In: Jahrbuch für die Geschichte des Protestantismus in Österreich 109 (1993) 5–36; burian, Ilja/MeLMuK, Jiři/MeLMuKová-šašeci, Eva: Evangelíci v rané toleranční době [Die Protestanten in der frühen Toleranzzeit], Bd. 1–8. Praha 1995–1996; KoWaLsKá, Eva: Die Schulfrage und das Toleranzpatent. Die politischen Haltungen der lutherischen Protestanten in Ungarn. In: Bohemia 37 (1996) 23–37; dies.: Vermischte Schulen: Kontroverse Auswirkungen der josephinischen Toleranzpolitik. In: schWarz, Karl/švorc, Peter (Hg.): Die Reformation und ihre Wirkungsgeschichte in der Slowakei. Wien 1996, 115–124; baLázs, Éva H.: Hungary and the Habsburgs 1765–1800. An Experiment in Enlightened Absolutism. Budapest 1997; hochhauser, Helga: Oberösterreichische Toleranzgemeinden von der Gründung (1781/1782) bis zum Protestantenpatent (1861). Salzburg 1997; MaLMuKová, Eva: Patent zvan� toleranční [Das sogenannte Toleranzpatent]. Praha 1999; LinK, Christoph: Josephinische Toleranzpatente (1781) und Wöllnersches Religionsedikt (1788). In: KLuetinG, Harm (Hg.): Irenik und Antikonfessionalismus im 17. und 18. Jahrhundert. Hildesheim 2003, 295–324; bahLcKe, Joachim: Ungarischer Episkopat und österreichische Monarchie. Von einer Partnerschaft zur Konfrontation (1686–1790). Stuttgart 2005; KoWaLsKá, Eva: Der politische Kampf um Toleranz in Ungarn nach 1790 im Licht der zeitgenössischen Publizistik. In: bahLcKe, Joachim/ LaMbrecht, Karen/Maner, Hans-Christian (Hg.): Konfessionelle Pluralität als Herausforderung. Koexistenz und Konflikt in Spätmittelalter und Früher Neuzeit. Leipzig 2006, 619–630; reinGrabner, Gustav: Um Glaube und Freiheit. Eine kleine Rechtsgeschichte der Evangelischen in Österreich und ihre Kirche. Frankfurt am Main u. a. 2007; bahLcKe, Joachim: „Die jüngste Glaubenscolonie in Preussen“. Kirchliches Leben und Alltagserfahrungen der Zillerthaler Protestanten in Schlesien. In: ders./bendeL, Rainer (Hg.): Migration und kirchliche Praxis. Das religiöse Leben frühneuzeitlicher Glaubensflüchtlinge in alltagsgeschichtlicher Perspektive. Köln/Weimar/Wien 2008, 181–202; MaceK, Ondřej (Hg.): Po vzoru Berojsk�ch. Život i víra česk�ch a moravsk�ch evangelíků v předtoleranční a toleranční době [Nach dem Vorbild der Beröer. Leben und Glauben der böhmischen und mährischen Protestanten in der Zeit vor der Toleranz und in der Toleranzzeit]. Kalich 2008; soerries, Reiner: Von Kaisers Gna-

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Josephinische Toleranz, Toleranzgemeinden und Toleranzkirchen, Toleranzbethaus den. Protestantische Kirchenbauten im Habsburger Reich. Köln/Weimar/Wien 2008; nešpor, Zdeněk: Luteráni v česk�ch zemích v období protireformace a náboženské tolerance (1620–1861) [Die Lutheraner in den böhmischen Ländern in der Zeit der Gegenreformation und der religiösen Toleranz (1620–1861)]. In: Just, Jiří u. a.: Luteráni v česk�ch zemích v proměnách staletí. Praha 2009, 127–218; Leeb, Rudolf/scheutz, Martin/WeiKl, Dietmar (Hg.): Geheimprotestantismus und evangelische Kirchen in der Habsburgermonarchie und im Erzstift Salzurg (17./18. Jahrhundert). Wien/München 2009; beaLes, Derek: Joseph II., Bd. 2: Against the World 1780–1790. Cambridge 2009; stauber, Reinhard: Umbruch zur Toleranz – Die Rahmenbedingungen der josephinischen Reformen. In: Wadl, Wilhelm (Hg.): Glaubwürdig bleiben. 500 Jahre protestantisches Abenteuer. Klagenfurt 2011, 326–338; Wadl, Wilhelm: Bemerkungen zur Umsetzung des Toleranzpatentes in Kärnten. Ebd., 339–3�8.

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Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau I. Zusammenfassung. – II. Geschichte des Seminars. – III. Rezeption und Erinnerung. – a) Das Seminar als Symbol für eine gelehrte Strömung des Judentums und jüdischer Wissenschaft. – b) Das Seminar als Modell für Rabbinerausbildung und Wissenschaft. – c) Das Seminar als Erinnerungsort nach seinem Ende. – IV. Auswahlbibliographie.

I. Zusammenfassung Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau ist in mehrfachem Sinn ein Erinnerungsort. Es existierte als begehbarer Ort und als Institution, es hatte ein Kollegium, ein Haus in der Wallstraße 1� und ein Stiftungskapital. Heute ist all dies verschwunden. Es war – und bleibt – jedoch viel mehr als das. In den 13� Jahren seines Bestehens (185�–1938) bildete es ein Zentrum jüdischer Gelehrsamkeit und geistigen Austauschs und prägte Generationen von Rabbinern, die auf der ganzen Welt das Gelernte gemäß ihren persönlichen Prägungen, Präferenzen und örtlichen Erfordernissen anwandten und weitervermittelten. Das Seminar ist ein geistiger Referenzpunkt ersten Ranges für das moderne Judentum. Die wissenschaftliche Leistung der Lehrkräfte und Absolventen des Seminars, das hier entwickelte Modell von Rabbinerausbildung, aber auch das hier konzipierte und gelehrte Verständnis von Identität, Geschichte und Tradition werden bis heute in der jüdischen Welt diskutiert. Eine besondere Bedeutung haben das Seminar und sein Profil für die konservative Mittelströmung des Judentums (masorti), die in den Vereinigten Staaten von Amerika etwa ebenso viele Anhänger wie die Reform und mehr als doppelt so viele wie die Orthodoxie hat. Die Pflege der Erinnerung an die 1938/39 aufgrund der Verfolgung durch das nationalsozialistische Deutschland untergegangene Institution ist heute nicht leicht. Das liegt auch daran, daß aufgrund der Grenzveränderung und des erzwungenen Bevölkerungsaustauschs Breslau heute eine polnische Stadt mit einer winzigen polnisch-jüdischen Gemeinde ist, die nur teilweise an das deutsch-jüdische Erbe anknüpfen kann.

II. Geschichte des Seminars Als das „Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel’scher Stiftung“ am 10. August 185� in Breslau gegründet wurde, war noch nicht unmittelbar zu erkennen, daß mit ihm eine Antwort auf eine Frage gegeben wurde, die die jüdische Gemeinschaft im deutschsprachigen Mitteleuropa bereits seit mindestens einer Generation beschäftigte. Für die jüdischen Intellektuellen, die über Traditionswahrung und Anpassung, bürgerliche Gleichberechtigung und jüdische Identität, über Vernunftkonformität und Offenbarungsbindung ihres Glaubens diskutierten, war das Problem der Ausbildung der Rabbiner, wie Esriel 978

Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau

Hildesheimer schrieb, die „Überlebensfrage des Judentums“ schlechthin. Diese betraf sowohl das Profil dieser Ausbildung angesichts der wachsenden Kluft zwischen beharrenden und reformorientierten Kräften als auch deren Organisationsform. Der Stifter Jonas Fraenckel (1773–18�6), mit seinem ebenfalls kinderlosen Bruder letzter Sproß einer bedeutenden Familie von Rabbinern und Kaufleuten, hatte testamentarisch neben zahlreichen anderen Stiftungen die Errichtung eines Seminars „zur Heranbildung von Rabbinern und Lehrern“ bestimmt. Daß die Kuratoren der Stiftung den exzellenten Gelehrten und tatkräftigen Organisator Zacharias Frankel (1801–1875) aus Prag zum Gründungsdirektor bestellten, erwies sich als Glücksfall für die neue Anstalt. Der Philosoph und sächsische Landesrabbiner gewann hochkarätige Mitstreiter, besonders den bedeutenden Historiker Heinrich Graetz, und stellte einen detaillierten Lehrplan auf. Bereits 1822 hatte Immanuel Wolf im Anschluß an Leopold Zunz eine „Wissenschaft des Judentums“ gefordert, welche „ihr Objekt an und für sich, um seiner selbst willen, nicht zu einem besonderen Zweck, aber aus einer bestimmten Absicht“ behandeln müsse. Das Breslauer Seminar sollte dank seiner ausgezeichneten Lehrkräfte schon bald eine feste Größe in dieser Wissenschaft werden. Dabei schlug man einen zukunftsträchtigen Mittelweg ein: Freiheit der Forschung, aber auf Basis des mosaischen Gesetzes. Lehrer und Schüler sollten sich verpflichten, „auf dem Boden des positiven und historischen Judentums fortzubauen“. Gründungsdirektor Frankel war überzeugt: „Judentum und Wissenschaft müssen einander [...] genähert werden; und es bewährt sich hierin die Kraft des Judentums, daß seine Wahrheiten an dem Lichte der Wissenschaft um so glänzender hervortreten.“ Die Breslauer Anstalt war nicht das erste Rabbinerseminar in Europa – vorangegangen waren das kurzlebige Kassel, Metz/Paris, Padua und Amsterdam –, es war aber das erste moderne Rabbinerseminar, aufgrund seiner konsequenten Verbindung des Studiums jüdischer Quellen mit dem philologischen, philosophischen und historischen Wissens- und Methodenschatz der Zeit und der Möglichkeit zum parallelen Studium an der Universität Breslau. Das Seminar diente im Kern der Rabbinerausbildung. Diese dauerte für Studenten mit Hochschulreife 14 bis 15 Semester und wurde mit einem Diplom sowie der hattarat hora’a, der Rabbinerordination, abgeschlossen. Ursprünglich sollte auch der Bedarf an jüdischen Religionslehrern durch eine eigene Abteilung gedeckt werden. Anfänglich war das Lehrerseminar gut besucht, 1867 mußte es jedoch aus Mangel an Nachfrage geschlossen werden. Eine dritte Abteilung, die Präparandie, bestand in den Anfangsjahren, weil viele der Studienbewerber, und zwar gerade jene aus den Ländern des geteilten Polen, ihre bisherige Ausbildung auf traditionellen jüdischen Religionsschulen (jeschiwot) erhalten, aber kein Gymnasium besucht hatten. Schon um 1900 hatte sich das Problem ins Gegenteil verkehrt: Die Kandidaten kamen nun mit Abitur, aber mit unzureichenden Vorkenntnissen in Hebräisch, Tora und Talmud. Der verpflichtende Kern des Studienprogramms für Rabbiner umfaßte um 1900 16, in den universitären Prüfungsphasen elf bis 13 Semesterwochenstunden in den Fächern Bibelexegese, Hebräisch, Talmud, Jüdische Geschichte, Religionsphilosophie und Hellenistika, Homiletik, Pädagogik und Kalenderkunde. Es ist bezeichnend für den vermit979

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telnden Charakter der Ausbildung in Breslau, daß der biblische Text und die Traditionskomplexe Aggada und Halacha sowohl Gegenstand philologischer Untersuchung als auch weiterhin Ausgangspunkt der Exegese waren. In der Anfangsphase gab es fünf feste Lehrkräfte, in den letzten Jahrzehnten drei, dazu kamen Lehrbeauftragte. Neben Frankel und Graetz gehörten zum Gründungskollegium der berühmte klassische Philologe Jacob Bernays und der Religionsphilosoph Manuel Joel. Von den späteren Lehrern zählen unter anderem der noch bei Frankel und Graetz ausgebildete Historiker und Exeget Marcus Brann, der Platon-, Kant- und Spinoza-Forscher Jacob Freudenthal und der Hellenismus-Experte Isaak Heinemann zu den bis heute rezipierten Wissenschaftlern. Unter den Absolventen des Seminars finden sich Namen wie Leo Baeck – wohl die bekannteste Gestalt des deutschen Judentums im 20. Jahrhundert –, der Mitbegründer des Neukantianismus, Hermann Cohen, der Religionshistoriker Ismar Elbogen oder die Oberrabbiner von Hildesheim (später Breslau), Jakob Guttmann, München, Leo Baerwald, und Wien, Moritz Güdemann; Guttmann ist bis heute als Spezialist für mittelalterliche Philosophie bekannt. Zu den ganz wenigen, die aus der Emigration nach Deutschland zurückkehrten, gehörte Kurt Wilhelm, der an der Frankfurter Universität noch seine große Bilanz der „Wissenschaft des Judentums“ fertigstellte. Nach 1933 erfuhr das Seminar wie alle jüdischen Institutionen Einschränkungen, dann Verfolgung durch den nationalsozialistischen Staat. In der Pogromnacht am 9./10. November 1938 wurde das Gebäude des Seminars zerstört und von der Polizei geschlossen. Von der Verhaftung und Internierung im Konzentrationslager Buchenwald, die etwa ein Fünftel der Breslauer Juden an diesem Tag traf, waren auch mehrere Studenten des Seminars betroffen. Der Stolz des Hauses, die Bibliothek mit über 30.000 Bänden, darunter mehr als 400 wertvolle Handschriften, wurde beschlagnahmt. Im Geheimen wurde die Arbeit des Seminars noch mehrere Monate fortgesetzt. Am 21. Februar 1939 wurden die letzten beiden Kandidaten zu Rabbinern ordiniert. 32 ehemalige Studenten des Seminars, von denen 27 ihre Ordination in Breslau empfangen hatten, wurden durch die Nationalsozialisten ermordet. Insgesamt besuchten das Seminar bis zu seinem Untergang 728 Studenten, von denen etwa 249 das Rabbinerdiplom erhielten. III. Rezeption und Erinnerung a) Das Seminar als Symbol für eine gelehrte Strömung des Judentums und jüdischer Wissenschaft Das Breslauer Seminar war zu keinem Zeitpunkt ein Institut, das Wissenschaft um ihrer selbst willen treiben und Nachwuchs nur für die Wissenschaft heranbilden konnte. Die praktischen Erfordernisse der Gemeinden, der späteren Arbeitgeber der Rabbiner, spielten für das Studienprogramm eine wesentliche Rolle. Dennoch war die wissenschaftliche Arbeit am Seminar, die über Preisfragen auch Studenten und Auswärtige 980

Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau

mit einbezog, stets die Grundlage seines hohen Ansehens. Die von Frankel bereits 1851 gegründete, bis 1939 erscheinende Monatsschrift für die Geschichte und Wissenschaft des Judentums stand in enger Verbindung zum Seminar; sie diente der Verbreitung der Forschungsergebnisse der Lehrkräfte und enthielt gelegentlich programmatische Stellungnahmen. Sie erwarb sich internationale Anerkennung. Von Anfang an behandelte sie nicht allein exegetisch-theologische Fragen, sondern ebenso Themen aus Geschichte und Philosophie. Auch die bis 1937 erscheinenden Jahresberichte enthielten stets wissenschaftliche Beiträge. Über die Jahresberichte hinaus nutzte das Seminar die Jubiläen zur Selbstreflexion; so erschienen zum 25., zum 50. und zum 75. Jahrestag Jubiläumsschriften. Das erste Werk war eine knappe Bestandsaufnahme, das letzte eine als Jubiläumswerk eigentlich nur gekennzeichnete Sammlung wissenschaftlicher Texte aus der Arbeit des Lehrkörpers. Dagegen ist die Festschrift zum 50. Jahrestag nichts weniger als eine bis heute gültige Seminargeschichte aus der Feder von Marcus Brann mit einer Fülle von Materialien, darunter einer Bibliographie der Publikationen der Lehrenden. Obgleich das Seminar keine Einrichtung der Breslauer Synagogengemeinde war und in Anspruch und Wirkung stets nicht nur über die Stadt, sondern auch über Preußen und Deutschland hinausreichte, erscheint die Lokalisierung in der aufstrebenden Odermetropole bedeutsam – 185� war Breslau die drittgrößte Stadt Deutschlands, hatte die drittgrößte jüdische Gemeinde und einen jüdischen Bevölkerungsanteil von etwa 7 Prozent. Das sich verbürgerlichende und integrierende deutsche Judentum, die Strömungen von Haskala und Reform trafen hier lebens- und gemeindegeschichtlich auf die durchaus noch verwurzelte, aber auch durch Zuwanderer aus den schlesischen Landgemeinden und den polnischen Teilungsgebieten verstärkte orthodoxe Lebens- und Glaubenswelt. Es ist bezeichnend, daß im wenige Jahre zurückliegenden Breslauer Kultusstreit zwischen dem Reformer Abraham Geiger und dem Orthodoxen Gedalje Tiktin auch das in Deutschland bis 1945 vorherrschende Modell der Einheitsgemeinde mit – bei Bedarf – mehreren Rabbinern und Kultusvarianten geschaffen worden war. Von Breslau und seinem Seminar ging gerade nicht die Neo-Orthodoxie aus, sondern eine historischpositive Schule, die die Rolle der Wissenschaft bei Beibehaltung der Nutzanwendung für die Gemeinden in der Rabbinerausbildung betonte. Die Lebenswege von Lehrern und Absolventen zeugen von der Vermittlungsfunktion des Seminars zwischen Ost und West, Tradition und Moderne. Das Seminar und seine Wirkung profitierten offenbar auch vom anregenden Klima der Stadt und der Offenheit der preußischen Universität, die gewinnbringend ergänzend besucht wurde. Die Integration der Lehrenden in den Universitätsbetrieb war dabei allerdings uneinheitlich. Nach 1900 äußerten jüdische Gelehrte gelegentlich Kritik daran, daß die Lehrkräfte des Seminars gewissermaßen nur freiwillig und im geschützten Raum mit den allgemeinen Wissenschaftsdiskursen in Kontakt kamen und daß etwa die Historiographie von Graetz erhebliche methodische Schwächen aufweise.

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Maximilian Eiden

b) Das Seminar als Modell für Rabbinerausbildung und Wissenschaft Die innovative Verbindung religiöser und wissenschaftlicher Ausbildung am Breslauer Seminar machte Schule. Die vier bereits bestehenden Seminare in Westeuropa wurden nach 185� entsprechend umgestaltet. 1872 wurde in Berlin die „Lehranstalt“, seit 1922 „Hochschule für die Wissenschaft des Judentums“ gegründet. Ohne gegen die Breslauer Anstalt zu polemisieren – immerhin unterrichtete Graetz auch hier – nahm die Berliner Einrichtung doch innerjüdisch eine stärker reformorientierte und im Profil noch deutlicher am akademischen Wissenschaftsbetrieb ausgerichtete Position ein. Das war auch dem Mitgründer Abraham Geiger zu verdanken, der als Rabbiner in Breslau schon vor 185� von einer jüdisch-theologischen Fakultät an der Universität geträumt hatte, der sich durch die Wahl Frankels zum Direktor zurückgesetzt fühlen mußte und der eine Alternative zum konservativen Profil des Breslauer Seminars schaffen wollte. Ein deutlich abgegrenzter Gegenentwurf zu Breslau und erst recht zur Berliner Lehranstalt war das 1873 ebenfalls in der Reichshauptstadt von Esriel Hildesheimer gegründete orthodoxe Rabbinerseminar. Schon vorher hatten Rabbiner wie Hildesheimer oder Samson Raphael Hirsch erreicht, daß in den orthodoxen Separatgemeinden keine Absolventen des Breslauer Seminars zu Rabbinern berufen wurden. In den ersten Jahrzehnten seines Bestehens hatte das Breslauer Seminar vor allem für die Länder der Habsburgermonarchie geradezu eine Monopolstellung für die Ausbildung von Rabbinern jenseits der strengen Orthodoxie gehabt. Als 1877 das Franz-Joseph-Rabbinerseminar (Landesrabbinerschule) in Budapest gegründet wurde, erklärte der Gründungsrat die Absicht, eine ungarische Version des Breslauer Seminars aufzubauen. 1893 wurde dann auch in Wien eine Israelitisch-Theologische Lehranstalt mit vergleichbarem Profil für den cisleithanischen Reichsteil eröffnet. Gründungsdirektor war Adolf Schwarz, Breslauer Absolvent und Autor zahlreicher Studien zum Talmud, die als „Gipfelleistungen moderner Hermeneutik“ gelten. Trotz der Neugründungen kamen weiterhin viele Breslauer Seminarstudenten aus dem südlichen Ostmitteleuropa; nach 1918 mochte manchen angehenden Theologen aus der Tschechoslowakei, aus Jugoslawien oder Siebenbürgen die Breslauer Anstalt attraktiver erscheinen als die Wiener oder Budapester Einrichtung. Eine wichtige Figur für das Budapester Seminar war Alexander Kohut gewesen, ein Breslauer Absolvent, der in seine Heimat zurückgekehrt und einer der herausragenden ungarischen Rabbiner seiner Generation geworden war. Später brachte er Frankels Ideen nach Amerika. Er wurde zur Gründungsfigur des Jewish Theological Seminary in New York (Sitz am Broadway), das sich sehr stark am Breslauer Vorbild orientierte. In den Vereinigten Staaten, wo wegen der zahlenmäßigen Stärke der jüdischen Gemeinschaft und der stärkeren Staatsferne der Religionsgemeinschaften der Druck in Richtung Einheitsgemeinde fehlte, konnten sich die Ideen Zacharias Frankels und anderer als eigenständige Strömung deutlicher entfalten; Rabbiner wie Alexander Kohut, Solomon Schechter und Sabato Morais konnten so an der Ausbildung des hier erstmals so genannten konservativen Judentums arbeiten. Der Transfer von Breslauer Ideen nach New York wurde später von dem Breslauer Absolventen Bernard Drachman fortgesetzt. Eine wei982

Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau

tere bedeutende Gestalt der konservativen Bewegung in Amerika, der Ungar Benjamin Szold, hatte ebenfalls einige Jahre in Breslau studiert. Ein anderer Breslauer Absolvent, der in Bukarest geborene Moses Gaster, stand – obwohl Aschkenasi – von 1887 bis 1918 der sephardischen Gemeinschaft Englands als Oberrabbiner vor und gestaltete in den 1890er Jahren auch deren Ausbildungsstätte, das Hebräischkolleg „Judith Lady Montefiore“ in Ramsgate nach dem Modell des Breslauer Seminars um. c) Das Seminar als Erinnerungsort nach seinem Ende Kurz vor dem 100. Jahrestag der Gründung des Seminars faßte Guido Kisch den Plan, die Geschichte der letzten Jahrzehnte der Lehranstalt in einer Gedenkschrift zusammenzufassen, also die Zeit zwischen dem Endpunkt der Darstellung Marcus Branns zum 50. Jubiläum und dem Untergang 1938. Kisch stammte aus Prag, war von 1922 bis zu seiner Entlassung 1933 Professor für Rechtsgeschichte in Königsberg gewesen und bis zu seiner Emigration 1935 auf einer Geschichtsprofessur am Jüdisch-Theologischen Seminar untergekommen; seit 1937 lehrte er am Hebrew Union College in Cincinnati, nach der Emeritierung ließ er sich in Basel nieder. Obgleich seine Zeit in Breslau kurz gewesen war, verstand er sich als „Historiker und freiwilliger Hüter der Geschichte des Breslauer Seminars“. Die mühevolle Arbeit an der Gedenkschrift – eine weltumspannende Korrespondenz mußte geknüpft werden, um die Schicksale und verstreuten Publikationen von etwa 200 Personen zu ermitteln – dauerte dann zehn Jahre. 1963 erschien der Band Das Breslauer Seminar beim Verlag J. C. B. Mohr in Tübingen. Im Ergebnis gelang es Kisch und seinen Mitstreitern nicht nur, eine detaillierte Bilanz der geistigen Leistung des Seminars zusammenzutragen, sondern auch eindrucksvoll das Fortwirken dieser Arbeit zu dokumentieren. Der Sammelband hat vier Abteilungen. „Die erste“, schreibt der Herausgeber „gibt in vierzehn Abhandlungen einen Überblick über die Ideen- und die physische Geschichte des Seminars. Ihre Verfasser bemühen sich um eine sachliche Darstellung und möglichst objektive Würdigung, betrachtet im Spiegel der Wissenschaftsgeschichte. Die zweite Abteilung entrollt historische Bilder vom Seminar und seinen Lehrern, wie sie in der Erinnerung verschiedener Generationen seiner bedeutenden Schüler fortlebten.“ Für beide Abteilungen hatte Kisch die bedeutendsten überlebenden Gelehrten des Seminars um Mitarbeit gebeten, ansonsten repräsentative Texte verstorbener Lehrer und Schüler zusammengetragen. „Die dritte Abteilung ist der Monatschrift für Geschichte und Wissenschaft des Judentums gewidmet, die [...] in engstem Zusammenhang mit dem Seminar arbeitete.“ Analog zu Branns Seminargeschichte erhielt der vierte Abschnitt ein von Alfred Jospe erarbeitetes Verzeichnis der Lehrer und Schüler mit Kurzbiographien und Bibliographien ihrer Schriften, ein Anhang ein Verzeichnis der in den Jahresberichten erschienenen Abhandlungen. Die weitere Gedächtnispflege des Seminars verband sich vor allem mit den amerikanischen Hochschulen, an denen Absolventen des Seminars Lehrer waren. In der Selbst983

Maximilian Eiden

Mitglieder des Breslauer Jüdisch-Theologischen Seminars ließen sich auf diesem um 1890 entstandenen Foto eher im Gelehrten- als im Studentenhabitus ablichten. Die künftigen Rabbiner tragen ‚bürgerliche‘ Kleidung, nur wenige Kippa, nur zwei einen Vollbart. Demonstrativ pflegten die Abgebildeten deutsches Studentenbrauchtum in einer Situation, wo viele Studentenverbindungen keine jüdischen Mitglieder zuließen. Neben dem Verbindungsschild mit Farben und Zirkel – es könnte sich um die 1886 gegründete Verbindung Viadrina Breslau handeln – ist das Widderhorn (Schofar) erkennbar, das an den hohen jüdischen Feiertagen im Synagogengottesdienst geblasen wird. Bildnachweis: Privatarchiv Maximilian Eiden.

reflexion des konservativen Judentums in den Vereinigten Staaten spielt der Verweis auf die aus Breslau gekommenen Gründungsfiguren eine Rolle, immer dann, wenn bei Synthesen und Gedenkartikeln die Sprache darauf kommt. Von einer persönlichen Empfindung der Weitergabe, wie sie kurz nach dem Zweiten Weltkrieg sicher noch bestand, ist dies jedoch heute zu einem Gegenstand des Bildungswissens und historischen Bewußtseins geworden. In anderer Weise lebendig war das Gedenken bis in die 1980er Jahre hinein bei einer anderen Erinnerungsgruppe, den Mitgliedern des Verbands ehemaliger Breslauer und Schlesier in Israel. In ihrem Mitteilungsblatt, das seit 1961 besteht, erschienen im Lauf der Jahre zahlreiche Würdigungen von Absolventen des Seminars und anfänglich auch noch Beiträge der letzten lebenden Zeugen. In Deutschland wurde es nach den Publikationen von Kisch und Wilhelm still um das Seminar, sieht man von der wichtigen Studie von Hugo Weczerka über die Herkunftsorte der Studierenden der Anstalt von 1986 ab. Das neue Interesse am Breslauer Judentum, das durch Norbert 98�

Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau

Conrads’ Editionen der Werke von Willy Cohn angestoßen wurde, beachtete das Seminar zunächst nur am Rand – verständlich, da sein Rang sich gerade nicht aus der Lokalgeschichte erschließt. Schon der Gründungsdirektor hatte mit Stolz festgestellt: „Das Seminar hat für das Judentum eine universelle Bedeutung: es gehört nicht einem Orte, nicht einem Lande, sondern der Allgemeinheit an.“ Seit der Jahrtausendwende ist eine Neubesinnung auf das Seminar und sein Erbe im Gang, befördert vom 150. Jubiläum der Gründung im Jahr 2004. In einem Artikel in der Wochenzeitung Die Zeit beklagte Thomas Meyer noch im August 2004, niemand wolle heute an das Seminar, „eine der großen Schulen des Judentums“, erinnern, auch die jüdischen Organisationen schwiegen. Doch im Dezember fand mit Unterstützung des Schechter-Rabbinerseminars und des Leo-Baeck-Instituts Jerusalem sowie der Deutschen Botschaft eine große Konferenz am Solomon-Schechter-Institut für jüdische Studien in Jerusalem statt: „Von Breslau nach Jerusalem. Rabbinerseminare in der Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft“. Zahlreiche Lehrende israelischer Rabbinerseminare beleuchteten das Thema facettenreich; ein Höhepunkt war der Auftritt von Betty und Paul Avraham Alsberg, die 1937/38 zu den letzten Studenten gehört hatten. Auch das Düsseldorfer Salomon-Ludwig-Steinheim-Institut veranstaltete im Januar 2005 ein internationales Kolloquium zu Ehren des Seminars. Lehrende und Studierende der ersten deutschen Rabbiner-Ausbildungsstätte in Deutschland nach dem Holocaust, des Potsdamer Abraham-Geiger-Kollegs, unternahmen eine Gedenkfahrt nach Breslau und widmeten dem Seminar eine Jubiläumsnummer ihrer Zeitschrift Kescher. Wie sie, sieht die Religionswissenschaftlerin Francesca Yardenit Albertini neben der konservativen auch eine reformerische Traditionslinie von Breslau ausgehen, die vor allem über das Hebrew Union College in Cincinnati und natürlich über die Berliner Hochschule führe. Albertini widmete dem Seminar ihre Potsdamer Antrittsvorlesung, ein Hauptseminar sowie mehrere Publikationen. Wissenschaftler wie Andreas Brämer, Christian Wiese und Carsten L. Wilke veröffentlichten im Zusammenhang mit dem Jubiläum Artikel, in denen sie die Bedeutung des Seminars vor dem Hintergrund ihrer Forschungen zur Prosopographie der deutschsprachigen Rabbiner, der Auseinandersetzung der Wissenschaft des Judentums mit dem Protestantismus, der Biographie und Wirkungsgeschichte Zacharias Frankels und der Herausbildung des konservativen Judentums würdigten. In ihren umfangreichen Studien hat das Seminar entsprechendes Gewicht. Gleiches gilt für Kerstin von der Krones Studie Wissenschaft in Öffentlichkeit zu den Zeitschriften der Wissenschaft des Judentums, in der die Monatsschrift für Geschichte und Wissenschaft, deren Autorennetz und deren jeweilige Themen breiten Raum einnehmen. 2009 publizierte Peter Maser, Kenner des schlesischen Judentums, einen Nachdruck von Branns Seminargeschichte mit einem instruktiven Vorwort. In Breslau selbst beschäftigt sich der Philosophieprofessor Krzysztof Różanowski seit über einem Jahrzehnt mit dem Seminar und dessen Tradition. Durch seine beharrlichen Bemühungen ühungen konnte er auch Universität, Journalisten und Lokalpolitiker für das Thema erwärmen. 200� machte er mit Interviews und Artikeln darauf aufmerksam, daß die „weltweit bekannteste Breslauer Hochschule“ eine „Perle in der Geschichte der Stadt“ 985

Maximilian Eiden

sei. Am 7. Dezember 2010, am Feiertag Chanukka, enthüllten unter dem Gesang des Synagogenchors und bei Kerzenschein der Stellvertreter des Stadtpräsidenten von Breslau, Jarosław Obremski, und der Vorsitzende der jüdischen Gemeinde, Jerzy Kichler, eine Gedenktafel für das Seminar am Ort seines damaligen Sitzes in der Wallstraße. Der Vertreter der Stadt unterstrich, Lehrer und Professoren des Seminars seien „Bürger des Vorkriegsbreslaus gewesen“. In der Inschrift, die sich in eine große Serie solcher stadtgeschichtlichen Lesbarmachungen gestalterisch einfügt und daher in polnischer und englischer Sprache gehalten ist, wird das Seminar als „eines der wichtigsten Zentren der judaistischen Gelehrsamkeit auf der Welt und ein Muster für ähnliche wissenschaftliche Einrichtungen in Berlin, Wien und Budapest“ bezeichnet. IV. Auswahlbibliographie a) Gründungsdokumente und Selbstreflexion bis 1938 GeiGer, Abraham: Über die Errichtung einer jüdisch-theologischen Facultät. Wiesbaden 1838; freuJonas (Hg.): Das jüdisch-theologische Seminar Fränckelsche Stiftung. Am Tage seines fünfundzwanzigjährigen Bestehens, den 10. August 1879. Breslau 1879; brann, Marcus: Geschichte des Jüdisch-Theologischen Seminars (Fraenkel’sche Stiftung) in Breslau. Festschrift zum fünfzigjährigen Jubiläum der Anstalt. Breslau 190� [ND mit einer Einleitung v. Peter Maser. Hildesheim/Zürich/New York 2009]; heineMann, Isaac: Die Idee des jüdisch-theologischen Seminars vor Fünfundsiebzig Jahren und Heute (Festrede zum Jubiläum am 3.11.1929). In: Bericht des Jüdisch-Theologischen Seminars für das Jahr 1929. Breslau 1930, 3�–�8; Vorwort. In: Festschrift zum 75jährigen Bestehen des JüdischTheologischen Seminars Fraenckelscher Stiftung. Breslau 1929, [III–IV]. denthaL,

b) Akten und Buchbestände zucKerMann, Benedict: Catalogus bibliothecae seminarii jud.-theol. Vratislaviensis continens CXC codicum mss. hebr. rarissimorum et CCLXIII bibliorum editionum descriptionem ad usum Theolog. et Litt. Orient. Stud. et Bibliopol. Catalog der Bibliothek des Breslauer jüdisch-theologischen Seminars von 190 seltenen hebraeischen Handschriften und 263 verschiedenen Ausgaben der Bibel und ihrer Theile zum Gebrauch für Theologen, Orientalisten und Antiquare. Breslau 21876; LoeWinGer, David S./ Weinryb, Bernard D.: Catalogue of the Hebrew Manuscripts in the Library of the Juedisch-Theologisches Seminar in Breslau. Wiesbaden 1965; Katalog rukopisej i archivnych materialov iz Evrejskoj teologičeskoj seminarii goroda Breslau v rossijskich chraniliščach/Catalogue of Manuscripts and Archival Materials of Juedisch-Theologisches Seminar in Breslau Held in Russian Depositories. Moskva 2003; WilKe, Carsten L.: Von Breslau nach Mexiko: Die Zerstreuung der Bibliothek des Jüdisch-theologischen Seminars. In: KLein, Birgit E./Müller, Christine E. (Hg.): Memoria – Wege jüdischen Erinnerns. Festschrift für Michael Brocke zum 65. Geburtstag. Berlin 2005, 315–340; cieŚLinsKa-LobKoWicz, Nawojka: Raub und Rückführung der Leon Vita Saraval Sammlung der Bibliothek des Jüdisch-Theologischen Seminars in Breslau. In: dehneL, Regine (Hg.): Jüdischer Buchbesitz als Raubgut. Frankfurt am Main 2006 (Zeitschrift für Bibliothekswesen und Bibliographie. Sonderheft 88), 366–378.

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Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau

c) Texte zum Gedächtnis des Seminars Kober, Adolf: The Jewish Theological Seminary of Breslau and „Wissenschaft des Judentums“. In: Historia Judaica 16 (195�) 85–122; seLiGMann, Caesar: Breslau Seminary 1881. In: Leo Baeck Institute Yearbook 5 (1960) 346–350; WiLheLM, Kurt: Etwas vom Jüdisch-Theologischen Seminar in Breslau. In: rüLf, Schlomo Friedrich (Hg.): Paul Lazarus Gedenkbuch. Beiträge zur Würdigung der letzten Rabbinergeneration in Deutschland. Jerusalem 1961, 52–59; Kisch, Guido (Hg.): Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenckelscher Stiftung) in Breslau 185�–1938. Gedächtnisschrift. Tübingen 1963; ders.: Das Breslauer Seminar. Eine Ergänzung und Entgegnung. In: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer in Israel 12/13 (1964) 6; neufeLd[, Siegbert Isaak]: Professor Dr. Ismar Elbogen. Zur 90. Wiederkehr seines Geburtstages. In: Mitteilungen des Verbandes ehemaliger Breslauer in Israel 14/15 (1965) 11; fuchs, Konrad: Zur Entstehung, Entwicklung und Schließung des Jüdisch-Theologischen Seminars zu Breslau (Fraenckelsche Stiftung). In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 31 (1990) 301–306; różanoWsKi, Ryszard: Wydobyć z niebytu. Żydowskie Seminarium Teologiczne we Wrocławiu 185�–1938 [Dem Vergessen entreißen. Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau 185�–1938]. In: Almanach Żydowski (1997–1998), 13–22; ders.: Tradition und Traditionspflege der jüdischen Philosophie. Das Jüdisch-Theologische Seminar in Breslau. In: baL, Karol/caysa, Volker/steKeLer-Weithofer, Pirmin (Hg.): Philosophie und Regionalität. Wrocław 1999, 155–168; ders.: Żydowskie Seminarium Teologiczne we Wrocławiu [Das JüdischTheologische Seminar in Breslau]. In: Rita Baum 3 (2000) 19–21; teraJeWicz, Michał: 150 rocznica Żydowskiego Seminarium Teologicznego [150. Jahrestag des Jüdisch-Theologischen Seminars]. In: Gazeta Polska v. 8. Dezember 200�; aLbertini, Francesca Yardenit: Das Judentum und die Wissenschaft. Zum 150. Gründungsjahr des Jüdisch-theologischen Seminars in Breslau. In: Judaica 60 (2004) 1�1–158; boMhoff, Hartmut G.: 150 Jahre Breslauer Seminar. In: Kescher 3/1 (2004/2005) 2; Das Breslauer Seminar. Ebd., 1; dybaLsKa, Wanda: Perła w historii Wrocławia [Eine Perle in der Geschichte Breslaus]. In: Gazeta Wyborcza, Ausgabe Wrocław v. 2. August 200�; Meyer, Thomas: Rabbis für alle. Vor 150 Jahren wurde in Breslau das Jüdisch-Theologische Seminar gegründet, eine der großen Schulen des Judentums. Heute will niemand mehr an sie erinnern. In: Die Zeit v. 12. August 2004; seidel, Esther: The Jewish Theological Seminary of Breslau (185�–1938). In: European Judaism 38/1 (2005) 133–144; uLbrich, Bernd G.: Das Breslauer „Jüdisch-Theologische Seminar Fraenckel’scher Stiftung“. Wrocławskie „Żydowskie Seminarium Teologiczne Fundacji Fraenckla“. In: Joseph von Eichendorff Konversatorium 68 (2010) 52–67. Weitere Texte sind genannt in: heitMann, Margret/reinKe, Andreas: Bibliographie zur Geschichte der Juden in Schlesien. München/New Providence/London/ Paris 1995, 118–122.

d) Forschungsliteratur Kober, Adolf: Die Hochschulen für die Rabbinerausbildung in Deutschland. In: Festschrift zum 80. Geburtstag von Rabbiner Dr. Leo Baeck am 23. Mai 1953. London 1953, 19–28; ders.: Aspects of the Influence of Jews from Germany on American Jewish Spiritual Life of the Nineteenth Century. In: hirshLer, Eric E. (Hg.): Jews from Germany in the United States. New York 1955, 129–149; Jospe, Alfred: Biographien und Bibliographien der Hörer. In: Kisch, Guido (Hg.): Das Breslauer Seminar. Jüdisch-Theologisches Seminar (Fraenckelscher Stiftung) in Breslau 185�–1938. Gedächtnisschrift. Tübingen 1963, 403–442; rothschiLd, Lothar: Die Geschichte des Seminars von 190� bis 1938. Ebd., 121–166; davis, Moshe: The Emergence of Conservative Judaism. The Historical School in 19th Century America. Philadelphia 1965; WiLheLM, Kurt (Hg.): Wissenschaft des Judentums im deutschen Sprachbereich. Ein Querschnitt, Bd. 1–2. Tübingen 1967; carLebach, Julius: Deutsche Juden und der Säkularisierungsprozeß in der Erziehung. Kritische Bemerkungen zu einem Problemkreis der jüdischen Emanzipation. In: Liebe-

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Maximilian Eiden schütz,

Hans/paucKer, Arnold (Hg.): Das Judentum in der deutschen Umwelt 1800–1850. Studien zur Frühgeschichte der Emanzipation. Tübingen 1977, 55–93; Liebeschütz, Hans: Judentum und deutsche Umwelt im Zeitalter der Restauration. Ebd., 1–54; Hochschulen der Religionsgemeinschaften. Tübingen 1983; WeczerKa, Hugo: Die Herkunft der Studierenden des jüdisch-theologischen Seminars zu Breslau 185�–1938. In: Zeitschrift für Ostforschung 35 (1986) 88–139; cardin, Nina Beth/siLverMan, David Wolf (Hg.): The Seminary At 100. Reflections on the Jewish Theological Seminary and the Conservative Movement. New York 1987; Maser, Peter: Breslauer Judentum im Zeitalter der Emanzipation. In: Jahrbuch der Schlesischen Friedrich-Wilhelms-Universität zu Breslau 29 (1988) 157–176; fierstien, Robert E.: A Different Spirit. The Jewish Theological Seminary of America, 1886–1902. New York 1990; hoMoLKa, Walter: Jewish Identity in Modern Times. Leo Baeck and German Protestantism. Providence, RI 1995; GotzMann, Andreas: Jüdisches Recht im kulturellen Prozeß. Die Wahrnehmung der Halacha im Deutschland des 19. Jahrhunderts. Tübingen 1997; LoWenstein, Steven M.: Das religiöse Leben. In: ders. u. a.: Deutsch-Jüdische Geschichte in der Neuzeit, Bd. 3: Umstrittene Integration 1871–1918. München 1997, 101–122; WertheiMer, Jack: Tradition Renewed. A History of the Jewish Theological Seminary, Bd. 1–2. New York 1997; carMiLLy-WeinberGer, Moshe: The Similarities and Relationship Between the Jüdisch-Theologisches Seminar (Breslau) and the Rabbinical Seminary (Budapest). In: Leo Baeck Institute Yearbook 44 (1999) 3–22; bräMer, Andreas: Rabbiner Zacharias Frankel. Wissenschaft des Judentums und konservative Reform im 19. Jahrhundert. Hildesheim/Zürich/New York 2000; rahden, Till van: Juden und andere Breslauer. Die Beziehungen zwischen Juden, Protestanten und Katholiken in einer deutschen Großstadt von 1860 bis 1925. Göttingen 2000; ziątKoWsKi, Leszek: Die Geschichte der Juden in Breslau. Wrocław 2000; toMa, Cristina: Seminarul de la Breslau sǎu o noua legitimare a iudaismului în Europa secolului 19 [Das Seminar von Breslau oder eine neue Legitimation für das Judentum im Europa des 19. Jahrhunderts]. In: Studia Hebraica 1 (2001) 127–137; Krech, Volkhard: Wissenschaft und Religion. Studien zur Geschichte der Religionsforschung in Deutschland 1871 bis 1933. Tübingen 2002; bräMer, Andreas: Die Anfangsjahre des Jüdisch-Theologischen Seminars. Zum Wandel des Rabbinerberufs im 19. Jahrhundert. In: hettLinG, Manfred/reinKe, Andreas/conrads, Norbert (Hg.): In Breslau zu Hause? Juden in einer mitteleuropäischen Metropole der Neuzeit. Hamburg/ Ebenhausen bei München 2003, 99–112; GotzMann, Andreas: Der Geiger-Tiktin-Streit – Trennungskrise und Publizität. Ebd., 81–98; WilKe, Carsten: „Den Talmud und den Kant“. Rabbinerausbildung an der Schwelle zur Moderne. Hildesheim/Zürich/New York 2003; ders.: Interkulturelle Anbahnungen. Das Rabbinat und die Gründung des Jüdisch-Theologischen Seminars Breslau 185�. In: Kalonymos. Beiträge zur deutsch-jüdischen Geschichte aus dem Salomon Ludwig Steinheim-Institut 7/2 (200�) 1–3; ders.: Biographisches Handbuch der Rabbiner, Tl. 1: Die Rabbiner der Emanzipationszeit in den deutschen, böhmischen und großpolnischen Ländern 1781–1871, Bd. 1–2. München 200�; ders.: Talmudschüler, Student, Seminarist. Breslauer rabbinische Studienlaufbahnen 1835–1870. In: Aschkenas. Zeitschrift für Geschichte und Kultur der Juden 15 (2005) 111–125; ziątKoWsKi, Leszek: Erinnerungsorte der Juden in Schlesien. In: czapLińsKi, Marek/hahn, Hans-Joachim/WeGer, Tobias (Hg.): Schlesische Erinnerungsorte. Gedächtnis und Identität einer mitteleuropäischen Region. Görlitz 2005, 78–93; bräMer, Andreas: Leistung und Gegenleistung. Zur Geschichte jüdischer Religions- und Elementarlehrer in Preußen 1823/2� bis 1872. Göttingen 2006; Maser, Peter: Heinrich Graetz (1817–1891). In: Meyer, Dietrich (Hg.): Über Schlesien hinaus. Zur Kirchengeschichte in Mitteleuropa. Festgabe für Herbert Patzelt zum 80. Geburtstag. Würzburg 2006, 250–275; PelGer, Gregor: Konkurrenz und Kompromiß: Das jüdischtheologische Seminar im viktorianischen England. In: schMaLe, Wolfgang/steer, Martina (Hg.): Kulturtransfer in der jüdischen Geschichte. Frankfurt am Main/New York 2006, 97–122; LenarciK, Mirosława: Jewish Charitable Foundations in Breslau. In: Medaon. Magazin für Jüdisches Leben in Forschung und Bildung 1 (2007) 1–16; WłodarczyK, Tamara/duda, Tomasz: Szkoły żydowskie we Wrocławiu [Jüdische Schulen in Breslau]. Wrocław 2008; Miron, Guy (Hg.): Mi-Breslau li-Jeruschalajim. Bate midrasch le-rabbanim, pirke mechkhar we-hagut/From Breslau to Jerusalem. Rabbinical Seminaries, Past, Present and Future. Jeruschalajim [2009]; aLbertini, Francesca Yardenit: Kritische Religionsphilosophie und

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Das Jüdisch-Theologische Seminar Breslau Wissenschaft des Judentums. Von Breslau nach Cincinnati. In: schMidt-biGGeMann, Wilhelm/taMer, Georges (Hg.): Kritische Religionsphilosophie. Eine Gedenkschrift für Friedrich Niewöhner. Berlin/ New York 2010, 377–392; Krone, Kerstin von der: Wissenschaft in Öffentlichkeit. Die Wissenschaft des Judentums und ihre Zeitschriften. Berlin/Boston 2011; LenGyeL, Gábor: Moderne Rabbinerausbildung in Deutschland und Ungarn. Ungarische Hörer in Bildungsinstitutionen des deutschen Judentums (185�–1938). Münster/Berlin/Budapest 2012.

Maximilian Eiden

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Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter Dr. Bojan ALeKsov, University College London, The School of Slavonic and East European Studies, Gower Street, London, UK-WC1E 6BT Dr. Meinolf Arens, Internationales Institut für Nationalitätenrecht und Regionalismus, Heßstraße 2�, D-80799 München Prof. Dr. Christoph auGustynoWicz, Universität Wien, Institut für Osteuropäische Geschichte, Spitalgasse 2/3, A-1090 Wien Dr. Dániel BaGi, Pécsi Tudományegyetem, Középkori és Koraújkori Történeti Tanszék, Rókus utca 2, HU-762� Pécs Prof. Dr. Joachim BahLcKe, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-7017� Stuttgart Prof. Dr. Wojciech Bałus, Instytut Historii Sztuki, ulica Grodzka 53, PL-31-001 Kraków Prof. Dr. János Barta, Debreceni Tudományegyetem, Történelmi Intézet, Egyetemes Történelmi Tanszék, Egyetem tér 1, HU-4032 Debrecen Prof. Dr. Milena BartLová, Masarykova univerzita, Seminář dějin umění, Arna Nováka 1, CZ-60200 Brno Markus Peter BehaM M.A., Institut für Europarecht, Internationales Recht und Rechtsvergleichung der Universität Wien, Schottenbastei 10-16, A-1010 Wien Dr. Liliya Berezhnaya, Exzellenzcluster „Religion und Politik“, Westfälische WilhelmsUniversität Münster, Johannisstrasse 1, D-�81�3 Münster Dr. Grzegorz BiałuńsKi, Ośrodek Badań Naukowych im. Wojciecha Kętrzyńskiego, Dom Polski, ulica Partyzantów 87, PL-10-�02 Olsztyn Prof. Dr. István BitsKey, Debreceni Tudományegyetem, Magyar és Összehasonlitó Irodalomtudományi Intézet, Egyetem tér 1, HU-4032 Debrecen Prof. Dr. Katrin BoecKh, Osteuropa-Institut Regensburg, Historische Abteilung, Landshuter Straße �, D-930�7 Regensburg PD. Dr. Robert Born, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig, Specks Hof, Reichsstraße �-6, D-0�109 Leipzig 990

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Ivo Brčić M.A., Johanniterstraße 5, D-10961 Berlin Prof. Dr. Alfons BrüninG, Institute for Eastern Christian Studies, Radboud University, Erasmusplein 1, NL-6525 HT Nijmegen Dr. Dušan Buran, Slovenská národná galérie, Riečná 1, SK-81513 Bratislava Prof. Dr. Andrei corbea-hoisie, Catedra de Germanistica, Facultatea de Litere, Universitatea Al. I. Cuza, Bulevardul Carol I 11, RO-700505 Iasi Dr. Julia DücKer, Heidelberger Akademie der Wissenschaften, Zentrum für Europäische Geschichts- und Kulturwissenschaften, Historisches Seminar, Grabengasse 3-5, D-69117 Heidelberg Dr. Maximilian Eiden, Schlesisches Museum zu Görlitz, Postfach 300�61, D-02809 Görlitz Prof. Dr. Elisabeth von ErdMann, Universität Bamberg, Lehrstuhl für Slavische Literaturwissenschaft, An der Universität 5, D-960�7 Bamberg Dr. Nóra Etényi, Eötvös Loránd Tudományegyetem Bölcsészettudományi Kar, Történeti Intézet, Múzeum körút 6-8, HU-1088 Budapest Dr. Márta Fata, Institut für donauschwäbische Geschichte und Landeskunde, Mohlstraße 18, D-7207� Tübingen PD Dr. Stephan FleMMiG, Universität Jena, Historisches Institut, Fürstengraben 13, D-077�3 Jena Dr. Irmfried Garbe, Evangelisches Pfarramt Dersekow-Levenhagen-Görmin, ErnstThälmann-Straße 12, D-17�98 Dersekow Dr. Agnieszka Gaşior, Geisteswissenschaftliches Zentrum Geschichte und Kultur Ostmitteleuropas e.V. an der Universität Leipzig, Specks Hof, Reichsstraße �-6, D-0�109 Leipzig Prof. Dr. Roland GehrKe, Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-7017� Stuttgart Dr. Anna GrünfeLder, Österreichische Botschaft Zagreb, Radnička cesta 80/IX, HR-10000 Zagreb 991

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

János L. Győri, Református Kollégium Debrecen, Kálvin tér 16, HU-4044 Debrecen Prof. Dr. Géza érszeGi, Deres utca 13, HU-1124 Budapest Dr. Juliane hauboLd-stoLLe, Heinrich-Roller-Straße 13, D-10�05 Berlin Dr. Zoltán Ilyés, Magyar Tudományos Akadémia, Társadalomtudományi Kutatóközpont, Kisebbségkutató Intézet, Országház utca 30, HU-1014 Budapest Dr. Dr. h.c. Winfried IrGanG, Herder-Institut Marburg, Gisonenweg 5-7, D-35037 Marburg Eligiusz Janus M.A., Herder-Institut Marburg, Gisonenweg 5-7, D-35037 Marburg Prof. Dr. Kerstin S. Jobst, Universität Wien, Institut für Osteuropäische Geschichte, Spitalgasse 2/3, A-1090 Wien Dr. Jiří Just, Filosofick� ústav Akademie věd České republiky, Jilská 1, CZ-11000 Praha 1 Dr. hab. Tomasz KeMPa, Uniwersytet Mikołaja Kopernika, Instytut Historii iArchiwistyki, Płac Teatralny 2a, PL-87-100 Toruń Dr. Norbert KersKen, Deutsches Historisches Institut Warschau – Niemiecki Instytut Historyczny w Warszawie, Pałac Karnickich, Aleje Ujazdowskie 39, PL-00-5�0 Warszawa Prof. Dr. Maria KłańsKa, Uniwersytet Jagielloński, Instytut Filologii Germańskiej, Wydział Filologiczny, ulica Mickiewicza 9, PL-31-120 Kraków Prof. Dr. Péter Kónya, Ondavská 10A, SK-08005 Prešov Dr. Andrzej KopiczKo, ulica Kopernika �7, PL-10-512 Olsztyn Dipl. theol. Stefan Kube, Institut G2W, Birmensdorferstraße 52, Postfach 9329, CH-8036 Zürich Dr. Zlatko KudeLić, Hrvatski institut za povijest, Opatička 10, HR-10000 Zagreb Florian Kührer-WieLach M.A., Leibniz-Institut für Europäische Geschichte, Alte Universitätsstraße 19, D-55116 Mainz Dr. Ingrid KušniráKová, Historick� ústav SAV, Oddelenie dejín 19. storočia, Klemensova 19, SK-813 6� Bratislava 992

