Reformatio viva.: Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag 9783883095790, 3883095796

Das berufliche Wirken von Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth war zutiefst durch seine lutherische Identität geprägt. I

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Titelei
Impressum
Inhaltsverzeichnis
Vorwort
Helge Adolphsen: Predigt zum Reformationstag in der Predigtreihe „Lutherlieder“ „Aus tiefer Not schrei ich zu dir…“ (EG 299)
Dieter Andresen: Predigt am Reformationstag in Tinglev am 31.10.1999, Sektion „Schule und Kirche“
Jürgen F. Bollmann: Predigt am Reformationsfest am 4. November 2007 in der St. Johanniskirche der Ev.-Luth. St. Trinitatis-Kirchengemeinde zu Hamburg-Harburg über Jesaja 62,6-7.10-12
Kay-Ulrich Bronk: Andacht bei der Synode des Kirchenkreises Nordfriesland am 31. Oktober 2009 im Theodor-Schäfer-Berufsbildungswerk in Husum
Michael Bruhn: Dialogpredigt zum Reformatorischen Handwerkermarkt im St. Johanniskloster Schleswig am Reformationstag 2006
Johann-Hinrich Claussen: Kurze Ansprache in einer Abendandacht zum Reformationstag
Axel Denecke: Reformationspredigt am 31.10.20071 über Jesaja 62, 6-9
Jörg Denke: Taufpredigt am Reformationstag 1999 in der St. Andreas-Kirche in Weddingstedt
Donata Dörfel: Prédication au Centre paroissial de Chênepour la fête de la réforme 2007
Heide Emse: Predigt zum Reformationstag 1995 im Rahmen eines Gottesdienstes für die Oberstufe des Gymnasiums Großhansdorf
Peter Fenten: Predigt am Reformationstag 1992 in der Universitäts-Kirche in Kiel
Katrin Gelder: Andacht zu Beginn des Sprengelpröpste-Konventes Hamburg am 3. November 1999
Horst Gloy: Predigt im Rahmen des Festgottesdienstes zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Vereinigung evangelischer Religionslehrer in Hamburg e.V. am Reformationstag 1992 in der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg
Detlef Görrig: Predigt am 31. Oktober 2002 in der Katholischen Kirchengemeinde St. Paulus-Augustinus in Hamburg
Hans-Christoph Goßmann: Predigt am Reformationstag 2006 in der St. Martins-Kirche in Tellingstedt
Uta Grohs: Predigt am 1. November 2002
Hans-Martin Gutmann: Die Stadt zwischen Gewalt und Geborgenheit – Jesu Klage über Jerusalem Predigt über Matthäus 23,37-39
Wolf-Dieter Hauschild (†): Predigt am Reformationsfest 2004 in der Universitätskirche Münster über Römer 3, 21-28
Christoph Huppenbauer: Solus Christus Reformationsgottesdienst in Brunstorf am 31. Oktober 2005
Claus Jürgensen: Reformationsgottesdienst für die Schulen der Insel Nordstrand am 31. Okt. 1966 in der Kirche zu Odenbüll über Markus 2, 23-28
Knut Kammholz: Predigt über Matthäus 5,2-10 gehalten in der St. Georg-Kirche in Oeversee in einem Reformationsgottesdienst am1. November 2009 zum Abschluss der Klausurtagung des Kirchenkreisvorstandes Rendsburg-Eckernförde.
Anton Knuth: Predigt zum Reformationstag 31.10.2006 in der Rellinger Kirche
Rüdiger Kreutz: Gedenktag der Reformation 2005 in der St. Anschar-Kirche zu Hamburg Predigt über Matthäus 10, Verse 26 b - 33
Reinhold Liebers: Predigt am Reformationstag 2000 über Galater 5, 1-6 in Neumünster-Gadeland
Joachim Liß-Walter: Predigt am Reformationstag über Römer 7, 14 – 25a, in der Ansgarkirche und der Pauluskirche in Kiel
Hans Lorenzen: Predigt am Reformationstag 2009 in der St. Secundus-Kirche in Hennstedt
Friedemann Maagard: Predigt am 1. November 2009 in Breklum über Matthäus 5, 2-10
Jochen Müller-Busse: Predigt am 1. November 2009 in Leezen
Götz-Volkmar Neitzel: Predigt am Reformationstag 2001 in der St. Johannis-Kirche zu Hamburg-Curslack über Jesaja 62, 6-7.10-12
Redlef Neubert-Stegemann: „Ich sitze hier und trink mein Wittenbergisch´ Bier – und derweil läuft das Evangelium um die Welt.“ Ansprache zum Reformationsfest 2009
Karsten Petersen: Predigt am Reformationstag 2008 in der Auferstehungskirche Ellenberg, zugleich ein Beitrag der Kirchengemeinde Kappeln zum Bugenhagenjahr 2008
Andreas Schulz-Schönfeld: Predigt am 4. November 2007 über Micha 6, 6-8 Gehalten in der Johanneskirche in Hamburg-Eidelstedt, die sich seit Juni 2006 gemeinsam mit den drei weiteren Gemeinden des Stadtteils zur Kirchengemeinde Eidelstedt zusammengeschlossen hat. Für Pastor Andreas Schulz-Schönfeld war dies zugleich der Abschiedsgottesdienst nach neunjähriger Tätigkeit aus der Johanneskirche/Kirchengemeinde Eidelstedt.
Monika Schwinge: Todesangst und Lebenshoffnung. Luthers Vermächtnis an uns - Predigt am Reformationstag 2007
Jutta Selbmann: Predigt am Reformationstag 2005 in Groß Rheide und Owschlag über Matthäus 10, 26b – 33
Jörgen Sontag: Predigt zum Reformationstag am 1. November 1964 Gehalten in der Koppelsberg-Kapelle im Rahmen einer Studientagung für Oberstufenschüler (Thema: „Das Glaubensbekenntnis“) und mit vielen anderen Jugendlichen, die das Wochenende auf dem Koppelsberg verbracht haben.
Oliver Stabenow: Andacht zum Reformationstag 2008 in der Mitarbeiterbesprechung im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) Kiel
Johann Anselm Steiger: Gerechtigkeit Gottes – das süßeste Wort Predigt am Reformationstag 2003
Christoph Störmer: Reformationspredigt 2008 in Rahden
Klaus Struve: Predigt am 18. Februar 1996 (Sonntag Estomihi)
Hans-Günther Waubke: Predigt über Römer 3,21-28 in der Christophoruskirche in Bergedorf am 2. November 2008 (24. Sonntag nach Trinitatis)
Michaela Will: „Daß geistliche Lieder singen, gut und Gott angenehm sei“ Martin Luther als Begründer des deutschen evangelischen Kirchenliedes Predigt am 1. Juli 2007 in der St. Martins-Kirche in Tellingstedt
Thomas Schleiff: Das himmlische Eintrittsgeld
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Reformatio viva.: Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag
 9783883095790, 3883095796

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Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.)

Das berufliche Wirken von Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth war zutiefst durch seine lutherische Identität geprägt. In den verschiedenen kirchlichen Ämtern, die er innehatte, hat er immer wieder deutlich gemacht, wie wichtig die Theologie Martin Luthers für eine Kirche ist, die sich auf diesen Reformator beruft: als Pastor in Kiel, als Referent der Kirchenleitung, als Studienleiter im Predigerseminar, als Referent für Theologische Grundsatzfragen im Lutherischen Kirchenamt, als Propst des Kirchenkreises Eckernförde, als Bischof im Sprengel Schleswig der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, als Vorsitzender der Kirchenleitung und als Leitender Bischof der VELKD verstand er es immer wieder deutlich zu machen, wie wichtig die konfessionelle Identitätswahrung für lutherische Kirchen ist. Dabei ist es ihm immer wichtig gewesen, dass lutherische Identität nicht nur kirchliches Handeln auf den verschiedenen Leitungsebenen der Kirche prägt, sondern auch und vor allem an der kirchlichen Basis, in den Gemeinden. Diese lutherische Prägung kommt in sämtlichen Arbeitsfeldern der Gemeinde zum Tragen. Der Ort im Kirchenjahr, an dem sie in besonderer Weise reflektiert wird, ist der Reformationstag. Diesem Engagement von Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth entspricht diese Festschrift zu seinem siebzigsten Geburtstag: Pastorinnen und Pastoren, Pröpstinnen und Pröpste, Hauptpastoren, Leiter kirchlicher Werke und Theologieprofessoren haben ihm Predigten, Ansprachen und Andachten zum Reformationstag oder mit der besonderen Schwerpunktsetzung auf lutherische Identität gewidmet.

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.) • Reformatio viva

3

Reformatio viva Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag

ISBN 978-3-88309-579-0

Verlag Traugott Bautz GmbH

Reformatio viva

Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie

herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann

Band 3

Verlag Traugott Bautz

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.)

Reformatio viva

Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag

Verlag Traugott Bautz

Bibliografische Information Der Deutschen Bibliothek Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.

Verlag Traugott Bautz GmbH 99734 Nordhausen 2010 ISBN 978-3-88309-579-0



 Foto: NMZ-Bildarchiv

Inhaltsverzeichnis Hans-Christoph Goßmann Vorwort

13

Helge Adolphsen Predigt zum Reformationstag in der Predigtreihe „Lutherlieder“ „Aus tiefer Not schrei ich zu dir…“ (EG 299) 15 Dieter Andresen Predigt am Reformationstag in Tinglev am 31.10.1999, Sektion „Schule und Kirche“

21

Jürgen F. Bollmann Predigt am Reformationsfest am 4. November 2007 in der St. Johanniskirche der Ev.-Luth. St. Trinitatis-Kirchengemeinde zu Hamburg-Harburg über Jesaja 62,6-7.10-12 29 Kay-Ulrich Bronk Andacht bei der Synode des Kirchenkreises Nordfriesland am 31. Oktober 2009 im Theodor-Schäfer-Berufsbildungswerk in Husum

35

Michael Bruhn Dialogpredigt zum Reformatorischen Handwerkermarkt im St. Johanniskloster Schleswig am Reformationstag 2006

43

Johann-Hinrich Claussen Kurze Ansprache in einer Abendandacht zum Reformationstag

49

Axel Denecke Reformationspredigt am 31.10.2007 über Jesaja 62, 6-9

53

8

Jörg Denke Taufpredigt am Reformationstag 1999 in der St. Andreas-Kirche in Weddingstedt 63 Donata Dörfel Prédication au Centre paroissial de Chêne pour la fête de la réforme 2007

69

Heide Emse Predigt zum Reformationstag 1995 im Rahmen eines Gottesdienstes für die Oberstufe des Gymnasiums Großhansdorf

75

Peter Fenten Predigt am Reformationstag 1992 in der UniversitätsKirche in Kiel

83

Katrin Gelder Andacht zu Beginn des Sprengelpröpste-Konventes Hamburg am 3. November 1999

89

Horst Gloy Predigt im Rahmen des Festgottesdienstes zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Vereinigung evangelischer Religionslehrer in Hamburg e.V. am Reformationstag 1992 in der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg 95 Detlef Görrig Predigt am 31. Oktober 2002 in der Katholischen Kirchengemeinde St. Paulus-Augustinus in Hamburg

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Hans-Christoph Goßmann Predigt am Reformationstag 2006 in der St. Martins-Kirche in Tellingstedt

113

Uta Grohs Predigt am 1. November 2002

117

Hans-Martin Gutmann Die Stadt zwischen Gewalt und Geborgenheit – Jesu Klage über Jerusalem Predigt über Matthäus 23,37-39

121

Wolf-Dieter Hauschild (†) Predigt am Reformationsfest 2004 in der Universitätskirche Münster über Römer 3, 21-28

129

Christoph Huppenbauer Solus Christus Reformationsgottesdienst in Brunstorf am 31. Oktober 2005

139

Claus Jürgensen Reformationsgottesdienst für die Schulen der Insel Nordstrand am 31. Okt. 1966 in der Kirche zu Odenbüll über Markus 2, 23-28

143

Knut Kammholz Predigt über Matthäus 5,2-10 gehalten in der St. Georg-Kirche in Oeversee in einem Reformationsgottesdienst am 1. November 2009 zum Abschluss der Klausurtagung des Kirchenkreisvorstandes Rendsburg-Eckernförde.

149

10

Anton Knuth Predigt zum Reformationstag 31.10.2006 in der Rellinger Kirche 155 Rüdiger Kreutz Gedenktag der Reformation 2005 in der St. Anschar-Kirche zu Hamburg Predigt über Matthäus 10, Verse 26 b - 33

161

Reinhold Liebers Predigt am Reformationstag 2000 über Galater 5, 1-6 in Neumünster-Gadeland

165

Joachim Liß-Walter Predigt am Reformationstag über Römer 7, 14 – 25a, in der Ansgarkirche und der Pauluskirche in Kiel

171

Hans Lorenzen Predigt am Reformationstag 2009 in der St. Secundus-Kirche in Hennstedt

179

Friedemann Maagard Predigt am 1. November 2009 in Breklum über Matthäus 5, 2-10 183 Jochen Müller-Busse Predigt am 1. November 2009 in Leezen

189

Götz-Volkmar Neitzel Predigt am Reformationstag 2001 in der St. Johannis-Kirche zu Hamburg-Curslack über Jesaja 62, 6-7.10-12

195

11

Redlef Neubert-Stegemann „Ich sitze hier und trink mein Wittenbergisch´ Bier – und derweil läuft das Evangelium um die Welt.“ Ansprache zum Reformationsfest 2009

201

Karsten Petersen Predigt am Reformationstag 2008 in der Auferstehungskirche Ellenberg, zugleich ein Beitrag der Kirchengemeinde Kappeln zum Bugenhagenjahr 2008

213

Andreas Schulz-Schönfeld Predigt am 4. November 2007 über Micha 6, 6-8

219

Monika Schwinge Todesangst und Lebenshoffnung. Luthers Vermächtnis an uns Predigt am Reformationstag 2007

227

Jutta Selbmann Predigt am Reformationstag 2005 in Groß Rheide und Owschlag über Matthäus 10, 26b – 33 235 Jörgen Sontag Predigt zum Reformationstag am 1. November 1964 Gehalten in der Koppelsberg-Kapelle im Rahmen einer Studientagung für Oberstufenschüler (Thema: „Das Glaubensbekenntnis“) und mit vielen anderen Jugendlichen, die das Wochenende auf dem Koppelsberg verbracht haben.

243

Oliver Stabenow Andacht zum Reformationstag 2008 in der Mitarbeiterbesprechung im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) Kiel 253

12

Johann Anselm Steiger Gerechtigkeit Gottes – das süßeste Wort Predigt am Reformationstag 2003

257

Christoph Störmer Reformationspredigt 2008 in Rahden

267

Klaus Struve Predigt am 18. Februar 1996 (Sonntag Estomihi)

277

Hans-Günther Waubke Predigt über Römer 3,21-28 in der Christophoruskirche in Bergedorf am 2. November 2008 (24. Sonntag nach Trinitatis)

283

Michaela Will „Daß geistliche Lieder singen, gut und Gott angenehm sei“ Martin Luther als Begründer des deutschen evangelischen Kirchenliedes Predigt am 1. Juli 2007 in der St. Martins-Kirche in Tellingstedt 291

Statt eines Nachwortes: Thomas Schleiff Das himmlische Eintrittsgeld

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Vorwort Blicken wir auf das berufliche Wirken von Bischof Dr. Hans Christian Knuth zurück, so wird deutlich, wie tief dieses durch seine lutherische Identität geprägt war. Bereits in seinem Studium hatte er durch seinen theologischen Lehrer Gerhard Ebeling einen tiefen Zugang zu Luthers Theologie bekommen. Im Rahmen seiner Dissertation über die Auslegungsgeschichte von Psalm 6 legte er einen Schwerpunkt auf die Theologie Martin Luthers: Das Kapitel, indem er dessen Interpretation dieses Psalms dargestellt hat, hat einen Umfang von 240 Seiten - der Beginn einer lebenslangen Leidenschaft. In den verschiedenen kirchlichen Ämtern, die Hans Christian Knuth innehatte, hat er immer wieder deutlich gemacht, wie wichtig die Theologie Martin Luthers für eine Kirche ist, die sich auf diesen Reformator beruft: als Pastor in Kiel, als Referent der Kirchenleitung, als Studienleiter im Predigerseminar, als Referent für Theologische Grundsatzfragen im Lutherischen Kirchenamt, als Propst des Kirchenkreises Eckernförde, als Bischof im Sprengel Schleswig der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche, als Vorsitzender der Kirchenleitung und als Leitender Bischof der VELKD verstand er es immer wieder deutlich zu machen, wie wichtig die konfessionelle Identitätswahrung für lutherische Kirchen ist. Dabei ist es ihm immer wichtig gewesen, dass lutherische Identität nicht nur kirchliches Handeln auf den verschiedenen Leitungsebenen der Kirche prägt, sondern auch und vor allem an der kirchlichen Basis, in den Gemeinden. Diese lutherische Prägung kommt in sämtlichen Arbeitsfeldern der Gemeinde zum Tragen. Der Ort im Kirchenjahr, an dem sie in besonderer Weise reflektiert wird, ist der Reformationstag. Und so haben Pastorinnen und Pastoren, Pröpstinnen und Pröpste, Hauptpastoren und Leiter kirchlicher Werke zum siebzigsten Geburtstag von Bischof Dr. Hans Christian Knuth ihm Predigten, Ansprachen und Andachten zum Reformationstag oder mit der besonderen Schwerpunktsetzung auf lutherische Identität gewidmet. Dass drei Theologieprofesso-

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ren, Prof. Dr. Hans-Martin Gutmann und Prof. Dr. Johann Anselm Steiger von der Universität in Hamburg und Prof. em. Dr. Wolf-Dieter Hauschild (†) von der Westfälischen Wilhelms-Universität Münster, sich ebenfalls mit je einer Predigt beteiligen, zeigt die Verbindung Knuths zu den Theologischen Fakultäten, die ihm immer wichtig gewesen ist. Mein Dank gilt all denjenigen, die Texte für dieses Buch bereitgestellt haben, die ursprünglich nicht für eine Publikation in schriftlicher Form konzipiert waren. Darüber hinaus danke ich Frau Ulla Wieckhorst, die sich in bewährter Weise um das Korrekturlesen verdient gemacht hat. Hamburg, zu Ostern 2010

Hans-Christoph Goßmann

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Helge Adolphsen

Predigt zum Reformationstag in der Predigtreihe „Lutherlieder“ „Aus tiefer Not schrei ich zu dir…“ (EG 299) Luther hat viele Lieder gedichtet und komponiert. Er war ja sehr musikalisch und spielte Laute. Heute nun eine Predigt über das Lied „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen“. Wie bei seinem bekanntesten Lied „Ein feste Burg ist unser Gott...“ dient ihm ein Psalm als Vorlage, der Psalm 130, ein Wallfahrtslied und zugleich der 6. Bußpsalm. Der passt gut zum Reformationstag. Luther macht aus einem ursprünglichen Lied, zu dem wir keine Noten mehr haben, ein neues Lied. Und ich mache daraus eine Predigt. Luther und unsere Kirchenmusiker wollen schließlich auch mit ihrer Musik verkündigen. Musik in der Kirche ist mehr als Kunst. Sie ist Verkündigung. Beim Nachdenken über dieses Lied habe ich drei Entdeckungen gemacht. Es ist ja immer interessant und spannend, auf Neues zu stoßen. Der erste Hinweis: Über dieses Lied gibt es keine Auslegung und Predigten. Über andere Lieder von Luther sehr viele. Ist es zu düster? Wird da zu viel von Not und Sünde gehandelt? Das schreckt offensichtlich ab. Der zweite Hinweis: Wenn es gesungen wird, dann nur in Bußzeiten, wie z.B. in der Passionszeit oder am Buß- und Bettag. Früher gab es sehr viel mehr Buß- und Fastenzeiten, heute nur noch zwei: sieben Wochen Passions- und vier Wochen Adventszeit. Wenn das Lied heute erklingt, dann ist das ein Hinweis darauf, dass es in dieser Zeit nach wie vor nicht nur um das

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Abspecken, um den Verlust von ein paar Pfunden durch eine Nulldiät geht. Fasten und Buße dienen dazu, den inneren Haushalt aufzuräumen und die Freiheit durch die Konzentration auf die geistigen Kräfte und das Leben in Gottes Gegenwart tiefer zu erfahren. An Luthers erste von 95 Thesen sei erinnert: „Das ganze Leben sei eine Buße“. Der dritte Hinweis: Eine junge Frau sagte mir: „Nicht schon wieder solche dunklen und schweren Töne! In der Kirche wird viel zu viel von Schuld und Sünde geredet. Das drückt auf die Stimmung. Kirche soll erheben und positive Botschaften bieten. Der Alltag ist heute mühsam genug.“ Ja, wenn’s so leicht wäre, das Lebensgefühl zu verändern! Aber aus dem Klagen wird nicht flugs Festfreude, aus Jammertälern, randvoll gefüllt mit Verunsicherungen und Zukunftssorgen, kein Paradies, kein „immer heiter und Gott hilft weiter“. Man kann ja auch nicht „hurtig“ trösten. Vor Oberflächlichkeit und Heile-Welt-Spielen schrecke ich zurück. Das ist mir zu billig. Im Übrigen finde ich, dass viel zu viele in die Breite statt in die Tiefe gehen. Wir zerfaserten und auseinander gewirbelten Menschen brauchen Kräfte, die uns innere Ganzheit und Einheit schenken. Wir, die wir orientierungslos in einer Welt beliebiger Meinungen herumexperimentieren, brauchen die Tiefe eines Bewusstseins, aus der uns Richtung, Weg und Ziel erwachsen. „Aus tiefer Not schrei ich zu dir, Herr Gott, erhör mein Rufen.“ Interessant, wie Luther in der ersten Zeile den Psalm 130 verändert. „Aus der Tiefe“ wird bei ihm „Aus tiefer Not“. Das persönliche Moment, das „Ich“, übernimmt er aus dem Psalm. Die persönlichste und tiefste Sprache des Menschen ist die Sprache des Gebets, das Zwiegespräch mit Gott. Es führt nämlich heraus aus allen Selbstgesprächen und allen Kreisen um sich selbst. Für Luther war das die tiefste Not: Alles in sich reinfressen, stumm werden vor Verzweiflung, in Schrecken und Angst verzagen, nur noch sich selbst haben. Das macht so schrecklich einsam.

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Luther geht noch mehr in die Tiefe. Aus „rufen“ wird bei ihm „schreien“. Ungewohnt vielleicht für manche, dass man zu Gott ziemlich unvornehm und respektlos schreien darf. Würden das Stummgemachte, Verschlossene, die, die sich ihrer Gefühle schämen, tun, sie würden schon den Anfang vom Ende der inneren Not spüren. „Schrei, wenn du kannst“ ist eben nicht nur ein Filmtitel früherer Jahre. Gott hält das Schreien, das Klagen und alle Aggressionen aus, die aus den tiefsten Tiefen der Seele aufsteigen. Weder ihm noch den Betern ist Menschliches fremd. Offen bleibt, worin die Not besteht. Ist es eine Krankheit, ein Schicksalsschlag? Sind es Armut, Scheitern, ein schlechtes Gewissen, das Bohren von Schuld, der Überdruss am Leben? Sind es Selbsttötungsgedanken? Alles ist möglich. Aber Luther gräbt wiederum noch tiefer. Die Not liegt in der Sünde. Er sieht nicht nur auf die eigenen Nöte. Auch nicht auf die Angst vor einem Gott, der die Sünde bestraft. Keine Rede hier von einem zürnenden und harten Gott. Luthers Blick geht nach draußen in die Welt und in die Verhältnisse. Die zeigt er Gott: „Denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan, wer kann, Herr, vor dir bleiben?“ Denken Sie dabei an die Zwänge, in denen wir tief drinstecken. Kinder, die trotz Behütung und bestem Willen völlig aus dem Ruder laufen. Ehen, hoffnungsvoll begonnen, zerbrechen. Der Verkauf der Seele um kleiner Vorteile willen. Die Wirtschaft, die nur floriert, wenn die Aktien und Dividenden steigen, um den teuren, viel zu teuren Preis, dass dabei Menschen massenweise entlassen werden. Unternehmer, die mit dem Verkauf von Firmen Millionen verdienen. Kriege, weil die Menschen den Frieden nicht lernen oder weil Diktatoren korrupt und brutal sind. Das Böse in uns, das fortzeugend Böses gebiert... „Denn so du willst das sehen an, was Sünd und Unrecht ist getan...“ Luthers tiefste Überzeugung war diese: Sünde ist nicht nur ein Vergehen, nicht nur die Überschreitung der gesetzten Grenzen und Missachtung

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göttlicher Gebote. Sünde sind nicht die Tatsünden. Das Böse in uns ist eine Macht. Und die haben wir nicht im Griff. Es gibt eben kein Do-ityourself-Paradies. Erster und Zweiter Weltkrieg, Dresden, Auschwitz, Hiroshima und die Eskalation des Bösen im vergangenen Jahrhundert bieten dafür viel Anschauungsmaterial. Auch das Scheitern aller weltverbessernden Revolutionen macht uns bewusst: Das Böse ist kein behebbarer Strukturfehler der Gesellschaft, so dass ich nur auf die Löschtaste des Computers drücken muss, und es ist weg. Das Böse übt einen Zwang aus, aus dem ich mich nicht selbst befreien kann. Wir werden auch nicht gut, wenn wir wissen, was gut und recht ist. Das wäre so, als wenn ich sage: Ich schaffe den Regenschirm ab, dann wird es nicht mehr regnen. Was Luther hier allgemein und grundsätzlich über die Sünde sagt, ist sehr realistisch. Realismus ist das Gegenteil von Illusion. Illusionen machen sich viele. Realismus ist heilsam, auch wenn er vielleicht schwer auszuhalten ist. Diese Not klagt Luther Gott: „Wer kann, Herr, vor dir bleiben?“ Der Satz endet mit einem Fragezeichen. Die Antwort aber gibt die zweite Strophe: „Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben.“ Da schlägt das Herz Luthers: bei der Vergebung. Da ist er bei seinem und unserem Thema. Gnade und Gunst sind stärker als Sünde und Schuld. Das ist der Königsweg Gottes und des Glaubens. Darin liegt die Befreiung aus den Tiefen eines Lebens, das gefährdet ist durch die Macht des Bösen, die mit uns macht, was sie will und nicht, was wir wollen oder nicht wollen. Luther bietet die Macht der Gnade als Macht der Vergebung gegen die eigene Macht auf: „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist viel mehr Gnade; sein Hand zu helfen hat kein Ziel, wie groß auch sei der Schade.“ Wiederum bleibt er hier allgemein. Er führt nicht aus, wie die Gnade aussieht. Er sagt nicht, wodurch Vergebung und Befreiung geschieht.

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Das tut er sonst wortreich. Und sehr zentral. Dann verweist er immer auf das Kreuz Christi. Das Kreuz ist kein schreckliches und grausames Marterinstrument. Es ist auch kein Zeichen der Ohnmacht oder der Niederlage. An ihm wird die Macht einer Liebe sichtbar, die es mit der Macht der Sünde aufnimmt und sie besiegt. Das Kreuz ist ein Zeichen des Lebens und nicht des Todes. Und Gott ist kein strafender Gott. Er hasst die Sünde, aber er liebt den Sünder. Der Preis für diese Liebe ist hoch: Hingabe, die Christus den Tod kostet. Die Befreiung vom Zwang zum Bösen kommt von außen, nicht aus mir und nicht von mir. Sie wird mir geschenkt. Das meint der immer wiederkehrende Satz: „Christus ist für uns gestorben.“ So stark sind Gnade und Gunst, Zuwendung und Liebe Gottes, dass wir es nicht mehr nötig haben, sie zu erringen und alle Kräfte aufzubieten, um sie zu erreichen: „Es ist doch unser Tun umsonst, auch in den besten Leben.“ Nichts kann sich mehr zwischen Gott und mich schieben. Nichts kann uns mehr von seiner Zuwendung ausschließen. Nicht gute Taten, nicht höchste Anstrengungen, kein Programm, keine Partei, keine Appelle, doch endlich Frieden zu halten. Christsein meint in erster Linie nicht, ein anständiger Mensch sein, vielen Menschen helfen, Nächstenliebe üben. „Vor Gott sich niemand rühmen kann, des muss dich fürchten jedermann und deiner Gnade leben.“ Nimmt man das wahr und ernst, dann gilt nicht: „Hast du was, dann bist du was, hast du nichts, dann bist zu nichts.“ Dann entscheiden nicht mehr Jungsein über unsere Würde und unseren Wert. Nicht Starksein, Gesundsein, Arbeitskraft, Erfolg, gesellschaftliche Stellung, oben sein, Ellenbogenmentalität, Starkult, der Jahrmarkt der Eitelkeiten, Selbstverwirklichung. Nur dieses: Du bist schon angenommen. Du bist geliebt, ehe du selber liebst. Du bist geliebt, auch wenn dich niemand liebt. Du bist wer, denn du hast eine unverlierbare Würde durch und vor Gott.

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Würden wir das leben, gäbe es weniger graue Mäuse, weniger Menschen, die sagen: „Entschuldige, dass ich Christ bin. Entschuldige, dass ich lebe.“ Es gäbe weniger Geduckte und Verunsicherte. Wir haben unseren Wert in der Gesellschaft, weil unsere Würde vor Gott unabhängig ist von Leistung und Versagen und jenseits jeder Kosten-Nutzen-Rechnung gilt. Weil Gott uns um Christi willen bedingungslos und unwiderruflich annimmt, kann mich mein Vertrauen zu ihm zu einer starken und selbstbewussten Persönlichkeit machen. Das gilt auch, wenn andere mich ablehnen, mich übervorteilen, mich niedermachen oder mich für ihre Zwecke benutzen: „Bei dir gilt nichts denn Gnad und Gunst, die Sünde zu vergeben.“ Nun also fröhlich der Gnade Gottes gelebt! Wir werden weiter in Konflikte geraten. Wir werden weiter viel entscheiden müssen und dabei erleben, dass wir uns wieder die Hände schmutzig machen. Wir werden weiter Schuld auf uns laden. Dennoch: „Ob bei uns ist der Sünden viel, bei Gott ist vielmehr Gnade.“ Das Böse in uns und in der Welt wird nicht weggepustet. Wir bleiben Realisten. Hier gilt Luthers Wort: „Sündige tapfer, aber glaube um so mehr.“ Glaube erstens, dass du bedingungslos angenommen bist und deine unverlierbare Würde hast, die dir geschenkt ist. Und glaube zweitens, „dass Gottes Hand zu helfen kein Ziel hat, wie groß auch sei der Schade“. Zu einem Leben mit eigener und mit fremder Schuld, im Einverständnis mit mir selbst, mit anderen und mit Gott ist nichts hilfreicher als der Satz: „Auf Gott mein Herz soll lassen sich und seiner Güte trauen.“ Amen.

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Dieter Andresen

Predigt am Reformationstag in Tinglev am 31.10.1999, Sektion „Schule und Kirche“ Johannes 3,18: Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre. Liebe Gemeinde! Und wenn die Welt voll Teufel wär... so haben wir es am Anfang gesungen in Luthers berühmtem Lied. Für Luther war das keine offene Frage, kein Gedankenspiel, keine bloße Metapher. Dass es den Teufel gibt – höchst real und massiv – das hat er nicht nur vermutet, er hat es erlebt. Hinter allem, was ihn angefochten hat: Von Glaubenszweifeln bis zu Krankheiten und Depressionen – hinter allem, was ihn herunterzog, was ihm den Lebensmut und die Lebenskraft raubte, sah er den Teufel am Werk. Er war für ihn so allgegenwärtig – wie Gott! Luther sah sein eigenes Leben wie die Weltgeschichte im Ganzen als ständigen Kampf zwischen Christus und Satan. Mal gewinnt der eine an Boden, mal der andere. Und der Ausgang ist offen. Zwar kennt der Glaube den Sieger. Aber eben das ist die Strategie des Teufels, sein Meisterstück, dass er uns diesen Glauben kaputt machen will. Und oft genug hat er leider Erfolg damit. Sind das nun alles überholte Vorstellungen? „Finsteres Mittelalter?“ Ein verbiesterter Mönch, der sich mit Gespenstern herumschlägt? Es ist noch gar nicht so lange her, da mochte man „das Böse“ nur mit Anführungszeichen erwähnen. Da wollte man es aus der Welt weg erklären, es ableiten aus allen möglichen Ursachen: gesellschaftlich, psychologisch, kulturell. Das sogenannte Böse, so hieß mal ein Buchtitel (manche erinnern sich vielleicht). Nicht wahr? Konrad Lorenz und seine freundlichen Tiergeschichten von Graugänsen und Menschen! Und was sonst noch an

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Meinungen im Umlauf war über die Aggression und woher sie wohl kommt. Alles Theorie - Schnee von gestern! Heute ist eine andere Situation. Das Böse hat Konjunktur. Es gewinnt an Boden – in den MafiaPraktiken der Wirtschaft, im politischen Tagesgeschäft, im Dauergequatsche der Medien, im immer neuen, lustvollen Einreißen von Tabus, die schon längst keine mehr sind, im Sinken der Hemmschwelle für Gewalt, im Abbau von Anstand und zivilisierten Umgangsformen – überall richtet das Böse sich häuslich ein. Frech und dreist etabliert es sich als das Normale, an das wir uns gewöhnen sollen. Und die Einschüchterung funktioniert. Der Widerstand wird schwächer. Wer noch an die Spielregeln des Humanen erinnert, riskiert schon, als „Gutmensch“ verspottet zu werden. Nein, daran ist wohl kein Zweifel mehr möglich: das Böse existiert. Es bevölkert die Welt in zahllosen Masken und Verkleidungen. Schlimmer noch: es verkleidet sich oft gar nicht mehr, sondern outet sich – zynisch und offen. Weil es vom Erkanntwerden nichts mehr zu befürchten hat. Und wenn die Welt voll Teufel wär...? Leider kein Konjunktiv mehr, keine offene Frage – heute so wenig wie zu Luthers Zeit! Wir haben eben vier Anspiele der Jugendlichen gesehen, vier Beispiele, wie das Böse sich zeigen kann, zu Luthers Zeit und in unserm Alltag heute. Um den Ablass ging es in der ersten Szene, also um den großen Skandal, der zum Auslöser wurde für das, was wir Reformation nennen. Wir verstehen Luthers Empörung: was für ein schmutziges Geschäft! Was für eine Niedertracht, die Ängste und Schuldgefühle der Menschen auszubeuten! Ihnen weiszumachen, sie könnten sich mit Geld loskaufen von ihrem schlechten Gewissen, sich buchstäblich „einkaufen“ ins ewige Heil! Versicherungs-Policen für´s Jenseits. Seelenfrieden gegen cash – der Gipfel der Perversion! Und das alles aus durchsichtigen Interessen der Kirche: zur Finanzierung ihrer Großbauten und ihres Personals. Verständlich, der Zorn Luthers, ja. Doch was hat das Ganze mit uns zu tun? Wir leben doch in einer ganz anderen Welt, mit anderen Belastun-

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gen und anderem Problembewusstsein. Auf die Idee, sich für´s Jenseits zu versichern, kommt doch niemand von uns? Nein, wahrscheinlich nicht. Aber die Haltung, die dahinter steht, ist die nicht immer noch da? Das Streben nach Sicherheit, nach Entlastung, nach einem risikofreien Leben – liegt uns das wirklich so fern? Dass man für Geld alles haben kann, dass man (wie es im Anspiel hieß) ...durch Bezahlen ein besserer Mensch werden kann, das lehnen wir bewusst sicher ab. Unbewusst aber, in unseren Wünschen und Ängsten, da spielt es doch eine erhebliche Rolle. Da hat der Verdacht sich längst eingenistet: Ob diese Ansicht nicht doch recht hat? Es spricht so bedrückend vieles dafür: Der Volksmund in allen Sprachen plaudert es aus: „Geld macht nicht glücklich, aber es beruhigt“. „Money makes the world go round.“ „Hast du was, so bist du was!“ „Ohne Moos nix los!“ Oder auf plattdeutsch: „Hest du Geld, büst mi leev, hest du nix, büst ´n Sleef.“ „Wo Geld is, is de Düwel, un wo keen Geld is, dor is he tweemal.“ (Da haben wir ihn wieder, den Teufel! Wie gesagt: allgegenwärtig!) Geld ist Energie! konnte man kürzlich lesen. Wo? In einem BankenProspekt? Nein, in einer kirchlichen Broschüre zum Thema Fund-Raising. Ja, wenn das so ist – wer mag da noch gegenhalten? Das sind so Lebensweisheiten – nicht weit vom Zynismus, aber leider auch nicht weit von der Realität! In Redensarten, in der Werbung, der Unterhaltung, der öffentlichen Meinung – überall wird uns beigebracht: Zahlungsfähigkeit ist das erste Gebot, der Inbegriff aller Moral! Wer die gesellschaftlichen Standards nicht schafft, gilt als minderwertig. Er soll sich, bitte sehr, schuldig fühlen. Denn er hat sein Ansehen verspielt und das Recht auf freundliche Zuwendung verwirkt. Brutal und ungeschminkt spricht das z.B. aus einem Autoaufkleber, den ich neulich am Heckfenster eines Wagens der Spitzenklasse las: Eure Armut kotzt mich an! In solchen Sätzen hat das Böse die Maske abgelegt. Dann sind aber auch die Fronten geklärt. Wir feiern heute die Reformation, das heißt: die Neuentdeckung des Evangeliums, die wir Luther verdanken. In diesem Wort steckt das Gegenprogramm. Und wenn die Welt voll Teufel wär´, also auch: voll

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von Geld-Anbetung und zynischen Sprüchen – das Evangelium hält in aller Ruhe dagegen. Hier heißt es: Selig seid ihr Armen, denn euch gehört das Reich Gottes. Oder denken wir an das zweite Anspiel: Konsumterror. Auch hier sagt der Volksmund, wie es ist: Kleider machen Leute. (Wir kennen das Sprichwort). Also das outfit, die Verpackung, die Art, wie jemand sich inszeniert, sich „verkauft“, das soll den Wert eines Menschen ausmachen. Schüler in Markenklamotten, die über einen Mitschüler kichern, der unauffällig gekleidet ist. Da schert einer aus, erkennt die modischen Standards nicht an. Pfui über ihn! Er kann sich wohl nichts Besseres leisten, kann wohl nicht mithalten beim Run auf das jeweils Angesagte: Immer top sein, immer trendy – das schafft er wohl nicht! Und schon sind die Daumen gesenkt. Und die Clique hat wieder einen Anlass, sich toll zu fühlen, weil sie jemand ausgrenzen kann, der nicht zu ihr gehört. Mit dem man nicht reden muss, weil er eh den Durchblick nicht hat. Hören wir auch hier den Einspruch des Evangeliums: Sorgt euch nicht um euren Leib, was ihr anziehen werdet!... Seht euch die Lilien an! Sie tun nichts für ihr outfit, sorgen sich nicht um ihr image – sie sind einfach schön. Macht es wie sie! Kümmert euch nicht um Standards und Trends! Seid einfach die, die ihr seid, dann kommt die Aussenwirkung ganz von allein. Vom Kichern zum Mobbing ist es nicht weit – das Thema des dritten Anspiels. Da machen sich Schüler einen Spaß daraus, einen Mitschüler fertig zu machen. Ein trauriger, schäbiger Spaß! Aber was hier eingeübt wird, das setzt sich auf anderen Ebenen fort: im Büro, in der Firma, im Lehrerkollegium. Und das ist dann wirklich kein Spaß mehr. Da geht es um Konkurrenz, um den Arbeitsplatz – also auch wieder um Geld. Da steht die Existenz auf dem Spiel. Da heißt es: Flüchten oder Standhalten! Er oder ich! Ein uraltes, aber teuflisches Spiel. Die Bibel kennt es auch

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schon: das Hecheln und Hetzen hinter dem Rücken ebenso wie die offene Anmache. Wenn z.B. der Prophet Jeremia sagt: Ich höre das Lästern der Vielen: Grauen ringsum! Lasst uns ihn anzeigen! Meine nächsten Bekannten warten auf meinen Sturz: ´Vielleicht lässt er sich überlisten, dass wir ihm beikommen und uns an ihm rächen.’ Oder in einem Psalm: Meine Feinde reden Böses über mich: Wann stirbt er endlich? Wann vergeht sein Name? Noch viele Beispiele gibt es für Mobbing in der Bibel. Sehr realistisch! Sehr klar! Aber ebenso klar der Standpunkt des Evangeliums dazu. Jesus selbst hat ihn formuliert: Wer zu seinem Bruder sagt: „Du Narr! Du Dummkopf...“, der hat schon das Tötungsverbot übertreten. Mobbing als Vorstufe von Mord? Ja, genau das! So ernst ist die Sache. Und schließlich die andere Szene mit Luther, wo es um die Hauptsache geht, den Kern der „Frohen Botschaft“. Das war ja Luthers Endeckung, die ihn schlagartig frei machte vom Kampf und Krampf der Jahre vorher: dass ihm klar wurde: Vor Gott darf ich sein, der ich bin. Vor ihm muß ich mich nicht mehr verstecken oder verstellen. Hier muß ich nicht einer Norm genügen, die ich doch nicht erfüllen kann. Ein guter Mensch werde ich nicht durch meine Leistungen und Fähigkeiten, schon gar nicht durch Bezahlung, sondern allein dadurch, dass Gott mir gut ist, und dass er sich davon nicht abbringen lässt – nicht einmal durch mein störrisches, ängstliches Herz. Das ist gemeint mit dem berühmten Satz bei Paulus, der für Luther zum Schlüssel wurde, der ihm das Evangelium, ja die ganze Bibel aufschloss: So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Nein, Leistung und gute Werke bringen es nicht, können den Frieden der Seele nicht geben. Darum nicht, weil auch der Teufel sich ihrer bedient! Indem er uns einflüstert, wir könnten es selbst schaffen: Gerechtigkeit, Heil-Sein, ein gelingendes Leben. Das ist seine größte Lüge, sein glänzendster Sieg, dass wir ihm das abnehmen! Dagegen hilft wirklich nur Glauben. Luther

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selbst sagt es so: Man kann den Teufel nicht verjagen außer durch Glauben an Christus. Luther hat das wie eine große Befreiung erlebt. Seitdem (so sagt er im Anspiel) ...fällt es mir viel leichter, das Gute zu tun. Diese Befreiung vergisst sich nicht mehr. Auch für uns, am Ende dieses Jahrhunderts, ist das gesagt: Du darfst leben. So wie du bist. Du musst nichts aus dir machen, was du nicht bist. Du musst dich z.B. nicht über deine Arbeit definieren. Und wenn Andere das tun, laß es deren Problem sein! Du musst dich nicht verbiegen, verrenken, dich knechten lassen von Normen, messen lassen an Maßstäben, die für dich nicht gemacht sind! Das tägliche Profilierungs-Theater, der Hürdenlauf, die Klimmzüge und Aufschwünge am Leistungs-Reck: muss alles nicht sein! Du darfst es auch lassen. Nichts gegen Deine Leistungen! Sie sind aller Anerkennung wert. Aber sie machen dich nicht aus. Sie definieren dich nicht. Wer du wirklich bist, das wird anderswo entschieden als von dir selbst und deinesgleichen. Es soll deine Sorge nicht sein. Und die deiner lieben Mitmenschen erst recht nicht. Die Bilder, die sie sich von dir machen, ihre Messlatten und Bewertungen – sie gelten allesamt nicht. Gott sei Dank nicht! Vier Szenen. Vier Beispiele für die Wirkung des Bösen. Wir sahen, was allen gemeinsam ist: Jedes Mal geht es letztlich um den „Kampf um´s Dasein“, und das heißt auch immer: um´s liebe Geld. Was ist das Böse daran? Nicht das Geld an sich. Nicht diese praktische Erfindung, die den Warenverkehr zwischen Menschen erleichtert. Das ist weder böse noch gut. Böse wird der „Mammon“ erst, wenn er den obersten Platz im Leben besetzen will, die Stelle, die Gott vorbehalten bleibt. Wenn wir ihm das Herrschaftsrecht und die Maßgeblichkeit über unser Leben einräumen. Wo das geschieht, da wird Gott aus seiner Herrschaft verdrängt. Darum ist Mammon in der Bibel der Gegen-Gott, der Widersacher des Evangeliums schlechthin, der Feind des menschenfreundlichen Gottes. Jesus bringt das auf den Punkt, wenn er sagt: Ihr könnt nicht Gott dienen und

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dem Mammon. Das ist kein Appell, keine Mahnung, das ist ein Befund: ihr könnt nicht! Selbst wenn ihr wollt – beides nebeneinander, das geht eben nicht. Vier Beispiele für das Böse. Dass er existiert, der Teufel, der Lebensfeind, der große Kaputtmacher, das ist nun wohl keine Frage mehr. In dieser Erfahrung kommt uns Luther ganz nah. Aber wir sollen von Luther auch das Andere lernen: keine Angst vor ihm zu haben! Zwar scheint seine Gewalt unbegrenzt, sein Potential, seine Ressourcen unerschöpflich zu sein. Groß Macht und viel List sein grausam Rüstung ist, heißt es im Lied. Ja, Luther hat den Teufel gekannt – aber respektiert, gar bewundert hat er ihn nie! Zur Strategie des Bösen gehört es auch, sich interessanter zu machen, als es ist. Es inszeniert sich selbst, demonstriert andauernd, welchen Erfolg es hat – in der Politik, im gesellschaftlichen Leben, im Irrgarten unserer Psyche – welchen Unterhaltungswert in den Medien. In jedem zweit- oder drittklassigen Fernseh-Krimi wiederholt sie sich, die schäbige Faszination des Bösen. Aber dahinter ist nichts, nur Trostlosigkeit, Stumpfsinn, entsetzliche Öde, Wiederholung des ImmerGleichen. Nichts ist so banal wie das Böse. Darum verdient es nicht unseren Respekt, unsere Bewunderung, und schon gar nicht unseren Glauben. Denn Glauben heißt Vertrauen. Und vertrauen kann man nur Gott – nicht dem Vater der Lüge. Glauben an Gott heißt zugleich: entschlossenes Nicht-Glauben an den Teufel. Dass er sehr viel Macht hat, ist wahr. Aber ebenso wahr ist, was das Lied weiter sagt: Ein Wörtlein kann ihn fällen. Dies „Wörtlein“ ist kein Machtwort von uns, sondern unser Bekenntnis zu Christus, der allein dem Fürst dieser Welt Paroli bieten kann – und der das für uns alle getan hat – ein für allemal. Dies Bekenntnis mag noch so schwankend und schwach sein – vielleicht wirklich nur ein Wörtlein, ein Glaubensseufzer, ein leises Ja-Sagen zu Ihm – das genügt schon. Wo die Strategie des Bösen durchschaut ist, da fällt sein ganzes Rüstungsgebäude in Scherben. Da wirkt die dämonische Maske nur noch

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lächerlich. Darum noch einmal zum Schluß: Dazu ist erschienen der Sohn Gottes, dass er die Werke des Teufels zerstöre. Amen.

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Jürgen F. Bollmann

Predigt am Reformationsfest am 4. November 2007 in der St. Johanniskirche der Ev.-Luth. St. Trinitatis-Kirchengemeinde zu Hamburg-Harburg über Jesaja 62,6-7.10-12 Liebe Gemeinde, schon lange ist das Reformationsfest kein staatlicher Feiertag mehr. Damit das für uns Protestanten wichtige Fest nicht ganz in Vergessenheit gerät, holen wir den „Gottesdienst zum Reformationsfest“ am folgenden Sonntag nach. Dieses Nicht-Vergessen hat mit dem Reformationsfest selbst zu tun. Der Reformation ging und geht es besonders um eine Befreiung des Glaubens - und damit des Lebens (!) - von allem, was den Weg zu Gott versperren kann. Deshalb hat Luther immer wieder betont, dass es für den Glaubenden allein um die heilige Schrift, allein um Jesus Christus und allein um den Glauben gehen kann. Anders ist das Ziel nicht zu erreichen, vor Gott gerecht zu werden! Schon bei den Propheten der jüdischen Schrift können wir reformatorisches Denken erkennen. Der heutigen Predigt liegt ein solcher Text zugrunde. Er steht im 62. Kapitel des Jesaja-Buches: O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den Herrn erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, laßt ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden!

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Gehet ein, gehet ein durch die Tore! Bereitet dem Volk den Weg! Machet Bahn, machet Bahn, räumt die Steine hinweg! Richtet ein Zeichen auf für die Völker! Siehe, der Herr läßt es hören bis an die Enden der Erde: Saget der Tochter Zion: Siehe, dein Heil kommt! Siehe, was er gewann, ist bei ihm, und was er sich erwarb geht vor ihm her! Man wird sie nennen „Heiliges Volk“, „Erlöste des Herrn“, und dich wird man nennen „Gesuchte“ und „Nicht mehr verlassene Stadt“. Was ist das für ein Text? Der Prophet bezieht sich auf Jerusalem, spricht offensichtlich zu den Menschen, die nach der Vertreibung dorthin zurückgekehrt sind. Er fordert sie heraus. Tröstet, ja hilft er auch? Ich habe ihn wieder und wieder gelesen. Dabei bin ich an seinen Bildern hängen geblieben: 1. Das Bild von den Wächtern über der Stadt Gottes. Die Wächter sollen Alarm schlagen und nicht schweigen. Ruhelos sollen sie die Menschen an Gott erinnern. Offensichtlich haben sie es mit solchen Zeitgenossen zu tun, die über die Alltagsmühen Gott vergessen haben. Ohne Unterlass sollen sie an Gott erinnern; denn: Gott wird kommen und dann diese Stadt zum leuchtenden Zeichen für die ganze Erde setzen. Und sie sollen zugleich Gott nicht in Ruhe lassen, sollen ihn daran erinnern, was er zugesagt hat damals im Exil, nämlich Jerusalem zum Lob der Erde aufzubauen. 2. Das Bild vom Straßenbau. Der Weg soll geebnet werden, Steine müssen aus dem Weg geräumt werden. Es geht offensichtlich um den Weg, der zur Stadt führt. Sie, die in der Stadt wohnen, werden aufgefordert, durch die Tore zu gehen, die „sichere Stadt“ zu verlassen und dort draußen die Straße zu bauen. Gott wird erwartet. Er soll sich

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eingeladen fühlen: Machet Bahn! Eine Prachtstraße soll es sein für diesen Gast! 3. Dieser Gast, Gott, wird als Liebhaber beschrieben. Er, der das Heil Zions ist, kommt! Es zieht ihn dorthin, wo sein Volk ist, das er sich erwarb in den Jahren der harten Prüfung; in den Jahren des langen Marsches durch die Wüste und in den Jahren der Machtlosigkeit, des Lebens in der Fremde, wohin sie verschleppt waren aus der geschenkten Heimat. Das Volk, das er liebt, ist gespalten: Ein Teil ist schon zurückgekehrt in die Stadt Gottes, der andere bereitet sich auf die Rückkehr erst vor. Die Erlösten, die vom Joch der Verschleppung Befreiten, ziehen vor Gott auf dem Weg, den die anderen gebaut haben. Und die anderen sind die Gesuchten, geplagt von den Mühen des Alltags. Ihre Stadt, die noch immer deutlich die Zeichen der Zerstörung trägt, ist die „Nicht mehr verlassene Stadt“. Liebe Gemeinde, könnte der Text mit seinen Bildern nicht doch trösten? Es geht offensichtlich um die Frage, wie das getrennte Volk wieder zusammen geführt werden kann unter den Bedingungen der Fremdherrschaft. Der Prophet holt sich Rat bei denen, die vor ihm Gottes Willen verkündet haben. Er erinnert an die alten Zusagen Gottes und stellt sie neu in den aktuellen Zusammenhang. Das, so können wir wohl heute sagen, ist gutes reformatorisches Vorgehen: In den alten Worten der Bibel suchen wir nach Antworten auf unsere Fragen von heute. Die Menschen in Jerusalem damals waren enttäuscht. Die Verheißung war nicht eingetreten. Zwar waren sie heimgekehrt, aber das Leben blieb kümmerlich. Die persischen Herrscher beuteten sie aus. Als Reaktion darauf haben sie sich eine Ellbogengesellschaft aufgebaut. Irgendwie muss man Geld verdienen, sich den Lebensunterhalt sichern. Für Gott blieb da keine Zeit. Sie hatten ihn vergessen. Die Sorgen des Alltags überlagerten die Erinnerung.

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Jesaja zeigt die Spannung zwischen den göttlichen Verheißungen und der erfahrenen Wirklichkeit auf. Das hat auch Luther sehr beschäftigt. Die Wirklichkeit ist oft voller Kummer, Sorge und Angst. Sie verstellt den Blick auf den anderen. Der Prophet fordert die Menschen noch heute heraus: Geht heraus aus eurer kümmerlichen Alltagserfahrung! Bereitet euch auf die anderen vor, deren Ankunft bevorsteht! Geht auf sie zu, erleichtert ihnen so die Rückkehr - gerade so wie der Vater in Jesu Gleichnis vom „Vater und Sohn“ dem verloren Geglaubten mit offenen Armen und voller Freude entgegeneilt. Und ihr werdet es erleben, dass ihr von euren Sorgen befreit werdet, weil ihr euch für die der anderen geöffnet habt. Das eigene Heil ist verknüpft mit dem des anderen. Deshalb sind die Straßenbauarbeiten nötig. Nicht, um dem anderen Steine in den Weg zu legen. Nein, ihm die Steine aus dem Weg räumen: das ist die Aufgabe derer, die in der Stadt leben. So kommen sie zu dem ersehnten eigenen Profil, nicht durch die Abgrenzung von den anderen. Das gilt auch für die Kirchengemeinde heute. Es wird bei uns viel vom notwendigen Profil der Gemeinde gesprochen. Das Profil der Gemeinde kann sich nur auf ihren Auftrag von Gott her beziehen. Und er verlangt von ihr, Wege zum anderen zu bauen. Denn Gottes Liebe will alle, ausnahmslos alle Menschen erreichen. Luther wird das Zitat zugeschrieben: Heute muss ich viel arbeiten, also muss ich viel beten. Das ist die Aufgabe der Wächter: x leidenschaftlich Gott in den Ohren liegen, ihn nicht ruhen lassen. „Sieh dir unsere Not an!“ x durch das gemeinsame Gebet Gott aus der Vergessenheit unter uns holen. Mit dem Gebet bleiben wir mit Gott im Kontakt. Wir lernen, auf ihn zu hören, lassen unseren Blick immer wieder auf sein Wort lenken, versuchen, es im Lichte unserer Wirklichkeit zu sehen und zu verstehen. Letztlich kommen wir dann dazu, Gottes Liebeswerben zu erwidern. Er ist es, der uns leben lässt! Er ist es, der uns Zuversicht

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gibt gegen alle Angsterfahrung! Er ist es, der mit uns unterwegs ist und auch mit den anderen! Er lässt uns Steine aus dem Weg räumen, auch für andere! Er hilft uns, festzuhalten am Gebet! Gott formt aus uns die Gemeinschaft der Heiligen. Sollten wir ihn da nicht unablässig loben, ihn im Alltag im Blick behalten und dann erkennen, wo er uns Angst nimmt, wo er die Schritte lenkt - auch die aufeinander zu? Er lässt uns Steine aus dem Weg räumen, damit niemand stolpern muss. Gott sei gelobt, heute und alle Zeit. Amen.

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Kay-Ulrich Bronk

Andacht bei der Synode des Kirchenkreises Nordfriesland am 31. Oktober 2009 im Theodor-Schäfer-Berufsbildungswerk in Husum Liebe Synodale, liebe Schwestern und Brüder, heute ist Reformationstag. Wir begehen ihn. Irgendwie. Inzwischen in Konkurrenz zu Halloween. Mit Lutherbonbons und Lutherkeksen und „Ein feste Burg ist unser Gott“. Ist eigentlich noch Saft in diesem Tag? Wir sind ja lutherisch geboren. Deshalb haben wir - in der Regel - nicht aus Überzeugung das Lutherische gewählt. Wir haben lediglich ein Geburtsrecht nachvollzogen. Vor ein paar Jahren habe ich mich gefragt, ob ich eigentlich auf die Frage: „Warum ich Lutheraner bin“, kurz, bündig und klar – mit drei Sätzen - antworten könnte. Die Folge war ein jahrelanges Lutherstudium. Hat mir gut getan. Empfehlenswert. Ein paar Früchte dieser Jahre. Für diese Andacht aufbereitet. Heute zum Reformationstag. I. Die Schlüsselfrage Die Schlüsselfrage, Luthers Leidensfrage heißt: „Wie bekomme ich einen gnädigen Gott?“ Mit meinen Worten: „Wie kann ich die werden, die ich sein kann? Wie kann ich der werden, der ich sein soll - vor Gott und den Menschen?“

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Wenn das die entscheidende Frage ist, dann gibt es eine Instanz, vor der ich meine Lebensgeschichte zu verantworten habe, dann gibt es ein „Du sollst“, das über meinem Leben gesprochen ist. Eine wunderbare Szene aus Berthold Brechts „Kaukasischem Kreidekreis“ handelt von diesem „Du sollst“. Die Szene spielt mitten in den Wirren einer Revolution, in einem Gouverneurspalast. Die aufständischen Truppen haben die Stadt eingenommen und befinden sich bereits im Palast. Der Gouverneur ist tot. Alle fliehen. In dieser Situation drückt die Kinderfrau den Sohn des Gouverneurs dem Küchenmädchen Grusche in den Arm. Die Aufständischen haben es auf dieses Kind, den Thronfolger, besonders abgesehen. Er heißt Michel und ist noch ein Säugling. Grusche legt das Kind ab und deckt es zu. Auch sie muss fliehen, die Zeit drängt. Sie will schon gehen. Aber sie kann nicht. Etwas hält sie. Sie wendet sich dem Kind noch einmal zu. Und in diesem Moment lässt Brecht die Sänger des Dramas sagen: „Wisse, Frau, wer einen Hilferuf nicht hört, sondern vorbeigeht, verstörten Ohrs: nie mehr wird er hören den leisen Ruf des Liebsten noch im Morgengrauen die Amsel ….“ „Du sollst“. Keine Erfindung, nicht selbst gemacht. Es kommt wie ein Schicksal. Grusche hört es und nimmt sich des Kindes an.

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II. Das eine Gebot Für Luther gab es nur ein entscheidendes Gebot: „Ich bin der Herr dein Gott, du sollst nicht andere Götter haben neben mir.“ Im Großen Katechismus schreibt er: „Also verstehst du nun leichtlich, was und wie viel dies Gebot fordert, nämlich das ganze Herz des Menschen und alle Zuversicht auf Gott allein und niemand anders ... Mit dem Herzen an ihm hangen ... sich gänzlich auf ihn verlassen.“ Dieses „Du sollst“ ist für Luther der Kern aller Appelle, die mich je treffen können, in welchem Gewand auch immer. Dieses „Du sollst dich selbst ganz und gar aus größeren Händen empfangen“, das ist der wahre Kern aller Ansprüche an uns. Dieses „Du sollst“ kann uns beim Hören einer Musik treffen, beim Lesen eines Gedichts, im Gottesdienst, im politischen Engagement oder wie Grusche in einem Menschen, der meine Hilfe braucht. Dieses „Du sollst“ ist vieler Gestalten fähig. „Du sollst eine andere sein.“ „Du sollst ein anderer sein.“ Das ist ein mächtiger Appell … Er ist übermächtig, weil er an meine Wurzeln reicht, an die ich auch mit meinem besten Tun nicht heranreiche. Mein Großvater hat manchmal auf die Frage, was er sich zu Weihnachten wünsche, gesagt: „Liebe Kinder!“ Das hat mich wütend gemacht. Ein guter Instinkt. Ich kann mich nämlich nicht lieb machen. Was aber, wenn mich ein göttliches „Du sollst“ trifft (wie Grusche), das ja berechtigt und wahr ist?

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III. Luthers Leiden Martin Luther ging ins Kloster. Er wurde Mönch. Das war zu seiner Zeit der konsequenteste Versuch, ein guter, ein anderer Mensch zu werden. Aber es half dem jungen Luther nicht. Auch der Mönch Martinus blieb zutiefst verunsichert. Er beichtete oft stundenlang im Kloster. Und dann gestand er nicht nur seine Taten, sondern er gestand auch jede Absicht hinter den Taten. Jede Lauterkeit zerlegte er in hundert Unlauterkeiten. Sein Beichtvater, Johannes v. Staupitz, schrieb ihm einmal in einem Brief, „… dass Christus an solchen Lappalien nicht interessiert sei und Martin lieber zusehen solle, dass er einen saftigen Ehebruch oder Mord beichten könne.“ Seelsorgerlich pfiffig. Aber es traf nicht Luthers Punkt. Die rücksichtslose Selbstanalyse führte den jungen Mönch nämlich immer wieder zu der Erkenntnis: „Ich bin nicht gut genug: weder vor Gott, noch vor den Menschen“. IV. C.G. Jung 1932 hält der berühmte Arzt und Psychologe Carl Gustav Jung vor den Elsäßischen Pastoren in Straßburg einen Vortrag, in dessen Zentrum das Problem der Selbstannahme steht. Dieser Vortag ist für mich einer der entscheidenden Kommentare zu Luthers Rechtfertigungslehre. C.G. Jung sagte damals: „Will der Arzt einem Menschen helfen, so muß er ihn in seinem Sosein annehmen können. Er kann dies aber nur dann wirklich tun, wenn er zuvor sich selber in seinem Sosein angenommen hat.“ Das klingt vielleicht sehr einfach. Das Einfache aber ist immer das Schwierigste. In Wirklichkeit ist nämlich Einfachsein höchste Kunst.