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Daniel LaLić M.A., Universität Passau, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen, Innstraße 25, D-9�032 Passau Prof. Dr. Rudolf Leeb, Universität Wien, Institut für Kirchengeschichte, Rooseveltplatz 10, A-1090 Wien PD Dr. Zsolt K. LenGyeL, Ungarisches Institut, Landshuter Straße �, D-930�7 Regensburg Dr. Edit Madas, Országos Széchényi Könyvtár, Budavári Palota „F“, HU-1827 Budapest Dr. Zoltán MaGyar, Magyar Tudományos Akadémia Néprajzi Kutatóintézet, Folklór Osztály, Országház utca 30, HU-1014 Budapest Susanne Mall M.A., Universität Stuttgart, Historisches Institut, Keplerstraße 17, D-7017� Stuttgart Dr. Giedrė MicKūnaitė, Vilnius Academy of Arts, Maironio street 6, LT-01124 Vilnius PD Dr. Jiří MiKuLec, Historick� ústav Akademie věd České republiky, Prosecká 76, CZ-19000 Praha 9 Dr. Urszula PaWLuczuK, Uniwersytet w Białymstoku, Instytut Historii, Plac Uniwersytecki 1, PL-15-�20 Białystok Dr. Konrad PetrovszKy, Skalitzer Straße 70A, D-10997 Berlin Prof. Dr. Andrzej Pleszczyński, Zakład Historii Powszechnej Średniowieczne, pl. M. Curie-Skłodowskiej �a, PL-20-031 Lublin PD Dr. Mihailo St. Popović, Institut für Byzanzforschung, Wohllebenstraße 12-1�, A-1040 Wien Dr. Radmila Radić, Bulevar Arsenija Čarnojevića 183/1�, RS-11070 Novi Beograd Dr. Lenka ŘezníKová, Filosofick� ústav Akademie věd České republiky, Jilská 1, CZ-11000 Praha 1 Prof. Dr. Stefan RohdeWaLd, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto-BehaghelStraße 10, D-3539� Gießen Dr. Harald Roth, Deutsches Kulturforum östliches Europa e.V., Berliner Straße 135, D-1��67 Potsdam 993

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Prof. Dr. Stefan SaMersKi, Universität München, Katholisch-Theologische Fakultät, Geschwister-Scholl-Platz 1, D-80539 München Dr. habil. Izabela SKiersKa, ulica Zwierzyniecka 20, PL-6081� Poznań, Dr. Peter ŠoLtés, Filozofická fakulta Katolíckej univerzity v Ružomberku, Katedra histórie, Hrabovská cesta 1, SK-03� 01 Ružomberok Dr. Peter SoustaL, Universität Wien, Institut für Byzanzforschung, Wohllebengasse 12-14, A-1040 Wien Paul srodecKi, Universität Gießen, Historisches Institut, Otto-Behaghel-Straße 10, D-3539� Gießen Dr. Paulius V. Subačius, Vilniaus Universitetas, Universiteto g. 5, LT-01513 Vilnius Prof. Dr. Arūnas StreiKus, Vilniaus Universitetas, Universiteto g. 7, LT-01513 Vilnius Prof. Dr. András Szabó, Károli Gáspár Református Egyetem, Régi Magyar Irodalom Tanszék, Reviczky utca �, HU-1088 Budapest Dr. Szilveszter TerdiK, Mező Imre utca 17, HU-�235 Biri Prof. Dr. Tomász torbus, Instytut Historii Sztuki Uniwersytetu Gdańskiego, Zakład Teorii Sztuki, ul. Bielańska 5, PL-80-952 Gdańsk Lic. phil. Daniel UrsprunG, Universität Zürich, Historisches Seminar, Abteilung für Osteuropäische Geschichte, Karl Schmid-Straße �, CH-8006 Zürich Dr. Marija VuLesica, Technische Universität Berlin, Zentrum für Antisemitismusforschung, Ernst Reuter Platz 7, D-10587 Berlin Albert Weber M.A., Institut für Ost- und Südosteuropaforschung, Landshuter Straße �, D-930�7 Regensburg Dr. Christophe von Werdt, Holligenstraße ��, CH-3008 Bern PD Dr. Evelin Wetter, Abegg-Stiftung, Werner Abegg-Straße 67, CH-3132 Riggisberg Dr. Marcin WisłocKi, Instytut Historii Sztuki Uniwersytetu Wrocławskiego, ul. Szewska 36, PL-50-139 Wrocław 994

Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter

Prof. Dr. Thomas Wünsch, Universität Passau, Lehrstuhl für Neuere und Neueste Geschichte Osteuropas und seiner Kulturen, Innstraße 25, D-9�032 Passau Dr. Cornelius R. Zach, Straßbergerstraße 32, D-80809 München Prof. Dr. Krista zach, Straßbergerstraße 32, D-80809 München Prof. Dr. Daniel ZieMann, Central European University, Department of Medieval Studies, Nádor utca 9, HU-1051 Budapest

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Personenregister Abkürzungen: Ä. = Ältere, alb. = albanisch, Bf. = Bischof, bibl. = biblisch, bosn. = bosnisch, bulg. = bulgarisch, byz. = byzantinisch, dt. = deutsch, Ebf. = Erzbischof, Ehzg. = Erzherzog, Ehzgn. = Erzherzogin, eigtl. = eigentlich, Frf. = Freifrau, Frhr. = Freiherr, Fst. = Fürst, Fstbf. = Fürstbischof, Fstm. = Fürstentum, Fstn. = Fürstin, gen. = genannt, Gf. = Graf, Gfn. = Gräfin, Gfst. = Großfürst, hl. = heilige, heiliger, Hm. = Hochmeister, Hzg. = Herzog, Hzgn. = Herzogin, J. = Jüngere, Kfst. = Kurfürst, Kg. = König, Kgn. = Königin, kroat. = kroatisch, Ks. = Kaiser, Ksn. = Kaiserin, leg. = legendärer, mazed. = mazedonisch, Mkgf. = Markgraf, Mkgfn. = Markgräfin, mythol. = mythologisch, osm. = osmanisch, österr. = österreichisch, Prz. = Prinz, Przn. = Prinzessin, Rgf. = Reichsgraf, Rgfn. = Reichsgräfin, röm. = römisch, rum. = rumänisch, sel. = selige, seliger, serb. = serbisch, slaw. = slawisch, sowj. = sowjetisch, ung. = ungarisch, Vizekg. = Vizekönig, Woiw. = Woiwode A Abdurrahman Paşa 936 Abel, Heinrich 60 Abraham a Sancta Clara 196 Ackner, Johann Michael 340 Adalbert (Vojtěch, Wojciech), hl. 2�, 3�, 36, 251f., 25�, 257, 286f., 399, �0�, �78f., �85, 503, 505, 512–522, 52�f., 529, 555, 557, 571, 6�1, 797, 801 Adalbert III. v. Böhmen 53 Adalram, Ebf. v. Salzburg 20 Adelung, Christoph 696 Ademar v. Chabannes 525 Adrian, Patriarch v. Moskau 7�0 Ady, Endre 198, 713 Agape, Märtyrerin 460 Ağca, Mehmet Ali 785 Agnes v. Böhmen (Anežka Přemyslovna), hl. 251, 258, 599, 789 Agnes v. Groitzsch → Agnes v. Rochlitz Agnes v. Rochlitz (Groitzsch) 599 Ahlwardt, Christian Wilhelm 355 Ahurbaš, Anžalika 581 Ajtony, ung. Stammesfürst 544f. Alacoque, Marguerite Marie 413 Albert v. Kamének, Nikolaus (Mikuláš) 363 Albertini, Francesca Yardenit 985 Albinus, Petrus 867 Albrecht II., Hzg. v. Österreich 53 Albrecht V., Hzg. v. Österreich 56 Albrecht d. Bär, Mkgf. v. Brandenburg 566 Albrecht v. Hohenzollern, Hm. des Dt. Ordens, Hzg. v. Preußen 127, 817 Alecsandri, Vasile 666

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Aleksandr Nevskij (Aleksandr Jaroslavovič), hl., Gfst. d. Rus’ 59� Aleksej II., Patriarch v. Moskau �63 Aleksi 266 Aleksić, Georgije 95� Alexander d. Große 796 Alexander d. Gute (Alexandru cel Bun), Woiw. d. Moldau 649, 652, 654, 662 Alexander I. (Aleksandr), Zar v. Rußland 1�1, 143 Alexander I. Karađorđević (Aleksandar), Kg. v. Jugoslawien 772 Alexander I. v. Battenberg (Aleksandăr), Fst. v. Bulgarien �86f. Alexander II. (Aleksandr), Zar v. Rußland 10, �6, 75 Alexander III., Papst �66 Alexander III. (Aleksandr), Zar v. Rußland 9 Alexander VII., Papst 83 Alexander, Stadtpatron 401 Alexander Jagiełło, Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 281, 380 Alexius v. Edessa (Alexis), hl. 512, 524 Aleykhem, Sholom �7 Algirdas (Olgierd), Gfst. v. Litauen 378, 380 Alpár, Ignácz 326 Alsberg, Betty 985 Alsberg, Paul Avraham 985 Altenburg, Dietrich von 93 Alvinczi, Péter 711f. Amfilochyj, sel. 75 Amos, bibl. Prophet 829 Ana (leg. Frau d. Manole) 103 Anania, Bartolomeu 219f.

Personenregister Anastasia (Stošija), hl. �59–�63 Ančić, Ivan 629 András, Eremit 545 András, ung. Hzg. 545 Andrasz, Józef 415 Andreas, Apostel 5, �1–�6, 18� Andreas II. (András), Kg. v. Ungarn 335, 817 Andronikos II., byz. Ks. 265 Andronikos III., byz. Ks. 265 Angelarij (Angelarios, Angelarius), hl. �77f., �9� Anghel, Athanasie (Athanasius) Popa 16, 9�0 Anna v. Byzanz 6 Anna v. Schweidnitz, Kgn. v. Polen 601 Anna, Kgn. v. Großbritannien u. Irland 958 Anna Jagiellonka, Kgn. v. Polen, Gfstn. v. Litauen 272 Antall, József 64 Antoni de Crypa (de Greto) 281 Antonij, Bf. 77 Antonij, hl. 378 Antonios, hl. 656 Antonius v. Padua, hl. �00f. Antonopulos, Christodulos �57 Aralica, Ivan 816 Arany, János 813 Arnulf, Hzg. v. Bayern 502 Árpád, Gfst. v. Ungarn 66 Arras, Matthias v. 253 Arsenij, Klostervorsteher 281 Arsenije III., Patriarch v. Peć 187, 906 Arsenije IV., Metropolit v. Karlowitz 187 Artus, leg. Kg. 539 Asti, Michele d’ 936 Astrik, Abt v. Pannonhalma 70 Atanasie, Bf. 210 Attila, Kg. d. Hunnen 539 August, Hzg. v. Sachsen 867 August II., Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen, als Friedrich August I. Kfst. v. Sachsen 281, 673 August III., Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen, als Friedrich August II. Kfst. v. Sachsen 131, 669, 77� August III., Wettiner-König 671 Augusta, Jan 8�� Augustinas, Vytautas 225 Aventinus, Johannes �80 B Baal Schem Tow → Israel ben Elieser Bačkis, Audrys Juozas 411, 426

Badalić, Hugo 815, 868 Baeck, Leo 980, 985 Baerwald, Leo 980 Bajkowska, Olga 443 Bakics, Anna 202 Bakócz, Thomas (Tamás) 160, 321 Bałaban, Majer 85 Bălan, Nicolae 215f. Balassi, Bálint 36, 813 Balbín, Bohuslav 58, 505, 918 Bálint, Pastor 171 Balogh, Jolán 341 Baltić, Jakov 628 Bandulavić, Ivan 2�6, 629, 632 Barbara v. Cilli, Kgn. v. Ungarn, röm.-dt. Ksn. 431 Barbiano, Giacomo, Gf. de Belgioioso 296 Barbu, Violeta 107 Barnim I., Hzg. v. Pommern 562 Barnim III., Hzg. v. Pommern 563 Barnim IX., Hzg. v. Pommern-Stettin 351 Baronius, Caesar 526f. Baronius, Marcin 527, 621 Bársonyi, Georg (György) 111 Bartholomäus, hl. 611 Bartoš, František M. 315 Bartoszewicz, Julian 7�5 Bartulis, Eugenijus 228 Bartulović, Niko 759 Basarab d. J. (Basarab cel Tânăr, auch Ţepeluş), Woiw. d. Walachei 104 Basarab I., Woiw. d. Walachei 100, 104 Basarab, Constantin Şerban, Woiw. d. Walachei 181, 18� Basarab, Matei, Woiw. d. Walachei 103–105, 18� Basarab, Neagoe, Woiw. d. Walachei 100f., 103f. Băsescu, Traian 219 Basileios II., byz. Ks. 6, 454 Basta, Giorgio 709f. Báthory, Christoph (Kristóf), Fst. v. Siebenbürgen 709 Báthory, Sigismund (Zsigmond), Fst. v. Siebenbürgen 709 Báthory v. Ecsed, István 37� Batory, Stefan (István Báthory), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 119, 272, 281, 807, 887 Bátthyani, Ignatz (Ignác) 19 Bauer, Antun 772 Bauer, Berta 442, 445 Bayerle, Bernhard Gustav 623

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Personenregister Bayezid I. (Beyazıt), Sultan 823f. Bayezid II. (Beyazıt), Sultan 265 Bayle, Pierre 695 Baziak, Eugeniusz 415 Beethoven, Ludwig van 538 Bél, Matthias (Matej) 366 Béla III., Kg. v. Ungarn u. Kroatien 66, 69, 262 Béla IV., Kg. v. Ungarn u. Kroatien �30f., 811f. Bellarmino, Roberto 245 Belotti, Giuseppe Simone 401 Benczúr, Gyula 538, 93� Bendl, Johann Ignaz 402 Benedek, Eremit 545 Benedict, Michael 323f. Benedikt, Eremit 21f., 67 Benedikt, Gefährte Bruns 524 Benedikt v. Nursia, hl. 20, 2�8, �8� Benedikt IX., Papst 5�5 Benedikt XIV., Papst 671 Benedikt XVI., Papst 790 Benić, Bona 628 Benno, hl. 401 Berendt, Friedrich 127 Bernardin aus Split 246 Bernardino v. Siena 670 Bernays, Jacob 980 Bernhardt, Ernst 566 Bernolák, Anton 153, 155 Berthold IV., Gf. v. Andechs-Meranien 599 Bertig, Markus → Gebirtig, Mordechaj Bertram, Adolf 567 Bethlen, Gabriel (Gábor), Fst. v. Siebenbürgen 152, �79, 709, 712 Bèze, Théodore de 373 Bielecka, Barbara 444f. Bielski, Joachim 286 Bielski, Marcin 621 Bigović, Radovan 768 Bílek, František 257 Birgitta v. Schweden, hl. 609, 621 Birkowski, Fabian 287 Biró, József 341 Bischoff, Konrad 563 Bismarck, Otto v. 94 Bítovsk�, Wenzel (Václáv) 718f. Bizari, Pietro 866 Blahoslav, Jan 360–362, 369 Blažević, Jakov 776 Blažević, Velimir 63�

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Bobrzyński, Michał 798, 800 Bocskai, György 709 Bocskai, Stephan (István Bocskay),, Fst. v. Siebenbürgen 167, 171, 296, 321, 709–715 Bodzęta 618 Bogdan II., Woiw. d. Moldau 662 Bogdan, Ivo 761 Bogdanović, Marijan 628 Bogislaw I., Hzg. v. Pommern 562 Bogislaw X., Hzg. v. Pommern 35�, 563, 565, 570, 678 Bogislaw XIV., Hzg. v. Pommern 352f., 356, 358 Bohša, Lazar’ 575 Bohuš-Bahavicinovič (Bohusz-Bohowitynowicz), Michail (Mihał) 281 Bolchovitinov, Evgenij 7�1 Boleslav I., Hzg. v. Böhmen 502f., 509, 795 Boleslav II., Hzg. v. Böhmen 512, 554 Bolesław II., Kg. v. Polen 271 Bolesław I. Chrobry, Kg. v. Polen 513f., 516f., 519, 521, 52�f., 819 Bolesław III. Krzywousty, Hzg. v. Polen 51�f., 561, 569f. Bolesław Wstydliwy, Hzg. v. Kleinpolen 55� Bolland, Jean 527 Bollé, Hermann 436 Bolte, Georg Friedrich 355 Bona Sforza, Kgn. v. Polen 138 Bondy, Filip 122 Bonfini, Antonio 812 Bonifatius → Brun Bonifatius, hl. 529, 531 Bonifaz IV., Papst 55 Borec’ky, Iov 737 Boris (Barys, Borys), hl. �1, ��, 279, 281 Boris I., Fst. v. Bulgarien �75 Boris III., Kg. v. Bulgarien 267, �88f. Borisova, Zvenislava 575 Bornemisza, Paul (Pál) 320–322 Boruta, Jonas 424 Borys → Boris Boryszewski, Andrzej Róża 138 Bosy, Ivan 7� Bouchard, Henri 711 Bouillon, Gottfried v. 68 Bouttats, Gaspard 24 Brämer, Andreas 985 Brâncoveanu, Constantin, Woiw. d. Walachei 185 Brâncoveanu, Preda 18�

Personenregister Brandl, Vincenc �82 Brandt, Józef 288 Branković, Đorđe 588 Branković, Đurađ, serb. Despot 83� Branković, Mara 263 Branković, Vuk, serb. Teilherrscher 823–826 Brann, Marcus 980f., 983, 985 Brant, Sebastian 806 Brătianu, Vintila 18 Břetislav I., Hzg. v. Böhmen �78, 51� Brežnev, Leonid �21, 7��, 785 Brigido, Michael Leopold 111 Brokof, Ferdinand Maximilián 399 Broz, Josip → Tito Brun (Bonifatius), hl. 34, 513f., 524–531 Brynych, Edvard 701 Brzostowski, Konstanty Kazimierz 131 Brzozowski, Edward 517 Bubnič, Michal 206 Buday, Árpad 3�1 Buddeus (Budde), Johann Franz 696 Budina, Samuel 866 Bugenhagen, Gerhard 678 Bugenhagen, Johannes 351, 35�, 357, 56�, 570f., 678–68� Bulajić, Milan 23�, 777 Bulgakov, Makarij 7�1 Bulić, Frane (Don) �68f., �71 Bulota, Jonas 226 Bumblauskas, Alfredas 530 Bunzel, Hellmuth 388f. Buonaccorsi, Filippo (Callimachus) 806, 835 Buquoy, Karl Bonaventura 914 Buračas, Balys 22�f. Burgio, Antonio 5�8 Burnacini, Ludovico 402 Burzak, Piotr 130 Büttner, David Sigismund 527 Buzzini, Giacomo Antonio 140 Bzowski, Abraham 621 C Cäcilia Renata (Cecylia Renata), Kgn. v. Polen, Gfstn. v. Litauen 728 Callimachus → Buonaccorsi, Filippo Calvin, Jean 167f., 171, 877 Camblak, Grigorij 183, 652f. Canaparius, Johannes 513 Candid, Peter 397

Canevale, Carlo 398 Cantacuzino, Şerban, Woiw. d. Walachei 10�, 213 Čapek, Jan Blahoslav 703 Carlone, Martino 398 Carlson, Ernst 960 Carlyle, Thomas 767 Caro, Annibale 806 Carol I. (Karl I. v. Hohenzollern-Sigmaringen), Fst. u. Kg. v. Rumänien 18, 105f., 181f., 18� Casaroli, Agostino �8�, 78� Casparini, Adam Horatio 140 Cassidy, Edward Idris 72� Catargiu, Barbu 18� Caymox, Balthasar 711 Ceauşescu, Nicolae 106, 18�f., 218, 309f., 3�6, 666, 818 Cecelja, Vilim 77� Cerchez, Grigore 105 Cesarini, Giuliano 833f. Chadyka, Ivan 727 Charlampovič, Konstantin 7�2 Chionia, Märtyrerin 460 Chmeľnyc’kyj (Chmielnicki), Bohdan (Bogdan), Hetman 8�, 121, 673, 7��, 899 Chociszewski, Józef 518 Chodynicki, Karol 7�5 Chojnac’kyj, Andrij 77 Cholodnyj, Petro �8 Chomatenos, Demetrios 494 Chrapovyc’kyj (Chrapovickij), Antonij 75 Christian II., Fst. v. Anhalt-Bernburg 914 Chruščev, Nikita 420 Chrysogonus (Krševan), hl. �59f., �62 Chyträus, David 681 Chyžnjak, Zoja 7�� Ciaritius, Michael 126 Cimburgis v. Masowien, Hzgn. v. Österreich 54 Ciobanu, Boris 818 Ćirković, Sima 826 Clemens, Domherr 5�7f. Clemens I. Romanus, hl., Papst �, 8, 23, �7�, �78, 494 Clemens IV., Papst 600 Clemens VI., Papst 5�8, 563, 805 Clemens VIII., Papst 897f. Clemens XI., Papst 1�0, 959 Clemens XII., Papst 670 Clemens XIII., Papst 21� Clemens XIV, Papst 76, 129

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Personenregister Cohen, Hermann 980 Cohn, Willy 985 Columbus, Christoph 530 Comenius (Komensk�), Johann Amos (Jan Amos) 360, 363f., 366, 368, �79, 6�2, 693–706, 8�7 Commendone, Giovanni Francesco 807 Commodus, röm. Ks. 13 Constantin Şerban Basarab, Woiw. d. Walachei 181, 18� Constantius Chlorus, Caesar 451 Corbelli, Johannes Andreas Gf. v. 195f. Ćorović, Vladimir 759 Costin, Miron 657, 665 Cramer, Daniel 56�, 570, 681 Cranach d. J., Lucas 351, 680 Crimca, Atanasie 657 Crnjanski, Miloš 828 Croy, Anna v. 352–35�, 357 Croy, Ernst Bogislaw v. 350, 352f., 355 Csáki, Miklós 5�7 Csanád, ung. Stammesfürst 544f. Csányi, Ákos 813 Csaplovics, Johann v. 910 Cserei, Mihály 933 Csigri, László 196 Csontváry Koszta, Tivadar 869 Cupşa, Ioan 210 Cuza, Alexandru Ioan, Fst. v. Rumänien 182, 18� Czartoryski, Adam Jerzy 622 Czermak, Wiktor 622 Czobor, Imre 202 Czobor, Joseph 203 D Dąbrowski, Jan 623 Dalimil �80 Dalmatin, Antun 244 Damirski, Cyprian 673 Daniłowicz, Mikołaj 672 Dankwart, Karol 140 David aus Granica 265 David, bibl. Kg. v. Juda u. Israel �2, ��, 750, 752 David, Lukas 526 Davidis, Franz 878 Deboles, Petros �53 Debreceni Szappanos, János 712, 715 Dedijer, Vladimir 633, 776f. Deljan, Peter �5� Demeter (Dimitrija) 815

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Demetrios, hl. �51–�57 Demetrios Chrysoloras 455 Demetrius d. Neue v. Basarabov, hl. 181, 183f. Deschner, Karlheinz 634 Dessewffy, Tamás 549 Diana, röm. Göttin 8 Dietrichstein, Franz Seraph Gf. v. 718f. Dietz, Jost Ludwig 806 Dimitrija → Demeter Dimitrov, Georgi 267 Diokletian, röm. Ks. 459, 465f., 469 Divković, Matija 2�6, 629, 63� Djilas, Milovan 776 Długosz, Jan 91, 285f., 288, 513, 555f., 619–621, 797, 806, 835 Dmowski, Roman 810f. Döblin, Alfred 122 Döbrentei, Gabriel Beda 62 Dobrovsk�, Josef 361, �81, 6�2, 695 Dolabella, Tommaso 621 Dollfuß, Engelbert 61 Dombrowski (Dąbrowski), Michał 731 Domentijan (Teodosije v. Hilandar) 592 Dominicus a Jesu Maria (Domingo Ruzzola) 917 Domnius (Domnio, Duima, Dujam, Duymus), hl. �6�–�67, �69–�71 Donatus, hl. 459f., 462 Donatus v. Münstereifel 462 Doncov, Dmytro �8 Donner, Georg Raphäel 160 Döpfner, Julius 605 Dorffmeister, Stephan 870 Dorošenko, Dmytro 7�3 Dorothea v. Montau (Dorota z Mątowów) 609– 616 Dosoftei, Metropolit d. Moldau 6�9, 657 Dostoevskij, Fëdor 595, 767 Dosyfej 76 Dow Beer v. Leova 75� Dow Ber Meisels 121, 751 Dow Beer v. Mežyrič 7�9 Dowiat, Jerzy 799 Dožić, Gavrilo, serb. Patriarch 828 Dózsa, György 5�8 Drachman, Bernard 982 Drahomira, Fstn. v. Böhmen 501f. Draskovich, Nikolaus, Gf. 57 Drumev, Vasil �87 Drzazga, Józef 130, 132

Personenregister Duchiński, Franciszek Henryk 730 Dudás, Gyula 937 Dudics, András 300 Dudík, Beda �82 Dunbar, Agnes Baille Cuninghame 623 Dunikowski, Xawier 179 Đurađ II. Balšić, serb. Fürst 823 Dürr, Damasus 325 Durych, Jaroslav 644 Dvořák, Max 316 Dzjahilevič, Jan 727 E Ebo v. Michelsberg 562f. Edigü, Emir d. Goldenen Horde 4 Efrem, hl. �78 Ehrenkron, Irenicus → Sinold v. Schütz, Philipp Balthasar Eichendorff, Joseph v. 93 Elbogen, Ismar 980 Elemosynarius, Johannes 160 Elena, Gattin v. Alexander Jagiełło 281, 380f. Eleonore v. Österreich, Gattin v. Michael Korybut Wiśniowiecki 139 Eleonore Magdalena, röm.-dt. Ksn. 196 Eliot, Thomas Stearns 275 Elisabeth I. (Elizaveta), russ. Zarin 46 Elisabeth v. Böhmen und Ungarn 56 Elisabeth v. Bosnien (Elizabeta Kotromanić, Elżbieta Bośniaczka) 618 Elisabeth v. Polen, Kgn. v. Ungarn u. Kroatien 5�6, 5�8, 557 Elisabeth v. Thüringen u. Ungarn (Erzsébet), hl. 56, 111, 294f., 300, 516, 599f., 611 Elisabeth-Bonifacja (Elżbieta-Bonifacja) 619 Ellert, Jonas 411 Elsner, Johann Gottlieb 366 Eminescu, Mihail 366 Emmeram, hl. 23 Emmerich (Imre), Prz., hl. 21, 68, 328, �0�, 535, 538 Entz, Géza 341 Eöry, Mihály 195 Ephraim d. Syrer, hl. 263 Epstein, Kalman 121 Erdődy, Georg (György) Gf. 59 Erik IX. v. Schweden, hl. 503 Erkel, Ferenc 538 Ertli, Georg 128