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Dass ich den Bettler bewirte, dass ich dem Beleidiger vergebe, dass ich den Feind sogar liebe im Namen Christi, ist unzweifelhaft hohe Tugend. Was ich dem Geringsten unter meinen Brüdern tue, das habe ich Christus getan. Wenn ich nun aber entdecken sollte, dass der Geringste von allen, der Ärmste aller Bettler, der Frechste aller Beleidiger, ja der Feind selber in mir ist, ja dass ich selber des Almosens meiner Güte bedarf, dass ich mir selber der zu liebende Feind bin, was dann? Dann dreht sich in der Regel die ganze christliche Wahrheit um, dann gibt es keine Liebe und Geduld mehr, dann sagen wir zum Bruder/zur Schwester in uns Rache, dann verurteilen wir und wüten gegen uns selbst. Nach außen verbergen wir es, diesem Geringsten in uns je begegnet zu sein, und sollte Gott selber es sein, der in solch verächtlicher Gestalt an uns herantritt, so hätten wir ihn tausendmal verleugnet, noch ehe überhaupt ein Hahn gekräht hätte.“ Martin Luther und C.G. Jung sind sich darin einig, dass es darauf ankäme, sich selbst als einen annehmbaren Menschen zu sehen und keinen äußeren und vor allem keinen inneren Einspruch dagegen zu dulden. Es käme darauf an, zunächst das Gebot der Feindesliebe – auf uns selbst anzuwenden. V. Aufhören gut sein zu wollen Vor vielen Jahren auf Hallig Hooge. Ein Workshop. Ich hatte die CoLeitung. Einen Abend sollte es um die Auswertung von Erfahrungen gehen, die wir beim gemeinschaftlichen Malen eines gemeinsamen Bil-

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des gemacht hatten. Wer das mal mitgemacht hat, der weiß: Das ist eine heiße Kiste. Sehr beliebt in den 80er und 90er Jahren. Auch bei Kirchens. Beim Abendbrot stellt die Gruppe fest, dass ich mit der Leitung des Abends dran sei. Erstaunlicherweise ist die Workshopleiterin, die u.a. Kunsttherapeutin ist, einverstanden. Sie gibt ihr Lieblingsthema aus der Hand. Kay, soll leiten. Prima. Ich leite also. Aber es entspinnt sich ein unterschwelliger Zweikampf zwischen mir und meiner Lehrerin. Sie kann ihr Thema nicht loslassen und ich bemühe mich redlich, die Leitung irgendwie in der Hand zu behalten. Als schweißtreibende eineinhalb Stunden vorüber sind, fragt mich die Leiterin, wie es mir ginge. „Nun ja, ein wenig irritiert bin ich schon.“ Eine maßlose Untertreibung, hart an der Grenze zur Lüge. Aber: Die Leiterin entschuldigt sich bei mir. „Mein Fehler. Es war mein Kind. Hätte ich Dir nie überlassen dürfen. Du hast Dich tapfer geschlagen.“ In der Nacht kann sie nicht schlafen. Sie grübelt über einem Gefühl. Das Gefühl war: „Ich habe zwar nichts von meinem Eingeständnis zurück zu nehmen, aber Kay hat einen Anteil. Da ist was. Da ist etwas an ihm, das im Wege ist.“ Im Morgengrauen fällt es ihr ein. Sie sagt es mir kurz und bündig: „Kay, hör auf, gut sein zu wollen.“ „Hör auf, gut sein zu wollen.“ Der Appell saß. Er hat mich nie los gelassen. Einmal fantasiert, ich hätte es anders gemacht. Einmal fantasiert, ich hätte mein Gutseinwollen an diesem Abend vergessen. Dann hätte ich die gut laufende Sitzung unter der anderen Regie einfach laufen lassen können und am Schluss vielleicht gesagt: „Ihr habt gemerkt, dass ich die Leitung in andere Hände gelegt habe. Da war sie heute Abend gut aufgehoben. Ich hätte es nicht besser machen können. Vielen Dank dafür. Und

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morgen früh leite ich die erste Sitzung nach dem Frühstück. Schönen Abend noch.“ Das wäre wirklich gut gewesen, eben weil ich nicht unter dem Gesetz des Gutseinmüssens oder Gutseinwollens gestanden hätte. Gut sein, weil ich vergessen hätte, gut sein zu wollen. „Hört auf gut sein zu wollen:“ Ein Appell aus dem Herzen der Rechtfertigungslehre. VI. Luthers Befreiung. Der Paulussatz: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ „Die Gute aus dem Guten Gottes.“ Das war Luthers Durchbruch. Empfänglich werden. Nicht sich selbst erfinden wollen, sondern glauben, dass ich mich selbst aus Gottes Hand empfangen darf. „Du sollst“ das will: „Werde empfänglich.“ Und diese Empfänglichkeit vor Gott wäre schon die neue Identität. So wenig. So viel. Eine andere werden. Ein anderer werden. Einfach dadurch, dass ich glaube, schon ein anderer zu sein. Aufhören mit der quälenden Selbstbeschäftigung und nicht mehr den geistigen oder den moralischen Puls fühlen. Aufhören, mich gut machen zu wollen, indem ich glaube, dass ich es schon bin. Was für eine Entlastungsbotschaft in einer Zeit, in der wir immer besser werden müssen und gerade so das Ziel verfehlen. Es gibt ein „Genug“. Es gibt ein „Stillehalten“. Es gibt eine Liebe, die schon da ist und die ich mir nicht verdienen muss.

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Luther schreibt, dass der Mensch dem „Wirken Gottes still halten“ solle. Er müsse leer werden, damit sich Gottes Gnade einlegen könne. „Nur was leer ist, wird erfüllt ... Lasst uns also zu Gott sprechen: Ach, wie gerne sind wir leer, auf dass du voll seiest in uns!“ VII. Im Kino lief vor einigen Jahren ein Film mit dem Titel „Billy Elliot“. Er handelt von einem Jungen, der im englischen Industrieproletariat aufwächst und seine Leidenschaft für das Ballett entdeckt. Am Ende des Films macht der junge Billy eine Aufnahmeprüfung in einer berühmten Ballettschule. Er wird gefragt, was das für ein Gefühl sei, wenn er tanze. Er antwortet: „Ein ganz gutes Gefühl. Das ist alles so steif und so. Aber wenn ich loslege, dann, dann vergesse ich alles … und … irgendwie verschwinde ich, irgendwie verschwinde ich … als würde sich mein ganzer Körper verändern; als wäre Feuer in meinem Körper. Ich bin einfach da und fliege, wie ein Vogel, wie Elektrizität … Ja, wie Elektrizität.“ „Ich verschwinde.“ Billy empfängt beim Tanzen etwas, das größer ist als er selbst, etwas, das ihn begnadet und verändert. Er kommt von sich selbst los, er wird leer und frei für etwas unbedingt Gutes. „Ich verschwinde.“ Das genau schreibt Luther mehrfach in seinem Kommentar zum Römerbrief. „Ich verschwinde. Der alte Adam und die alte Eva werden neu und gut.“ Und aus allen Dingen spricht es so: „Du Mensch wisse, es ist gut mit dir. Vertraue dich mit Leib und Seele Gottes Güte an. All Fehd’ hat nun ein Ende.“ Amen.

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Michael Bruhn

Dialogpredigt zum Reformatorischen Handwerkermarkt im St. Johanniskloster Schleswig am Reformationstag 2006 Liebe Gemeinde, Katharina hieß die junge Frau, die etwa 1508 von ihrem Vater in das Zisterzienserinnenkloster ,,Marienthron" in Nimbschen bei Grimma, nördlich von Leipzig gebracht wurde. Sie war seit ihrem sechsten Lebensjahr, nachdem ihre Mutter gestorben war, in der Obhut anderer Nonnen aufgewachsen. Jetzt ist sie 24, keine Schönheit, aber sie hat interessante, wache Augen und einen geschwungenen Mund. Täglich werden Lebensmittel ins Kloster geliefert. Daneben gelangen wahrscheinlich so auch Flugblätter Martin Luthers zu den Nonnen. Aus: Von der Freiheit eines Christenmenschen (Zitat nach Calwer Lutherausgabe Bd. 2, S. 163) Ebenso hilft es der Seele nichts, wenn der Leib heilige Kleider anlegt, wie es die Priester und Geistlichen tun; auch nicht, wenn er in Kirchen und an heiligen Stätten weilt; auch nicht, wenn er mit heiligen Dingen umgeht; auch nicht, wenn er leiblich betet, fastet, Wallfahrten macht, uns alle guten Dinge tut, die je einmal mit und in dem Leibe getan werden könnten. Es muß alles noch etwas anderes sein, wenn es der Seele Rechtschaffenheit und Freiheit bringen und geben soll. Die neue Bewegung bricht sich Raum in Nimbschen, Zweifel werden genährt gegen die Gelübde und so manches andere. Neun, vielleicht auch 12 Nonnen, unter ihnen auch Katharina, entschließen sich zur Flucht. Heimlich wird geplant und nach Möglichkeiten gesucht. Wenn die jungen Frauen erwischt werden, sei es beim Lesen der Flugblätter oder auf der Flucht, drohen harte Strafen. Sie suchen und finden Wege, mit Luther Kontakt aufzunehmen.

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Der Fisch- und Bierlieferant kommt am Abend des 6. Aprils 1523, Samstag vor Ostern. Auf dem Rückweg nimmt er wie immer leere Fässer mit, aber diesmal sind die Fässer nicht wirklich leer. In jedem Fass sitzt eine Nonne, die sich der Reformation anschließen will. Es ist die Osternacht. Für neun Frauen ist jenes Osterfest der Beginn eines neuen Lebens. Luther schreibt über seinen Freund, den Kaufmann Leonhard Koppe, den er gewonnen hatte, die Nonnen zu befreien: (Bornkamm, III, 201f): Pfui, pfui, werden sie sagen, der Narr Leonhard Koppe hat sich durch den verdammten ketzerischen Mönch lassen fangen und fährt zu und führt neun Nonnen auf einmal aus dem Kloster und hilft ihnen, ihr Gelübde und klösterliches Leben zu verleugnen und zu verlassen! ... Da antworte ich: Ja, freilich ein seeliger Räuber, gleichwie Christus ein Räuber war in der Welt, als er durch seinen Tod dem Fürsten der Welt seinen Harnisch und Hausgerät nahm und führte ihn gefangen. So habt auch ihr diese armen Seelen aus dem Gefängnis menschlicher Tyrannei geführt, eben um die rechte Zeit, zu Ostern, als Christus auch der Seinen Gefängnis gefangen nahm. Aber wohin nun? Von ihren Familien hatten sich viele längst gelöst – ob sie dort Verständnis gefunden hätten, steht noch auf einem ganz anderen Blatt. Dazu kommen die Hexenverfolgungen — und was mag verdächtiger sein als eine entflohene Nonne? Am besten man findet jemanden, der einen heiratet. Auch dabei werden sie von den Anhängern der neuen Bewegung nach Kräften unterstützt. Für Katharina hält Luther persönlich Ausschau, lange Zeit ohne Erfolg, denn diese Frau scheint einen starken Charakter zu haben. An einen ehemaligen Verehrer schreibt er: (Bornkamm VI, 69) Hieronimus Baumgartner, dem an Frömmigkeit und Bildung hervorragensten jungen Mann in Nürnberg, seinem liebsten Freunde in Christus.... Wenn Du deine Käthe von Bora halten willst, mußt Du dich beeilen, bevor sie einem anderen gegeben wird, der bei der Hand ist. Sie hat die Liebe zu

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Dir noch nicht verwunden. Ich würde mich wirklich freuen, wenn ihr beiden miteinander verbunden würdet. Lebe wohl. Martinus Über eine Antwort Baumgartners ist uns nichts bekannt – schlicht, Katharina nimmt er jedenfalls nicht zur Frau. Sie bleibt im Haushalt von Lukas Cranach beschäftigt, wo sie immer wieder einmal mit Luther Kontakt hat. Man weiß es nicht, was Luther, der eigentlich gar nicht heiraten wollte, umgestimmt hat. Jedenfalls werden sie ein Paar. Später schreibt er an einen Freund: „Ich bin nicht leidenschaftlich verliebt, aber halte mein Weib lieb und wert.“ Die Heirat von Katharina von Bora und Martin Luther kommt für alle überraschend und sie ist ein Skandal. Zwar hatten schon andere ehemalige Mönche und ehemalige Nonnen geheiratet - aber diese Eheschließung ist etwas anderes. Luther ist eben nicht irgendein Mönch, sondern das geistige und geistliche Zentrum der Reformation. Das junge Ehepaar wird lange Zeit immer wieder deswegen angegriffen und Schmähschriften gab es zuhauf. Luther schreibt jetzt, dass seine Käthe passender für ihn ist, als er je zu hoffen gewagt hat. Er dankt Gott und fügt hinzu, jetzt möchte er seine Armut nicht gegen die Schätze eines Krösus umtauschen. Dabei schafft er es nicht, sie zu zähmen. Luther nennt seine Frau scherzhaft „Herr Käthe“, denn sie führt den immer größer werdenden Haushalt straff und ordentlich, ist erschreckend tüchtig, es kommen sogar Gerüchte auf, dass sie ihm in seine Theologie hineinredet. Nach einigen Jahren findet man das Lutherhaus in voller Blüte, ständig sind Gäste da, dazu kommen verschiedene Kostgänger, besonders Studenten. Außerdem leben einige arme Verwandte unter dem Dach des Schwarzen Klosters, das Luther zur Hochzeit als Wohnstätte geschenkt bekommen hatte. Man muss sich Katharina Luther eher als Chefin eines mittelständigen Betriebes vorstellen, denn als Hausfrau in unserem Sinne. Es gibt mehrere große Gärten zu bewirtschaften, Tiere zu versor-

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gen, Dienstboten zu beaufsichtigen, Feste zu organisieren und nicht zu vergessen: Kinder werden erzogen. Obwohl Martin Luther jetzt ein ganz ordentliches Professorengehalt nach Hause bringt, findet Katharina die Haushaltskasse oft leer und muss improvisieren. Herr Luther, dem Geld nicht viel bedeutet, gibt fast jedem, der ihn bittet, lehnt selbst Geschenke bescheiden ab und verlangt für seine umfangreiche Buchproduktion nicht einen Pfennig Honorar. Martin Luther lehnt ein großzügiges Geldgeschenk ab, weil er mit dem Schenker nicht in Frieden ist, muss aber ein paar Tage später erfahren, dass seine junge Ehefrau dasselbe Geld hinter seinem Rücken dankend angenommen hat. Sechs Kinder bringt Katharina zur Welt, drei Mädchen und drei Jungen. Der erste Sohn wird von seiner Umgebung mit besonderem Argwohn beobachtet. Man erzählt sich immer noch den alten Aberglauben, dass der Antichrist von einem Mönch gezeugt und von einer Nonne zur Welt gebracht werden wird. Erasmus von Rotterdam gibt als Kommentar dazu: „Wenn dieses Gerede wahr wäre, dann müsste die Welt schon voller Antichristen sein.“ Johannes wird trotzdem später Theologe. Das zweite Kind, Elisabeth, stirbt als Baby, als junges Mädchen eine weitere Schwester. Die drei übrigen Geschwister führen als Erwachsene ein normales bürgerliches Leben. Martin Luther ist tief betroffen vom Tode seiner Tochter. Er schreibt an seinen Freund Nikolaus Hausmann: (Bornkamm VI, S. 98) Gestorben ist mein Töchterlein Elisabchen; es ist seltsam, welch trauriges, fast weibisches Herz sie in mir hinterlassen hat, so bewegt mich der Jammer über sie. Nie zuvor hätte ich geglaubt, daß die väterlichen Herzen bei ihren Kindern so weich werden. Du bitte für mich den Herrn; in ihm lebe recht wohl. Martinus Luther. Katharina überlebt ihren Mann um sechs Jahre. Sie führt noch einige Zeit das Lutherhaus alleine weiter und nimmt wieder Kostgänger auf. Dann

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bricht der Schmalkaldische Krieg aus, die Universität Wittenberg löst sich auf und Katharina flieht mit ihren Kindern nach Magdeburg. Über ihre letzten Jahre haben wir wenige Informationen, es wird ihr nicht besonders gut gegangen sein, aber genau kann man das nicht sagen. Es war wohl damals nicht von allzu viel Interesse, was mit der Witwe des berühmten Reformators geschah. Sie starb nach einem Kutschenunfall und einem längeren Siechtum. Eine starke Frau hinter einem starken Mann. Luther dichtet im Lied von der festen Burg: „ Kind und Weib lass fahren dahin.“ Hier klingen die Worte von fester Burg und Gottesfurcht immer so vorbildlich tapfer. Dabei hat er sich ziemlich heftig gefürchtet, als Katharina einmal ernsthaft krank war, hat gebetet und gebangt. Aber vielleicht ist das ja auch das Geheimnis vom Umgang mit der Furcht: Luthers Hoffnung jedenfalls lag in aller Furcht auf Christus, der Sünde vergibt und Leben schenkt: (Calwer V,80f) Viele Heiden haben große und auch gute Bücher geschrieben über die guten Werke, d.h. von den Pflichten, die uns obliegen, aber nichts von der Vergebung der Sünden. ... Und so strengen wir uns an, um im Namen unserer guten Werke, nicht im Namen Christi die Vergebung der Sünden zu erlangen. Die Vergebung der Sünden wird uns in Wahrheit umsonst geschenkt um Christ Willen, und nur in seinem Namen werden uns die Sünden erlassen. Dann gilt: Wer mir im Namen Christi die Sünden erläßt, erläßt sie mir wirklich. (Wenn Du aber denkst:) Ich aber kann mich damit nicht trösten, weil ich gänzlich in Sünden ersoffen bin, habe ich Christus nicht gegenwärtig, der mich von ihnen erlösen könnte! Antwort: Hier in solcher Anfechtung, muss man sich an die Zeugnisse von Christus halten ... In diesem Evangelium aber wird dir die Vergebung der Sünden im Namen Christi angeboten.... Christus erläßt die Sünden ohne Gegenleistung; er ist kein Wucherer. Er ist auch kein Krämer, der mit der Vergebung der Sünden einen Jahrmarkt anrichtet. Er will für die Vergebung der Sünden, die er uns schenkt, keinen Wucherzins nehmen. ... Wir sollen

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unserm Nächsten helfen, nachdem wir von ihm die Vergebung der Sünden bekommen haben und sollen so Früchte unseres Glaubens bringen. Amen.

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Johann-Hinrich Claussen

Kurze Ansprache in einer Abendandacht zum Reformationstag I. Seien wir einmal ehrlich: Dem Reformationstag haftet manchmal etwas arg Bemühtes an. Reformationstag – da denkt man leicht an angestrengte protestantische Exerzitien der Selbstrechtfertigung und an rhetorische Klimmzüge zum Erweis der eigenen Existenzberechtigung. Die Predigt droht da schnell zur historischen Belehrung zu werden, die erklärt, erklärt, erklärt, wann und was die Reformation war und warum es immer noch reformatorische Kirchen gibt und geben muss und geben darf. Nicht gerade der Stoff, aus dem frohe Feste gemacht sind. Noch unangenehmer wird es, wenn man sich die Geschichte dieses Gedenktages in Erinnerung ruft. Im 19. Jahrhundert begann man Reformationsfeiern im großen Stil und als multimediale events zu inszenieren. Damals hatte man ja noch kein Halloween. Es gab öffentliche Reden, Theateraufführungen, Umzüge in historischen Kostümen, das Einpflanzen von Lutherbäumen und die Einweihung von Lutherdenkmälern. Und kirchliche Erbauungsdichter wie der sehr erfolgreiche Karl Gerok – ich habe einen Gedichtband von ihm in der 400. Auflage! - lieferten die passenden Verse dazu: „Martin Luther, Mann aus Erz, Feuergeist und Felsenherz! Horch, das Festgeläute ruft, Steig empor aus deiner Gruft! Als ans Thor dein Hammer schlug, Zu zermalmen Priestertrug, Sprang der Riegel stracks entzwei

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Und die Geister wurden frei. Deutsches Volk, in stolzem Ton Nenn ihn deinen besten Sohn, Einen deutscher’n sahst du nicht, Seit man Thuiskons Sprache spricht. Deutsch sein Name, deutsch sein Blut, Deutsch sein Trotz und Mannesmut, Deutsch sein frommes Kinderherz, Froh in Gott im Ernst und Scherz.“ Das geht noch ziemlich lange weiter so in diesem Stil, aber ich höre lieber auf. Schrecklich, vor allem wenn man bedenkt, dass bestimmt nicht wenige Schüler das auswendig lernen mussten. Nichts gegen das Auswendiglernen an und für sich. Aber es ist doch gut, wenn manche Verse auch wieder in der Versenkung verschwinden, in die sie hingehören. Doch wie das so ist, wenn man auf dem Dachboden in den alten Kisten mit den Familienerbstücken wühlt, man findet nicht nur Dinge, die einen unmittelbar mit Stolz und Rührung erfüllen. Manche möchte man gleich entsorgen. Aber wenn man weiterwühlt, findet man doch etwas, das noch glänzt und beglückt. So ist es auch mit Familienfesten. Sie bringen einen nicht nur mit sympathischen Verwandten zusammen. Dennoch haben sie ihren Sinn. Denn sie halten einem einen Spiegel vor und zeigen, woher man kommt, was einen geprägt hat und welches Erbe man in sich trägt. Und dieses Erbe sollte man regelmäßig sichten. Manches davon strahlt heute noch. Dafür wäre auch das Reformationsfest gut, nicht als Triumph-event, als öffentlichkeitswirksamer Aufmarsch, sondern als eine kurze, leise Stunde, in welcher die evangelische Christenfamilie die alten Geschichten hört, die schönen Erbstücke betrachtet und bedenkt, was fehlen würde, wenn es das alles nicht gegeben hätte.

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II. Ja, was wäre eigentlich, wenn die Reformation nicht stattgefunden hätte? Das ist keine nur akademische Frage, kein bloßes Gedankenspiel. Vor kurzem las ich einen Roman von Kingsley Amis aus den 70er Jahren, der diese Frage durchspielt. Er gehört zum Genre der „Andere Welten“-Literatur, einer Untergattung der Science-Fiction, und malt aus, wie die Welt heute aussähe, wenn die Vergangenheit ganz anders verlaufen wäre: Mitte des 20. Jahrhunderts; ganz Europa ist katholisch, denn die Reformation hat vor fünfhundert Jahren nicht stattgefunden; Luther ist in Worms eingeknickt, hat seinen Frieden mit der kirchlichen Obrigkeit und einen feinen Deal gemacht; er wurde zum neuen Papst gewählt; die Reformation ist also ausgefallen; die ganze westliche Welt ist einheitlich katholisch; nur im fernen Nordamerika gibt es ein paar seltsame, sektiererische Gestalten… Ein anregendes Setting, innerhalb dessen Kingsley Amis dann eine wilde Räuberpistole erzählt. Damit aber will ich Sie nicht weiter behelligen. Wir befinden uns hier nicht gerade auf einem Hochplateau der Weltliteratur. Aber die Frage ist doch interessant: Was wäre, wenn die Reformation nicht stattgefunden hätte? Was wäre uns erspart geblieben? Was würden wir vermissen? Nun aber hat die Reformation stattgefunden und weit reichende Folgen gehabt. Was haben wir heute an ihr? Um diese Frage zu beantworten, sollte man sich nicht an Karl Gerok, sondern an seinem sehr viel verständigeren Zeitgenossen Adolf von Harnack orientieren: „Freunde und Gegner haben Luther zum Nationalhelden, zum Politiker, zum Theologen, zum Stifter einer neuen Kirche machen wollen. Er ist das alles nicht gewesen. Die Frage nach dem Zweck und Ziel des menschlichen Lebens, nach dem Frieden und der Seligkeit des Gewissens – sie war das einzig Treibende in seinem Leben.“ Wer also wissen will, weshalb sich die Reformation gelohnt hat, kann sich nicht damit begnügen, äußere Errungenschaften aufzuzählen, so wichtig sie alle sind: die Formung der deutschen Sprache, die Gründung der evangelischen Kirche, die Reform der Universitäten, die Gründung neuer Schulen, eine neuzeitliche Sozialord-

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nung, die Abschaffung des Zölibats, die Erfindung des Pfarrhauses oder die Beförderung der Unterscheidung von Staat und Kirche. So wichtig das alles ist, es ist noch nicht das Entscheidende. Entscheidend ist der Glaube, sein neuer Ton, seine neue Farbe. Dieser Ton, diese Farbe sind kein konfessionelles Sondergut. Sie sind allgemein christlich. Aber das Allgemeine zeigt sich nur im Besonderen. Das Christliche lebt in individuellen Gestaltungen, wie eben dem reformatorischen Christentum. Und wenn es darin lebt, dann strahlt es weit aus. Es ist also eine falsche Alternative, wenn die einen „Evangelisches Profil! Evangelisches Profil!“ rufen und andere „Ökumene! Ökumene!“. Vielmehr geht es darum aufzuspüren, wie im Besonderen das Allgemeine sich entfaltet und wie im Allgemeinen das Besondere aufblüht, wie also im Reformatorischen das Christliche lebt. Was könnte dies sein? Die Reformation war ein Aufbruch zum Glauben, in Gottes Wort gebunden und gerade dadurch frei, ein Aufbruch heraus aus einer verordnet-institutionellen Einheit, hinein in einen selbstverantworteten Glauben. Ein Aufbruch mit großem Schwung. Ohne von Luther zu wissen, hat Jesaja diesen Schwung so vorgezeichnet: Gott hat uns gesandt, „den Elenden gute Botschaft zu bringen, die zerbrochenen Herzen zu verbinden, zu verkündigen den Gefangenen die Freiheit, den Gebundenen, daß sie frei und ledig sein sollen“, alle soll man „Priester des Herrn nennen und Diener unseres Gottes“, „ich freue mich im Herrn und meine Seele ist fröhlich in meinem Gott, denn er hat mir die Kleider des Heils angezogen und mich mit dem Mantel der Gerechtigkeit gekleidet“, nun also „bereitet dem Volk den Weg zu Gott, macht Bahn, räumt die Steine weg. Sagt allen Menschen: Euer Heil kommt!“ Solch eine frohe, ernste, ganz und gar nicht triumphalistische Schwungkraft schenke Gott unserer Kirche auch heute – und unseren ökumenischen Freunden ebenso.

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Axel Denecke

Reformationspredigt am 31.10.20071 über Jesaja 62, 6-9 1. Wir feiern heute in Göttingen zentral das Reformationsfest. Das ist ungewöhnlich – Ich denke 40 Jahre zurück, war gerade Pastor geworden – Da war nix – Kein Fest, den Anlass eher verschweigen --- Schulgottesdienste gab’s nicht mehr --- Die Ökumene war entdeckt! Bitte nicht zu sehr das Lutherische betonen! Bitte keine vollmundigen Bekenntnisse! Bescheiden sein (auch angesichts Joh XXIII – diesem sympathischen Papst des aggiornamento - das Fenster öffnen, frische Luft hereinlassen, Kirche erneuern!) – So damals. Reformations-Gottesdienste gab’s kaum. Bitte nicht aufdringlich den eigenen Glauben zeigen! Das Schlagwort von der „versöhnten Verschiedenheit“ kam auf. Ja, ja, wir sind schon noch verschieden – aber doch vor allem in Christus versöhnt. Und heute? Profil zeigen! Den evangelischen Glauben entschieden vertreten! Bewusst protestantisch sein! Überall gibt es zentrale Reformationsgottesdienste, im Internet-Portal der EKD extra angekündigt! Zum ersten Mal so! --- Was ist das? Stimmungswandel? Überzeugungswandel? Seinen protestantischen Glauben offensiv in der Welt vertreten? „Versöhnte Verschiedenheit“? Zwar durchaus versöhnt, aber doch bleibend verschieden? Gar wie Martin Luther vor bald 500 Jahren: „Hier stehe ich…“ Was ist das heute? Ich denke zunächst, unsere liebe Schwester-Kirche, die katholische Kirche, hat da entschieden mitgewirkt, dass es zum Stimmungswechsel gekommen ist. --- Denken Sie daran: Nach katholischem Verständnis sind wir alle hier gar keine richtige Kirche, nur so eine kirchenähnliche 1

Gehalten zum zentralen Festgottesdienst zur Reformation für die Stadt Göttingen in St.

Johannes/Göttingen.

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Gemeinschaft, in der es aber durchaus – generös uns das zuzugestehen „Elemente der Heiligung gibt“, mehr aber nicht. In einem Interview mit der FAZ hat Papst Benedikt (noch ehe er Papst wurde) in der ihm eigenen dankenswerten Klarheit gesagt (dort nachzulesen): „Es scheint mir völlig absurd, was unsere lutherischen Freunde allem Anschein nach im Augenblick von uns wollen: Dass wir diese zufälligen historischen Bildungen (gemeint sind die reformatorischen Kirchen) im gleichen Sinn als Kirche ansehen, wie wir glauben, dass die auf der Nachfolge der Apostel im Bischofsamt beruhende katholische Kirche KIRCHE ist“. Toll! Das ist stark! Klar und eindeutig! 2. Was sollen wir zu dem allem sagen? Was sollen wir tun? Ganz gelassen solche Papst-Sätze und katholische Dekrete hinnehmen. Ist ja nicht unser Problem. Und uns besinnen auf uns selbst, auf das, was unseren Glauben und unser Denken und unser Handeln ausmacht. Eben auf unser protestantisches Profil, das wir lange vielleicht zu sanftmütig und bescheiden verschämt verschwiegen haben, jedenfalls nicht laut in die Öffentlichkeit hinein posaunt haben. Und was ist unser Profil? Ganz einfach: „Kirche ständig erneuern - ecclesia semper reformanda.“ Wie machen wir das? Einfach das machen, was Martin Luther einst machte: In die Bibel schauen, uns an ihr orientieren, nur an ihr. Klingt wenig spektakulär, doch in der Bibel selbst liegt der Sprengstoff unseres Glaubens – eben unser evangelisches Profil. Entscheiden evangelisch – d.h. einfach: sich an der Wahrheit der Bibel orientieren. Das will ich jetzt tun, indem ich mit Ihnen den heutigen Predigtext betrachte, nichts anders als das. Wir werden schon sehen, was für eine Dynamik da drin liegt. Hören wir zunächst den Text – gesprochen damals vor 2500 Jahren zu einer recht verstreuten Gemeinde in Jerusalem, aber gedacht – natürlich - auch für uns, für uns heute, was denn sonst? Denn die Bibel spricht –

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das ist so eine alte jüdische Tradition - immer neu in die jeweilige konkrete Situation hinein („Nicht mit unseren Vätern, sondern mit uns heute, die wir alle noch leben; hat Gott den Bund geschlossen.“ 5. Mose). Spricht die Bibel nicht direkt zu uns, so spricht sie gar nicht. Also der Text für den heutigen Tag: „O Jerusalem, ich habe Wächter über deine Mauern bestellt, die den ganzen Tag und die ganze Nacht nicht mehr schweigen sollen. Die ihr den HERRN erinnern sollt, ohne euch Ruhe zu gönnen, lasst ihm keine Ruhe, bis er Jerusalem wieder aufrichte und es setze zum Lobpreis auf Erden! Der HERR hat geschworen bei seiner Rechten und bei seinem starken Arm: Ich will dein Getreide nicht mehr deinen Feinden zu essen geben noch deinen Wein, mit dem du so viel Arbeit hattest, die Fremden trinken lassen, sondern die es einsammeln, sollen's auch essen und den HERRN rühmen, und die ihn einbringen, sollen ihn trinken in den Vorhöfen meines Heiligtums.“ Jesaja 62, 6-9 Ich nenne die wichtigsten Stichworte, drei sind es, und versuche, sie auf uns heute zu übertragen: a. Die Wächter der Stadt, die nicht schweigen sollen b. Gott erinnern an das, was er für uns getan hat – ihn nicht in Ruhe lassen c. „Macht Bahn! Macht Bahn! Räumt die Steine weg!“ Was heißt das für uns? Für uns heute? Hier? 3.1 „Die Wächter der Stadt, die nicht schweigen sollen“ Ich versteh das so: Nicht schweigen, nicht verschweigen das, was der „reformatorische Durchbruch“ Luthers war, als die Grundlage unseres protestantischen Glaubens, unverzichtbar. Und was war das? Wir haben’s in der Epistel gehört. „Gerecht vor Gott allein aus Glauben“. Klingt für

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manche heute zu abstrakt. Was das bedeutet, mach ich mir immer wieder an dem Lied „Ein feste Burg ist unser Gott“ deutlich (Ps. 46), und dabei am Bild der „Burg“. Wir brauchen ja alle Bilder, um uns eine innere Wahrheit anschaulich werden zu lassen. Also: Das Bild der Burg, Gott als meine Burg. Luther wollte rein in diese Burg. Durch eigene Anstrengung, wollte so einen „gnädigen Gott“ gewinnen, wie er es nannte. Wollte es erreichen durch Bußübungen, lauter fromme Werke, wollte es so erzwingen. - So lehrte es seine Kirche damals. Und er kasteite und quälte sich, immer mehr, immer mehr, wurde immer verzweifelter, denn er schaffte es nicht, in die Burg rein zu kommen. Je mehr er’s versuchte, sich anstrengte, umso höher, größer, uneinnehmbarer wurde die Burg für ihn. Schrecklich. Ein tiefer Graben da. Die Zugbrücke war hoch gezogen, der Graben immer tiefer, die Burg immer mächtiger. Furchtbar. Zum Verzweifeln das! (Zwischendurch eine Rückfrage an uns: Verstehen Sie? Kennen Sie das auch? Kontakt mit Gott bekommen wollen, doch er wird mir immer ferner und ferner. Und je mehr ich mich anstrenge, um so mehr merke ich: Haut nicht hin, kriege ich nicht hin, ich armer Wurm!) ---- ---- Und dann auf einmal: Der innere Durchbruch!!! Die Erleuchtung fiel ihm wie ein Wunder zu (ist immer so bei inneren Erleuchtungen, Luther ging’s bei der Lektüre von Römer 1, 18 auf – kann aber bei jedem auch anders aufgehen). Also das Wunder: Verrückt, verrückt, was ich bisher dachte und versuchte. Ich bin ja schon mitten in der Burg – ja, hab’s bloß nicht gemerkt, wollt es nicht wahr haben. Bin mitten drin, von Gott und Christus da rein gesetzt. Stehe gar nicht draußen vor. Bin drin. Mit eigener Kraft ist da nix getan, partout nix. Musst dir gefallen lassen, dass es Gott schon längst für dich getan hat, dass du schon – oh Wunder! - in die Burg rein gestellt/gesetzt worden bist, ohne dass du was dazu tun musst. „Nicht durch fromme Werke, allein durch den Glauben“ (so Paulus). Ich bin – warum hab ich es bloß bisher nicht gemerkt, dumm wie ich war, denn es liegt ja so sonnenklar zutage - ich bin in dieser Burg, von Gott umgeben,

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der mich schützt und bewahrt. Gott ist meine Burg – oder in einem anderen Bild: Wie eine schützende Haut, er ist meine Kleidung, ja mein Kleid, das mich kleidet in dieser Welt, damit ich nicht nackt bin, anderen ausgeliefert. Das war die innere Erleuchtung, der sog. „reformatorische Durchbruch“, ist unser innerer Durchbruch, Grundlage unseres Glaubens. Und das haben die Wächter der Stadt immer wieder neu zu sagen. Davon darf man nicht schweigen, das darf nicht verschämt verschwiegen werden. Das ist unser Glauben, keine Eigenschaft, auf die ich stolz sein kann, meine Leistung, sondern eine Außenschaft, die von außen auf mich zu kommt und dann zu einer Innenschaft in mir wird. Ich bin in der Burg Gottes, Gott ist gar ein Teil von mir, der mir aber nicht gehört. Und wenn es so ist (und es ist so), dann bin ich frei, bin befreit, diese innere Gewissheit trägt mich durch mein ganzes Leben hindurch. Ist Lebensbrot, Lebensmittel, auch Arbeitsmittel – ist lebensnotwendig und am Ende auch einmal – steht noch dahin - sterbensnötig. Das ist unser Glaube, unser evangelisches Profil. Das haben wir entschieden zu sagen und vor allem auch zu leben! Wie geht das? Wie macht man das? 3.2 Gott erinnern an das, was er für uns getan hat, ihn damit nicht in Ruhe lassen Ja, Gott penetrant damit quälen, ihm immer wieder damit auf den Pelz rücken. Klingt verrückt, gar blasphemisch, aber keine Angst. Gott hält das aus, will er sogar von uns. Steht seit 2500 Jahren so in der Bibel. Das will ich ernst nehmen. Also konkret: Gott immer wieder – jeden Tag neu, all Morgen frisch und neu - daran erinnern (und natürlich auch uns selbst daran erinnern), dass er mich, dich, uns alle in diese Burg rein gesetzt hat, dass er unsere in-

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nere Burg sein will, die uns aber auch äußerlich schützt. Du, mein Gott, willst es sein, also zeig es mir, zeig es uns. Ich nehme dich beim Wort, klage es bei dir ein, dass du es gut mit mir meinst, dass du mich schützen willst. Ich lass dir keine Ruhe damit (Beispiel: Bittende Witwe im NT). Ich fordere es immer wieder neu ein, auch wenn es mir schwer fällt, es zu tun, wenn es mir manchmal verrückt vorkommt oder quengelig oder penetrant oder frech und hochtrabend. Dennoch: Jeden Tag neu damit beginnen, neu mit dem Anfang unseres Glaubens beginnen – und dann wie der Erzvater Jacob, dieser alte Glaubens-Kämpfer, ein ganz verrückter Mann, zu Gott sagen: „Ich lasse dich nicht, du segnest mich denn!!!“ Martin Luther hat es ein ganzes Leben lang so gehalten. Er nannte es in seiner Sprache so: „Immer wieder zurück laufen zu seiner Taufe.“ Damit es nie verloren geht: Die Burg, in der ich bin, in die mich Gott gesetzt hat – ohne all meine Leistung, von außen kommend, eben Außenschaft – und nun ganz tief in mir drin, Innenschaft, Gott in mir als Gast, als Fremdarbeiter, der in mir arbeiten will. Er, nicht ich. Befreiend, erlösend ist das! Und wenn es so ist – und es ist so! - was folgt daraus? 3.3 „Macht Bahn! Macht Bahn! Räumt die Steine weg!“ So nahm die Reformation in der alten Kirche dann ihren Lauf, erneuerte die Kirche. Nicht, dass Luther eine neue Kirche wollte, nein, keiner dachte daran, wie denn auch? Die alte Kirche sollte nur diese neue innere Erfahrung in sich aufnehmen. Mehr nicht. Nur dies eine. Gott ist – ohn all mein Verdienst - meine innere und äußere Burg. Aber es kam eben (soll ich sagen zwangsläufig?) anders. „Macht Bahn! Macht Bahn!“ Und so nahm eben alles seinen Lauf. Die Steine, die mich von Gott trennen, waren weggeräumt. Luther also quasi ein Straßenbauarbeiter und die neue Straße – nun ja, eine neue Kirche – wurde gebaut. Luther nannte es in seiner Sprache so: „Der Eingang zu Christus ist der Glaube. Der Ausgang aber ist die Liebe“, sind die Früchte, die aus die-

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sem Glauben erwachsen – all unser Tun in dieser Welt, die diese Liebe Gottes bitter nötig braucht. Also frisch ans Werk und die Arbeit tun, die zu tun ist. Nicht mehr räsonieren, hin und her wenden, sondern das tun, was mir zu tun gebührt. Steine wegräumen, Steine des Krieges, der Ungerechtigkeit, des Hasses, der Lieblosigkeit – ach, was sag ich. - Steine der Gottverlassenheit, Gottvergessenheit wegräumen – aufräumen mit dem Irrglauben, dass unsere Welt Gott nicht braucht und man allein – selbst ist der Mann/die Frau - zurecht kommt. Was für eine freche, ja dreiste Lüge, wenn wir sehen, was wir damit bisher angerichtet haben. „Kirche der Freiheit“ heißt die neue EKD-Studie, Impulspapier, wie es genannt wird. Ja, Kirche muss, darf innerlich frei sein, befreit von Gott, angestachelt von Christus, in dieser Welt und für diese Welt (nicht für sich selbst, da sorgt schon Gott vor) zu wirken. Eine Kirche der Freiheit sorgt sich nicht um sich selbst, tut sie es, verleugnet sie ihren Auftrag. Auch sie steht ja in der Burg Gottes drin. Deshalb kann und muss sie sich immer wieder äußerlich erneuern, „semper reformanda“. Sie kann es aber nur, weil sie um ihren inneren Grund weiß, der von Gott, von Christus für sie gelegt ist, unerschütterlich. Weil ich innerlich fest bin, kann ich mich äußerlich verändern als „Kirche der Freiheit“. Ohne Angst, mich dabei zu verlieren, ohne Furcht, in Wespennester zu treten. Wie kann ich auch Angst haben, wenn ich innerlich weiß: Gott ist mein Fels und meine Burg, bin geborgen in ihm. Und das sind wir doch alle hier, oder? Sind wir’s nicht, so ist die Reformation eine Lüge und der Papst Benedikt hat mit seinem Gegenentwurf der allein selig machenden römischen Kirche doch recht. Wir geben ihm durch unsere Verzagtheit recht. Und das wollen wir doch nicht. Oder? 4. So also – gründlich und grundsätzlich belehrt durch den 2500 Jahre alten biblischen Text - haben wir das Reformationsfest anno 2007 in Deutsch-

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land und Göttingen zu feiern. Immer neu zurück zu den Anfängen - und dann stracks und mutig nach vorn, „semper reformanda“, immer wieder neu uns erneuern lassen durch Gott – heute, jetzt. Und wenn das schöne Wort, vor 20 oder 30 Jahre mal geprägt - von der „versöhnten Verschiedenheit“ der Konfessionen, der beiden Kirchen, von der die eine ja gar keine richtige sein soll, einen Sinn macht, dann eben so: Versöhnt sind wir alle, wir alle innerlich, aber eben versöhnt durch Gott in Christus und nicht durch uns selbst, durch unsere tollen Versöhnungsanstrengungen. Gott und Christus sind unsere Versöhnung. Daran gilt es auch heute festzuhalten. Das ist und bleibt der Grund jedes ökumenischen Miteinanders, und sei es auch noch so anstrengend. Versöhnt sind wir also in Gott – wenn wir denn in seiner Burg zu Hause sind. Aber verschieden, recht verschieden sind wir alle untereinander - äußerlich - und sind auch die beiden Kirchen, zum Glück würde ich fast sagen. Wie sind und bleiben verschieden mit je unserer eigenen Tradition, Glaubens- und Lebensweise. Und wenn der kluge Papst (er ist ja wirklich klug) sagt: Wir Protestanten seien gar keine richtige Kirche, nun gut, dann soll er aus seiner Sicht es so sehen, wenn’s ihm und seiner Kirche hilft, wenn er das braucht zu seinem Selbstverständnis. Nun gut. Verschieden sind wir hier. Und überlassen wir es in aller Ruhe Gott, was er davon hält und daraus macht. Loben und preisen wir vielmehr Gott, dass er uns verschieden geschaffen hat und dass wir unseren Glauben so vielfältig leben können - unseren Glauben, den Christus (er allein, nicht die Kirche, welche auch immer) gegründet hat. Denn der Grund auf dem wir alle, wir alle, stehen, ist nicht die Kirche, das sei ferne, es ist Christus, Christus allein. Deshalb haben wir alle auch keinen Grund, an eine Kirche glauben zu müssen. Wir glauben allein an Christus, das reicht aus. Er ist der Grund, grundsätzlich und gründlich.

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Versöhnt also in Christus (wirklich von innen versöhnt) bleiben wir verschieden in der Praktizierung unseres Glaubens unserer Kirchen, weil wir halt alle verschieden sind. - Wenn nur das Eine, das Eine allein, mehr und mehr unserer innere Gewissheit wird: Gott ist unsere Burg, er allein, wir sind in sie hineingestellt. So kann ich glauben und leben, leben und handeln in seinem Geist. So kann ich leben und einst – wenn Gott auf mich direkt zukommt - auch sterben. Steht noch dahin, Gott allein weiß wie lange noch. Nochmals: Wie heißt das schöne ökumenische Schlagwort vor 3o Jahren? „Versöhnte Verschiedenheit“. Ja – grundsätzlich innerlich versöhnt in Gott – bleibend verschieden äußerlich in unseren Kirchen, zum Glück verschieden. So können wir auf Augenhöhe miteinander umgehen, voneinander lernen, einander gegenseitig uns zur Liebe anreizen. Amen.

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Jörg Denke

Taufpredigt am Reformationstag 1999 in der St. AndreasKirche in Weddingstedt Liebe Gemeinde! Ein spannendes Datum habt ihr euch da für eure Taufen ausgesucht: Reformationstag. Ich weiß nicht, wie es euch so geht dabei, aber ich zucke bei diesem Datum immer ein wenig zusammen. Und es sind ziemlich wuchtige – und zum Teil auch erdrückende – Bilder, die mir dabei in den Sinn kommen: Luther, den Hammer schwingend – Gottesdienste, erlebt in der eigenen Schulzeit, mit wortgewaltigen und theologieschwangeren Predigten – eigenes Stottern vor Schulklassen, was es denn nun wirklich auf sich hat mit „Ablass“, „Fegefeuer“ und den Herren Luther, Tetzel, Eck und wie sie alle heißen. Und heute nun Taufe – am Reformationstag. Aber – was feiern wir da eigentlich heute am Reformationstag? Evangelisches Eigenlob nach dem Motto „Wir sind ja doch die Besten“? Eine Art evangelischen Heldengedenktag in Abgrenzung gegen alle anderen, besonders der katholischen Seite? Ein Geschichtsfest in Erinnerung besserer Zeiten? Hoffentlich das alles nicht. Am besten, wir schauen uns dieses Datum, das wir da feiern, einmal genauer an. Vielleicht wird dann einiges klarer. Wir erinnern uns: Am 31. Oktober 1517 – also einen Tag vor dem Allerheiligenfest, das in Wittenberg groß gefeiert wurde – schlug Martin Luther seine berühmten 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Ich will nun nicht in die Diskussion einsteigen, ob er sie nicht nur verschickt hat und das Anschlagen bestenfalls der Hausmeister besorgt hat. Auch, dass es eigentlich nur 90 Thesen waren und 5 erst später hinzukamen, soll nicht interessieren. Wichtig ist: Dieser 31. Oktober kennzeichnet den Beginn der reformatorischen Bewegung.

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Wir erinnern uns auch: Luther war katholisch; er kam aus der Mitte der katholischen Kirche. Er wollte einen Diskussionsprozess innerhalb der Kirche in Gang setzen. Nie hätte er sich träumen lassen, dass diese Diskussion schließlich zur Spaltung führen könnte. Schon deshalb eignet sich das Reformationsfest nicht zur Abgrenzung gegenüber den Katholiken. 1529 dann, beim Reichstag in Speyer, bekamen die Anhänger der Reformation dann ihren Namen. Weil sie in einer „protestatio“ Zeugnis ablegten für ihren Glauben, nannte man sie fortan „Protestanten“. Nun muss man diese Namensgebung heute erklären: „Protestatio“ heißt nicht, wie wir heute übersetzen würden, „gegen etwas sein“ oder „Einspruch erheben“, also „protestieren“. Sondern es heißt im Wortsinne „bekennen“, „Zeugnis ablegen“, „für seinen Glauben einstehen“. Und dieser Glauben hatte ein Fundament, nämlich die Rückkehr zu den Anfängen christlichen Glaubens, die Besinnung auf die Bibel und auf die biblischen Grundaussagen. Und dieses Anliegen ist heute so aktuell wie zu Luthers Zeiten. Was die Bibel sagt? Hören wir doch noch einmal auf die Worte aus dem Matthäus-Evangelium, unserem heutigen Predigttext: 26 Fürchtet euch nicht. Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. 27 Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. 28 Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. 29 Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater.

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30 Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. 31 Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. 32 Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. 33 Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. Matthäus 10, 26 – 33 Dieser Text ist nicht umsonst für den Reformationstag vorgeschlagen worden. Denn er enthält eine der Kernaussagen Jesu: „Fürchtet euch nicht“. Dreimal ist diese Aufforderung in diesem kurzen Abschnitt zu hören. Fürchtet euch nicht wegen eures Bekenntnisses zu mir, sagt Jesus. Er sagt dies zu seinen Jüngern, die ersten Adressaten dieser Aussendungsrede. Er sagt dies zu den ersten Christen, die diese Worte des Evangeliums lasen in einer Zeit der Verfolgung. Und er sagt es zu uns, die wir diese Worte heute lesen und hören: Fürchtet euch nicht, wenn ihr euch zu mir bekennt, wenn ihr mir auf meinem Weg folgt. Aber, ist das denn heute überhaupt noch unser Thema „Fürchtet euch nicht“? Haben wir etwas zu befürchten, nur, weil wir Christen sind? In anderen Ländern vielleicht, in China etwa, im Sudan oder im Iran. Auch in der damaligen DDR mussten Christen mit Benachteiligung rechnen. Und Diktaturen sehen Christen auch nicht gerade gerne. Aber heute bei uns? Uns ist doch die Religionsfreiheit durch die Verfassung garantiert; eine der großen Parteien nennt sich christlich – und alle Welt beschwört das „christliche Abendland“ mit seiner „christlichen Kultur und den christlichen Werten“. Da bräuchten wir uns doch wirklich keine Probleme zu machen. Wirklich nicht?

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Wir feiern heute Taufe – gleich drei Kinder – später dann noch ein weiteres – werden getauft. Scheinbar alles normal. Gleichzeitig aber sind in unserer Gemeinde 140 Kinder zwischen 0 und 14 Jahren nicht getauft – wohlgemerkt, Kinder aus Familien, bei denen mindestens Vater oder Mutter Mitglied der evangelischen Kirche sind. „Wir wollen unserem Kind alle Möglichkeiten offen lassen“, heißt es dann. „Es soll später selber entscheiden“ – allerdings, ohne ihm dann zu zeigen, wofür oder wogegen. Und der Anteil der Kirchenmitglieder in Dithmarschen ist in den letzten 10 Jahren von gut 80 auf ca. 64 % gesunken. „Ich kann auch Christ sein ohne die Gemeinschaft anderer – das muss nicht jeder wissen, dass ich Christ bin“. – Wirklich? Kann man denn nicht Christ sein ohne Kirche, ohne eindeutiges Bekenntnis zum Christentum, ohne getauft zu sein? Jesus sagt: Fürchtet euch nicht vor einem eindeutigen Bekenntnis zu mir. Sagt es laut und öffentlich im hellen Tageslicht, dass ihr zu mir gehört. Er setzt damit einen deutlichen Kontrast zu den heute verbreiteten Verhaltensweisen der Beliebigkeit, der Uneindeutigkeit, der Neigung, sich nicht festzulegen. Er macht klar: Ihr braucht keine Angst zu haben vor einem eindeutigen Bekenntnis zu mir – und macht damit gleichzeitig auch klar: diese Furcht gibt es. Sich bekennen, vom Glauben sprechen, nach christlichen Grundsätzen leben und darüber zu reden - nicht nur in der Kirchengruppe, sondern öffentlich, beim Elternabend oder am Stammtisch den Glauben ins Gespräch zu bringen, zu sagen, dass man gegen den Trend doch etwas von Kirche und Glauben hält – das macht Angst, auch heute noch. Überhaupt – Angst ist ein Lebensgefühl, das uns so fremd nicht ist. Den Teufel fürchten wir zwar nicht mehr, anders als die Menschen zur Zeit Jesu oder zur Zeit Luthers. Unsere Ängste haben einen anderen Namen: Krankheit, Unfall, Arbeitslosigkeit, Scheidung, Tod – oder auch viel kleiner: Dunkelheit, Alleinsein, die nächste Klassenarbeit. Aber teuflisch ist die Angst immer noch, wenn sie Macht über uns gewinnt.

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Fürchtet euch nicht, sprecht aus, was euch zum Leben hilft, was euch ängstigt und bedrückt. Fürchtet euch nicht vor der Wahrheit. Bekennt euch zu mir und zu euch selbst, sagt Jesus. „Zu Jesus und zu euch selbst“ – das gehört untrennbar zusammen. „Hier stehe ich, ich kann nicht anders“. – Wir erinnern uns an die berühmten Worte Luthers vor dem Reichstag in Worms, wuchtig und trotzig, so als könne keine Angst diese Überzeugung erschüttern. Wir erinnern uns: So war es nicht. Durch schwere persönliche Krisen, tiefe Zweifel und Verzweiflung hin hat Luther schließlich die Überzeugung gewonnen: Was ich bin, ist Gottes Geschenk… und man erzählt, er habe, wenn die Verzweiflung und die Angst besonders übermächtig zu werden drohte, mit Kreide auf den Tisch geschrieben: „Ich bin getauft“. Und daraus habe er neue Kraft gewonnen. Zu wissen: Ich bin Gottes geliebtes Kind. Was auch geschieht – ich brauche mich nicht zu fürchten. Gott ist ja da. Gottvertrauen als Mittel gegen die Angst. So sagt es Jesus. Nicht einmal ein Spatz stirbt, ohne dass Gott es weiß. Ja, es fällt nicht einmal ein Haar von euerm Kopf, ohne dass Gott das weiß. Fürchtet euch nicht. Nichts und niemand kann euch von Gott trennen. Bei Gott seid ihr geborgen, von seiner Gegenwart umhüllt in guten und in schweren Zeiten, in Freude und in Angst, in Gesundheit und Krankheit, im Leben und im Tod. Dieser Glaube, zu dem Jesus uns ermutigt, strahlt große Freiheit aus. In diesem Glauben schrieb Luther seine Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“, in der es heißt: „Ein Christenmensch ist freier Herr aller Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan“. In dieser Spannung von Freiheit und Bindung bewährt sich Glaube. Frei von Angst, frei zur Wahrheit, frei gegenüber Macht und Zwang, aber gebunden an Gott und seinen Weisungen, gebunden an die Liebe, gebunden an die Gerechtigkeit – so kann ein Christenmensch leben und sich offen zu seinem Glauben bekennen.

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Also: Fürchte dich nicht – du bist ja getauft. Fürchte dich nicht – Gott ist ja da. Amen.

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Donata Dörfel

Prédication au Centre paroissial de Chêne pour la fête de la réforme 2007 Seigneur, accorde nous ta présence, pour annoncer ta bonne nouvelle, et écouter avec un coeur ouvert et simple. Amen Chères Paroissiens, Le Temple de Chêne, notre Temple, est en travaux depuis le début de l’année. Les personnes qui l’ont visité, il y a quelques semaines, ont pu avoir l’impression que presque tout avait été enlevé durant ces premiers mois de travaux: l’orgue, les bancs, les gradins, le matériel liturgique. L’ensemble sera rénové avec des matériaux nouveaux, et, grâce au savoir faire et à la passion de l’architecte et des ouvrier, avec des techniques anciennes pour préserver l’intégrité du lieu. Les murs seront rafraîchis, les bancs entièrement restaurés, ainsi que les colonnes et la galerie. De nouveaux systèmes de chauffage et d’électricité seront installés. Et ces travaux vont durer encore une année. Quand bien même ceux-ci sont importants et les transformations seront visibles pour tous, il y a une partie de ce bâtiment qui ne va pas changer, ce sont les fondations. Même si des travaux de confortation de celles-ci et des murs d’enceinte ont été nécessaires. Le Temple repose sur des fondations solides, invisibles pour nous et pourtant bien présentes et qui ont permis la pérennité du bâtiment. Lors que l’on envisage de construire un bâtiment, les premiers travaux de chantier serviront bien sûr à établir les fondations, ensuite on pourra construire toute sorte d’édifices. On peut utiliser des matériaux de construction différents : de la pierre, solide comme du roc ; du bois, matériau vivant et chaleureux ; du métal ; du verre transparent et brillant ; du béton, malléable tant qu’il n’a pas séché et ensuite si dur et rigide. La rénovation de notre temple servira pour nous ce matin comme

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allégorie, comme image, pour nous montrer que le renouvellement spirituel est toujours nécessaire à notre foi. Il y a maintenant presque cinq cents ans, que les grands Réformateurs de l’Église, Martin Luther en Allemagne, Huldrich Zwingli et Jean Calvin en Suisse ainsi que John Knox en Angleterre et d’autres théologiens de leur époque, se sont mis ouvertement à critiquer l’église, qui était devenue corrompue sur le plan de l’éthique, de ses agissements ainsi que de sa doctrine. Mais le but de Martin Luther n’était pas du tout de proposer une nouvelle confession; il voulait plutôt inspirer un changement dans toute l’église. Pour lui l’église restait tout à fait le corps du Christ – même dans une forme si corrompue. Mais la tête de ce corps devait être le Christ lui même et non quelque représentant terrestre, non pas le pape à Rome. Il a critiqué quelques pratiques surtout le commerce des lettres d’indulgence avec lesquelles l’église catholique romaine de l’époque florissait économiquement. Et comme ça Martin Luther a toujours bien réspecté les bases de l’Église universelle. On pourrait dire que toute la Réforme visait ce but, de faire revenir l’église à ses origines propres. Pour cela Martin Luther (et après lui la tradition luthérienne) a gardé les anciennes formulations de la confession de la foi. Cela a inspiré plus tard – et inspire jusqu’à maintenant - le dialogue œcuménique: Le symbole des Apôtres, qui est aussi récité dans l’Eglise Catholique Romaine, ainsi que le symbole de Nicée, formulé en l’année 325, qui est utilisé dans toutes les églises orthodoxes en Grèce, en Russie, dans toutes les pays de l’est. Pour Martin Luther les bases restaient bien en place, même s’il fallait reconstruire l’édifice dessus. La Réforme ici en Suisse et surtout à Genève était plus rigoureuse en ce qui concerne les symboles de l’Ancienne Eglise. Chaque génération doit pouvoir plutôt exprimer sa foi de manière renouvelée, selon les attentes

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et la situation du moment. Nous trouvons donc une grande richesse de formulations dans la tradition réformée. Et ici, dans la Paroisse de Chêne je trouve cette pratique très vivante. Quelle richesse! Mais en même moment je me demande - comme pasteure luthérienne: „Pourquoi ne récitons-nous pas ensemble plus souvent les anciennes confessions de foi? “ Il se trouve aussi dans leurs formulations une richesse, qui a été transmise à travers les siècles et qui nous tient en contact avec les autres confessions. Ne me comprenez pas mal! Je respecte tout à fait la richesse des formulations dans la tradition reformée. Les temps le demandent, avec une telle agression partout, avec les guerres en Afrique, au Proche-Orient et en Asie, soutenues par les fabricants d’armes et la politique des pays de l’ouest. Comment rester des chercheurs de paix à notre époque? Nous devons garder une position spirituelle ferme entre la globalisation du commerce et l’exploitation des milliards de femmes, d‘hommes, et d‘enfants: Comment devenir quand même un chercheur de justice aujourd’hui? Comment trouver sa propre position au milieu de luttes entre les cultures et les essais pour un dialogue interreligieux? Confesser notre foi aujourd’hui ne peut sûrement pas signifier: Se reposer sur les formulations de la tradition. Mais il faut les redécouvrir. Chaque mot dans les symboles a sa propre histoire; il vaut la peine de se mettre en marche pour le découvrir. Cela pourrait être une occasion pour vous et pour moi comme pasteure remplaçante à Chêne de réfléchir ensemble à cette question. Mais au coeur des Symboles et des différentes formulations, des fondement de l’Eglise universelle - et dans toutes les confessions et dénominations - reste le Seigneur lui même. La première confession de la foi chrétienne, que nous trouvons dans les écritures du Nouveau Testament, est tout simplement construit de ces deux mots grec: Kyrios Yesus – Jésus est le Seigneur. Rien que ça – Rien de plus.