Essenwein, August 273 Esterházy (Eszterházy), Imre 203f. Esterházy (Eszterházy), Miklós 150 Esterházy (Eszterházy), Pál (Paul) 57, 151, 213, 933, 936 Estiènne, Robert 371 Еŭfrasinnja (Еvfrоsin’ja, Еvfrasin’ja), hl. 281, 575 Eugen, Prz. v. Savoyen 196, 628, 931f., 936 Eusebios v. Ceasarea �57 Euthymios (Evtimij), hl., Patriarch v. Tărnovo 106f., 183, 652 Evstafij, hl. 378 F Fándly, Juraj 153 Fedotov, Georgij �8 Fekete, István 925 Fenessy, György 196 Feninger, Franz 199 Ferdinand, Ehzg. v. Habsburg, Kg. v. Ungarn 852 Ferdinand, Kg. v. Rumänien 18, 106, 9�9 Ferdinand I., Kg. v. Böhmen u. Ungarn, röm.-dt. Ks. 25�, 320, 81�f., 8��f. Ferdinand II., Ehzg. v. Österreich, Fst. v. Tirol 505, 914 Ferdinand II., Kg. v. Böhmen u. Ungarn, röm.-dt. Ks. 52, 55, 57, 385, 398f., �06, 918 Ferdinand III., Kg. v. Böhmen und Ungarn, röm.dt. Ks. 52, 55, 57, 385, 388, 398f., �06, 918 Fiáth, János 933, 936 Filipović, Jerolim 629 Filipović, Tomislav 631 Fischel, Efraim 120 Fischer v. Erlach, Johann Bernhard 57, �02 Fischer v. Erlach, Joseph Emanuel 256 Florian, hl. �01, 557, 809 Florovskij, Georgij 7�2 Floss, Pavel 706 Földváry, Miklós 54 Ford, Aleksander 289 Forgách, Ferenc 150, 152f. Forgách, Imre 867 Forster, Albert 94 Fraenckel, Jonas 979 Fragner, Jaroslav 315 Francke, August Hermann 162, 366, 696 Franco, Francisco 62f. Frankel, Zacharias 979–982, 985

1001

Personenregister Frankopan, Bernardin 815 Frankopan, Krsto 815 Franosch, Oscar 180 Frantz, Martin 391 Franz I., Ks. v. Österreich, als Franz II. röm.-dt. Ks. 60, 111, 203f., 722, 868 Franz I. Stephan, röm.-dt. Ks. 404 Franz II., röm.-dt. Ks. → Franz I., Ks. v. Österreich Franz Ferdinand, Ehzg. v. Österreich 829 Franz Joseph I., Ks. v. Österreich 61, 190, 205, 299, �05, 551, 666, 713, 733, 936 Franz Xaver, hl. 151, 213, 401 Franzos, Karl Emil 75� Fredro, Andrzej Maksymilian 728 Freschot, Casimirio 934 Freudenthal, Jacob 980 Frick, Johann Friedrich 93 Friedman, Abraham Jakob 753–755 Friedman, Ahron 755 Friedman, Israel 7�9–756 Friedman, Jitzhak 75�f. Friedman, Malka 751 Friedman, Menachem Nachum 755 Friedman, Mordechai Schlomo 755 Friedman, Mordechai Schraga 755 Friedman, Mosche 755 Friedman, Sara 751 Friedman, Schalom Schachna 7�9, 751 Friedman, Schlomo Chaim 755 Friedrich I., Kg. v. Böhmen („Winterkg.“), als Friedrich V. Kfst. v. d. Pfalz 256, 718, 91�–916 Friedrich II., d. Große, Kg. v. Preußen 129, 175, 386, 388f., 603, 722 Friedrich III., röm.-dt. Ks. 54 Friedrich III., Kfst. v. Sachsen 351 Friedrich V., Kfst. v. d. Pfalz → Friedrich I., Kg. v. Böhmen Friedrich August I., Kfst. v. Sachsen → August II., Kg. v. Polen Friedrich August II., Kfst. v. Sachsen → August III., Kg. v. Polen Friedrich Wilhelm III., Kg. v. Preußen 131, 565 Friedrich Wilhelm IV., Kg. v. Preußen 355 Fritzsch, Christian 959 Friz, Andreas 867 Frühwirt, Joseph 402 Fürstenberg, Friedrich Gf. v. �82 Fürstenberg, Friedrich Egon Gf. v. 723

1002

G Gaius Galerius Valerius Maximianus, Caesar 451f. Gaj, Ljudevit 827 Galiatovs’kyj, Ioanikij 76 Gallus Anonymus 513, 515, 55�, 796 Garaj, Štefan 113 Gaschin, Georg Adam v. 176 Gaschin, Melchior v. 176 Gaster, Moses 983 Gaudentius 513f., 517, 801 Gautsch, Paul 700 Gavriil (Rozanov) 8 Gavriil (Uric) 653 Gavrilo, serb. Patriarch 765f. Gavrilo v. Lesnovo (Lesnovski), hl. 499 Gębarowicz, Mieczysław 623 Gebirtig, Mordechaj (eigtl. Markus Bertig) 124 Geiger, Abraham 981f. Gennadios (Georgios Kurtesis) Scholarios, Patriarch v. Konstantinopel �56 Georg, hl. 67, 5�5, 5�8, 6�9, 65�–656, 661, 663 Georg I., Hzg. v. Pommern 351 Georg III. Szakmary (György Szatmári) 321 Georg v. Podiebrad (Jiří z Poděbrad), Kg. v. Böhmen 256, 399, 6�2, 839 Georgiev, Emil 490 Georgij (Jurij), Fst. v. Polack 577 Georgios, hl. 451 Gerevich, Tibor 328 Gerhard (Gellért), hl. 21, 535, 544–551 Germanos Homologetes, Patriarch v. Konstantinopel 454 Gerson, Wojciech 96 Gertrud, Äbtissin v. Trebnitz 599 Géza, Fst. v. Ungarn 34f., 512, 534 Géza II., Kg. v. Ungarn 334f. Ghibu, Onisifor 215f. Gideon, bibl. ��, 712 Gierat, Krzysztof 123 Gierowski, Jozef 123 Giertych, Jędrzej 702 Gilly, David 93 Gilly, Friedrich 93 Ginzel, Joseph Anton 27 Gisela, Kgn. v. Ungarn 3�, 53�, 538f. Giurgiu, Marcu, gen. Crişan 17f. Giustiniani, Marco Antonio, Doge v. Venedig 936

Personenregister Gizel, Innokentij 45 Gleb (Hleb, Hlib), hl. �1, ��, 279, 281 Glemp, Józef 520 Glinka, Józef 442 Glondys, Viktor 342 Gnaeus Pompeius Magnus � Gočár, Josef 920 Góczy, Konrád 869 Golubev, Stefan 7�1 Gołubiew, Antoni 519 Golubinskij, Evgenij 578 Gomułka, Władysław 799 Gonzaga, Eleonora v. 398 Gorazd, hl. �77f., �9� Gorbačev, Michail �21, 785f. Gorički, Ivan �31f. Götzen, Franz Anton Gf. v. 177 Graetz, Heinrich 979–982 Gralath, Daniel 517 Grasewicz, Józef 411 Gregor V., Papst 513 Gregor VII., Papst 21, �69, �78, 5�0 Gregor IX., Papst 29�, 811, 817 Gregor XII., Papst 812 Grejg, Aleksej 8 Grewe, Samuel 129 Grigorie II., Metropolit d. Ungrowalachei 183 Grimmer, August 355f., 358 Grochowski, Piotr ��2 Gromyko, Andrej 78� Gross, Natan 123 Grota, Jan 556 Grujić, Radoslav 910 Grunau, Simon 526, 614 Grzegorz v. Żarnowiec 286 Güdemann, Moritz 980 Gumienny, Wiktor 442 Gumplowicz, Abraham 122 Gunst, Matthias 402 Gurecka, Helena 717 Gustav, Kg. v. Schweden 962 Gustav II. Adolf, Kg. v. Schweden 702, 957, 959 Guth, Karel 315 Guttmann, Jakob 980 Gyula, ung. Heerführer 13f. Gyulai, Endre 551 Gyurits, Antal 934

H Haag, Georg 567 Haas, Alfred 567 Habsburg, Otto v. 62 Hadrian II., Papst �7�, �9� Hadrian IV., Papst 53 Hadrian VI., Papst 815 Hagymássy, Margit 709 Hainhofer, Philipp 56� Hajek, Egon 308f. Halberstamm, Chaim 75� Halecki, Oskar 623, 7�5 Halicz, Ascher 119 Halicz, Eliachim 119 Halicz, Samuel 119 Halík, Tomáš 6�7 Haljatovs’kyj, Ioannikij 7�0 Halkowski, Henryk 119 Haller, Petrus 320 Hampel, Josef (József) 328 Hanauer, Augusta 566 Hankowska-Czerwińska, Edyta �11 Hannover, Nathan 121 Hanns v. Mühlheim (Hanuš z Milheimu) 313 Haret, Spiru 666 Hartknoch, Christoph 517, 527, 61� Hartvik, Bf. v. Raab 33, 67, 535 Hartwig, Paul 566f. Hatvani, István 169 Hauck, Johann Jakob v. 567 Haur, Jakub Kazimierz 809 Havel, Václav 258, 509, 6�6, 706 Havlíček Borovsk�, Karel 920 Hedwig, Mkgfn. v. Mähren 53, 56 Hedwig v. Andechs, Hzgn. v. Schlesien, hl. 54, 555, 599–606, 621 Hedwig v. Anjou (Jadwiga Andegaweńska), Kgn. v. Polen, hl. 137, 273f., 277, 288, 603, 618–62� Heger, Carl 518 Hegyi, Mihály 927 Heinemann, Isaak 980 Heinrich I. d. Vogler, Hzg. v. Sachsen, Kg. d. Ostfrankenreichs 252, 502f. Heinrich I., Hzg. v. Schlesien 599 Heinrich II., Hzg. v. Schlesien 599, 602 Heinrich II., röm.-dt. Ks. 3�, 52�f., 538f., 566 Heinrich IV., röm.-dt. Ks. 561 Heinrich v. Valois, Kg. v. Frankreich 886f.

1003

Personenregister Heinrich, Mkgf. v. Mähren 53, 56 Helena (Flavia Iulia Helena), Mutter Konstantins d. Großen, hl. �0, �2, 181, 183 Helitz, Lucas (Lukáš Helic) 363 Heltai, Gáspár 373 Helwich, Christian 517 Hensel, Johann Adam 957f. Henszlmann, Imre 299 Herbord v. Michelsberg 562f. Herburt, Jan 621 Herder, Johann Gottfried 696, 698 Hering, Hermann 68� Hermann d. Lahme 27 Hersch v. Rymanów 751 Hevenesi, Gábor 550 Heyden, Otto 566 Heyderich, Erhard 397 Heydrich, Reinhard �8� Heyman, Peter 350, 35� Hieronymus v. Prag (Jeron�m Pražsk�) 315, 6�0f., 839 Hieronymus, hl. 242 Hilarius v. St. Georg 379 Hildesheimer, Esriel 979, 982 Hipler, Franz 614 Hippolyt, hl. 20f. Hirsch, Samson Raphael 751f., 982 Hitler, Adolf 289, 309, 772 Hlond, August 130, 143, 519f. Hodermárszky, János 198 Hoffman, Jerzy 811 Hoffmann, Melchior 679 Hofmann, Franz 703 Hofmann, Michel 568 Hofmeister, Adolf 567 Hohenlohe, Georg Friedrich v. 915 Hojs’ka (Hojska), Hanna (Anna) 7� Holló, Barnabás 713, 715 Holl�, Ján 22, 28f., �81 Honorius III., Papst 583, 817 Honterus (Honter, Hontērus), Johannes 302f., 305f., 311, 320, 336, 686–691 Horánszky, Nándor 551 Hormayr, Joseph v. 867 Horthy, Miklós 298, 300, 856 Horwath, Walter 341 Hossu, Iuliu 17, 216, 218, 9�8f. Hrebíček, Štefan 205 Hrejsa, Ferdinand 315

1004

Hrel Dragovol 265 Hrušev’skyj, Myhailo 7�3 Hrvoje Vukčić Hrvatinić, Hzg. v. Split 2�5, �67 Hryniewicz, Wacław 7�5 Hunyadi, János (Johann [von]) 15, 69, 662, 812, 833–835 Hurban, Jozef Miloslav 162 Huszár, Gál 168 Huszka, Jószef 339 Hutsk�, Matthias 505 Hyazinth, hl. (Jacek Odrowąż) 809 Hylo, Adolf �15, �18 I İbrağa, Bey �86 Ignatius v. Loyola, hl. 151, 213 Ilarion, Metropolit v. Kiew 40 Iliaş, Alexandru, Woiw. d. Walachei, Fst. d. Moldau 18�, 655 Illésházy, István 711 Illyés, András 153 Innocentij 8 Innozenz IV., Papst 2�3, �31, 555, 811 Innozenz VIII., Papst 670 Innozenz XI., Papst 931f., 936 Ioakim, Patriarch 899 Ioann, hl. 378 Ioannes Anagnostes �57 Ioannes Staurakios 455 Iorga, Nicolae 106, 666 Iosif I., Metropolit d. Moldau 654 Iov v. Počajiv, hl. 76, 78 Ipolyi, Arnold 326 Irene, Märtyrerin 460 Isabella (Izabela Jagiellońka), Kgn. v. Ungarn 15, 875, 879 Isaias, Mönch 455 Isecescul, Georg 751 Isidoros, Metropolit v. Saloniki 455 Isingrim 545 Israel ben Elieser (Baal Schem Tow) 7�9, 752 Isserl, Israel 120 Isserles, Moses I. 120, 122f. Iustinian Marina, Patriarch v. Rumänien 106 Ivan III., Gfst. v. Moskau 281 Ivan IV. d. Schreckliche (Ivan Groznyj), Gfst. v. Moskau, Zar v. Rußland 576f., 807 Ivan v. Rila (Ivan Rilski), hl. 106f., 260–266, 499 Ivan Asen II., bulg. Zar 262

Personenregister Ivić, Aleksandar 910 Izjaslav Vladimirovič (Izjaslaŭ, Izjaslav Volodymyrovyč), Fst. v. Polack 575 Izjaslav-Dmitrij Jaroslavič (Izjaslav-Dmytro Jaroslavyč), Fst. v. Kiew �5� Izvorov, Nil �86 J Jablonczai Pethes, János 929 Jablonski, Daniel Ernst 696 Jacob, Therese v. 827 Jacobus de Voragine 546, 600 Jacyna, Taťjana 80 Jagić, Vatroslav �88 Jakob v. Mies (Jakoubek ze Stříbra) 313–315 Jakob, hl. 432, 611 Jan Elgot 620 Jan Hus 313, 315, 317, �05f., 506, 509, 637–6�7, 699, 70�, 839 Jan Isner 620 Jan Militsch v. Kremsier (Jan Milíč z Kroměříže) 313 Janáček, Leoš 2�9 Jankovich, Gerhard 203 Jankovits, Gyula 549 Janning (Janninck), Conrad 527 János v. Čazma → Janus Pannonius Jantausch, Pavol 206 Janukovyč, Viktor 80 Janus Pannonius (János [Ianus] v. Čazma) 69, 812 Jaroslav d. Weise (Jaroslav Mudryj), Gfst. v. Kiew ��, 281 Jastrzębiec, Wojciech 619 Jászi, Oszkár 198 Jeftić, Atanasije 768 Jelena (Helena die Schöne, Jelena Lijepa, Ilona), Kgn. v. Kroatien �69–�71 Jelenić, Julijan 630 Jełowicki, Aleksander 622 Jerlicz, Joachim 7�0 Jirásek, Alois 405f., 646, 920 Joachim Friedrich, Kfst. v. Brandenburg 127 Joakim v. Osogovo (Osogovski) �98 Joasaf 265 Joasaf II. 106 Jodkowski, Józef 283 Joel, Manuel 980 Johann d. Beständige, Kfst. v. Sachsen 351f. Johann v. Luxemburg, Kg. v. Böhmen 253

Johann v. Přibram (Jan z Příbrami) 31� Johann I. Albrecht (Jan I. Olbracht), Kg. v. Polen 117 Johann Friedrich I. d. Großmütige, Kfst. v. Sachsen 351f. Johann Georg II., Kfst. v. Sachsen 925 Johann II. Kasimir Wasa (Jan II. Kazimierz Waza), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 82, 139, 1�3, 272, ��5, 672f., 798, 800, 809 Johann III. Sobieski (Jan Sobieski), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 139, 176, 179, 273, ��5, 603, 657, 673, 719, 808, 931f., 936 Johannes, Märtyrer 524 Johannes II., Bf. 516 Johannes IV., Papst �66, �69 Johannes VIII., Papst 2�3, �7� Johannes XXII., Papst 805 Johannes XXIII., Papst �8�, 639 Johannes (XXIII.), Gegenpapst 812 Johannes d. Evangelist 315, 379 Johannes Nepomuk (Jan Nepomuck�, auch v. Nepomuk), hl. 256, �01, 720–723 Johannes d. Neue v. Suceava (Johannes Novi), hl. 6�9–658 Johannes de Plano Carpini 805 Johannes IV. v. Pomesanien, Bf. 610, 612 Johannes d. Täufer, bibl. 41, 44, 150, 155, 215, 378, �00f. Johannes aus Trapezunt 6�9f., 653, 657 Johannes Kapistran 670 Johannes Marienwerder (auch v.) 610, 612, 614 Johannes Paul II. (Wojtyła, Karol Józef), Papst 25, 63, 72, 115, 130, 132, 1��, 152, 155, 200, 207, 228–230, 267, 277, 290, 328, 382, �10, �15, �26, ��1, ��3, �63, �70, �8�f., �90, 520, 559, 605, 623, 669, 671, 72�, 7�5, 778, 781– 790, 902, 929 Johannes v. Dukla (Jan z Dukli) 669–676 Johannes v. Komorowo (Jan z Komorowa) 670– 672 Johannes v. Ravenna (Ivan Ravenjanin) 466 Johannes vom Kreuz, hl. 378, 380, 781 Jókai, Mór 169, 813, 869, 933 Joseph, Ehzg. v. Österreich, Palatin v. Ungarn 5�2, 868 Joseph, hl. 152 Joseph I., röm.-dt. Ks. 167, 386, 391, 95�, 957– 961 Joseph II., röm.-dt. Ks. 16, 59, 66, 72, 111, 152,

1005

Personenregister 161, 320, 339, 367, 390, �0�, 505, 6�2, 696f., 722, 8�7, 899, 919, 965–968, 972–97� Josip Bradati 263 Jospe, Alfred 983 Josua, bibl. 933 Jovan, Bf. �98 Judith, Gattin Salomons v. Ungarn u. Władysławs I. Herman 561 Juhász, Péter Melius 167 Jukić, Ivan Franjo 628–630 Junius, Franz d. Ä. 363, 373 Juranics, László 869 Juranics, Lőrinc 869 Juritsch, Georg 567 Jurkowski, Jan 809 Justin, Patriarch Rumäniens 183 Justinian I., röm. Ks. 454 Justinian II., röm. Ks. 454 Jutta v. Sangerhausen 614 K Kabeiros 451 Kačić Miošić, Fra Andrija 593 Kaczyński, Lech 277 Kadłubek, Vinzenz (Wincenty) 55�, 796f. Kahlert, Heinrich III. 403 Kalanta, Romas 227 Káldy, György 150 Kalikst 281 Kalinka, Joachim 925 Kalivoda, Robert 70� Kalixt III., Papst 817 Kaller, Maximilian 130 Kallistos I., Patriarch v. Konstantinopel 100 Kaľnofojs’kyj, Atanasij �3 Kanngießer, Peter Friedrich 565 Kantakuzin, Dimităr 261 Kantzow, Thomas 562 Kapronczai, György 5�8 Karadžić, Radovan 596 Karadžić, Vuk 189, 827 Karafiát, Jan 369 Karamzin, Nikolaj 5 Karl, Prz. v. Lothringen 932, 93�, 936 Karl I., der Große, röm.-dt. Ks. �60 Karl I., Ks. v. Österreich 771 Karl I. v. Anjou, Kg. v. Sizilien 35 Karl I. v. Hohenzollern-Sigmaringen → Carol I., Fst. u. Kg. v. Rumänien

1006

Karl II. v. Innerösterreich 55 Karl IV., Kg. v. Böhmen, röm.-dt. Ks. 54, 253– 255, 257, �78–�80, 503f., 509, 601 Karl VI., röm.-dt. Ks. 1�, 17, 57f., 212, �01, �0�, 720, 957 Karl IX., Kg. v. Frankreich 886 Karl XII., Kg. v. Schweden 391, 954–960, 962 Karl X. Gustav, Kg. v. Schweden 702 Karl Borromäus, hl. 401, 404 Karl Robert, Kg. v. Ungarn u. Kroatien 546f. Károlyi, Árpád 93� Károlyi, Ferenc Gf. 198 Károlyi (Károli), Gáspár 372–376 Kartašev, Anton 7�2 Käselow, Nikolaus 563 Kasimir III. d. Große, Kg. v. Polen 91, 117, 272, 27�f., 620, 805, 88� Kasimir IV. Jagiełło (Kazimierz IV. Jagiellończyk), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 272, 806 Kasimir v. Litauen (Kazimierz, Kazimieras), hl. 381, 559, 729, 809 Kašpar, Ludvík Bohumil 367 Kastrioti (Kastriota), Gjergj, gen. Skanderbeg (Skënderbeu), alb. Fst. 662, 817 Katharina, hl. 57, 611 Katharina II. (Ekaterina), d. Große, Zarin v. Rußland 7f. 892, 899 Katsch, Gerhard 356 Kazimirowski, Eugeniusz Marcin 411 Kelles-Krauz, Kazimierz 810 Kemény, Johann (János), Fst. v. Siebenbürgen 712 Kemény, Zsigmond 85� Kętrzyński, Wojciech 131 Khair ad-Din Barbarossa (Ḫair ad-Dīn, türk. Barbaros Hayreddin Paşa) 817 Kichler, Jerzy 986 Kießling, Johan Tobias 972 Kilar, Wojciech 289 Kinga v. Kleinpolen (Kunegunda), hl. 271, 556, 599, 621 Kirchner, Carl 565 Kisch, Guido 983f. Kisfaludy, Károly 85� Kisfaludy Strobl, Zsigmond 538 Kiss, András 713 Klaudyán, Mikuláš 361 Kleinewefers, Paul 519 Klejch, Václav 366

Personenregister Ključevskij, Vasilij 578 Klöber u. Hellscheborn, Karl Ludwig v. 958 Kłossowski, Tomasz ��0–��2 Klubert, Štefan 113 Kmeťko, Karol 23 Kmita, Piotr 27� Knežević, Antun 628, 630 Knežević, Milivoje v. 937 Knipstro, Johann 571 Knopken, Andreas 678f. Koca Sinan Paşa (Sinan Paša, Koxha Sinan Pasha), türk. Großwesir 593 Kocsi Csergő, Bálint 927 Kogălniceanu, Mihai 666 Kogler, Johann 366 Kohl, Helmut 179, 786 Köhler, Johann David 957 Kohut, Alexander 982 Kölcsey, Ferenc 373, 817 Kollár, Ján 22, 28, 162, 697, 701 Kollonich (Kollonitsch), Leopold Karl v. 196, 210f., 399f., 403 Kollonich (Kollonitsch), Sigismund v. 203 Koloman (Kálmán), Kg. v. Ungarn 33, 67f., 5�0 Komáromi Csipkés, György 168 Konarski, Jan 138 Konarski, Stanisław 286 Koniecpolski, Aleksander 807 Konopásek, Jaroslav 369 Konopnicka, Maria 288 Konrad, Bf. 562 Konrad v. Jungingen 611 Konstantin d. Große, röm. Ks., hl. �0, �2, 181, 183, �77, �96 Konstantin VIII., röm. Ks. 6 Konstantin v. Preslav �75 Konstantinidis, Griorije �78 Konzul Istranin, Stjepan 244 Koppány, ung. Stammesfürst 534, 539 Kopyns’kyj, Isaja 737f., 7�0 Kopystensky, Zacharij 737 Kordecki, August 139, 141 Korkut, Alem 434 Körner, Theodor 868 Kornis, Antal Gf. 401 Kornis de Gőncz-Ruszka, Sigismund 210, 212, 214 Kornitzer, Josef Nehemia 121 Körösfői-Kriesch, Aladár 878, 880

Kos, Ćiril 763 Kós, Károly 342 Kosača-Kotromanić, Katharina 627, 630 Kosáry, Domokos 860 Kościuszko, Tadeusz 131, 27�f. Koscjuško-Valjužinič, Nikolaj 8 Kosiv, Sylvestr 43 Kosmas, hl. 503 Kosmas (Cosmas) v. Prag 21 Kossaks, Juliusz 96 Kossuth, Lajos 167, 713, 813, 872, 933 Kostomarov, Mykola (Nikolaj) �85, 7�2f. Kostomlatsk�, Josef 367 Koštunica, Vojislav 596 Kotromanić, Stefan Thomas (Stjepan Tomaš), Kg. v. Bosnien 627 Kotromanović, Stefan (Stjepan), bosn. Ban 618, 627 Kovačević, Ljubomir 825 Kovačic, Kuzma �30, �35 Kovács, Andrea 546 Kőváry, László 339 Kowalska, Maria Faustyna (Schwester Faustyna) �10–�12, �1�, �16–�18 Koxha Sinan Pasha → Koca Sinan Paşa Krafft, Peter 868 Kraiński, Krzysztof 286 Krajewski, Wincenty 530 Kraljević Marko, mazed. Herrscher 827 Kranner, Joseph 257 Krasicki, Ignacy 129 Krasiński, Franciszek 886 Kraszewski, Józef Ignacy �7, 810 Kratovski, Ivan 264 Krause, Christian 392 Krestić, Vasilije 761 Kriegsmann, Jakob 196 Krišto, Jure 761 Kříž, Jan 638 Kříž, Václav 313f. Krman, Daniel 366 Krnarutić, Brno 866 Kromer, Marcin 286, 621, 798 Krone, Kerstin v. d. 985 Krstevič Rekalija, Dičo �96 Krummacher, Friedrich-Wilhelm 356 Krumper, Hans 397 Kruse, Karl 8 Krzywicki, Ludwik 224

1007

Personenregister Kubíček, Alois 315 Kubišová, Marta 70�, 706 Kuharić, Franjo �3�, 778 Kukuljević Sakcinski, Ivan �31 Kuliš, Pantelejmon �7, �85, 7�2f. Kümmel, Werner 568 Kuncevyč (Kuncewicz, Kuncevič), Josafat (Jozafat, Iasafat) 576–578, 726–73�, 898, 900 Kundmann, Johann Christian 958 Kunegunda v. Kleinpolen → Kinga v. Kleinpolen Kurczewski, Jan 530 Kurpiński, Karol 622 Küsel, Melchior 399 Kutassy, János 153 Kuz’mič, Mykola 579 Kvačala (Kvacsala), Ján 701f., 706 Kvasnica, Martin 163 Kyba, Vasyľ 80 Kyrill (Cyril, Konstantin d. Philosoph) v. Saloniki, hl. 5f., 22f., 25, 27–30, 60, 113, 2�2–2��, 2�6, 26�, 367, �5�, �73–�91, �9�, 509, 59�, 723, 7�3, 758 Kyrill, Patriarch v. Moskau �9, 79 L Ladislaus I. (László), Kg. v. Ungarn u. Kroatien, hl. 35, 5�, 68, 70f., 321f., 32�–326, 328, 535, 537f., 5�0, 5�5, 559, 639 Ladislaus Heinrich (Vladislav Jindřich), Mkgf. v. Mähren 53, 56f., �79 Ladislaus Postumus, Kg. v. Böhmen u. Ungarn 81� Lambert, Stadtpatron von Münster 401 Lancken, Hermann v. d. 355 Landau, Saul Raphael 121 Lando, Hieronymus 806 Landowski, Paul 711 Lang, Andreas 563 Langgraffen, Johann Franck (Frank) de 211 Langhanss, Gottfried 388 Lardner, Dionysius 623 Łaskarzyc v. Gosławice (z Gosławic), Andrzej 286 Łaski, Jan 138, 285f. Lašvanin, Nikola 628 Laurentin, René 234 Lavrentij (Laurentius), hl. �77 Lazar (Hrebeljanović), serb. Fürst, hl. 823–829, 831