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L‘apôtre Paul a relevé et rapporté cette simplicité et il a souligné dans sa première lettre aux Corinthiens, chapitre 3, verset 11: Les fondations sont déjà en place dans la personne de Jésus-Christ, et aucun homme ne peut en poser d’autres. La personne de Jésus-Christ – c’était pour l’apôtre Paul la clef. Pour les chrétiens dans la ville de Corinthe au bord de la Mer Méditerranée, ce rappel semblait tout à fait nécessaire. Corinthe connaissait une grande prospérité grâce à ses deux ports; le commerce était florissant – comme à Genève-, la vie culturelle intense, les mouvements philosophiques ou religieux actifs. Mais l’immoralité y était grande. La jeune communauté chrétienne se trouvait donc soumise à toutes sortes d’influence, et l’on comprend qu’elle ait donné de sérieux soucis à l’apôtre. La paroisse à Corinthe tendait à se diviser en plusieurs parties. C’est pour eux, que l’apôtre Paul utilise cette image d’un bâtiment pour souligner: Vous ensembles, vous êtes l’édifice de Dieu, fondé sur le Christ lui même. Restez donc solides dans vos âmes, vos pensées, votre compassion. Restez solides avec votre regard sur lui, votre maître. Retournez toujours ensemble à cette fondation qui vous est posée par un «bon architecte», (l’apôtre lui même, qui - par sa prédication - avait provoqué leur intérêt et leur compassion). Voila ce qui reste sans doute le fondement de toute l’église universelle: Jésus-Christ est maintenant – comme dès le début - la base de notre foi. Et comme Martin Luther et les autres Réformateurs, Jean Calvin a insisté sur cette signification du Christ pour notre foi. La mort et la résurrection de Christ lui apparaissent comme une offre adressée à notre existence aussi controversée que déconcertante; une offre qui mérite à ce titre de prendre la première place dans nos efforts pour mener une vie réussie. Calvin écrit: “Sommes-nous insensés – lui-même est notre sagesse devant Dieu. Sommes-nous pêcheurs – lui-même est notre justice. Sommes-nous impurs – lui-même est notre sanctification … . Portons-nous ce corps qui

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appartient à la mort – lui-même est notre vie.“ Ici nous trouvons la réponse à la question de la justification, question basique pour touts les réformateurs. Ils se sont demandés: Comment nous montrer dignes de la vie que Dieu nous a donnée ? Comment venir à bout de nos lacunes évidentes et de nos fautes? Calvin a répondu: En nous engageant dans la communauté qui nous est proposée par Christ, en considérant ce dernier non pas dans la perspective du spectateur, „de loin, hors de nous“, mais comme celui qui a “bien daigné nous faire un avec lui“. Unité avec Christ, communauté avec sa justice qui nous décharge de nos vaines tentatives de rechercher le salut en quelque sorte à nos propres risques. Et ici Calvin est en concordance avec la théologie luthérienne. La relation entre nous et le Christ toujours vivant, c’est ce qui compte. Par notre baptême, nous sommes entrés dans cette relation et le Seigneur lui même compte sur nous. Comme dans les béatitudes, que nous avons écoutées: il veut nous inspirer - par son esprit - à vivre d’une façon simple et réceptive à la grâce et l’amour de Dieu. Martin Luther a souligné: «Nous sommes des mendiants», toujours dépendants de la grâce de Dieu. Et dans n’importe quelle pratique nous nous trouvons, nous restons toujours si dépendants de Dieu, comme des mendiants. Nous ne sommes jamais justes devant lui à cause de nos propres actes, mais seulement par cette relation avec le Christ – gratuitement. C’est pour cette raison, qu’il nous a laissé un signe de sa présence parmi nous. En célébrant la Sainte Cène, il veut entrer dans le coeur de chacun et de chacune de nous. La personne Jésus-Christ, c’est en même temps Jésus de Nazareth, qui a vécu en Palestine il y a 2000 ans, qui a guéri et renforcé beaucoup des gens pendant sa vie terrestre, et c’est le Christ ressuscité, toujours vivant, toujours prêt à être présent parmi les tout petits, présent dans les souffrances, présent même à l’heure de notre mort. Il est et reste le fondement même si notre coeur ressemble tellement à un terrain à bâtir. Nous avons besoin d’une telle

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reconstruction, une réformation de nos propres coeurs. Jésus-Christ est parmi nous pour nous toucher, pour remettre nos pas sur le chemin de l’amour fraternel. C’est lui-même qui console nos coeurs et les affermit en toute bonne oeuvre et parole. Amen.

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Heide Emse

Predigt zum Reformationstag 1995 im Rahmen eines Gottesdienstes für die Oberstufe des Gymnasiums Großhansdorf Liebe Schülerinnen und Schüler, liebe Gemeinde, Reformationstag ist heute. Ich kann ihn nicht denken und nicht begehen, ohne zu erinnern, wie es war, als ich Kind und Jugendliche war: Ich bin im katholischen Emsland aufgewachsen und zur Schule gegangen. Im Gymnasium war ich die einzige evangelische Schülerin in meiner Klasse und das war nicht ungewöhnlich. Aus sechs bis acht Klassen wurden wir zum Religionsunterricht zusammengefasst. In manchen Jahren fand der Religionsunterricht auf dem Flur statt, weil die Katholiken mit ihrem Religionsunterricht selbstverständlich die Klassen besetzt hatten. Fronleichnam oder Aschermittwoch war schulfrei; das fand ich natürlich schön; aber dazugehört habe ich nicht. Ich weiß noch, wie ich voller Neid hinter der Gardine stand und die Fronleichnamsprozession verfolgte, die an unserem Haus vorbeizog: so viel Prunk, so viele Lieder, so viele Menschen – und die kleinen Mädchen, die zur Ersten Kommunion gingen, in wunderschönen weißen Kleidchen. Ich würde nie so eines bekommen. Und an Aschermittwoch zog ich mir die Haare ins Gesicht, damit niemand sehen könnte, dass ich kein Aschenkreuz auf der Stirn trug. Aber dann kam – jedes Jahr wieder – der Reformationstag. Auch schulfrei. Und wir gingen in unsere Kirche und sangen, selbstverständlich im Stehen: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Und mir war klar, dass ich doch auf der richtigen Seite war. Und jedes Jahr wieder – so jedenfalls habe ich es in Erinnerung – jedes Jahr wieder hörte ich die Geschichte von Martin Luther und seinem Thesenanschlag an das Tor der Schlosskirche zu Wittenberg. Und ich sah ihn richtig vor mir: Schwarz, im langen Ta-

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lar, der sich in Wind und Regen bauschte, zornig und mit einem Hammer in der Faust klopfte er die Nägel in das feste Holz. Und da hingen dann seine 95 Thesen, Folge der Grundeinsicht aus dem Römerbrief, die wir eben als Lesung gehört haben: „So halten wir denn dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein aus Glauben.“ Und für mich war klar damals, dass die Feier von Fronleichnam mit seinen Prozessionen und der Aschermittwoch mit dem Aschenkreuz auf der Stirn nichts anderes wären als Zeichen für des „Gesetzes Werke“. Und wenn wir Evangelischen auch so wenige waren, war ich froh, auf die Seite derer zu gehören, die richtig glaubten. Heute denke ich, mich hat damals zunächst weniger der Inhalt der Thesen interessiert, als die Kraft fasziniert, mit der der kleine Mönch Luther da zu Werke ging. Das ließ mich fragen: Woher kommt solche Kraft? Woher weiß ein Mensch für sich allein, dass er im Recht ist gegen den Rest der Welt, gegen die Mächtigen der Kirche, gegen den Papst, gegen die Mächtigen überhaupt? Woher nimmt er den Mut, sich den gängigen Überzeugungen und denen, die sie machtvoll vertreten, entgegenzustellen? Woher kommt die Kraft, die nachhaltig dafür sorgen wird, dass sich diese Haltung wird bewahren lassen? In Rom in der Nähe von Papst und Kurie wird sie sich ebenso zeigen, wie vor dem Reichstag zu Worms, auf den die Verhängung der Reichsnacht über ihn durch Kaiser Karl folgen wird. Äußerer Anlass für den Thesenanschlag war der Ablasshandel, der die Angst der damaligen Menschen vor dem Fegefeuer – für sich und für ihre schon verstorbenen Angehörigen – nutzte, um Geld aus ihnen herauszupressen, mit dem dann das Leben der Kurie mit finanziert wurde, wesentlich der Bau des Petersdoms in Rom. In der Diktion der sechziger und siebziger Jahre wurden die 95 Thesen häufig als weitgehend herrschaftskritisches und sozialkritisches Material qualifiziert, das sich aber wie zwangsläufig ergebe aus einer theologischen Einsicht, die dann ethische Konsequenzen zeitige. Denn die Ausgangsthese lautet: „Da unser Herr und Meister Jesus Christus spricht:

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’Tut Buße’ usw. (Mt. 4,17), hat er gewollt, dass das ganze Leben der Gläubigen Buße sein soll.“ Luther besteht darauf, dass Buße-Tun eine Angelegenheit zwischen Gott und Mensch sei, in die sich ein anderer Mensch nur insofern einschalten könne, als er dem oder der wirklich Bußwilligen und Reuigen quasi als Mund Christi zusichert, als Gottes geliebtem Kind seien ihm/ihr die Sünden vergeben. Er formuliert in den Thesen 37 und 38: „Jeder Christ, der wirklich bereut, hat Anspruch auf völligen Erlass von Strafe und Schuld ... Jeder wahre Christ ... hat Anteil an allen Gütern Christi und der Kirche, von Gott ihm auch ohne Ablassbrief gegeben.“ Und in den Thesen 63 und 64 spitzt er zu: „Der wahre Schatz der Kirche ist das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes. Dieser ist zu Recht allgemein verhasst, weil er aus Ersten Letzte macht.“ Diese theologischen Einsichten machen Luther hellhörig gegenüber Machtansprüchen und Heilsversprechen von Menschen, seien es nun weltliche oder kirchliche Herrscher. Er erkennt, dass das Evangelium verraten wird, wo Menschen Menschen wie auch immer knechten und eben nicht „das allerheiligste Evangelium von der Herrlichkeit und der Gnade Gottes“ (These 63), das die Taten der Liebe für Menschen möglich macht (These 45), als der wahre Schatz der Kirche begriffen wird. Deshalb wendet er sich energisch und selbstbewusst gegen solche Feudalherren. Zugleich geben gerade diese Einsichten ihm den Mut und die Kraft, unbeirrt seinen Weg weiter zu gehen. Die verfasste Kirche – nicht zuletzt das führte die Reformation, an deren Auftakt wir heute besonders denken, vor Augen – neigt wie jede Institution dazu, sich selbst zum Selbstzweck zu werden, die eigene Selbsterhaltung zum Ziel und zum Zweck ihres Handelns werden zu lassen. Und das heißt: Kirche als Institution steht in der Gefahr, sich, lediglich um sich selbst zu erhalten, auf die Seite der Herren, der Machthabenden in dieser Welt zu schlagen, deren Gesetze selbst anzuwenden, alles zu ihrem eigenen Macht-Vorteil zu tun und genau damit ihren Schatz und ihren ureigenen Auftrag aus dem Blick zu verlieren.

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Dies alles wurde durch die Reformation deutlich; und ebenso wurde in ihr deutlich gemacht: So geht es nicht. Kirche hat im Gegenteil den Auftrag, sich an die Seite derer zu stellen, die die ausgelieferten, die Schwachen, die Armen sind. In der Sprache der Bibel heißt das, wie in einer Art Manifest: Jesus spricht: „Der Geist Gottes ruht auf mir, darum weil er mich gesalbt hat, zu verkündigen das Evangelium den Armen; er hat mich gesandt, zu predigen den Gefangenen, dass sie los sein sollen, und den Blinden, dass sie sehend werden, und den Zerschlagenen, dass sie frei und ledig sein sollen, zu verkündigen das Gnadenjahr des Herrn.“ Lk. 4,18-19. Ich finde es selbstverständlich, dem Rechnung zu tragen, dass wir es in der Reformationszeit mit einer Zeit zu tun haben, die im Ganzen solch herrschaftskritisches Denken von Einzelnen erst ermöglichte. Es kann nicht darum gehen, wie ich es als Jugendliche gern gehabt hätte, Luther als Einzelperson zu glorifizieren. Dazu war er an etlichen Punkten zu fragwürdig; z.B. hatte sein Antijudaismus in unserer Kultur schreckliche Folgen. Aber er stand für eine Herrschaftskritik, die sich für ihn notwendig aus seinem Glauben ergibt, und er stand zu ihr – egal welche Folgen das für ihn haben würde. „Ich stehe hier; ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen“ ist sein berühmter Ausspruch vor weltlichen und Kirchenfürsten. „Ich stehe hier; ich kann nicht anders“ und das heißt: Es wird mich niemand vertreiben oder in die Knie zwingen, nur weil er die Macht hat; und er wird mich auch da nicht vertreiben oder in die Knie zwingen, wo er seine Herrschaft gegenüber Unterlegenen, Unterdrückten, An-den-Rand-Gedrängten, Armen ausnutzt. In diesem Sinne: „Ich stehe hier; ich kann nicht anders“ aufzutreten, wo der Glaube an die Liebe Gottes das erfordert, offen zu widersprechen, sich auch zu trauen, dass die anderen einen nicht angenehm finden, ist

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eine Grundbotschaft der Reformation. Sich klar zu machen, dass auch Religion, auch Kirchen als Institutionen in der Gefahr stehen, sich mit den Herrschenden zu arrangieren, mit ihnen gemeinsam auf Kosten anderer zu leben, ist eine Grundbotschaft der Reformation, und dass Menschen die Möglichkeit haben und sie nutzen sollen, sich im Namen Gottes gegen solche Tendenzen zur Wehr zu setzen – bis heute. Alles andere Reden und Handeln, auch in der Kirche, auch in den reformatorischen Kirchen, läuft dem eigentlichen Auftrag, das Evangelium in Wort und Tat zu verkündigen, zuwider. Das ist Reformation und das ist die immer wieder gefährdete Botschaft der reformatorischen Kirchen. Auf solches Engagement in den Kirchen heute ist zu achten. Es gibt es immer noch. Von einem möchte ich erzählen, das allerdings räumlich weit weg liegt und in der katholischen Kirche angesiedelt ist. Vor einiger Zeit habe ich Padre Angel Maria Martinez kennen gelernt. Er ist katholischer Priester, vielleicht um die 60 Jahre alt. Er stammt aus Spanien. Sein Leben hat er aber im Wesentlichen in El Salvador verbracht. Dort hat er mit Menschen der ärmsten Bevölkerungsschicht in so genannten Basisgemeinden zusammen gelebt. Er hat sie sicher vieles gelehrt, von gesunder Lebensführung bis hin zu Lesen und Schreiben. Sein vorrangiges Ziel aber war, diesen Menschen ein Gefühl für ihren Wert und ihre Würde zu vermitteln, sie immer wieder erfahren zu lassen, was solches Wissen um den eigenen Wert damit zu tun hat, dass nach seinem Glauben Gott die Menschen, alle Menschen, auch die Slumbewohner von El Salvador, als seine Ebenbilder geschaffen hat, denen deshalb Achtung und Respekt gebührt, egal mit wem und mit welchem Machthaber oder mit welcher Behörde sie sich auseinander zu setzen haben. Padre Angel hat deshalb mit den Menschen, vor allen Dingen den Frauen seiner Gemeinden in El Salvador nicht nur die Bibel gelesen. Darüber hinaus ging es ihm in seiner Arbeit im Wesentlichen um drei Punkte: um Alphabetisierung, um Organisation und – kaum zu glauben für eine kirchliche Gemeindearbeit – um banking. Die Frauen sollten Lesen und

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Schreiben lernen. Dann sollten sie sich organisieren, Arbeits- und Handelkooperationen gründen, damit sie mit ihrer Hände Arbeit und mit dem Absatz von Waren Geld verdienen könnten. Der Austausch über den Stand der eigenen Arbeit wie der wirtschaftlichen und der allgemeinen Lage in der Welt sollte gewährleistet werden durch ein eigenes Informationssystem; darum wurde schließlich eine Rundfunkanstalt gegründet und eigenständig betrieben. Zu all dem, um dies alles in Gang zu setzen, brauchte es Geld, Startkapital, Kredite. Darum baute Padre Angel eine Art Bankwesen für die auf, die von den herkömmlichen Banken kein Geld bekommen. Und siehe da, das Ganze funktionierte. Glücklich sollten wir, sollte El Salvador, die Kirche sein über das, was da alles in Gang gesetzt worden war. Aber so ist es nicht gekommen. Als ich Padre Angel kennenlernte, lebte er nicht mehr in El Salvador. Er und die Angehörigen seiner Gemeinden waren wohl unbequem geworden. Die kirchlichen wie die politischen Machthabenden hatten ihm „kommunistische Umtriebe“ vorgeworfen. Er verließ das Land, um einer Ausweisung zuvor zu kommen. Denn nach einer Ausweisung hätte er nicht mehr einreisen dürfen und keinen Kontakt mehr zu den Gemeinden halten können. Er hat sich dann in Mexiko niedergelassen und von dort den Kontakt zu seinen Gemeinden wieder aufgenommen. Als ich dies hörte, war meine erste Reaktion Wut. Wie hat man diesem Mann mitgespielt, der mit so viel Kreativität den ärmsten Menschen das Evangelium in Wort und Tat verkündete. Aber dann: Ich war und bin froh darüber, dass es Menschen wie ihn gibt, dass sie ihre Arbeit tun und ihr im Glauben begründetes Engagement leben, so unerschrocken und unbeeinflussbar, mit ihrer Erfahrung des „Ich stehe hier; ich kann nicht anders. Gott helfe mir, Amen“. Für mich sind solche Menschen ein Zeichen dafür, dass es weitergehen wird mit der Verkündigung des Evangeliums in Wort und Tat, ein Grund für die Hoffnung, dass immer wieder doch Gott an uns und in unserem Leben sichtbar wird, dass die Liebe und das Leben bleibt.

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Dieser Mann, dieser „Reformator“, von dem ich erzählt habe, war und ist Katholik. Meine Kinder- und Jugendklischees stimmen – Gott sei Dank – nicht. Heute werden wir – davon bin ich überzeugt – als Kirchen in einer Welt, die die Botschaft von Gott, der unserem Leben die Liebe und seinen Sinn gibt, braucht wie nichts anderes, nur bestehen können, wenn wir uns auf unsere gemeinsamen Wurzeln beziehen und allein daraus unser Handeln in der Welt abzuleiten suchen. Amen.

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Peter Fenten

Predigt am Reformationstag 1992 in der Universitäts-Kirche in Kiel Römer 3, 21-28: Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott in seinem Blut hingestellt als Sühne aufgrund des Glaubens. Damit erweist er seine Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen darin, daß er sich selbst als gerecht erweist und gerecht macht den, der da lebt aus dem Glauben an Jesus. Wo bleibt nun unser Ruhm vor Gott? Er ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nur dafür, daß der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.

Liebe Gemeinde, das ist sie, die Zentralstelle der reformatorischen Theologie: Durch die Erlösung in Jesus Christus wird der Mensch - damit sind Sie gemeint, und ich, und alle die sich um den christlichen Glauben bemühen - durch die Erlösung in Jesus Christus also werden wir gerecht nicht durch eigenes Verdienst und Handeln, sondern allein dadurch, daß wir uns zu diesem Jesus Christus bekennen. Und weil man das zu Zeiten der Fegefeuer-Theorie und des Ablaßhandels anders sah, hat sich unter anderem an dieser Römerbrief-Stelle Mar-

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tin Luthers reformatorischer Protest entzündet. Mit ihr hat er seinen Widerspruch gegen die römische Kirche seiner Zeit begründet, und an ihr haben sich die Geister mehrerer europäischer Jahrhunderte geschieden. Und obwohl es heute eigentlich kaum noch theologischen Dissens über diese Stelle gibt, ist es noch immer nötig, sich einer „Konfession", einem Bekenntnis zuzuordnen, wenn man sein Christsein „offiziell" benennen will. Sie sehen, welche Konsequenzen das Neuverstehen dieses grundlegenden Textes gehabt hat. Sie alle sind Grund genug, bis heute die Reformation als Ereignis zu feiern - so, wie wir dies am heutigen Tag tun. Doch „Reformation" „feiern" - ist das eigentlich noch ein Anliegen, das die Konfessionen, das evangelische und katholische Christen wirklich bewegt - positiv - oder auch negativ? Ich kann das kaum mehr erkennen. Nicht nur, daß ich es als Zeichen der Hoffnung und der Überwindung alter Hemmnisse deute, wenn dieser Tage Galileo Galilei zu seinem 350. Todestag katholischerseits rehabilitiert wird, - nein, der konfessionelle Streit ist - Gott sei Dank - zum Spezialgebiet von Fachtheologen geworden. Im Bereich unserer beiden Studentengemeinden jedenfalls arbeiten wir Evangelische auf harmonischste mit eben jener katholischen Kirche zusammen, von der es mir noch zu Schülerzeiten als eine hohe protestantische Pflicht beigebracht worden war, strikteste Distanz zu halten - als ob Katholischsein eine ansteckende Krankheit gewesen wäre. Gewiß, es gibt noch etliche Hürden zu überwinden, aber Reformation heute - das muß etwas anderes bedeuten! Aber was? Neulich sagte in der ESG ein Student zu mir: „Ich bin so enttäuscht. Alle ziehen sich in ihre vier Wände zurück, es gibt kaum noch Leute, mit denen zusammen ich an der Verwirklichung meiner Ideale arbeiten kann. Geschweige denn, dass es noch jemanden reizt, mal eine Nacht lang über den Sinn des Lebens zu diskutieren. Ich frag mich langsam: Machen sich

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die Leute eigentlich überhaupt noch Gedanken über den Sinn ihres Lebens? Manchmal sehe ich nur noch Nebel um mich herum." Diese Klage, dieser Ausdruck der Sinnkrise macht deutlich, was Reformation heute zu sein hat: Sie dreht sich nicht mehr um die Luther-Frage: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?", sondern sie dreht sich um die Frage: Wozu das alles? Womit komme ich weiter in meinem Leben? Wie werde ich fertig mit all den Krisen, die mich umwabern? Da sind ja nicht nur unsere kurzfristig hausgemachten Krisen von Hochschulmisere über Staatsfinanzdebakel und Konjunkturflaute bis hin zu der Mauer in unseren Köpfen, sondern da sind ja auch noch die viel bedrohlicheren Entwicklungen - etwa, daß Kriege wieder führbar geworden sind, daß täglich eine Tierart ausstirbt, daß Hungerepidemien ganze Regionen entvölkern und daß ein völlig überholtes Weltwirtschaftssystem die einen immer reicher macht und die andern entweder in die Knie oder auf die Flucht zwingt. Wie mit all dem fertig werden? Wohin führt das alles? Erst wenn man diese anklagenden Fragen ins Positive wendet, dann ist es spürbar: Dahinter verbirgt sich ja nichts anderes als ein enormes Bedürfnis nach Reformation: Die Suche nach einer Kraft, die mir hilft, aus meiner Enttäuschung herauszukommen, mein Leben zu bewältigen, - einer Kraft, die mir die Richtung weist und mir den Sinn dafür erschließt, wofür ich leben und arbeiten kann. Doch gibt es diese reformatorische Kraft? Gibt es den Ausweg aus den Zwängen, die uns umgeben, aus den Krisen dieser Welt? Wenn wir nur halbwegs ehrlich sind, dann wissen wir die Antwort: Nein. Es gibt sie nicht, die Lösung, die alle Probleme beseitigt, es gibt ihn nicht, den Ausweg, der zur globalen Harmonie führt, die wir uns wünschen. Diese bittere Wahrheit macht uns niedergeschlagen und traurig. Doch damit nähern wir uns andererseits wieder unserem Thema: „Reformation". War da nicht auch einer, bevor er „Reformator" wurde, der nie-

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dergeschlagen, traurig, ja höchst verzweifelt war? Aus seinen eigenen Berichten wissen wir, wie sehr Luther hat kämpfen müssen, bis er sich durchgerungen hatte zur Freiheit seines neuen Glaubenshorizontes. Es mag für uns heutige kaum mehr nachvollziehbar sein, welch ein Durchbruch die Erkenntnis für Luther bedeutete, daß die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, eben nicht die eines strafenden und sühnenden Richters ist, sondern in Wahrheit eine positive Ungerechtigkeit, eine Art Verurteilung zur Begnadigung für alle, die aus dem Glauben an Jesus Christus leben. Bleibt die Frage, ob diese Befreiung, die Luther damals zuteil geworden ist, auch uns noch etwas bedeuten kann. Lassen Sie uns ihr abschließend nachgehen. Auffällig ist ja, daß der Begriff Gerechtigkeit, der in unserem Römertext eine so zentrale Rolle spielt, auch in unserem heutigen Denken eine beträchtliche Bedeutung hat: Beispielsweise wird sie in der konziliaren Trias von „Gerechtigkeit, Frieden, Bewahrung der Schöpfung" an erster Stelle genannt; oder in der Aufarbeitung der Machenschaften des SEDRegimes in der früheren DDR: Wie wichtig, aber auch fragwürdig ist dabei der Begriff Gerechtigkeit plötzlich geworden! Doch immer geht es dabei um wirtschaftliche oder juristische Gerechtigkeit, um den angemessenen Ausgleich zwischen konkurrierenden Interessen. Genau darum jedoch geht es bei der befreienden „Gerechtigkeit Gottes" eben nicht. Diese Formulierung: „Gerechtigkeit, die vor Gott gilt“, ist nur zu verstehen, wenn wir berücksichtigen, an wen Paulus seinen Römerbrief gerichtet hat: an die judenchristliche Gemeinde in Rom, die noch in enger Beziehung zur Synagoge und zum jüdischen Denken stand. Dort nun haben aber die Gemeindeglieder sofort den alttestamentlichen Begriff von Gerechtigkeit vor Augen gehabt, der so viel bedeutet wie „im Rechtsverbund bleiben", bündnistreu sein. Damit haben wir auf einmal zwei neue Aspekte gewonnen:

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- Zum einen klingt es auch für unsere Ohren wesentlich anschaulicher, wenn wir im Zusammenhang unseres Predigttextes statt von „Gottes Gerechtigkeit“ von „Gottes Bündnistreue" sprechen: Es fällt uns sofort wie Schuppen von den Augen, daß ja in der Tat das uns befreiende Handeln Gottes in Christus die Fortsetzung und Erneuerung des Alten Bundes ist, und daß nun das Neue daran ist, dass wir seit Kreuz und Auferstehung unsererseits nicht mehr nur begnadigt, sondern gerechtgemacht, - will heißen: bündnisfähig - gemacht sind, - und dies ohne all unser Verdienst und Würdigkeit. - Der andere Aspekt liegt jedoch darin, daß wir bei der Frage nach der reformatorischen Kraft heute vielleicht doch einen Schritt weiterkommen: Wenn wir z.B. auch den konziliaren Begriff „Gerechtigkeit" im NordSüd-Verhältnis in den Gedanken der „Bündnistreue" übersetzen, dann wird auf einmal ein ganz neues Denken im Blick auf unsere Weltwirtschaftsbeziehungen deutlich: Dann stehen uns nicht mehr auszuplündernde Bananenrepubliken gegenüber, sondern Bündnispartner, die das gleiche Recht auf ein menschenwürdiges Leben haben wie wir. Uns zu verbünden mit den Armen, Partner zu werden: Das ist die Gerechtigkeit, die Gott meint - und die er uns ja schon längst angedeihen ließ! Und dies ist die einzige Gerechtigkeit, die unsere Welt vor der endgültigen Krise bewahren kann! Wäre das vielleicht die Dimension von Reformation heute? Klar ist: Mit diesem Gedanken allein ist die Welt noch keine andere geworden. Aber er könnte nun doch eine Antwort sein an den Studenten aus der ESG, der sich fragte: Wozu das alles? Sein Tun und Denken könnte nämlich dazu führen: Bündnispartner zu bleiben für die Welt. Auf dieser Bündnispartnerschaft läge dann der Segen, daß sie Abbild wäre von der Bündnispartnerschaft, die Gott all jene hineingenommen hat, die ihm treu sind. Und das spezifische Charakteristikum dieser Gerechtigkeit ist nun einmal, daß sie stets neu ist.

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Hoffnung auf das stets Neue - man kann sie nicht verordnen. Aber ich glaube: Solche Hoffnung ist es, die das Gedenken an die Kraft der Reformation in uns wach werden lassen kann. Solche Hoffnung trägt die Kraft in sich, Enttäuschungen und Frustrationen zu wandeln in Perspektiven neuer Freiheit! Das ist so, wie wenn ein Wanderer, der im Herbst-Nebel die Orientierung verloren hat, bergauf geht und plötzlich über dem Nebel in der hellen Sonne wieder den Weg zu seinem Ziel erkennen kann. Amen.

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Katrin Gelder

Andacht zu Beginn des Sprengelpröpste-Konventes Hamburg am 3. November 1999 Liebe Schwestern und Brüder! Es war schon bewegend, als in der ökumenischen Andacht in der St. Petri Kirche am vergangenen Samstag Dompropst Dr. Jantzen davon sprach, dass wir gerecht werden allein aus Glauben. Dankbar bekenne ich, dass mich das Nachsinnen über die Rechtfertigungsbotschaft, wie es in den vergangenen Monaten im Zusammenhang mit der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre erfolgt ist, im Herzen bewegt und die guten Kräfte zum Leben gefördert hat. Das tut gut in einer Zeit, in der es viele niederziehende und negative Gedanken und Ereignisse gibt, in einer Zeit, in der das Gesetz es leicht hat, Macht über Menschen zu gewinnen. Und so lese ich für uns heute morgen noch einmal die Kanzelabkündigung für den Gottesdienst am Reformationstag, wie sie unser nordelbisches Bischofskollegium uns zugesandt hat: „Heute wird in Augsburg die „Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre“ der katholischen und der lutherischen Kirchen offiziell angenommen. Damit beginnt die Wunde der Trennung zwischen Katholiken und Lutheranern an der Stelle zu heilen, wo sie entstanden ist. Vor fast 500 Jahren ist die Einheit der Kirche an dieser entscheidenden Frage zerbrochen: Ob der Mensch sich sein Heil selbst verdienen kann und muss oder ob genau dies Tat und Geschenk Gottes ist. Heute bezeugen wir wieder gemeinsam, dass der Glaube die einzige Grundlage für die Beziehung zu Gott ist. Gegenseitig sind wir bereit, uns für das Anliegen des Partners zu öffnen, und erkennen die Gefahren der eigenen Akzentsetzung. Die katholische Kirche erinnert uns, dass der Glaube nicht nur innerlich und privat bleiben kann. Dass eine Überbetonung des menschlichen Tuns dem Selbsterlösungswahn Vorschub leistet,

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daran erinnern die lutherischen Kirchen. Gemeinsam halten die katholische und die lutherischen Kirchen fest, dass Gott uns alles Heil schenkt in Jesus Christus. Am Ende dieses Jahrhunderts der Ökumene gehen wir einen wichtigen Schritt aufeinander zu. Wir entdecken, dass das Gemeinsame stärker ist als das, was uns trennt. Wir danken Gott, der uns zur Einheit bestimmt hat, und bitten ihn, dass er uns den Mut und die Kraft zu weiteren Schritten gibt.“ Lassen Sie uns nun miteinander eines der ökumenischen Lieder aus unserem Gesangbuch singen. Es ist das Lied Nr. 262 „Sonne der Gerechtigkeit“ in der ökumenischen Fassung. Wir singen alle sieben Strophen. Ich lese die Epistellesung für den Reformationstag aus dem Römerbrief im 3. Kapitel, die Verse 21 – 28: „Nun aber ist unabhängig vom Gesetz die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart worden, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die aus dem Glauben an Jesus Christus kommt und allen zuteil wird, die glauben. Denn es gibt hier keinen Unterschied. Alle haben gesündigt und die Herrlichkeit verloren, die Gott ihnen zugedacht hatte und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben als Sühne hingestellt in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher in der Zeit seiner Geduld begangen wurden, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und den gerecht macht, der aus dem Glauben an Jesus lebt. Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. Denn wir sind

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überzeugt, dass der Mensch gerecht wird ohne die Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben.“ Liebe Schwestern und Brüder! Das sind gewichtige Worte, uns allen bekannt, und eine sehr unterschiedliche Geschichte werden wir mit diesen Worten haben. Ich gestehe, auch für mich hat es Zeiten gegeben, in denen ich vieles, was hier gesagt ist, vor allen Dingen als Begriffsspielerei gehört und verstanden habe, der wir für unsere Zeit und für unseren Glauben nicht mehr viel abgewinnen können. Zur Zeit geht es mir anders. Die vielen Gespräche in Gemeinden, mit Brüdern und Schwestern, mit Theologinnen und Theologen in den vergangenen Monaten, ausgelöst durch die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre, haben mir diese Formeln, diese Worte oder besser gesagt das, wofür sie stehen, neu wichtig gemacht für mein eigenes Leben, für meinen eigenen Glauben. 1963 hat der Lutherische Weltbund auf seiner Versammlung in Helsinki gesagt, dass bei der Frage, wie wir denn die Rechtfertigungsbotschaft in unsere Zeit umsetzen, wir wohl sagen müssen: Nicht mehr das, was mit den Worten von Gerechtigkeit und Rechtfertigung berührt ist trifft die Menschen heute ins Herz, sondern die Sinnfrage. Ich denke, es wird manchen von Ihnen so gehen wie mir, dass wir erkennen: Diese Zeit, in der wir meinten, dass die Frage nach Gerechtigkeit und Rechtfertigung abgelöst ist durch die Frage nach dem Sinn, ist vorbei, zumindest für viele. Neu wird deutlich, dass angesichts der Zuspitzung von Leistungsmoral in unserer Gesellschaft, angesichts der ungeahnten Möglichkeiten des Menschen, Menschen zu züchten, angesichts des sich steigernden Selbsterlösungswahns ganz neu bedeutsam und wichtig und sprechend wird, dass wir gerecht sind und werden vor Gott nicht durch das, was wir tun, sondern durch das, was er uns schenkt allein. Und ich gestehe, es hat mich schon sehr berührt in den vergangenen Wochen, in manchen Gesprächen mit den Theologen und Theologinnen zu ringen, die zu den

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Gegnern der Gemeinsamen Erklärung gehören, die ich selber sehr befürworte. Bewegt hat mich, nachdem man über den ersten Schlagabtausch hinaus war, dass plötzlich ganz anders, als es häufig in theologischen Streitgesprächen der Fall ist, deutlich wurde: Es geht hier um das, was uns, mich zutiefst im Glauben und in der eigenen Existenz betrifft: Diejenigen, über 240 Theologieprofessorinnen und – professoren, die gegen die Unterzeichner waren, haben sich veranlasst gesehen, eine Mahnung gegen die Unterzeichnung der Gemeinsamen Erklärung zur Rechtfertigungslehre auszusprechen, weil sie den Eindruck haben, dass das, was die lutherische Lehre „sola fide“ meint oder genauer gesagt, das, worum es in dieser Botschaft geht, hier verletzt wird. Wie gesagt: Ich teile diese Einschätzung nicht, aber es lässt mich nicht los und ich werde auch mit denen im Gespräch bleiben, die das, was unseren Glauben im Zentrum ausmacht, in Frage gestellt sehen. Denn ich spüre, es geht an dieser Stelle letztlich nicht um Machtkämpfe, auch wenn das auf der oberflächlichen Ebene – wie sollte es in der Welt und auch in der Kirche anders sein – sich so gestaltet. Ich denke, es geht in der Tiefe schon darum, wie die Botschaft von Gott so auszudrücken ist in alten Formeln und in neuen Bildern, dass sie den Menschen im Herzen anrührt mit der Kraft des Evangeliums – so dass wir sagen können (wie jener Pastor, den ich am Sonntag eingeführt habe und der sich dafür dies Wort aus dem Römerbrief im 1. Kapitel ausgewählt hat): „Ich schäme mich des Evangeliums von Jesus Christus nicht, denn es ist eine Kraft Gottes, die selig macht alle, die daran glauben.“ Liebe Schwestern und Brüder, auch ich gehöre zu denen, zu den Frauen zumal, die sich in den vergangenen Jahren damit schwer getan haben, von Schuld und Sühne zu reden, weil wir die Rede davon in der Kirche allzu oft und allzu intensiv als kleinmachend erlebt haben. Und dies bleibt auch so, diese Gefahr, diese Missbrauchsgeschichte.

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Doch zugleich merke ich, dass sich bei mir so etwas wie eine Ahnung rührt, dass eine Zeit kommt und anbricht und vielleicht angebrochen ist, in der wir als Christinnen und Christen, als Kirche noch einmal neu von Schuld reden können und müssen. Eben nicht so, dass damit der Mensch kleingemacht wird, dass er von sich aus nichts ist, sondern eben so, dass ihm deutlich gemacht wird und er in seinem Herzen verstehen kann: Es gibt Kräfte in jedem und jeder, die zum Bösen neigen, die zum Bösen verführen, die der Macht der Sünde oder Schuld überführen: Mächte der Gewalt, Mächte der Herrschaft über andere. Und diese Mächte können eben nicht gebrochen werden durch Macht, durch Gegengewalt, sondern allein durch Gnade, allein dadurch, dass ich spüre: Ich bin so angenommen, wie ich bin, mit allem, was zu mir gehört, meinen Stärken und Schwächen, meinen Möglichkeiten und Grenzen. Oder vielleicht auch so, wie es in der letzten Zeit in den Diskussionen Bischof Knuth immer wieder formulierte und was mir im Moment noch ein Stachel ist, aber ein Stachel, der vielleicht zum Positiven wird: Ich bin angenommen, obwohl ich so bin wie ich bin. Damit bin ich noch nicht fertig, ob auch ich dies so sagen will. Aber es bleibt jedenfalls, dass die Worte aus dem Römerbrief im 3. Kapitel und die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre uns dazu reizen, für uns persönlich und in unseren Gemeinden über das nachzusinnen, an manchen Stellen vielleicht neu, was im Zentrum unseres Glaubens steht. Liebe Schwestern und Brüder, es ist ja im Moment im Trend der Zeit in unserer Kirche, dass sehr viel, und das hat ja auch seinen Sinn, über die Ziele gesprochen wird, die wir haben, haben sollten und verfolgen. Mir ist in den vergangenen Wochen deutlich geworden, dass zu einem meiner Ziele – vielleicht zu meinem wesentlichen Ziel – gehören wird, zu dem beizutragen, was die Generalsynode der VELKD in ihrer Entschließung so formuliert hat: „Die Generalsynode ruft die Gemeinden auf, sich weiterhin intensiv darum zu bemühen, die Rechtfertigung allein aus Glauben in das Zentrum evangelischer Verkündigung zu stellen und sich in Litur-

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gie und Leben davon prägen zu lassen.“ Sicher, ich weiß auch, dass dieses Ziel schwer zu operationalisieren ist und, ob wir es einlösen, schwer zu kontrollieren. Dennoch – ich jedenfalls möchte mich von diesem Ziel leiten lassen. Ich möchte Sie, ich möchte uns alle dazu einladen, Texte wie den aus dem Römerbrief und Gespräche und Diskussionen über die Gemeinsame Erklärung zur Rechtfertigungslehre für uns zum Stachel werden zu lassen, um uns auf das zu besinnen, was uns zum Leben hilft und zum Heil – welche Worte und welche Bilder auch immer wir dafür finden. Amen.

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Horst Gloy

Predigt im Rahmen des Festgottesdienstes zum fünfundzwanzigjährigen Bestehen der Vereinigung evangelischer Religionslehrer in Hamburg e.V. am Reformationstag 1992 in der Hauptkirche St. Nikolai in Hamburg

Liebe Festtags- und Jubiläums-Gemeinde, die geltende Predigttext-Ordnung der evangelischen Kirchen ist nicht einem Gottesurteil entsprungen; sie ist Menschenwerk. Aber ich habe in der Ausbildung – wenn auch vor 30 Jahren – gelernt, dass der Prediger bei der Auswahl des Predigttextes tunlichst nicht ohne unabweisbare Gründe der eigenen Eingebung folgen und von der vorgegebenen Ordnung abweichen sollte; denn sie steht – wenn auch des öfteren revidiert – in einer langen Tradition unserer Kirchen. Auch habe ich gelernt, dass eine Predigt möglichst in drei Hauptstücke gegliedert werden und nicht über 20 Minuten dauern sollte. Für dieses eine Mal versuche ich es mit einer Abfolge von 12 Punkten und bitte ausnahmsweise um Geduld für etwa 25 Minuten. I. Viele von uns haben gestern und vorgestern miteinander über die Situation und die Zukunft des Religionsunterrichts in der öffentlichen Schule für alle nachgedacht. – Dieser Unterricht wird, nicht nur in dieser Stadt, von Lehrerinnen und Lehrern getragen, die ihre Motivation und Kraft dafür aus unterschiedlichen Glaubens- und Überzeugungstraditionen erhalten. Und: An diesem Unterricht nehmen junge Menschen – Kinder und Jugendliche – teil, die in ihrer sozialen, kulturellen und religiösen Herkunft einen gewiss nicht fertigen, wohl aber noch viel bunteren

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Strauß von Prägungen, Erlebnissen, Einstellungen und Erwartungen mitbringen als ihre Lehrerinnen und Lehrer. Wonach wir gestern und vorgestern in Sorge und Leidenschaft für unser Fach gesucht haben, das möchte ich für mich zunächst so formulieren: Wie finden und bewahren wir in und mit unserem Fach jenen äußeren und inneren Raum der Freiheit – jener Freiheit, die niemanden zwingt und es darum grundsätzlich allen ermöglicht, in ein offenes Gespräch miteinander einzutreten, das uns doch zugleich in der Tiefe verbindet, verbindet in unserem Suchen nach dem, was dein und mein Leben, was das Leben auf dieser Erde trägt oder doch tragen könnte in all seiner Zerbrechlichkeit, Begrenzung und Bedrohung. Und nun heute morgen: Predigen zu einem Text, der wie kaum ein anderer aus dem von Martin Luther übersetzten Neuen Testament das Zentrum einer der Konfessionen der Christentumsgeschichte benennt: „So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht werde ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben“ (Römer 3, 28). Ich gebe zu, dass ich in den vergangenen Tagen versucht habe, unabweisbare Gründe gegen diesen Text, an diesem Morgen, vor dieser Zuhörerschaft zu finden; es ist mir nicht gelungen. Es gilt wohl, wenigstens den Versuch zu machen, beides zusammenzubringen: jene Vision eines offenen, pädagogisch verantworteten Miteinandersuchens nach Quellen des Lebens – auch und vielleicht gerade in der öffentlichen Schule für alle – und dieses mir zuweilen heftig widerstrebende und doch unverlierbare Grundwort des Evangeliums. Vielleicht verlangt solchen Versuch auch die Zeit, in der wir leben und in der ein Schweigen zu dem, was uns zutiefst beunruhigt, nicht mehr erlaubt ist. Mut dazu bekommen wir von vielen anderen vor uns und neben

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uns; es ist gut, sich in einer inneren Verwandtschaft mit ihnen zu wissen – also als Glied in einer Reihe – und zugleich in der Freiheit, Eigenes zu wagen. II. Was kann der Religionsunterricht der heutigen Schule ihren Schülerinnen und Schülern geben oder nützen? Wozu kann er helfen? Diese Frage erwächst aus vielerlei Gründen, in vielen Facetten, aus der säkularen Gesellschaft. Und sie ist nicht theoretischer Natur: Sie entsteht im Schulalltag selbst, unter Schülerinnen und Schülern, in den Kollegien, vonseiten der Eltern, der Betriebe und – nicht zuletzt – in uns selbst. Gewiß gibt es fertige, ja, zum Teil handfeste Erwartungen und Forderungen gegenüber diesem Fach; aber anderes überwiegt: Skepsis, Unverständnis, manchmal Aggression und viel Gleichgültigkeit. Im besseren Fall: freundlicher Zweifel, pädagogische Ungeduld und – Erwartungen an die Kolleginnen und Kollegen mit dem Fach Religion, geboren aus einer gemeinsam empfundenen, wachsenden äußeren und inneren Bedrängnis angesichts von pädagogisch oft verzweifelt schwierigen Situationen. Was der Religionsunterricht geben oder nützen könne, darauf gibt es hoch differenzierte Antworten. Nur: Nicht selten brauchen wir schnell ganz einfache, vielleicht lieber einseitige als zu komplizierte! – Eine dieser für mich ganz einfachen Antworten kommt mir immer wieder in den Sinn; sie spricht auf den ersten Blick gar nicht von der Schule und vom Religionsunterricht, sondern von der Erziehung zum Frieden als von unser aller Aufgabe, uns und andere zur „Empfindsamkeit“ zu erziehen,

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„ja, zur Empfindlichkeit: zum Leiden am Unrecht, an der Missachtung, der Gleichgültigkeit, den Schmerzen und Ängsten, die anderen und mir widerfahren, lange bevor sie zur Gewalt drängen“. Was, liebe Gemeinde, würde ein Religionsunterricht geben oder nützen, in dem über vieles geredet und viel gemacht würde, der aber zur Entwicklung und Stärkung jener Empfindlichkeit gegenüber Gewalt in allen ihren Formen nichts Wesentliches beitrüge oder doch beizutragen versuchte? – Meine Antwort: Er wäre bestenfalls überflüssig, mögen auch noch so viele andere gute Gedanken in ihm vorkommen und gepflegt werden. III. Aber was ist gewonnen mit dieser eindringlichen Auskunft Hartmut von Hentigs auf die Frage nach einem einfachen Grund und Ziel aller wahrhaft menschlichen und, wie ich glaube, christlichen Erziehung? Dieses Einfachste – das spüren wir in diesen Wochen unausweichlich – ist tatsächlich wohl doch das Schwerste und das Zerbrechlichste. Was wir um uns herum und auch in uns selbst an Gewalt-Möglichkeiten plötzlich wieder deutlicher wahrnehmen, stürzt uns in Abgründe, in Gefühle des Scheiterns und Versagens, der Vergeblichkeit, der Ratlosigkeit und Ohmacht und wohl auch der Schuld. Woraus, wann und warum Gewalt gegen andere – und oft genug auch gegen das eigene Leben – entsteht, nicht nur anderswo, sondern mitten unter uns, in unserer Gesellschaft – diese Frage hat fast über Nacht jene Neutralität und Distanz verloren, in die wir uns im Einzelfall und am fernen Beispiel immer noch retten konnten.

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IV. Woraus, warum und wann entsteht immer wieder Gewalt unter Menschen? Darauf gibt es nicht die eine, erschöpfende Antwort. Viele Erklärungswege wären aufzunehmen und miteinander zu verknüpfen; dennoch blieben wohl immer auch Rätsel und Abgründe. Ein Weg führt uns, wie ich glaube, zu jenen Lebensvorgängen und –zusammenhängen, die den Apostel Paulus im 3. Kapitel seines Briefes an die Römer beschäftigt haben, nämlich zu der Frage, woher uns Menschen jenes Ja zu uns als Person zufließt, dessen wir immer wieder bedürfen, wenn wir in der Tiefe wirklich freie Menschen werden und bleiben sollen: -

fähig zu Zärtlichkeit und Liebe, zu Schmerz und Barmherzigkeit;

-

bereit zur Wahrhaftigkeit und zum Streit, wo er sichtig ist;

-

fähig zur Freude und zum Gedächtnis des Leidens, empfindlich gegen Unrecht und Gewalt,

um nur einiges zu nennen. Pflanzen und Tiere bedürfen – so sieht es jedenfalls auf den ersten Blick aus – einer solchen inneren Begründung und Rechtfertigung ihres Lebens nicht; ihr Lebensrecht und Lebenssinn scheinen mit der Schöpfung selbst gegeben – obwohl: Körper- und Augensprache der Tiere können uns zeigen, wie tief und schmerzlich wir deren Lebensrecht verletzen können. Bei uns Menschen jedoch reicht die bloße Tatsache, dass wir da sind und leben, zur inneren Begründung unseres Daseins offensichtlich nicht aus: Wir brauchen vor allem anderen ein grundlegendes Ja zu uns, das andere

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von Beginn unseres Lebens an in uns hineingeliebt, begleitet und zu stärken versucht haben. Selbst wir Älteren, besonders aber Kinder und junge Menschen brauchen wie das tägliche Brot – in einer möglichst verläßlichen Weise – Erfahrungen, angenommen und anerkannt zu sein, gebraucht zu werden, wichtig zu sein und etwas zu können; denn Enttäuschungen, Entmutigung, Angst und auch Schuld bleiben gewiß nicht aus. V. Das alles bedeutet nun aber umgekehrt: Tiefgehende und dauerhafte Erfahrungen von Unwürdigkeit – von Lieblosigkeit, Überflüssigkeit, Unbrauchbarkeit, Ohnmacht und Versagen – führen unweigerlich in eine verhängnisvolle Lebenskrise, die unbedingt nach einer Lösung verlangt, soll das Leben überhaupt noch lebbar bleiben. In wem es oft von Kindheit an so aussieht, wer Erfahrungen entbehren musste, die ihm sagen: Du bist mehr als ein zufälliges, vielleicht sogar überflüssiges Teilchen einer großen anonymen Veranstaltung, die man Leben nennt …; oder: Wem alle bisher tragenden materiellen, sozialen und psychischen Fixpunkte seiner Identität durch die Lebensumstände von Gesellschaft und Politik zerschlagen wurden, dem bleibt allzu oft nur die Wahl zwischen Apathie – also Lebenszerfall – oder eben dem Versuch, sich sein Lebensrecht selbst mit Gewalt zu nehmen und seinen Lebenssinn im Hass zu definieren. VI. Noch einmal gefragt: Dies mögen zwar, so sagen manche, in vielen anderen Ländern des Südens und Ostens wichtige Ursachen der Gewalt sein. Was aber sind hier bei uns – in diesem von Krieg, Hunger, Vertreibung und Massenelend verschonten Land – konkrete Gründe für das Ausmaß

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an latenter und offener Gewalt, das viele bisher nur widerstrebend und fast ungläubig zur Kenntnis nehmen? Wollen wir die sichtbare und unsichtbare Gewalt im Großen wie im Kleinen – z.B. vor der Asylunterkunft, auf dem Schulhof, in der Familie – nicht einfach als irrational, als zu bestrafendes Fehlverhalten, abtun (denn das wäre wider alle aufgeklärte Vernunft und Pädagogik), dann müssen wir uns wohl endlich ernsthaft damit befassen, dass und warum es auch in unserer Gesellschaft inzwischen offenbar ein Übermaß an zu abrupten, unmenschlichen Veränderungen, ja, Zerstörungen von gewachsenen Lebensbedingungen und von Zukunftsperspektiven gibt - Veränderungen, die mit dem Wort „Wandel“ nicht zureichend beschrieben sind. Nicht nur der Arbeits- und der Wohnungsmarkt haben längst gewalttätige Züge angenommen! Wenn es aber so weit gekommen ist: Wenn selbstverständliche soziale Zugehörigkeit und Akzeptanz sich bei vielen Jüngeren und Älteren auflösen oder schon aufgelöst haben, dann ist die Stunde der politischen Nutznießer und der Verführer gekommen; dann findet die Einrede der falschen Gewissheit, zum tüchtigen deutschen Volk zu gehören, an dessen Elend andere Schuld seien, allzu fruchtbaren Boden. Die so ideologisierte Gewalt lässt sich leicht und schnell in rassistischen Säuberungswahn und Ausrottungszwang steigern. Wo sie aufmarschieren, haben Argumente endgültig ihre Macht verloren; dann ist es höchste Zeit für den entschlossenen Widerstand aller Bürgerinnen und Bürger; und sie müssen sich dabei auf ihren demokratischen Staat und seine gewählten Repräsentanten verlassen können. VII. Das ist die eine Seite der gegenwärtigen Gewalt, ihrer Gründe und Abgründe mitten unter uns. – Was uns zugleich als einzelnen und als Ge-

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sellschaft insgesamt offenbar immer weniger oder doch viel zu wenig gelingt, das sind jene eigentlich ganz „natürlichen“, beständigen „Werke der Liebe“ an unseren Kindern, in denen sie das grundlegende Ja zu sich vor aller eigenen Leistung als innere Freiheit und Lebenszuversicht erfahren und ergreifen können. Dass dieses Selbstverständliche und zugleich Lebensnotwendige zur Zeit wohl viel zu wenig gelingt, hat wiederum mannigfache Gründe; sie alle tragen bei zu einer bitteren Konsequenz: -

Eine Gesellschaft, die für das Leben mit ihren Kindern und für deren Zukunft nicht genug innere Kraft – Zeit, Ruhe, Freude und Geduld – aufbringt…

-

eine Gesellschaft, die nicht willens ist, Kindern in den Häusern, Schulen und Kirchen, auf den Straßen und in der Natur genügend innere und äußere Räume zu schaffen, in denen sie das Leben mit Freude annehmen, andere und sich selbst entdecken und mutig erproben können…

eine solche Gesellschaft – da lässt der vorhin verlesene Text Martin Luthers zur Erziehungssituation seiner Zeit keinen Zweifel – schliddert in eine teuflische Situation: -

teuflisch deshalb, weil sie dabei ist, die natürlichen Wege der Einwanderung der Liebe Gottes in unser Leben zu beeinträchtigen und zu verhindern;

-

teuflisch auch darin, dass wir dieselben Kinder oft schon von früh an einem Konkurrenz- und Leistungsdruck aussetzen und viele von ihnen damit in einen Rechtfertigungszwang treiben, den sie mit ihren eigenen Kräften nicht bestehen können.

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VIII. In teuflische Zusammenhänge – und das ist eine dritte Seite der Gewaltträchtigkeit – sind wir vielfach auch mit dem geraten, was wir unseren Kindern und uns selbst als Ausgleich anbieten oder sogar aufzwingen; nämlich: Selbstbestätigung, Selbstrechtfertigung zu gewinnen aus der Teilnahme an einem entgrenzten Konsum von Waren und Dienstleistungen, von Entfernungen und Geschwindigkeiten und von einer Bilderflut, durch die in einem bedrückenden Ausmaß auch gewalttätige Botschaften transportiert werden. Vieles von dem, was bei uns im Zeichen eines grenzenlosen Verkehrs von Waren, Menschen und Meinungen als Verheißung auf Fortschritt und Selbstverwirklichung daherkommt, trägt nicht nur falsche Versprechen in sich, sondern auch tiefe Spuren von Gewalt und Ausbeutung, von Unrecht und Zerstörung, die an vielen Stätten dieser Welt zum Himmel schreien. – Kinder und junge Menschen ahnen und spüren das oft hautnäher als wir Erwachsene. Und es treibt sie hin und her zwischen Ohnmacht und Aufbegehren, zwischen dem Versuch zu verdrängen und dem Wunsch, der Wahrheit um des Lebens willen klar ins Auge zu sehen und nach Rettung zu suchen. IX. Was hat das alles mit dem Evangelium, mit der frohen Botschaft von der Rechtfertigung des Menschen allein durch den Glauben aus dem Wort Gottes zu tun? Zunächst und zuerst erinnert uns das Evangelium unablässig daran, dass die Einwanderung der Liebe Gottes in das Leben immer schon geschehen ist, vom Ursprung der Schöpfung an, und täglich neu geschieht: ungezählt und unverrechenbar, tausend- und abertausendfältig. Wäre es nicht so,

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erführen Kinder nicht jenes Ja zu sich selbst als Person vor aller eigenen Leistung von Beginn ihres Lebens an und immer wieder durch Hände, Augen und Mund anderer..

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gäbe es nicht Eltern und Verwandte, Freunde und Gefährtinnen, Lehrerinnen und Lehrer, die uns Herz, Sinne und Verstand für das Leben geöffnet hätten, es wäre längst aus mit uns allen.

Einwanderung der Liebe Gottes in das Leben – sie geschieht selbst noch da, wo eine somalische Mutter ihr verhungertes, sterbendes Kind mit einer letzten, verzweifelten Zärtlichkeit in ihren Armen hält. Aber dass Zärtlichkeit und liebende Zuwendung selbst unter schlimmsten Bedingungen gegenwärtig sein können, wenn auch äußerlich ganz ohnmächtig, das kann und darf die Lebenden nicht beruhigen, ja, nicht einmal trösten; denn es enthält ein scharfes Urteil über alle von Menschen verursachten Verhältnisse, unter denen in innerem und äußerem Elend, unter Gewalt, in Hunger, Verzweiflung und Sinnlosigkeit gelebt werden muss und gestorben wird. X. Leben in empfangener Freiheit kann sich nur dort entfalten und mitteilen, wo die Liebe Gottes – vor aller Rede von ihr – immer schon in unser Leben einwandern konnte und kann, wo sie nicht durch innere und äußere Lebensumstände über die Maßen behindert wird, sondern wo sie trotz allem genügend Hände, Augen und Stimmen findet, die sie weitergeben. Wo das aber aus vielen Gründen schwierig, ja, fraglich geworden ist, da gerät auch das Wort des Evangeliums, das uns der immer schon an uns geschehenen Zuwendung Gottes froh und gewiß machen will, auf dürres Land, auf steinigen Boden: Denn dieses Wort meint eben nicht nur

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unsere Seele, sondern es meint uns als ganze Menschen – mit Lieb und Seele, Haut und Haar. „Nehmen sie den Leib, Gut, Ehr, Kind und Weib. Lass fahren dahin; sie haben`s kein Gewinn. Das Reich muss uns doch bleiben.“ Diesen wohl bekanntesten Liedvers Martin Luthers habe ich immer als eine seiner problematischsten Äußerungen empfunden; sie bedarf dringend des Widerspruchs durch das im Fühlen und Denken so ganz andere Wort, das der Schriftsteller Friedrich Wolf seinen Thomas Müntzer sagen lässt: „Was nützet es denn nun, wenn die Kinder hier nach Brot schreien, und man weist sie auf das Manna, das vom Himmel gefallene Brot in der Schrift, und auf ein himmlisch Recht; derweil das irdisch Recht den Großen alles gibt, dem gemeinen Mann aber alles nimmt? … Ich sage euch: Im Diesseits und Jenseits ist ein und derselbe Gott.“ XI. Zurück zum Geschäft der Erziehung: Wenn es tatsächlich so sein sollte, -

dass wir an den Kindern zu viel jener einfachen „Werke der Liebe“ versäumen;

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dass wir ihnen und auch uns selbst stattdessen oft sehr fragwürdige Ersatzbestätigungen anbieten;

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dass allzu viel, worauf wir stolz sind und dem wir uns gern hingeben, Spuren tiefen Unrechts und unumkehrbarer Zerstörungen an sich trägt;

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dass wir also unseren Kindern zwar Vergnügungen, aber zuwenig wirklich tragende Hoffnungen, Lebenszuversicht und Schaffensfreude geben können,

dann wird es für Worte allein nicht nur in der Schule sehr, sehr schwierig; denn dann gerinnen sie – gegen ihre eigene Absicht – schnell zu bloßen Beschwörungen und Forderungen, zu „Gesetz“ und „Moral“. Belehrungen aber kommen in der Regel gegen Erfahrungen nicht an. Es gibt eben den Punkt, wo selbst gute Worte zu spät kommen oder ins Leere laufen, nicht weil der Mensch eben böse ist, sondern weil es an tragfähigen Erfahrungen gefehlt hat und fehlt. Ist es erst so weit gekommen, dann befinden sich Leib und Seele oft schon auf den Auswegen der Gewalt oder auf dem Weg in die existentielle Resignation. Daran kann dann auch ein guter Unterricht wenig ändern. XII. Müssen wir also unsere Ohmacht erkennen und erklären? – Sie zu erkennen ist wohl wichtig; aber sie für unausweichlich und unabänderlich erklären? Nein! Zwei Antworten: Erstens: Wir müssten unsere Kanzeln und Katheder sofort zur Verfügung stellen, wenn wir nicht mehr mit Herz und Verstand daran festhalten könnten, dass Worte und Gesten der Liebe und der Freundlichkeit – oder auch nur das richtige Wort im richtigen Augenblick – selbst unter wid-

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rigsten Bedingungen Berge versetzen können. Allerdings: Sich auf solche Sonderfälle zu verlassen und sich damit zu beruhigen, wäre grob fahrlässig. Doch ein solcher Ausweg – manche nennen es: Flucht in die „Betroffenheitspädagogik“ – ist aus einem zweiten Grund auch gar nicht nötig. Ich wiederhole es: Der Schöpfer und Erhalter der Welt ist immer schon in unser Leben eingewandert und er versucht es unablässig weiter, auf alten und auf neuen Wegen. Wir müssten seine Spuren um uns herum und in uns nur finden, sie aufnehmen und stärken. – Es kommt mir fast so vor wie mit dem halbleeren oder halbvollen Glas: Wohl wahr! Wir leben mit all unserem Fortschritt und Wohlstand in einer Zeit gefährlicher Dürre – aber: -

Gibt es nicht dennoch und trotz alledem unter uns eine Fülle von jenen einfachen „Werken der Liebe“, von jenen oft ganz kleinen Gesten, Augenblicken und Gelegenheiten, aus denen Freude und Glück, Zärtlichkeit und Schmerz, Barmherzigkeit und Sorge um andere, Empfindlichkeit gegenüber Unrecht und Gewalt wachsen?

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Gibt es nicht in vielen – Jüngeren und Älteren – eine tiefe, nach Klarheit verlangende Beunruhigung über Stil und Ausrichtung unseres gegenwärtigen Lebens?

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Gibt es nicht viel spontane und nachdenkliche Bereitschaft zu helfen, vielleicht sogar: zu teilen?

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Gibt es nicht den Wunsch, anders zu werden; nicht mehr nur zu nehmen und zu zerstören, sondern Heilsames für sich und andere zu tun? usw. usw.