1008

Lazik, Ambróz 207 Le Clerc, Sébastien 935 Leder, Hans-Günter 68� Lederer, Jörg 686 Leibniz, Gottfried Wilhelm 169, 696 Lelewel, Joachim 798 Lemberk (Lämberg), Zdislava v., hl. 72� Lengnich, Gottfried 517 Lengyel, Miklós 405 Leo X., Papst 2�2, 81� Leo, Johannes 527 Leonid I. Fédorov �83 Leontios 452 Leopold I., röm.-dt. Ks. 57f., 161, 176, 187, 196, 296, 386, 398f., �01–�03, 92�–927, 931–933, 936 Leopold II., röm.-dt. Ks. 967 Leopold III., hl. 400f. Leopold III., Hzg. v. Österreich 54 Leopold Wilhelm, Ehzg. v. Österreich 58 Lesnovski, Gavrilo → Gavrilo v. Lesnovo Lessing, Julius 355 Lessing, Theodor 122 Leszczyńska, Maria, Kgn. v. Frankreich 673 Leszczyński, Andrzej 889 Leszczyński, Rafał 889 Leszczyński, Stanisław, Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 128, 131, 272 Leu, Thomas de 378 Leuchter, Reiner 753 Leucza, Henry de 110 Levaković, Rafael 2�5 Levente, ung. Hzg. 545 Liberda, Jan 366 Liberiusz, Jacek 379 Lieder, Franz 131 Liefmann, Michael 925 Ligoš, Joszef 113 Lipman, Jom Tow 120 Lippai, György 151 Lippai, János 153 Lipski, Johannes 614 Litovoi, Woiw. d. Walachei 101 Ljotić, Dimitrije 595, 766–768 Locke, John 169 Loewe, Carl 565 Lónyay, Hzg. Elemér 72 Looshorn, Johann 567 Lopieńsky, Ignacy 835

Personenregister Lorentz, Stanisław 96 Lósy, Imre 153 Lothar III., röm.-dt. Ks. 561 Lotoc’kyj, Amvrosij, Archimandrit 77 Lovrenović, Ivan 63� Łozińska, Stanisława 133 Lubomirski, Theodor Fst. 402 Luciani, Augustino v. Santorin 8�0 Lučić (Lucio), Ivan (Giovanni) �67 Ludanitz, Wenzel v. 8�6 Ludmilla (Ludmila), hl. �80, 501f. Ludwig d. Deutsche, Kg. d. Ostfrankenreichs 27 Ludwig d. Große 335, 618 Ludwig I., Hzg. v. Liegnitz-Brieg 601 Ludwig I. v. Anjou, Kg. v. Ungarn, Kroatien u. Polen 52–5�, 56–58, 537, 82� Ludwig II., Kg. v. Böhmen u. Ungarn 55, 160, 321, 813, 836, 852, 855, 857f. Ludwig XIV., Kg. v. Frankreich 403, 932 Ludwig XV., Kg. v. Frankreich 673 Luise v. Mecklenburg-Strelitz 131 Lukajić, Lazar 633 Lukas, hl. 5�, 137, 266 Lukas v. Prag, Bf. 361 Lukašenka, Aljaksandr 292 Lukian 456 Lupos 452 Luther, Martin 111, 127, 306, 350f., 353f., 361f., 392, 518, 6�2, 678–683, 8��, 852, 960 Lutosławski, Wincenty 810 Łuzny, Ryszard 7�5 Lyaeus 451f. Lypyns’kyj, Vjačeslav 7�3f. M Mabillon, Jean 527 Macarie, Bf. 655 Maciej v. Miechów (z Miechowa) 621 Maciejewska, Wanda 623 Mačiulis, Dangiras 22�, 227 Mackensen, August v. 183 Madeyski, Antoni 27�, 622f. Magnussen, Harro 688 Mágocsy, András 373 Mágocsy, Gáspár 373 Maiorescu, Titu 105 Majstorović, Miroslav 631, 633 Makanec, Julije 760 Makarij, Metropolit v. Moskau 576, 578, 7�1

Makarios III., Patriarch v. Antiochien 102 Makoveckij, Sergej 50 Makuch, Janusz 123 Makulski, Eugeniusz 442, 445 Malach, Abraham 7�9 Maleš, Branimir 595 Maleszewski, Tytus 622 Malinowski, Izaak D. 728 Mališkaitė, Bernadeta �2� Mandić, Dominicus 630 Maniu, Iuliu 18 Mannheimer, Isaak Noach 751 Mannsdorf, Johannes 54 Manole, leg. 103 Mantskovit, Bálint 373 Manuel I. Komnenos, byz. Ks. 261f., 575 Marc Aurel, röm. Ks. 13 Margareta v. Ungarn (Margit), hl. 599 Margarethe, hl. 563 Marghita Hara 736 Maria v. Bayern, Ehzgn. v. Österreich 55 Maria v. Habsburg, Kgn. v. Ungarn 55, 160 Maria v. Sachsen, Hzgn. v. Pommern-Wolgast 351 Maria Christina, Ehzgn. v. Österreich 709 Maria Theresia, röm.-dt. Ksn. 57–59, 152, 160, 167, 20�, �01, �0�, 505, 537, 5�2, 5�9, 712, 722, 868, 906f. Marie v. Edinburgh, Kgn. v. Rumänien 18 Marie Casimire (Maria Kasimira), Kgn. v. Polen 603 Maróthi, György 168f. Martel, Antoine 7�5 Martić, Grgo 630, 63� Martin, Abt 466 Martin, hl. 66f., 70, 160 Martin I., Papst � Martin IV., Papst 29� Martin V., Papst 6�0, 652 Martinaitis, Algirdas �17 Martinitz (z Martinic), Bernhard Ignaz v. 59, 400 Marun, Lujo (Stjepan) �68 Marx, Karl 810 Masaryk, Tomáš Garrigue 257, 315, 508, 6��, 6�6, 701, 703f., 706 Maser, Peter 985 Maskus, Carl 567 Maslenicyna, Irina 581 Matejko, Jan 83, 287f., 517, 558, 622, 675, 798, 801, 835, 903

1009

Personenregister Matijašević Karaman, Antun �67 Matijević, Stjepan 629 Mátrai, Lajos György 37� Matthias (Matthias II.) röm.-dt. Ks., Kg. v. Ungarn, Kroatien u. Böhmen, 58, 710, 91� Matthias Corvinus (Hunyadi Mátyás), Kg. v. Ungarn u. Böhmen 69, 159f., 295, 326, 335, 662f., 812, 818, 835, 839, 8�2 Maurikios, byz. Ks. 454 Maurus (Mór) 67 Maximianus, röm. Ks. 451f. Maximilian I., Hzg. v. Bayern 397, 91�f. Maximilian II., röm.-dt. Ks. 8��, 865f. Maximilian Emmanuel, Kfst. v. Bayern 932 Mazepa, Ivan 37f., �1, ��–�6, 78 Măzereanu, Vartolomei 661, 665 Mazowiecki, Tadeusz 179 Męcina-Krzesz, Józef 622 Mečislovas, Reinys �1� Medan, Danilo 595 Medňyánszky, Alois 28 Medve, Imre 869 Megiser, Hieronymus 817 Mehmed II., Sultan 263, 627, 663 Meinhold, Wilhelm 566 Melanchthon, Philipp 351, 35�, 361, 372, 678– 682 Melantrich v. Avent�n, Jiří 361–363, 365f. Melnyk, Marek 7�5 Melocco, Miklós 538 Mencl, Václav 299 Menegatti, Franz 402 Mérey, József 869 Meschendörfer, Adolf 308 Mesmer, Thomas �78 Meštrović, Ivan �36, 828, 830 Method (Methodios) v. Saloniki, hl. 5, 20–22, 25, 27–30, 60, 2�3f., 367, �5�, �73–�91, �9�, 509, 59�, 723, 7�3, 758, 795 Metochites, Theodoros 456 Metternich, Klemens Fst. �81, 751 Meyer, Krzysztof 289 Meyer, Thomas 985 Mezger, Joseph 528 Michael d. Tapfere (Mihai Viteazul), Woiw. d. Walachei, Siebenbürgens u. d. Moldau 16–18, 99, 106, 515, 662, 666, 939, 9��, 9�6, 9�8, 952 Michael III., byz. Ks. �7� Michaelis, Johann Wilhelm 56�, 570

1010

Michalescu, Jon 7�1 Michelet, Jules 810 Mickiewicz, Adam 96, 1�1, 27�f., 287, 380, 622 Micraelius, Johannes 564 Micu Klein, Inocenţiu (Ioan) 9�3–9�6 Mieszko I., Hzg. v. Polen 517, 795–801 Mihai, Kg. v. Rumänien 219 Mihailo, Metropolit v. Belgrad �85, 59�, 596 Mihalik, Sándor 328 Mihura, Ivan 45 Miklas, Wilhelm 61 Mikołaj aus Wilkowiecko (Mikołaj z Wilkowiecka) 555 Mikołaj Lasocki 619 Mikszáth, Kálmán 869 Mikulić, Branko 233 Milch, Dezsö 163 Miletić, Svetozar Milica (Hrebeljanović), Jefrosina, hl. 82� Milivojević, Djonisije 767 Miloš Obilić, mythol. 825–827 Miloš Obrenović, Fst. v. Serbien 831 Milošević, Slobodan 596, 771, 776 Miłosz, Cesław 519 Milutinović, Kosta 761 Mindszenty, József 52, 63f. Miron, Patriarch Rumäniens 183 Mišić, Alojzije 632 Mišić, Živojin 828 Mislenta, Coelestin 517 Mithridates VI., Kg. v. Pontos � Mniszek, Józef 67� Mniszkowa, Maria Amalia 67� Möckel, Konrad 307 Mocker, Joseph 257 Moczar, Mieczysław 799 Mód, Aladár 715, 937 Mohyla (Movilă, Mogila, Mogilas), Petro (Petru, Piotr, Petrus), hl. 37f., �3f., �6, 657, 738–7�5 Molga, Jan 441 Moll, Balthasar 57 Mönch, Johannes 610 Moniuszko, Stanisław 380 Monoszlóy, András 150 Montalembert, Charles René Forbes 623 Montefiore, Judith 983 Monteleone, Alessandro �08 Moraczewski, Jędrzej 810 Morais, Sabato 982

Personenregister Morokova, Oľga 581 Moruzi, Alexandru 107 Mościcki, Ignacy 78 Moses, bibl. 120, 593, 712f., 752, 758 Mothander, Carl 225 Movilă, Gheorghe 656 Movilă, Ieremia 736 Movilă, Simon (Simion), Woiw. d. Walachei u. d. Moldau 736 Moyker, Heinrich II., Abt 54, 56 Mráz, Jan X. (XI.) �79 Mrnavić, Ivan Tomko 2�5, 593 Mucha, Alfons 257 Muczkowski, Józef 288 Mueller, Julius 355 Müller, Friedrich 340 Mundt, Theodor 121 Murad I. (Murat), Sultan 823, 825 Murad II. (Murat), Sultan 263, �57, 833 Murmellius, Johannes 678 Mušicki, Lukijan 827 Mustafa Paşa, Lala Kara 817 Mustatza, Nikolaus Frhr. v. 750 Muszyński, Henryk 520 Myslenta, Cölestin 128 Mystopol, Jan 314 N Nachman ben Simcha v. Bracław 752 Nádasdy, Franz (Ferenc) 57 Nádasdy, Thomas (Tamás) 813, 865 Nadeždin, Nikolaj 8 Naghiu, Iosif E. 216 Nagy, Imre 64 Nahman, Rojse 8� Najdanović, Dimitrije 766 Naprágyi, Demeter 321f. Naruszewicz, Adam 530, 798 Natalibus, Petrus de 526 Naum v. Ohrid (Ohridski, Ochridski), hl. �77f., 494, 499 Nécseyhi, Eduard 207 Nečuj-Levyc’kyj, Ivan �7 Neculce, Ion 661, 665 Nedeczki, Ladislaus 213 Negru-Vodă (Radu-Negru), leg. Gründer d. Fstm. Walachei 104 Nejedl�, Zdeněk 316f., 6�6, 70� Nel, Johann 866

Nemeskürty, István 860 Neophit, Metropolit d. Ungrowalachei 103, 107 Nephon (Nifon), Athosmönch 99, 103 Nephon, hl. 103f. Nephon II., Patriarch v. Konstantinopel 102 Neruda, Jan 699 Nestor, hl. 451f., 456 Netoliczka, Oskar 342, 345 Neumann, Caspar 961 Neustädter, Erwin 308f. Newton, Isaac 169 Nicodim, Patriarch Rumäniens 183 Nicolae Alexandru, Woiw. d. Walachei 100, 104 Nicolaus v. Jeroschin 516 Ničyk, Valerija I. 7�� Niemcewicz, Julian Ursyn 287, 621 Nießen, Paul v. 567 Nietzsche, Friedrich 767 Nikephoros I., byz. Ks. 459, 461 Nikephoros Gregoras 455 Niketas v. Saloniki 454 Niketas Choniates 455 Nikodemus v. Tismana 99 Nikolaus (Sân Nicoară), hl. 100f., 336, 578, 655f., 731 Nikolaus v. Dresden (Mikuláš z Drážďan) 315 Nikolaus I., Papst �7� Nikolaus I. (Nikolaj), Zar v. Rußland �6, 75, 1�1 Nikolaus II. (Nikolaj), Zar v. Rußland 1�3, 578 Nikolaus V., Papst 812, 817 Nikolić, Tomislav 633 Nordberg, Jöran Andersson 956 Norwid, Cyprian Kamil 287 Nossol, Alfons 179 Notger 513 Nouÿ, André Lecomte de 10�f. Nouÿ, Jean Lecomte de 105 Novak, Fst. 245 Novak, Mijat 431 Novak, Viktor 631, 63�, 759, 761 Nowowiejski, Feliks 129 O Oargă, Ion, gen. Cloşca 17f. Oblak, Marijan 462 Obradović, Dositej 189, 588, 827 Obremski, Jarosław 986 Obrenović, Mihailo 588 Obrenović, Miloš 831

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Personenregister Odrowąż, Iwo 555 Oettinger, Jozef 122 Ohijenko, Ilarion 78 Okęcka-Bromkowa, Maryna 133 Oksiutowicz, Kazimierz 442 Oláh, Miklós 149f., 153 Olav II. Haraldsson, Kg. v. Norwegen, hl. 503 Olbert, Franz 521 Oleśnicki, Zbigniew 619 Oľga, Fstn. d. Rus’ �0, �2 Oľga, hl. �� Oloff, Efraim 286 Omarčevski, Stojan �88 Ondrák, Lev �07 Oppersdorff, Franz Eusebius v. 400 Oprescu, George 343 Orbán, Balázs 339 Orbini, Mauro (Mavro) 825f. Orgelbrand, Samuel 530, 7�5 Orłowski, Ignacy 67� Orsenigo, Cesare 129 Orsi, Domenico 256 Ortutay, Gyula 858f. Ossoliński, Jerzy 139, 808 Ostendorfer, Michael 397 Ostroróg, Jan 806 Ostroz’kyj (Ostrogski), Konstjantyn Vasyľ (Konstanty Wasyl), Fst. 889, 898 Osvát v. Laskó 5�7 Otto II. 503 Otto III., röm.-dt. Ks. 33, 513f., 517, 521, 52�, 534 Otto v. Bamberg 51�, 561–571 Ottokar I. Přemysl (Otakar, Otokar) 53, �79 Ovens, Juriaen 695 Oxenstierna, Axel 642 P Pac, Krzysztof Zygmunt 528 Pachaly, Friedrich Wilhelm 958 Pajsije, Patriarch 587 Palack�, František 315, 6�3, 697f., 701, 8�9, 919 Palárik, Ján 22 Pallas, Peter Simon 7 Palloni, Michelangelo 528 Palma, Károly Ferenc 712 Pančuk, Iakov 76 Panufnik, Andrzej 289 Papp, István 196

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Paprocki, Bartłomiej 808 Paraskeva (Petka), hl. 106f., 652, 656, 658 Paraskeva (Prakseda) 575 Parčić, Antun 2�5 Pardubitz (z Pardubic), Ernst (Arnošt) v. 253, 400 Parler, Peter 253, 257 Părvanov, Georgi �91 Paschalis II., Papst 68 Paschasius, Daniel 176 Pašić, Nikola 828 Pašić, Teofil 906 Pasteiner, Julius (Gyula) 339 Pastorius, Joachim 517 Pataki, Ioan Giurgiu 9�2f. Paul v. Aleppo 102f., 107, 657 Paul v. Leutschau 110 Paul II., Papst 817, 839 Paul V., Papst 397, �96, 563, 655 Paul VI., Papst 155, 207, �39, �70, 615 Paulus, hl. 216 Pavelić, Ante 631, 77� Paweł v. Zator (Paweł z Zatora) 620 Paweł Włodkowic 619 Pázmány, Péter 56, 1�9–152, 15�f., 211, 213, 217, 5�2 Pechmann, Martin Günther 933 Pécsi, Lukács 152 Pejin, Attila 937 Pekař, Josef 6�� Pelbárt v. Temeswar (Pelbartus de Timişoara) 5�7 Pelcl (Pelzel), Franz Martin (František) 6�2, 695, 919 Pelczar, Józef Sebastian 623 Pendel, Johann Georg 398 Penderecki, Krzysztof 520 Pens, Bartholomäus 129 Pernstein (z Pernštejna), Wilhelm (Vilém) v. 8�2 Perugino, Pietro 528 Pervan, Tomislav 235 Petar Koriški, hl. 586 Petar Krešimir IV., Kg. v. Serbien �62 Peter (Petăr), bulg. Zar 262 Peter I., d. Große, Zar v. Rußland �2, 730, 737, 7�0, 7�2, 820, 956 Peter der Lahme, Woiw. 656 Peter Aron, Woiw. u. Fst. d. Moldau 662 Peter I. Karađorđević, Kg. d. Serben, Kroaten u. Slowenen 589, 828

Personenregister Peter I. Petrović Njegoš, Fst. 827 Peter II. Karađorđević, Kg. v. Jugoslawien 772 Peter v. Mladoniowitz 6�0 Petersen, Johann Wilhelm 961 Pethe, Martin (Martón) 322, 929 Petka → Paraskeva Petneházy, Dávid 933, 936 Petőfi, Sándor 813 Petrović, Đorđe (Karađorđe) 588, 828 Petrović, Milan 63� Petru Cercel, Woiw. d. Walachei 18� Petru IV. Rareş, Fst. v. Moldau 320, 655f., 818 Petrus, hl. 216, �6�, �66, �69f., 5�0, 655, 799, 929 Petrus Damiani, hl. 525–527 Philip v. Senj 2�3 Philipp, Bf. �31f. Philipp, hl. �32, 611 Philipp I., Hzg. v. Pommern-Wolgast 350f. Philipp IV., d. Schöne, Kg. v. Frankreich 92 Philipp Julius, Hzg. v. Pommern-Wolgast 352, 357 Philipp v. Türje �30f. Philophtheia (Philophthea, Filofteia, Filoteia), hl. 99, 103, 106–108, 652, 658 Phleps, Hermann 3�1–3�3 Piccolomini, Enea Silvio → Pius II., Papst Piekarski, Adrian 808 Piffl, Friedrich Gustav 61 Pilar, Ivo 759–761 Piłsudski, Józef 275, 277, 381 Piotr Wysz 620 Piotrkowski, Antoni 622 Pithart, Petr 509 Pius II. (Enea Silvio Piccolomini), Papst 806, 812, 817, 839 Pius VI., Papst 907 Pius VII., Papst 296, 900 Pius IX., Papst �05, �82, 723, 731 Pius X., Papst 61, 1�3, �13 Pius XI., Papst 202, 206, 216, 381, 60�, 72�, 771 Pius XII., Papst 62, 200, 60� Plachetska, Anna 717 Plečnik, Jože �07 Pock, Johann Jacob 398 Pol, Wincenty �7 Polak, Jakub ben Josef 120 Polák, Michal 839 Poljak, Pavol 162

Poniatowski, Joseph Antoni Fst. 27�f. Poniatowski, Stanisław II. August (Stanislaus), Kg. v. Polen 1�0, 21�, 272, 558, 67�, 798 Poot, Abraham van 927f. Popel v. Lobkowitz (Popel z Lobkovic), Ladislaus (Ladislav) 718 Popescu-Tăriceanu, Călin 219 Popiel, Tadeusz 675 Popiełuszko, Jerzy ��3 Popławski, Mikołaj 673 Popović, Jovan Sterija 827 Popović, Justin 595 Popović, Pavle �88 Popstoilov → Stoilov, Anton P. Potemkin, Grigorij A. 7 Potocki, Mikołaj Gf. 75f., 728 Pozzo, Andrea 212 Prakseda → Paraskeva Predslava (Pradslava) 57� Přemysl Ottokar (Otakar) II., Kg. v. Böhmen �13, 431, 506, 600 Preradović, Petar 815 Přibík Pulkava v. Radenín �79 Pribina, Fst. 20, 2�f., �8� Prittwitz, Bernhard v. 808 Próchnicki, Jan Andrzej 670 Prohor v. Pčinja (Pčinjski), hl. �98 Prokop v. Neuhaus 8�2 Prokopius, hl. �08, 655 Prokopovyč, Feofan �� Prostitz, Isaak ben Aharon 120 Pruszcz, Piotr Hiacynt 621, 809, 819 Przemysł II., Hzg. v. Großpolen 600 Przydacz, Jan ��1 Puşcariu, Sextil 215 Puškin, Aleksandr 8, 820 Puzyna, Jan 622 Q Quillus, Helene 623 Quiquerez, Ferdinand 815 R Rabe, Martin Friedrich 93 Rabenstein (z Rabštejna), Johann (Jan) v. 8�2 Rački, Franjo �68, 759, 829 Radić, Stjepan 758 Radlinsk�, Andrej 22 Radu I., Woiw. d. Walachei 104

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Personenregister Radu II., Woiw. d. Walachei 53 Radziejowski, Stefan 128 Radziwiłł, Barbara 381 Radziwiłł, Karol Stanisław 21� Rahneda, Fürstentochter v. Polack (Rogneda) 577 Rajić, Jovan 588 Rakić, Milan 828 Rákóczi, Franz (Ferenc) I., Fst. v. Siebenbürgen 299 Rákóczi, Franz (Ferenc) II., Fürst v. Siebenbürgen 6�, 29�, 296, 298–300, 338, 712f., 872, 879, 933, 942 Rákóczi, Sigismund I., Fst. v. Siebenbürgen 373 Ramocsaházy, Endre 933 Rastislav, Mgf. v. Mähren 27, �7� Rastko Nemanjić → Sav(v)a Rastrelli, Francesco 46 Ratzinger, Joseph → Benedikt XVI., Papst Rauchmiller, Matthias 402 Reichel, Alfred 702 Rembrandt 695 Rennen, Peter v. d. 271 Retzlaff, Hans 342f. Révész, Imre 169 Ried, Benedikt 254 Riegel, Alois 316 Rimay, János 711 Ritter (Ritter Vitezović), Paul (Pavao) �78 Ritterman-Abir, Henryk 123 Rittig, Svetozar 631, 760 Rjurik, leg. Gründer d. Rus’ 576 Rochus v. Montpellier, hl. 401, 404 Romuald, hl. 52�f., 527, 5�� Róna, József 936 Roos, Martin 551 Rosalia, hl. 401, 404 Roşca, Grigore 655 Rosenberg, Nicolaus 813 Rosenberg (z Rožmberka), Wilhelm (Vilém) v. 56 Rosenhane, Johan 353 Roskoványi, Augustin 22 Rostafińska-Romiszowska, Anna 623 Roszkowski, Antoni 530 Roth, Stephan Ludwig 688 Roth, Victor 326, 340 Rotrekl, Zdenĕk �08 Royko, Caspar 642 Różanowski, Krzysztof 985

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Rucki (Ruts’kyj, Rutski), Jazėp Veľjamin (Josyf, Józef) 726–728, 898 Rudnicki, Simon 127 Rudolf II., röm.-dt. Ks. 106, 152, 314, 363, 694, 709–711, 8�5, 8�7, 91� Rudolf Johann, Ebf. v. Olmütz 722f. Russek, Joachim 124 Rutz, Herbert 391 Ruvarac, Ilarion 825 Ruyter, Michiel Adrianszoon de 926, 929 Růžička, Josef 367 Ruzzola, Domingo → Dominicus a Jesu Maria Ryman, Johannes 612 Rympel, Manuel 123 Rzewuski, Seweryn Michał 675 S Sabljak, Mijat 431 Sacher-Masoch, Leopold v. 75� Sadorski, Stefan 127f. Sadoveanu, Mihail 666 Şaguna, Andrei 190 Salagius, Stephanus 27f., �80 Salamon, Ferenc 869 Salazar, António de Oliveira 62 Salb, Marcin 726 Salomea, Kg. v. Halyč, hl. 599 Salomo (Salomon), bibl. Kg. v. Israel 42, 44, 957f. Salomon, Kg. v. Ungarn 35, 540, 561 Šaloun, Ladislav 643 Saltykov, Pëtr 183 Samarin, Jurij 7�2 Samo, Herrscher eines slaw. Reichs 28 Samojlovyč, Ivan 899 Samuel, bibl. Prophet 373 Sander, Thomas 305 Šanjek, Franjo 81� Sankfalvai, Antonius 159 Šantić, Aleksa 828 Sapieha, Adam Stefan 623, 782 Šarić, Ivan 758 Sarkander, Gregor 717 Sarkander, Jan, hl. 717–725 Sarkander, Nikolaus 717 Sauer, František 920 Sava, hl. (Rastko) �77f., �87f., �9�, �97, 583, 586–588, 592–597, 82�, 829, 93� Ščakacichin, Mikola 283

Personenregister Schachne, Schalom 120 Schechter, Solomon 98� Schedel, Hartmann 641 Scheler, Max 782 Schellenberg, Johann v. 8�0, 8�2 Schembek, Friedrich 614 Schenkendorf, Max v. 93 Scherzer, Leopold Eugen Frhr. v. 906 Schesaeus, Christan 866 Schinkel, Karl Friedrich 93, 565 Schlözer, August Ludwig v. �81 Schmelke, Samuel 121 Schmid, Bernhard 93f. Schneider, Daniel 956 Schneider, Josef 568 Scholz, Laurentius 324 Schömann, Georg Friedrich 354 Schönberg, Georg Peltell v. 159 Schönleben, Johann Ludwig 403 Schott, Andreas 517, 527 Schott, Walter 566 Schöttgen, Christian 564 Schrattenbach, Wolfgang v. 720 Schreiber, Akiba 163 Schreiber, Mosche (Moses Sofer, Chatam Sofer) 158, 163 Schroeder, Horst-Diether 357 Schürer, Oskar 255, 257 Schüssel, Wolfgang 64 Schwarz, Adolf 982 Schwarz, Andreas Eustachius 719 Schwarz, Ignaz Christian 566 Schwarzenberg, Karl v. 643 Sciassia, Domenico 57 Scintilla, Johannes 718 Scitovszky, Johann (János) 22, 60, 205 Ščyrs’kyj, Innokentij ��f. Sebastian, hl. 401, 404 Sedlák, Jan Evangelista 643 Sedlar, Jakov 235 Sędziwoj aus Czechło (Sędziwoj z Czechła) 796 Seifert, Jaroslav �08 Selim II., Sultan 872 Semian, Michal 366 Šeper, Franjo 778 Šeptyc’kyj (Szeptycki), Andrej (Andrzej) �8, �8�, 733, 7�3, 900f. Sergios, hl. 451 Šešelj, Vojislav 633

Ševčenko, Taras �7, 78, �85 Sheen, Martin 235 Sienkiewicz, Henryk 83, 96, 1�2, 287–290, 622, 810 Sigismund, hl. 254 Sigismund, Hzg. v. Ungarn und Kroatien 82� Sigismund v. Luxemburg, röm.-dt. Ks. 107, 110, 158f., 166, 325, 652, 812, 833, 838 Sigismund I. d. Alte (Zygmunt I Stary), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 119, 138, 272, 639f., 808, 818, 8�1, 88� Sigismund II. August (Zygmunt II August), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 272, 381, 88�f. Sigismund III. Wasa (Zygmunt III Wasa), Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 127, 129, 138f., 272, 558, 738, 887f., 890, 897, 903 Signo, Domenico 176 Sikatka, Mikołaj ��0f., ��3 Sikorski, Władysław 275 Silvester (Sylvester) II., Papst 513, 521, 52�, 535 Šimko, Ján Vojtech 22 Simmler, Józef 622 Simone, Giulio (Iulius Simon Siculus) 5�7 Simor, Johannes (János) 325f. Šimrak, Janka 910 Sinan Paša → Koca Sinan Paşa Sinold v. Schütz, Philipp Balthasar (Irenicus Ehrenkron) 956f., 959 Sinzendorf, Ludwig Gf. v. 398 Šišić, Ferdo 759 Sixtus IV., Papst 662, 818 Skanderbeg → Kastrioti Skarbek, Jan 67� Skarga, Piotr 287, 290, 888, 897, 903 Skoropads’kyj, Pavlo 39 Škreta, Karel 399 Skylitzes, Georgios 261f. Sladkevičius, Vincentas �21f. Sladkovsk�, Karel 699 Slavici, Ion 666 Slavnik, Vater des hl. Adalbert 512 Slijepčević, Đoko 766 Slipyj, Josif �8, 7�3, 901f. Slomšek, Anton M. �85 Słowacki, Juliusz 1�1, 275, 287, 380 Smuglewicz, Franciszek 798 Soběslav, Hzg. v. Böhmen 513 Sofer, Ševet 163 Sofer, Simon 121

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Personenregister Sofronie aus Cioarea (Sofronie de la Cioara) 214 Solovëv, Vladimir �67 Sołtyks, Kajetan 27� Sophie v. Bayern 159, 27� Sopoćko, Michał �11f., �1�–�16 Spangenberg, Cyriacus 527 Spazzo, Antonio 151 Spazzo, Pietro 151 Spener, Jakob Philipp 162 Spengler, Oswald 7�2, 767 Spieß, Karl-Heinz 357 Spiletak, Andrija 760 Spiske, Robert 604 Spytihněv II., Hzg. v. Böhmen 252 Šrámek, Jan �07 Stablewski, Florian 518 Stachnik, Richard 615 Stadler, Josip 758, 761 Stalin, Iosif 75, 225, �20f., 775, 901, 9�9 Stańczyk, Kazimierz 811 Stanislaus v. Szczepanów, hl. 271–275, 277, 515f., 55�–559, 57�, 729, 796 Stanisław v. Skarbimierz (Stanisław ze Skarbimierza) 620 Starčević, Ante 758–760, 868 Starčević, Mile 758, 760f. Štebih, Michael 870 Stefan (Nemanjić d. Erstgekrönte), serb. Kg., hl. �77, 583, 585, 587f., 592, 59�, 82�, 827 Stefan d. Große (Ştefan cel Mare), Woiw. d. Moldau 65�f., 661–667, 818 Stefan Dragutin, hl. 58�f. Stefan Lazarević 82� Stefan Nemanja, hl. (Simeon) 592, 831 Stefan Radoslav 583, 585, 586 Stefan Uroš I. 583, 585 Stefan Uroš II. Milutin, hl., serb. Kg. �96, 58� Stefan Uroš III. Dečanski, hl., serb. Kg. 265, 58�, 586–589 Stefan Uroš IV. Dušan, serb. Zar, Ks. Serbiens u. (Ost)Roms 265, 58�, 586, 589, 831 Stefan Uroš V. d. Schwache, serb. Zar, hl. 58� Stefan Vladislav Nemanjić, serb. Kg., hl. 583 Štefan, Ondřej 362 Ştefănescu Delavrancea, Barbu 668 Stefánia Lónyay 72 Steinbrecht, Conrad 93 Steinheim, Salomon Ludwig 985 Stephan, Märtyrer 3�, 538

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Stephan I. (István), Kg. v. Ungarn, hl. 14, 21, 33– 35, 63, 67f., 70, 297, 300, �00, �0�, 503, 516, 53�–5�2, 5��f., 5�7, 551, 556 Stephan II. (István), Kg. v. Ungarn u. Kroatien 431 Stepinac, Alojzije �69, 631, 633, 761, 763, 771– 779 Steponavičius, Julijonas �21 Stoica, Dumitrescu 15 Stoilov, Anton P. (Popstoilov) �87 Stojan, Anton Cyril �82f. Stoljarov, Aleksandre 7�� Stoss, Veit 516 Stralenheim, Henning Frhr. v. 95�–958, 961 Stránsk�, Pavel 8�7 Strepa, Jakub, hl. 67� Strossmayer, Josip Juraj �85f., 757–763, 766 Strudel, Paul �02f. Strzelecka, Anna 623 Štúr, Ľudovít 27–29, 162, �81, 701 Sturm, Johann 168 Šubić Zrinski, Nikola → Zrínyi, Nikolaus Šubić Suchard, Stanislav 920 Suki, Benedek 320, 322, 328 Süleyman I., Sultan 852, 857f., 860, 865f., 869, 872 Süleyman II., Sultan 656 Šuliauskaitė, Gerarda Elena �2� Sulyok, Krisztina 709 Suša (Susza, Suša), Jakub (Jakiv) 727f. Sušil, František �81 Svantovit (Svantevit, Świętowit) 252, 829 Svarinskas, Alfonsas 424 Svatopluk, Fst. v. Großmähren 28 Symeon, Metropolit v. Saloniki 455 Symeon Metaphrastes 451 Syrokomla, Władysław 380 Szabó, András 867 Szabó, György 936 Szabó, István 5�8 Szabó, Lőrinc 929 Szabó, Magda 929 Szajnocha, Karol 288, 622 Szálasi, Ferenc 536 Szamosközi, István 711 Szántó, István (Arator) 211 Szczygielski, Stanisław 528 Széchy, Dénes 325 Szekfű, Gyula 81� Szelepcsényi, György 52, 57, 63, 151, 161, 925

Personenregister Széll, Kálmán 936 Szenci Molnár, Albert 711 Szentiványi, Márton 153 Szold, Benjamin 983 Szörényi, Levente 539 Szujski, Józef 622 Szüts, János 713 Szydłowiecki, Krzysztof 138 Szyszko-Bohusz, Adolf 275 Szyszkowski, Marcin 558 T Tagino, Ebf. 525 Takáts, Sándor 933 Tamkevičius, Sigitas �21–�2�, �26 Tanner, Jan 58 Tausch, Christoph 212f. Tazbir, Janusz 893 Tchakhotine, Pierre �63 Teige, Joseph 315 Tekelija, Sava 594 Telegdi, Miklós 150, 152 Telegdy, János 21 Telekessy, István 198 Teleki, Pál 856 Tencalla, Giovanni Pietro �80 Teoctist, Patriarch v. Rumänien 106, 182 Teofan 265 Teofan I., Metropolit d. Moldau 655 Teofil, Metropolit 210, 9�0 Tetmajer, Włodzimierz 27�, 675 Theilesius, Georg 323 Theilesius, Katharina 323 Theobald, Zacharias 315 Theodoros, hl. 451 Theolipt, Patriarch v. Konstantinopel 100, 103 Theophylaktos, Ebf. �76, �9�, �96 Theresa v. Ávila, hl. 378, 380 Thiel, Andreas 529, 615 Thietmar, Bf. 512 Thietmar v. Merseburg 525, 527, 795 Thocomerius (Tihomir), Vater v. Basarab 101 Thököly, Emmerich (Imre), Fürst v. Siebenbürgen 161, 931 Thomas, Erzdiakon 466f. Thomas v. Aquin 782 Thomas v. Canterbury (Thomas Becket), Ebf. 272, 275, 5�7 Thon, Ossias Jehoschua 122

Thümmel, Hans-Georg 357 Thurn, Heinrich Mattias Gf. 915 Thurn, Johann Ambros Gf. 56 Thuróczy, János (Johannes de Thurocz) 69, 541 Tichomirov, Pavel v. 769 Tiktin, Gedalje 981 Tilly, Jan Tserclaes 914 Tiso, Jozef 206 Tito (Josip Broz) 233, 590, 595, 631, 760, 771f., 77�–779 Tjahnybok, Oleh 49 Todorović, Aleksa 766 Toeppen, Max 128 Tolnai, Máté 71 Tomášek, František �8�, 520 Tomljanovich, William Brooks 763 Torosowicz, Mikołaj 672 Tótsolymosi, János Apród 69 Tovačovsk� v. Cimburg, Ctibor 8�2 Trajan, röm. Ks. 465f., 469 Treiber, Gustav 341 Treitschke, Heinrich v. 9�, 818 Tremellius, Immanuel 363, 373 Trifunović, Lavrentije 768 Trincker, Ernst 530 Tröster, Johann 338 Troyer, Ferdinand Julius v. 722 Trubar, Primož 2�� Tuđman, Franjo 235, �30, �33, �35, 816 Turski, Jan Kanty 622 Tvrtko I. Kotromanić, Kg. v. Bosnien 593, 823 Tyzenhauz, Antoni 280 U Ugróczi, Ferenc 937 Ujejski, Kornel 287 Ujfalusi, Stefan 214 Ulloa, Alfonso 866 Ulrich v. Richental 562 Ungnad, Hans 244 Uphagen, Johann 517 Urban II., Papst 68, 102 Urban VI., Papst 805 Urban VIII., Papst 61� Urban, Jan 811 Ureche, Grigore 6�9, 652, 65�, 657, 661f., 66�– 666 Uros, Abt v. Pannonhalma 68 Ursu Nicola, Vasile, gen. Horea 17

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Personenregister V Vach (Bakchos), Märtyrer 104 Vaculík, Ludvík �08 Vahylevč, Ivan 7�3 Valančius, Motiejus �26f. Valette, Jean de la 817 Válka, Josef 706 Vanni, Andrea 54 Várday, Pál 321 Varga, Imre 551 Varlaam, Metropolit d. Moldau 6�9, 657 Varnava, serb. Patriarch 595 Vasnecov, Viktor 9 Vaszary, Kolos Ferenc 297 Vătăşianu, Virgil 3�3 Vávra, Otakar 6�6, 70� Veit (Vid, Vitus), hl. 251f., 254, 399, 404, 502f., 825, 828 Veleslavin (z Veleslavína), Daniel Adam v. 698 Velimirović, Nikolaj, hl. 192, 765–770 Venantius, hl. 465f., 469 Venelin, Jurij 7�2 Verancsics, Antal 153 Vermigli, Peter Martyr 373 Verovius, Franciscus 527 Viktorin, Jozef 22 Viller, Marcel 7�1 Vinzenz v. Kielce (Wincenty z Kielczy) 272, 27�, 555 Višeslav, kroat. Fst. �35 Vitéz, János 69, 812 Vlad Dracul, Woiw. d. Moldau 100 Vlad Ţepeş Drăculea, Woiw. d. Walachei 818 Vladimir I. (Volodymyr), Gfst. v. Kiew, hl. 3, 6–9, 11, 38–��, �6, �9, 281, 525, 577, 59� Vladislav I. (Vlaicu-Vodă), Woiw. d. Moldau 100, 105 Vladislav Grammatik 261, 263f. Vogler, Henryk 123 Voigt, Heinrich Gisbert 530 Voigt, Nicolaus Adauct 695 Vojtaššák, Ján 112f., 206 Völschow, Joachim 564 Vos, Marten de 378 Vratislav I., Hzg. v. Böhmen 501 Vratislav II., Kg. v. Böhmen �78f. Vseslav Brjačislavič (Usjaslaŭ Bračislav), Fst. v. Polack 57�, 577 Vsevolod Davidovič (Usevalad Haradzenski), Fst. v. Hrodna 281

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Vsevolod Jaroslavič (Vsevolod Jaroslavyč), Fst. v. Kiew 455 Vukan (Nemanjić), Kg. v. Zeta, Fst. v. Raszien 585, 592 Vukmanović, Luka 595 Vuković, Vlatko 823 Vukšić-Kosača, Stefan (Stjepan), Hzg. d. Herzegowina 593, 627 W Wagner, Vladimír 299 Walch, Matthias 161 Wałdowski, Julian 530 Waldstein, Benedikt 563 Waldstein (z Valdštejna), Johann Friedrich (Jan Bedřich) Gf. v. 399 Wałęsa, Lech 785, 787 Wallenrode, Conrad v. 96 Wangemann, Hermann Theodor 566, 571 Warkovics, Miklós 709 Warschauer, Jonatan 122 Warszewicki, Krzysztof 807f. Wartislaw I., Hzg. v. Pommern 56�f., 569f. Wdziekoński, Kapistran Korab 673f. Webel, Christian 527 Weczerka, Hugo 98� Węgierski, Andrzej 363 Weloński, Pius 1�3 Wenzel (Václav), Hzg. v. Böhmen, hl. 53, 56–59, 251f., 25�, 257, 313, 399f., �78f., 501–511, 514f., 556f., 646, 919 Wenzel IV. (Václav), Kg. v. Böhmen, röm.-dt. Ks. 159, 25�, 313, 638–6�0 Wiching, Suffraganbf. �75 Wiese, Christian 985 Wigand v. Marburg 91 Wigger, Bf. 566 Wilhelm d. Ehrgeizige, d. Freundliche, Hzg. v. Österreich (Wilhelm v. Habsburg) 618 Wilhelm II., dt. Ks. 94f., 521, 566 Wilhelm, Kurt 980, 98� Wilke, Carsten L. 985 Willigis, Ebf. 512f. Willimsky, Leopold 129 Wipert 525 Wirth, Zdeněk 315 Wiśniowiecki, Michael Korybut, Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 139, ��1, 673, 729 Witold (Vitaŭt, Vytautas, Witowt), Gfst. v. Litauen 4, 290

Personenregister Witos, Wincenty 443 Wittstock, Erwin 342 Władysław I. Herman, Hzg. v. Polen 561 Władysław I. Łokietek, Kg. v. Polen 272, 805 Władysław II., Hzg. v. Oppeln 137 Władysław II. Jagiełło 138, 272–27�, 515, 603, 619–621, 806 Władysław II. Jagiellończyk, Kg. v. Böhmen u. Ungarn 813, 839–8�1 Władysław III. v. Warna, Kg. v. Polen u. Ungarn 272, 27�, 812, 833–835 Władysław IV. Wasa, Kg. v. Polen, Gfst. v. Litauen 272, 558, 738, 890f., 898 Wodziński, Antoni 622 Wojciechowski, Tadeusz 559 Wojtyła, Karol Józef → Johannes Paul II., Papst Wolf, Immanuel 979 Wolrab, Hans Jacob 933 Worthmann, Ludwig 388 Wühr, Hans 342f. Wujek, Jakub 286f., 290, 807f. Wurm, Ignát �82 Wyclif, John 637–6�0 Wyspiański, Stanisław 83, 27�f. Wyszyński, Stefan 130, 132, 1�3f., 277, ��2f., 783, 800, 811 Y Yakub Çelebi, Sohn Murads I. 823 Z Zajc, Ivan 815, 868 Zajíc v. Hasenburg (Zájic z Házmburka), Zbynko (Zbyněk) 638 Zalyzo, Iov 7� Zamoyski, Jan 515, 736 Zamoyski, Tomasz 737 Žanić, Pavao 236f. Zápolya (Szapolyai), Johann I. (János), Kg. v. Ungarn 852, 87�

Zápolya (Szapolyai), Johann II. Sigismund (János Zsigmond), Kg. v. Ungarn 14 Zavadil, Josef 28 Zbąski, Jan 128 Zbigniew, Halbbruder v. Bolesław III. 516 Zborowski, Piotr 886 Žefarović, Hristofor �78, �96 Zérich, Tivadar 326 Żeromski, Stefan 519 Žerotín (ze Žerotína), Karl d. Ä. v. (Karel starší) v. 362, 699, 8�6 Zichy, Ferenc Gf. 325 Zickermann, Christian 564 Zientara-Malewska, Maria 133 Zillich, Heinrich 308, 3�2f. Zimmermann, Wilhelm Peter 711 Zinzendorf, Nikolaus Ludwig Rgf. v. 955 Zinzow, Adolf 566 Zirckendorff, Franz Ferdinand v. 400 Zita v. Bourbon-Parma, Ksn. v. Österreich 62 Zitterbarth, Károly 325 Živanović, Srboljub 633 Žižka, Jan 6�3 Zoerard-Andreas (Andrej-Svorad), hl. 20–22 Zoilus 459 Żółkiewski, Stanisław 286, 736f. Zovko, Jozo 233, 235 Zrínyi (Zrinski), Nikolaus (Miklós IV.) Šubić 815, 865–872 Zrínyi (Zrinski), Nikolaus (Miklós VII., Urenkel) 815, 867 Zrínyi (Zrinski), Péter 867f. Zubryc’kyj, Nikodym 76 Zunz, Leopold 979 Zvenislava Borisovna (Barysovna) 575 Zvizdović, Anđeo 627, 63� Zvoková, Anna 314 Zvonimir, Kg. v. Kroatien 469 Zyrowski, Georg Friedrich v. 176

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Ortsregister Abkürzungen: alb. = albanisch, bulg. = bulgarisch, frz. = französisch, griech. = griechisch, ital. = italienisch, kroat. = kroatisch, lett. = lettisch, lit. = litauisch, osm. = osmanisch, poln. = polnisch, rum. = rumänisch, russ. = russisch, serb. = serbisch, slow. = slowakisch, slowen. = slowenisch, span. = spanisch, tsch. = tschechisch, türk. = türkisch, ukr. = ukrainisch, ung. = ungarisch, weißruss. = weißrussisch A Aachen 40, 54, 252, 326, 504, 514f., 520, 535, 609 Abtsdorf (rum. Mănăştur, ung. Kolozsmonostor) 211f. Achrída → Ohrid Affile 51� Agoritschasch 967 Agram (kroat. Zagreb) 2�8f., �30–�32, �3�–�37, �69, 5�6, 595, 631, 757, 761, 771f., 77�, 778, 829, 868, 905f., 910 Aita Mare → Nagyajta Aita Medie → Középajta Akkerman (rum. Cetatea Albă, ukr. BilhorodDnistrovs’kyj) 651–65�, 662 Alba Carolina → Weißenburg Alba Iulia → Weißenburg Albendorf (poln. Wambierzyce, tsch. Vambeřice) 17�, 176 Aleksandrów 121 Aleppo 102f., 107, 657 Allenstein (poln. Olsztyn) 130, 289, 531 Álmosd 170 Alsócsernáton (rum. Cernatu de Jos) 337 Alt-Ofen-Kleinzell (ung. Óbuda-Kiscell) 59, �07f. Altbunzlau (tsch. Stará Boleslav) 58–60, 399, �07, 502f., 505, 511 Altentreptow 571 Altorja (rum. Turia de Jos) 339 Altötting 55, 62 Altranstädt 386, 389f., 95�f., 957–960, 962 Altstadt (tsch. Staré Město) �80f. Alytus (poln. Olita) 530 Amnaş → Hamlesch Amsterdam 36�, 682, 69�, 700, 7�0, 927f., 979 Ancona 528 Andechs 599, 604 Andrusiv (poln. Andruszów, russ. Andrusovo) 899 Andrusovo → Andrusiv

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Andruszów → Andrusiv Angerburg (poln. Węgorzewo) 129 Antwerpen 518, 755 Apoldu de Jos → Kleinpold Apoldu de Sus → Großpold Apulum → Weißenburg Aquileia 459f. Arad 17, 187, 59� Arbure 655 Arcuş → Árkos Árkos (rum. Arcuş) 338 Armenierstadt (rum. Gherla, ung. Szamosújvár) 17, 21�, 216, 9�8 Arras 253, 27� Aš → Asch Asch (tsch. Aš) 966 Aspromin (russ. Belyj Gorod) 653 Assisi 271, 555 Augsburg 21�, 319, 322, 336, 351f., 35�, 367, 558, 56�, 697, 8�1, 8��, 8�7, 966 Auschwitz (poln. Oświęcim) 9�, 121, 12�, 777 B Bacău (ung. Bakó) 102, 652 Baia 652 Bakar (ital. Buccari) 926 Bakó → Bacău Bakonybél 5�8 Balázsfalva → Blasendorf Ballsh 495 Bamberg 51�, 538f., 561–571 Banská Bystrica → Neusohl Banská Štiavnica → Schemnitz Bardo → Wartha Bartenstein (poln. Bartoszyce) 528–530 Bartoszyce → Bartenstein Basarabeni (auch Basarabov) 181, 183, 658 Basarabov → Basarabeni Basel 361, 619, 686, 688, 817, 983 Báta 71

Ortsregister Bayreuth 6�7 Belbuck (poln. Białoboki) 678f. Belgard an der Persante (poln. Białogard) 561 Belgorod (ukr. Bilhorod) 282 Belgrad (serb. Beograd, ung. Fehérvár) 13–15, 19, 58, 62, 192, 233, �36, �63, �85–�88, �97, 592–596, 759f., 765, 769, 772, 777, 825, 833, 835, 932 Belin → Blumendorf Belyj Gorod → Aspromin Bełz (ukr. Belz) 121, 137 Belz → Bełz Bender (rum. Tighina) 662 Benediug → Mănăstirea Beograd → Belgrad Berencs → Branč Berethalom → Birthälm Berlin 93, 163, 2�8f., 267, 353, 355–357, 366, 518, 566–568, 570, 603–605, 69�, 702, 705, 786, 970, 982, 985f. Bern 765 Beszterce → Bistritz Besztercebánya → Neusohl Beuthen OS (poln. Bytom) 176 Biała Podlaska 730 Białoboki → Belbuck Białogard → Belgard an der Persante Biertan → Birthälm Biesowo → Groß Bößau Bilhorod → Belgorod Bilhorod-Dnistrovs’kyj → Akkerman Birthälm (rum. Biertan, ung. Berethalom) 323, 341, 344, 346 Bistriţa → Bistritz Bistritz (rum. Bistriţa, ung. Beszterce) 320, 3�3, 649, 654f. Bitola (bulg. Bitolja, griech. Monastīri, serb. Bitolj, türk. Manastır) �98, 59�, 766 Bitolj → Bitola Bitolja → Bitola Blaj → Blasendorf Blasenberg 939 Blasendorf (rum. Blaj, ung. Balázsfalva) 16f., 213f., 9�3, 9�6, 9�8 Blumendorf (rum. Belin, ung. Bölön) 338f. Bnej Brak 755 Bobovac 627 Bobowa 121 Bodenstadt (tsch. Potštát) 720

Böhmisch Brod (tsch. Česk� Brod) 8�0 Boian → Bojan Bojan (rum. Boian, ukr. Bojany) 75�f. Bojany → Bojan Bologna 244, 905 Bölön → Blumendorf Bolzano → Bozen Borek 402 Bösing (slow. Pezinok) 366 Boskovice → Boskowitz Boskowitz (tsch. Boskovice) 717 Böszörmény → Hajdúböszörmény Bozen (ital. Bolzano) 405 Bran → Törzburg Branč (ung. Berencs) 926 Braniewo → Braunsberg Braşov → Kronstadt Brassó → Kronstadt Bratislava → Preßburg Braunau (tsch. Břevnov) 512 Braunsberg (poln. Braniewo) 128, 527 Braunschweig 678, 681f. Breitenbrunn 405 Breslau (poln. Wrocław) 1��, 521, 530, 556, 561, 567, 600–60�, 717, 719, 95�f., 957f., 961f., 978–986 Brest (poln. Brześć nad Bugiem, weißruss. Brėster) 38, �3, 85, 378, 575, 577, 672, 726, 736f., 739, 7�3, 7�5, 888f., 897–903 Brėster → Brest Břevnov → Braunau Brieg (poln. Brzeg) 601, 620, 954f. Brno → Brünn Broos (rum. Orăştie, ung. Szászvaros) 336, 339 Brünn (tsch. Brno) 57, 205, �81, 6�3, 718–720, 8�5, 970, 97� Brüx (tsch. Most) �07f. Brzeg → Brieg Brześć nad Bugiem → Brest Buccari → Bakar Bucureşti → Bukarest Buda → Budapest Budacu de Jos → Deutsch Budak Budapest (Ofen, Buda, Pest) 33f., 5�, 63, 92, 100, 137, 1�9f., 152f., 155, 160, 163f., 187, 197f., 211, 217, 300, 320, 325–328, 339f., 399, �03, �05, �07, 536–538, 5�2, 5�5, 5�8f., 551, 666, 691, 713, 715, 757, 812, 852, 85�, 856, 860, 868f., 878, 880, 931–936, 982, 986

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Ortsregister Budeč 501 Budenbach (rum. Sibiel, ung. Szibiel) 335 Budziejewko 797 Buffalo 518 Buk 402 Bukarest (rum. Bucureşti) 100f., 106, 181–185, 215, 30�, 310, 3��, 3�7, �86, 6�9, 658, 665– 667, 689, 950, 983 Bytom → Beuthen OS Byzanz → Konstantinopel C Caesarea (griech. Kaisareia, türk. Kayseri) 182 Čakovec (ung. Csáktornya) 870, 872 Calnic → Kálnok Câlnic → Kelling Cammin (poln. Kamień Pomorski) 561–563, 567–570, 679 Campo 455 Campolongo → Câmpulung Câmpulung (Langenau, ital. Campolongo) 100– 104 Čanad → Tschanad Canterbury 272, 5�7 Čapljina 235 Carei → Großkarol Cattaro → Kotor Celje (ital. Cilli) 431 Celldömölk → Kleinmariazell Celle 356 Cenad → Tschanad Cerkwica → Zirkwitz Cernatu de Jos → Alsócsernáton Cernăuţi → Czernowitz Černigov → Černihiv Černihiv (russ. Černigov) �� Černivci → Czernowitz Černobyľ → Tschernobyl Černovcy → Czernowitz Čertkov → Čortkiv Česk� Brod → Böhmisch Brod Česk� Těšín → Teschen Cetatea Albă → Akkerman Cetatea de Baltă → Kokelburg Chabannes 525 Charváty → Charwath Charwath (tsch. Charváty) 717 Cheb → Eger Chełm (ukr. Cholm) 727, 731