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Gewiss, die Generalregel aus der ältesten Schrift des Neuen Testaments lautet: „Prüfet aber alles, und behaltet das Gute“ (1. Thess. 5,21). Vorsicht ist also geboten! Aber ich denke, es gibt auch in unserer Zeit genügend Spuren jener Liebe, die in den wenigen Jahrtausenden der Menschheitsgeschichte Völker und Menschen immer wieder aus falschen Bindungen, Selbstrechtfertigungen und Irrwegen herausgerufen und sie auf dem schwierigen Weg in eine neue Freiheit des Leibes und der Seele begleitet hat. Wir müssen diese Spuren im Heute nur suchen und finden, sie aufnehmen und stärken, sie manchmal auch verteidigen – mit dem Wort und durch die Tat. Unser Religionsunterricht kann ein pädagogischer Ort solcher Spurensuche sein. Mehr braucht er nicht zu sein; mit weniger Freude und Last unserer pädagogischen Arbeit; und sie liegen oft verflixt nahe beieinander, nicht nur im Religionsunterricht. Wir bleiben auf den uns begleitenden Frieden Gottes angewiesen; er, der höher ist, als alle Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Detlef Görrig

Predigt am 31. Oktober 2002 in der Katholischen Kirchengemeinde St. Paulus-Augustinus in Hamburg Liebe Gemeinde, Wachstum lässt sich nicht erzwingen. Das gilt in der Natur genauso wie in der Gemeinde. Ob etwas Frucht bringt und gedeiht, liegt nicht in unserer Hand, es entzieht sich unserem Wollen und Vermögen. Wachstum lässt sich nicht erzwingen. Und doch haben Menschen immer wieder versucht, dem Geheimnis des Wachstums auf die Spur zu kommen. Welchen Samen sollen sie streuen, wann ist die beste Zeit zur Aussaat, wie sollte der Boden beschaffen sein, damit er möglichst reichlich trägt? In immer neuen Anläufen und mit immer ausgeklügelteren Methoden sucht man das Wachsen selbst zu verstehen, um so einen größtmöglichen Ertrag zu erzielen. Und was für die Naturwissenschaft gilt, das lässt sich auch auf die christliche Gemeinde übertragen. Zu allen Zeiten haben sich Christinnen und Christen darüber Gedanken gemacht, wie das Evangelium von Jesus Christus möglichst viele Menschen erreichen, wie sich die Kirche weltweit verbreiten und vergrößern könne. Man versucht herauszufinden, warum in manchen Gemeinden die Zahl der Gemeindeglieder steigt, während sie in anderen stagniert oder zurückgeht. Was befördert das Gemeindewachstum und woran liegt es, wenn es nicht wächst? Ist´s der Boden, der Zeitpunkt oder der Samen selbst? Im Gleichnis, das wir gehört haben, heißt es: Der Samen keimt und wächst und der Mann weiß nicht, wie. Das ist ermutigend und ernüchternd zugleich. Ermutigend, weil es wächst, ernüchternd, weil es ohne unser Wissen geschieht. Wie gerne hielten wir doch selbst den Schlüssel zum Wachstum in den Händen. Wie gerne würden wir den Lauf des

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Evangeliums als Wissende verfolgen und beeinflussen. Wüssten wir doch nur um die Regeln der Ausbreitung des Christentums Bescheid. Aber uns scheint es da nicht besser zu gehen als jenem Mann, von dem das Gleichnis spricht. Auch wir wissen nicht, wie es keimt und wächst. Dieses Geheimnis ist uns verborgen. Manche Dinge lassen sich auch mit bestem Willen, mit höchster Motivation und größter Kraftanstrengung nicht herausfinden. Das ist ernüchternd. Und doch ist es kein Grund zur Resignation. Auch den Säenden im Gleichnis scheint es nicht zu beunruhigen, dass er nicht weiß, wie es wächst. Er schläft und steht auf. Und ich höre: keine schlaflosen Nächte und keine Sorge vor dem morgigen Tag. Der Samen keimt und wächst. Die Erde bringt von selbst ihre Frucht – automatisch. Das ist die gute Nachricht, die einen beruhigt einschlafen und zuversichtlich aufstehen lässt. Es wächst auch ohne unser Wissen und Zutun. So ist die Natur und so ist es auch mit dem Reich Gottes. Das Gleichnis von der selbstwachsenden Saat lenkt unseren Blick nicht auf das, was wir tun könnten, um das Wachsen zu beschleunigen, nicht auf das Düngen, Pflügen, Eggen und Jäten, es lenkt unseren Blick auf den Halm, der von selbst zur Ähre und dann zum vollen Korn reift. Das Wachsen der Saat liegt nicht in unserer Hand und Verantwortung, es geschieht ganz von allein – wir können es einfach geschehen lassen im Wechsel von Tag und Nacht, im Rhythmus von Schlafen und Aufstehen. Das ist die gute Nachricht für alle, die sich um die Zukunft ihrer Kirche Sorgen machen, die sich für die Verbreitung des christlichen Glaubens in der Welt verantwortlich fühlen. Eine missionarische Kirche ist nicht eine, die ängstlich Tag und Nacht auf das Wachsen der Saat bedacht sein und sich ruh- und rastlos für das Kommen des Reiches Gottes einsetzen muss. Eine missionarische Kirche

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ist eine, die etwas von der Gelassenheit und Zuversicht ausstrahlt, dass die Saat aufgeht, dass aus dem Halm eine Ähre und aus der Ähre das volle Korn wird – trotz aller Widrigkeiten und Widerstände, die der Acker des Lebens hervorbringt. Als Gemeinde Jesu Christi sind wir nicht nur die Säenden, die den Samen in die Welt tragen und austeilen, wir sind zugleich auch selbst der Samen, der Zeit und Geduld zum Wachsen und Reifen braucht. Es wurde schon vor uns gesät und es wird noch nach uns gesät werden. Es hängt nicht an unserem Tun allein. Für das Kommen des Reiches Gottes sind wir nicht verantwortlich. Es wird sich seinen Weg bahnen – auch durch die Dornen und das Gestrüpp dieser Welt hindurch. Solcher Glaube ist es, der Christen von Anfang an zusammengeführt hat. Solcher Glaube führt auch heute noch Christen durch alle Trennungen und Entzweiungen hindurch zusammen. Gemeinsam bitten wir Gott im Vater Unser um das Kommen seines Reiches. Ein Reich, das wir nicht selbst herbeiführen können, so sehr wir uns auch darum mühen oder es herbeisehnen. Manche Dinge lassen sich nicht erzwingen, sie müssen wachsen. Als sich vor fast 500 Jahren unsere beiden Kirchen voneinander getrennt haben, da wusste niemand, wie lange es dauern würde, bis Katholiken und Protestanten wieder miteinander Gottesdienst feiern können. Hier und heute am Reformationstag ist das möglich mit Gemeindegliedern aus St. Paulus Augustinus und Bugenhagen - Groß Flottbek. Die Saat ökumenischer Bemühungen vieler Jahre und Jahrzehnte ist aufgegangen. Ob die katholisch-evangelische Ökumene damit schon ausgereift ist, mag dahin gestellt bleiben. Manch einer sieht vielleicht nur den grünen Halm, der aus dem Ackerboden lugt, ein anderer erkennt schon die gewachsene

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Ähre und ein dritter kann bereits das volle Korn erahnen, das in dieser Ähre ruht. Wachstum lässt sich nicht erzwingen. Niemand vermag zu sagen, wie unsere Ökumene in den nächsten Jahren weiter wachsen wird. Aber das, was zwischen unseren beiden Gemeinden entstanden ist und mit diesem gemeinsamen Gottesdienst zum Ausdruck kommt, ist Grund und Anlass genug, gelassen und zuversichtlich in die Zukunft zu blicken. Der die Saat aufgehen ließ, der wird sie auch zur Reife bringen. Mit dieser Gewissheit und in diesem Glauben müssen wir uns nicht verstecken - nicht voreinander und nicht vor dieser Welt. Denn das Licht, das Gott hier angezündet hat, gehört nicht unter ein Gefäß, wie es beim Evangelisten Markus heißt, sondern auf den Leuchter. Amen.

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Hans-Christoph Goßmann

Predigt am Reformationstag 2006 in der St. Martins-Kirche in Tellingstedt Liebe Gemeinde, er ist nicht lange her, der Besuch des Papstes in Deutschland. Dass der neue Papst aus Deutschland stammt, hat sicher maßgeblich dazu beigetragen, dass dieser Besuch eine mediale Resonanz fand wie kaum ein anderer Papstbesuch zuvor. Kaum eine Zeitung, die nicht auf ihrer Titelseite vom Papstbesuch berichtete. „Wir sind Papst“ – diese zugegebenermaßen grammatikalisch höchst fragwürdige Formulierung brachte ein Gefühl auf den Punkt, von dem in dieser Zeit wohl viele ergriffen waren. Es war viel von „der Kirche“ die Rede; allerdings war immer nur die römisch-katholische Kirche gemeint. Dass es neben der römisch-katholischen Kirche in unserem Land eine weitere Großkirche gibt, nämlich unsere evangelisch-lutherische Kirche, wurde gar nicht mehr zur Kenntnis genommen. Die Kirche war die römisch-katholische Kirche, die Papstkirche – und das im Land der Reformation! Das ist nun für uns evangelische Christinnen und Christen kein Grund, uns von unserer katholischen Schwesterkirche distanzierend abzugrenzen. Trotz mancher Rückschläge in der evangelisch-katholischen Ökumene ist aufs Ganze gesehen festzustellen, dass die Beziehungen zwischen evangelischen und katholischen Christinnen und Christen in unserem Land mittlerweile recht gut sind. Das war zu früheren Zeiten ganz anders. Zu guten ökumenischen Beziehungen gehört zum einen die Offenheit gegenüber Angehörigen der jeweils anderen Konfession und zum anderen die Beheimatung in der eigenen Konfession. Wer als evangelischer Christ bzw. als evangelische Christin mit katholischen Christinnen und Christen in ein ökumenisches Gespräch eintritt, sollte wissen, was den beiden Konfessionen gemeinsam ist und worin sie sich unterscheiden,

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mit anderen Worten: worin das Unverwechselbare der eigenen konfessionellen Identität besteht. Für uns evangelisch-lutherische Christinnen und Christen bedeutet das, dass wir uns vergegenwärtigen, worin unsere evangelisch-lutherische Identität besteht, was das Unverwechselbare unseres evangelisch-lutherischen Glaubens ausmacht. Dazu haben wir nun einen passenden Anlass. Denn heute ist der 31. Oktober, der Reformationstag. Heute gedenken wir des Thesenanschlags durch Martin Luther. Der Überlieferung nach schlug er am Vortag des Allerheiligenfestes 1517 seine 95 Thesen an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg. Er tat dies, um eine Disputation unter Wittenberger Gelehrten herbeizuführen. Dass er dies tat, war nicht ungewöhnlich; es entsprach dem damaligen akademischen Brauch. Heutzutage würde man demgegenüber wohl eher eine provokative Rezension oder einen provokativen Beitrag in einer Fachzeitschrift publizieren, um die Gelehrten zu einer Disputation zu bewegen. Die 95 Thesen, die Martin Luther der Überlieferung nach an die Tür der Schlosskirche zu Wittenberg schlug, setzten sich kritisch mit der damaligen katholischen Ablass- und Bußpraxis auseinander. Dieses Ereignis, der Thesenanschlag, wird im Allgemeinen als Beginn der reformatorischen Bewegung angesehen und so ordnete Kurfürst Georg II. von Sachsen im Jahr 1667 an, den Tag des Thesenanschlags als Gedenktag der Reformation zu begehen. Wir stehen als evangelisch-lutherische Christinnen und Christen in der Tradition der Reformation und so ist es sinnvoll, sich darauf zu besinnen, worum es bei der Reformation ging – was das Anliegen Martin Luthers war. Die für Martin Luther alles entscheidende Frage war: „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Luther sah sich selbst mit schonungsloser Kritik. Sah er sein Leben angesichts der Gebote Gottes, so kam er zu dem Ergebnis, dass er den Geboten Gottes nicht gerecht werde und somit vor Gott nicht bestehen könne. Das war seine innere Not; das trieb ihn um. Vor diesem Hintergrund ist die für Martin Luther alles entscheidende Frage zu sehen, wie er einen gnädigen Gott kriegt. Heute wird diese

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Frage oft gar nicht mehr gestellt. Stattdessen wird gefragt, ob es Gott überhaupt gibt. Oft wird gesagt, dass diese Frage des modernen Menschen viel radikaler sei als Luthers Frage, wie er einen gnädigen Gott kriegt. Aber ist die Frage, ob es Gott gibt, wirklich radikaler als Luthers Frage, wie er einen gnädigen Gott kriegt? Ich denke: Nein; und das möchte ich begründen: Die Antwort auf die Frage, ob es Gott gibt, hat zunächst einmal mit unserem Leben, mit unserer Existenz nichts zu tun, denn dies ist eine rein spekulative Frage. Wie auch immer sie ausfallen mag, sie betrifft uns nicht mehr als die Antwort auf jede andere spekulative Frage. Denn die Überzeugung, dass es Gott gibt, wirkt sich auf unser Leben genauso wenig aus wie die Überzeugung, dass es Gott nicht gibt. Das ändert sich schlagartig, wenn die Frage anders formuliert wird – wenn gefragt wird, in welchem Verhältnis wir zu Gott stehen und – vor allem – in welchem Verhältnis er zu uns steht. Ist Gott uns gnädig gesonnen und können wir vor ihm so bestehen, wie wir sind? Diese Frage betrifft uns in unserem Leben, in unserer Existenz ganz direkt und unmittelbar. Sie ist alles andere als eine spekulative Frage. Von der Antwort auf diese Frage hängt unsere Seligkeit ab. Und dies ist die Frage, die Martin Luther gestellt hat. Die Antwort, die Martin Luther auf diese Frage gefunden hat, die ihm geschenkt wurde, lautet: Durch den Glauben an Jesus Christus wird der Mensch vor Gott gerecht und nicht dadurch, dass er sich bemüht, die Gebote Gottes alle korrekt zu erfüllen. Wer sich bemüht, den Geboten Gottes in seinem Leben gerecht zu werden, wird – so Luther – an diesem Anspruch scheitern. Der Glaube ist also kein Werk, das der Mensch zu vollbringen hat, sondern als Gabe Gottes ein Geschenk, das die Menschen ihrerseits lediglich anzunehmen brauchen. Der Mensch muss es sich also nicht gleichsam verdienen, von Gott angenommen zu werden, indem er Gebote erfüllt, sondern wird von Gott so angenommen, wie er ist. Er kann sich die Annahme von Gott nicht durch eigene Leistung verdienen, aber er muss es auch nicht. Darauf kann er als Glaubender vertrauen. Denn Glaube ist nach biblischem Verständnis Vertrauen. So-

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wohl die hebräische Vokabel, die im Alten Testament die Bedeutung „glauben“ hat, als auch die griechische Vokabel, die diese Bedeutung im Neuen Testament hat, haben auch die Bedeutung „vertrauen“. Beim Glauben geht es also nicht um ein für wahr halten; es geht nicht darum, zu glauben, dass es Gott gibt. Dies wäre die bereits angesprochene Antwort auf eine rein spekulative Frage, die mit unserem Leben, mit unserer Existenz nichts zu tun hat. Es geht vielmehr darum, im eigenen Leben auf Gott zu vertrauen. Das ist gemeint, wenn in der Bibel vom Glauben die Rede ist. Darauf hat Martin Luther mit Nachdruck hingewiesen und auf diese Einsicht geht letztlich die gesamte Reformation zurück. Es ist gut, sich daran durch den heutigen Reformationstag erinnern zu lassen. Amen.

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Uta Grohs

Predigt am 1. November 2002 Liebe Gemeinde! Haben Sie noch Erinnerungen an die Reformationstage Ihrer Jugend? Mein Eindruck ist: Vieles, was wir einmal über Luther gehört haben, ist überlagert oder vergessen. Vielleicht wird bei dem Stichwort von den 95 Thesen an der Schlosskirche zu Wittenberg manches wieder lebendig: Luthers Ringen, die Kirche im Sinne Jesu von innen her zu erneuern, ihr wieder zu einer Gestalt zu verhelfen, die dem Geist Jesu angemessener erschiene als Luther sie erlebte – Reformation! Luther war fast zusammengebrochen unter dem Druck, den die Kirchenoberen seiner Zeit verbreiteten. Zuerst hatte er das für Gott gegeben angesehen. Leistung und durch Geld erkaufter Ablass schienen die einzigen Möglichkeiten, diesen Druck auszuhalten; aber sie trieben nur immer weiter in die Angst und Verzweiflung. „Wie kriege ich einen gnädigen Gott?“ Wie werde ich erlöst aus dieser Spirale? Wie werde ich frei vom Druck manchen Versagens oder sogar schlimmer Schuld? Ich staune, wie nahe uns die Fragen des noch ziemlich jungen Luther kommen, wenn wir jetzt älter werden oder alt geworden auf die eigene Lebensgeschichte zurückblicken. Wie mit Gespenstern aus Vergangenheit und Gegenwart umgehen, wie mit einschüchternder Gewalt, mit der Menschen sich gegenseitig terrorisieren, und wie mit der Verzweiflung darüber? Wie kann ich mich versöhnen mit allem, worüber ich an mir selbst erschrecke? Es geht unter die Haut, solche Fragen nicht in uns zu verschließen, sondern wenigstens vor uns selbst zuzulassen: erschütternd und entlastend zugleich! Schon das ist eine Erleichterung. Luther fasst Mut und traut sich, durch selbständiges Lesen der Bibel die eigenen Erfahrungen neu zu überdenken. Ihm werden darüber die Augen geöffnet, dass wir Gott nicht

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erst gnädig zu stimmen brauchen, weil er uns schon zugewandt ist: Wir sind sein geliebtes Ebenbild, jeder und jede! Mit völlig neuem Blick liest Luther die Heilige Schrift und entdeckt erlösende Geistesverwandtschaft in den Psalmen, in den Evangelien, in den Paulusbriefen – so wie wir uns manchmal darin wieder finden mit unseren eigenen Erfahrungen. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit“ (Gal. 5,1), das wird Luthers Wahrheit. Aus ihr heraus gibt er seiner Gesellschaft damals, uns heute so wichtige Impulse. Unsere Würde als Gottes Geschöpfe wird nicht ausgelöscht durch Fehler, Irrtümer, nicht einmal durch Schuld – wenn wir sie denn ansehen und eingestehen können. Heil und Seligkeit und Sinn sind nicht in Frage gestellt. Stattdessen dürfen wir einen neuen Anfang wagen – wie jung oder hochbetagt wir sind. Wie gut, wenn wir uns erinnern, dass Sie, die katholisch geprägten Mitchristen unter uns, heute Allerheiligen feiern – die dankbare Erinnerung an die Spuren der Glaubenden vor uns. Mit welcher Verehrung erinnern sich einige unter Ihnen an Vater oder Mutter oder einen Lehrer, die einmal den Grundstein des Glaubens oder wenigstens der Sehnsucht danach in Ihr Herz gelegt haben. „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist!“ Sie erzählen manchmal davon. Und welch ein Segen, dass wir einander Jahrhunderte nach Luther und nach gegenseitiger, erbitterter, tödlicher Bekämpfung inzwischen als Schwesterkirchen erkennen. Die Gespenster dieser unseligen Vergangenheit haben wir in Deutschland hinter uns – hoffentlich endgültig! Luther hat damals sehr bewusst seine Thesen am Vortag von Allerheiligen veröffentlicht, um Missbrauch anzuprangern. Gott braucht auf dem Weg zu jedem einzelnen Menschen keine Heiligen als Vermittler. „Einen anderen Grund kann niemand legen als den, der gelegt ist: Jesus Christus!“ Aber um den Segen der Glaubensüberlieferung als Anstoß zu eigenem Fragen wusste Luther genau so wie wir.

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Ähnlich fordert uns seit kurzem ganz überraschend die Halloween-Sitte am Vorabend von Aller Heiligen heraus, Missverständnisse und Missbrauch von Überzeugungen aufzudecken. Wir haben es nicht nötig, vor Fratzen oder angeblichen Geistern zu erschrecken. Stattdessen möge uns das Beispiel von Gläubigen aus Vergangenheit und Gegenwart zu eigenem Glauben ermuntern! Ich wünsche uns, dass wir mit Gottes Hilfe so unser persönliches Leben annehmen können: Die Spuren der gesegneten neuen Anfänge, der Erlösung, sind gewichtiger als die Spuren von Angst und Druck, unter denen wir gelitten haben oder noch leiden oder die wir vielleicht sogar verbreitet haben. „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“ Amen. Nachbemerkung: Diese Predigt habe ich in einem privaten Alten- und Pflegeheim gehalten, wo ich einmal monatlich mit den Bewohnerinnen und Bewohnern Gottesdienst feierte – mit leicht verkürzter Liturgie, aber regelmäßig mit Abendmahl. Katholische wie protestantische Christinnen und Christen nahmen daran teil, Menschen, die mit dem Gottesdienst vertraut waren und andere, die erst durch ihre schmerzlich veränderte Lebenslage noch einmal auf die Suche nach Klärung, Sinn und Versöhnung mit der eigenen Geschichte gingen. Erstaunlich viele waren zu dem Zeitpunkt geistig noch bemerkenswert rege.

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Hans-Martin Gutmann

Die Stadt zwischen Gewalt und Geborgenheit – Jesu Klage über Jerusalem Predigt über Matthäus 23,37-39 Liebe Gemeinde, die Stadt zwischen Gewalt und Geborgenheit. Gegensätzlicher können die Bilder und Gefühle kaum sein. Sie stehen in unserem Predigttext unmittelbar nebeneinander. „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind! Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel!“ Schreckensbilder und Sehnsuchtsbilder nach Schutz und Geborgenheit. Sie richten sich auf die gleiche, gemeinsam geteilte Lebenswelt. Die Stadt zwischen Gewalt und Geborgenheit. Eine Doppelgesichtigkeit, in der wir unsere Stadt auch sehen können. Vielleicht nicht in dieser Drastik. Aber Klage und Lob sind hier genauso da und genauso nötig. Die Klage kann aus der Perspektive von Eltern formuliert werden, die es schwer haben, einen Kita-Platz für ihre Kleinen zu finden. Aus der Perspektive von misshandelten Frauen, denen die Mittel für unterstützende und schützende Einrichtungen gestrichen werden. Aus der Perspektive von illegal in Deutschland lebenden Afrikanern, die in Hamburg leben wollen, die in ihren kleinen Kirchen eine Zuflucht finden und doch bei jeder Begegnung fürchten müssen, aufzufliegen und abgeschoben zu werden, oft in lebenszerstörende Bedingungen hinein. Klage gegen eine reiche Stadt, in der nichts mehr Platz haben soll als das, was ökonomischen Erfolg und Nutzen verspricht: wo das Kleine, das Unwichtige und Unnütz-Liebenswerte keinen Platz mehr haben soll. In der es keine Räume mehr geben soll, wo man auf andere Gedanken kommen kann: die Geisteswissenschaften beispielsweise und die Theologie an der Universität. Die andere Seite kann genauso laut gesagt werden: Lob für die Stadt, ihre Häuser, Straßen und Viertel voller Charme und

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Lebendigkeit. Lob für die Weltoffenheit und Freiheit ihrer BewohnerInnen, Lob für den großen Raum voller Leben und Liebe, Ideen und Aufbrüche, voller großer und auch schräger Lebensmöglichkeiten. „Jerusalem, Jerusalem, du tötest deine Propheten …“ In unserem Predigttext ist die Ambivalenz von Klage und Lob, die zur Lebendigkeit allen Lebens hinzugehört, aus dem Lot geraten. Die Klage ist total geworden. Sie kann Unterschiede nicht mehr wahrnehmen, die kleinen Brüche und heilsamen Differenzen, die es immer gibt, wo Menschen zusammenleben. Trauer über enttäuschte Liebe stehen im Hintergrund. Um wieder mit sich selbst ins Reine zu kommen, wird das Gesicht des Anderen verzeichnet, manchmal bis zur Unkenntlichkeit. Eine traurige Geschichte. Sie kann immer wieder erzählt werden, für viele Beziehungsgeschichten. Wenn Liebende sich trennen, verschwinden die guten Zeiten aus der lebendigen Erinnerung: die Verliebtheit des Anfangs, die exstatischen Gefühle, die vertrauten Begegnungen. Auf einmal kann man sich nur noch an das Schnarchen und den unangenehmen Mundgeruch, an gebrochene Versprechungen und enttäuschte Hoffnungen erinnern. Mit der Liebe zu einer Stadt, zum Ort gemeinsam geteilten Lebens kann es genauso kommen. Das 23. Kapitel aus dem Matthäusevangelium, aus dem unser Predigttext stammt, ist voll mit angst- und hasserfüllten Bildern. Sie richten sich gegen Gruppen aus dem Judentum wie die Schriftgelehrten und Pharisäer, am Schluss gegen die ganze Stadt Jerusalem und gegen alles Volk. Schriftgelehrte und Pharisäer, so lautet ein Vorwurf, tun nicht, was sie sagen. Der zweite Hauptvorwurf: Sie können nicht zwischen Wesentlichem und Unwesentlichem unterscheiden. „Weh euch, Schriftgelehrte und Pharisäer, ihr Heuchler, die ihr den Zehnten gebt von Minze, Dill und Kümmel und lasst das Wichtigste im Gesetz beiseite, nämlich das Recht, die Barmherzigkeit und den Glauben! Doch dies soll man tun und jenes nicht lassen.“ Die Vorwürfe werden mit Beispielen untermauert, es werden Szenen ausgemalt, die sie belegen sollen. Wie das so geht, wenn

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der Streit erst einmal eingespielt und ein Weg zurück nicht mehr zu finden ist. Den Streitenden fällt, wenn sie einmal in Fahrt sind, immer noch etwas ein, was ins Bild passt. Das Feindbild ist klar: Pharisäer und Schriftgelehrte. Die Frommen, die im damaligen Judentum dem Gesetz Gottes auch im Alltag der Leute Achtung verschaffen wollten. Achtung für Gottes wunderbares Geschenk an sein Volk, Grund zur Freude und Weg für ein Leben, das Gott und den Menschen dient. Möglicherweise ist ja auch etwas dran: Leute, die in ihrem Eifer für Gott und für das rechte Leben des Gottesvolkes unfähig waren, Prioritäten zu setzen. Das ist ja das Fatale, dass Vorwürfe in Streitritualen fast immer einen Teil der Wirklichkeit treffen. Aber eben nur einen Teil. Auf dem Höhepunkt der ganzen Serie von Anschuldigen steht der Mordvorwurf an die ganze Stadt und alles Volk: „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind.“ Auch diese Anklage ist nicht völlig aus der Luft gegriffen. Das Schicksal des Rabbis aus Nazareth, der seinen einzigen Besuch in Jerusalem mit dem Leben bezahlt. Der Prophet Jeremia, der klagt, dass ihn der Auftrag Gottes unter seinen Landsleuten einsam macht, der auch Anschläge auf Leib und Leben fürchten muss. Stephanus, einer der Freunde Jesu, der gesteinigt wird. Aber keiner geht in seiner Anschuldigung so weit wie Matthäus. „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten und steinigst, die zu dir gesandt sind!“ Matthäus und die Gemeinde gehören selber zur gemeinsam geteilten Lebenswelt des jüdischen Volkes - mit seiner heiligen Stadt Jerusalem. Sie gehören zu einer Gruppe im Judentum, die von den Begegnungen mit dem Rabbi aus Nazareth aus ihrem bisherigen Leben herausgeworfen wurden. Jesus hat das nahe Gottesreich so machtvoll angesagt, dass sie es glauben konnten. Sie sind von seinen Heilungen und seinen Festessen mit armen und missachteten Leuten so fasziniert worden, dass sie verändert worden sind, im Leben und im Glauben. Sie haben nach seinem gewaltsamen Tod am Kreuz nicht wieder in ihr bisheriges Leben zurückfinden können, im Gegenteil. Begegnungen mit dem Auferstandenen haben sie

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verwandelt. Begegnungen von einer Intensität und Macht, dass immer mehr Menschen in dieser Nachricht ihren einzigen Trost und ihre einzige Verheißung gefunden haben, im Leben und im Sterben. Nach und nach kommt es zu wachsender Fremdheit gegenüber anderen Gruppen im zeitgenössischen Judentum. Die Jahre gehen ins Land. Nach und nach werden die bisherigen Orte und Selbstverständlichkeiten fremd, der Tempel, die religiösen Vorschriften, aber auch die Menschen, die für sie einstehen. Schließlich ist eine Umkehr in die alte Gemeinsamkeit nicht mehr vorstellbar, für beide Seiten nicht. Es kommt zum Bruch, und er wird spätestens dann unumkehrbar, als nach Aufruhr und Krieg der Tempel und die ganze Stadt Jerusalem von den römischen Truppen vernichtet wird. Eine traurige Geschichte. Eine Geschichte aus Missverstehen, wachsender Fremdheit und hasserfüllter Ablehnung. Matthäus und seine Gemeinde, in denen unser Predigttext ursprünglich überliefert worden ist, sind selbst Juden. Sie sind in ihren Lebensweisen und Lebensgeschichten selbst noch dem verbunden, was sie jetzt ablehnen. Das entstellte Bild des Gegenübers ist aus Trauer und enttäuschter Liebe vielleicht noch verständlich – aus der Notwendigkeit, in der scharfen Unterscheidung zu dem, woraus man selber kommt, das eigene Selbstbild zu stabilisieren, auch um den Preis des Realitätsverlusts. Als die Kirche Jesu Christi in ihrer Mehrheit nicht mehr von Juden, sondern von Menschen gebildet wird, die aus anderen Glaubenstraditionen heraus Christen geworden sind, wird das Feindbild dogmatisch. Über die Jahrhunderte wird das zerstörerische und mörderische Konsequenzen haben, bis zum Massenmord an den Juden in unserem Land. Eine traurige Geschichte. Ließe sie sich auch anders erzählen? In diesen Tagen kommt ein neuer Film in die Kinos, 5 x 2 von Francois Ozon. Eine Liebesgeschichte wird in fünf Episoden erzählt, und zwar verkehrt herum. Es beginnt mit dem trostlosen Tag vor dem Scheidungsrichter und der endgültigen Trennung des Paares. Dann ein Abendessen mit Freunden, dann die Geburt des gemeinsamen Kindes, danach die Hochzeit, dann erst der Tag des Kennenlernens – der erste kribbelige und

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aufregende Augenblick in romantischen Bildern, die Verliebten schwimmen der untergehenden Abendsonne entgegen. Durch die Umkehrung der Zeit erzählt der Film eine glückende Geschichte, die die Herzen froh macht und die Taschentücher nass, zumindest für den Moment. Die Zuschauerinnen gehen mit dem Gefühl des Happyends aus dem Kino. Erst nach und nach setzt sich die eigentliche Reihenfolge der Erzählung durch, sie handelt davon, wie Liebe zerbröckelt, wie sich Gleichgültigkeit einschleicht und die Beziehung endlich scheitert. Die Botschaft des Films: In jeder Liebesgeschichte, auch in ihrer Zerbrechlichkeit und Gebrochenheit und ihrem möglichen Scheitern, ist der große Augenblick des Beginns machtvoll: das Verzaubertsein, die Sehnsucht nach Intimität und Durchbrechung der Alltagssorgen. Das Heilsein des Lebens. In unserem Predigttext ist die gute Erinnerung noch da, als Anklage, aber auch als Sehnsucht und Gegenbild gegen das Scheitern: „Wie oft habe ich deine Kinder versammeln wollen, wie eine Henne ihre Küken versammelt unter ihre Flügel; und ihr habt nicht gewollt!“ Martin Luther formuliert: „Wie eine Henne versamlet ihre Küchlin“. Anders als der Mordvorwurf am Anfang ist das ein Bild der Trauer, das die Erinnerung an die ursprüngliche Liebe, an die Zärtlichkeit des Anfangs noch durchlässt. Die Henne und ihre Küken: ein Bild des Schutzes und der Intimität. Das Bild von der Vogelmutter, die ihren Jungen unter ihren Flügeln Schutz bietet, ist ein vertrautes biblisches Bild für Gottes Handeln. Andere Bilder werden sich anschließen: Die Schutzmantelmadonna der römisch-katholischen Tradition, die Arme, Zerbrechliche und Bedrohte unter ihrem weiten Mantel birgt. Der Raum einer Kirche, auch einer protestantischen Kirche, wenn sie denn verlässlich geöffnet ist: eine Einladung, sich zu verpusten und in Sicherheit zu sein. Für AsylbewerberInnen kann das lebenswichtig sein, in Situationen der Lebenskrise für alle BewohnerInnen einer Stadt. Menschen, die in den Tagen nach dem 11. September oder nach dem Attentat im Erfurter Gymnasium einen

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Raum für ihre Klage, ihren Schrecken und die Sehnsucht nach Trost gesucht haben, können davon erzählen. Das heilsame Erinnerungsbild geht in der Klage und Anklage beinahe wieder unter: „Aber ihr habt nicht gewollt.“ Aber es ist noch da, als gutes Gegen-Bild gegen die trostlose Entwicklung einer gescheiterten Beziehung. Eine heilsame Erinnerung, die einen Raum öffnet, die Geschichte gegen ihren Strich zu lesen, und wenn es sein muss verkehrt herum. Am Reformationstag muss auch daran erinnert werden. Gegen die schlimmen judenfeindlichen Ausfälle Martin Luthers am Ende seines Lebens können seine einfühlsamen Wahrnehmungen der Lebenssituation der jüdischen Menschen erinnert werden: der gute Anfang, als der Reformator von der evangelischen Entdeckung aus seinem bisherigen Leben, Glauben und Denken herausgeworfen war. Gottes Liebe ist zuerst da, nicht als Belohnung richtigen moralischen oder religiösen Handelns. Gott kommt von sich aus auf uns zu, in unseren zerbrochenen Beziehungen, unserem krummen Gang, unserer unverständlichen und heillosen Trennung vom Grund des Lebens. Wer sich darauf verlässt, wird durch diese Liebe verwandelt: Er und sie kann die Gaben Gottes für sich annehmen und an die weitergeben, die sie nötig brauchen. In der Zeit des guten Anfangs, der Entdeckung des evangelischen Glaubens kann Luther auch in den jüdischen ZeitgenossInnen das menschliche Antlitz wahrnehmen: als geliebte Kinder Gottes, unsere Geschwister. Nehmen wir uns die Freiheit, den Blick umzukehren zur guten Erinnerung und zerstörerische Beziehungsgeschichten anders herum zu erzählen. Die ganze biblische Großerzählung lädt dazu ein, sie bringt Anfang und Ende, Alpha und Omega zusammen in einer Weise, dass die traurige Entwicklung einer Beziehungsgeschichte den guten Anfang nicht zerstören kann. „Jerusalem, Jerusalem, die du tötest die Propheten …“ Jerusalem, die Stadt, in der sich heute palästinensische Selbstmordattentäter und israelische Mordkommandos gegenseitig auslöschen. Unter all den Trümmern

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des Hasses und der Trauer bewahrt sie, wie versteckt auch immer, den Traum vom guten Anfang: „Nächstes Jahr in Jerusalem!“ Wenn von den Verschiedenen die gleiche Stadt als heilige Stadt angesehen wird, dann muss das nicht in endloser Gewalt unter den Verfeindeten enden. Es kann Energien freisetzen, gemeinsam nach einem Zusammenleben zu suchen, das die Heiligkeit des Lebens genauso achtet wie die heilige Stadt. Die Geschichte gegen ihre zerstörerische Entwicklung erzählen. Unsere Universität, die unter dem ökonomistischen Tunnelblick der Wissenschaftsbehörde zu einer Fabrik wirtschaftlich nutzbarer Kenntnisse heruntergewirtschaftet werden soll: Viele der hier lebenden und lernenden Menschen bewahren der Traum vom guten Anfang, dass Bildung helfen kann, in Achtung vor der Andersheit des Anderen das unverwechselseitige Gesicht der eigenen Kultur zu entwickeln. Ein notwendiger Beitrag zum Frieden und zum demokratischen Zusammenleben unserer Stadt. Hamburg, offener Raum, Tor zur Welt, Einladung zum Zusammenleben verschiedener Menschen verschiedener Kulturen und Religionen, die große Freiheit für weite Herzen und Sinne. Gegen die zerstörerische Logik der unumkehrbaren Entwicklung feindseliger Beziehungen: Nehmen wir uns die Freiheit, die Geschichten anders herum zu erzählen. Als wäre der Charme, die Faszination, die Leichtigkeit des guten Anfangs das Ende der Geschichte, und nicht die trostlose Verstrickung in Feindschaft und verzerrter Wahrnehmung des Anderen. Unser Predigttext lädt dazu ein. Am Ende wird nicht der große Schrecken kommen, sondern die neue Welt Gottes. „Denn ich sage euch: Ihr werdet mich von jetzt an nicht mehr sehen, bis ihr sprecht: Gelobt sei, der da kommt im Namen des Herren.“ Durch diesen Blick wird auch die Stadt verändert, unsere gemeinsam geteilte Lebenswelt. Trauen wir ihr das zu, muten wir ihr das zu! Ein Vorschein des großen Willkommens, auf das wir zugehen. Wie wäre das: Wenn Kinder nicht zuerst als Kosten für Kitaplätze und Schulen angesehen, sondern als neugeborene Menschenkinder empfangen würden, die unser Leben auf heilsame Weise durcheinanderbringen? Wenn Menschen

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aus anderen Kulturen und Religionen mit offenen Armen empfangen würden: als Chance, über die große Vielfalt menschlicher Lebensmöglichkeiten mehr zu erfahren und Eingespieltes und Vertrautes verändern, vielleicht auch neu lieben zu lernen? Wie wäre das: Wenn Geisteswissenschaftlerinnen auch abgelegener Fächer, ja wenn sogar Theologen und Theologinnen nicht als nutzlose Kosten für die Universität angesehen werden, sondern als Einladung an die ganze Stadt, auf andere, vielleicht sogar bessere Gedanken zu kommen? Und der Friede Gottes, der höher ist als all unsere Vernunft, bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Wolf-Dieter Hauschild (†)

Predigt am Reformationsfest 2004 in der Universitätskirche Münster über Römer 3, 21-28 „Nun aber ist ohne Zutun des Gesetzes die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, offenbart, bezeugt durch das Gesetz und die Propheten. Ich rede aber von der Gerechtigkeit vor Gott, die da kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Denn es ist hier kein Unterschied: sie sind allesamt Sünder und ermangeln des Ruhmes, den sie bei Gott haben sollten, und werden ohne Verdienst gerecht aus seiner Gnade durch die Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist. Den hat Gott für den Glauben hingestellt als Sühne in seinem Blut zum Erweis seiner Gerechtigkeit, indem er die Sünden vergibt, die früher begangen wurden in der Zeit seiner Geduld, um nun in dieser Zeit seine Gerechtigkeit zu erweisen, dass er selbst gerecht ist und gerecht macht den, der da ist aus dem Glauben an Jesus. Wo bleibt nun das Rühmen? Es ist ausgeschlossen. Durch welches Gesetz? Durch das Gesetz der Werke? Nein, sondern durch das Gesetz des Glaubens. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben.“ Römer 3, 21-29 Wir haben vorhin in der Evangelienlesung gehört, worum es an diesem Tage geht. Eindrucksvoller kann es keine Predigt formulieren: „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“. So sagt es Jesus. Und für unser evangelisches Selbstbewusstsein spricht Paulus recht eigentlich zur Sache an einer Kernstelle seines Römerbriefes: Wir erlangen Gerechtigkeit, die vor Gott gilt (d.h. wir erfüllen den Sinn unseres Lebens als Geschöpfe Gottes) allein durch den Glauben an Jesus Christus. Wir werden tatsächlich gerecht - können also allen normativen Ansprüchen an unsere Persönlichkeit und unsere Lebensführung genügen

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- aufgrund der Gnade Gottes wegen der Erlösung und Befreiung, die in Jesu Christi Leiden und Auferstehung öffentlich manifestiert worden ist. Wir kommen zum Ziel des Lebens, zur Anerkennung bei Gott, allein durch den Glauben an diesen Jesus Christus, nicht aber durch die Werke des Gesetzes, d.h. nicht durch anerkennenswerte Leistungen, die sowohl Gottes Willen als auch den Maßstäben der Menschen entsprechen. Das ist evangelische Existenz: allein durch den Glauben die Rechtfertigung vor Gott erhalten. Und Jesus sagt dazu: „Selig sind, die reinen Herzens sind, denn sie werden Gott schauen“. Gott schauen, nicht in einer durch religiöse Anstrengung erlangten mystischen Vision, sondern in der gnädigen Öffnung des Himmels durch Gott selber; wir werden hinein genommen in Gottes Reich und Gottes Herrlichkeit. Heute feiern wir das Reformationsfest. Das ist nach offizieller Sprachregelung unserer evangelischen Kirche der „Gedenktag der Reformation“. Feierliches Gedenken bezieht sich bei uns normalerweise auf Ereignisse der Vergangenheit oder auf Tote, derer wir gedenken, um entgegen dem alltäglichen Vergessen und der praktischen Bedeutungslosigkeit zum Trotz wenigstens für einen Moment so zu tun, als wären die Toten oder vergangenen Geschehnisse etwas, was für unser gegenwärtiges Leben Relevanz besäße. Fast bis zum Überdruss zelebrieren wir in unserer Gesellschaft eine „Kultur der Erinnerung“, die freilich mehr zu tun hat mit political correctness als mit einer Offenheit für die Vergangenheit, aus der wir womöglich Denkanstöße mit verändernder Wirkung erhalten könnten. Das ist deswegen so unehrlich oder so naiv, weil „Offenheit“ in unserer ganzen Lebenswelt nur auf die Zukunft bezogen ist. Wir müssen offen sein, „fit“ sein für den Wandel, der sich zwar immer wieder neu wandelt, aber konstant eine gültige Norm bleibt. Nur das Neue zählt, die Innovation, die wir in Deutschland angeblich mangelhaft wahrnehmen. Und - so die Prognose - alles wird ganz anders, nichts wird mehr sein, wie es jetzt ist.

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Derlei Denkschablonen, die via Fernsehen und Zeitung in ermüdender Wiederholung unsere Einstellung manipulieren sollen, sind nun auch in unserer evangelischen Kirche fest verankert. Diese Kirche hält sich zwar einiges darauf zugute, dass sie die Rechtfertigung allein aus Glauben nicht nur konstant predigt, sondern auch in ihrem Handeln Gestalt werden lässt. Doch leider gilt das in Wirklichkeit nicht oder nur sehr begrenzt. Hier ist in bemerkenswerter Weise - um es theologisch zu formulieren - das Gesetz zum Evangelium geworden, das Gesetz der ökumenischen Globalisierung zum Evangelium einer Marktkirche, die nach ökonomischen Kriterien ihre gesamte Arbeit prägen will. „Gedenktag der Reformation“ als Erinnerung an die Toten. Da könnte ich womöglich unsere evangelische Kirche meinen, die Kirche des Evangeliums von der Rechtfertigung allein aus Glauben, die grundsätzlich aller Werkerei abgeschworen hat seit 1517. Doch ich möchte heute mein Totengedenken auf einen Mann beziehen, ohne den es vermutlich am 31. Oktober 1517 (wenn es denn tatsächlich dieser Tag war) keinen Thesenanschlag Luthers gegeben hätte (wenn es denn wirklich so war, wie die evangelische Legendenbildung seit Melanchthon es uns eingeprägt hat). Ich möchte den „Gedenktag der Reformation“ auf einen Toten beziehen, der als menschlicher Typ unter uns immer noch lebendig ist, bemerkenswert vital und einflussreich: Johann Tetzel, den gebildeten DominikanerPrior, Inquisitor für Polen und Sachsen, den seit 1504 im Ablassverkauf bewährten Marketingstrategen, der 1517 den legendären PeterskirchenAblass mit großem Effekt vertrieb, der auftrat als General-Subkommissar für seinen Boss, den Erzbischof Albrecht von Mainz und Magdeburg, einen Hohenzollern, der „Preußens Gloria“ in ganz Deutschland schon von ferne her damals erschallen ließ. Tetzel ist ein wichtiges Thema für eine evangelische Kirche, die überall die diskriminierten Außenseiter zu rehabilitieren sucht. Aber mehr noch: Tetzel ist ein Leitbild für eine evangelische Kirche, die jammervoll im

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Tal der finanziellen Defizite sitzt und auf Erlösung durch eine Marketingstrategie hofft, die nun endlich einmal wieder das Geld im Kasten klingen lassen soll. Tetzel, das ist heute ein noch unerledigtes Thema, wenn wir mit unserem Predigttext über die Rechtfertigung aus den Werken des Gesetzes sprechen wollen. Ohne Tetzel wäre Luther vielleicht nicht so rasch mit der Institution Kirche kollidiert. Ohne Tetzel hätte er womöglich seine neue Rechtfertigungslehre nicht an das Licht der breiten Öffentlichkeit gebracht, sondern im akademischen Turm seines Klosters noch längere Zeit für sich behalten. Wir haben also Johann Tetzel einiges zu verdanken, und so schlecht war der Mann nun wirklich nicht, wie er früher oft gemacht worden ist. Das erkennen wir heute besser, wenn die uns präsentierten Kirchenreformkonzepte beispielsweise den Pfarrer mit Managerqualitäten fordern. Über die verfügte Tetzel allemal. Rechtfertigung vor Gott, ewige Seligkeit gab es für ihn nicht umsonst; der Sprung der Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel kostete etwas. Tetzel vertrat eine Marketingstrategie, mit der er Nachfrage schuf und Kaufkraft mobilisierte. Freilich war sein Produkt hinsichtlich der realen Substanz nicht viel wert, doch das wusste die interessierte religiöse Konsumgesellschaft nicht. Dümmer als wir heute waren die Ablasskäufer von damals auch nicht. Sie glaubten an den Wert der Ablassbriefe und an die Realität des Fegefeuers wie andere an die Aktien des New Market und an den Wert von Optionen oder Termingeschäften. Betriebswirtschaftlich betrachtet war das für Tetzels Firma „Rom und Mainz GmbH“ eine rentable Aktion. Allerdings gab es in volkswirtschaftlicher Hinsicht manche Bedenkenträger wie etwa Friedrich den Weisen, der für sein Kurfürstentum Sachsen den Ablasshandel verbot, um die Kaufkraft im Lande zu halten. Betriebswirtschaftlich handelte der weise Friedrich schon jetzt evangelisch, wenn er seine gewaltige Reliquiensammlung von über 19.000 „Heiltümern“ mit einem riesigen Ablasspotential am Allerheiligentag öffentlich ausstellte, für

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jedermann zugänglich, das Heil umsonst (gratis) vermittelnd durch bloßes Anschauen. Doch trotz gewisser Parallelen: Der sachliche Abstand zwischen den Wittenbergern am 1. November 1517 und uns Münsteranern am 31. Oktober 2004 ist sehr groß. Denn wir wollen uns nicht vor Gottes Gericht schützen, wir glauben nicht an das Fegefeuer. Gottes Zorn ist für uns ein für allemal abgetan und keine drohende Gefahr; das Himmelreich ist trotz Jesu Verheißung für uns ein nebulöses Nichts. Tetzel hat damals als „Vertreter“ der Kirche mit jenseitigen Werten gehandelt. Bei uns heute wäre er eher ein Investmentberater beim Verkauf der scheinbar überflüssigen kirchlichen Immobilien: beispielsweise des Hamann-Stiftes in Münster, welches auf einer entsprechenden Verkaufsliste des Bielefelder Landeskirchenamtes stehen soll. Oder Tetzel wäre von Haus zu Haus uns als einzelne ködernd - ein Versicherungsvertreter, dem wir alles abkaufen würden, was der Absicherung der Lebensrisiken dient, Rechtsschutz- und Haftpflicht-, Lebens- und Sterbeversicherungen. Derartiges pauschal zu kritisieren, wäre unsinnig. Es taugte nicht einmal als homiletischer „Gag“ zur Aufmunterung einer schlafenden Gemeinde. Mein Hinweis möchte einen wesentlichen Sachverhalt verdeutlichen. Wir orientieren unser Leben völlig an der diesseitigen Welt, weil es für uns jenseits derselben nichts gibt, was sich wirklich lohnen würde. Das Jenseits ist uns verschlossen; wir selber haben es aus unserem Denken und unserer Lebenserfahrung weggesperrt, weil wir nicht als „Hinterweltler“ verspottet werden möchten (mit und ohne Friedrich Nietzsche). Das ist eigentlich nicht unsere Schuld, mehr unser Schicksal als Zeitgenossen der Moderne. Doch in unserer Religiosität wirkt es sich fatal aus. „Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich“ - diese Verheißung Jesu ist nicht einmal mehr utopisch, weil sie schlechterdings keinen Platz in unserer auf Erfahrbarkeit bezogenen

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Hoffnung hat. Die Aussicht auf einen Platz in der Münsteraner Himmelreichallee, wo die goldenen Tempel von LBS und WestLB stehen, wäre eine viel plausiblere Verheißung. Und nun zum Reformationsfest und direkt zu unserm Predigttext: Fatal wirkt sich diese schicksalhafte Lebenssituation auch darauf aus, wie wir mit dem praktisch umgehen, was wir als das Zentrum unseres evangelischen Glaubens anpreisen, die Lehre von der Rechtfertigung allein um Christi willen und daher allein aus Glauben. Es ist diejenige Sache, von der schon Luther sagte, mit ihr würde die Kirche stehen oder fallen. Und wahrscheinlich sind wir heute eine gefallene Kirche, doch nicht „gefallene“ Mädchen und Jungen als Kirche der gestrauchelten Sünderinnen und Sünder, die immerhin sich nach Gottes Gnade und Barmherzigkeit sehnen. Unsere Sündigkeit würden wir doch nur dann angemessen wahrnehmen und in ihrem gefährlichen Gewicht einschätzen, wenn wir ernsthaft dem entgegensähen, dass am Ende unseres Lebens Gottes Gericht auf uns wartet. Die frohe Botschaft von der Rechtfertigung allein aus Glauben gilt uns Sünderinnen und Sündern, den Gescheiterten, die wir Gottes Gesetz, d.h. dem Anspruch an ein normgemäßes Verhalten im täglichen Leben, nicht adäquat entsprochen haben. Rechtfertigung ist ein Begriff der Gerichtssprache. Uns wird der Prozess gemacht vor dem Gericht unseres Gewissens und vor Gottes ewigem Gericht. Unsere Sache steht aussichtslos, der Ankläger triumphiert. Sühne wird gefordert für zahllose Verstöße und Vergehen. Wir können sie nicht leisten, weil wir nichts mehr zu bieten haben, denn wir sind geistlich bankrott. Und in dieser Situation - so setzt es unser Predigttext voraus - tritt Jesus Christus stellvertretend für uns ein mit dem Sühnopfer seines Todes, welches uns durch seine Auferstehung den Himmel öffnet. Das ist die Rechtfertigung vor Gottes Gericht aus Gnade allein, das ist der definitive

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Freispruch, das ist die Befreiung aus dem Kerker, das ist die Erlösung von sämtlicher Lebensqual. Ein Wunder - entgegen allen Regeln der göttlichen Strafprozessordnung. Wir treten ein ins Himmelreich, und das mitten hier im alltäglichen Leben. So hat es Luther eindrucksvoll beschrieben 1545 in dem stilisierten Rückblick auf seine sog. reformatorische Wende, auf die Erkenntnis dessen, was „Gottes Gerechtigkeit“ in unserem Predigttext praktisch meint: die Öffnung des Paradieses. Diese beseligende Erfahrung der Befreiung vom existentiellen Leistungszwang (von der Forderung des göttlichen Gesetzes in unserem Gewissen und in unseren Berufspflichten), diese evangelische Freude hat Martin Luther als zunftmäßiger Theologe umgesetzt in eine durchreflektierte, exegetisch begründete Lehre von der Rechtfertigung allein durch den Glauben an Christi Heilswerk. Individuell, für sich persönlich betrachtet, hat er sich damit befreit von den Mächten, die ihn bedrohten: von dem Druck der Sünde, von der Versuchung des Teufels und von der Angst vor dem ewigen Tod. Ihn trieb die Sorge, daß am Ende des Lebens seine Bilanz nicht ausreichen könnte für einen Freispruch vor Gottes Gericht. Er fürchtete das Gesetz, die unerbittliche Forderung Gottes. Aber in Jesus Christus fand er Frieden für seine Seele. Johann Tetzel, der Propagandist des religiösen Leistungsprinzips und Verkäufer transzendenter Versicherungen, war auch verunsichert durch Angst und angetrieben von zwanghaftem Druck: dass am Ende eines arbeitsreichen Tages die Kasse nicht stimmte, dass der Verkauf der Ablassbriefe sich letztlich nicht rentierte, dass folglich der Bau der Kirche in Rom ebenso gefährdet war wie der Haushaltsausgleich der hochverschuldeten Landeskirchen zu Mainz und Magdeburg. Ihn trieb die Sorge, dass am Ende seiner Aktion das Geld nicht reichen würde für die Entlohnung all der vielen kirchlichen Bediensteten und die Tilgung der angehäuften Schulden. Er fürchtete das Gesetz des Marktes, die unerbittliche Willkür des Kapitals, das wie ein scheues Reh über die Grenzen fortzie-

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hen könnte, zum Beispiel ins benachbarte Kursachsen, wo alsbald die Befreiung aus dem Fegefeuer gratis zu haben war. Liebe Gemeinde, wir leben bekanntlich auch als Christenmenschen im Zeitalter der ökonomischen Globalisierung und wir leiden unter deren Folgen durch Verlust von Arbeitsplätzen und Steuereinnahmen, durch Kürzungen von Gehältern, Renten und Pensionen, durch Stellenstreichungen in Universität und Landeskirche. Davon sehen, lesen und hören wir tagtäglich mehr, als unserer Seele gut tut. Es ist der „Fürst dieser Welt“, den Luther so eindrucksvoll in seinem Reformationslied erwähnt. Und er sagt: Dieser Fürst ist mit seiner Herrschaft prinzipiell am Ende, weil wir als aus dem Glauben an Jesus Christus Gerechtfertigte in Gottes fester Burg sicher wohnen können. Tetzel war ein Repräsentant und Agent der ökonomischen Globalisierung ebenso wie der kirchlichen Finanzwirtschaft. Sein Prinzip war dasjenige der Rentabilität. Darum wäre es angemessen, wenn die Westfälische Kirche beim Verkauf unseres Hamann-Stiftes darauf bestehen würde, daß dieses fortan JohannTetzel-Stift heißen möge: als eine Versorgungseinrichtung für Menschen, die leiden an der Angst vor den Nöten des Alterns, den Schmerzen und dem Weg zum Sterben. Hier lassen sich Zertifikate verkaufen, die neue Finanzmöglichkeiten für unsere arme evangelische Kirche bieten. Ein solches innovatives Tetzel-Stift entspricht ihrer Mentalität wohl mehr als das traditionelle Hamann-Stift, in welchem Studierende sich unter anderem mit der evangelischen Rechtfertigungslehre, mit der Auslegung des Römerbriefes und mit Luthers Schriften beschäftigen. Demgegenüber wirkt Luther, der Botschafter der Gratis-Rechtfertigung, in betriebswirtschaftlicher Hinsicht etwas altmodisch und heute weltfremd. Vielleicht findet unsere Kirche bis zum nächsten Reformationsfest einen neuen Namen und eine neue Zweckbestimmung für alle MartinLuther-Kirchen und Martin-Luther-Häuser. Da sie von der Angst um Geldknappheit so geplagt wird, daß sie fast den Verstand verliert, sei ihr

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und auch uns - den schlichten Gemeindegliedern, die wir so schön als „Gläubige“ bezeichnet werden - dies eine gesagt: Reformationsfest feiern, war für die evangelische Kirche seit 1617 und in besonders betonter Weise seit 1667 stets ein Ereignis der Selbstbesinnung auf diejenige Kraft, die unserer Existenz in allen Nöten und Anfechtungen Gewissheit und frohen Mut gibt: auf das „Evangelium von der Herrlichkeit und Gnade Gottes“ (gloriae et gratiae Dei). Luther hat dies 1517 in der 62. These als „den wahren Schatz der Kirche“ bezeichnet. „Thesaurus“ steht da im Urtext, ein bank- und buchungstechnischer Begriff der Ökonomie. Tetzel hantierte ständig mit dem Thesaurus der Kirche und machte Geld aus dem Geist der Frömmigkeit und aus den Geistern der toten Heiligen. Luther warnte vor einer solchen Einstellung, die auf falscher Lehre basierte: Kirche lebt nicht vom Geld, sondern vom Evangelium. Und deshalb hat er in den letzten beiden Thesen (Nr. 94 und 95) uns ermahnt: Wir sollen Jesus Christus nachfolgen durch Leiden und viele Anfechtungen hindurch, um so mit ihm in den Himmel zu kommen. Nichts anderes ist das als Rechtfertigung ohne des Gesetzes Werke allein durch den Glauben. Amen. Aktueller Bezug der Predigt war der Protest der Studierenden gegen den Plan der Westfälischen Landeskirche, im Zuge ihrer Sparmaßnahmen auch das Münsteraner Hamann-Stift aufzulösen und dessen Gebäude an eine Investmentgesellschaft zu verkaufen.

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Christoph Huppenbauer

Solus Christus Reformationsgottesdienst in Brunstorf am 31. Oktober 2005 x Christus allein. Für Luther galt: Christus allein ist maßgebend, nicht die Tradition und nicht die Kirche. Allein Christus ist Mittler des Heils, nicht die Heiligen und Märtyrer, nicht Maria oder der Papst. Im Aufschauen zu Christus begegnet uns der barmherzige und gnädige Gott. x Was heißt Christus allein für mich? Wenn ich auf Christus schaue, begegne ich ihm immer unter zwei verschiedenen Aspekten: Jesus von Nazareth, ein Mensch wie wir, und Jesus Christus, eine göttliche Gestalt oder eine Weise, wie mir auch heute noch Gott begegnet. Ich sehe Jesus als Menschen in seinen Grenzen und glaube ihn als Christus, der unsere Begrenztheit überwindet und uns die Beziehung zu Gott eröffnet. Beides gehört im christlichen Glauben zusammen. o Im Menschen bekenne ich die historische Gestalt des Jesus von Nazareth, wie er in der schriftlichen Überlieferung durchschimmert. Ein Mensch, eingegrenzt durch seine Lebenszeit zwischen Geburt und Tod, durch ein historisches Datum und durch seine räumlich, geographische Gebundenheit, ein Mensch wie wir alle, den physikalischen Gesetzen unterworfen, dem Atem und Herzschlag, der Nahrungsaufnahme und Verdauung und den menschlichen Bedürfnissen genauso, wie wir alle. Ein Mensch wie wir alle – ecce homo. Und doch ein besonderer Mensch. ƒEs ist der Jesus der Bergpredigt und der Gleichnisse vom Himmelreich.

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ƒDer Jesus, der uns die Radikalität der Liebe Gottes nahegebracht und gleichzeitig die Möglichkeit einer innigen, vertrauensvollen Beziehung zu diesem Gott gezeigt hat, ein Gott, den Jesus „Abba“, Vater genannt hat. Er hat uns eingeladen, ihn ebenso zu nennen. ƒDer sich auch durch Anfeindung und Todesdrohung nicht aus seiner Verbundenheit zu Gott herausdrängen ließ und sich noch im Tod nach ihm, seinem Gott, ausstreckte. ƒDer Jesus, der soziale Schranken und Grenzen überwunden hat. Er hat den Pharisäern, dem reichen Zöllner und dem reichen Jüngling ebenso die Liebe Gottes nahe zu bringen gesucht, wie den Ausgestoßenen und Behinderten, den Frauen und den Kindern, den Ausländern und Besatzungssoldaten. Den einen, den Starken, Etablierten und oft Selbstgerechten in Konfrontation – z.B. in Streitgesprächen mit ihnen und dem Wort: „Was hülfe es dem Menschen, wenn er die ganze Welt gewönne und nähme doch Schaden an seiner Seele.“ Den Schwachen und Hilfsbedürftigen in Barmherzigkeit, z.B. in dem Wort: „Kommet her zu mir alle, die ihr mühselig und beladen seid. Ich will euch erquicken.“ ƒDurch die Geschichten von Jesus ist mir Gott nahe gekommen. Nirgendwo sonst erkenne ich klarer den Gott, an den ich glaube: den Gott der Liebe, des Friedens, der Barmherzigkeit und der Gerechtigkeit. Darum gilt für mich: Jesus allein.