1022

Chełmża → Kulmsee Cherson → Chersones Chersones (griech. Chersonēsos, russ., ukr. Cherson) 3–11, 380 Chersonēsos → Chersones Chicago �25, �28, 518 Chilia (rum. Chilia Nouă, ukr. Kilija) 651, 662 Chilia Nouă → Chilia Chişinău (russ. Kišinev) 750 Chlum Svaté Maří → Maria Kulm Chocim → Chotyn Cholm → Chełm Chotyn (poln. Chocim, rum. Hotin) 286, 288, 662, 808f. Cieszyn → Teschen Cilli → Celje Cincu → Großschenk Cioarea 214 Čiprovci 213 Cîrţa → Kerz Cisnădie → Heltau Cisnădioara → Michelsberg Cluj-Napoca → Klausenburg Cmentarz Łyczakowski → Lyčakiv-Nekropole Copşa Mare → Großkopisch Čornobyľ → Tschernobyl Coroi → Korod Čortkiv (poln. Czortków, russ. Čertkov) 75� Csáktornya → Čakovec Csanád → Tschanad Csíksomlyo → Schomlenberg Csongrád 549 Curtea de Argeş 99, 103, 105f., 108, 183, 658 Czechło 796 Czerniowce → Czernowitz Czernowitz (poln. Czerniowce, rum. Cernăuţi, russ. Černovcy, ukr. Černivci) 667, 750f., 753–755 Częstochowa → Tschenstochau Czortków → Čortkiv D Dachau ��1, 766, 768 Đakovo (ung. Diakovár) �63, �85, 626, 757, 762f. Dalnic → Dálnok Dálnok (rum. Dalnic) 344 Danzig (poln. Gdańsk) 9�, 271, 512f., 517, 519– 521, 527, 559, 609, 611, 615, 679, 785 Dârjiu → Dersch

Ortsregister Daugava 281 Dealu (ung. Oroszhegy) 106 Dealul Frumos → Schönberg Dealul Metropoliei → Metropoliehügel Dealul Viilor → Weinberg Debrecen → Debreczin Debreczin (ung. Debrecen) 166–171, 372, 712f., 83�, 927, 929, 970 De�an (serb. Dečani) 585, 828 Dečani → De�an Demmin 561, 570f. Dersch (rum. Dârjiu, ung. Székelyderzs) 337– 339, 346 Deutsch Budak (rum. Budacu de Jos, ung. Szászbudak) 328 Deutsch Piekar (poln. Piekary Śląskie) 17�, 176, 179 Deutsch-Weißkirch (rum. Viscri, ung. Szászfehéregyháza) 338, 3�5f. Deutschendorf (slow. Poprad) �02 Dévény → Devín Devín (Theben, ung. Dévény) 20, 22f., 27–31, �81f., �8� Devol 495 Diadyliv → Dziadiłow Diakovár → Đakovo Dietrichswalde (poln. Gietrzwałd) 130 Diiu → Vidin Dimitrovci → Sremska Mitrovica Dinkelsbühl 328 Dipşa → Dürrbach Dipse → Dürrbach Dobrovăţ 655, 66� Dojran 496 Donnersmark (slow. Spišsk� Štvrtok, ung. SzepesCsütörtökhely) 326 Dorog 713 Dorohyčyn → Drohiczyn Dragomirna 655 Dremvitza 495 Dresden 315, 366, 385, 868 Drohiczyn (ukr. Dorohyčyn) 223 Dublin 2�8 Dubrovnik (ital. Ragusa) 2�5f., �67, 537, 593, 629, 81�, 825 Dukla 669–676 Dürrbach (rum. Dipşa, ung. Dipse) 323 Düsseldorf 985 Dziadziłów (ukr. Diadyliv) 736

E Eger (Westböhmen, tsch. Cheb) 314, 966 Eger → Erlau Egres → Egresch Egresch (rum. Igriş, ung. Egres) 321 Eibenschitz (tsch. Ivančice) 361f. Eilwardesdorf 526 Eisenburg (ung. Vasvár) 931 Eisenmarkt (rum. Hunedoara, ung. Vajdahunyad) 326 Eisenstadt (ung. Kismarton) 63 Elbing (poln. Elbląg) 513, 517, 531, 612, 616, 69� Elbląg → Elbing Ełk → Lyck Eperies (slow. Prešov, ung. Eperjes) 320 Eperjes → Eperies Erlachstein (slowen. Jelšah) 59 Erlau (slow. Jáger, ung. Eger) 111, 196–198, 295f., 321 Esced → Nagyesced Esztergom → Gran F Făgăraş → Fogarasch Fano 528 Fatima 115, ��1, 788 Féhérvar → Belgrad Feld am See 973 Feleac 215f., 219 Fener → Phanar Firenze → Florenz Fischhausen (russ. Primorsk) 516 Fiume → Rijeka Fleißen (tsch. Plesná) 966 Florenz (ital. Firenze) 527f., 672, 833, 905 Fogaras → Fogarasch Fogarasch (rum. Făgăraş, ung. Fogaras) 16, 939, 9�2f., 9�6, 9�8 Frankfurt am Main 163, �2�, 956, 980 Frascati 528 Frauenburg (poln. Frombork) 531 Freiberg (tsch. Příbor) 717, 719f., 723 Freiburg im Breisgau �01, 813 Freistadt an der Waag (tsch. Hlohovec) 160 Freiwalde 403 Freystadt (poln. Kożuchów) 386f. Friedek (tsch. Fr�dek-Místek) �00 Friedrichstabor (poln. Osogóra) 642 Frombork → Frauenburg

1023

Ortsregister Fr�dek-Místek → Friedek Fulda 27, 392 Fulnek 700 Fünfkirchen (ung. Pécs) 67, 321, 85�, 869f., 935 Fürstenfeld 399 Füzesmikola → Nicula G Gadjač → Hadjač Galambóc → Golubac Gälänz (rum. Ghelinţa, ung. Gelence) 337 Galič → Halyč Garamszentbenedek 71 Gartenberg (auch Sadagora, russ. Sadgora, ukr. Sadhora) 7�9–756 Gary, Indiana 688 Gdańsk → Danzig Gelence → Gälänz Genève → Genf Genf (frz. Genève) 168, 363, 373, 392, 711 Genova → Genua Genua (ital. Genova) 3f. Georgenberg (poln. Miasteczko Śląskie) �02 Gęsiniec → Hussinetz Ghelinţa → Gälänz Gherla → Armenierstadt Gierłoż → Görlitz Gietrzwałd → Dietrichswalde Giurgiu 183 Giżycko → Lötzen Glasgow 765 Glatz (poln. Kłodzko) 396, �01, �03 Glogau (poln. Głogów) 385f., 388, 392, 960 Głogów → Glogau Głogówek → Oberglogau Gnesen (poln. Gniezno) 176, 252, 513–518, 520– 522, 561f., 569, 600f., 618f., 795, 797–801, 805 Gniezno → Gnesen Golubac (ung. Galambóc) 833 Gönc 372–37�, 376 Góra Kalwaria 121 Góra Świętej Anny → Sankt Annaberg Gorjanci → Sichelberg Görlitz (poln. Gierłoż) 131 Görlitz (poln. Zgorzelec) 694, 962 Gornji Karlovac 187 Gościerzyn 797 Gosławice 286

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Gradec 430 Gran (Strigonium, ung. Esztergom) 16, 22, 33– 36, 56, 63f., 69, 149f., 153, 160, 200, 203–205, 210, 261f., 297, 320f., 325f., 328, �05, �31, 51�, 53�, 536, 538, 5�2, 925, 936, 9�1, 9�� Grand Rapids, Michigan 518 Granica 265 Graz 5�, 321, 399, 709, 717, 719 Greifenberg (poln. Gryfice) 56�, 568 Greifswald 350, 352–358, 56�f., 567, 678, 681f. Grobničko polje 815 Grodno → Hrodna Groß Bößau (poln. Biesowo) 131 Groß Lhota (tsch. Velká Lhota) 970 Groß-Montau (poln. Mątowy Wielkie) 609, 615f. Groß-Rosen (poln. Rogoźnica) 178 Großhennersdorf 366 Großkarol (rum. Carei, ung. Nagykároly) 372, 376 Großkopisch (rum. Copşa Mare, ung. Nagykapus) 344 Großpold (rum. Apoldu de Sus, ung. Nagyapold) 339 Großschenk (rum. Cincu, ung. Nagysink) 210 Grottaferrata 731 Grünfelde → Grunwald Grunwald (Grünfelde, lit. Žalgiris) 261, 285–290 Gryfice → Greifenberg Gundelsheim am Neckar 690 Gusjatin → Husjatyn Güstrow 563 Gützkow 562 Gyanafalva → Jennersdorf Győr → Raab Gyulafehérvár → Weißenburg H Hadház 713 Hadjač (poln. Hadjacz, russ. Gadjač) 899 Hadjacz → Hadjač Hagenau (frz. Haguenau) 5�7 Haguenau → Hagenau Hainburg 29, 31, 54 Hajdúböszörmeny (Böszörmeny) Halberstadt 526 Hălchiu → Heldsdorf Halle an der Saale 162, 366, 530f., 561, 567, 682, 696, 765 Haltern 180

Ortsregister Halyč (poln. Hałycz, russ. Galič) �8, 280, 599, 897, 901, 903 Hałycz → Halyč Hamburg 679, 681f. Hamlesch (rum. Amnaş, ung. Omlás) 339 Hamruden (rum. Homorod, ung. Homoród) 338 Hanau 37�, 711 Hărman → Honigberg Harpersdorf (poln. Twardocice) 390 Havelberg 561 Heidelberg 363, 373, 693, 711 Heinrichau (poln. Henryków) 404, 599 Heldsdorf (rum. Hălchiu, ung. Höltövény) 339 Hellburg (rum. Şiria, ung. Világos) 85� Heltau (rum. Cisnădie, ung. Nagydisznód) 3�3 Henryków → Heinrichau Hermannstadt (Szeben, rum. Sibiu, ung. Nagyszeben) 16f., 101, 190, 212, 302, 311, 320, 32�, 328, 33�f., 3�3, 3�6, 690 Hildesheim 980 Hirschberg (poln. Jelenia Góra) 386f., 389–391, 960 Hlohovec → Freistadt an der Waag Hohenstein (poln. Olsztynek) 531 Holešov → Holleschau Holleschau (tsch. Holešov) 718–720, 722f. Höltövény → Heldsdorf Homoród → Hamruden Homorod → Hamruden Homoródszentmárton (rum. Mărtiniş) 337 Honigberg (rum. Hărman, ung. Szászhermány) 336, 344 Hotin → Chotyn Hradec Králové → Königgrätz Hrоdna (poln. Grodno) 279–28�, 728f., 885 Humac 246 Humor 655 Hunedoara → Eisenmarkt Husiatyn → Husjatyn Husinec u Netolic → Hussinetz Husjatyn (poln. Husiatyn, russ. Gusjatin) 75� Hussinetz (bei Strehlen, poln. Gęsiniec,) 6�2 Hussinetz (tsch. Husinec u Netolic) 643 I Iaşi → Jassy Iclod 210 Iglau (tsch. Jihlava) 6�0, 838 Igriş → Egresch

Ilgendorf (rum. Ilieni, ung. Illyefalva) 338, 3�� Ilieni → Ilgendorf Iliuşa 210 Illyefalva → Ilgendorf Ilz 399 Inkerman 8 İpek → Peć Istanbul → Konstantinopel İstanbul → Konstantinopel Ivančice → Eibenschitz Izabelin 440 İznik → Nikaia J Jáak 326 Jægerspris 681 Jáger → Eger Jajce 760 Jaktař bei Troppau 717 Jarmen 563 Jaromierz → Jermer Jasenovac 631, 633, 773, 776f. Jasna Góra 136–1�5, 807 Jassy (rum. Iaşi) 657f., 66�, 666, 739, 7�5, 750 Jauer (poln. Jawor) 385f., 388, 392 Jawor → Jauer Jelenia Góra → Hirschberg Jelšah → Erlachstein Jennersdorf (slowen. Ženavci, ung. Gyanafalva) 200 Jermer (poln. Jaromierz) 396 Jerusalem 35, 37, �0, �2–50, 137, 163, 220, 313, 535, 5�5, 563, 575, 752, 755, 828, 898, 985 Jičin (tsch. Jičín) 6�3 Jičín → Jičin Jihlava → Iglau Jimbor → Sommerburg Johannisburg (poln. Pisz) 129 Jordanville, New York 78 Jung-Bunzlau (tsch. Mladá Boleslav) 361, 364 Jurgaičiai 223f., 226 K Kail 531 Kaisareia → Caesarea Kaliningrad → Königsberg Kalište �96 Kálló (ung. Nagykállo) 195f. Kálnok (rum. Calnic) 337

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Ortsregister Kalocsa 33, 321f., 546 Kaluga 27� Kamień Pomorski → Cammin Kamieniec Podolski → Kam”janec’-Podil’s’kyj Kamienna Góra → Landeshut Kam”janec’-Podil’s’kyj (poln. Kamieniec Podolski) �01, 728 Kapornak 71 Kaposvár → Kopisch Kapuvár 926 Karlóca → Karlowitz Karlovac → Karlstadt Karlovy Vary → Karlsbad Karlowitz (serb. Sremski Karlovci, ung. Karlóca) 187–193, 587, 907, 931f. Karlsbad (tsch. Karlovy Vary) 404 Karlsburg → Weißenburg Karlsburg bei Greifswald, Schloß 356 Karlstadt (kroat. Karlovac) 906 Kaschau (slow. Košice, ung. Kassa) 152, 155, 197, 212, 29�–300, 321, 37�, 710–712 Kassa → Kaschau Kassel 979 Kassvölgy 372 Kastoria (alb., bulg. Kostur) 496 Katowice → Kattowitz Kattowitz (poln. Katowice) 72�, 799 Katyń ��3 Kaunas (poln. Kowno, russ. Kovno) 424f. Kayseri → Caesarea Keisd (rum. Saschiz, ung. Szászkézd) 346 Kelling (rum. Câlnic, ung. Kelnek) 335, 346 Kelnek → Kelling Kempen (poln. Kępno) 6�2 Kępno → Kempen Kerč (griech. Pantikapaion, russ. Kerč’) �, 8, 653 Kerc → Kerz Kerč’ → Kerč Kerz (rum. Cîrţa, ung. Kerc) 336 Kętrzyn → Rastenburg Kézdiszentlélek (rum. Sânzieni) 338 Kielce 272, 27�, 555 Kiev → Kiew Kiew (Kyjiv, poln. Kiów, russ. Kiev) 3, 5–7, 9, 11, 37–50, 7�, 76, 80f., 87, 183, 188, 279–282, �5�, �63, �75, �77, �85, 525, 528, 530, 57�– 578, 581, 652f., 657, 726f., 736–7�5, 7�9f., 88�, 888f., 897–899, 902f. Kijów → Kiew

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Kilija → Chilia Kilkis (bulg. Kukuš) �86 Kindsbach 200 Kiów → Kiew Kisapol → Kleinpold Kisdisznód → Michelsberg Kišinev → Chişinău Kismarja 713, 809 Kismarton → Eisenstadt Kistorony → Neppendorf Kjustendil 265 Klagenfurt 403 Klaipėda → Memel Klausenburg (rum. Cluj-Napoca, ung. Kolozsvár) 16–18, 209, 211–220, 335, �01, �07, 709, 868, 877, 9�8 Kleinmariazell (ung. Celldömölk) 59 Kleinpold (rum. Apoldu de Jos, ung. Kisapol) 325 Kłodzko → Glatz Klosterneuburg 396 Kobylepole 402 Kokelburg (rum. Cetatea de Baltă, ung. Küküllővár) 335 Kolašin �77 Kołbacz → Kolbatz Kolbatz (poln. Kołbacz) 563f. Kolberg (poln. Kołobrzeg) 561, 56� Kołobrzeg → Kolberg Kolomyja (poln. Kołomyja) 676 Kołomyja → Kolomyja Kolozsmonostor → Abtsdorf Kolozsvár → Klausenburg Komárno → Komorn Komárom → Komorn Komna (tsch. Komňa) 699 Komňa → Komna Komorn (slow. Komárno, ung. Komárom) 36, 320, 926 Komorowo 670–672 Königgrätz (tsch. Hradec Králové) 6�1, 701, 918 Königsberg (russ. Kaliningrad) 92, 128f., 361, 516, 983 Konin 439 Konstantinopel (Byzanz, Istanbul, griech. Konstantinoupolis, osm. Kostantîniyye, türk. İstanbul) 37f., �0, �2, �9, 85, 100, 102f., 107, 160, 182, 185, 265, �53–�55, �60, �75f., �96, 575f., 583, 592, 595f., 650, 652, 656, 739, 872, 897f.

Ortsregister Konstantinoupolis → Konstantinopel Konstanz 313, 315, 399, 612, 619, 637–6�1, 6�3f., 652, 806, 817 Kopisch (ung. Kaposvár) 401, 935 Korod (rum. Coroi) 210f. Košice → Kaschau Košinj 2�� Köslin (poln. Koszalin) 682 Kostantîniyye → Istanbul Kostrzyn nad Odrą → Küstrin Kostur → Kastoria Koszalin → Köslin Kotor (ital. Cattaro) �67, 765, 826 Köttnitz (tsch. Skotnice) 720 Kovno → Kaunas Kowno → Kaunas Középajta (rum. Aita Medie) 337 Kożuchów → Freystadt Kragujevac �78 Krakau (poln. Kraków, Kraków-Nowa Huta) 83, 91, 97, 117–12�, 130, 132, 138, 176, 271–273, 275–277, 288, 379, �01, �11, �1�f., �18, 516, 526, 528, 5�7, 55�–559, 561, 568f., 600, 618– 620, 622f., 666, 669, 676, 686, 718f., 7�5, 751, 755, 781–783, 795–798, 806, 886f. Kraków → Krakau Kraków-Nowa Huta → Krakau Kralice nad Oslavou → Kralitz an der Oslawa Kralitz an der Oslawa (tsch. Kralice nad Oslavou) 16�, 360–370 Kraljeva Sutjeska 627f. Krašić 771, 773, 775, 778 Kreisau (poln. Krzyżowa) 179 Krems an der Donau 404 Kremsier (tsch. Kroměříž) 313, 722 Kreševo 628 Kressenbrunn 515 Krėwa → Krewo Krewo (weißruss. Krėwa) 618 Kroměříž → Kremsier Kronstadt (rum. Braşov, ung. Brassó) 17, 102, 302–312, 320, 3�6, 372, 686–690 Krosno 669, 67� Krzyżowa → Kreisau Kü�ük Kaynarca 7 Küküllővár → Kokelburg Kukuš → Kilkis Kulmsee (poln. Chełmża) 614 Kumanovo 496

Kupres 630 Küstrin (poln. Kostrzyn nad Odrą) 678 Kütahya 872 Kutná Hora → Kuttenberg Kuttenberg (tsch. Kutná Hora) 367, 639, 838, 8�0–8�6, 8�8f. Kwidzyn → Marienwerder Kyjiv → Kiew L Laibach (slowen. Ljubljana) 2��, �07, �85 Landeshut (poln. Kamienna Góra) 386f., 389, 391f. Landshut 397 Landskron (tsch. Lanškroun) 399 Langenau → Câmpulung Langeneichstädt 531 Lanškroun → Landskron La Salette 60 Lašva 627 Lebus (poln. Lubusz) 600 Legnica → Liegnitz Leipzig 162, 355, ��0, 753, 827, 95�–956 Leitmeritz (tsch. Litoměřice) 27 Lelić 765 Lemberg (poln. Lwów, russ. Ľvov, ukr. Ľviv) �8, 79, 81–89, 96, 122, 139, 1�3, 288, �02, ��5, �77, 6�9, 669–676, 733f., 737, 751, 755, 789, 809, 900–903 Lemhény → Lennen Lemnia → Lennen Leningrad → Sankt Petersburg Lennen (rum. Lemnia, ung. Lemhény) 337 Leopoldstadt 926 Leova 75� Lepanto 816, 915 Lepoglava 775 Leslau (poln. Włocławek) �11, 600 Lesnovo (Makedonien) 499 Lesses → Schönberg Leszno → Lissa Letnoe → Tenkitten Leubus (poln. Lubiąż) �00 Leutschau (slow. Levoča, ung. Lőcse) 110–115, 208, 319 Levoča → Leutschau Libice (Burg, auch Libitz) 512, 513 Libitz → Libice Licheń 1�5, �39–��6

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Ortsregister Liège → Lüttich Liegnitz (poln. Legnica) 601f., 805, 95�f. Linkuva 223 Linz 212, 396, 404, 924 Lissa (poln. Leszno) 36�, 69�, 702 Litoměřice → Leitmeritz Ljubljana → Laibach Lőcse → Leutschau Lodz (poln. Łódź) 289 Łódź → Lodz Lomschau (poln. Łomża) 528, 530f. Łomża → Lomschau London 755, 766f., 810 Lötzen (poln. Giżycko) 129, 528, 530 Lourdes 60, 115, 144 Lübeck 356, 619, 680f. Lüben (poln. Lubin) 601 Lubiąż → Leubus Lubin → Lüben Lublin 38, 120, �02, 728, 782, 885, 887, 902 Lubusz → Lebus Luck → Luc’k Łuck → Luc’k Luc’k (poln. Łuck, russ. Luck) 898 Ludmir → Volodymyr Lüttich (frz. Liège) 513f. Ľviv → Lemberg Ľvov → Lemberg Lwów → Lemberg Lyčakiv-Nekropole (poln. Cmentarz Łyczakowski, ukr. Lyčakivs’kyj cvyntar) 87–89 Lyčakivs’kyj cvyntar → Lyčakiv-Nekropole Lyck (poln. Ełk) 129 Lyon �31, 5�7 M Magdeburg 38, 280f., 512, 515, 52�f., 561 Mährisch Neustadt (tsch. Uničov) 719, 723 Mainz 252, �78, 512f. Malbork → Marienburg Malchin 563 Mănăstirea (Benediug, ung. Szentbenedek) 210f. Manastır → Bitola Mănăştur → Abtsdorf Manchester 755 Marča 905–911 Marggrabowa (poln. Olecko) 129 Maria Kulm (tsch. Chlum Svaté Maří) 60 Maria Radna 658

1028

Maria Veen 180 Mariaberg (slow. Mariánska Hora) 21, 110–113, 115, 208 Marianka → Marienthal Mariánska Hora → Mariaberg Máriapócs (Pocs) 195, 198–200 Mariavölgy → Marienthal Mariazell 52–64, 115 Marienburg (poln. Malbork) 91–97, 609, 611, 61� Marienthal (slow. Marianka, ung. Mariavölgy) 203 Marienwerder (poln. Kwidzyn) 610, 612, 614– 616 Marija Bistrica 778, 790 Maroschburg → Tschanad Marosvásárhely → Neumarkt am Mieresch Mărtiniş → Homoródszentmárton Mątowy Wielkie → Groß-Montau Mauthausen 61 Medgyes → Mediasch Mediaş → Mediasch Mediasch (rum. Mediaş, ung. Medgyes) 336, 3�6, 689 Medininkai (poln. Miedniki Królewskie, weißruss. Medniki) 377 Medniki → Medininkai Melk 71 Memel (lit. Klaipėda) 530 Mergentheim 92 Merseburg 525, 527, 561f., 795 Meschen (rum. Moşna, ung. Muzsna) 338 Metropoliehügel (rum. Dealul Metropoliei) 181f. Metz 979 Mežirič → Mežyrič Mežyrič (poln. Międzyrzecz Ostrogski, russ. Mežirič) 7�9f. Miasteczko Śląskie → Georgenberg Michajlivka-Rubeživka 7�� Michelsberg (rum. Cisnădioara, ung. Kisdisznód) 336, 340, 342, 561–563 Miechów 621 Miedniki Królewskie → Medininkai Międzyrzecz Ostrogski → Mežyrič Mies (tsch. Stříbro) 313–315 Mikulov → Nikolsburg Milicz → Militsch Militsch (poln. Milicz) 386f., 392 Minsk 280, 377, 581 Mladá Boleslav → Jung-Bunzlau

Ortsregister Mlázovice 405 Modrá �81 Mogersdorf (ung. Nagyfalva) 58, 399 Mohács 55, 1�9, 159f., 813, 836, 851–863 Monastīri → Bitola Morača �77 Moschopolis → Voskopoje Moskau (russ. Moskva) 10f., 38–�0, �5, �8f., 63, 75, 79, 281, 377, �21, �23, �63, �77, �91, 576–579, 581, 618, 726, 729f., 7�0–7�2, 7��f., 806, 861, 897, 899, 901f. Moskva → Moskau Moşna → Meschen Most → Brüx Mostar 236f., �86, 632 Mrągowo → Sensburg Mscislaŭ (poln. Mścisław, russ. Mstislavľ) 730 Mścisław → Mscislaŭ Mstislavľ → Mscislaŭ Mücheln 531 Muhi 811 Mühlbach (rum. Sebeş, ung. Szászsebes) 210, 326, 335 Mühlberg an der Elbe 351 Mühlhausen 120 Mühlheim 313 Mukačeve → Munkatsch Mukačevo → Munkatsch München 78, 2�6, 355, 397f., �00, �05, 521, 615, 690, 915, 922, 980 Munkács → Munkatsch Munkatsch (russ., slow., Mukačevo, ukr. Mukačeve, ung. Munkács) 196, 198, 901 Münster �06, 678 Münsterberg (poln. Ziębice) 385, 95�f. Münstereifel 462 Murano 5��, 5�8f., 551 Muzsna → Meschen N Nagyajta (rum. Aita Mare) 337 Nagyapold → Großpold Nagybaromlak → Wurmloch Nagydisznód → Heltau Nagyesced (Esced) 321 Nagyfalva → Mogersdorf Nagyharsány 85�, 931f. Nagykálló → Kálló Nagykapus → Großkopisch

Nagykároly → Großkarol Nagysink → Großschenk Nagyszeben → Hermannstadt Nagyszombat → Tyrnau Nagytalmács → Talmesch Nagyvárad → Wardein Nakel (poln. Nakło) 286 Nakło → Nakel Nánás 713 Napoli → Neapel Năsal Fânaţe 209 Naumburg am Queis (poln. Nowogrodziec) 403 Navahrudak (poln. Nowogródek) 282, 726 Neamţ 653, 662, 66� Neapel (ital. Napoli) 639, 720, 926 Neograd (slow. Novohrad, ung. Nógrád) 321 Neppendorf (rum. Turnişor, ung. Kistorony) 690 Nesterov → Žovkva Neumarkt am Mieresch (rum. Târgu Mureş, ung. Marosvásárhely) 212, 876f., 879 Neusohl (slow. Banská Bystrica, ung. Besztercebánya) 162, 326 Neustettin (poln. Szczecinek) 565 Neutitschein (tsch. Nov� Jičín) 700, 720 Neutra (slow. Nitra, ung. Nyitra) 20–25, 28–30, 33, 67, 205, 208, 320, 322, 328, �75, �8�, 925 New York 163, 518, 755, 765, 982 Nicula (ung. Füzesmikola) 209–220 Niederwiese (Wiesa, poln. Wieża) 390 Niğbolu → Nikopolis Nikaia (türk. İznik) 592 Nikolsburg (tsch. Mikulov) 404 Nikopol → Nikopolis Nikopolis (bulg. Nikopol, türk. Niğbolu) 5�, 107, 812, 833 Nin (ital. Nona) 435, 465 Niš �98, 932 Nitra → Neutra Nivnice → Niwnitz Niwnitz (tsch. Nivnice) 699 Nógrád → Neograd Nona → Nin Norcia → Nursia Novaja Ruda 411 Novgorod 77, 91 Novohrad → Neograd Nov� Jičín → Neutitschein Nowa Huta → Krakau Nowogródek → Navahrudak

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Ortsregister Nowogrodziec → Naumburg am Queis Nowy Sącz 75� Nürnberg 120, 2��, 328, 50�, 711, 77�, 815, 933, 956, 972 Nursia (ital. Norcia) �8� Nyitra → Neutra O Oberglogau → Głogówek Obodivka (russ. Obodovka) 755 Obodovka → Obodivka Óbuda-Kiscell → Alt-Ofen-Kleinzell Ochrid → Ohrid Ocna Mică 100 Ocna Sibiului → Salzburg in Siebenbürgen Ócsad → Oščadnica Ödenburg (ung. Sopron) 161, 321, �03, 967 Oels (poln. Oleśnica) 95�f. Ofen → Pest Ohër → Ohrid Ohri → Ohrid Ohrid (alb. Ohri, Ohër, bulg. Ochrid, griech. Achrída, serb. Ohrid, türk. Ohri) 100, �75f., �90, �9�–�99, 592, 766, 768f. Olecko → Marggrabowa Oleśnica → Oels Olita → Alytus Olmütz (tsch. Olomouc) 205, 321, �0�, �08, �79f., �82, 50�, 527, 70�f., 717–720, 722–72�, 839, 8�2 Olomouc → Olmütz Olovo 627 Olsztyn → Allenstein Olsztynek → Hohenstein Ołużna → Seefeld Omiš 2�6 Omlás → Hamlesch Opava → Troppau Oppenheim 37� Oradea → Wardein Orăştie → Broos Oroszhegy → Dealu Orša 578 Ortelsburg (poln. Szczytno) 531 Oščadnica (ung. Ócsad) 5�0 Osogóra → Friedrichstabor Ostriv (poln. Ostrów) 676 Ostrołęka → Ostrolenka Ostrolenka (poln. Ostrołęka) 531

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Ostrów → Ostriv Ostrów Lednicki 800f. Oświęcim → Auschwitz P Padua �00f., 853, 979 Pakrac 187 Palermo �01 Pančevo 596 Pannonhalma 56, 66–72 Pantikapaion → Kerč Parenzo → Poreč Paris 17, 287, �03, 518, 5�7, 7�2, 855, 887, 979 Pasewalk 566, 571 Passau 3�, �01, 501 Passenheim (poln. Pasym) 531 Pasym → Passenheim Pătrăuţi 663 Peć (alb. Pejë, Peja, türk. İpek) 100, 187, �77, �96, 82�f., 828, 905f., 908, 910 Pécs → Fünfkirchen Pécsvárad 513 Peja → Peć Pejë → Peć Perchtoldsdorf �0� Perejaslav 7�2 Peremyšl’ → Przemyśl Pereum 51�, 52� Perugia 528 Pest → Budapest Peštani �96 Petrograd → Sankt Petersburg Pezinok → Bösing Pfaffenhofen an der Ilm 690 Phanar (türk. Fener) 181 Piatra Neamţ 66� Piekary Śląskie → Deutsch Piekar Pilsen (tsch. Plzeň) �01 Piotrków 887 Pisa 638 Pischelsdorf 399 Pisz → Johannisburg Piteşti 101, 108 Plaški 187 Płaszow 118, 12� Plesná → Fleißen Płock �11, 600 Płowce 515, 556

Ortsregister Plzeń → Pilsen Počaev → Počajiv Počajiv (poln. Poczajów, russ. Počaev) 7�–80 Pócs → Máriapócs Poczajów → Počajiv Pogrebišče → Pohrebyšče Pohrebyšče (poln. Pohrebyszcze, russ. Pogrebišče) 7�9–751 Pohrebyszcze → Pohrebyšče Polack (poln. Połock, russ. Polock) 279, 281, 57�–581, 726–731, 733f., 898 Polgár 713 Poljica 2�6 Polock → Polack Połock → Polack Poltava → Poltawa Poltawa (russ., ukr. Poltava) �5, 713 Pompeii �7 Popăuţi 66� Poprad → Deutschendorf Poreč (ital. Parenzo) �70 Posen (poln. Poznań) 175, 290, 363, �02, 512, 517f., 600, 60�, 670, 795f., 800, 887 Potsdam 605, 985 Potštát → Bodenstadt Poznań → Posen Pozsony → Preßburg Prag (tsch. Praha) 21, 23, 3�, �0, 58f., 113, 119, 158, 16�, 176, 205, 207, 2�7, 251–258, 295, 313–315, 317, 322, 361, 363f., 367, 369, 396– �01, �05–�08, �78f., �8�f., 501–509, 512– 517, 520f., 52�, 561, 571, 60�, 620, 637–6��, 6�6, 698f., 701, 703f., 706, 709, 717–720, 72�, 796f., 838–8�1, 8�3f., 902, 913–918, 920f., 970, 979, 983 Praha → Prag Prázsmár → Tartlau Prebilovci 235 Prejmer → Tartlau Prerau (tsch. Přerov) 693, 700, 705 Přerov → Prerau Prešov → Eperies Preßburg (slow. Bratislava, ung. Pozsony) 20, 22, 27–29, 31, 57, 59f., 150–152, 158–16�, 320f., 328, 366, 399, �81, 703, 867, 92�–927 Příbor → Freiberg Pribram (tsch. Příbram) 60, 31� Příbram → Pribram Priko 2�6

Primorsk → Fischhausen Prizren (alb. Prizreni) �77 Prizreni → Prizren Proboszczów → Probsthain Probsthain (poln. Proboszczów) 390 Prod → Pruden Pród → Pruden Pruden (rum. Prod, ung. Pród) 339 Prüfening 561f. Przemyśl (russ., ukr. Peremyšl’) 623, 728, 733, 899, 901f. Pskov 77, 282 Pultusk (poln. Pułtusk) Pułtusk → Pultusk 531 Pyritz (poln. Pyrzyce) 561, 56�–568, 570f. Pyrzyce → Pyritz Q Querfurt 3�, 513f., 52�–527, 531 R Raab (ung. Győr) 33, 151, 197, 211f., 21�, 321, 325f., 328, 399f., 865 Rădăuţ → Radautz Radautz (rum. Rădăuţ) 66� Radeln (rum. Roadeş, ung. Rádos) 339, 3�7 Radenín �79 Radomsko 121 Rádos → Radeln Radožda �96 Ragusa → Dubrovnik Rakonitz (tsch. Rakovník) 914 Rakovník → Rakonitz Raków 890 Râmnicu Vâlcea 101 Răşinari 335 Rastenburg (poln. Kętrzyn) 126f., 130f., 529 Ravenna 466, 514 Rawa 889 Războieni 655, 663f. Regensburg 120, 397, 501, 525, 561f., 686, 799 Reszel → Rößel Reval (estn. Tallinn) 391 Ribe 679 Riga (lett. Rīga) 679 Rīga → Riga Rijeka (ital. Fiume) 244 Rila 106f., 260–267, �77, �99 Roadeş → Radeln

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Ortsregister Rogoźnica → Groß-Rosen Rohr 522 Rokitno → Rokitten Rokitten (poln. Rokitno) 440f. Rom (ital. Roma) 3f., 8f., �0, �2, 61, 85, 100, 112, 1�0, 1�9, 151–153, 155, 166, 168f., 171, 191, 197, 206, 210, 213f., 216, 218, 237, 2�2–2�6, 397, �05, �15, �33, ���, �59, �6�–�66, �68f., �7�–�76, �78f., �86, �90, �9�, 50�, 512–51�, 519, 52�, 535, 5�7f., 555, 576, 58�, 600, 60�, 609–612, 615, 620, 627, 637, 639, 656, 670, 673f., 720, 722–72�, 727, 730f., 73�, 7�0, 771, 775, 777, 782, 785f., 788, 798f., 805f., 8�1, 888, 898, 901f., 905, 908, 911, 91�, 929 Roma → Rom Roman 652, 655, 662 Rosenberg (tsch. Rožmberk nad Vltavou) 56 Roskilde 678, 681 Rößel (poln. Reszel) 126–128, 130 Rostock 324 Rostov am Don 578 Rožmberk nad Vltavou → Rosenberg Rus�uk → Russe Russe (türk. Rus�uk) 183 Ružin → Ružyn Ružyn (poln. Rużyn, russ. Ružin) 7�9f., 752– 756 Rużyn → Ružyn Rybnik 718 Rydzyna 402 Rymanów 751 Rzeszów 675f. S Sadagora → Gartenberg Sadgora → Gartenberg Sadhora → Gartenberg Şaeş → Schaas Safed in Galiäa 119 Sagan (poln. Żagań) 385–387 Salona → Solin Salonica → Saloniki Saloniki (bulg., maked. Solun, griech. Thessalonikī, türk. Selanik) 2�2, �51–�57, �60, �73, �75, �87, �9�, �96, 59�, 771 Salzburg 20, 3�, 53, 67, 200, �7�, 501, 5�9 Salzburg in Siebenbürgen (rum. Ocna Sibiului, ung. Vízakna) 1�, 67, 5�9 Sandomierz → Sandomir

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Sandomir (poln. Sandomierz) 556, 807, 885f. Sangerhausen 614 Sankt Annaberg (poln. Góra Świętej Anny) 17�– 180 Sankt Gotthard/Mogersdorf (ung. Szentgotthárd) 58, 399 Sankt Lambrecht 52–5�, 56, 58–61 Sankt Marein bei Erlachstein (slowen. Šmarje pri Jelšah) 59 Sankt-Peterburg → Sankt Petersburg Sankt Petersburg (Leningrad, Petrograd, russ. Sankt-Peterburg) 10, 38f., �7f., 96, 282, 6�3, 730f., 7�1 Sânzieni → Kézdiszentlélek Saragossa (span. Zaragoza) 397 Sarajevo 628, 758, 829 Sárkány → Schirkanyen Sárospatak 694 Sárvár 926 Saschiz → Keisd Săsciori 335 Saskatoon 7�� Sassoferrato 455 Šaštín → Schossberg Sasvár → Schossberg Schaas (rum. Şaeş, ung. Segesd) 323 Schäßburg (rum. Sighişoara, ung. Segesvár) 310, 346f. Schaulen (lit. Šiauliai) 223f., 228 Schemnitz (slow. Banská Štiavnica, ung. Selmecbánya) 57, �0� Schimeck (ung. Sümeg) 321 Schirkanyen (rum. Şercaia, ung. Sárkány) 32� Schladming in der Steiermark 973 Schlan (tsch. Slan�) 8�0 Schleswig 679 Schomlenberg (rum. Şumuleu Ciuc, ung. Csíksomlyo) 6�, 658 Schönberg (rum. Dealul Frumos, ung. Lesses) 159, 3�7 Schossberg (slow. Šaštín, ung. Szászvár) 202– 208 Schweidnitz (poln. Świdnica, tsch. Svídnice) 385f., 388f., 391f., �03, 955, 960 Sebenico → Šibenik Sebeş → Mühlbach Sedlec → Sedletz Sedletz (tsch. Sedlec) 8�5 Seefeld (poln. Ołużna) 56�

Ortsregister Segedin → Szeged Segesd → Schaas Segesvár → Schäßburg Seghedin → Szeged Segna → Senj Selanik → Saloniki Seľcy an der Oka 289 Selmecbánya → Schemnitz Semlow 571 Senj (ital. Segna) 2�3f., 2�8 Sensburg (poln. Mrągowo) 130 Senta → Zenta Sepiárkos 339 Şercaia → Schirkanyen Serez → Serres Serres (bulg. Sjar, türk. Serez) 58� Sevastopoľ → Sewastopol Sewastopol (russ. Sevastopoľ) 3, 7, 10f. Shkupi → Skopje Šiauliai → Schaulen Šibenik (ital. Sebenico) 246 Sibiel → Budenbach Sibiu → Hermannstadt Sichelberg (kroat. Žumberak, slowen. Gorjanci) 906f., 911 Siebeneich 200 Siena 670 Siget → Szigetvár Sigeth → Szigetvár Sighişoara → Schäßburg Siklós 935 Šiluva 228 Simontornya 935 Sinop → Sinopē Sinopē (türk. Sinop) 5 Siret 652 Şiria → Hellburg Sirmion → Sremska Mitrovica Sirmium → Sremska Mitrovica Široki Brijeg 632 Sisak 432 Sjar → Serres Skalica → Skalitz Skalitz (slow. Skalica, ung. Szakolcza) 203 Skałka 271f., 277, 55�–558 Skočov → Skotschau Skoczów → Skotschau Skopia → Skopje Skopie → Skopje

Skopje (alb. Shkupi, bulg. Skopie, griech. Skopia, serb. Skoplje, türk. Üsküp) �75f., �90, �96– �98, 59� Skoplje → Skopje Skotnice → Köttnitz Skotschau (poln. Skoczów, tsch. Skočov) 717, 719, 72� Slan� → Schlan Slonim (poln. Słonim) 728 Słonim → Slonim Słupsk → Stolp Šmarje pri Jelšah → Sankt Marein bei Erlachstein Smolensk 1�5, 290, 728 Sofia (bulg. Sofija, türk. Sofya) 261f., 267, �76, �87, �97, �99, 587 Sofija → Sofia Sofya → Sofia Sokaľ (poln. Sokal) 676 Sokal → Sokaľ Solin (Salona) �6�f., �69–�71 Solun → Saloniki Sommerburg (rum. Jimbor, ung. Székelyzsombor) 3�7 Sonthofen 94 Sopron → Ödenburg Soroca 662 South Canaan, Pennsylvania 767 South River, New Jersey 581 Spalato → Split Spandau 518 Spišsk� Štvrtok → Donnersmark Split (ital. Spalato) 246, 435, 464–469 Sprottau (poln. Szprotawa) 960 Srebrenica 628 Sremska Mitrovica (griech. Sirmion, lat. Sirmium, serb. Dimitrovci, ung. Szavaszentdemeter) �52, �60, �62f., �7�, �77 Sremski Karlovci → Karlowitz Stará Boleslav → Alt-Bunzlau Staré Město → Altstadt Stębark → Tannenberg Ştefăneşti 75� Steinamanger (ung. Szombathely) 67 Stettin (poln. Szczecin) 350, 352, 35�, 356, 358, 51�, 561–570, 681f. Stockholm 385, 391, 962 Stolp (poln. Słupsk) 352f., 566 Stolpe an der Peene 570

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Ortsregister Strakonice → Strakonitz Strakonitz (tsch. Strakonice) 917 Stralsund 353, 565 Strasbourg → Straßburg Straßburg (franz. Strasbourg) 168, 5�6f. Strehlen (poln. Strzelin) 642 Stříbro → Mies Strigonium → Gran Strzelin → Strehlen Strzelno 797 Stuhlweißenburg (ung. Székesfehérvár) 35, 58, 21�, 535–537 Suceava (poln. Suczawa) 26�, 6�9, 652–658, 661–66�, 736 Suceviţa 338 Suczawa → Suceava Sümeg → Schimeck Şumuleu Ciuc → Schomlenburg Svídnice → Schweidnitz Świdnica → Schweidnitz Szabolcs 195, 545 Szakolcza → Skalitz Szamosújvár → Armenierstadt Szászbudak → Deutsch Budak Szászfehéregyháza → Deutsch Weißkirch Szászhermány → Honigberg Szászkézd → Keisd Szászsebes → Mühlbach Szászvár → Schossberg Szászvaros → Broos Szatmár 195, 712, 93� Szavaszentdemeter → Sremska Mitrovica Szczecin → Stettin Szczecinek → Neustettin Szczepanów 271f., 55� Szczytno → Ortelsburg Szeben → Hermannstadt Szeged (rum. Seghedin, serb. Segedin) 551, 83�, 836, 935 Székelyderzs → Dersch Székelyzsombor → Sommerburg Székesfehérvár → Stuhlweißenburg Szendrő 833 Szentbenedek → Mănăstirea Szentgotthárd → Sankt Gotthard/Mogersdorf Szepes-Csütörtökhely → Donnersmark Szibiel → Budenbach Szigetvár (veraltet Sigeth, serb. Siget) 815, 865– 872

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Szoboszló 713 Szombathely → Steinamanger Szprotawa → Sprottau T Tabor (tsch. Tábor) 367, 6�1, 6�� Tábor → Tabor Taganrog 10 Tallinn → Reval Tállya 372 Tălmaciu → Talmesch Talmesch (rum. Tălmaciu, ung. Nagytalmács) 335, 343 Tannenberg (poln. Stębark) 92, 9�, 96f., 273, 285, 515, 612, 621, 799 Târgovişte 18, 100–103, 106 Târgu Mureş → Neumarkt am Mieresch Tarnopol → Ternopiľ Tărnovo (auch Veliko Tărnovo, türk. Tırnovo) �0, 100, 106, 183, 260–263, 265, �55, �76, �87, 593, 652 Tartlau (rum. Prejmer, ung. Prázsmár) 336, 3��, 346 Tekirdağ 872 Telšiai 223, �2� Temesvár → Temeswar Temeswar (rum. Timişoara, ung. Temesvár) 58, 187, �01, 5�7, 5�9, 551, 931 Tenkitten (russ. Letnoe) 513, 516–518 Terebovlja (poln. Trembowla) 676 Ternopiľ (poln. Tarnopol, russ. Ternopoľ) 7� Ternopoľ → Ternopiľ Teschen (poln. Cieszyn, tsch. Česk� Těšín) 366, 38�, 386f., 389–391, 702, 717, 962, 966 Tetín 501f. Theben → Devín Thessaloniki → Saloniki Thorenburg (rum. Turda, ung. Torda) 87�, 876– 880 Thorn (poln. Toruń) 92, 127, 392, 517, 61�, 889, 891f. Tighina → Bender Timişoara → Temeswar Timmendorf 682 Tîrgu Mureş → Neumarkt am Mieresch Tismana 99, 219 Tırnovo → Tărnovo Tobitschau (tsch. Tovačov) 718 Törcsvár → Törzburg

Ortsregister Torda → Thorenburg Toronto 581 Toruń → Thorn Törzburg (rum. Bran, ung. Törcsvár) 310 Tovačov → Tobitschau Trabzon (deutsch für die byz. Stadt: → Trapezunt) 872 Trapezunt (griech. Trapezunta, türk. Trabzon) 6�9f., 652f., 657, 872 Trapezunta → Trapezunt Trebnitz (poln. Trzebnica) 599–605 Trembowla → Terebovlja Trenčín → Trentschin Trencsén → Trentschin Trento → Trient Trentschin (slow. Trenčín, ung. Trencsén) 212, 925 Treptow an der Rega (poln. Trzebiatów) 350, 568, 678f., 682 Trianon 61, 172, 5�9, 551, 713, 851, 855f., 861, 936 Tribsees 571 Trient (ital. Trento) 150, 15�, 8�3, 887 Triest (ital. Trieste) 926, 966 Trieste → Triest Trnavá → Tyrnau Troppau (tsch. Opava) 390, �00, 717, 723 Trzebiatów → Treptow an der Rega Trzebnica → Trebnitz Trzemeszno 797 Tschakturn 870 Tschanad (veraltet auch Maroschburg, rum. Cenad, serb. Čanad, ungar. Csanád) 21, 321, 535, 544–549, 551 Tschenstochau (poln. Częstochowa) 115, 136– 1�5, �39–��2, ��5f., 718, 785, 788, 790, 798, 800, 807 Tschernobyl (russ. Černobyľ, ukr. Čornobyľ) 39 Tübingen 2��, 363, 983 Turda → Thorenburg Turia de Jos → Altorja Türje 430f. Turnişor → Neppendorf Twardocice → Harpersdorf Tyrnau (slow. Trnavá, ung. Nagyszombat) 34, 1�9–155, 161, 203, 206, 211f., 217, 320f., 3�3 U Ueckermünde 566 Uherské Hradiště → Ungarisch Hradisch

Uhersk� Brod → Ungarisch Brod Uila → Weilau Ungarisch Brod (tsch. Uhersk� Brod) 699f., 70� Ungarisch Hradisch (tsch. Uherské Hradiště) �80, �83 Ungvár → Užhorod Uničov → Mährisch Neustadt Urach 244 Üsküp → Skopje Utrecht 927 Užgorod → Užhorod Užhorod (russ. Užgorod, ung. Ungvár) 197, 898 V Vác → Waitzen Vad 215f., 219 Vajdahunyad → Eisenmarkt Vajola → Weilau Valea Viilor → Wurmloch Vambeřice → Albendorf Vámospércs 713 Várad → Wardein Varasd → Warasdin Varaždin → Warasdin Varna → Warna Vasvár → Eisenburg Velehrad (ev. das großmährische Veligrad) 22f., 27f., 30, 60, �73, �79–�85, �89 Veligrad → Velehrad Veliko Tărnovo → Tărnovo Velká Lhota → Groß Lhota Venedig (ital. Venezia) �, 92, 188, 2�6, 25�, �62, �77f., 5��, 5�6f., 5�9, 551, 629, 651, 817f., 908, 932, 936 Venezia → Venedig Verdasio 200 Versecz → Vršac Veszprém → Weszprim Vicebsk → Witebsk Vidin (rum. Diiu, türk. Vidin) 103, 106f., 932 Világos → Hellburg Vilnius → Wilna Viľnja → Wilna Viľnus → Wilna Viscri → Deutsch Weißkirch Visoko 627 Vitebsk → Witebsk Viterbo 600 Vízakna → Salzburg in Siebenbürgen

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Ortsregister Vizsoly 372–376 Volodymyr (poln. Włodzimierz Wołyński) 726, 898 Volovăţ 66� Voroneţi 338 Voskopoje (griech. Moschopolis) �78 Vračar 59�–596 Vršac (ung. Versecz) 187 Vyšehrad → Wyschehrad W Waitzen (ung. Vác) 321 Wambierzyce → Albendorf Warasdin (kroat. Varaždin, ung. Varasd) 905f., 908 Wardein (rum. Oradea, ung. Várad, Nagyvárad) 321, 325, 709, 712, 83�, 836 Warna (bulg., türk. Varna) 272, 27�, 286, 806, 812, 833–836 Warschau (poln. Warszawa) 96, 122, 133, 138, 1�3f., 272–27�, 358, 382, �01, �11, ��5f., 528, 621f., 73�, 78�–787, 799f., 811, 883, 886–89�, 902f. Warszawa → Warschau Wartha (poln. Bardo) 17�, 176–180 Węgorzewo → Angerburg Weilau (rum. Uila, ung. Vajola) 3�7 Weimar 177, 352 Weinberg (rum. Dealul Viilor) 181 Weißbrunn → Wesprim Weißenburg (Karlsburg, auch Alba Carolina, Apulum, rum. Alba Iulia, ung. Gyulafehérvár) 212f., 215, 31�–322, 328, 876, 939–9��, 9�6, 9�8–952 Wernstein am Inn 398 Wesprim (Weißbrunn, ung. Veszprém) 33, 67 Wien 24, 55, 60, 92, 95, 100, 111, 139, 149, 151– 153, 159, 161, 163f., 171, 176, 188f., 195–198, 200, 203–205, 211f., 217, 2��, 273, 298–300, 320, 326, 328, 339, 389, 397–�05, �32, �36, ��5, �68, �78f., �96, 505f., 537, 550, 556, 6�2, 658, 666, 686, 700, 709–711, 718–720, 722f., 733f., 751, 75�f., 757, 762, 808, 816, 852, 859, 867f., 900, 905f., 908, 910, 918, 920, 92�, 927, 931, 933f., 936, 9�0–9�2, 9�5, 9�8, 951, 957, 969f., 980, 982, 986 Wiesa → Niederwiese Wieża → Niederwiese Wiłkomierz → Wilkomir

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Wilkomir (poln. Wiłkomierz) 286 Wilkowiecko 555 Wilna (lit. Vilnius, poln. Wilno, russ. Viľnus, weißruss. Viľnja) 83, 91, 122, 128, 131, 280f., 377–382, �10–�16, �18, �25f., 557, 559, 652, 726, 728f., 735, 885, 887, 889f. Wilno → Wilna Wilsnack 638 Witebsk (poln. Witebsk, russ. Vitebsk, weißruss. Vicebsk) 281, 576, 579, 581, 727, 730, 73�, 898 Wittenberg 168, 306, 322, 3�2, 351f., 357, 361, 363, 372, 678–682, 852, 866f. Włocławek → Leslau Włodzimierz Wołyński → Volodymyr Wohlau (poln. Wołów) 955 Wolgast 350, 352, 354, 562 Wolin → Wollin Wollin (poln. Wolin) 51�, 561, 566, 569, 678, 682f. Wołów → Wohlau Worms 327, 561, 813 Wrocław → Breslau Wurmloch (rum. Valea Viilor, ung. Nagybaromlak) 344, 346 Würzburg 562 Wyschehrad (tsch. Vyšehrad) 8�0 Y Youngstown, Ohio 688 Z Zadar (ital. Zara) 237, 2�6, �35, �59–�63, �65, �67 Żagań → Sagan Zagreb → Agram Zalavár 71 Žalgiris → Grunwald Zamość 737, 899 Zara → Zadar Zaragoza → Saragossa Żarnowiec 286 Zator 620 Zboriv (poln. Zborów) 899 Zborów → Zboriv Zdounek (tsch. Zdounky) 717 Zdounky → Zdounek Ženavci → Jennersdorf Zenta (serb. Senta) 196, 931f., 934, 936f.

Ortsregister Zgorzelec → Görlitz Ziębice → Münsterberg Žiežmariai (poln. Żyżmory) 281 Zirkwitz (poln. Cerkwica) 56�, 568 Zittau 366 Żółkiew → Žovkva

Žovkva (poln. Żółkiew, russ. Nesterov) 657 Žumberak → Sichelberg Zürich 363, 927 Žydačiv (poln. Żydaczów) 676 Żydaczów → Žydačiv Żyżmory → Žiežmariai

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