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o Im Bekenntnis Christus allein steckt für mich aber noch mehr. Wir bekennen uns nicht nur zu dem besonderen Menschen Jesus von Nazareth, der einmal gelebt hat, sondern wir bekennen uns zu dem auch heute noch und auch für mich immer noch lebendigen Gott. Indem wir Gott in Jesus Christus bekennen, bringen wir zum Ausdruck, dass der Gott, wie Jesus ihn uns nahegebracht hat, nicht räumlich und zeitlich und lebensbiographisch eingegrenzt gültig ist, sondern über Zeiten hinweg auch uns nahe ist: o Der historische Jesus und der geglaubte Christus gehören zusammen. Jesus gibt dem geglaubten Christus seine irdische und lebensnahe Konkretion. Der geglaubte Christus gibt dem historischen Jesus von Nazareth seine allgemeine, Zeiten übergreifende Verbindlichkeit. Jesus ist Christus konkret. Christus ist Jesus aktuell. Jesus Christus ist Gott, gestern und heute und derselbe auch in Ewigkeit. Das heißt für mich: allein Christus. o Ein Bekenntnis zu Christus ohne den Blick auf Jesus ist in Gefahr, zum Spielball menschlicher Machtinteressen zu werden. Ein Bekenntnis zu Jesus ohne den Christus des Glaubens ist in Gefahr, als ein rein ethisches Vorbild der Vergangenheit herzuhalten und uns in unserer Unzulänglichkeit und Kleinkariertheit zu beschämen. o Darum gilt für mich: Überall, wo ich Menschen begegne, die den Geist Jesu konkret leben, sehe ich Gottes Liebe und Barmherzigkeit wirken – egal, ob der Betreffende sich Christ nennt oder nicht. Gott wandert auch heute noch inkognito über die Welt. Er bindet sich nicht an unser Bekenntnis. Er wirkt, wo immer er es will. o Das bedeutet umgekehrt auch: Überall, wo ich Menschen begegne, die zwar ihr christliches Bekenntnis plakativ in den Vordergrund stellen, aber etwas anderes als die Liebe

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und Barmherzigkeit Gottes, wie wir sie von Jesus kennen, in ihren Worten und Taten zum Ausdruck bringen, erkenne ich den Missbrauch des Namens Gottes. Denn Christus findet sich nicht auf dem breiten Weg menschlicher Machtinteressen und egoistischer Eitelkeit. Luther hat einmal gesagt: „Wo Christus ist, geht es allzeit wider den Strom.“ o Insofern sehe ich den Dalai Lama, einen Buddhisten, sehr viel näher bei Christus stehen, als den bekennenden Evangelikalen George W. Bush. o Solus Christus bedeutet für mich: Auch im menschlichen Leben und menschlicher Geschichte immer wieder neu nachzuprüfen, was Luther als Maßstab der Beurteilung der biblischen Überlieferung genannt hat: nämlich herauszufinden, „was Christum treibet.“

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Claus Jürgensen

Reformationsgottesdienst für die Schulen der Insel Nordstrand am 31. Okt. 1966 in der Kirche zu Odenbüll über Markus 2, 23-28 Liebe Gemeinde! Die Kirche, in der wir hier sitzen, ist im mittleren Teil wohl 700 Jahre alt. Sie ist von unseren Vorfahren gebaut worden. Heute denken wir an die 449. Wiederkehr des Tages, an dem Martin Luther die Thesen gegen den Ablass an die Tür der Schlosskirche in Wittenberg schlug. Er war dort Professor der Theologie. Ihr kennt die Geschichte. Unsere Kirche ist also von unseren Vorfahren erbaut worden als ihre katholische Kirche. Christen sind unsere Vorfahren wohl erst nach dem Jahre 1.000 geworden. Das bedeutet, dass der katholische Glaube hier in unserer Heimat ebenso lange galt wie der evangelische nach Martin Luther. Nachdem die Menschen 450 Jahre katholisch waren, sind sie durch den Einfluss Martin Luthers evangelisch geworden. Martin Luther war ein Doktor der Heiligen Schrift, der Bibel, und musste diese seinen Studenten auslegen. Unsere Kanzel und die Bilder an der Empore sind erst nach der Reformationszeit geschaffen worden, unseren Altar, das große Kruzifix hier an der Wand und auch den Taufstein gab es schon als diese Kirche noch katholisch war. Die Leute, die vor der Reformation zum Gottesdienst gingen, waren Christen und sind auch Christen nach der Reformation geblieben. Unsere Aufgabe aber ist es nun, zusammen darüber nachzudenken, was sich eigentlich geändert hat. Warum gibt es katholische und evangelische Christen? Warum gibt es diese Unterschiede? Was heißt evangelisch sein? Ich will euch jetzt einmal eine Geschichte aus der Bibel vorlesen, über die wir zusammen nachdenken wollen. Sie soll uns helfen, unsere Frage zu verstehen und vielleicht auch eine Antwort zu finden. Die Geschichte

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handelt von Jesus und den Pharisäern. Vielleicht kommt ihr dann ja dahinter, was sie mit Martin Luther und dann auch mit uns zu tun hat. Vorher möchte ich aber denen, die es noch nicht wissen, sagen, was ein Pharisäer ist. Das waren keine schlechten Menschen, denn schlecht sind ja nur die Menschen, die es böse meinen. Die Pharisäer meinten es aber gut. Sie wollten fromme und gottesfürchtige Leute sein. Aber sie machten einen Fehler: Sie wollten die Frömmigkeit ordnen. Sie hatten eine Unzahl von Vorschriften, die einzuhalten fast unmöglich war. Sie verstanden Gottes Gebote wie Gesetze, wie Paragraphen, die man übertreten kann oder nicht. Und weil sie immer nur an ihre Vorschriften dachten, vergaßen sie, an die Menschen zu denken, die in Not waren. Sie stritten sich sogar darüber, ob man am Ruhetag ein Kind aus dem Wasser ziehen dürfe, wenn es hineingefallen ist. Jesus wollte einmal einen Kranken heilen, und sie wollten es ihm verbieten, weil am Sabbat Arbeit verboten war, auch für einen, der heilen konnte, denn heilen, die Arbeit des Arztes ist ja auch Arbeit. Aber nun die Geschichte: Und es begab sich, dass er am Sabbat durch ein Kornfeld ging, und seine Jünger fingen an, während sie gingen, Ähren auszuraufen. Und die Pharisäer sprachen zu ihm: Sieh doch! Warum tun deine Jünger am Sabbat, was nicht erlaubt ist? Und er sprach zu ihnen: Habt ihr nie gelesen, was David tat, als er in Not war und ihn hungerte, ihn und die bei ihm waren: Wie er ging in das Haus Gottes zur Zeit Abjatars, des Hohenpriesters, und aß die Schaubrote, die niemand essen darf als die Priester, und gab sie auch denen, die bei ihm waren? Und er sprach zu ihnen: Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen. So ist der Menschensohn ein Herr auch über den Sabbat. Markus 2, 23-28 „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht, und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Den Satz wollen wir uns merken. Mit ihm kann

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man nämlich die Geschichte und vielleicht auch Martin Luther und seine Tat verstehen. Ich habe mich als Kind immer darüber gewundert, dass die Jünger so einfach die Ähren ausraufen dürfen, die ihnen nicht gehören. Aber das ist im Alten Testament ausdrücklich erlaubt: „Wenn du in deines Nachbarn Weinberg gehst, so darfst du Trauben essen, bis du satt bist, aber du darfst sie nicht in ein Gefäß sammeln. Wenn du auf das Feld deines Nachbarn gehst, darfst du mit der Hand die Ähren ausraufen, aber du sollst nicht darin mähen“ (5. Mose 23, 25f). Das wäre wohl etwas für euch, man darf die Äpfel pflücken in des Nachbarn Garten, man darf sie nur nicht in Körben einsammeln! Heute ist das nicht mehr so. Man darf beim Nachbarn wohl nur Äpfel pflücken, wenn man darum bittet. Aber darum geht es nicht. Die Pharisäer regten sich auf, dass Jesus am Sabbat erntet, denn das Ährenausraufen ist nach ihrer Meinung auch ernten. Und Ernten war verboten. Und noch viel mehr: Alle Arbeit im Haus und im Garten war verboten. Man durfte auch keine Lasten tragen, man durfte nicht handeln, kaufen und verkaufen, man durfte am Sabbat nicht einmal Widerstand leisten. Die Israeliten haben einmal eine Stadt verloren, weil sie nicht kämpfen wollten (1. Makkabäer 2, 32-41). Man durfte nur kurze Strecken gehen, man durfte nicht kochen, nicht abwaschen, nicht aufräumen, nicht schreiben, nicht hämmern, kein Licht anzünden, gar nichts. Und damit unterblieb ja auch viel Gutes. Denn wenn man Gutes tun will, muss man wohl auch arbeiten. Als die Pharisäer ihn nun fragten, was er dazu zu sagen habe, dass seine Jünger am Sabbat Ähren ausraufen, ernten würden. Da sagt Jesus: Denkt einmal an den König David: Es war verboten, von den Broten zu essen, die auf dem Altar lagen. Als aber David nichts mehr zu essen hatte, nahm er die Brote von den Priestern an. Er setzte sich damit über die Gebote hinweg, um den Hunger seiner Leute zu stillen. Das tat dieser gelobte und bekannte David. Und Jesus schließt dann: „Der Sabbat ist um des Menschen Willen gemacht, nicht der Mensch um des Sabbats Willen.“

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Damit setzt Jesus sich über die Anordnungen der frommen Menschen hinweg und behauptet, dass Gottes Werk sich auf das Wohl und das Heil des Menschen richtet und nicht auf die Gebote und die Ordnungen. So muss man auch die Gebote verstehen: Um des Menschen willen. Der Sinn der Ordnung ist doch der, dass dem Menschen geholfen wird. Und wenn man daran nicht mehr denken kann, weil man Angst hat, ein Gebot zu übertreten, dann kann man nicht sagen, man ist ein Sünder, sondern dann muss es heißen: Das Gebot taugt nichts, es muss weg. Wenn Menschen hungern, krank sind, leiden, Hilfe brauchen und diese Hilfe nicht gegeben werden kann, weil es ein Gebot gibt, dann stimmt das Gebot nicht. Was Gott tut, tut er um des Menschen willen. So ist es! Und jetzt wollen wir weiter denken: Um des Menschen willen, d.h. doch nicht um der Kirche willen, nicht um des Pastors willen, nicht um der guten Ordnung willen, nicht um der Gebote willen, nicht weil jemand etwas fordert, sondern um unseretwillen hören wir auf das Wort Gottes. Zwischen uns und Gott hat Niemand und Nichts etwas zu sagen. Weg damit. Keine Gebote über den Sabbat, keine Gebote über den Ablass, keine Gebote über die Vergebung der Sünde, keine Gebote über ein frommes Leben, sondern: Gott meint den Menschen direkt. Wir brauchen als Christen keinen Menschen, keine Ordnungen zwischen uns und Gott, wir brauchen nicht den Papst, nicht Maria, nicht Anna, die Mutter der Maria (in der Nische im Altar findet ihr eine Figur „Anna Selbdritt“, Jesu klein, Maria groß, Anna noch größer – katholisch!) sondern allein Jesus Christus. In ihm hat Gott zu uns Menschen gesprochen. Auf ihn kommt es an, auf sonst nichts. Nach ihm nennen wir uns Christen. Auf ihn muss man sehen, von ihm hören und lernen, was es heißt, Gott über alle Dinge zu lieben, zu fürchten und zu vertrauen. Weil die katholische Kirche zu Luthers Zeiten dieses vergessen hatte, was Jesus zu den Pharisäern gesagt hatte, um des Menschen willen, hat Luther seine Stimme erhoben. Deswegen hat er gegen den Papst und gegen die Ordnungen der damaligen katholischen Kirche gewettert. Um der Menschlichkeit Gottes willen. Gott will keine Ordnungen, keinen

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Prunk, keine Opfer, keine Almosen, kein Geld haben, damit wir im Frieden mit ihm leben können. Gott ist kein Raubtier, dem man immer mal wieder einen Brocken hinwerfen muss, damit es ruhig bleibt, sondern Gott ist der Vater Jesu Christi, der diesen Jesus Christus um des Menschen willen in die Welt geschickt hat, damit wir glücklich und selig werden. Und heute? Heute muss jeder evangelische Christ darauf achten, dass das nicht vergessen wird. Denn wenn wir es vergessen, dann kümmern wir uns bald mehr um Ordnungen als um das Wort Gottes, das uns erreichen will. Um des Menschen willen! Um unseretwillen! Wir wissen vielleicht noch, warum wir keine Katholiken sein wollen. Das Eine oder Andere passt uns nicht. Wir wissen aber weniger, warum wir evangelisch sind. Das hat Luther uns nicht ein für allemal abgenommen, sondern dass muss man immer wieder lernen. Um des Menschen willen. Amen. Hinweis: Auf der Insel Nordstrand gibt es eine römisch-katholische und auch eine altkatholische Kirchengemeinde.

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Knut Kammholz

Predigt über Matthäus 5,2-10 gehalten in der St. GeorgKirche in Oeversee in einem Reformationsgottesdienst am 1. November 2009 zum Abschluss der Klausurtagung des Kirchenkreisvorstandes Rendsburg-Eckernförde. Liebe Gemeinde, es ist für mich heute Morgen nicht nur bewegend, noch einmal so kurz vor dem Ruhestand in der Kirche Gottesdienst zu halten, in der ich im Frühjahr 1972 meinen Dienst als Pastor begonnen habe, bewegend empfinde ich auch den Text, der für den Gedenktag der Reformation in diesem Jahr vorgesehen ist, die Bergpredigt Jesu, wie sie bei Matthäus im fünften Kapitel überliefert ist. Jesus ging auf einen Berg und setzte sich; und seine Jünger traten zu ihm. Und er tat seinen Mund auf, lehrte sie und sprach: Selig sind, die da geistlich arm sind; denn ihrer ist das Himmelreich. Selig sind, die da Leid tragen; denn sie sollen getröstet werden. Selig sind die Sanftmütigen; denn sie werden das Erdreich besitzen. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit; denn sie sollen satt werden. Selig sind die Barmherzigen; denn sie werden Barmherzigkeit erlangen. Selig sind, die da reinen Herzens sind; denn sie werden Gott schauen. Selig sind die Friedfertigen; denn sie werden Gottes Kinder heißen. Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen verfolgt werden; denn ihrer ist das Himmelreich. Ich sagte, es bewegt mich, über diesen Text heute an dieser Stelle zu predigen. Er verdeutlicht nämlich auf seine Weise nicht nur Luthers reformatorisches Anliegen ganz hervorragend, sondern er ist zugleich

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auch ein Text, der wie kein anderer, auf knappstem Raum wiedergibt, worum es Jesus ging. Jesus sitzt auf einem Berg. Wir wissen nicht, auf welchem, aber es war bestimmt nicht der Sinai. Trotzdem ist es natürlich nicht zufällig, dass uns dieser Berg jetzt in den Sinn kommt; denn das, was Jesus hier sagt, hat kaum weniger Gewicht als die Verkündigung der 10 Gebote damals auf dem Sinai. So wie einst Israel mit ihnen auf den Weg der Freiheit gerufen wurde, so sind auch Jesu Seligpreisungen Worte, die in die Freiheit führen, weil sie ein großes Erbarmen bringen. Arme, Erniedrigte und unter ihrem Leben Leidende sind hier angesprochen. Damals wie heute wird die von Gott geschenkte Freiheit vom Berg verkündet. Im Falle der Bergpredigt aber geschieht jetzt sogar noch mehr. Hier wird nicht nur Freiheit versprochen, sondern sie wird unmittelbar zur Erfahrung. Just in dem Moment, in dem Jesus zu seinen Jüngern spricht, ereignet sie sich bei ihnen. Sie, die die Schmähungen sowohl der frommen Juden als auch der Römer ertragen mussten und immer weniger wussten, was ihnen der Weg mit Jesus einbringen würde, sie, die unter ihren Ängsten und unter ihrer Ohnmacht litten, spürten auf einmal, wie durch die Worte Jesu eine unerschütterliche Gelassenheit in ihnen Einzug hält. Irritierend ist, dass Jesus hier zusammenbringt, was nach unserer gängigen Logik nicht zusammen gehört. Entweder man leidet oder man ist glücklich. Aber beides zusammen geht ja wohl nicht. Entweder bin ich am Ende und kann nicht mehr, bin ich ausgelaugt und fix und fertig – dieser Zustand ist mit dem Ausdruck „geistlich arm“ gemeint -, oder ich fühle mich glücklich. Aber da, wo wir Entweder-Oder zu sagen pflegen, setzt Jesus ein Sowohl-als-Auch. Aber diese Zusammenführung der Gegensätze, die uns in Jesu Rede so irritierend erscheint, ist eigentlich nichts Neues und kommt auch in anderen biblischen Zusammenhängen vor. So heißt es zum Beispiel bei Jesaja (9,1): „Das Volk, das im Finstern wandelt, sieht ein großes Licht und über denen, die da wohnen im finstern Lande, scheint es hell.“ Und bei Paulus lesen wir von Gottes Kraft, die in den Schwachen mächtig ist. Dieses Zusammenkommen der Ge-

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gensätze - Glück und Leid, Schwachheit und Kraft, Schmerz und Freude -, ist für uns schwer zu verstehen, weil wir es hier mit einer anderen Logik zu tun haben, als der uns geläufigen. Nicht zufällig gilt die erste Seligpreisung denjenigen, die geistlich arm sind, - also den Verzagten und Niedergeschlagenen, denen, die am Ende ihrer Kräfte sind. Mit ihnen will Jesus zugleich auch uns selbst ansprechen. Uns, die wir uns gern stärker geben als wir sind. „Wir sind Bettler, das ist wahr.“ So hat Luther unsere Grundbefindlichkeit beschrieben. Wir kommen schneller an unsere Grenzen als uns lieb ist. Geistlich arm sind die, die von sich aus nicht mehr weiter können. Damit sind nicht nur die gemeint, die mit dem Leben allein nicht klarkommen. Gemeint sind vielmehr wir alle mit unseren Begrenztheiten. Als kennten wir das nicht auch, dass man sich plötzlich am Ende fühlt. Was Jesus nun all denen am Rande ihrer Möglichkeiten sagt, ist nicht etwa, wie sie mit dieser Situation umzugehen haben und was sie beherzigen sollten, um mit dieser Grundstimmung klar zu kommen. Er gibt ihnen überhaupt keine Verhaltensregeln und vermittelt auch keine Lebensweisheiten, die sie verwirklichen müssten. Wenn man am Ende ist und nicht mehr kann und wenn man unglücklich ist, weil man sich so schwach und ohnmächtig fühlt, dass man sich verstecken möchte, dann bleibt nichts anderes mehr als Hören auf das, was Jesus hier sagt: „Selig sind, die da geistlich arm sind.“ Wenn man das in dieser Situation wirklich hört, - „Selig sind, die da geistlich arm sind“ – wenn man das nun an sich heran lässt, sich wirklich gesagt sein lässt, dann spürt man, das gilt ja dann auch für mich. Das würde ja heißen, Jesus sagt mir tatsächlich: Glücklich bist du jetzt und nicht länger unglücklich. Du fühlst dich unglücklich, in Wirklichkeit aber bist du es gar nicht. Denn dieser Dein Zustand ist dein Glück. Wenn ich das ernst nehme und dem nachgehe, wie Jesus mich in meinem Unglück glücklich nennen kann, mache ich eine aufregende Erfahrung. Es ist überhaupt keine Frage: ich bin am Ende und fühle mich unglücklich. Aber Jesus nennt mich in diesem Zustand trotzdem oder besser

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gesagt gerade deshalb glücklich. Ich kann jetzt natürlich noch lange darüber nachgrübeln, wie Jesus dazu kommt, mich in diesem Zustand einfach glücklich zu nennen. Ich kann mir das aber auch einfach gesagt sein lassen: „Dein Unglück verwandelt sich in diesem Moment in Glück.“ Glaubst du, so hast du. Lass dir das Leben von Gott neu schenken. Nimm das an, das neue Glück, gegen dein Gefühl, gegen alles, was dir jetzt eigentlich näher zu liegen scheint, gegen all das, was sonst für dich zählt. Du fühlst dich arm, dabei bist du reich. Du fühlst dich niedrig, dabei bist du herrlich. Du fühlst dich schwach, dabei hast du Kraft. Ich weiß nicht, ob es hier schon so etwas wie eine Gesetzmäßigkeit gibt, dass wir immer erst am Ende sein müssen, um zuzulassen, dass Gott an uns handelt. Auf jeden Fall ist es so, dass da, wo wir am Ende sind, Gott allererst am Anfang steht. Darum folgt hier jetzt auch kein „Du sollst“, „Du musst“, kein Gesetz, sondern schlicht Evangelium, einfach Geschenk, Gnade, Lebenserneuerung dadurch, dass Gott handelt. Dass Gott handelt, ist in diesem Zusammenhang mehr als eine fromme Floskel. Ich weiß nicht, inwieweit Sie das nachvollziehen können, was es für einen Menschen bedeutet, wenn er sich das bewusst macht, dass Gott jetzt bei ihm dran ist. Was für ein Überschuss an Erwartung, Zuversicht und Hoffnung da auf einmal entsteht. Und wie sich dann das psychische Befinden um 180° wendet. Dieser Wandel resultiert daraus, dass ich mich von dem Wort Jesu, das ursprünglich ja seinen Jüngern gilt, selbst ganz persönlich angesprochen fühle und es jetzt auf mich beziehe. So trifft mich dieses Wort, erweist sich als mächtig und holt mich aus dem bisherigen Zustand, in dem ich mich befand, heraus, um mich einer neuen Realität auszusetzen. Glauben heißt eben auch: empfangen können. Dieses durch das Wort Gottes in eine andere Realität Versetzt-Werden hat Martin Luther in seiner Schrift „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ in ganz unvergleichlicher Weise beschrieben. Er stellt dar, wie aus dem Menschen, wenn ihn Gottes Wort trifft, etwas wird, was er nie selbst aus sich hätte machen können. Gott ist gerecht, weil er gerecht

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macht. Er ist lieb, weil er lieb macht. Er ist großzügig, weil er großzügig macht. „Die Liebe Gottes findet das ihr Liebenswerte nicht vor, sondern sie erschafft es.“ So hat Martin Luther diesen Sachverhalt beschrieben. Aber das schönste Bild, das er in diesem Zusammenhang gebraucht, ist das des fröhlichen Wechsels. So wie bei einem Brautpaar beide etwas in die Ehe einbringen, im positiven wie im negativen Sinne, so sagt Luther, verhält es sich auch, wenn ich mich auf Christus einlasse. „Was Christus hat, das ist der gläubigen Seele eigen. Christus hat alle Güter und Seligkeit: die sind der Seele eigen; die Seele hat alle Untugenden und Sünde auf sich: die werden Christi eigen.“ Und wie nun die Seele sich der Seligkeit in Christus erfreuen kann, so werden in Christus die eigenen Sünden, wie Luther sagt, „verschlungen und ersäuft.“ Und Luther fährt fort: „Ist nun das nicht ein fröhlicher Hausstand, da der reiche, edle, fromme Bräutigam Christus das arme, verachtete, böse Hürlein zur Ehe nimmt und sie von allem Übel frei macht, sie mit allen Gütern zieret.“ Luthers Beschreibung dessen, was passiert, wenn der Mensch Gott an sich handeln lässt, ist bis heute gültig. Sie hilft uns, die Seligpreisungen richtig zu verstehen. Immer wieder sind sie als ethisches Programm für Christen beschrieben worden. Doch das ist irreführend, weil sie gerade nicht als Handlungssanweisung gedacht sind. Sie beschreiben nicht, was wir zu tun haben, um glücklich zu werden, sondern was für ein Glück die Gegenwart Gottes in dieser Welt ist. Das Himmelreich ereignet sich schon jetzt und ist erfahrbar für diejenigen, die sich das Leben von Gott neu schenken lassen und mit ihm Barmherzigkeit, Friedensfähigkeit, Sanftmut und Gerechtigkeit. Amen.

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Anton Knuth

Predigt zum Reformationstag 31.10.2006 in der Rellinger Kirche Liebe Gemeinde, „Zur Freiheit hat uns Christus befreit!“, so bringt das Evangelium auf den Punkt. „Freiheit“ – das ist auch - 1500 Jahre später - das Leitwort der Reformation gegen die Willkürherrschaft von Papst und Adel gewesen. Freiheit ist schließlich zur Signatur der modernen Welt insgesamt geworden. Heute feiern wir Reformationstag, heute feiern wir, dass sich die Freiheit in der Geschichte immer wieder gegen Willkür und Despotismus erhebt. Wir sind heute auch ein bisschen stolz auf die evangelische Freiheit, die seit der Reformation nicht mehr aus dem Christentum, aus Europa wegzudenken ist. Christentum – Europa – Freiheit, das ist ein Dreiklang, der seit der Reformation zusammenklingt und doch alles andere als selbstverständlich ist. Die lutherische Kirche ist eine Kirche der Freiheit. So hat es wenigstens der Philosoph Hegel beschrieben: „Die einfache Lehre Luthers ist die Lehre der Freiheit.“ Aber sind Kirche und Freiheit nicht ein Gegensatz? Kirche gehört doch für viele zu den Größen, von denen man sich abgrenzen muss, um zu sich selbst zu finden. So wie Eltern, Lehrer, Staat. Ist Kirche nicht etwas, von dem man sich emanzipieren muss, wenn man selbstständig sein will? Individuelle Selbstverwirklichung, die Suche nach einem selbst bestimmten Leben scheint vielen unvereinbar mit der Bindung an die Kirche und damit einer jahrhundertealten Institution und Gemeinschaft. „Auf die Frage, was meinst Du bedeutet das Christentum? antwortete ein Junge: ‚Christentum ist das, was man nicht darf.’" (nach E. Lange) Christentum ist das, was man nicht darf und somit das Gegenteil von Freiheit. Der Junge bringt auf den Punkt, was sich für viele Menschen mit Kirche und Religion verbindet: Verbote, Autoritätshörigkeit, Lust-

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feindlichkeit. Kritik verboten. Doch dies sind Missverständnisse. Denn mit Luther ist ja die Kritik an der Kirche zu einem Bestandteil der Kirche selbst geworden. Kirche, Kritik und Freiheit sind seit der Reformation kein Widerspruch mehr. Protestanten sind so frei, aus Liebe zum Evangelium die Kirche zu kritisieren. Luther war ihr Kritiker, weil er ein an der Bibel geschulter Christ war. Auch die Aufklärer im 18. und 19. Jahrhundert kritisierten die Kirchen nicht obwohl, sondern weil sie überzeugte Christen waren. So ist der Protestantismus zu der kirchlichen Form des Christentums geworden, das aus der Freiheit lebt. Luther machte in einer ganz anderen Zeit, aber auf dieselbe Weise wie Paulus deutlich: Wir sind zum aufrechten Gang bestimmt, zum mutigen Gestalten und Wirken. Wir brauchen uns nicht in das Joch des Gesetzes spannen zu lassen. Gott selbst spricht zu uns in der Bibel und in unserem Gewissen, denn wir sind vor Gott alle gleich. Hinweg mit falschen Privilegien, mit Standesgesellschaft und Adelshochmut. Die evangelische Freiheit ist seit der Reformation zu einer unveräußerlichen Wesenäußerung des Christentums überhaupt geworden. Luther hat die evangelische Freiheit mit seiner berühmten Doppelthese in seiner Schrift von der Freiheit eines Christenmenschen 1520 so beschrieben: „Ein Christenmensch ist ein freier Herr über alle Dinge und niemandem untertan. Ein Christenmensch ist ein dienstbarer Knecht aller Dinge und jedermann untertan.“ Wie ist diese scheinbar widersprüchliche und komplizierte doppelte Aussage zu verstehen? Wie passen frei sein und dienstbar sein zusammen? Vielleicht so: Ich bin frei in Gott, aber gebunden an meinen Nächsten. Freiheit ist nicht maßlos, nicht lieblos. Sondern die Freiheit wird wirklich in der Selbstbindung. Freiheit bekommt ihre Form durch die Freiheit zur Gottes- und Nächstenliebe. Oder modern gesprochen: Ohne Freiheit keine Verantwortung, ohne Verantwortung keine Freiheit. Die Leitfrage lautet für Luther dabei nicht: Wovon oder wozu bin ich frei, sondern: Wodurch bin ich frei, so frei, dass ich keine Angst haben muss mich zu binden, mich einzubringen und zu riskieren?

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Nach Jahrzehnten der Emanzipation von klerikalen Autoritätsansprüchen wächst heute wieder ein Bewusstsein dafür, dass der rechte Glaube eine Kraftquelle der Freiheit ist. Ja, es wächst die Sehnsucht nach einem Glauben, der frei macht. Frei von den Zwängen einer Leistungsgesellschaft, frei von Ängsten vor dem Absturz. Frei zu einem Leben aus unendlichem Sinn, frei zur Liebe und Verantwortung. „Zur Freiheit hat Euch Christus befreit. So steht nun fest und lasst euch nicht wieder das Joch der Knechtschaft auflegen!“ So ruft es Paulus den Christen in Galatien zu. Ganz am Anfang des Christentums steht die Zusage der Befreiung. Und auch Jesus lebt seinen Jüngern die Freiheit des Glaubens vor, wenn er ausgerechnet am Sabbat Ähren rauft und betont: „Der Sabbat ist um des Menschen willen gemacht und nicht der Mensch um des Sabbats willen.“ Die Freiheit und damit Würde des Menschen ist das Maß aller Gebote und Autoritäten. Sie sind die Bestimmung, die Gott für den Menschen vorgesehen hat. Freiheit und Glaube sind daher kein Gegensatz, sondern gehören von jeher zusammen, auch wenn dieser Zusammenhang immer wieder aus Machtinteressen verdunkelt worden ist. Liebe Gemeinde, wir leben heute mehr denn jemals zuvor unter der Signatur der Freiheit. Gestern vor genau 50 Jahren wurde der Aufstand der Ungarn für mehr Freiheit niedergeschlagen, aber heute lebt Ungarn tatsächlich in Freiheit. Seit dem Ende des Sozialismus und dem Fall des eisernen Vorhangs ist vielen Nationen Europas in ungeahntem Ausmaß Freiheit geschenkt worden. Und auch bei uns war dies sichtbar im Fall der Mauer, dürfte die Wahlfreiheit des Einzelnen in einem Ausmaß entwickelt sein, wie niemals zuvor in der Geschichte. Und doch gibt es auch eine neue Knechtschaft. Das gehört offensichtlich zum Drama der menschlichen Freiheit, dass es sie nie rein und unverfälscht gibt. Dass sie sich, kaum errungen, wieder in neue Unfreiheit verwickelt. Die Ungarn sind nicht nur glücklich mit ihrer neuen Freiheit. Und auch bei uns gibt es viele Sorgen in den neuen Bundesländern. Die Globalisierung mit ihrer freiheitlichen Wirtschaftsordnung ist schon zu einer Art Schreckge-

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spenst geworden. Ja, aus neuer Freiheit entsteht immer wieder neue Unfreiheit. Die Freiheit braucht Quellen der Selbsterneuerung, die menschliche Freiheit braucht Befreiung, wie Paulus sagt. Es gehört wohl zu den viel zitierten Lebenslügen, dass allein schon die ungebremste Freiheit des Menschen zu mehr Menschlichkeit und Gerechtigkeit führen würde. Wer heute „freigestellt“ wird, ist alles andere als frei, droht abzurutschen. Flexible und unsichere Arbeitsverträge machen nicht frei. Frei macht es, seine Gaben und Begabungen einbringen zu können. Seine Anlagen und Möglichkeiten realisieren zu können. Einen institutionellen Rahmen vorzufinden, in dem ich mich entfalten kann. Liebe Gemeinde, Freiheit braucht eine Gestalt. Im Zusammenspiel mit anderen Menschen kann ich erst die in mir angelegten Anlagen und Möglichkeiten ausleben und entfalten. Ohne jemanden, der an mich glaubt, kann ich gar nicht zu mir finden. Der ist frei, der sich selbst im Reichtum menschlicher Beziehung erfährt, der das Glück der Liebe erlebt. Hermann Hesse sagt es so: „Glück ist Liebe, nichts anderes. Nur wer lieben kann, ist glücklich.“ Die Liebe will Dauer und ein freier Mensch wird sich für das Andauern der Liebe entscheiden. Freiheit heißt in die Tiefe gehen. Freiheit wird wirklich in der Bindung. Und daher wird die Sehnsucht nach verlässlichen Beziehungen immer größer. Freiheit heißt auch, wie Paulus schreibt: „Einer trage des anderen Last“. Die Freiheit einer Gesellschaft lässt sich daran ablesen, ob Nächstenliebe in ihr nicht nur ein Gnadenakt ist, sondern auch ein Rechtsanspruch bleibt. Wenn der Ruf nach mehr Freiheit einseitig auf Kosten des Solidaritätsgedankens geht, dann wird er fragwürdig. Paulus selbst musste das in der Gemeinde zu Korinth erleben. Dort wurde seine Botschaft von der Freiheit missverstanden und die Reichen nahmen keine Rücksicht mehr auf die Armen der Gemeinde. Paulus besteht für das Abendmahl darauf: Jeder ist mit gleicher Würde Gast an Gottes Tisch, weil Gottes Freiheit an die gleiche Würde eines jeden Menschen gebunden ist. Nicht die radikale Freiheit von allem und jedem macht frei. Sondern das Austarieren von Selbstbestimmung und

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Nächstenliebe. Nur die Summe von Eigennutz bringt noch keine freie Gesellschaft hervor. Der Eigennutz muss immer zurückgebunden sein an das Gemeinwohl. Schon Paulus wusste: Freiheit ohne Solidaritätsprinzip droht zum Kampf des Stärkeren auf Kosten des Schwächeren zu werden. Das ist die starke Einsicht des Glaubens: Die Freiheit wird wirklich in der Selbstbindung an die Liebe. An die Liebe zum Nächsten, aber auch an die Liebe, die Gott ist. Die Freiheit braucht die Liebe Gottes, wie der Fisch das Wasser. Wenn Christentum nur das wäre, was man nicht darf, dann wäre es eine traurige Angelegenheit, die von der Freude über die geschenkte Freiheit Gottes wenig ausstrahlt. Aber das Energiezentrum des christlichen Glaubens ist doch Gottes unendliches Ja zum Menschen. Liebe Gemeinde! Wir sind zur Freiheit befreit. Seit der Reformation ist „die christliche Freiheit“ zu einem unverlierbaren Bestandteil des Christentums, ja der modernen Welt überhaupt geworden. Nicht ich muss das Recht meines Lebens garantieren, sondern Gott schenkt es mir. Er liebt mich frei von Ansprüchen, die ich selbst gar nicht einlösen kann, er macht mich gerecht, er befreit mich zur nötigen Kritik an Kritik an Missständen auch in unserer Kirche oder Gesellschaft. Kritik und Glaube sind kein Widerspruch, sondern gehören zusammen. Weil es seit Luther kein Glauben mehr am eigenen Gewissen vorbei gibt, weil Glaubensformen nicht ein für allemal feststehen, gehören immer auch Zweifel und Fragen dazu. Zweifel und Fragen sind die andere Seite derselben Medaille, ohne sie keine Suche nach Wahrheit. Wie können wir nur eine Kirche der Freiheit sein? Denn „die Reformation geht noch fort!“ Liebe Gemeinde! Vielleicht kannte Karl Barth die Antwort des zitierten Jungen auf die Frage: „Was, meinst Du, bedeutet das Christentum?“ als er einmal seinerseits bemerkte: „Wie kommt es, dass so viele Kirchenmänner, insbesondere Theologen aller Konfessionen und Kirchen, mit so grämlichen Gesichtern herumlaufen: als ob sie im Grunde nur Kummer, als ob ihnen die Hühner das Brot weg gefressen hätten? Warum können sie höchstens über andere - und darum immer ein bisschen gallig - la-

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chen, statt, wie es sich gehört, damit anzufangen, allen Ernstes über sich selbst zu lachen oder doch zu lächeln?" Wer nur daran denkt, was man nicht darf, dem vergeht schnell das Lachen. Aber wer über sich selbst auch lachen kann, der zeigt vielleicht am schönsten, wie der Glaube an Gott frei macht von falschen Zwängen. Lachen können, weil ich mich selbst nicht zu ernst nehmen muss, weil ich mich gerechtfertigt weiß durch Gott, weil ich befreit bin neu zu „dürfen“. Frei zu sein, weil ich mich in einem größeren Du aufgehoben weiß und eigene Glückserwartungen und Gelingenszwänge relativieren kann. Lachen zu können, weil ich nicht in meine Fehler verliebt bin, sondern in die Verheißung des Evangeliums. Ein solches Lachen kann neu motivieren. Denn wenn wir mit anderen gemeinsam in ein Gelächter der Freude einstimmen, dann wäre das wie ein Widerschein der christlichen Freiheit, zu der uns Christus befreit hat. Amen.

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Rüdiger Kreutz

Gedenktag der Reformation 2005 in der St. Anschar-Kirche zu Hamburg Predigt über Matthäus 10, Verse 26 b - 33 Christus spricht: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.“ Die Frohbotschaft von der zuvorkommenden Liebe Gottes darf nicht das Geheimwissen esoterischer Kreise bleiben. Die Frohbotschaft von der zuvorkommenden Liebe Gottes ist vielmehr in die weite Menschenwelt hinauszutragen – nicht, weil es uns, liebe Gemeinde, dazu drängt, sondern weil der Herr es von uns fordert! Lange Zeit haben die Jünger mit Jesus in der Gemeinschaft von Lehre und Leben zugebracht: Jahre der Unterweisung und Einübung in der Geschlossenheit des kleinen Kreises. Jetzt aber werden sie in Städte und Dörfer gesandt, gesandt, um auszurufen, bekanntzumachen, an die große Glocke zu hängen, was ihnen an Einsicht und Vollmacht zugewachsen ist. Bei Martin Luther, dessen Reformation wir heute gedenken, war es nicht anders: In der Abgeschiedenheit der Studierstube wie des akademischen Hörsaals ist es ihm gelungen, das biblische Evangelium von den Krusten theologischer wie volksfrommer Entstellungen zu befreien. Die erhalten gebliebenen Vorlesungsnachschriften sind die Zeugnisse seines geistigen und geistlichen Ringens als Professor der Heiligen Schrift. Aber nachdem einmal Klarheit gewonnen war, trat Luther aus der Abgeschiedenheit heraus in die Öffentlichkeit seiner Zeit. Sicher hätte es mancher lieber gesehen, dass er umfangreiche, gelehrte Abhandlungen in lateinischer Sprache verfasst hätte, dicke Schwarten, die am Ende nur von einem Dutzend Spezialisten studiert worden wären. Aber Luther wusste, dass die Zeit gekommen war, den Elfenbeinturm zu verlassen. Und wenn er auch nicht auf eigenen Beinen die Städte und Dörfer durchwanderte,

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so beschäftigte er doch mehrere Druckereien gleichzeitig damit, seine in zupackendem Deutsch geschriebenen Programmschriften und Abhandlungen zu vervielfältigen und unter ein großes Lesepublikum zu bringen. Christus spricht: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht, und was Euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.“ Und so soll auch das, was uns im Gottesdienst der Kirche zuwächst, eben nicht gut verpackt und sorgfältig getarnt durchs Leben getragen werden. Das hier Empfangene darf durchaus weitergegeben, bekannt und bezeugt werden! Das Dach unseres Gemeindehauses ist ja ziemlich marode. Deshalb sollten wir von ihm herab besser nicht predigen. Umso wichtiger, dass wir gemeinsam überlegen, wie wir die Farbe des Christusglaubens in die kleine Öffentlichkeit unseres nächsten Sommerfestes einbringen. Es ist ja schön, wenn die Freiwillige Feuerwehr ihre Fahrzeuge vorstellt, eine charmante Pflegedienstleiterin kostenlose Haarschnitte anbietet. Aber wie unsere Stiftung einst aus dem Vertrauen auf den lebendigen Christus entstanden ist, so hat sie in Kirche und Gottesdienst auch heute noch ihre Mitte. Davon zu sprechen, dies zu zeigen und zu bezeugen ist nicht nur eine Frage der Vollständigkeit - so nach dem Motto: „Seht` mal, so etwas haben wir auch noch im Sortiment!“ Davon zu sprechen, dies zu zeigen und zu bezeugen ist vielmehr der Auftrag, den Jesus den Jüngerinnen und Jüngern aller Zeiten, - also auch uns, liebe Schwestern und Brüder! - mit auf den Weg gegeben hat. Und wir sollen es nicht nur – in seiner Gegenwart können und wollen wir es auch! Der Wille des Reformators zu öffentlicher Wirksamkeit kann dabei uns ermuntern und ermutigen, nicht als verschämte Glaubende mit der Tarnkappe auf dem Kopf umher zu schleichen, sondern uns zu dem zu bekennen, der sich zu uns bekennt! Public-Relations und Event-Management stehen heutzutage ja hoch im Kurs. Und mancher Kirchenfunktionär scheint schon glücklich und zufrieden zu sein, wenn Fernstehende uns überhaupt noch bemerken und beachten. Aber nicht um die Erregung von Aufmerksamkeit als solcher geht es in dem, was Jesus Christus aufgegeben hat: Was der Herr uns in

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der Finsternis gesagt hat, das redet im Licht; und was Er uns in das Ohr gesagt hat, das verkündigt auf den Dächern! Auch aufsehenerregende Kampagnen haben nicht viel Wert, wenn am Ende Jesu Frohbotschaft von der zuvorkommenden Liebe Gottes im Kleingedruckten verschwindet! Auch darin ist die Reformation ein Vorbild, dass sie sich nicht lange bei alldem aufhält, was sonst noch so mitgeteilt werden könnte, sondern gleich zum Kerngeschäft des Glaubens vorstößt! Luther war ja Kind einer Zeit, in der sich der Christusglaube in einer unbeschreiblichen Fülle erstaunlicher Dinge nicht nur verströmt, sondern auch verloren hatte: Wallfahrer und Mystiker, wunderbare Schnitzaltäre und herrliche Motetten – ein einzigartiger Zauberwald von Frömmigkeit und Kunst! Aber über dem Vielen war das Eine aus dem Blick geraten, über dem Entbehrlichen das Notwendige und Notwendende: die Offenbarung der liebenden Barmherzigkeit Gottes in Christus. Luthers Reformation ist so auch ein Vorgang radikaler Konzentration, Freilegung der im wörtlichen Sinne „tragenden Teile“ der apostolischen Botschaft. Solche Rückkehr zum Wesentlichen ist jedem zu jeder Zeit im Großen wie im Kleinen neu aufgegeben. Mancher, der zu uns kommt, staunt ja über die intensive Geselligkeit, die anregenden Bildungsangebote, die es bei uns gibt. Aber von Luthers Reformation her müssen wir uns doch Anfragen gefallen lassen: Öffnet solches Tun und Treiben eigentlich unseren Blick für die Wunder Gottes in Christus oder trägt es eher dazu bei, ihn zu verstellen? Ist es der Heiland, der uns zusammenführt und in Bewegung hält, oder der menschliche Wunsch nach Gemütlichkeit und Geborgenheit? Christus spricht: „Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern.“ Wenn uns dieses Wort ausgerechnet heute gesagt wird, dann wagen wir auch, es in besonderer Weise auf das Geschehen der Reformation zu beziehen: Diese gewaltige Erneuerungsbewegung im Haus der Kirche hat eben auch damit zu tun, dass Christus einem ebenso genialen wie cholerischen Augustinermönch namens Martin Luther etwas ins Ohr geflüstert hat und dies nun raus musste. Das „Hier stehe ich. Ich kann nicht an-

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ders!“ vor dem Wormser Reichstag – sei es nun Historie oder Legende – spricht dies aus: In Martin Luthers Reformation geht es um ein Müssen, um gottgewirkte Notwendigkeit, nicht bloß menschliches Meinen, Urteilen und Gutdünken! Dass es ohne Einflüsterung bei Luthers Reformation nicht zugegangen sein kann, meinten damals auch seine Widersacher: Sie haben dabei aber weniger an Jesus Christus gedacht! Umso dankbarer dürfen wir sein, wenn sich heute Abgründe schließen, die damals über Luthers Reformation die abendländische Christenheit zerspalten haben: Woran einst die Einheit der Kirche zerbrach, wurde 1999 in der denkwürdigen gemeinsamen Augsburger Erklärung zur Rechtfertigungslehre auch von römischen Bischöfen unterzeichnet und abgesegnet! Eintracht und Einmütigkeit sind in Fragen der Lehre und des Lebens Kennzeichen der Wahrheit. Eintracht und Einmütigkeit weisen darauf hin, dass das Glaubenszeugnis des Reformators nicht das Werk genialen Eigensinns ist, sondern Jesus Christus selbst inmitten seiner Kirche das Wort ergriffen hat. Im Gedächtnis der Reformation spricht er auch zu uns, vielleicht leise, aber unüberhörbar. Und was er uns sagt, das muss nun heraus, will nicht nur in unseren Herzen, sondern auch auf unseren Lippen sein, uns selbst und andere zur Sache rufen! Amen.

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Reinhold Liebers

Predigt am Reformationstag 2000 über Galater 5, 1-6 in Neumünster-Gadeland Liebe Gemeinde, es muss sich etwas ändern: Benzinpreise sowie Steuern sind zu hoch, fremdenfeindliche und rechtsradikale Anschläge bzw. Aktionen nehmen zu – so kann es doch einfach nicht weitergehen! Es muss sich etwas ändern: Dieser Meinung waren damals auch die galatischen Christen, an die Paulus schrieb: Nur, sie suchten ihr Heil nicht in Gesetzesänderungen oder Protest-Demonstrationen, sondern in den Lehren anderer, die ihnen versprachen, alles werde wieder gut: Wenn, ja wenn sie als ihre Gefolgsleute noch gewisse jüdische Auflagen zusätzlich beachten und befolgen würden. Was sie anzubieten hatten, klang überzeugend – und so probierten etliche es einfach einmal aus: Was war denn schon dabei? Kann es denn falsch sein, sich wieder auf bestimmte Werte zu besinnen und sie für sich zu übernehmen, etwa: die „deutsche Leitkultur“ – was immer das auch sein mag? Denn das war schließlich allen klar: Es muss sich etwas ändern! Nun, in diesem Punkt waren sich nicht nur Paulus und die galatischen Christen, sondern auch Luther einig: So wie bisher geht es einfach nicht weiter, oder schlimmer noch: geht es in die falsche Richtung. Die Frage ist nur: Was ist zu tun? Aber bei den darauf ergehenden Antworten schieden und scheiden sich die Geister, damals wie heute – ja wie wir an Luther sehen: zu allen Zeiten. Reformationstag feiern wir heute, und so mancher in unserem Land wie in unserer Stadt mag sich vielleicht fragen: Wozu eigentlich noch? Ist das nicht ein längst überflüssiges Relikt aus vergangenen Zeiten? Aber Reformation meint doch eben nicht nur die angeblich so wuchtigen Hammerschläge an die Schlosskirchentür zu Wittenberg, mit denen ein gewisser Martin Luther – damals übrigens noch ein völlig Unbekannter –

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1517 seine – wie viele waren es doch gleich? – seine Thesen an die Tür geheftet haben soll; Reformation meint doch eigentlich nichts anderes als: umgestalten, erneuern, verbessern. „Ecclesia semper reformanda“ hat Luther einmal gesagt: Die Kirche verändert, erneuert sich ständig bzw. muss sich ständig verändern, sonst hört sie auf, ihrer eigenen, ja ihrer eigentlichen Aufgabe gerecht zu werden. Schön und gut, wird mancher nun denken, doch was heißt das denn in der heutigen Zeit? Damals in Galatien war es doch ein Paulus, der den „Reformatoren“, der den gegen ihn agierenden Verkündigern bescheinigte: Was ihr betreibt, ist gerade keine Erneuerung, kein Befreiungsschlag, sondern ein Schritt in die völlig falsche Richtung: Anstatt in die Freiheit führt er euch erneut in die Abhängigkeit, in die Sklaverei. Und so beschwört Paulus seine Briefempfänger, die Umgestaltung ihres Vertrauens auf Christus hin nun gerade nicht erneut wieder umzugestalten, also – angeblich – zu reformieren: weil diese Reformation gerade nicht das bewirkt, was sie zu bewirken vorgibt, dass sie gerade nicht nützt – ja schlimmer noch: dass sie Christus als Basis unserer Hoffnung außer Kraft setzt, sie unwirksam macht. In eine ähnliche Richtung zielte ja ebenso die Kritik Luthers vor fast 500 Jahren, nämlich dass wir Gefahr laufen, Christus als einzige Grundlage unserer Hoffnung auf Gerechtigkeit, wie Paulus es formulierte, aus den Augen zu verlieren, weil wir noch andere Größen neben ihn stellen, die ihn letztlich zum bloßen Platzhalter degradieren. Wenn wir uns deshalb unter diesem Aspekt heute einmal fragen, was uns Gefahr laufen lässt, in unserer Zeit, in unserer Welt Christus als bloße Ikone auf einen Sockel zu heben, die zwar hin und wieder pflichtschuldig von uns abgestaubt, aber ansonsten in einer – sicherlich dekorativen – Ecke stehen gelassen wird, dann wird uns, denke ich, wahrscheinlich nach einigem Nachdenken auch so einiges dazu einfallen; vielleicht ja all dasjenige, was für uns an erster Stelle steht; was unser Leben oder unsere Gedanken beherrscht – und das müssen durchaus nicht immer nur Dro-

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gen oder Alkohol sein, als deren Opfer prominente Fußballtrainer, von der Allgemeinheit tagtäglich genauestens verfolgt, genüsslich als Sündenböcke in die Wüste geschickt werden: Als Willi Daume wegen Besitzes von Kokain von der Polizei verhaftet wurde, wurde dies von der Presse aufmerksam verfolgt. Was ist denn eigentlich an dessen Verhalten strafwürdiger als an dem jedes kleinen Junkies an der Ecke, der deswegen schließlich auch nicht in die Schlagzeilen gerät, geschweige denn: in die Fänge der Justiz? Nein, ich denke, es gibt eine Reihe von weit subtileren Versuchungen, denen wir wie auch unsere Kirche vielleicht viel eher zu erliegen drohen: etwa unser Schweigen angesichts von menschenverachtender Ausbeutung von Mensch und Umwelt in der so genannten Dritten Welt, während wir deren – schließlich kostengünstige, und das allein scheint ja zu zählen! – während wir deren Produkte nur allzu gern preiswert erwerben: Und wehe, der Kaffee, die Bananen oder irgend etwas anderes, z.B. das Öl, wird auch nur um ein paar Pfennige teurer!; oder wir einer anderen Gefahr erliegen, wie etwa unser Umgang mit dem alljährlich anfallenden Überfluss zeigt: Dank der guten Apfelernte wurden – wohlgemerkt: allein in der BRD! – nur in diesem Jahr sage und schreibe 7000 Tonnen Äpfel vernichtet, damit der Marktpreis nicht völlig zusammenbrach. Auch der Maßstab, auch die Sicht unseres ach so christlichen Abendlandes scheint sich also mehr und mehr zu verschieben; unser Mitmensch wird von uns immer öfter nur noch nach dem beurteilt, was er leistet: Und wehe, er ist arbeitslos – also in unseren Augen ein Drückeberger – oder ein Ausländer – also nach unseren Kriterien ein Wirtschaftsflüchtling, und das ist meist noch die harmlosere Bezeichnung, oftmals hört man bereits solche Vokabeln wie „Schmarotzer“ -, oder: immer mehr alte Menschen verbringen ihre letzten Tage – oder auch Jahre – in einem Seniorenheim, in dem, wie alle wissen, die einmal ihren Fuß in eine solche Einrichtung gesetzt haben, in dem trotz horrender Pflegesätze aus Kostengründen einfach zu wenig Personal vorhanden ist, um sich wirk-

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lich genügend um unsere Senioren so kümmern zu können, wie es eigentlich nötig wäre. Wir wissen um all das: Denn Presse, Funk und Fernsehen gestatten uns nicht mehr die allseits und zu allen Zeiten beliebte Ausrede, wir hätten davon nichts gewusst – wir wissen um all das und vieles mehr: und doch schweigen wir, sehen einfach weg, lassen es schlichtweg laufen: Schließlich gäbe es ansonsten so viel, was wir eigentlich anpacken, was wir eigentlich – in Gottes Namen – ändern, reformieren müssten. Etwas muss sich ändern: Ja, sagt Paulus und ebenso rund 1500 Jahre später auch Luther, ja, es muss sich ändern: aber nicht etwas, sondern: wir! Paulus bringt es dadurch für seine Gemeindeglieder in Galatien auf den Punkt, dass er ihnen deutlich vor Augen stellt, dass keine Seite – wirklich keine: und das hieß in damaliger Zeit aus seiner Sicht: weder Juden noch Heiden – einander irgend etwas voraus haben, sondern dass allein der Glaube an Christus als einziger Maßstab zählt; Glaube, der sich in Liebe auswirkt. Und Luther formuliert es in seiner 1530 veröffentlichten Schrift: „Von der Freiheit eines Christenmenschen“ Jahrhunderte später so: „Gute, fromme Werke machen nimmermehr einen guten, frommen Mann, sondern ein guter, frommer Mann macht gute, fromme Werke.“ Nicht etwas muss sich ändern, sondern: wir; denn nur da, wo ich mich ändere, wo mein Glaube, wo mein festes Vertrauen auf Christus in Liebe zur Wirkung kommt, da wird sich auch mein Handeln, da werden sich auch, wie Luther es damals formulierte, da werden sich dann auch meine Werke ändern; da wird also eine Veränderung, eine Reformation stattfinden, die zwar bei mir einsetzt, aber eben nicht bei mir stehen bleibt, sondern das Gesicht meiner Mitmenschen wie auch das unserer Erde zum Guten hin verwandeln kann und möchte. Eine Utopie, ein bloßes Hirngespinst von weltfremden Idealisten? Ich denke nicht: Nur weil Menschen auf diese „Hoffnung von Gerechtigkeit“ vertraut, nur weil sie – um Himmels Willen – an der Wahrheit dieser

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Aussage festgehalten haben, regiert bis heute in unserer Welt noch nicht allein der Stärkere, bestimmen nicht nur Macht und Profit die Weltgeschichte im Großen wie im Kleinen, sondern gibt es immer wieder und immer noch Lichtblicke: nicht großartige Ereignisse oder Programme, sondern einzelne Lichtblicke, die von Menschen eröffnet werden, an deren von Liebe bestimmten Handeln sich immer wieder neu ihr Glaube ganz praktisch ablesen lässt – je in ihrer Zeit und an ihrem Ort anders; vielleicht auch ganz anders, als es mir oftmals, zumindest auf den 1. Blick, gefällt. Etwas muss sich ändern, muss „reformiert“ werden: Gewiss – aber wie hat es der alte Kirchenvater Augustin schon im 5. Jh. so treffend formuliert: Wenn nicht heute – wann dann? Und wenn nicht wir – wer dann? Amen.

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Joachim Liß-Walter

Predigt am Reformationstag über Römer 7, 14 – 25a, in der Ansgarkirche und der Pauluskirche in Kiel Denn wir wissen, dass das Gesetz geistlich ist; ich aber bin fleischlich, unter die Sünde verkauft. Denn ich weiß nicht, was ich tue. Denn ich tue nicht, was ich will; sondern was ich hasse, das tue ich. Wenn ich aber das tue, was ich nicht will, so gebe ich zu, dass das Gesetz gut ist. So tue nun nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. Denn ich weiß, dass in mir, das heißt in meinem Fleisch, nichts Gutes wohnt. Wollen habe ich wohl, aber das Gute vollbringen kann ich nicht. Denn das Gute, das ich will, das tue ich nicht; sondern das Böse, das ich nicht will, das tue ich. Wenn ich aber tue, was ich nicht will, so tue nicht ich es, sondern die Sünde, die in mir wohnt. So finde ich nun das Gesetz, dass mir, der ich das Gute tun will, das Böse anhängt. Denn ich habe Lust an Gottes Gesetz nach dem inwendigen Menschen. Ich sehe aber ein anderes Gesetz in meinen Gliedern, das widerstreitet dem Gesetz in meinem Gemüt und hält mich gefangen im Gesetz der Sünde, das in meinen Gliedern ist. Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen von diesem todverfallenen Leibe? Dank sei Gott durch Jesus Christus, unsern Herrn!

Liebe Gemeinde, der Weg zur Hölle, so sagt der Volksmund, ist mit guten Vorsätzen gepflastert. Sie lassen sich zwar meist leicht fassen, jedoch nur schwer durchhalten. Das Scheitern ist bereits vorprogrammiert. Selten reichen die guten Absichten über die ersten Tage oder Wochen etwa eines neuen Jahres hinaus. Dabei liegt es weniger am guten Willen – der wäre schon vorhanden -, allein mit dem Tun hapert es. Da müsste ich doch, und tue es doch nicht, da sollte ich doch und mache es doch nicht.

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Ich will gar nicht erst versuchen, solche guten Vorsätze, die im Sande verlaufen, aufzuzählen – die Liste wäre lang und länger als jede einigermaßen erträgliche Predigt. Nur als Anregung: Wenn jede und jeder von uns einmal aufschreiben wollte und würde, was von den eigenen lobenswerten Vorsätzen sich selbst und anderen gegenüber nicht in die Tat umgesetzt wurde – das Ergebnis riefe mehr als nur ein bedenkliches Kopfwackeln, eher ein gelindes Erschrecken hervor: Wie bitte? Ist ja nicht zu glauben und geht ja auf keine Kuhhaut. Meine Güte! Ist es ein Trost, dass es wohl den meisten Menschen so geht mit dem Widerspruch zwischen gutem Wollen und unterlassenem Tun? Und reicht es, wenn man sich damit begnügen will, dass allein der gute Wille zählt? Für viele Menschen mag das tatsächlich eine beruhigende Ansicht sein, mit der sich einigermaßen erträglich leben lässt. Aber für jemanden wie Paulus ist dieser Widerspruch erregend und zutiefst beunruhigend. Er geht scharf an die Sache ran und seine bohrende Analyse mündet in dem Aufschrei: „Ich elender Mensch!“ All das, was Paulus hier schreibt, klingt trostlos, weil er nicht auflistet, was von seinen guten Vorsätzen nicht übrig geblieben ist, sondern weil er die existentielle Situation, seine eigene und die der Menschen vor Gott beleuchtet und durchleuchtet. Es geht ihm also nicht darum, ob jemand die beste Absicht hat, sich endlich richtig zu ernähren, sich gesundheitsfördernde Bewegung anzutun oder die anderen nicht mehr breitmäulig zuzuquatschen – mit den bekannten Resultaten. Paulus zielt auf den Widerspruch zwischen Gottes Wort, sprich: Gottes Gebot, das Paulus hier `Gesetz´ nennt, und dem Wollen, Tun und Lassen der Menschen. Genauer: Um den Widerspruch zwischen Gott und den Menschen, die von Gott und seinem Wollen wissen. Denn – und das muss mit Paulus betont werden ein Mensch, der nichts von Gott weiß, weiß auch nichts von Sünde, kann also Gott gegenüber auch nicht schuldig werden.

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Doch wir, hier, im Gottesdienst, wir wissen doch von Gott und seinem Willen für uns, den wir uns in unserem Wollen und Tun anzueignen bemühen sollten. Wir kennen doch Gottes Gesetz und Gebot, also – um es abgekürzt zu sagen -: die Zehn Gebote der Gottes- und der Menschenliebe. Paulus meinte mit `Gesetz´ selbstredend auch die anderen Ge- und Verbote, die in den fünf Büchern Mose geschrieben stehen und die in jüdischer Auffassung gewissermaßen Ausführungsbestimmungen der Großen Zehn darstellen - immerhin war Paulus als jüdischer Gelehrter bewandert in den hebräischen Schriften. Wir wissen also um Gottes gute Anweisungen zu einem menschenwürdigen Leben. Gottes Gesetz ist – wie Paulus sagt – nichts als heilig, gerecht und gut. Aber – und das ist nun die paulinische und so auch die lutherische Pointe – aber was bewirkt es, wozu dient es? Es führt, so lautet die knappe und keineswegs erheiternde Antwort, es führt uns zur Erkenntnis der Sünde, unseres Schuldigwerdens Gott gegenüber. Das klingt einigermaßen merkwürdig. Etwas Heiliges und Gutes führt zum Schlechten und in die Schuld? Wie meint Paulus das und mit ihm dann auch Luther? Die Gebote führen zur Übertretung: Was verboten ist, das macht uns gerade scharf. Gewiss waren die Gebote eine göttliche Reaktion auf `unordentliches´, auf verletzendes und mieses Verhalten unter Menschen. Aber sie machen eben auch durch ihre Existenz und ihren Anspruch deutlich, wie sehr wir nach wie vor an ihnen vorbei handeln – sonst wären sie doch nicht länger nötig. Paulus sagt nicht: Ich will die Gebote übertreten. Er sagt: Ich will sie halten, weil sie Gottes gute Anleitung für mein Leben sind, aber leider, leider halte ich mich praktisch, in meiner Lebenspraxis nicht daran fest, obwohl ich es möchte. In mir, in allen meinen Gliedern wirkt und wogt das `Gesetz der Sünde´. Dieser Zwang, etwas zu tun, was ich nicht will, ist stärker als ich selbst. Es beherrscht mich.

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Wie wenig mein „Ich“ der Herr im Hause ist, hat ja nun nicht nur der jüdische Gelehrte und Begründer der Psychoanalyse aufgewiesen, indem er das „Es“, sagen wir kurz: das Gesamt aller Triebregungen als bestimmende Kraft in mir und dir aufwies. Das „Es“ in mir ist in aller Regel – soviel wird man sagen dürfen – interessiert daran, das eigene Interesse, das eigene Bedürfnis, die eigenen Wünsche durchzusetzen, und sei es auch auf Kosten anderer – und wir nennen „Es“ dann häufig „meine Interessen“ und versuchen, sie zu verwirklichen, selbst wenn „Ich“ im besten Fall der Meinung bin, dabei die Bedürfnisse und Wünsche meiner Mitmenschen einbeziehen zu können. Liebe Gemeinde, wie Paulus sich selbst und uns aufklärt über sich und uns, will ich nun noch etwas deutlicher machen. Paulus interessiert sich weniger für das, was wir alle kennen, etwa: Ich wollte viel schaffen, aber meine Trägheit und Bequemlichkeit waren stärker. Oder: Ich wollte ruhig sein und beherrscht, aber mein Ärger ist mit mir durchgegangen. Ich wollte nicht lügen, und so griff ich zur Halbwahrheit oder log, ohne schamrot zu werden, weil ich damit besser aus der Geschichte herauskomme und dastehe. Wer ist nicht schon über seine Mitmenschen hergezogen, wer hat nicht schon mehrfach geschwiegen, wenn er und sie hätten reden oder gar tatkräftig eingreifen müssen? Wenn „Es“ nicht will, was „Ich“ wohl will… Paulus meint aber etwas Gefährlicheres und verleiht damit dem Begriff der Sünde die eigentliche Tiefendimension, die uns zunehmend abhanden gekommen ist und in Begriffen wie `Verkehrssünder´ banalisiert wurde. Es kommt ja nicht selten vor, dass ich meinen Mitmenschen etwas zuliebe tue, mich also durchaus im Sinne der Gebote verhalte – und doch, als ich es tat, klatschte ich mir heimlich Beifall: Mensch, bist du gut. Ich war uneigennützig – und das sollte mir den Beifall von und vor den anderen bringen, meine Uneigennützigkeit sollte gewürdigt werden und mir

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wie Honig um den Bart geschmiert werden. Ich wollte Gott ehren – und genoss mein Frommsein. Selbst derjenige, der sich rühmen kann, alle Gebote Gottes einzuhalten, rühmt sich selbst. Und denken wir an den selbstgerechten Pharisäer, der Gott dafür dankt, dass er, der alle Gebote beachtet, nicht so ist wie dieser Sünder dahinten. Paulus selbst schreibt von sich, er hätte das Gesetz früher vollkommen befolgt. Nun aber erkannt, dass, wer die Gebote vollständig erfülle, Gott nicht mehr benötige, weil er sich vor Gott selbst gerechtfertigt und damit sich Gott gleich gemacht hätte. Denn wer vermag vor Gott zu sagen: Siehe, ich habe alle deine Gebote befolgt und dadurch, aus eigener Kraft das Recht erworben, meinen Platz an deiner Seite in deinem Reich einzunehmen? Liebe Gemeinde, Gottes Gesetz zeigt uns, wie wir sind: Gott gegenüber können wir nur scheitern und schuldig werden. Paulus stößt es geradezu hervor: „Ich elender Mensch! Wer wird mich erlösen?“ Keiner kann sich selbst erlösen. Alle Rezepte, von uns erdacht, helfen nicht und haben die bekannten Risiken und Nebenwirkungen. Ich bin gefangen im Netz der Sünde. Vielleicht ist es das Wichtigste: sich dies einzugestehen, zuzugeben, dass ich selbst schon mir selbst gegenüber nicht gerecht werden kann, geschweige denn gegenüber den Geboten Gottes. Dann bin ich offen für fremde Hilfe. Und die ist ja da; genau das ist die zweite Pointe: mir ist längst geholfen. Es gibt einen Weg aus diesem Widerspruch von Wollen und Tun, aus dem Widerspruch von Gott und Mensch. Aber der muss mir gesagt und gezeigt werden, Wenn nicht, dann gleiche ich bei meiner Suche nach dem Ausweg dem Betrunkenen, der sich wieder und wieder im Kreis um die Litfasssäule herumtastet und immer verzweifelter wird, weil er die Tür nicht finden kann. „Ich bin eingesperrt“, klagt er – bis jemand kommt, ihn umdreht und ihm den Weg weist, den er gehen und so die Säule hinter sich lassen kann.

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Paulus zeigt auf solchen überraschenden Ausweg: Dreh dich um und richte deinen Blick auf den Weg, den Gott dir gebahnt hat: „Dank sei Gott durch Jesus Christus“. Was soll dieser freudige Ausruf bedeuten? Wir brauchen uns nicht krampfhaft zu bemühen, aus eigener Kraft vor Gott gut dazustehen und uns zu rechtfertigen. Gott nimmt uns an, obwohl wir an seinen Geboten versagen. Dass mir das Gute nicht gelingen will, tut seiner Zuneigung keinen Abbruch. Weil Gott in Jesus sich vermenschlichte, sich uns an die Seite stellte, wissen wir, dass er uns nicht uns selbst, unserer Schuld, unserer Überheblichkeit, dem Widerspruch zwischen Wollen und Tun, unseren guten Vorsätzen und unserem Scheitern nicht überlassen will. Ich kann mich durch mein Wollen, mein Tun und mein Lassen nicht erlösen und freisprechen, ich bleibe, der „Ich“ bin, eingeklemmt zwischen dem Treiben und den Bedürfnissen des „Es“ und den Ansprüchen des „Über-Ich“ und des „Ich-Ideal“. Doch Gott öffnet mir die Augen und Ohren und setzt mich in lösenden Gang. Der Betrunkene ist nicht länger an und auf die Säule fixiert. Die eröffnete Tür weist in die Weite. Deshalb wird er nicht gleich nüchtern. Auch wir werden nicht gleich leichtfüßig wie Engel den Weg entlang schweben, wenn wir unseren Blick weniger auf unsere Schuld und unser Versagen, sondern vielmehr auf die Gnade Gottes richten. Nicht meine misslungenen Vorsätze müssen mich dann mehr belasten, sondern neue Möglichkeiten kann und darf ich wahrnehmen. Wenn ich weiß, dass ich nicht mehr an meine Schuld und Sünde gekettet bin, weil Gott sie mir durch seine Menschwerdung nicht nur vergibt, sondern schon vergeben hat, dann, ja dann kann ich im Vertrauen auf Gott weiter gehen, auch wenn ich manches Mal wanke oder gar hinfalle. Das `Gesetzt der Sünde´ ist zwar stark und herrschsüchtig, aber Gottes Gnade ist und bleibt stärker. Liebe Gemeinde, wir können und sollen also weiterhin an den Geboten Gottes ablesen, was wir ihm schuldig bleiben und was wir ihm schuldig sind, wie wir seine Gebote übertreten, seine Setzungen zu unseren guten Vorsätzen machen

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und daran versagen – doch wir brauchen deshalb nicht zu resignieren. Die gläubigen Juden, wenn sie Gottes Gebot verletzt haben, fliehen wieder zu demselben Gottesgebot zurück, halten sich daran fest und lassen nicht locker, auch wenn sie durch wen oder was auch immer davon weg gelockt werden. Wir nun sind in gleicher Weise gehalten, uns an das heilige, gute und gerechte Gebot Gottes zu halten, das der jüdische Rabbi Jesus uns in seiner Bergpredigt ans Herz legt. Wir wenden uns allerdings wie Paulus und Luther an Gott eben durch Jesus Christus, in dem die Menschlichkeit Gottes fassbar wurde und wird. Gerade weil in diesem Jesus aus Nazareth Gottes Wille als Gnade, wenn auch nicht ohne, so doch vor Recht ergeht, gerade deshalb dürfen wir getrost und durchaus fröhlich leben, können wir immer wieder versuchen, den Geboten `zu Nutz und Frommen´ unserer Mitmenschen und unserer eigenen Person zu entsprechen, auch wenn wir an ihnen, den Geboten vorbei laufen und mit unseren Widersprüchen zu leben haben. Gott kennt die Seinen – wie es heißt – und meint damit uns. Und er kennt uns gut, weil er selbst sich zugemutet und sich herab gelassen hat, Mensch zu werden und sich nichts Menschliches fremd sein zu lassen. Da wird er sich doch wohl seiner Menschen annehmen, sie vor sich rechtfertigen, auch und nicht zuletzt, um sich selbst vor sich zu rechtfertigen. Liebe Gemeinde, der Weg zur Hölle ist mit guten Vorsätzen gepflastert, so spricht der Volksmund, der Weg zum Himmel mit Gottes Gnade, die wir uns nicht verdienen können, entgegnen Paulus und Luther und mit ihnen die reformierte Theologie. Gott rechtfertigt uns, gerade weil wir uns vor Gott und uns selbst nicht rechtfertigen können. „Dank sei Gott durch Jesus Christus“. Amen.

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Hans Lorenzen

Predigt am Reformationstag 2009 in der St. Secundus-Kirche in Hennstedt Was ist ein Bettler? Können Sie sich an einen Bettler erinnern? Haben Sie schon mal einen Bettler gesehen? Wissen Sie, wer Hartz 4 bekommt? Früher gab es Menschen, die bettelarm waren. Waren das Bettler? Sie lebten auf ihre Weise, einfach so, ohne große Ansprüche vielleicht. Vielleicht war das Schicksal mit ihnen hart umgegangen. Sie konnten gar nichts dafür. Menschen wurden und werden zu Bettlern. Sie waren und sind die Verlierer des Lebens. Aber das sei gesagt: Ein Bettler ist immer in den Augen der anderen ein Bettler. Er selber kann sich sogar für den König halten, trotz aller Armut. Bettler kommen mitunter bei mir an. Sie klingeln an der Haustür des Pastorates. Sie kommen vom Zirkus und sammeln für die Tiere im Winterquartier. Sie kommen zu mir, weil sie meinen, wenn alle nichts geben, der Pastor muss doch ein warmes und weiches Herz haben. Schon von Berufs wegen! Aber auch der Pastor weiß inzwischen, was da für Volk vor seiner Tür steht. Geld wollen sie alle. Wofür, bleibt ungesagt und kann man mitunter nicht nachvollziehen. Ich war in Rom und in Paris im Urlaub. Ich war an vielen anderen Orten. Immer wenn man aus Kirchen heraustrat, saßen dort die Bettler auf den Stufen der Kirchen in der Sonne oder im kalten Wind. Je südlicher einen der Urlaub führt, desto mehr bettelnde Menschen scheint es zu geben. Auch in Heide in der Friedrichstraße sitzen Bettler mit ihren Hunden und Taschen und dem wenigen, was ihnen gehört. Betteln bedeutet: Weiter nach unten geht es nicht. Du bist am Ende der gesellschaftlichen Hierarchie. Unter dir ist nichts mehr. Und doch sind es

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Menschen. Menschen mit einem Herzen, mit Schmerzen, mit Krankheiten und Eigenheiten, mit einer Lebensgeschichte und mit Freude über ein bisschen Brot aus dem Abfallkorb, das mit Wohlbehagen verspeist wird, oder wenn sie unter einer Brücke einfach nur in Ruhe gelassen werden. Luther sagt: Wir sind Bettler – das ist wahr. Letzte Worte des Reformators, des Begründers für die Evangelische Kirche. Da ist von Triumph oder Überheblichkeit keine Spur. Da ist vielmehr eine tiefe Einsicht in die Gotteserkenntnis und in die Menschenkenntnis. Denn wenn der Mensch ein Bettler ist, dann ist er ganz und gar abhängig von dem Wohlmeinen seines Herrn oder seines Gebers, vom Amt oder schlicht von anderen Menschen. Jesus, das wissen wir aus der Bibel, nahm sich auch der Bettler an, besonders der armen Menschen. Ihnen zuerst gelten die Worte aus der Bergpredigt, die Seligpreisungen. 2000 Jahre alt. Es war eine andere Zeit, die Zeit von Martin Luther. 500 Jahre sind vergangen. Ursprünglicher, dichter dran am Leben. Die Frage, die ihn umtrieb, war: Wie kann der Mensch vor Gott bestehen? Die Antwort, die er fand nach langem Ringen und Studieren: Der Mensch besteht nur aus Gnade vor Gott. Aber diese Gnade schenkt und gibt alles, was zum Leben wichtig ist. Jeglicher Schnickschnack war ihm zuwider. Jegliches Aufbauschen des Menschenbildes wurde hart bestritten. Der Mensch ist Gottes und er lebt aus Gottes Erbarmen. Das ist in aller Kürze Luthers Botschaft und seine Hinterlassenschaft an die Welt. Wir sind Bettler, das ist wahr. Luther hatte die Welt umgekrempelt. Vorher hatte es ein Kopernikus getan: Die Erde drehte sich um die Sonne, nicht drehte sich alles um die Erde. Das löste eine Revolution in seiner Zeit aus. Die Zeit war auf vielen Ebenen reif für Veränderungen. Kunst und Malerei, Technik und Wohnkultur, Entdeckungen und neue Philosophien. Das düstere Mittelalter war vorbei. Alle, die diese Sichtweise teilten, wurden auf Scheiterhaufen verbrannt. Und davon gab es viele.

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Auch Luther zog die Macht der Kirche und des Papstes in Zweifel. Auch ihm drohte der Flammentod. Vogelfrei wurde er verurteilt 1521 in Worms auf dem Reichstag mit dem Kaiser, dem mächtigsten Mann der Welt, neben dem Papst. Davor steht einer, der nichts hat, als nur seine kleine Stimme. Aber sie geht um die ganze Welt wie ein mächtiger Glockenschlag, der eine neue Zeit ankündigt. Ein Zeitzeichen geschieht, ein neuer Zeitgeist kündigt sich an. Wir wissen, was geschah. Es entsteht eine neue Kirche. Eine Bewegung, die bis heute anhält. Wir sind Lutheraner, seither, evangelisch, lutherisch. Die Geschichte hat uns dazu gemacht. Und dazu wollen wir stehen, weil wir Besseres nicht kennen und es uns mit diesem Glauben sehr gut geht. Wir sind Bettler, hat Luther gesagt. Wir sind nicht mehr aber auch nicht weniger. Denn ein Bettler lebt von dem, was ein anderer ihm gibt. Wir leben von dem, was Gott uns gibt. Wir sind stolze Bettler! Das ist wahr! Wir sollen Gott bitten um das tägliche Brot, so heißt es im Vaterunser, und das meint eben dies: Die Haltung der offenen Hände zu bewahren, auch wenn wir es vielleicht nicht nötig haben, es tatsächlich zu tun, wie Bettler vor Kirchentüren. Mit den einhergehenden Worten an die Geringen in der Welt, an die Kleinen, an die Unscheinbaren, die immer im Grau der Geschichte geblieben sind, und doch eine große Menge und Masse ausmachen. Menschen, die nach Frieden, nach Barmherzigkeit, nach mehr Recht und Gerechtigkeit ausschauen, geht auch das Ereignis der Reformation einher. Das macht die Seligpreisungen von Jesus immer wieder so hochaktuell, wo Menschen nach Erneuerung, nach Verbesserung der Verhältnisse einstehen und dafür kämpfen. In den Kirchen der DDR haben sich Menschen solchen Denkens zusammen gefunden, um gegen das alte System zu protestieren und Neues zu fordern. Aus den Rufen nach mehr

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Freiheit, aus der Proklamation „Wir sind das Volk!“, wurde ein neues Land. Mit dem Mut der Bettler, die nichts mehr zu verlieren haben, sondern nur noch gewinnen können, kam die Wende. Ich finde, ein bisschen hat Luther auch mit dazu beigetragen. Wo immer Menschen das Gewissen über alles andere stellen, da haben sie in Martin Luther einen guten Verbündeten. Amen.

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Friedemann Maagard

Predigt am 1. November 2009 in Breklum über Matthäus 5, 2-10 Was macht Sie glücklich? Diese Frage stellt der Schweizer Steuerexperte Daniel Gygax sich immer wieder und nicht nur sich selbst. Vor vier Jahren kündigte er seinen sattelfesten Job und reiste um die Welt, buchstäblich, reist durch schließlich 40 Länder, um Menschen nach ihren Ideen von Glück zu befragen. Es entstand ein Buch, in dem einhundert Menschen ihre Antwort versuchen1. Michail zum Beispiel, Rentner aus Nowosibirsk, dem die Ärzte vor einem Jahr noch zwei Monate gaben, erläutert Daniel im Park, zwischen zwei Schachpartien: „Weißt du, das wirkliche Glück erlebst du, wenn dein Kind dich anlächelt. Das musst du nicht aufschreiben, aber merken musst du es dir.“ Und dann will es der ehemalige Kriminalbeamte doch genau wissen: „Warum machst du dieses Buch?“ Daniel antwortet zögernd, dass er vielleicht selbst nicht so glücklich sei. Dann fragt Michail weiter: „Hast du Kinder?“ „Ja, drei.“ Da hellen sich seine Züge auf. „Bist du glücklich, wenn deine Kinder dich anlachen?“ „Ja, sehr.“ Er freut sich noch mehr, drückt Daniel die Hand und sagt: „Ja, aber warum reist du dann um die Welt, um etwas zu finden, was du zuhause bereits hast?“ Daniel schreibt dann, ihm wurde ganz warm ums Herz und Michail war zufrieden, dass er mal wieder einen kniffligen Fall gelöst hatte. Cathy aus dem Senegal erzählt von ihrer Arbeit in einem ökologischen Reservat, die sie glücklich macht, Thao aus Vietnam von den Freundinnen, mit denen sie auf dem Markt verkauft. Den Elektromonteur Abdul aus Singapur macht Geld glücklich, je mehr, desto besser; der Medienfachmann Manuel aus Caracas erzählt vom 1

Gygax, Daniel R.: Was macht Sie glücklich? 100 Menschen aus der ganzen Welt

geben Antwort, Stäfa bei Zürich, 2. Aufl., 2007.

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Sonnenaufgang, von seinen Kindern, und dass ihn das Gute im Menschen glücklich macht: Solidarität, Zivilcourage, Großzügigkeit. Und was macht Sie glücklich? Es lohnt sich, dieser Frage ein wenig Raum zu geben. Denn alleine das Nachdenken zeigt Wirkung. Glück ist, so meint der Arzt und Commedian Dr. Eckart von Hirschhausen, Glück ist Erwartungsmanagement. Es könnte also etwas mit dem zu tun haben, wie wir es begrüßen. Martin Luther hätte die Frage nach dem Glück wohl irritiert. Das war nicht seine Art zu fragen, so subjektiv, so privat... Obwohl, auf den zweiten Blick betrachtet: Die Unruhe, die den jungen Martin Luther umtrieb, war für seine Zeit nicht nur modern, sondern dabei ausgesprochen individualistisch und persönlich: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Zu gern hätte der Mönch Martin geantwortet wie Pater John in dem Glücksbuch von Daniel Gygax. Pater John, US-Amerikaner und seit 22 Jahren im Katharinenkloster auf dem Sinai, sagt: „Nur in der Begegnung mit Gott kann ich tiefe Freude und beständiges Glück finden. Alles andere ist flüchtig.“ Für den jungen Martin war das alles andere als klar. Wie kann ich vor Gott bestehen? Wenn Gott ehrlich bewertet die Gedanken und die Taten und die Versäumnisse eines Menschen, wer wollte dann noch bestehen? Das war kein theoretisches Geklapper, Martin Luther erfuhr in diesem Fragen existentielle Not. Es war ein mühsames Ringen, bis Martin Luther die Tür aufstieß zu einem neuen Verstehen, oder: bis ihm die Tür geöffnet wurde: Liegt über den Menschen in seiner Unzulänglichkeit das Urteil schon auf der Hand, so kann und wird nur eines den Schuldspruch noch verhindern: die Gnade Gottes. Das ist der einzige Ausweg.

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Gott, der Allmächtige, der Schöpfer und der Richter, er allein entscheidet, wie er uns ansehen will, ob durch die Brille des Anklägers oder mit der Brille der Milde. Gott allein entscheidet, wie er uns sehen will. Und da macht sich Erleichterung breit: In seinem Sohn Jesus Christus haben wir eine konkrete Anschauung, wie Gott Menschen ansieht. Wenn wir das Evangelium zur Hand nehmen, dann lesen wir von der Menschenfreundlichkeit von Jesus Christus. Das ist über jeden Zweifel erhaben. Jesus, der auf die Menschen zugeht. Der die Kranken heilt, der die Verzweifelten tröstet, Jesus, der sich denen zuwendet, die längst abgeschrieben sind, Jesus, der ermutigt und Hoffnung schenkt. Als er dies verstanden hatte, konnte Martin Luther eine neue Freude finden, eine Gelassenheit, ja, vielleicht würde er heute von Glück sprechen, bestimmt sogar, und dieses Glück ist individualistisch, denn es gilt jeder und jedem einzelnen, und es ist sehr privat, denn dieses Glück ereignet sich in den Herzen und den Gewissen der Menschen. Das Zeichen dieser Vergewisserung, das fiel Luther wie Schuppen von den Augen, ist die Taufe: Gottes großes Ja über Deinem, über meinem Leben. Ohne vorher etwas geleistet oder ohne vorher etwas verbockt zu haben, hat sich Gott zu dem großen Ja entschieden. Vierfach feiern wir dieses Ja heute in unserer Mitte, taufen vier Kinder im Namen des bejahenden Gottes. Diese Kraft trägt weit. Auch in schwerster Zeit flößte Luther der Gedanke „Ich bin getauft“ immer wieder neue Kraft ein. Von Jesus, von dem diese Gewissheit herrührt, hören wir in dem Predigttext zu heute Worte, die etwas mit dem Glück zu tun haben. Glücklich sind, nein, mehr als glücklich, superglücklich sind, selig sogar, die..., und dann geht es los. So wie die Antworten in dem Glücks-Buch ver-

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schieden sind, so überraschend klingt, was Jesus selig preist. Nicht Zufriedenheit, nicht Machteinfluss, nicht Reichtum, nicht Weisheit. Selig sind diejenigen, die geistlich arm sind. Die ganz einfach und schlicht ihr Leben in Gottes Hand legen. Die vertrauen, ganz unkompliziert. Selig sind, die Leid tragen. Denn Trost ist ihnen zugesagt. Wer aber eine Krise überstanden hat, daran gewachsen ist, darf zu einer tiefen Stärke finden. Die Sanftmütigen, die Großzügigen, die Friedensfreunde, über ihnen ruft Jesus das Seligsein aus, und über denen, die Gerechtigkeit lieben und dafür sogar Nachteile auf sich nehmen. Eine neue Wertigkeit ruft Jesus aus, hochaktuell bis heute: Was macht dich glücklich, Mensch, wie willst du leben, Mensch? Jesus lässt diese Frage nicht offen, sondern nennt den Weg: Es ist der Weg der Mitmenschlichkeit, der Großzügigkeit, der entschiedenen Solidarität. Der menschenfreundliche Gott ruft uns in die Mitmenschlichkeit. Darauf kommt es an. Erzählt Euch doch einfach mal, was Euch glücklich macht! Nachher, beim Essen, beim Spaziergang. Glück hat etwas zu tun mit Erwartungsmanagement. Der Philosoph Heraklit sagt: Erwarte das Unerwartete, sonst wirst Du es nicht finden. Beglückend ist schon, diese Gedanken miteinander zu teilen. Ein erster Schritt. Unsere Gemeinschaft derer, die Glück kennen und es neu erwarten, ist stark in den Stürmen dieser Welt.

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Unsere Vision von einer gerechten und frohen Welt ist ein Impfstoff gegen den globalen Zynismus. Und wenn die Welt voll Teufel wär, und wenn sie uns das Liebste nähmen, was wir haben, das Ja, das über uns gesprochen ist, kann niemand uns mehr nehmen. Amen.

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Jochen Müller-Busse

Predigt am 1. November 2009 in Leezen Liebe Gemeinde, Angst überwinden, und Gott vertrauen und lieben, darum geht’s heute. Und das ist nicht etwas, was man so von einem Moment zum anderen machen könnte: Ich lege jetzt all meine Angst ab und beginne Gott zu vertrauen und zu lieben. Sondern das ist ein Weg. Martin Luther selbst ist diesen Weg gegangen und wir können auch an seinem Leben diesen Weg nachvollziehen. Der junge Martin ist in einem normalen Elternhaus aufgewachsen. Sein Großvater war Bauer und dann erbte Martins Onkel den Hof und Martins Vater wurde Bergmann. Später erzählte Martin: „Mein Vater ist in seiner Jugend ein armer Häuer (also Bergmann) gewesen. Die Mutter hat all ihr Holz auf dem Rücken heimgetragen. So haben sie uns erzogen. Sie haben harte Mühsal ausgestanden, wie die Welt sie heute nicht mehr ertragen würde.“ Ja, und hart war auch Martins Erziehung. Einmal hat Martin eine Nuss geklaut. Eure Mutter würde vielleicht sagen: Das ist gut Junge. Nüsse sind gesund. Iss schön. Aber Martins Mutter hat ihren Sohn mit der Rute geschlagen, sie schlug ihn mit der Rute so hart, bis Blut floss. Und auch von seinem Vater sagt Martin: „Mein Vater schlug mich einmal so sehr, dass ich ihn floh, und dass ihm, dem Vater, bange war, bis er mich wieder an sich gewöhnte.“ Hier wird jedoch auch Liebe deutlich. Es reut den Vater, er will seinen Sohn nicht verängstigen, und Martin sagt später von seinen Eltern: Sie meinten es herzlich gut.

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Martins Vater war sparsam und arbeitete hart. So brachte er es zwar nicht zu Reichtum, aber doch zu bescheidenem Wohlstand und schließlich konnten sie Martin ein Studium finanzieren. Martin war nicht gerne zur Schule gegangen. Einen Kerker und eine Hölle nennt er die Schule. Doch im Studium geht es ihm besser. Martin kommt zur Universität in Erfurt. Erfurt war nicht so weit weg von seinem Wohnort und es war damals eine der größten Städte Deutschlands, eine aufblühende Metropole, also vielleicht so ähnlich wie für uns Hamburg. Die Burse, das Studentenwohnheim mit dem Spitznamen „Biertasche“ hatte, anders als der Spitzname denken lässt, eine strenge Hausordnung. Früh um vier Uhr musste aufgestanden und abends um acht Uhr zu Bett gegangen werden. Ihre Klamotten durften sich die Studenten nicht selbst aussuchen, sie trugen so eine Art Uniform. Gleichwohl wurde auch gefeiert und Martin dachte später gerne an seine Studienzeit. Nach dem Willen des Vaters studierte er Jura, zu Deutsch Recht. Das versprach Ansehen und Geld, und der Vater wollte eben das Beste für seinen Sohn. Martin studierte fleißig und bestand rechtzeitig eine Zwischenprüfung. Wenn wir mal den Lebenslauf bis hierher anschauen, dann ist eigentlich alles nach Plan verlaufen. Manches war sehr streng, aber es gab doch auch Sicherheit. Martin wusste, an welche Regeln er sich zu halten hatte und ist vorangekommen, erst Schule, dann Studium. Doch dann geschah etwas Umwälzendes. Martin war auf dem Weg vom Wohnort seiner Eltern nach Erfurt, wo er studierte. Damals hatten die Studenten noch kein Auto, sie gingen zu Fuß. Doch das kann auch schön sein. Es war ein herrlicher Sommertag. Martin war nicht mehr weit von Erfurt, kam durch einen Wald, lichtdurchflutet, die Vögel zwitscherten; da zog auf einmal eine Front schwarzgrauer Wolken auf. Und dann ging

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auch schon der Wolkenbruch los, es goss in Strömen, es blitzte und donnerte. Ein Blitz schlug direkt neben Martin nieder, so dass ihn der Luftdruck zu Boden schleuderte. In Todesangst rief Martin die Schutzheilige der Bergleute an: „Hilf heilige Anna, ich will ein Mönch werden.“ In dieser Stunde der Todesangst spürte Martin: Das Leben ist nicht sicher. Alles lief nach Plan und er wuchs in einem behüteten Umfeld auf und merkte doch: Das Leben ist nicht sicher. Das ist es auch heute nicht, doch ich glaube, heute tun wir uns schwerer damit, das einzusehen. Vor Gewitter z.B. sind wir in einem Auto geschützt. Und wir verwenden sehr viel Energie darauf, uns gegen alles Mögliche abzusichern. Theoretisch wissen wir, dass wir das Leben nicht in der Hand haben, doch wir tun so, als könnten wir alles regeln. Martin ist aus scheinbaren Sicherheiten ausgebrochen, um Gott wohlgefällig zu leben. Das war einerseits eine spontane Entscheidung im Affekt des Schreckens. Andererseits hat er diese Entscheidung auch überschlafen, ja, er hat sich 14 Tage Zeit gelassen, bis er an der Klosterpforte anklopfte. Dieser Entscheidungsprozess muss ihn viel Mut gekostet haben. Bedenkt: Bisher hat Martin in seinem Leben durchgängig getan, was sein Vater von ihm wollte. Und nun trifft er eine Entscheidung gegen den Willen des Vaters. Da war der Vater außer sich vor Zorn, sah sich um all seine Wünsche und Pläne betrogen und sah seine finanziellen Opfer als vergeblich. Martin schreibt: „Da ich ein Mönch ward, wollte mein Vater toll und töricht werden, schrieb mir einen bösen Brief und sagte mir alle väterliche Treue ab.“ Doch Martin Luther ging seinen eigenen Weg und trat in ein strenges Kloster ein. Alles war bis ins Kleinste vorgeschrieben, wann und vor wem er die Knie zu beugen, wann er sich zu Boden zu werfen hatte. Er

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musste stets mit gebogenem Nacken und niedergeschlagenen Augen einhergehen, musste jedes Lachen unterdrücken. Die Kälte im Kloster machte ihm zu schaffen, mehr als die karge Kost. Er tat mehr, als die Regel verlangte. In drei Tagen nahm er oft nicht einen Tropfen Wasser oder einen Bissen Brot zu sich. Das alles tat Luther, um Gott gnädig zu stimmen. Das ist uns sehr fern. Die Frage von Martin Luther und seiner Zeit nach einem gnädigen Gott, diese Frage ist uns weitgehend fremd. Kaum einer von uns wird unter der Angst vor Hölle und Fegefeuer leiden. Und doch glaube ich, wenn wir auf die Ängste sehen, die dem zu Grunde liegen, dann sind wir von ähnlichen Ängsten bewegt; wir gehen nur anders damit um. Wir haben bewusst kaum Angst vor dem, was nach dem Tod kommt, denn den Tod klammern wir weitgehend aus. Ich weiß nicht, ob einer von Euch Jugendlichen schon mal eine Leiche gesehen hat. Als ich das erste Mal eine Leiche sah, da war ich bereits in der praktischen Ausbildung zum Pfarrberuf. Was in unserem Umfeld mit Tod zu tun hat, das wird weitgehend versteckt. Stattdessen richten wir unser Augenmerk auf die Gesundheit, als könnten wir bei gesunder Lebensführung und guter medizinischer Versorgung unbegrenzt leben. Das war zu Martin Luthers Zeit anders. Tote waren vor Augen, und die Menschen wussten nicht nur theoretisch, dass sie mal sterben mussten, sondern sie spürten es auch, hatten es verinnerlicht. Und ihre Angst war, was danach kommt. Martin Luther und seine Zeitgenossen hatten die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott? Er hat diese Frage besonders intensiv und bis zu Ende durchlebt und durchdacht. Und er war ehrlich zu sich selbst.

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Die leitende Regel seines klösterlichen Ordens war die vollkommene Liebe zu Gott und zum nächsten Mitmenschen und die vollkommene Demut. Luther gestand sich ein, an dieser Regel zu scheitern. Er entdeckte die Ichsucht als Triebfeder seines Handelns. Ich will mich durch meinen Lebenswandel retten. Ich will durch meine Gerechtigkeit vor Gott bestehen. Luther entdeckte: Ich liebe Gott nicht, ich fürchte ihn und hasse ihn, weil er so ein strenger Richter ist. Ich kann mich noch so anstrengen, bei all meinen Verdiensten werde ich nie Gerechtigkeit erlangen. So hat Luther mit Gott gerungen. Gott schenkte ihm die Einsicht: Mit einem scheinbar noch so gerechten Lebenswandel kannst du doch keine Gerechtigkeit erlangen. Doch die Gerechtigkeit wird dir geschenkt. Wie wir vorhin in der Epistellesung gehört haben: Die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, die kommt durch den Glauben an Jesus Christus zu allen, die glauben. Darum glaube an Jesus Christus, vertrau dich ihm an und vergiss alle eigenen Sicherheiten. Ähnlich wie früher das Elternhaus, so bot jetzt auch das Kloster Martin Luther scheinbar viele Sicherheiten. Bei aller Strenge schien es doch auch ein geschützter Raum zu sein, scheinbar auch mit moralischer Sicherheit: Ich bin gehorsam, tue das, was mir gesagt wird. Doch Luther merkte: Das trägt nicht. Weder im Diesseits, noch im Jenseits, weder in der sichtbaren, noch in der unsichtbaren Welt. Weder kann ich mich irdisch absichern, noch kann ich mich vor Gott absichern.

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Und darum hat Luther es gewagt und ist ausgebrochen. Er hat den Streit gewagt, früher mit seinem Vater und jetzt auch mit seinen Ordensoberen. Luther merkte: Wir gewinnen nicht das Leben, indem wir uns absichern. Weder eine Blitzschutzversicherung, noch eine Krankenversicherung, nicht einmal eine moralische oder religiöse Versicherung sichert uns das Leben. Das Leben gewinnen wir, indem wir alle Sicherheiten um uns aufgeben und uns Jesus Christus anvertrauen. Das hat Luther praktiziert, auch später in seinem Leben, als die Reformation an Boden gewann. Luther wurde mit dem Tode bedroht, doch von einem Fürsten auf der Wartburg in Sicherheit gebracht. Auf der Burg bekam er herrschaftlich zu speisen, was freilich seinem an karge Kost gewöhnten Magen nicht gut bekam. Er ging mit auf Jagd und hatte sein Studierzimmer. Kurz gesagt, er hatte allen Grund, auf der Burg in Sicherheit zu bleiben. Doch als es draußen mit der Reformation drunter und drüber ging und Luther gebraucht wurde, da verließ er seine Burg und gab sich seiner Aufgabe hin. Luther hat das wunderbar gedichtet in dem Lied: Ein feste Burg ist unser Gott, nicht dicke Steinmauern. Mit unsrer Macht ist nichts getan, wir leben, indem wir uns Jesus Christus anvertrauen. Und wenn wir auch alles verlieren, das Reich Gottes muss uns doch bleiben. Amen.

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Götz-Volkmar Neitzel

Predigt am Reformationstag 2001 in der St. Johannis-Kirche zu Hamburg-Curslack über Jesaja 62, 6-7.10-12 Veränderungen fürchten wir! Sie, wir, ich mögen es einfach nicht, wenn Ordnung aus ihren Fugen gerät und ohne Ordnung – besonders uns Deutschen sagt man das nach - geht es nicht. Gerade im vergangenen Monat haben wir es wieder gemerkt. Klare Verhältnisse tun gut! Gut zu wissen, wenn es diejenigen gibt, die das Chaos kontrollieren, es zumindest bewachen und in Schach halten. Die Diskussion kann nicht aktueller sein: Schärfere Gesetze, bessere Überwachungen, Einsatz aller technischen Möglichkeiten um was zu bewachen? x Meine Freiheit? x Meinen Besitz? x Meine Familie? x Mein Leben? Bedroht scheint mir zu sein, was ich bewachen muss, Grundfesten geraten ins Wanken, wenn bestimmte Eckpunkte verloren gehen. Ich schütze das, was mir etwas wert ist, bin notfalls dazu bereit, es mit aller Kraft zu verteidigen. Fehlt es mir oder ist es zerstört, kann das Werteverfall für mich bedeuten. Und wenn es besonders schlecht kommt, verliere ich selber meinen Wert und damit mich selbst. Ohne Raster geht es halt nicht. Also gut aufpassen und hinschauen, so wie in den Worten des Propheten Jesaja:

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„Ich habe Wächter auf deine Mauern gestellt Jerusalem! Weder bei Tag

noch bei Nacht soll ihr Ruf verstummen. Ihr Wächter seid dazu bestimmt, den Ewigen an Jerusalem zu erinnern. Ihr dürft euch keine Ruhe gönnen und ihr dürft Gott keine Ruhe lassen, bis er Jerusalem wieder hergestellt hat und so herrlich gemacht hat, dass alle Welt es rühmt. Ihr Bewohner Jerusalems, zieht hinaus durch die Tore eurer Stadt! Bahnt einen Weg für das heimkehrende Volk! Baut eine Strasse, räumt die Steine aus dem Weg! Richtet Zeichen auf, dass die Völker es sehen! Auf der ganzen Welt lässt der Ewige ausrufen: Sagt der Zionsstadt: Deine Hilfe ist nahe! Der Ewige ist nahe und bringt das Volk mit, das er befreit hat. Es wird Gottes heiliges Volk genannt werden, das Volk, das der Herr gerettet hat. Du selbst aber heißt dann die Stadt, die Gott liebt, die Stadt, die er wieder angenommen hat.“ Die heilige Stadt Jerusalem steht als Bildsprache für ein Paradies auf Erden. Die heutigen Nachrichten berichten nichts Paradiesisches aus dieser Stadt. Besonders für bestimmte religiöse jüdische und islamische Menschen geht es in dieser Stadt darum, einen bestimmten Zustand aufrecht zu erhalten, mit dem sie ihre eigene Identität verbinden. Und sollte eine der beiden Seiten wesentlich von ihrem Standpunkt abweichen, fürchten sie mehr Chaos als es ohnehin seit dem letzten Jahr dort herrscht. Die andere Seite würde es nur als Schwäche und nicht als Stärke auslegen, bewegte sie sich. Sich nicht mehr verändern, Stärke demonstrieren und alles unverändert lassen, das ist immer wieder die Glaubensfrage, auf die Menschen treffen.

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Es war die Haltung der römischen Kirche gegenüber Martin Luther in jenen Zeiten des 16. Jahrhunderts. Jede Veränderung hat ihren Preis und das war klar: Was der Mönch aus Wittenberg wollte, das ging in der Kritik entschieden zu weit. Das wollte die römische Kirche ihrem Kirchenvolk nicht zumuten, konnte es wohl auch nicht. Veränderungen sind immer bedrohlich. Nicht die Kirche, das himmlische Jerusalem auf Erden löst alle deine Probleme. Und glaubst du an die Einrichtung Kirche, dann kann dir im Jenseits nicht mehr viel passieren. Polemisch gesagt, das „Rundum Sorglos Paket“. Wir können uns das nicht mehr vorstellen wie es ist, wenn die Angst vor dem Teufel und seinen Höllenqualen an einem nagt: Ist mein Lebenswandel gut genug? Habe ich im Gottesdienst richtig gebetet und vor allem: Sah Gott es? Aus diesem zernagenden und verzehrenden Teufelskreis erlöst zu werden setzt Luther entgegen: Ihr Bewohner Jerusalems, zieht hinaus durch die Tore eurer Stadt! Bahnt einen Weg für das heimkehrende Volk! Baut eine Strasse, räumt die Steine aus dem Weg! Verwaltet nicht, sondern gestaltet! Und warum? Weil die Erlösung schon geschehen ist: ‘Der Ewige ist nahe und bringt das Volk mit, das er befreit hat‘. Die Wächter von denen Jesaja spricht, wollen nicht bewahren, sondern gestalten und verändern. Wie ein warmer Wind, wie eine belebende Kraft erfahren sie die Kraft Gottes. Kein Siegergott, sondern einer mit unserer Lebenserfahrung. Das klingt so abgedroschen und so theoretisch. Die Glaubenskraft scheint nicht mehr zu tragen, eben nicht wertvoll zu sein.

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Schauen Sie sich heute Abend um: Sie sind gekommen, Sie, von 5000 Gemeindegliedern in Neuengamme und Curslack. Noch merkwürdiger muss es in den östlichen Bundesländern sein, wo der heutige Tag Feiertag ist! Das sind teilweise noch nicht mal 20% der Bevölkerung in der Kirche, auch nach der Vereinigung hat sich das nicht spürbar geändert. Ehrlicher wäre wohl festzustellen: „Bruder Martin, du hast es gut gemeint, aber es scheint tatsächlich so zu sein: Deine Mission ist gescheitert. Die Menschen können mit der Freiheit nicht umgehen und klarere Vorgaben wie in der römischen Kirche haben über 2000 Jahre eine weltweite, allumfassende allgemeine Kirche geformt. Vom Nordkap bis nach Feuerland, von den Philippinen bis Kalifornien.“ Amen. Amen? Warum noch evangelisch sein, wenn sowieso viele den Eindruck haben, in der Nordelbischen Evangelisch-Lutherischen Kirche sei sowieso alles egal? Ich habe Wächter auf deine Mauern gestellt Jerusalem! Weder bei Tag noch bei Nacht soll ihr Ruf verstummen. Ihr Wächter seid dazu bestimmt, den Ewigen an Jerusalem zu erinnern. Wächter sind handelnde Menschen. Sie haben viel Verantwortung. Die Verantwortung, die für uns so selbstverständlich geworden ist, wurde hart erkämpft. Sie war und ist kein Selbstgänger, kein Besitz oder jederzeit verfügbarer Konsumartikel, den wir bei Aldi aus dem Regal nehmen können. Evangelisch zu sein bedeutet: x Zu wissen, vor Gott nimmt mir keine Institution meine eigene Verantwortung ab. Aber ich kann sie auch nicht abgeben. Glaube muss eben immer wieder errungen werden. x Ich kann Gemeinde und damit Kirche immer wieder neu betrachten und umformen, ohne jedes Mal eine Hierarchieleiter zu durchlaufen. So schwer es für den Kirchenkreis bei den auf uns zukommenden

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Umgestaltungen ist, er spricht mit uns und ändert nicht einfach ab. Die weitgehende Selbstbestimmungsmöglichkeit der Gemeinde ist Geschenk, aber eben kein Besitz, keine Sicherheit. x Es ist gut, dass ich meine persönlichen Erfahrungen und Erlebnisse mit Gott an meine Gemeinde wieder herantragen kann. Feststellen, wo ich selber stehe, mich meines Standpunktes zu vergewissern, weil andere ähnliche Erfahrungen gemacht haben. Oder ihn auch wieder verändern, denn diese Veränderungsmöglichkeit ist Gnade! Die Erfahrung im Scheitern selber wachsen zu können, ohne dafür nun per Gebet oder Rosenkranz Bußübungen veranstalten zu müssen. x Ich, Sie, wir sind selber Kirche. Nicht der Bischof oder ein Papst, der beschließen kann: - wiederverheiratete Geschiedene nicht zum Abendmahl zuzulassen - und der mich bei einer Hochzeit Protokolle unterzeichnen lässt, dass ich mein Kind möglichst in einer bestimmten Weise erziehen lasse – und der per Exkommunikation Menschen aus seinen Reihen verweisen kann. Evangelisch-Lutherische Kirche wagt Vertrauen, obwohl sie immer wieder Enttäuschungen erlebt. Wir versuchen als Gemeinschaft Gott und uns daran zu erinnern, dass wir seiner Gnade immer wieder bedürfen. Morgens und abends und ganz gewiss an jedem neuen Tag. Amen.

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Redlef Neubert-Stegemann

„Ich sitze hier und trink mein Wittenbergisch´ Bier – und derweil läuft das Evangelium um die Welt.“ Ansprache zum Reformationsfest 2009

EG 369, 1 1. Wer nur den lieben Gott lässt walten und hoffet auf ihn allezeit, den wird er wunderbar erhalten in aller Not und Traurigkeit. Wer Gott, dem Allerhöchsten, traut, der hat auf keinen Sand gebaut.

Liebe Tagungsgemeinde! Der Reformationstag ist Gelegenheit und Herausforderung. Wir besinnen uns darauf, was es eigentlich heißt, eine lutherische Evangelische Kirche zu sein, und wir vergegenwärtigen uns die epochale Rolle, die Martin Luthers Theologie damals im Gründungsgeschehen der reformatorischen Bewegung gespielt hat. Martin Luther – das ist ein Vulkan und ein weites Feld. Ich lasse mich für meine Ansprache inspirieren durch das Lieblings-Luther-Zitat meines verehrten (Alt-)Bischofs Dr. Hans Christian Knuth – und ich hoffe dabei, unserer Tagung zwei Akzente aufzusetzen:

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„Ich sitze hier und trink mein Wittenbergisch´ Bier – und derweil läuft das Evangelium um die Welt.“1

I Das eine, was mich an diesem geflügelten Wort fasziniert, ist die ungeheure Gelassenheit, die sich darin ausspricht. Das Evangelium „läuft um die Welt“, ganz von alleine, „automate“, wie es in dem Gleichnis von der selbstwachsenden Saat heißt. Was geschehen soll – und was geschehen kann, den Umständen entsprechend – wird auch geschehen. Wir haben getan, was wir tun konnten, wir hätten auch mehr tun können oder wir hätten etwas anderes tun können, vielleicht haben wir auch alles mögliche falsch gemacht – jedoch: Was wir getan haben, haben wir jetzt getan – und jetzt lehnen wir uns zurück und trinken vergnüglich unser Bier in dem gewaltigen, grundlosen, waghalsigen Vertrauen, dass das Evangelium von selbst seinen Lauf nimmt – mit und ohne unser Engagement – und manchmal, Gott sei es gedankt, auch gegen und trotz unseres Engagements. Und derjenige, der sich im höchsten Maße berufen, beauftragt und verantwortlich weiß für die Ausrichtung des wahren Evangelium an alle 1

Möglicherweise handelt es sich bei diesem geflügelten Wort nicht um ein wörtliches

Originalzitat. Eine andere Version lautet: Ich sitze hier und trinke mein gutes Wittenbergisch Bier und das Reich Gottes kommt von ganz alleine. In der Invokavit-Predigt heißt es: Nempt ein exempel von mir. Ich bin dem ablas und allen papisten entgegen gewesen, aber mit keyner gewalt, jch hab allein Gottes wort getrieben, geprediget und geschrieben, sonst hab ich nichts gethan. Das hat, wenn ich geschlafen han, wenn ich wittenbergisch bier mit meynem Philipo und Amßdorff getruncken hab, als(o) vil gethan, das das Bapstum also schwach geworden ist, das jm noch nye keyn Fürst noch Keyser so vil abgebrochen hat. Ich hab nichts gethan, das wort hatt es alles abgehandelt und außgericht.

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Welt, zum Heil der Seelen und zur Wohlfahrt der menschlichen Gemeinde, trinkt genüsslich sein Bier und fühlt sich geborgen in dem Vertrauen, dass Gott selbst seine Sache zu einem guten Ende hinausführt. Ich bewundere diese Haltung der Gelassenheit, die ja in einer gewissen Spannung steht zu der Kämpfernatur, die Luther zweifellos gewesen ist. Seine Gelassenheit ist ja nicht die lächelnde Sanftmütigkeit des Gurus – oder die heroische Gleichmütigkeit des Stoikers – sondern ein dialektisch immer wieder neu errungenes Vertrauen, das allen Zweifel und Selbstzweifel in sich aufgenommen hat! Luther war ein kämpferischer, ja ein getriebener Mensch, unendlich fleißig in Schrift und Rede, in Forschung und Lehre, messerscharf in seinem Denken – und oft genug auch in seinen Worten – und immer wieder jähzornig aufbrausend, wenn es um das Evangelium ging, wie er es verstand – und dabei auch immer wieder ungerecht und verletzend – und keineswegs frei von tragischen Irrtümern – wenn wir etwa an sein Agieren im Bauernkrieg oder an seine spätere Polemik gegen die Juden denken. Er ist existenziell jederzeit überaus „engagiert“. Doch dieses Selbst-Engagement nimmt er originär in seine theologische Selbst-Reflexion mit hinein. Denn in einer Theologie, in der „sola fide“ und „sola gratia“ unhintergehbar der Quellgrund aller Erkenntnis und das Ziel der immerwährenden Selbstprüfung und Selbstverwandlung sind, muss die Frage nach Sinn und Reichweite menschlichen Handelns einen immer wieder einer grundsätzlichen Skepsis aussetzen – wobei auch diese Selbst-Infragestellung gleichzeitig wieder durchaus ambivalent ist, weil die Frage, ob der Selbstzweifel eine von Gott auferlegte Gewissensprüfung oder aber eine Einflüsterung des Teufels ist, der den Diener des Evangeliums zu Fall bringen will, von vorn herein keineswegs entschieden ist! Diese Anfechtung will also durchgefochten werden. Denn Engagement und Anfechtung sind zwei Seiten derselben Sache. Die Angst vor den

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Schmerzen der Anfechtung und vor der Unterbrechung des Tuns, das diese mit sich bringen, führt häufig zu einer Vermeidung der kritischen und selbstkritischen Auseinandersetzung mit den Programmen, denen man folgt. Aber Engagement ohne Anfechtung wird irgendwann blinder Aktionismus. - Umgekehrt führt Anfechtung ohne Engagement, also ohne das Wagnis des Handelns, in die pure Verzweiflung, in die blanke Angst – die ja bekanntlich die größte Sünde ist, weil sie Gott gar nichts mehr zutraut und das eigene Selbst schon aufgegeben hat. In diesem Konflikt hilft nur der „Sprung“ ins sozusagen grundlose Vertrauen, die Flucht nach vorne in die Arme Gottes, der den Sünder rechtfertigt. Allein das Vertrauen in das Wort Gottes, das mich beruft und beauftragt, an seinem Werk mitzuwirken, schafft die Grundlage dafür, dass ich mich dem Engagement hingeben kann, ohne vom Zweifel niedergemacht zu werden, und dass ich mich der Anfechtung aussetzen kann, ohne dass ich die Angst dabei durch Zweckoptimismus übertönen muss. Luthers Gelassenheit markiert also diesen dialektischen Punkt des wieder gewonnenen Vertrauens. Als durchgefochtene Anfechtung hat sie zugleich eine große, Ruhe und Entspannung um sich verbreitende Ausstrahlung. Die Gelassenheit ist sowohl nur punktuell, um sogleich wieder zu verblassen und in den Strudel der Erlebnisse und Auseinandersetzungen hineingezogen zu werden, als auch eine Haltung, die es gelernt hat, mit den menschlichen Anwandlungen etwas distanzierter, humorvoller, liebevoller umzugehen. Eine Gelassenheit, die sich, immer gefährdet, durchhält – nicht als Fundament oder als Bastion, aber als Vertrauen, das sich sozusagen immer wieder der Verheißung und Zusage Gottes an die Brust werfen kann – sowohl „Hoffnung wider alle Hoffnung“ als auch Zuversicht und Gelöstheit.

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EG 369, 2 2. Was helfen uns die schweren Sorgen, was hilft uns unser Weh und Ach? Was hilft es, dass wir alle Morgen beseufzen unser Ungemach? Wir machen unser Kreuz und Leid nur größer durch die Traurigkeit.

II Wenn ich von dieser Gelassenheit aus auf die kirchlichen Realitäten blicke, dann sehe ich unzählig viele Menschen, die sehr engagiert Verantwortung übernehmen für die Gestaltung des kirchlichen Lebens und für die Umsetzung kirchlicher Strukturreformen. Da ist ganz viel kreative Schaffensfreude am Werk und ganz viel Lust am Experimentieren mit neuen Formen kirchlicher Kommunikation. Einerseits. Die EKD inszeniert in einer großartigen Organisationsleistung auf dem Zukunftskongress in Kassel das Bild einer „Kirche im Aufbruch“. - Unsere Dienste und Werke lernen, sich in neuen institutionellen Formen zu organisieren und ihre Arbeit durch „Ziele“ zu steuern und im System der „Zielsteuerung“ kommunikativ zu vernetzen. - In den Gemeinden ist der Erfindungsreichtum groß, was die Möglichkeiten Kirche zu erleben und sich zu beteiligen angeht: Lebendiger Adventskalender, lebendiges Lernen mit Konfirmanden, Predigt als filmische Collage, Segnung und Salbung, Einkehr und geistliche Begleitung, Jugendkirche, runde Tische, ökumenische Partnerschaften und vieles andere mehr. Gleichzeitig gibt es eine große Anspannung und Anstrengung in alledem. Die Sorge um den Selbsterhalt der Kirche als Institution, um ihre finanziellen Grundlagen und um ihre gesellschaftliche Relevanz ist überall

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spürbar. Anforderungen an die Qualität und an die Attraktivität kirchlicher Angebote werden öffentlich erhoben; oftmals wird dabei alles, was bisher gemacht und geleistet wurde, unversehens schlecht geredet. Pastorinnen und Pastoren sollen nicht mehr nur ihrer Arbeit vor Ort in Predigt, Seelsorge und Unterricht nachgehen, sondern sich in alledem gleichzeitig mitverantwortlich fühlen für das große Ganze, für die Darstellung und Akzeptanz der Nordelbischen Kirche. Es lastet ein allgegenwärtiger Druck auf den Akteuren des kirchlichen Lebens. Angesichts der Erfahrung bleibenden Mangels und der Ungewissheit über den Erfolg der Reformbemühungen machen Erschöpfung und Mutlosigkeit sich breit. Den ehrenamtlich Mitarbeitenden wird alles zu viel. Die Hauptamtlichen klagen, dass sie über der Verwaltung des Mangels und dem Engagement in den Gremien der Reform für die inhaltliche Arbeit mit den Menschen keine Zeit und keine Kreativität mehr finden. Die Kirchenleitung, in ihrer Verantwortung für das Gelingen der diversen Großprojekte, verbreitet einen Zweckoptimismus, dem gegenüber es die Skeptiker und Kritiker schwer haben, sich Gehör zu verschaffen. Dabei sollte es angesichts der Ungewissheit der Entwicklungen und der grundsätzlichen Unkontrollierbarkeit der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen gerade opportun sein, den Zweifel, den Erfahrungsgehalt der Anfechtung, die Botschaft der Gefühle sorgfältigst mit einzubeziehen. Denn kirchliche Entwicklung ereignet sich im freien Spiel der Kräfte – also eher in Formen organischen Wachstums und Vergehens, als in Form konzeptioneller Konstruktion und programmatischer Umsetzung. Die Sorge um die Institution verdirbt die Freude am Tun. Die Angst um die Selbsterhaltung untergräbt die Freiheit des schöpferischen, situativen Tuns und Daseins mit den Menschen an Ort und Stelle. Es liegt eine Paradoxie, eine Selbstwidersprüchlichkeit darin, dass die Angst und die Sorge unter dem Druck kirchenleitender Verantwortung zu praktischer Betriebsamkeit in einer angespannten, angestrengten Haltung führen

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können, die die christliche Freiheit aus dem Evangelium eher verstellen als glaubwürdig ins Erleben bringen. In dieser paradoxen Situation scheint es mir für die Menschen, die in der Kirche Leitungsverantwortung tragen, in allererster Linie wichtig zu sein, so eine lutherische Haltung der Gelassenheit einzuüben. Das heißt einerseits, bei sich selber immer wieder daran zu arbeiten, dass der Glaube an das Gelingen jederzeit den Druck der Verantwortung überwiegt, nein: trägt und verwandelt. Und das vielleicht eher nicht durch eine einsame individuelle geistliche Leistung, sondern in einer brüderlich-schwesterlichen Gemeinschaft in einem Austausch, in dem die eigene Berufung geprüft, gereinigt und gestärkt werden kann. Es heißt zum anderen, dass die leitenden Geistlichen ein Stück der gewonnenen Gelassenheit „ausstrahlen“ lassen und dadurch bei anderen religiöses Vertrauen in den Lauf der Dinge wachsen und theologische Orientierung in der Unübersichtlichkeit der Welt entstehen lassen. Eine solche Entlastung der ehrenamtlich und hauptamtlich Mitarbeitenden, damit sie belastbar sind und bleiben angesichts der realen Herausforderungen durch die zunehmend krisenhaften Entwicklungen in Kirche und Gesellschaft, ist eine vornehmliche geistliche Leitungsaufgabe in unserer Kirche. Geistliche Leitung in diesem Sinne, die wir so nötig haben, wird ermöglicht durch die – zugleich durch Arbeit an sich selbst errungene wie durch Gottes rechtfertigendes Tun geschenkte – Gelassenheit, wie sie sich in Luthers geflügeltem Wort von dem selbstlaufenden Evangelium mitteilt. Die Lust an diesem Wort, wenn ich sie denn durch meine Worte für uns heute ein wenig heraufbeschwören konnte, mag unsere Zuversicht stärken, dass wir es können werden, indem von seiner Gelassenheit etwas auf uns übergeht.

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Die Gelassenheit ist das eine. Das andere, was mich an dem Wort fasziniert, ist der Genuss: „Ich sitze und trink mein Wittenbergisch´ Bier…“ EG 369, 3 3. Man halte nur ein wenig stille und sei doch in sich selbst vergnügt, wie unsers Gottes Gnadenwille, wie sein Allwissenheit es fügt; Gott, der uns sich hat auserwählt, der weiß auch sehr wohl, was uns fehlt.

III „Ich sitze und trink mein Wittenbergisch´ Bier…“ Luther als Genusstheologe – wer hätte das gedacht! Wir haben jedoch jede Menge Hinweise und Zeugnisse für Luthers Genussfähigkeit – und wir haben unsere Schwierigkeiten damit. Von dem sogenannten radikalen Flügel der Reformation um Thomas Müntzer, die Schwärmer und die Sympathisanten der Bauernaufstände ist Luther verächtlich als das „sanft lebende Fleisch zu Wittenberg“ bezeichnet worden – also als ein Mann, der um des eigenen Wohlergehens Willen vor den radikalen politischen Konsequenzen seiner Lehre zurückgeschreckt ist. Und angesichts des Massenelends in der damaligen Bevölkerung und der gewaltsamen Unterdrückung des massenhaften Aufbegehrens dagegen können wir dieser Kritik durchaus etwas abgewinnen. - Das sanft lebende Fleisch erinnert vielleicht auch an den Vorwurf gegen Jesus, der von seinen Gegnern einmal als „Fresser und Weinsäufer“, wie Luther drastisch übersetzt, bezeichnet wird. Auch da haben wir durchaus ein ambi-

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valentes, unbehagliches Gefühl, wenn wir Jesus, natürlich, in Schutz nehmen. Generell haben wir in der Kirche mit dem Genuss so unsere Schwierigkeiten. Genuss setzt Einverständnis voraus. Das Einverständnis mit der Welt, wie sie ist. Das verschafft uns das Recht zu genießen. Aber wir sind über die Maßen sensibel dafür, dass die Welt nicht so ist, wie sie sein sollte. Wir sehen das Leiden in der Welt und fühlen uns aufgefordert, etwas dagegen zu tun. Wir sehnen uns nach Gerechtigkeit und Frieden, und erst wenn das Leiden aufgehoben ist, würden wir die Ruhe und das Recht empfinden, uns ohne schlechtes Gewissen dem Genuss hinzugeben. Dieses untergründige Schuldgefühl wird in unserem modernen Bewusstsein unendlich genährt durch unser Wissen um die reale Schuld, die unser Genuss, unser Komfort, unser Wohlstand impliziert. Unser Reichtum – und die Art, wie wir ihn genießen – beruht de facto auf der Armut der anderen. Ökonomisch gesehen leben wir auf Kosten von Millionen ausgebeuteten Menschen, Männern, Frauen und Kindern. Ökologisch gesehen leben wir auf Kosten der Biosphäre der Erde. Unseren Nachkommen hinterlassen wir einen geplünderten Planeten und ein zu Grunde gewirtschaftetes Gemeinwesen. Kann man da noch reinen Gewissens genießen? Luther selbst hätte allen Grund gehabt zu verzweifeln – und in der Tat hat er sich ja Zeit seines Lebens mit Depressionen, Traurigkeit und Verzweiflung herumgeschlagen. Kriege und Hungersnöte bedrücken die Menschen, bitterkalte Winter und heiße Sommer machen ihnen das Leben schwer, jenseits der Stadtmauern lauern Wölfe und Bären, von Räubern und anderen menschlichen Bedrohungen ganz zu schweigen. Luther lebt in einer harten und feindlichen Welt, und doch schaut er auf sie mit Glück und Dankbarkeit: Er kennt Hunger, Kälte, Armut, Krankheit – und dennoch wird er nicht müde, die Schöpfung zu preisen, denn Gott lebt

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und wirkt in allem, er „lässt Sonne und Mond uns scheinen und den Himmel, Feuer, Luft und Wasser uns dienen, aus der Erde Wein, Korn, Futter, Speise, Kleider, Holz und alles nötige wachsen, gibt Gold und Silber, Haus und Hof, Weib und Kind, Vieh, Vogel, Fische“ – und das alles ist für alle da, für Adlige und Bauern, Bürger und Geistliche, selbst für die „ärgsten Schälke“ ist gesorgt. „Und das alles die Fülle und überschwänglich, alle Jahre, alle Tage, alle Stunden, alle Augenblick. Denn wer kann allein die Güte rechnen, dass er einem gibt und erhält ein gesund Auge oder Hand?“ – „Das meine und glaube ich, dass ich Gottes Geschöpf bin, das ist, dass er mir gegeben hat und ohne Unterlass erhält Leib, Seele und Leben, Gliedmaßen klein und groß, alle Sinne, Vernunft und Verstand und sofort.“ Luther rekurriert hier also auf die Schöpfungstheologie. Ebenso elementar wie die Dialektik des „unglücklichen Bewusstseins“ (um einmal mit Hegel zu sprechen) ist bei Luther also die (scheinbar) „naive“ Freude an der Fülle der Schöpfung, die Freude am puren Lebendigsein mit allen Sinnen, Verstand und Vernunft. – Zu dieser Lust und diesem Glück muss man sich allerdings – im Sinne einer „zweiten Naivität“ nach Paul Tillich – durch gefühlten Weltschmerz und bedrängende Theodizeefrage allererst hindurcharbeiten – dann aber ist die Dankbarkeit für das bloße Dasein und vielleicht das Lob des Schöpfers die Zuflucht, die der geplagte Geist jederzeit finden kann. „Unser Herrgott gönnet uns wohl, zu essen und zu trinken und fröhlich zu sein. Darum hat er so viele Dinge geschaffen … Gott will, dass wir fröhlich sind und hasst die Traurigkeit. Hätte er nämlich gewollt, dass wir traurig sind, dann hätte er uns nicht die Sonne, den Mond und die anderen Schätze der Erde gegeben, die er uns alle, uns zur Freude, schenkt. Er hätte Finsternis geschaffen, er hätte nicht zugelassen, dass die Sonne immer wieder aufgeht und dass der Sommer wiederkommt.“ – „Darum müssen auch wir uns halten wie Gott, der alles wegwirft und verschleu-

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dert. Er wirft den Himmel, die Erde, Gold, Silber, Getreide weg und lässt seine Sonne aufgehen über Gut und Böse. Nicht allein über die Frommen, die ihm dafür danken, sondern auch über die Bösen, die ihm nicht danken, sondern alle Gaben missbrauchen.“ Genuss und Lebenslust ist also eine Art „Wegwerfen“ und „Verschleudern“ der Gaben und Fähigkeiten, der Gefühle und Emotionen. Religion folgt ihrem Wesen nach einer Ökonomie der Verschwendung – mit dieser Erkenntnis nimmt die moderne Religionssoziologie ihren Anfang. Man könnte also theologisch sagen, der Genuss ist der eigentliche Naturzustand jeder Kreatur, die Gott ja sozusagen alle auch aus reiner Lust und Liebe geschaffen hat. Der menschliche Genuss gründet in der Einsicht, die das Kinderlied so formuliert: „Gott der Herr hat an allen / seine Lust, sein Wohlgefallen.“ Oder mit dem Psalm gesprochen: „Der Herr ward meine Zuversicht. Er führte mich hinaus ins Weite, er riss mich heraus, denn er hatte Lust zu mir.“ Ich komme damit zu meiner These: Nicht der Genuss also hat sich zu rechtfertigen, sondern das Schuldgefühl, das wir mit ihm verbinden – und zu rechtfertigen haben sich die Strukturen in der Organisation dieser Welt, die jedem Genuss die Bürde der Schuld auferlegen. Das Schuldgefühl, das unsere Genussfähigkeit untergräbt und eine Atmosphäre der Missmutigkeit verbreitet, verdächtigt Luther – genialer unbestechlicher Psychologe, der er ist – als eine Art selbst auferlegte Traurigkeit, die sozusagen als Vorleistung dienen soll oder Ersatzleitung: zur Vermeidung des wirklich schmerzlichen Bewusstseins objektiver Schuldverstrickung. Dies zu durchschauen, ermöglicht jene zweite Naivität, in der ich ganz und gar genießen kann, weil Gott mich ganz und gar

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von der Schuld freispricht, für deren Überwindung und Wiedergutmachung ich mich ganz und gar engagiert einsetzen kann….

* Gelassenheit und Genuss – zwei Dinge, die trefflich zueinander passen und die wir beide so nötig haben, gerade um in den Bedrängnissen der Gegenwart zu bestehen. Im Glauben will Gott uns beides schenken: Die Gelassenheit des Vertrauens in die Selbstwirksamkeit des Evangeliums und den Genuss der Lebendigkeit in dieser Welt, in die er selbst, Gott, uns gerufen hat. Das sollen wir uns von Nichts und Niemand nehmen lassen. Amen.

EG 369, 7 7. Sing, bet und geh auf Gottes Wegen, verricht das Deine nur getreu und trau des Himmels reichem Segen, so wird er bei dir werden neu. Denn welcher seine Zuversicht auf Gott setzt, den verlässt er nicht. Text und Melodie: Georg Neumark (1641) 1657

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Karsten Petersen

Predigt am Reformationstag 2008 in der Auferstehungskirche Ellenberg, zugleich ein Beitrag der Kirchengemeinde Kappeln zum Bugenhagenjahr 20081

I. Liebe Schwestern und Brüder, die folgende Predigt hielt der Reformator Johannes Bugenhagen am 26. Juni 1524 in der Stadtkirche zu Wittenberg. Ich habe sie allerdings gekürzt, denn die Reformatoren pflegten lang zu predigen. II. Liebe Freunde, aus der Schrift wissen wir, dass Gottes Gerechtigkeit aus dem Glauben kommt, nicht aus Werken. Das heißt, dass wir, weil es kein menschliches Verdienst vor Gott gibt, uns mit unseren Werken nichts verdienen können, sondern alles, was wir haben, haben wir aus Gottes Hand erhalten. Aber dieses Evangelium (das heute der Predigttext ist) sagt das Gegenteil: „Gebt, und es wird euch gegeben.“ Und das hört sich an, als ob die Gerechtigkeit Gottes aus den Werken der Menschen komme, so als ob, wenn ich gebe, der Herr zurückgibt, und

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Die Wiedergabe der Predigt Bugenhagens folgt auszugsweise und mit kleinen Abwei-

chungen der Übersetzung Wolfgang Wischmeyers. Vgl. Johannes BUGENHAGEN, Lukas 6,36-42 [Predigt vom 26. Juni 1524], in: Die Menschenfreundlichkeit Gottes bezeugen. Diakonische Predigten von der Alten Kirche bis zum 20. Jahrhundert, hrsg. v. Gerhard K. SCHÄFER, Heidelberg 1991 (VDWI 4), S. 156-163. Den Hinweis auf diese Predigt verdanke ich Dr. Tim Lorentzen, München.

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mit eben solchem Maß,  ja, es hört sich an, als ob die Gerechtigkeit aus Werken komme. Antwort: Diese Werke, wenn sie wirklich vor Gott gut sind, kann niemand tun, er sei denn vor Gott gerecht. Auch können alle Werke, die der Mensch tut, ihn nicht sicher machen, was der Sohn Gottes ist. Deshalb ist es nötig, dass es etwas gibt, was die Herzen sicher macht, also dass Du denkst, durch Christus sei für Deine Sünde genug getan. Anders kannst Du durch Deine Werke kein beruhigtes Gewissen bekommen. III. Liebe Freunde, die Schrift zeigt uns einen Preis, kein Verdienst. Wer gut handelt, erlangt einen Preis, kein Verdienst. Denn wenn es ein Verdienst wäre, dann wäre es nicht Gnade. Unser Heil ist aber Gnade, also kein Verdienst. Der Herr will nicht, dass wir um eines Verdienstes willen wohltun, denn dann wären wir Taglöhner. Der Herr reizt uns in der Schrift durch das Wort, dass wir wohltun, weil er uns einen Preis geben will, und er tat das mit guten Versprechungen. Wenn ich meinem Sohn sage: Bring mir eine Kanne Bier und ich gebe dir einen Mantel  wie kann er sich den Mantel dadurch verdienen? Ein Christ tut also seine Werke, weil es Gott gefällt, nicht weil er ein großes Verdienst erwerben will. Du bekommst also einen Preis, nicht weil du dich angestrengt hast, sondern weil es der Herr versprochen hat. Wenn einer gute Werke tut, so folgt der Himmel, obwohl man ihn nicht gesucht hat. Gott wahrt sein Wort. Deshalb kommt die Gerechtigkeit aus dem Glauben, und die Menschen haben keinen Verdienst.

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Warum also sagt die Schrift: „Seid barmherzig usw.“ und reizt zu guten Werken? Antwort: Christen haben es nicht nötig, dass ihnen das Gesetz gepredigt wird, sondern dass sie gemahnt werden. So mahnt auch hier Christus: „Gebt und es wird euch gegeben usw.“ Und er setzt die Verheißungen hinzu, mit denen er mahnt, dies oder jenes zu tun. Wie ein Vater den Sohn daheim ermahnt, dieses oder jenes zu tun. IV. Es ist aber wahr nach dem Recht Gottes und der Menschen. Wie wird denn der Sohn Erbe des Vaters? Durch Werke? Nein, sondern durch Geburt, weil er als Erbsohn geboren wird. Er macht dir Mühen und Sorgen, dennoch ist das gesamte Vermögen gemäß seiner Rechte sein. So ist es auch mit den Christen, die keine Knechte sind, sondern Söhne, sich nicht wie Knechte fürchten, wenn sie etwas nicht getan haben. Es hilft ihnen die Barmherzigkeit, soweit sie es tun; wenn sie es nicht tun, verzeiht ihnen dieselbe Barmherzigkeit. So wird man auch nicht zum Erben Gottes, wenn man viele gute Werke tut, sondern weil man als solcher geboren ist. (Ich rede aber nicht über die Geburt dem Fleisch und Blute nach, sondern jene durch die Wiedergeburt durch Gott.) Aber um beim Gleichnis zu bleiben: Wenn der Sohn erwachsen ist, so tut er seine Werke aus keinem anderen Grund als dem Vater zu Willen, wenn er bisweilen abirrt, so verbessert ihn der Vater; er bleibt aber der Erbe. Er arbeitet also nicht, um die Güter zu erlangen, sie sind vorher schon seine, sondern will den Willen des Vaters tun.

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So lebt ein Christ nicht wie ein Schwein, sondern macht alles für die übrigen Menschen; um Gott zu gefallen, tut er die Werke, die folgen. Dieser Vergleich ist deutlich, und diese Richtung weist Christus, wenn er es uns mit den Worten zeigt: „Seid barmherzig!“ Denen, die im Glauben noch nicht sicher sind, kann nicht genügend geantwortet werden, dass hier deutlich steht: „Gebt und es wird euch gegeben.“ Das soll gleichsam heißen: Dem, der gibt, dem wird gegeben usw. Dass man jedoch glauben sollte, es würde als Verdienst gutgeschrieben, das sei fern! Also wird der Glaube gezeigt, weil Gott diese Werke nicht haben will, es sei denn, sie kommen im Glauben aus vollem Herzen. V. Liebe Freunde, was aber noch viel deutlicher ist: „Wie der Vater im Himmel usw.“ Er will keine Heuchelei haben, sondern alle unsere Werke müssen wie die des Vaters sein, der den Leib nährt, der Seele Heil gibt und diese Werke ohne Ansehen unserer Person macht und so seine Barmherzigkeit zeigt. Und er macht sie aus freiem Willen, keiner kann ihm befehlen. So handeln die Christen ihrer eigenen Natur entsprechend; sie werden dazu nicht gezwungen. Wie Gott seiner Natur nach das Gute gibt, so auch die Christen: freiwillig, nicht mit Zwang. Gott zeigt seine Barmherzigkeit nicht, weil er rechtschaffen werden will  wer das sagte, wäre töricht , sondern um uns etwas zugute kommen zu lassen. So handelt der Christ auch nicht, um gerecht zu werden, sondern um seinem Nächsten zunutze zu sein.

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Und so sieht der Christ auch nicht darauf, ob jemand rechtschaffen oder ein Übeltäter, klug oder dumm ist, ob er es verdient oder nicht, sondern er soll darauf sehen, wer es nötig hat. Man darf nicht denken: Dieser, weil er übel gehandelt hat, verdient es nicht, dass ich ihm wohltätig bin. Du musst von deinem Recht Abstand nehmen, und, was Böses dich immer getroffen hat: Vergiss es! Denn wenn Gott so mit uns handeln wollte, dann würden wir niemals seine Barmherzigkeit erlangen. Demnach müssen alle unsere Taten aus dem wahren Glauben kommen. Und dort zeigt sich auch die Natur des Glaubens im Menschen, damit du es bedenkst, wie Gott mit dir gehandelt, dir seine Barmherzigkeit und Gnade gezeigt und dich vom Tod erlöst hat usw. So handle auch du mit deinem Nächsten! Wie du Gottes Wohltat in dir wahrgenommen hast, so mache es vor deinem Nächsten. Gott hat dir umsonst gegeben. Gib du umsonst! So weit über das zu Vergleichende. VI. Liebe Freunde, Christus unterscheidet in diesem Evangelium die Barmherzigkeit nach drei Teilen, damit wir wissen, was das ist, Barmherzigkeit, die wir dem Nächsten schenken. Erstens: nicht verurteilen; zweitens: verzeihen; drittens: dem Notleidenden zu Hilfe kommen. Das ist die Bedeutung, die in der Schrift der Barmherzigkeit zukommt. Und dies alles muss man so machen, dass es aus reinem Herzen, nicht aus Heuchelei kommt.

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Mache es wie Gott: Liebe den Feind, verzeih ihm und gib ihm, wenn er Mangel hat! Lies es im selben Kapitel! Besser als ich es sagen kann, sagt Jesus: „Liebet eure Feinde usw.“ VII. So weit, liebe Schwestern und Brüder, die Predigt Johannes Bugenhagens vom 26. Juni 1524. Möge sie uns im Jahr 2008 genützt haben. Und der Friede Gottes, welcher höher ist als alle Vernunft, der bewahre unsere Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Andreas Schulz-Schönfeld

Predigt am 4. November 2007 über Micha 6, 6-8 Gehalten in der Johanneskirche in Hamburg-Eidelstedt, die sich seit Juni 2006 gemeinsam mit den drei weiteren Gemeinden des Stadtteils zur Kirchengemeinde Eidelstedt zusammengeschlossen hat. Für Pastor Andreas Schulz-Schönfeld war dies zugleich der Abschiedsgottesdienst nach neunjähriger Tätigkeit aus der Johanneskirche/Kirchengemeinde Eidelstedt. (Der Pastor baut sichtbar eine Umzugskiste zusammen.) Liebe Gemeinde, viele solcher Umzugskisten habe ich in den letzten Wochen in der Hand gehabt. Wir wollten unsere Sachen einpacken und standen vor den Kisten und haben uns gefragt: Was ist uns wichtig von all den Dingen, die im Haus sind. Was brauchen wir wirklich, was ist uns wichtig? Und wir haben anhand dieser Frage versucht, nicht einfach alles zu verpacken, sondern zu sortieren. Und dann bin ich in den Keller hinuntergestiegen. Da standen schon Kisten. Zum Teil noch vom letzten Umzug. Zum Teil auch mit Dingen, die wir in den letzten Jahren dort hineingepackt und in den Keller geschleppt hatten. Da gab es manche Entdeckungen: Mensch, das haben wir im Keller, das wussten wir ja gar nicht mehr. Und bei manchen Dingen haben wir uns nur gewundert, mit was man sich alles belastet. Bei manchen Sachen allerdings war unsere Reaktion sehr unterschiedlich. Da gab es Dinge, die von meiner Frau stammten, wo ich sagte: Was ist das denn. Das tun wir am Besten gleich weg. Aber das war dann ein Stück von ihrer Oma, das ihr wichtig war. Ehrlich gesagt: Meistens waren es Dinge von mir, an denen ich hing, und die meine Frau gern aussortieren würde. Wir haben uns dann so geeinigt, dass jeder eine Erinnerungskiste bekommen hat, wo er eine Sache als Erinnerung an diesen

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oder jenen Verwandten aufheben konnte. Denn uns war klar: Wir wollen unser Leben nicht als lebendes Museum vergangener Generationen verbringen. Die Erinnerung an liebe Verwandte und manches Sammlerstück braucht einen Platz, aber es geht darum, gemeinsam zu überlegen: Was brauchen wir, und wie wollen wir unser tägliches Leben einrichten. Vielleicht denken Sie jetzt: Warum erzählt er vom Kistenpacken und Sortieren? Weil mir daran deutlich geworden ist, was Reformation bedeutet. Dazu komme ich gleich. Und weil mir dabei einige Dinge klar geworden sind über das, was unsere Gemeinde im letzten Jahr so beschäftigt hat. Der Weg bis zur Fusion war schon ein Kraftakt. Viele hatten gedacht, jetzt ist es geschafft. Aber mit der Fusion hatten wir quasi nur den Auszug und das Zusammenziehen unter dem einen Dach der einen Gemeinde beschlossen. Und nach dem Fusionsgottesdienst haben wir schnell gemerkt: Jetzt fängt das Kisten packen, das Zusammensuchen, was einem als Gemeinde wichtig ist oder war erst richtig an. Aber zum wirklichen sortieren, jedenfalls dem gemeinsamen sortieren, war eigentlich gar keine richtige Zeit. Und so wurden schnell die wichtigsten Dinge zusammengepackt. Das war ein innerer Prozess in den ehemaligen Gemeinden, z.T. aber auch ein äußerlicher. Denn in der ehemaligen Johannes- und Christusgemeinde fanden bald keine Gottesdienste mehr statt. Und so standen die beiden ehemaligen Gemeinden quasi mit ihren Kisten bei der Marienkapelle vor der Tür und wollten einziehen und ihre Sachen unterbringen. Und in der Marienkapelle dachten einige: Was schleppen die da plötzlich für Dinge an. Und als die Kisten aufgemacht wurden, da war das wie bei uns im Keller: Bei manchen Dingen sagten die anderen: „Was soll das denn, das brauchen wir nicht, das kann doch weg.“ Und das gab dann auf allen Seiten Verletzungen. Inzwischen ist das aber sehr viel besser. An der Elisabethkirche dagegen hat man sich manchmal

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gewundert, so war mein Eindruck, was die anderen immer von Kisten auspacken und sich neu sortieren sprechen. Das gemeinsame Haus Gemeinde ist oft noch sehr unkonkret und schwer zu fassen. Die Bautätigkeit in beiden Standorten ist vielleicht der Versuch, sich selbst die Veränderung, den Auszug und das Sortieren erfahrbar zu machen. Das Sortieren kostet Zeit und ist ein längerer Prozess. Aber die Zeit ist sinnvoll investiert, wenn man gemeinsam darüber nachdenkt, was einem wichtig ist, und zwar anhand unserer Grundlage, der Bibel. Und damit komme ich dazu, was das Kistenpacken mit der Reformation zu tun hat. Luther hatte seine Thesen angeschlagen, um auf eklatante Missstände bei der Praxis des Ablasshandels hinzuweisen und diese abzustellen. Mehr hatte er gar nicht im Sinn gehabt. Was man seinen Formulierungen aber abspürte, dass war eine unerhörte Glaubensgewissheit und innere Freiheit. Sie war bei ihm eine existentielle Erfahrung geworden nach langem Ringen um die Frage: Wie bekomme ich einen gnädigen Gott. Gott nimmt mich an, allein aus Gnade, durch den Glauben, durch Christus. Diese Erkenntnis war ihm beim Studium der Bibel gekommen, bei einer Stelle aus Habakuk, die Paulus im Römerbrief aufnimmt: „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ Gerade deswegen störte ihn auch der Ablasshandel so. Weil er vorgaukelte, man könne an Glauben und aufrichtiger Reue vorbei Heilsgewissheit durch Geld erwerben. Spätestens als er merkte, dass die römische Kirche Reformen nicht annehmen würde, wurde die Reformation mehr zu einem Auszug aus dem bisherigen Haus der katholischen Kirche. Und mit zunehmender Freiheit begannen Luther und die anderen Reformatoren Kisten zu packen und zu sortieren: Was brauchen wir von dem Überlieferten, was passt zur Erkenntnis: allein aus der Schrift, allein aus Gnade, allein durch Glauben, allein Christus im Blick. Stellen Sie sich das einmal vor: In einer Zeit, in der es hieß, dass es außerhalb der Kirche kein Heil gibt, gibt es plötzlich Menschen, die sich

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die Freiheit nehmen zu sagen: Wir sortieren und schauen das Überlieferte genau durch und formieren die Kirche neu. Und das waren keine kleinen Veränderungen: - Der Satz, dass Konzilien irren können, trennt Luther von der ganzen kirchlichen Tradition und Überlieferung - Da werden die Heiligen-, die Bilder und Hostienverehrung abgeschafft, ein Bruch mit Volksfrömmigkeit und Brauchtum - Das Zölibat fällt: Luther, der Mönch, heiratet eine Nonne - Und von den 7 Sakramenten bleiben bei Luther nur noch Taufe und Abendmahl übrig. Und das alles geschieht in einer ungeheuren Freiheit, gespeist aus einer Glaubensgewissheit. Und das hat die Menschen angesprochen und begeistert. Und was kam danach? - Die lutherische Orthodoxie. Die Generationen danach konnten mit dieser Freiheit nicht umgehen. Sie machten faktisch Luther zum Heiligen und versuchten pedantisch nachzuahmen, was er vorgelebt hatte. Und heute? Ich denke, wir brauchen heute eine erneute Reformation, oder eine Fortsetzung der Reformation. Das wird immer deutlicher, sogar in der EKD. Jetzt zur Stunde ist der Eröffnungsgottesdienst der Synode in Dresden, mit der die Dekade vor dem 500 jährigen Jubiläum des Thesenanschlags 2017 eingeläutet wird. Reformation – Eine Neuausrichtung und Neubesinnung ist nötig. Wir sind in Eidelstedt sowieso schon am sortieren. Vielleicht hat das ja sein Gutes und soll so sein. Vielleicht kann die Gemeinde hier gleich richtig sortieren, auch in evangelischer Freiheit die lutherische Tradition kritisch sichten anhand der Kriterien, die Luther selbst genannt hat: an der Bibel, an Christus, an der Gnade und dem Glauben. Dabei gibt es manche Schätze zu heben. Manches, das vielleicht vermisst wird, kann von unseren katholischen Schwestern und Brüdern zurückgeholt werden.

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Ich denke hier an die Beichte, oder liturgische Gewänder wie die Stola hier. Manche Kisten gibt es aber auch im Keller, mit denen wir uns schwer abschleppen, von denen wir uns freimachen dürfen. Denn die Menschen hier warten darauf, dass ihnen gezeigt wird, wie sie Gott begegnen können, wie sie das erleben, dass Gott befreit, vergibt, annimmt, tröstet, neuen Mut schenkt. Unsere Aufgabe ist es, Gottes Gnade zu verkündigen – nicht billig und nicht als Museumsstück, sondern so, dass die Menschen, dass wir selbst es begreifen. Nun habe ich schon so lang über reformatorisches Kistenpacken gepredigt, aber als Prediger in lutherischer Tradition kann ich keine Predigt ohne Auslegung eines Bibeltextes halten. Und dieser Text passt so gut zu der Frage: Was kommt in die Kiste zu den Dingen, auf die es in jedem Fall ankommt. Es ist ein Text aus dem Propheten Micha: Womit kann ich dem Herrn entgegentreten, mich beugen vor dem Gott der Höhe? Soll ich ihm entgegentreten mit Brandopfern, mit einjährigen Kälbern? Hat er Wohlgefallen an Tausenden von Widdern, an Zehntausenden von Bächen des Öls? Soll ich meinen Erstgeborenen hingeben für meine Schuld, die Frucht meines Leibes für die Sünde meiner Seele? Angesagt hat Er dir, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir verlangt: Nichts als Recht üben, die Güte lieben und bescheiden wandeln mit deinem Gott. Womit kann ich Gott entgegentreten? So fragt der Michatext. Was habe ich vorzuweisen? Was kann ich Gott geben, damit ich einen gnädigen Gott finde? Erster Gedanke: mit äußeren Gaben, mit Opfern. Aber was wäre da genug? In den Fragen wird das Opfer immer mehr gesteigert. Ein einjähriges Kalb, oder tausende Widder oder gar der Erstgeborene, also das eigene Kind?

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Spätestens jetzt wird deutlich, dass es nur rhetorische Fragen sein können und die Antwort darauf jedes Mal „Nein“ lauten muss. Denn bei Abraham und seinem Sohn Isaak hat Gott unmissverständlich klar gemacht, dass er das nicht will, das Opfern der Kinder. Stattdessen wird von Abraham gesagt: Abraham glaubte Gott, und das wurde ihm gerechnet zur Gerechtigkeit. Das, worauf es ankommt, ist etwas anderes: Angesagt hat Er dir, Mensch, was gut ist und was der Herr von dir verlangt: Nichts als Recht üben, die Güte lieben und bescheiden wandeln mit deinem Gott. „Angesagt hat Er dir“ – Wo hat er das gesagt, könnte man fragen? In der Schrift. Micha gibt also keine neue Offenbarung, sondern bekräftigt sie. Und er weist darauf hin, dass zum Hören das Handeln, das Recht üben, hinzugehört. Angeredet ist der Mensch, und zwar in zweifacher Weise. Gott hat dir gesagt, was gut für dich ist aufgrund deines Menschseins. Darunter werden die Gebote verstanden zwischen Mensch – und Mensch. „Und was der Herr von dir verlangt“ – dies weist auf die Gebote zwischen Mensch und Gott. Ich finde die Worte von Micha deshalb so wichtig, weil im evangelischen Bereich Evangelium und Freiheit oft missverstanden worden sind, als ob Evangelium und Freiheit keine Verbindlichkeit fordern würden. Heute merken wir: Manchmal ist es Evangelium, sich als Mensch sagen zu lassen, was gut für uns ist, uns Grenzen setzen zu lassen und auch ein bestimmtes Handeln einzufordern. Hier werden wir aufgefordert zu: Recht üben– das bedeutet Schutz für die Schwächeren und der Einsatz dafür, allen Menschen zu ihrem Recht zu verhelfen. Güte lieben – Güte kann man nicht tun, wie man Recht übt. Güte ist mit Liebe verbunden. Sie darf nicht aus Pflicht geübt werden, sondern muss aus der Liebe erblühen.

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Demütig wandeln – ein ungewohntes Wort in heutiger Zeit. Ein Glaube, der sich mit dem Gottesverhältnis brüstet, ist Glaube ohne Scham. Und Glaube ohne Scham ist kein Glaube mehr, sagt Martin Buber. Recht üben, Güte lieben, demütig wandeln vor Gott - diese drei Forderungen möchte ich in die Kiste packen zu den Dingen, die wir unbedingt in unserem reformatorischen Glauben brauchen. Und damit sind wir dann in guter Gesellschaft. Denn diese drei Aufforderungen enthalten inhaltlich auch nach jüdischer Auslegung die Essenz des Glaubensverständnisses der biblischen Weisung. Denn die 613 Mitzvot (Weisungen) werden gern in den drei biblischen Worten zusammengefasst: „Wahret das Recht und übt Gerechtigkeit“ (Jesaja 56,1). „Suchet mich, damit ihr lebt“ (Amos 5,4). „Der Gerechte wird aus Glauben leben.“ (Hab 2,4). Hier schließt sich nun der Kreis zu Luthers reformatorischer Erkenntnis, die sich gerade an dem letzten Satz entzündet hat. Für mich bleibt: Wir brauchen Freiheit, Mut und Weisheit, unsere Kisten zu packen. Wir tun gut dabei, neu auf die biblischen Worte zu hören und uns von ihnen dabei leiten zu lassen. Darum sollten wir in unserer Gemeinde gemeinsam die Bibel lesen, uns gegenseitig erzählen, was uns wichtig ist, woran unser Herz hängt. Wenn wir uns gemeinsam neu auf unseren biblischen Grund verständigen, können wir hoffentlich in fröhlicher Freiheit mit manchen Unterschieden in den Traditionen der Gemeinden gelassener umgehen und gemeinsam unser Glauben und Handeln zusammenbringen – zum Segen unserer Gemeinde und als Segen für die Welt. Amen.

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Monika Schwinge

Todesangst und Lebenshoffnung. Luthers Vermächtnis an uns Predigt am Reformationstag 2007 Liebe Gemeinde! Von der „süßen Wundertat“ Gottes spricht und singt Martin Luther in der 1. Strophe des Liedes „Nun freut euch lieben Christen g'mein.“ Und wir haben gerade in dieses Lied eingestimmt. Zergeht einem das, was Luther damit gemeint hat, so auf der Zunge wie ein Lutherbonbon, das seit einigen Jahren am Reformationstag überall verteilt wird? Nein, so einfach wohl nicht. Und das wird sofort in der 2. Strophe des Liedes deutlich, die so gar nicht süß und fröhlich klingt: „Dem Teufel ich gefangen lag, im Tod war ich verloren.“ Luther erzählt hier von seiner Angst, vor Gott nicht bestehen zu können, von seinen so leidenschaftlichen Versuchen, den Geboten Gottes zu entsprechen, von seinen immer neuen Erfahrungen mit Nichtgenügen und Mißlingen, von seinem Scheitern mit seinen Bußübungen. Der Teufel, das war für Luther die Macht, die ihn gefangen hielt, die ihn nicht loskommen ließ von seinem stets neuen Verfehlen des Guten, das er eigentlich doch so sehr wollte. Mag uns heute die Sprache und Ausdrucksweise Luthers fremd erscheinen, so entsprechen Erfahrungen, die Menschen heute machen, doch auch seiner Erfahrung. Anders als bei Luther ist die Angst des Menschen heute eher in seltenen Fällen die Angst vor Gott, primär ist es die Angst des Menschen vor sich selbst, vor anderen Menschen, vor Unglück. Es ist die Angst, vor sich selbst, vor anderen nicht bestehen zu können, dem Bösen und dem Übel ausgeliefert zu sein. Allerdings ist es nicht so, daß, wie oft zu hören, Gott überhaupt keine Rolle mehr spielt. Es gibt durchaus Erwartungen im Blick auf Gott, es gibt eine auf Gott gerichtete Sehnsucht: Es möge doch Gott dafür stehen, daß man nicht auf Gedeih und Verderb auf sich selbst

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gestellt ist und vom Urteil über sich selbst und vom Urteil anderer abhängig ist. Luther erfuhr Befreiung von seiner Angst durch intensives Studium der Bibel. Insbesondere am Christusgeschehen, das wird in den Strophen 4 7 des Liedes „Nun freut euch...“ eindrücklich beschrieben, ging ihm auf: Von Gott sind wir Menschen von Ewigkeit her zu seinen Geliebten erwählt und bestimmt. Von Gott ist uns zugedacht, daß wir in Gemeinschaft mit ihm und in Gemeinschaft miteinander verantwortlich und in Freiheit unser Leben und Zusammenleben gestalten, dafür Sorge tragen, daß dieses gut ist. Allein, Gott weiß auch, wie begrenzt, anfällig und gefährdet wir in dieser Welt sind. Er läßt sich dies zu Herzen gehen, nimmt, in Christus Mensch geworden, daran teil und belastet sich selbst damit, ja er erleidet es in Christus bis in den Tod hinein an sich selbst, gibt sich ganz an uns hin. Gerade so bleibt er uns in großer Treue und Barmherzigkeit verbunden. Er spricht uns zu: Ihr, jeder und jede von Euch, Ihr seid mir lieb und recht und wert, obwohl so vieles an Euch nicht recht und liebenswert ist. Ich, Euer Gott, stehe für Euch ein, unabhängig von Euren Leistungen und Fehlleistungen, von Euren Stärken und Schwächen, unabhängig von dem, was Ihr schafft und nicht schafft. Meine Liebe gibt Euch einen Wert, der Euch nicht verloren gehen kann und den Ihr deshalb weder Euch selbst noch irgendeinem anderen abzusprechen braucht. Ihr werdet bestehen, weil ich, Euer Gott, für Euch stehe, unbedingt, ohne Wenn und Aber. Vertraut nur darauf! Süße Wundertat war das für Luther, bedeutete für ihn Freiheit und Grund zur Hoffnung; ja, wie er in seinem Lebensrückblick kurz vor seinem Tod sagt, war diese Entdeckung gleichsam „Eintritt in die weit geöffneten Tore des Paradieses.“ Die Verkündigung der süßen Wundertat Gottes, das, so erkennt Luther, ist die entscheidende Aufgabe der Kirche allezeit. Jedem Menschen soll Erfahrung damit ermöglicht werden in guten wie in bösen Tagen.

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Liebe Gemeinde! Sehr eindrücklich kommt in Luthers Auslegung des 118. Psalms zum Ausdruck, was das süße Evangelium im Glück ebenso wie in der Bedrängnis vermag. Die Auslegung ist einem Freund, einem Abt in Nürnberg, gewidmet. Luther hat sie im Jahr 1530 verfaßt, als er als Gebannter und Geächteter auf der Feste Coburg saß. Aus der „Wüste heraus“, so schreibt Luther, also in einer Situation der Einsamkeit und Bedrängnis, habe er dies geschrieben. Mit seiner Auslegung des Psalms will Luther nicht nur anderen einen Dienst tun, er will sich damit auch selbst etwas Gutes tun. In seinem Widmungsschreiben sagt Luther ganz persönlich: „Es ist mein Psalm, den ich lieb habe. Es sind ja doch nicht Leseworte, sondern lauter Lebeworte.“ Überschrieben hat Luther seine Auslegung „Das schöne Confitemini“, d.h. Das schöne Bekenntnis. Der 118. Psalm beginnt mit den Worten: „Danket dem Herrn, denn er ist freundlich, und seine Güte währet ewiglich.“ Hier, an der Auslegung dieses Verses können wir sehr schön sehen, wie unglaublich elementar Luther seiner Freude Ausdruck geben kann: Du darfst nämlich diese Worte („ freundlich“ und „seine Güte“) nicht so kalt oder roh lesen..., sondern du mußt bedenken, daß es lebendige, vortreffliche und reiche Worte sind, die alles, alles in sich fassen und einprägen: Nämlich daß Gott freundlich ist, nicht wie ein Mensch, sondern von Grund seines Herzens geneigt und bereit, immer zu helfen und wohlzutun. Das heißt: Unablässig tut er für uns immer und immer das Beste, erschafft uns Leib und Seele, behütet uns Tag und Nacht, erhält uns unaufhörlich am Leben, heißt Sonne und Mond uns scheinen ...kurz: Wer kann das alles aufzählen? ... Darum sollte dieser Vers von Rechts wegen täglich, ja jeden Augenblick in jedes Menschen Herz und Mundes sein, beim Essen, Trinken, Sehen, Hören, Riechen, Gehen, Stehen.... Man hat so manches Mal Luther vorgeworfen, daß er zu viel von Sünde, Tod und Anfechtung rede und zu wenig der Freude am Leben Ausdruck gebe. Hier aber zeigt sich ganz deutlich, wie sensibel Luther für das Gute

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des Lebens ist. Gerade sein Vertrauen auf den guten Gott, der uns Gutes zudenkt, macht ihn empfänglich für die kleinen guten Dinge. In der Regel ist es unter uns eher so: Wir beachten mehr das Leiden und das Unheil, die alltäglichen, auch geringfügigen Zeichen des Guten werden eher als selbstverständlich angesehen. Das Leben bekommt aber eine besondere Qualität, wenn die Empfänglichkeit auch für die kleinen Zeichen und Wirkungen des Guten da ist. In Vers 5 des Psalms heißt es: „In der Angst rief ich den Herrn an, und der Herr erhörte mich in weitem Raum.“ In der Auslegung dieses Verses spricht Luther sehr eindrücklich und bildhaft von der Erfahrung der bitteren Not und der sich damit einstellenden Enge: „Angst“ lautet im Hebräischen gleich wie „was eng ist“, und ich nehme an, daß „Angst“ im Deutschen auch daher kommt: Was eng ist, worin einem Menschen bang und weh wird, und worin er gleichsam eingeklemmt, gedrückt und gepreßt wird, wie es ja die Anfechtungen und das Unglück tun, nach dem Sprichwort: „Es war mir die weite Welt zu eng.“ Umgekehrt besagt der hebräische Ausdruck für „in weitem Raum“ das Entsprechende: Wie „Enge“ oder „Angst“ für Trübsal oder Not steht, so steht „weiter Raum“ für Trost und Hilfe... Denn wie die Not unser „enger Raum“ ist, der uns betrübt und beklemmt, so ist die Hilfe Gottes unser „weiter Raum“, der uns frei und fröhlich macht.... Und dann, ein wenig weiter, formuliert Luther ganz deftig: Es heißt: „Ich rief den Herrn an“. Rufen mußt du lernen (hast du´s gehört?) - und nicht bei dir zu Hause dasitzen oder auf der Bank liegen, den Kopf hängen und schütteln und mit deinen Gedanken dich herumbeißen und verzehren...Nein. Auf du fauler Wicht, auf die Knie gefallen, die Hände und Augen zum Himmel erhoben, einen Psalm oder das Vaterunser vorgenommen und deine Not mit Weinen vor Gott dargelegt, geklagt und angerufen!... Er begehrt es, er will`s haben, daß du deine Not ihm

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vorlegen sollst, nicht auf dir liegen lassen und dich selbst damit abschleppen, quälen und martern. Schließlich möchte ich Ihnen noch einige Sätze Luthers zu V. 6 lesen. V. 6 des Psalms lautet: „Der Herr ist mit mir, darum fürchte ich mich nicht. Was können mir Menschen tun?“ Dazu Luther: Das ist des Psalmisten Trost, und nun schau, wie keck und mutig er wird, und wie er zu prunken und zu rühmen wagt: „Ich fürchte mich nicht. Ich bin unerschrocken und unverzagt. Mir ist nicht weh. Ich bin guten Mutes und sorge mich um nichts. Denn es sind ja wohl Trübsal und Jammer vorhanden, die mich unfreundlich ansehen und gerne hätten, daß ich mich vor ihnen fürchten und sie um Gnade bitten sollte. Aber ich zeige ihnen verächtlich die kalte Schulter und sage: Lieber Butzemann, friß mich nicht! Du siehst wahrhaftig scheußlich genug aus für einen, der sich vor dir fürchten wollte. Aber ich habe einen anderen Anblick, der ist desto lieblicher, der leuchtet mir wie die liebe Sonne bis ins ewige Leben hinein, daß ich dich, du kleines vorübergehendes finsteres Wölklein und zorniges Windlein, für nichts achte!“ Ich finde diese Sätze einfach hinreißend. So tief und zugleich so leicht. Die Bedrängnis wird nicht ausgeblendet, sie ist ganz präsent und mitten darin die Worte des Glaubens. Den V. 17 des Psalms „Ich werde nicht sterben, sondern leben“ hatte sich Luther mit Kreide an die Wand seines Zimmers auf Coburg geschrieben. In Luther begegnet uns keiner, der über den Dingen steht, sondern einer, der das, was ihn zutiefst bewegt, anderen mitteilt zur Freude und zum Trost. Liebe Gemeinde! Luthers intensive Glaubens- und Lebenserfahrung schlägt sich auch nieder in den zahlreichen Briefen, die er an andere geschrieben hat. Luther ist zeit seines Lebens ein unermüdlicher Briefschreiber gewesen. Mehr als 2500 seiner Briefe sind erhalten. Der Kreis seiner Briefpartner war weit, umfasste Familienangehörige und Wegge-

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fährten, ehemalige Ordensbrüder, Pfarrer, Bischöfe und Päpste, Landesherren und Kaiser, Bürgermeister und Ratsherren. Zu seinen bedeutendsten Briefen gehören die Trostbriefe, die er an ihm bekannte und unbekannte Personen gerichtet hat. Hier entfaltete er in hohem Maß seine Fähigkeiten, die ihn als Briefschreiber auszeichnen: Die Unmittelbarkeit der Rede, die Spontaneität der geistlichen Zuwendung, die reiche und tiefe Auswertung der Bibel. Seelsorge im besten Sinn zeigt sich hier. Nur ein paar wenige Beispiele kann ich nennen. Luthers Wittenberger Universitätskollege, der zweite große Reformator, war Philipp Melanchthon. Melanchthon war einer, der sich angesichts von Anfeindungen gegenüber der reformatorischen Sache sehr sorgte. Auf das „zersorgte Herz“, wie Luther sagt, geht Luther in seinen Briefen an Melanchthon mehrfach ein. Dabei geht Luther durchaus nicht zimperlich vor. Kaum einer von uns, in psychologischer Gesprächsführung ausgebildeten Seelsorgern, würde wohl eine solche direkte Rede wagen. Von der Feste Coburg aus schreibt Luther 1530 an Melanchthon: „Ich hasse ganz außerordentlich Deine elenden Sorgen, von denen Du, wie Du schreibst, verzehrt wirst und daß sie so in Deinem Herzen herrschen.“ Und dann trägt er Bibelstellen vor, wie: „Wirf dein Anliegen auf den Herrn“, oder „Der Herr ist nahe denen, die zerbrochenen Herzens sind.“ Aber hier redet Luther nicht als der überlegene Besserwisser, sondern er sagt zugleich: „Ich bin auch öfters zerschlagen, aber nicht dauernd.“ Luther also weiß als Seelsorger, wovon er redet. Er teilt die Sorgen anderer, und deshalb wird auch sein Mahnen ganz ernst genommen. Und dann betont er Melanchthon gegenüber, daß dieser gewiss sein kann, daß er für ihn bete. Luther schreibt: „Ich bete gewiß fleißig für Dich, und es tut mir leid, daß Du unverbesserlicher Sorgen - Blutegel meine Gebete so vergeblich machst.“ Eine zentrale Rolle spielt für Luther das füreinander Beten. In einem Brief an einen sich quälenden Freund gibt Luther einen geistlichen Rat, der zugleich ganz weltlich ist:

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In dieser Art der Anfechtung und des Kampfes ist die Verachtung die beste und leichteste Weise, den Teufel zu besiegen. Verlache den Widersacher und suche jemand auf, mit dem du vertraulich plaudern kannst. Die Einsamkeit mußt Du auf jede Weise fliehen, denn so fängt er Dich am sichersten und stellt Dir nach, wenn Du allein bist. Durch Spott und Verachtung wird dieser Teufel überwunden, nicht durch Widerstand und Disputieren. Daher sollst Du mit meiner Frau und den anderen scherzen und spielen, damit Du diese teuflischen Gedanken zu Fall bringst, und sei darauf bedacht, daß Du guten Mutes bist. ..... Und sooft Dich der Teufel mit diesen Gedanken plagt, suche sofort die Unterredung mit Menschen oder trinke etwas reichlicher oder treibe Scherz und Possen oder tue etwas anderes Heiteres. Immer wieder verweist Luther in seinen Trostbriefen auf das Pauluswort, daß in den Schwachen die Kraft Christi mächtig ist. Mitleiden und Trösten, das kann Luther, weil die Botschaft vom Kreuz die Mitte seines Glaubens ist. Liebe Gemeinde! Die persönliche Glaubenserfahrung Luthers ist so intensiv durchdacht und durchlebt, sie wird von ihm so intensiv weitergegeben. Das hat etwas Bewegendes und Mitreißendes. Mögen wir uns als Einzelne und als Gemeinschaft der Glaubenden, als Kirche also, davon bewegen und mitreißen lassen im Blick auf unseren Glauben, auf unser Bezeugen des Glaubens, im Blick auf die Art und Weise, wie wir unser Miteinander in der christlichen Gemeinde gestalten und wie wir nach außen wirken. Es geht ja dabei um viel! Es geht, auch inmitten von Ängsten, Not und Tod, um die Erfahrung der süßen Wundertat Gottes. Amen.

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Jutta Selbmann

Predigt am Reformationstag 2005 in Groß Rheide und Owschlag über Matthäus 10, 26b – 33 Liebe Gemeinde! „Ein feste Burg ist unser Gott.“ Dieses Lied von Martin Luther fehlt wohl in kaum einem Gottesdienst, in dem besonders an die Reformation erinnert wird. Es ist so etwas wie die Nationalhymne der Protestanten, und ein Kollege erzählte neulich, dass in einigen protestantischen Gegenden Polens die Gemeinde aufsteht, wenn sie dieses Lied singt, so wie man es bei einer Nationalhymne tut. „Ein feste Burg ist unser Gott“, ein Trostlied, ein Trotzlied, ein Lied gegen die Angst, ein Lied zur Vergewisserung, dass man auf dem richtigen Platz ist, dass man auf der richtigen Seite steht, wenn man sich zu diesem Gott bekennt, ein Kampflied, oder was? Die Nationalhymne der Protestanten, so wie die Marseillaise der Franzosen oder das „God save our gracious Queen“ für die Engländer. Eine Vergewisserung, dass es vorangeht, dass man nicht stehen bleibt, dass man auf dem richtigen Weg ist, dass sich etwas bewegt, dass man etwas bewegen kann, weil man einen starken Rückhalt hat. Ja, vielleicht! Aber ist der Reformationstag ein Kampftag, vielleicht sogar ein Kampftag der Protestanten gegen die Katholiken? Da sträuben sich mir die Nackenhaare. Ich kenne so viele Katholiken, fast ein Drittel der Männer in meiner Familie sind katholisch, und ein paar Frauen mittlerweile auch, und es gibt so viele Katholiken, mit denen ich mich ausgesprochen gern unterhalte, weil sie über ihren Glauben gut Bescheid wissen, weil sie daraus auch kein Geheimnis machen. Gegen die möchte ich nicht kämpfen, und mit Pfarrer Johannsen, meinem katholischen Amtsbruder aus Schleswig, kann ich gut zusammenarbeiten, auch wenn nicht immer alles möglich ist, was man möchte. Ich kenne viele, die darunter leiden, dass es zwei Konfessionen gibt, und manches tut auch mir in der Seele weh, aber hinter manches kann und will ich auch nicht zurück, dafür bin ich

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doch zu protestantisch. Aber der Reformationstag, ein Kampftag gegen Katholiken – ne!! Dafür schätze ich ganz viele Katholiken einfach viel zu sehr! Der Reformationstag sollte ein Tag sein, wo man sich bewegt, im Herzen und in der Seele, an dem ich mich und auch andere daran erinnere, dass wir auf dem Weg sind, nicht auf dem Weg zu immer mehr Wachstum oder zu immer größeren und lukrativeren Geschäften, auch nicht auf dem Weg zu immer mehr Macht, Ansehen oder Beliebtheit, auch wenn das noch so verlockend ist. Reformationstag ist der Tag im Jahr, wo klar werden sollte, zu wem wir auf dem Weg sind, zum wem hin wir in Bewegung sind, zu wem wir uns manchmal auch auf den Weg zurück machen müssen, um zu leben, zu leben ohne Angst vor all den Verlusten, die uns treffen könnten oder wahrscheinlich sogar einmal treffen werden: Verlust von lieben Menschen, Verlust sicher auch von Geld und Einfluss, von Ansehen und Beliebtheit und am Ende, das ist so sicher wie das Amen in der Kirche, den Verlust unseres eigenen Lebens! Ja, nicht einmal die Angst vor dem, was nach dem Tod wohl auf uns zukommt, darf uns verrückt und lebensunfähig in dieser Welt machen. Reformationstag ist ein Tag, der uns erinnert, dass die Angst vor all diesen Dingen nicht unser Leben bestimmen muss. Dahin, vielleicht auch dahin zurück, sollten wir in Gedanken am Reformationstag gehen, um dann an den Tagen danach auch wirklich ohne all diese Ängste leben zu dürfen. Sicher sind wir in all diese Ängste nicht mehr so verstrickt, wie die Menschen im ausgehenden Mittelalter, als die Reformation begann. Ein lebhaftes und auch erschreckendes Bild zeigt der Luther-Film, der ja morgen Abend im Fernsehen läuft. Und wenn Sie ihn noch nicht gesehen haben sollten, gucken Sie ihn sich ruhig an. Manches gibt es aber trotzdem heute auch noch, nur etwas anders ausgeprägt oder verpackt: Die Angst vor dem Tod, aber genauso die Angst vor dem Leben, die Angst vor dem Verlust der Macht und darum der Einsatz gegen Machtverlust ohne Rücksicht auf Verluste, die Angst, nicht gut genug zu sein vor Gott und

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den Menschen, nicht zu genügen, diese Angst, die die Menschen im wahrsten Sinne manchmal verrückt macht. Nicht unbedingt Sachen, die mit dem Mittelalter ausgestorben wären…. Aber Reformation heißt, es bewegt sich was, man kommt in Bewegung, ist auf dem Weg; es heißt Erneuerung oder vielmehr Zurückformung auf das, was uns ursprünglich leben lässt ohne diese verrückt-machende Angst. Daran zu erinnern, auch daran, wie man das macht oder hinbekommt, dafür ist der Reformationstag da! Damit Menschen von Angst befreit miteinander als Kinder Gottes leben können! Ja! Dafür lohnt es sich, aus der Reihe zu tanzen, so wie Martin Luther es tat. Dafür lohnt es sich auch, „Ein feste Burg ist unser Gott“ zu singen, vielleicht auch etwas bescheidener und nachdenklicher. Aber wie zu jedem Sonntag und kirchlichen Feiertag gehört natürlich auch zum Reformationstag ein Bibeltext und nicht etwa ein Text aus den Schriften Luthers. Für dieses Jahr ist es ein Abschnitt aus dem Matthäusevangelium: Jesus spricht zu seinen Jüngern: Es ist nichts verborgen, was nicht offenbar wird, und nichts geheim, was man nicht wissen wird. Was ich euch sage in der Finsternis, das redet im Licht; und was euch gesagt wird in das Ohr, das predigt auf den Dächern. Und fürchtet euch nicht vor denen, die den Leib töten, doch die Seele nicht töten können; fürchtet euch aber viel mehr vor dem, der Leib und Seele verderben kann in der Hölle. Kauft man nicht zwei Sperlinge für einen Groschen? Dennoch fällt keiner von ihnen auf die Erde ohne euren Vater. Nun aber sind auch eure Haare auf dem Haupt alle gezählt. Darum fürchtet euch nicht; ihr seid besser als viele Sperlinge. Wer nun mich bekennt vor den Menschen, den will ich auch bekennen vor meinem himmlischen Vater. Wer mich aber verleugnet vor den Menschen, den will ich auch verleugnen vor meinem himmlischen Vater. Matthäus 10,26b-33

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Sie haben richtig gehört! Ich habe mich auch nicht verguckt. Wie kann solch ein Abschnitt zu einem Tag passen, der damit zu tun hat, dass wir befreit von unserer Angst leben dürfen, auch wenn zweimal deutlich gesagt wird „Fürchtet euch nicht!“? Aber Veröffentlichungen sind doch eher beängstigend, jedenfalls, wenn es uns selbst betrifft und nicht die anderen. Wer möchte schon, dass alles, das Geheimste unseres Herzens und unseres Lebens, offenbar wird. Gruselig! Und das mit der Hölle? Hat Luther das nicht gerade abgeschafft?! Protestanten leben doch ganz gut ohne?! Und ist Gott es, der vielleicht doch einige dorthin verbannt, wo man nicht gerade landen möchte? Und was soll das mit dem Verleugnen? Kommen wir denn nicht alle, alle, alle in den Himmel, so wie es ein altes Karnevalslied singt?! Wir sind doch evangelisch, und das hat doch etwas mit einer frohen Botschaft zu tun. Gruselgeschichten gehören vielleicht zu Halloween, aber das betrifft uns doch nicht, das kann man doch nicht wirklich ernstnehmen! Das soll ein Abschnitt gegen die Angst sein? Das soll…? Tja, was soll das?! Müssen wir uns das bieten lassen, wir als Protestanten, als evangelisch-lutherische Christen? Ja, das müssen wir wohl, denn es ist ein Abschnitt aus der Bibel, sogar ein Abschnitt aus dem Evangelium, und das heißt ja nichts anderes als „frohe Botschaft“. Tja, das müssen wir uns bieten und uns davon in Bewegung setzen lassen. Denn reformiert-sein, evangelisch-sein, oder auch evangelisch-lutherisch sein heißt nicht, das wir die Hände in den Schoß legen dürften, weil die Werke ja doch nicht so wichtig sind und weil die Hölle ja sowieso abgeschafft wurde und wir doch alle in den Himmel kommen. Reformiert-sein, evangelisch-sein und erst recht evangelischlutherisch sein, das heißt, sich zurückführen lassen zum Ursprung, erneuert und befreit sein zum Leben. Luther wollte eigentlich keine neue Kirche gründen, er war auch kein Revoluzzer; er wollte die Menschen zurückführen zum Ursprung, zur Quelle des Glaubens. „Retro“ nennen die jungen Leute das heute und finden das oftmals gar nicht so übel. „Back to the roots“, „zurück zu den Wurzeln“ sagten die Menschen vor 30 Jahren, und die alten Philosophen

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nannten es „ad fontes“, das heißt „zu den Quellen“; und alles bedeutet dasselbe: zurück dorthin, wo etwas entspringt, wo es so rein ist wie möglich; dorthin zurück, wo das Leben seinen Anfang nimmt und wo man gut wurzeln kann und so Halt findet. Für uns heißt das am Reformationstag: Zurück dahin, dass man Gott ernst nimmt, dass er unsere feste Burg ist, und nur er. Dass war auch Luthers Anliegen, sein Ziel; das sollte das Ziel seiner Reformation, seiner 95 Thesen sein. Luthers Reform kam nicht aus irgendeinem ominösen Reformprogramm oder Prozess. Luthers Reform kam aus dem eindringlichen Hören auf das Evangelium. Er hörte genau, er las genau, er wollte genau verstehen, was Jesus seinen Jüngern gesagt hatte, sozusagen im Stillen ihrer Gemeinschaft. Er hörte, so wie wir es heute hörten: „Selig sind die da Leid tragen, denn sie sollen getröstet werden. Selig sind, die da hungert und dürstet nach der Gerechtigkeit, denn sie sollen satt werden. Selig sind die Sanftmütigen, denn sie werden Barmherzigkeit erlangen….“ Und er hörte: „Du sollst Gott, deinen Herrn lieben von ganzem Herzen, mit ganzer Seele und mit all deiner Kraft, und deinen Nächsten wie dich selbst!“ Uralte Worte, mit denen schon Jesus selbst die Menschen zu Gott reformieren, zurückformen, zurückbringen wollte. Und er hörte: „Wenn ich mit Menschen und mit Engelszungen redete und hätte die Liebe nicht, so wäre ich nicht mehr als eine Pauke, die viel Lärm macht. Wenn ich weissagen könnte und wüsste alle Geheimnisse und alle Erkenntnis und hätte den Glauben, der sogar Berge versetzt und hätte keine Liebe, dann wäre mir das alles nichts nütze!“ All das hörte Luther und hörte es ganz neu und er verstand ganz neu, dass das eine frohe Botschaft war, die auch er nicht für sich behalten durfte, die Botschaft von der Liebe Gottes, die sich uns nur im Glauben öffnet und durch nichts anderes erkauft werden kann. Und er hat das getan, wozu Jesus damals schon seine Jünger beauftragt hatte: Er hat es nicht für sich behalten. Er wollte darüber reden, mit allen, er hat es laut gesagt, auch als man ihm dafür ans Leben wollte. „Wir sollen Gott fürchten und lieben“, so hat er es in den Erklärungen der 10 Gebote aufgeschrieben, und die Älteren

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unter uns haben das sogar noch im Konfirmandenunterricht mit den Geboten zusammen auswendig gelernt. Und Luther hatte keine Angst mehr vor den Menschen, weil er Gott liebte und fürchtete, das heißt, ihn als allererstes als Quelle und einzige schützende Burg akzeptierte. Zu ihm wollte er die Menschen zurückweisen. Denn gute Reformatoren wollen nicht zu sich führen, sondern zu Gott, und als man Luther erzählte, dass seine Anhänger sich „Lutherische“ nannten, dann sagte er in seiner derben Art: „Wie komme ich armer, stinkender Madensack dazu, dass die Leute sich nach mir nennen und nicht nach ihrem Gott und nach ihrem Herrn Jesus Christus!“ Luther wollte die Menschen nicht zu sich führen, sondern zu Gott, der Quelle des Lebens, zu diesem festen Halt, zu dem, der uns Menschen kennt, dem nicht das Allerkleinste entgeht; und das kann ja auch durchaus eine frohe Botschaft sein. Gott ist nichts gleichgültig, und wir sind es schon gar nicht! Trotzdem ist er kein Erbsenzähler; dann wäre er der Teufel oder das Böse oder wie immer man das Schlechteste, was man sich vorstellen kann, auch nennt. Aber Gott ist der Liebende! Er ist der, den man, wie jeden, der liebt, ernstnehmen muss, wenn man zu ihm gehören möchte. Denn Gott ist kein „Göttchen“, sondern der Herr! Und er ist durchaus nicht verpflichtet, mit uns etwas zu tun haben zu wollen. Aber er will es! Er will mit uns etwas zu tun haben, denn er liebt uns. Darum entgeht ihm nicht die kleinste Kleinigkeit. Darum ist er unsere Zuversicht und unsere Stärke, darum ist er unsere feste Burg, unsere Quelle, so wichtig wie unser tägliches Brot, darum gibt er uns Wärme und Licht, darum ist er unsere Hilfe und Kraft. Weil er uns liebt, ist und bleibt er uns nahe: in Wüstennot, in schweren Zeiten; darum schenkt er uns das Leben. Man könnte ja auch mal fragen, womit wir das überhaupt verdient haben. Die erschreckende Antwort: haben wir nicht! Wir haben uns dieses befreite Leben nicht verdient. Wir können dieses Geschenk nur im Glauben annehmen und entsprechend leben und handeln, eben davon erzählen. Das ist keine Geheimwissenschaft, das soll überall zu hören sein, damit auch andere so befreit leben können. Glaube ist eben keine Privatsache.

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Denn er hat mit dem wirklichen Leben zu tun. Darum sind wir es uns, unseren Mitmenschen, ja, vielleicht sogar Gott, schuldig, von dieser Befreiung zu reden, uns zu bewegen; unser Herz, unseren Mund, unsere Hände, alles, was uns ausmacht, unseren Leib und unsere Seele, uns – ganz und gar. Wir müssen keine Angst haben, auch wenn wir uns damit unbeliebt oder vielleicht auch vor der Welt lächerlich machen, so wie einige Pastoren aus Eckernförde, als sie ganz eindeutig sagten, dass der Sonntag heilig und ein Ruhetag bleiben muss. Sie hatten eine Todesanzeige für den Sonntag in die Zeitung setzen lassen, um klar zu machen, was alles in unserer Welt stirbt, wenn wir den Sonntag nicht mehr pflegen, geschweige denn ihn nicht mehr Gott gehören lassen. Wir müssen keine Angst haben, von dem zu erzählen, was wir glauben und was uns das Leben schenkt, sogar dann nicht, wenn wir uns deswegen in Gefahr begeben, so wie die Christen, die im 3. Reich nicht mit dem hinter`n Berg hielten, was ihre feste Burg und wer ihr wirklicher Führer ist und mit wem und zu wem sie auf ihren Weg gehen wollen: nämlich Gott und kein anderer. Sie waren frei, sogar im Gefängnis, weil sie das im Kopf, im Herzen, in ihrem Mund und in ihrem Tun hatten, was wirklich Leben und Freiheit schenkt, sogar im Gefängnis, sogar im Tod: Gottes Wort und das Vertrauen auf ihn. Davon müssen wir reden! Und dahin muss es gehen, sonst sind wir auf dem falschen Weg. Lassen wir uns dahin reformieren – immer wieder! Amen.

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Jörgen Sontag

Predigt zum Reformationstag am 1. November 1964 Gehalten in der Koppelsberg-Kapelle im Rahmen einer Studientagung für Oberstufenschüler (Thema: „Das Glaubensbekenntnis“) und mit vielen anderen Jugendlichen, die das Wochenende auf dem Koppelsberg verbracht haben. Galater 5, 1: „Christus hat uns befreit zu einem Leben in der Freiheit. Bleibt darum fest und geht nicht wieder zurück unter das Joch einer Knechtschaft.“ „Jerry lacht in Harlem“ 1 Josef Reding erzählt in seiner Kurzgeschichte 'Jerrry lacht in Harlem' die Begegnung eines kleinen Negerjungen und eines weißen Polizisten. Man kann diese Geschichte ganz so verstehen, wie sie abgedruckt ist - als eine interessante Begebenheit aus dem unruhigen und brodelnden New Yorker Stadtteil Harlem. Man kann sie auch als ein Gleichnis lesen; dann liegt der Sinn tiefer, dann ist Harlem überall. Jerry ist ein kleiner Negerjunge, der in den Hinterhöfen von Harlem groß wird. Als er 4 ½ Jahre alt ist, erlebt er mit, wie ein Schwarzer wegen einer Geringfügigkeit von Weißen angefahren, zusammengeschlagen und, als er hilflos am Boden liegt, auch noch getreten wird. Jerry erfährt zum erstenmal, dass die Faust die Welt regiert. Als er 6 Jahre alt ist, gehört er einer Jungenbande an, die von einem Erwachsenen darauf abgerichtet wird, alles zu tun, was einem Weißen schadet. Sie räumen Wagen aus, stehlen Brieftaschen und anderes mehr. -

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Eines Abends haben sie sich einen Zeitungsstand vorgenommen. Jerry soll von den Auslagen vorne einige Zeitungen wegnehmen und mit ihnen fortlaufen. Wenn der Besitzer hinterherläuft, will die Bande die Kasse rauben. Der Plan misslingt. Wohl nimmt Jerry die Zeitungen und läuft weg. Aber plötzlich bäumt sich ein Pferd vor ihm auf, und eine Hand greift ihm ins Genick und hebt ihn hoch und setzt ihn auf das Pferd. Jerry schaut in das Gesicht eines Polizisten, eines weißen Polizisten. Polizist Brownsing kennt sich aus im Gesicht und im Herzen eines kleinen Jungen, auch wenn dessen Haut schwarz ist. Er hat selbst vier Kinder. Er packt in aller Ruhe sein Schinkenbrot aus und bietet Jerry die Hälfte an. Jerry sagt: Nein! Aber der Polizist isst. Er bietet die andere Hälfte wieder an, Jerry greift zu. Während er kaut, verliert das Gesicht des Polizisten alle Fremdheit. Jerry muss lächeln, als er dessen Lächeln sieht, zuerst zögernd, dann bedingungslos. Und dann erzählt er alles; und was er erzählt, bleibt Geheimnis zwischen den beiden. Jerry trägt inzwischen Zeitungen aus für den, den er berauben wollte. Er lacht wieder, denn er hat den Polizisten Brownsing getroffen. 2 Harlem ist überall. Überall in der Welt gibt es Misstrauen, Gewalttat und Hass. Überall scheint jungen Menschen der Weg des Unrechts vorgezeichnet zu sein, ohne dass sie seine Sinnlosigkeit begreifen und ohne dass sie aus dieser Bahn herausfinden. Da liegt ihre Unfreiheit - wo doch die meisten von sich sagen würden, ich bin doch frei, ich kann doch entscheiden, ob und wann ich den Zeitungsstand ausraube. Harlem ist überall. Da sind andere, die im Namen von Gesetz und Ordnung die Gewalttat und das Unrecht verfolgen. Ihre Reaktion scheint ebenfalls vorgezeichnet

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zu sein, sie müssen strafen. Wie soll es da jemals zu einem Ende kommen mit dem Unrecht und dem Misstrauen? Das Gleichnis ist noch nicht zu Ende. Einer bricht aus dem Zwang, zurückzuschlagen, aus. Er lächelt und hilft zu Recht. Und das Misstrauen und die Angst des anderen schwinden. Freude entsteht. Er kann sich freuen, weil er aus der Gebundenheit an Hass und Angst befreit ist. Einer hat ihn aus der alten Bahn herausgerissen. Er ist n i c h t f r e i, a b e r b e f r e i t. Und das ist viel wichtiger. 3 'Freiheit' ist der wichtige Begriff unseres Bibelwortes: Christus hat uns b e f r e i t. Da liegt der Vergleichspunkt zu der Kurzgeschichte. Freiheit – ist ein viel gebrauchtes und oft missbrauchtes Wort. Es ist ehrlich gemeint und auch gefälscht worden, und die Menschen haben sich davon in die Irre führen lassen. Freiheit ist wie eine abgegriffene Münze, deren Wert man nicht mehr genau erkennen kann. Vielleicht ist es sogar eine gefälschte Münze? Eines Tages wird das herauskommen, und dann hat man nichts in der Hand. Aber wir wollen nicht theoretisch über Freiheit nachdenken; das ist zu unverbindlich, und davon hat keiner etwas. Deshalb habe ich mit einer praktischen Geschichte begonnen. Es lässt sich schnell zeigen, wie stark unsere 'Freiheit' in Wirklichkeit eingeschränkt ist: - beschränkt durch die eigenen Erbanlagen, Begabung, Charakter, Hautfarbe, an denen wir nichts ändern können, - beschränkt durch unsere Umwelt – Familie, Freunde, Heimat, Religion, die wir uns nicht ausgesucht haben,

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- beschränkt durch unsere Taten, die wir nicht ungeschehen machen können und die uns nicht loslassen, sondern uns zwingen, die Konsequenzen zu tragen, - beschränkt durch den Tod, der mich morgen treffen kann - wie er den jungen Vater auf der B 404 auf Glatteis ereilt hat und eine junge Frau und einen Sohn, der heute zwei Jahre alt wird, in Trostlosigkeit zurücklässt. Wo ist da Freiheit? Freiheit gibt es nur in sehr engen Grenzen. Aber da wollen wir sie dann auch wirklich genießen und auskosten. Da sind wir Jerry und seine Bande. Wir nehmen uns eben die Freiheit. 4 Wir wollen frei sein, einmal wir selbst sein ohne Einschränkungen. Doch indem wir so frei sind, tasten wir immer wieder einen anderen Menschen an. Freiseinwollen geht immer auf Kosten anderer. Wenn wir ein Auto fahren, müssen wir uns an die Ordnungen halten, die den Verkehr regeln. Da packt einen der Übermut, der Rausch, einmal nicht Rücksicht zu nehmen. Ehrgeizige Überholmanöver gehen zehnmal gut aus, aber beim elften Mal wird ein entgegenkommender Wagen zusammengedrückt. Mein Freiseinwollen hat einen anderen das Leben gekostet. Wir hören heute viel von freier geschlechtlicher Liebe: 'Alles ist erlaubt'. Der Junge will es mit einem Mädchen ausprobieren. Das Mädchen macht mit aus Angst, den Freund zu verlieren oder als altmodisch angesehen zu werden, weil man es heute tut. Wo bleibt da die Freiheit? Aber weder der Junge noch erst recht das Mädchen können ihr Erlebnis verkraften; dieses hat seine Schönheit und seinen Sinn in der ehelichen Lebensgemeinschaft. Die 'freie geschlechtliche Liebe' ist ein großer Selbstbetrug der

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jungen Menschen; dessen seelische Folgen sind leider nicht genügend bekannt. Solches Freiseinwollen ist immer Rücksichtslosigkeit und Egoismus. Es zeigt deutlich die sklavische Gebundenheit an das eigene Ich und an seinen augenblicklichen Vorteil bzw. an den Nachteil der anderen. Ich erinnere an Jerry in der Kurzgeschichte: Nur den Weißen schaden war das Ziel seiner Jungenbande. So frei sein wollen, ist der Sünde hörig sein. Denn das ist Sünde, dass der Mensch sein Ich zum Maßstab nimmt und nicht mehr Gott. Das ist Sünde, alles, auch das Leben und die Liebe eines anderen Menschen, nur noch als Material des eigenen Nutzens zu beurteilen. Solche 'Freiheit' bringt nicht Erfüllung und Freude. Freiheit ohne Freude aber ist Krampf. Da stimmt etwas nicht. Wer hilft uns heraus aus dem Kreislauf der Rücksichtslosigkeit? Gibt es auch für uns einen Polizisten Brownsing, der uns wie den kleinen Jerry aus dem alten Gleis heraushebt? 5 Ja, auch uns streckt sich eine helfende Hand entgegen. Wir hören davon in unserem Bibelwort: Christus hat uns befreit zu einem Leben in Freiheit. Es geht nun um B e f r e i u n g, genauer: um den B e f r e i e r, um Jesus Christus. Dabei besteht kein Unterschied zwischen den Menschen, die Ihm damals leibhaftig begegnet sind, und uns, denen die Begegnung mit Ihm in der Verkündigung von Ihm ermöglicht wird. Solche Kraft hat Er selbst Sei-

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nem Wort gegeben. So stehen wir Menschen damals wie heute in einer Linie vor Ihm. Als erstes erfahren wir von Ihm, dass Er sich nicht gescheut hat, mit den Menschen zusammenzuleben und dabei ihre Not und Gebundenheit zu teilen. Er lebt nicht in der Distanz zu ihnen, die weise Sprüche über die Hilfsbedürftigkeit der Menschen klopft. Jesus lebte Wand an Wand und Auge in Auge mit den in ihrer Unfreiheit leidenden Menschen. So sieht Jesus ihre Hörigkeit, sieht auch, wie die Menschen sich selbst zu beruhigen suchen: Das war ja nur ein Kavaliersdelikt! Im Grunde bin ich ja ein anständiger Kerl. Ich bin doch freier Herr meiner selbst. Oder so ähnlich klingen die Ausreden. Jesus sieht durch die Fassaden hindurch. Er sieht, dass dieser Selbstbetrug den Menschen gegen die angebotene Hilfe betäubt und in falsche Sicherheit wiegt. Wir erfahren sodann, dass der Mensch, der Jesus begegnet ist, immer überraschend schnell seine Selbstberuhigung aufgegeben hat. Denn an Jesu Haltung merkte er, dass Jesus nicht bloßstellen und lächerlich machen, sondern wieder zurechthelfen will. Im Aufleuchten Seiner Liebe erkennt der Mensch, dass sein bisheriges Leben Lüge und Selbstbetrug gewesen ist und dass Jesus es erneuern kann, wenn man sich Ihm öffnet. In Seiner Gegenwart werden die Augen geöffnet für die Ursache unserer Unfreiheit - dass wir uns von Gott gelöst haben und nun keinen haben, der unser Leben in gleicher Liebe hält und bewahrt wie Er; dass wir gemeint haben, unser Leben selbst in die Hand nehmen und dann auch selbst von Angst und Sorge freihalten zu können. Und uns wird wirklich Hilfe und Befreiung geschenkt. Jesus macht das nicht pauschal, er segnet nicht mit einem Weihwasserbesen über die Menge hin. Er nimmt den einzelnen für sich, wie der Polizist den einen Negerjungen. Er lässt es jeden von uns wissen, dass Gott uns die grundlegende Schuld, von Ihm los sein zu wollen, vergibt; dass Gott nur auf

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unsere Umwendung und Rückkehr zu Ihm wartet. Wir brauchen nicht den ganzen Irrweg zurückzugehen. Gott ist uns in Jesus Christus ja nachgegangen und steht schon bei uns. Gott erwartet nur unser Wort: Sorge Du wieder in allem für mich! Dann tut Er es. 6 Freilich wäre die Befreiung von dem bisherigen Leben keine wirkliche Befreiung, wenn wir nicht vor dem Rückfall in die Unfreiheit bewahrt würden. Deshalb gibt Jesus uns eine n e u e Bi n d u n g. Es ist ja so, dass wir Menschen Bindungen brauchen, ohne sie nicht leben können. Es kommt nur darauf an, welche Bindung wir für uns wählen. Die Bindung, die Jesus uns gibt, heißt Freiheit, weil wir von uns selbst befreit worden sind. Sein ist eine gehaltene Freiheit, weil Gott uns nun festhält; man könnte sie eine Freiheit von Gebundenen nennen. Diese Freiheit oder besser: Befreiung hat einen Rahmen, an den wir uns halten und in dem wir leben können, eine Lebensordnung. Die heißt für eine befreite Existenz L i e b e. So wie Gott in Seiner Liebe die Freiheit hat, Seinen Zorn auf uns dran zu geben, so wie Jesus Christus in Seiner Liebe zu uns frei ist von Vorurteilen gegen Menschen und sich gerade den Verachteten zuwendet, - so wie in der Kurzgeschichte der Polizist durch die schwarze Haut hindurch das angstvolle Herz des kleinen Jerry sieht, ihn anlächelt und alles gut macht, so sind auch wir zu einem Leben befreit, dessen einzige Bestimmung Liebe ist. Liebe ist charakteristisch für einen Christen. Jesus gibt uns nicht eine Reihe von Geboten, an denen wir in jeder Situation ablesen könnten, was wir zu tun hätten; die würden nur wieder unfrei machen. Sondern Er sagt uns nur: Liebe den anderen Menschen, zeig ihm, dass er dir etwas wert ist; und was du dann tun willst und kannst, das tu!

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In unserem Wort von der Befreiung heißt es: Christus hat uns befreit zu einem Leben in Freiheit. Bleibt darum fest und geht nicht wieder zurück unter das Joch einer Knechtschaft! Unsere Freiheit ist ständig durch uns selbst bedroht, deshalb diese Mahnung. Ist Jerry frei? Ja und nein. Nicht frei ist er, denn er bleibt in Harlem wohnen und all dessen hellen und dunklen Einflüssen ausgesetzt. Er bleibt Schwarzer und wird sein Leben lang von einigen Landsleuten wegen seiner Hautfarbe verachtet werden. Auch wird er ganz selbstverständlich in die Rachegedanken der Schwarzen mit einbezogen werden. Nein, er ist n i c h t f r e i! U n d d o c h ist er b e f r e i t und einmal auf den Weg der Freiheit, der Liebe und Versöhnung gestellt. Harlem ist überall, und Jerry - das seid Ihr und das sind Sie, so gut wie ich. Jesus Christus hat nach uns die Hand ausgestreckt. Uns wird nun zugemutet, diese Befreiung anzunehmen und in der Praxis des Alltags zu bewältigen. So leben wir ständig neu von der Befreiungstat Jesu Christi. 7 In dem Wort des Paulus, das unser Predigttext heute ist, ist uns viel gesagt über Jesus Christus und uns selbst. In dem Zusammenhang, in dem unser Wort steht, betont der Apostel Paulus, dass es allein Christus ist, der uns befreit. Es hängt alles an diesem Befreier. Weil es diese Befreiung nur bei Christus gibt und alle eigene Bemühung scheitert, kommt es darauf an, nur Ihn, den Befreier, bei uns wirken zu lassen und sich nur auf Ihn zu verlassen. Nicht die Erfüllung weltlicher oder kirchlicher Ordnungen macht uns frei. Wenn wir nicht Jesus Christus bei uns wirken lassen, können wir Ihm gleich den Laufpass geben, würde er uns nichts nützen, stoßen wir den Befreier und Seine Gnade von uns. Mit diesem 'C h r i s t u s a l l e i n' ist das Anliegen der Reformation Martin Luthers genannt. Jede Predigt, die 'Christus allein' in das Zentrum

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stellt und alles vom Christus erwartet, ist deshalb eine Reformationspredigt, auch wenn von Martin Luther und seinen 95 Thesen nichts gesagt wird. Amen.

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Oliver Stabenow

Andacht zum Reformationstag 2008 in der Mitarbeiterbesprechung im Kirchlichen Dienst in der Arbeitswelt (KDA) Kiel Liebe Kolleginnen und Kollegen, eben haben wir Psalm 104 im Wechsel gesprochen, so wie er im Evangelischen Gesangbuch steht. Die Worte klingen noch nach. „Herr, wie sind deine Werke so groß und viel! Du hast sie alle weise geordnet und die Erde ist voll deiner Güter.“ Es ist eine Litanei der Fülle. Die Welt ist voll der Güte und der Güte Gottes jubelt der Psalmist. - Trotzdem sorgen wir uns. Jetzt in der Finanzmarktkrise. Wir spüren wenig von Gottes Fülle, aber viel vom Diktat der Knappheit. Vermögen verschwinden. Kapital wird Mangelware. Fülle und Mangel – wie lässt sich das verbinden? Passt das überhaupt zum Reformationstag? Doch, diese Dinge gehören zusammen und die Erkenntnisse, für die der Reformationstag Symbol ist, haben dazu etwas zu sagen. Ihre Botschaft im Herbst 2008 heißt: Die Sorgen, die Menschen jetzt umtreiben, sind Ausdruck von etwas anderem, als der Diskrepanz von Fülle und Mangel. Es geht um einen anderen Gegensatz. Es geht um den Widerspruch zwischen menschlicher Selbstwahrnehmung und Gottes Blick auf den Menschen. Das hatte Martin Luther im 16. Jahrhundert erkannt. Heute in der Wirtschaftskrise ist es genau so aktuell. Ein Datum, gerade einmal sieben Wochen her, scheint symbolische Bedeutung für uns zu haben: Am 15. September musste die Investmentbank Lehmann Brothers den Insolvenzantrag stellen. Das hat nichts mehr mit Fülle zu tun. Wenn ein Unternehmen zahlungsunfähig wird, sind die Kassen leer. Nicht nur Milliarden Dollar scheinen verloren zu sein. Binnen weniger Tage wurden auch 25 000 Mitarbeiter des Investmentimperiums entlassen. Dieses Fiasko ist kein Einzelfall. Der weltgrößte Versi-

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cherungskonzern AIG wird nur noch vom amerikanischen Staat am Leben gehalten, und Merill Lynch flüchtet, ums nackte Überleben kämpfend, in die Arme der Bank of America. Mutet da das Loblied der Fülle in Psalm 104 nicht merkwürdig unangemessen an? Passt dieser Lobgesang des Schöpfers, diese Hymne auf eine von Fruchtbarkeit überschäumende Lebenswelt in unsere Realität? Dort in der Welt der Bibel sorgt Gott dafür, dass der Mensch durch seine Arbeit nicht nur das tägliche Brot bekommt, sondern auch Wein und Öl – Gaben des Überflusses und des festlichen Lebens. Hier in unserer Welt nimmt die nordamerikanische Immobilienkrise Züge eines Tsunami an, der die globalen Finanzmärkte, ja uns alle, überrollt. In den letzten Monaten verschlechterte sich die Situation der Wirtschaft dramatisch. Banken müssen gigantische Abschreibungen vornehmen. Firmen erhalten keine Kredite mehr. Arbeitsplätze gehen verloren. Außer sie werden durch Kurzarbeitergeld und andere staatliche Hilfen vorerst gerettet. Das kostet Geld. Der Staat hat es nicht. Er leiht es sich. Mit Krediten fing die Krise aber auch an. Ein verhängnisvoller Kreislauf hat begonnen, so sieht es aus. Der biblischen Vision ‚Es ist genug für alle da’ scheint in der Realität zu verpuffen. Alles wird knapp. Andererseits: Ist Knappheit nicht ein Grundprinzip des Lebens, unabhängig davon, welches Fehlverhalten und welche Fehlsteuerungen die jetzige Situation verursacht haben? Kennen wir nicht alle den Widerspruch zwischen unseren tendenziell unbegrenzten Wünschen und den begrenzten Gütern dieser Welt? Müsste man nicht in ironischer Abwandlung von Werner Kellers altem Bestseller sagen: Und die Bibel hat doch nicht recht mit ihrem Loblied der Fülle? Doch halt! Die Finanzmarktkrise hat nichts mit der ökonomischen Kategorie der Knappheit zu tun. Die aktuelle Krise ist noch nicht einmal Aus-

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druck eines halbwegs rationalen Umgangs mit knappen Gütern. Sie ist Produkt kollektiver Unvernunft. Doch genau um das Gegenteil geht es beim Wirtschaften: um vernünftigen Umgang mit knappen Dingen. Das große Ziel ist, die Grundbedürfnisse aller Menschen zu befriedigen und ein angemessener Wohlstand für viele, am besten für alle zu ermöglichen. Der 104. Psalm erzählt, dass Gott die Menschheit mit allem beschenkt, was sie dazu benötigen. Es ist die Entscheidung der Menschen, dieses Geschenk klug zu nutzen und die Erträge gerecht zu verteilen oder eben nicht. Der eigentliche Gegensatz zum biblischen ‚Es ist genug für alle da’ ist nicht die natürliche Knappheit vieler Güter in einer unerlösten Welt. Dieses große Problem ließe sich mit Klugheit und Gerechtigkeitssinn zumindest entschärfen. Der entscheidende Kontrapunkt ist die menschliche Mentalität, immer mehr haben zu wollen. In den USA wurden Menschen überredet, Häuser zu erwerben, die sie bei nüchterner Betrachtung gar nicht bezahlen konnten. Die Zinsen wurden künstlich niedrig gehalten. Permanent wurden neue, angeblich intelligente Finanzprodukte erfunden, mit denen man die Kreditrisiken neu mischen und weiterverkaufen konnte. Um es volkswirtschaftlich klar zu sagen: Mit einer echten Verbriefung, die das Kreditausfallrisiko auf viele verteilen und so verringern kann, hatten diese „Finanzinnovationen“ wenig zu tun. Die EKD fasste das ganze Spiel nüchtern und entlarvend in einem Satz zusammen: Die 2007 ausgebrochene Finanzkrise hat den Finanzinvestoren durch zunehmende Verschuldung höhere Renditen ermöglicht.1 Es ging um höhere Renditen, um größere Gewinne, um das ‚mehr’. Es ging um diese Mentalität, immer mehr haben zu wollen. Luxus wurde zum Synonym für Wert und Würde eines Menschen.

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Unternehmerisches Handeln in evangelischer Perspektive. Eine Denkschrift des Rates

der EKD, Gütersloh 2008, Abschn. 83.

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Diese Mentalität ist nicht neu. Sie ist kein Kind der Globalisierung und auch nicht die Enkelin des Industriezeitalters. Es gibt sie heute und gab sie im 16. Jahrhundert. Damals stellte Martin Luther diese Mentalität bloß. Er entlarvte das ewige Daherbeten des Mantras: Nur der ist etwas wert, der viel vor Gott leistet. Heute geht es um die permanente Feier einer anderen, säkularen Leistungsreligion. Quartalszahlen sind die Reliquien des neuen Pseudokults. Bonifikationen seine Priesterweihen. Gewinnausschüttungen seine Hochämter. Seit Jahren wird er auf den Finanzmärkten zelebriert und viele sind daran beteiligt. Es ist an der Zeit, sein gemeines Gesicht zu zeigen. Den Unterschied von Person und Werk gibt es hier nicht mehr. Die Werke machen jetzt wieder die Person. Das ist gnadenlos und darum gottlos. Die gleiche Mentalität herrschte am Vorabend der Reformation. Luther hat ihr entgegengehalten „Der Gerechte lebt aus Glauben“. Gott ist es, der deine Gerechtigkeit schafft. Du bist nicht wer, weil du etwas leistet. Weil Gott es sich leistete, dich zu lieben, bist Du wertvoll. Das ist der Ruf in die Freiheit, der aus der Angst vor dem richtenden Gott oder der strafenden Gläubigerversammlung erlöst. Diese geschenkte Würde, die Zusage: Du bist wertvoll! lässt den Menschen zu sich kommen. So kann er sich selbst annehmen, andere akzeptieren und Gott dafür danken. Er kann sich für eine Ökonomie entscheiden, die dem Leben dient, und er kann daran mitarbeiten, dass die Fülle der Schöpfung gerecht verteilt wird.

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Johann Anselm Steiger

Gerechtigkeit Gottes – das süßeste Wort Predigt am Reformationstag 20031

Liebe Festgemeinde am Reformationstag! Der Predigttext auf den heutigen Gedenktag der Reformation steht geschrieben beim Apostel Paulus, im Brief an die Römer, Kapitel 1, die Verse 16 und 17, und lautet folgendermaßen: Denn ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht; denn es ist eine Kraft Gottes, die da selig macht alle, die daran glauben, die Juden vornehmlich und auch die Griechen. Sintemal darin offenbart wird die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt, welche kommt aus Glauben in Glauben; wie denn geschrieben steht: ‘Der Gerechte wird seines Glaubens leben.’ Lasset uns beten: Herr, höre, Herr erhöre, breit deines Namens Ehre an allen Orten aus; behüte alle Stände durch deiner Allmacht Hände, schütz Kirche, Obrigkeit und Haus. Gib du getreue Lehrer und unverdroßne Hörer, die beide Täter sein; auf Pflanzen und Begießen 1

Gehalten am 31.10.2003 in der DIAKO Flensburg.

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laß dein Gedeihen fließen und ernte reiche Früchte ein. Amen.

Der rechte Tag, liebe Gemeinde, ist heute. Höchste Zeit, Schluß zu machen mit der falschen Scham, dem Kleinglauben den Abschied zu geben und auszurufen mit dem Apostel Paulus: Nein, ich schäme mich des Evangeliums von Christo nicht. Grund, sich der frohen Botschaft zu schämen, gibt es freilich genug – nicht so sehr, weil immer mehr Menschen der Kirche den Rücken kehren, die fetten Zeiten vorbei sind, die Kassen knapper und die Gürtel enger werden. Auch nicht so sehr, weil die Predigt des Wortes Gottes immer weniger Gehör findet. Der wahre und eigentliche Grund dafür, weswegen wir in der Tat am liebsten schamrot im Boden versinken wollten, sobald wir das Evangelium von Christo hören, liegt vielmehr in dessen Inhalt selbst. Jesus von Nazareth, der Wanderprediger, der am Kreuz häßlich zugerichtet stirbt, um nicht zu sagen verreckt, der soll mein Leben sein? Dieser geschundene Verbrecher, dies Haupt voll Blut und Wunden, der soll meine Gerechtigkeit sein? Und überhaupt Gott ein Mensch, Gottmensch! Das ist – so murmeln und murren der gesunde Menschenverstand und die menschliche Vernunft in trauter Einigkeit und Harmonie – das ist unappettitlich, ja unerhört! Nein, noch viel mehr: Ärgerlich, töricht und skandalös ist das! In der Tat, das ist es: Denn das Wort vom Kreuz ist, wie Paulus im 1. Brief an die Korinther schreibt – und er hat recht – eine Torheit, ein Skandal, ein Ärgernis. Wo Gott auf den Plan tritt, da geht es närrisch zu, da verkehrt sich alles in sein Gegenteil, da wird aus Tod Leben, aus Sünde Gerechtigkeit, aus Finsternis Licht und aus Torheit Weisheit. Gott, unser himmlischer Vater, macht in Christus den Narren um deinetwillen, stellt deine Welt auf den Kopf, durchkreuzt alle deine Pläne, macht deine Weisheit zu Torheit, und seine eigene göttliche Torheit zur neuen Weisheit und spricht zu dir: Siehe an meinen geliebten Sohn am Kreuze. In

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ihm habe ich mich dir zugut zum Narren gemacht und mache alles neu. Er ist dein Arzt, er ist dein Heiland, er ist dein Retter. Er nimmt deine Krankheit und deine Gebrechen auf sich, auf daß du, der du krank, ja tot warst in Sünde und Gottesferne, heil würdest an Leib und Seele ewiglich. Fürwahr, wie beim Propheten Jesaja zu lesen steht, er trägt deine Krankheit und lädt auf sich deine Schmerzen. Seht ihn an, den Gehenkten, meinen Sohn. Ihn, der von keiner Sünde weiß, ihn, der rein ist wie ich und die Gerechtigkeit selbst, ihn habe ich aus blinder, eben närrischer Liebe zu euch, zur Sünde gemacht. All eure Vergehen, alle eure Versäumnisse, große und kleine Sünden habe ich auf ihn geworfen, ich habe ihn zum größten Sünder gemacht, damit ihr rein, gerecht und Spiegel meiner göttlichen Heiligkeit würdet. Gericht gehalten habe ich über meinen Sohn, habe alle Ungerechtigkeit und alles, was zum Himmel stinkt, an ihm gestraft – ein für allemal, damit alle, die glauben, nicht mehr vor meine Gerichtsschranken treten müßten. Lies nach beim Evangelisten Johannes, der meines Sohnes Worte festgehalten hat: ‘Wer mein Wort hört und glaubt dem, der mich gesandt hat, der hat das ewige Leben und kommt nicht in das Gericht, sondern er ist vom Tode zum Leben hindurchgedrungen’ (Joh 5,24). Wer glaubt, liebe Gemeinde, ist ein Narr, weil er sich die Torheit Gottes zueigen macht. Schlagen wir die Bibel auf, so finden wir Narren an allen Ecken und Enden. Nehmen wir Abraham. Dem sagt Gott: ‘Gehe aus deinem Vaterlande und von deiner Freundschaft und aus deines Vaters Haus in ein Land, das ich dir zeigen will.’ Was tut Abraham, dieser närrische Kerl, unser Vater im Glauben? Tatsächlich, wie töricht! Er packt die Sachen, verläßt alle Immobilien und sonstigen Bindungen und macht sich auf den Weg. Warum? Weil er sich schon im verheißenen Lande sah, das er nicht sah, weil er vor dem inneren Auge hatte, was er vor Augen nicht hatte. Stell dir vor, lieber Mensch, es klingelt jemand an deiner Tür, sagt: der Möbelwagen steht bereit, umziehen sollst du, wohin, wirst du schon noch sehen. Deine Antwort wäre: Du hast wohl nicht mehr alle Tassen

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im Schrank! Ich kann hier doch nicht weg, schon gar nicht, wenn ich nicht weiß, wohin die Reise geht! Abraham hatte nicht alle Tassen im Schrank, vielleicht sogar keine einzige mehr, denn: ‘Da zog Abram aus, wie der Herr zu ihm gesagt hatte’. Das ist Glaube: Nicht zu sehen, sich fallen zu lassen, wie Liebende dies bisweilen tun, zu vertrauen schlechthin: So wie du als Kind einst tatest, als dir etwas versprochen wurde, wähntest du dich bereits im vollen Besitz des Versprochenen – zu Recht. Das ist eine wahre kindliche Kunst. Das Versprochene bereits zu haben, obgleich man es nicht sieht, das ist Glaube, das ist Urvertrauen. Auf solchen Glauben allein kommt alles an: Auf das Vertrauen, daß Gott mich heil machen will und mich schon heil gemacht hat, obwohl Krankheit, Leid und Tod zu herrschen scheinen. Daß der König des Friedens allen Kriegen, allem Morden und Schlachten ein Ende setzen wird, wo Terror, Haß und Gewalt – im Großen wie im Kleinen – das letzte Wort zu haben scheinen. Glauben heißt gegen den Augenschein, gegen die Empirie, gegen die Tatsachen zu glauben. So du glaubst, daß der gnädige Gott das Verlorene sammelt, die Verirrten zurückführt, aus lauter Barmherzigkeit Sünde vergibt, wo nichts, aber auch gar nichts anderes ist als Gottferne und Verderben, so begehrst du auf gegen den Wahn, der uns alle täglich neu befällt, als seien die Bedingungen, unter denen wir hier und jetzt leben, die letztgültigen. Nein und nochmals nein, sie sind es nicht. Der Glaube sieht die versprochene Heimat, wo sie noch nicht ist, schon vor der Tür. Glaubst du, so hast du, sagt Martin Luther, auch wenn sich deine Augen noch nicht daran gewöhnt haben und darum nichts sehen. Oder, wie der Hebräerbrief es sagt: ‘Es ist aber der Glaube eine gewisse Zuversicht des, das man hofft, und ein Nichtzweifeln an dem, das man nicht sieht’ (Hebr 11,1). Aber zum Glauben muß man erst kommen. Und das setzt voraus, daß man, so sagt Martin Luther, von Gott zum Narren gehalten wird. Der stößt die menschliche Vernunft vor den Kopf, setzt deren Denkgewohnheiten außer Kraft, wirft alles vermeintlich Selbstverständliche über den Haufen. Wie das geschieht, läßt sich wahrscheinlich nirgends so gut

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beobachten wie an Martin Luther, der nicht von Anfang an Reformator war, sondern es erst werden mußte. Er hatte sich festgebissen am zweiten Vers unseres heutigen Predigttextes: ‘Darin (im Evangelium von Christo) wird offenbart die Gerechtigkeit, die vor Gott gilt’ (Röm 1,17). Der junge Mönch Luther stieß sich an diesem einzelnen Bibel-Vers, nein, er ist an ihm beinahe zerbrochen und zugrundegegangen. Unter ‘Gerechtigkeit’ verstand Luther – wie er dies an der Universität gelernt hatte – die Gerechtigkeit, mittels deren Gott gerecht ist, also Gerechtigkeit walten läßt, indem er die Sünder bestraft – als Richter, wie sonst? Aber – und hier kommen dem Augustiner-Mönch tiefreichende Zweifel am mittelalterlichen Lehrgebäude insgesamt: Wie kann das sein? Ist es denn nicht genug, daß Gott durch sein Gesetz und durch die Gebote im Alten Testament dem Menschen zeigt, daß er nicht aus eigener Kraft den Willen Gottes erfüllen kann, sondern scheitern muß? Ist es nicht genug, daß Gott durch sein Gesetz den Menschen zur Erkenntnis führt, daß er ein Sünder ist, der nicht will, daß Gott Gott ist, sondern wie die Bauarbeiter am Turm zu Babel selbst Gott sein will? Muß denn auch noch im Evangelium, das doch eine gute, eine tröstliche, eine frohe Botschaft sein soll, diese Gerechtigkeit Gottes offenbart werden? Wie kann Gott so grausam sein, daß er den sündigen Menschen stets nur von sich stößt in die Verdammnis? Es mag im Jahre 1518 gewesen sein, daß Luther diese Fragen quälten oder auch schon früher. Hier streiten wir Kirchenhistoriker uns wie über vieles, ja fast alles, auch über vieles, was unwichtig ist. Wichtig aber ist: Luther steckt in dieser Lebensphase in Anfechtung, in Nöten des Gewissens, ja er führt einen Kampf mit Gott. Rückblickend berichtet Luther: ‘Ich liebte nicht, nein ich haßte den gerechten und die Sünder strafenden Gott und war im Stillen [...] mit ungeheurem Murren empört über Gott: Als ob es wahrhaftig damit nicht genug sei, daß die elenden und infolge der Erbsünde auf ewig verlorenen Sünder mit lauter Unheil zu Boden geworfen sind durch das Gesetz der zehn Gebote, vielmehr Gott durch das Evangelium zum Schmerz noch Schmerz hinzufüge und auch durch

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das Evangelium uns mit seiner Gerechtigkeit und seinem Zorn bedrohe. So raste ich wilden und wirren Gewissens. Dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle.’ Diese Sätze, liebe Gemeinde, mögen lehrreich sein für diejenigen, die sich historisch für die Biographie Luthers interessieren. Sie sind aber noch viel mehr, denn der Reformator blickt hier nicht nur zurück in eine intensive, krisenhafte Phase theologischer Selbstklärung, sondern stellt sich seinen Lesern als Beispiel vor Augen, das zu zeigen vermag, wie es dem Christenmenschen ergeht: So du an Gott glaubst, folgt die Anfechtung, die Krise auf den Fuß. Laßt euch nicht einreden, es gebe einen starken, festen Glauben, oder gar, man könne hier Vollkommenheit erreichen. Nein, der Glaube ist, weil er es mit Gott zu tun hat, eine lebendige Sache, er ist ständig in Bewegung, mal stark, mal schwach, mal himmelhoch jauchzend, mal zu Tode betrübt. Je größer der Glaube, desto stärker, heftiger und tiefer ist die Anfechtung. Gott wirft uns, die wir glauben, stets auf das Nichts und somit auf den Anfang zurück, damit wir nicht etwa auf die trügerische Idee kämen, es sei schon alles erreicht, als wären wir nicht noch auf dem Wege in die ewige Heimat, als sehnten wir uns nicht nach der Vollendung am Jüngsten Tag. Jeden Tag neu beginnen sollen wir und dürfen uns stets erneut erinnern daran, daß Gott uns gnädig zu sein versprochen hat in der Taufe. Jeden Tag dürfen wir zurückkriechen unter die Taufe, wie Luther sagt. Genau dies geschieht, wenn der Gottesdienst eröffnet wird mit den Worten ‘Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes’. Hier werden wir nicht nur erinnert daran, daß uns Gott unsere Sünden vergeben hat und uns heil gemacht hat vor langer Zeit. Nein, hier ist mehr: Hier wird uns diese Kraft der Taufe stets neu und gültig zugesprochen. Die Stärke des Glaubens ist seine Schwäche, seine Zukunft liegt in der Erinnerung. Doch was ist zu tun in solcher Anfechtung? Murre, liebe Seele, gegen Gott, den Vater! Empöre dich über deinen Herrn und Schöpfer! Klage den Höchsten an! Begehre auf gegen ihn! Motze! Schimpfe! Tu, was du

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kannst! Das ist, dessen sei gewiß, alles erlaubt. Das hat Hiob getan, das hat Luther getan, das haben viele getan. Kein Kirchenraum könnte die Galerie derer fassen, die derart mit Gott umgesprungen sind, mit ihm im Clinche lagen, ihm die Leviten gelesen haben. Kaum wird unsere Phantasie ausreichen, uns auszudenken, wie hart in Treblinka, in Buchenwald und Auschwitz, in den Gaskammern Menschen Gott angeklagt, ja mit ihrem Richter ins Gericht gegangen sind. Aber eines, und das ist wichtig und wahr, vergiß nicht – und dies können wir bei Martin Luther lernen: Behalte die Heilige Schrift in der Hand und suche, grabe, buddele, bohre und forsche nach dem Trost des Evangeliums. Luther berichtet: ‘Dennoch klopfte ich beharrlich an eben dieser Stelle bei Paulus an mit glühend heißem Durst, zu erfahren, was St. Paulus wolle.’ Dort also, wo Gott ferne war und lauter Nichts, hielt Luther gegen Gott an Gott fest, indem er ihn anklagte, gegen ihn aufbegehrte, sich auflehnte gegen den Herrn und zugleich an Gottes Wort festhielt. So sollen, dürfen und müssen auch wir anklopfen an der Heiligen Schrift in der Gewißheit, daß gültig ist, was Gott, der Herr, uns zusagt: ‘Bittet, so wird euch gegeben; suchet, so werdet ihr finden; klopfet an, so wird euch aufgetan’ (Mt 7,7). Wer die Heilige Schrift abklopft, wird mehr finden als geklopfte Sprüche und Talk-Show-Geschwafel, der wird finden, daß er auf den göttlichen Trost pochen darf, der wird früher oder später, fündig geworden, mit der Faust, weil befreit auf den Tisch schlagen und laut in die Welt hinein rufen, was er an Trost gefunden hat, etwa die Trostrede Gottes beim Propheten Ezechiel: ‘So wahr als ich lebe, spricht Gott der Herr, ich habe keinen Gefallen am Tode des Gottlosen, sondern daß sich der Gottlose bekehre von seinem Wesen und lebe’ (Ez 33,11). Das, mein lieber Herr und barmherziger Gott, gilt mir. Des bin ich froh und danke dir, daß du mir Leben schenkst durch den, der selbst der Weg, die Wahrheit und das Leben ist, weil er den Tod um meiner Sünde willen erlitten hat. Auch Martin Luther ließ das Klopfen, Anklopfen, Abklopfen nicht und wurde nach langer, angestrengter Meditation unseres heutigen Predigt-

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textes fündig. Luther berichtet: ‘Bis ich, dank Gottes Erbarmen, unablässig Tag und Nacht darüber meditierend, auf den Zusammenhang der Worte aufmerksam wurde, nämlich: Gottes Gerechtigkeit wird darin offenbart, wie geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben. Da begann ich, die Gerechtigkeit Gottes zu verstehen als die, durch die als durch Gottes Geschenk der Gerechte lebt, nämlich aus Glauben, und daß dies der Sinn sei: Durch das Evangelium werde Gottes Gerechtigkeit offenbart, nämlich die passive, durch die uns der barmherzige Gott gerecht macht durch den Glauben, wie geschrieben ist: Der Gerechte lebt aus Glauben. Da hatte ich das Empfinden, ich sei geradezu von neuem geboren und durch geöffnete Tore in das Paradies selbst eingetreten [...]. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen.’ Dies, liebe Gemeinde, ist die grundstürzende Entdeckung Luthers, ohne die es keine Reformation gegeben hätte. Diese Entdeckung ist indes keineswegs ein genialer Gedanke des Theologen Luther. Es ist dies vielmehr nichts anderes als eine Wiederentdeckung dessen, was nach Ausweis der Heiligen Schrift unter Gerechtigkeit Gottes zu verstehen ist. Wer verstehen will, was es heißt, daß Gottes Gerechtigkeit offenbart wird im Evangelium, muß den Kontext beachten, in dem Paulus dies sagt. Der aber zitiert aus dem lieben Alten Testament, aus dem Propheten Habakuk, und zwar: ‘Der Gerechte lebt aus Glauben’ (Hab 2,4). Und siehe da: Auf den Glauben kommt es an und auf nichts anderes. Meine Gerechtigkeit vor Gott, die Vergebung meiner Sünden kann ich niemals verdienen durch gute Taten, gute Gesinnungen und was es auch sei. Vielmehr darf ich gewiß sein, daß ich, der ich vor Gott ein Nichts bin, ein Mensch voller Fehler, voller Makel, voller Macken und voller Unzulänglichkeiten von Gott, dem Vater, angenommen und gerechtgesprochen werde allein aufgrund meines flehenden Rufes: Gott, sei mir Sünder gnädig um deines lieben Sohnes willen, der sich um meinetwillen ans Kreuz hat schlagen lassen, gestorben, begraben worden und auferstanden ist und lebt, regiert und gerecht macht, was verloren war. Wenn es aber wahr ist, was geschrieben steht: Der Gerechte lebt aus Glauben – wenn dies wahr ist,

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liebe Gemeinde, dann muß auch die Gerechtigkeit Gottes anders verstanden werden. Sie ist eben nicht die Gerechtigkeit, durch die Gott Gerechtigkeit walten läßt. Es ist nicht die Gerechtigkeit, die die Sünder straft, sie verdammt, sie verstößt in das ewige Feuer. Gerecht ist Gott, unser Vater, vielmehr dadurch, daß er Gerechtigkeit schafft, indem er den Sündern die Ungerechtigkeit nicht zurechnet, uns Menschen also für unzurechnungsfähig erklärt und uns bedingungslos von unserer Schuld freispricht – ein für allemal. ‘Schwierig zu verstehen ist das aber’, magst du jetzt einwenden. Ist es nicht, entgegne ich dir. Siehe an, lieber Mensch, einen Menschen, den du liebst. Was siehst du? Mehr als jeder andere. Deine Liebe sieht hinweg über manch Schwäche und Makel. Und mehr noch: In deinen liebenden Augen wird gar das Häßliche schön. Häßlich und schön verkehren sich hier wie auch Schwäche und Stärke. So du eine Schwäche hast für einen anderen, ihn also liebst, offenbaren sich dessen Schwächen mit einem Mal als Stärken, so daß du schwach werden könntest vor lauter Stärke der Liebe. Wer liebt, liebt sich selbst in dem anderen. Ganz ähnlich und doch ganz anders tut Gott, der nicht nur liebt, sondern der die Liebe selbst ist. Was er gnädig, barmherzig und liebend ansieht, verkehrt sich in sein Gegenteil. Da wird meine Sünde zur Gerechtigkeit, mein Tod zu ewigem Leben, mein Haß zur Liebe. Gott liebt uns und ist uns zugetan, weil er sein eigenes Ebenbild in uns sieht, auch, wenn es verstellt ist, ja auch, wenn es gar nicht mehr da ist. Der Herr, unser Gott, so sagt Martin Luther an anderer Stelle, ist der Allerhöchste. Hieraus nun folgt aber nicht, daß er uns fern ist. Sondern: Gerade weil Gott der Höchste ist und nichts über ihm, ist er gezwungen, sich nach unten zu neigen, das Niedrige, uns hier unten anzusehen und sich herabzulassen zu uns. Gott neigt sich zu uns herab. Und weil ihn die Liebe treibt, will er alle teilhaben lassen an dem, was er selbst ist und hat. Seine Gerechtigkeit will er nicht für sich behalten, sondern sie walten lassen, indem er gerecht macht, was sündig ist. Dies nun, liebe Gemeinde, gilt auch von allen anderen Eigenschaften Gottes. Die Kraft

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Gottes ist nicht eine solche, durch die er für sich selbst kräftig ist. Sondern es ist eine Kraft, die dich kräftig macht, zu glauben, Werke der Liebe zu tun usw. Das Heil Gottes ist nicht ein Heil, das Gott für sich hätte. Sondern es ist ein Heil, durch das er heilt, was krank ist, aufrichtet, was gefallen ist, und wiederbringt, was verloren ist. Gottes Herrlichkeit ist nicht eine solche, in der er für sich bleiben will. Sondern es ist dies eine Herrlichkeit, mit der er uns ankleiden will, auf daß wir verherrlicht würden im ewigen Leben. Der Reichtum des Vaters im Himmel ist nicht ein solcher, den er nach den Prinzipien der Besitzstandswahrung verwaltet. Vielmehr läßt Gott diesen Reichtum walten, indem er all die reich beschenkt, die arm und unvermögend sind – leiblich und geistlich. Wenn wir, liebe Gemeinde, uns diesen Trost ins Herz schreiben, dann werden auch wir wie Luther sagen können: ‘Wie sehr ich vorher die Vokabel ‘Gerechtigkeit Gottes’ gehaßt hatte, so pries ich sie nun mit entsprechend großer Liebe als das mir süßeste Wort. So ist mir diese Paulus-Stelle wahrhaftig das Tor zum Paradies gewesen’. Nehmen wir diesen Trost des Evangelium an. Uns ist unsere Sünde vergeben um des Glaubens an Jesus Christus willen. Und es muß nun weichen der Zornesengel vor dem Paradies unserer himmlischen Heimat, auf daß wir einziehen mögen in das ewige Reich unseres Vaters. Jetzt kann es Weihnachten werden. Und wir singen: Heut schleußt er wieder auf die Tür zum schönen Paradeis, der Cherub steht nicht mehr dafür, Gott sei Lob, Ehr und Preis. Und der Friede Gottes, der höher ist als alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christo Jesu. Amen.

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Christoph Störmer

Reformationspredigt 2008 in Rahden Liebe Gemeinde, die Kirche der Reformation ist in die Jahre gekommen. Uns trennen noch gerade neun Jahre vom 500. Jubiläum von Luthers berühmtem Thesenanschlag an der Schlosskirche zu Wittenberg. Doch zum Jubeln ist uns in der evangelischen Kirche angesichts der Mitglieder- und Finanzentwicklung wenig zumute. Auch wenn in Rahden die Welt noch in Ordnung sein mag – bei Wikipedia steht, dass hier noch 79 %der Schüler der evangelischen, 6 % der katholischen und nur 6 % keiner Konfession angehören - macht die Säkularisierung sicher auch vor den Toren dieser Stadt nicht Halt. Im 100 mal größeren Hamburg – Sie haben ca. 16.000 Einwohner, Hamburg hat knapp 1,7 Millionen – gehören die konfessionell gebundenen Menschen längst zur Minderheit, dort zählt man ca. 30 % Protestanten und 10 % Katholiken. Damit uns die Puste nicht ausgeht bis zum 500. Geburtstag im Jahre 2017, hat der Rat der EKD vor 2 Jahren ein Impulspapier veröffentlicht, um einen Mentalitätswandel unter uns Evangelischen anzustoßen. Unter dem einladenden Motto „Kirche der Freiheit“ werden in dem Papier zwölf „Perspektiven für die evangelische Kirche im 21. Jahrhundert“ skizziert. „Leuchtfeuer“ werden sie genannt, die motivieren sollen zum Aufbruch aus alten Strukturen. Diese 12 Leuchtfeuer sind formuliert in der Sprache moderner Unternehmensberater. In vier Handlungsfeldern – den kirchlichen Kernangeboten, kirchliche Mitarbeiterschaft, kirchliches Handeln in der Welt und kirchliche Selbstorganisation – wird skizziert, wie man die Kirche besser managen und zukunftsfähig machen könnte. Theologisches Profil haben

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die Leuchtfeuer kaum, die Bibel ein paar Mal in aus dem Zusammenhang gerissenen Versen zitiert. Ich teile die Kritik des gerade in den Ruhestand verabschiedeten Bischofs Hans-Christian Knuth, bis vor kurzem Vorsitzender der Kirchenleitung meiner NEK, der auf der Synode in Wittenberg heftig Prügel bezog wegen seines Einspruchs: Zitat: „Kirche der Freiheit“ – das klingt verführerisch und vielversprechend, das klingt nach Aufbruch, Revolution und Zukunft. Jedoch, liebe Schwestern und Brüder, lassen Sie uns genau achten auf das, was wir sagen: Wir sind „Kirche Jesu Christi“ und nicht „Kirche der Freiheit“. Doch was heißt „Kirche Jesu Christi“ eigentlich konkret? Auf was gründet sie sich? Welche Bibeltexte sind maßgeblich? Und welche könnten Leuchtfeuer sein auf unserem Weg in einer vielfach orientierungslosen Welt und ratlosen Experten, nicht nur an der Börse und in der Politik? Wir können uns doch nicht hinter der Bibel verschanzen! Nein, das sollen wir wahrhaftig nicht. Sondern wir sollen rein in die Welt! Wir sollen „Salz der Erde“ sein, also dem Leben Würze geben, unsere Mitmenschen auf den Geschmack des Lebens bringen. Wir sollen „Licht der Welt“ sein, unsere guten Werke nicht verstecken, sondern auf den Leuchter stellen. All das sagt Jesus in der Bergpredigt. Ja, wir sollen Leuchtfeuer sein. Doch woran könnten wir uns entzünden, wenn wir müde, mutlos und ausgebrannt sind? Gottlob – da gab es mal eine Perikopenkommission, die uns für den Reformationstag als Evangelium, als gute Nachricht die Seligpreisungen Jesu aus der Bergpredigt ans Herz gelegt hat. Das sind Leuchtfeuer, die herausführen aus den Kirchenmauern. An denen kann ich mich immer wieder begeistern und entwickeln – so genial, so einfach, so verständlich sind sie.

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Acht Leuchtfeuer – und keiner von uns braucht alle acht Fackeln des Glaubens alleine zu tragen, es reicht, mal die eine, mal die andere in die Hand zu nehmen, sie weiterzureichen als Leben spendende Reibungsfläche. Ja, die acht Seligpreisungen sind Reibungsflächen, sie bürsten die Welt gegen den Strich, und gerade darum kann man sich daran entzünden. Acht Übungsfelder des Glaubens – ich habe sie Ihnen hinein gezeichnet in das so genannte Facettenkreuz, dass die Hessen-Nassauische und die Berlin-Brandenburgische Kirche sich mal als LOGO gewählt haben. Ja, 8 Facetten des Glaubens – sie lassen sich wunderbar durchbuchstabieren an diesem Kreuz, das auf mich wirkt wie ein offener Lebensraum. Was sie zunächst sehen, sind acht gleich große, also gleichberechtigte, aufeinander bezogene und miteinander verbundene Quadrate, die erst in ihrer Gesamtheit die Gestalt des Kreuzes abbilden. Ich will Sie mit Ihnen im Uhrzeigersinn durchwandern und kurz zum Klingen bringen. 1. „Glücklich sind, die im Herzen Armen, / denn das Reich Gottes ist für immer ihr.“ Die erste Seligpreisung ganz oben auf dem Bild ist das reformatorische A und O. In der Luther Übersetzung klingt sie etwas missverständlich „Selig sind, die da geistlich arm sind ...“. In der Sache treffender finde ich die Übersetzung von Walter Jens: „Wohl denen, die arm sind vor Gott und es wissen ...“. Täglich besuchen weit über 100 Menschen meine City-Kirche in Hamburg, die an sieben Tagen der Woche geöffnet ist, und Hunderte von Kerzen werden entzündet. Und aus den tagebuchähnlichen Gebetsbü-

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chern entnehme ich: Hier kommen Menschen oft bedrückt in die Kirche und lassen sich von diesem Ander-Ort, dieser Atmosphäre, dem Angebot der Stille, aufrichten. Das ist die wichtigste und erste Botschaft unserer City-Kirche: Hier darfst du eintreten. Gratis. Du musst auch nichts mitmachen. Du darfst einfach hier sein. So en passant, im Vorübergehen, nähern sich Menschen dem Geheimnis des Lebens. Mit Paulus: Von Gottes Gnade bin ich was ich bin. Mit Luther: Sola gratia (Allein aus Gnade). Und dazu passt das Angebot unserer Sakramente auf der Pilgerreise des Lebens. Menschen können auftanken bei uns, womöglich, zum Beispiel am Erntedank, das Leben als Geschenk feiern. Sie können sich mit Wasser benetzen, eine Kerze anzünden, sich ihrer Taufe erinnern, innewerden, dass sie Gotteskinder sind. Aber sie dürfen sich auch stärken lassen in den Brüchen und Krisen des Lebens: Ein Kelch wird mir gereicht, ein Brot für mich gebrochen. 2. „Glücklich sind, die Leiden erfahren, / denn durch den Herrn ist ihnen Trost gewiss.“ Ja, trösten und an der Seite der Menschen sein, ist doch eine Kernkompetenz, bei der uns die Menschen immer noch einiges zutrauen. Mit Menschen durchs finstere Tal gehen. Dazu am besten Kirchen 24 Stunden offen halten. Es in der Passionszeit mal versuchen. Unsere Kirchenräume, unsere Musik haben heilende Kräfte, aber besonders immer wieder die merkwürdige Geschichte von dem Mann aus Nazareth, der aufs Kreuz gelegt wird und doch aufersteht in unser Leben. Das mit Menschen durchbuchstabieren in therapeutischen und seelsorgerlichen Prozessen, finde ich verheißungsvoll. Ich denke bei der tröstenden Kirche auch an Amtshandlungen und besondere Heilungsgottesdienste, aber auch an die Profis für Trauerarbeit und Krisenbearbeitung in den Beratungsstellen.

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3. „Glücklich sind, die in Sanftmut leben, / denn das verheißne Land fällt ihnen zu.“ Die Sanften und die Mutigen - werden hier von Jesus glückselig gepriesen. Das findet für mich u.a. Ausdruck im ökologisch glaubwürdigen Handeln der Kirche. Es ist an der Zeit, über plakative Leitsätze wie „Bewahrung der Schöpfung“ hinaus politische Schritte, etwa im Bereich ökologische Steuerreform, anzumahnen und selber zu gehen. Zum Beispiel sollten ab einem bestimmten Stichtag private PKW´s bei der Kirche nur noch dienstlich anerkannt werden, wenn sie nicht mehr als 5 l/100km verbrauchen etc. Wir können nicht den Ausstieg aus der Atomkraft fordern, ohne zugleich selber neue Formen im Umgang und im Gewinnen von Energie zu entwickeln. Jede Kirchengemeinde sollte zu einer „ökologischen Visitenkarte“ inspiriert werden. „Deine Strahlen fassen und dich wirken lassen“ ist nicht nur ein schöner Gesangbuchvers aus der mystischen Tradition, sondern eine Einladung, be-sonnen Energie zu gewinnen: Solardächer und kleine Windräder würden Gemeindehäusern, Kirchen und Kirchtürmen „gut stehen“. 4. „Glücklich sind, die hungern und dürsten / nach Gerechtigkeit, sie werden satt.“ Zur vierten Seligpreisung gehört für mich eine Kirche, die sich öffentlich zu Wort meldet und gesellschaftspolitisch einmischt. Ich erinnere an die schon fast vergessene Stellungnahme beider großen Kirchen „Für eine Zukunft in Solidarität und Gerechtigkeit“, kurz „Sozialwort“ genannt. Da heißt es: „Die Kirchen stehen für eine Kultur des Erbarmens. ... Dieses Erbarmen drängt auf Gerechtigkeit.“ Auch das Engagement der Kirchen gegen die Apartheid in Südafrika, um ein Reizthema aus den 80iger Jahren als Beispiel zu erwähnen, wäre hier zu nennen.

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5. „Glücklich sind, die barmherzig leben, / denn auch sie erfahren Barmherzigkeit.“ Die fünfte Seligpreisung – ist Motor für das klassische Feld christlicher Nächstenliebe und kirchlicher Diakonie. In der „Option für die Armen“ liegen auch in Zukunft viele Berührungspunkte gemeindlichen und übergemeindlichen Engagements. Ich denke dabei z.B. an das Projekt „Kirchenkaten“, initiiert vom Diakonischen Werk in Hamburg. Es zeigt, wie wichtig und wie möglich es ist, Diakonie und Kirchturm, Gemeindliches und Übergemeindliches wieder gemeinsam ins Blickfeld zu bekommen. Ich halte es nicht nur aus Sparimpulsen her für nötig, daß diese oft getrennten Bereiche von Kirche sich wechselseitig wahrnehmen und füreinander öffnen. Warum sollten Beratungsstellen in ewiger Berührungsund Schwellenangst verharren und nicht unter dem Dach eines Gemeinde- und Kirchenzentrums arbeiten? Einzel- und Paarberatung ist wichtig, die Unterstützung von Individuationsprozessen eine wichtige kirchliche Aufgabe, doch sie sollte die Gemeinschaft und den spirituellen Raum nicht ausblenden, sondern möglichst einbeziehen. 6. „Glücklich sind, deren Herz in Klarheit, / sie werden Gott in seinem Lichte schaun.“ Vielleicht liegt in dieser sechsten Seligpreisung die entscheidende Dimension für kirchliche Arbeit in der Zukunft. „Kontemplationsluxus“ nannte der Trend- und Zukunftsforscher Matthias Horx als eine der drei Zukunftsaufgaben von Kirche. In der Tat: Überall boomt die Esoterik mit all ihren Verheißungen der reinen Gottesschau und inneren Erleuchtung. Zum Teil sind diese neureligiösen Strömungen uns mit ihren Methoden – von Atemtechniken bis zu heilenden Händen – voraus bzw. bedienen sich unserer ureigenen Traditionen und Quellen! Statt uns vorschnell abzu-

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grenzen von diesem bunten Markt oder die vielen Gruppierungen gar als „Sekten“ zu etikettieren (das Christentum war selber eine!), sollten wir lieber genauer hinschauen und vor allem selber eine Theologie entfalten, die nicht nur durch den Kopf geht. In der Mystik liege die Zukunft des Christentums, sagen übereinstimmend Jörg Zink und Dorothee Sölle in ihren jüngsten Büchern. Voila – es wird also Zeit, daß man in unseren Kurse anbietet für Atemtechnik, Meditation etc. 7. „Glücklich sind, die den Frieden schaffen, / denn Kinder Gottes wird ihr Name sein.“ Der Friedensauftrag der Kirchen, wer wollte ihn bestreiten. „Schwerter zu Pflugscharen“ ist eine Facette davon. Wir sollten nie vergessen: Pazifismus ist kein Schimpfwort, sondern direkt der lateinischen Übersetzung dieses Verses der Bergpredigt entlehnt. Wie wichtig auch der Versöhnungsauftrag der Kirchen ist, zeigt das Nach-Apartheids-Südafrika mit dem Versuch, mittels einer „Wahrheits- und Versöhnungs-Kommission“ vergangenes Unrecht zu benennen und anzuklagen und zugleich Verständigungs- und Reueprozesse zu initiieren. Die Kirche spielt hier eine Mediator-Rolle, wie sie es mit „runden Tischen“ u.ä. sicher auch in europäischen und Inländer-Ausländer-Konflikten bei uns tun könnte. 8. „Glücklich sind, die verfolget werden, / denn das Reich Gottes ist für immer ihr.“ Zur achten Seligpreisung – Selig sind, die um der Gerechtigkeit willen Verfolgten - brauche ich nicht viel auszuführen. Sie hat – siehe Lübeck, wo ein Pastor und seine Gemeinde einer verfolgten Familie aus Algerien Kirchenasyl gewährt – unmittelbare Aktualität und Evidenz, besonders auf dem Hintergrund unserer Geschichte. „Nur wer für die Juden schreit,

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darf auch gregorianisch singen“ (Dietrich Bonhoeffer). „Ökumene“ in diesem Kontext hat für mich in erster Linie keine konfessionalistische Konnotation, sondern erinnert im Wortsinn an das eine Haus, die eine Welt, in der es gilt, in Solidarität miteinander - und nicht in Abschottung getrennt voneinander zu leben. In den Seligpreisungen wird christliche Identität hier nicht dogmatisch, sondern dynamisch gefasst. Alle acht Felder kirchlicher Praxis gleichen einer paradoxen Intervention. Sie stehen so gar nicht auf der Tagesordnung der Welt, im Gegenteil. Deshalb klingen die Seligpreisungen, so lange sie Kanzelrede bleiben, zynisch, wie eine Verhöhnung derer, die auf der Schatten- oder Verliererseite stehen. Insofern sind die Kernsätze Jesu aus der Bergpredigt eine bleibende Provokation, freundlicher und harmloser formuliert: eine ständige Einladung zur christlichen Profilierung. Sie muten uns Christenmenschen eine nicht endende Zerreißprobe, ein Zwischen-den-Stühlen-sitzen, ein Himmel-und-Erde-mitteln zu. Diese nie uniforme (jeder Kirchenmensch, ob Hauptamtlicher oder Laie - lebt in einem anderen Kontext bzw. arbeitet jeweils in einem anderen Feld der Seligpreisungen) Zumutung ist, und darin liegt wohl der eigentliche Glaubensakt, zugleich eine stete Kraftprobe, nämlich eine (Vertrauens-)Probe auf die Gotteskraft, die in den Schwachen mächtig ist. Eine Kirche, die sich so am Geist der Seligpreisungen orientierte und profilierte, lebte auf einer immer gefährdeten und höchst produktiven Schnittstelle. Sie mittelte, vermittelte mit ihrer Existenz Himmel und Erde, Gott und Mensch, und zwar in der Dialektik von Zuspruch („Gott geht zu allen Menschen in ihrer Not“) und Anspruch („Christen stehen bei Gott in seinen Leiden“, D. Bonhoeffer). Im Übrigen habe ich ein räumliches Bild vor Augen, wenn ich die Graphik mit den acht skizzierten Facetten von Kirche betrachte. Die Seligpreisungen gleichen acht Säulen, und diese tragen die acht Dächer und

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halten sie zusammen. Ich habe Dächer vor Augen, die sich mehrschichtig überlagern und aus denen man ins Freie treten kann, um durchzuatmen, um den Himmel zu sehen und die Vögel, die nicht säen und nicht ernten, - oder um in andere Bereiche zu gelangen. Und jeder und jede würde sich unter das Dach begeben, wo z.Zt. ihr oder sein Herz schlägt oder die Arbeit einen fordert oder eine besondere Begabung oder Kompetenz vorliegt. Und es käme zu ganz neuen Begegnungen und vielleicht auch Gestaltungen. Schließlich wäre bei diesem vielgesichtigen „Unternehmen Kirche“ m.E. sichergestellt, daß dieser „Markt der Möglichkeiten“ kein Markt der Beliebigkeiten wäre, sondern als Ganzes so etwas – mit Paulus gesprochen - wie den „Leib Christ“ abbildete oder neudeutsch eine „Corporate Identity“ wäre. Amen.

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Klaus Struve

Predigt am 18. Februar 1996 (Sonntag Estomihi) Vorbemerkung: Der 18. Februar 1996 ist der 450. Todestag Martin Luthers. Ich halte es für angemessen, an diesem Tag die Person des Reformators, besonders sein grundlegend neues Verständnis der Gerechtigkeit Gottes, in den Blick zu nehmen. Deshalb wähle ich nicht den vorgesehenen Predigttext Jesaja 58, 1-9 („Über das rechte Fasten“), sondern einen „Kerntext“ lutherischer Theologie, Römer 3, 21-28. Liebe Gemeinde, der Erfolgsautor Ephraim Kishon nennt in seinen humorvollen Kurzgeschichten seine Frau stets „die beste Ehefrau von allen“. Meiner Frau, die natürlich dies Prädikat auch verdient, lese ich oft die Bibeltexte vor, über die ich zu predigen habe. Als ich folgenden Vers vortrug (Verlesung Vers 26), sagte sie spontan: „Wie bitte?! Und sie ist damit in guter Gesellschaft. Martin LUTHER selbst, der gelehrte Doktor und Professor der Theologie, bemerkte zu diesem Bibelwort, es sei ein „Textus obscurus“. Das verstehen Sie, auch als „Nicht-Lateiner“. Aber LUTHER war ja nicht umsonst als ausgewiesener Bibelexperte bekannt. Er wusste sich zu helfen bei solchen obskuren Stellen, sein Rat: „Sieh die hellen, klaren Stellen der Schrift an, um die dunklen zu verstehen.“ Für mich ist der helle, klare, strahlende Stern hier nur zwei Verse weiter zu finden: „Denn wir sind überzeugt, dass der Mensch gerecht wird ohne die Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben“.

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Wann ist ein Mensch gerecht? Wie lebt er recht? Wann bin ich „richtig“ in den eigenen Augen, im Urteil der anderen, Frau/Mann, Kinder, Kollegen, Freunde, Clique? Was muss ich tun, um anerkannt zu werden? Mein Leben steht unter Normen, unter Anforderungen, unter Erwartungen. Ich muss was bringen, Leistung zeigen. Ich werde bewertet, ständig. Zensuren gibt es, Noten, Zeugnisse, Beurteilungen. Ich bin meine Leistung: bin ich gut, leiste ich viel, werde ich anerkannt. Diesen Leistungszwang kennen Sie alle. Es ist dieser Druck, der schon die Kinder in der Schule scheitern lässt, der Jugendliche in die Gewalt treibt, der Erwachsene in der Arbeitslosigkeit verkümmern lässt – und ihre Familien dazu, der Alte zu „nutzlosen Fressern“ abstempelt, die sich anonym beerdigen lassen: „Ach, meine Kinder sorgen ja doch nicht für mein Grab…“ – obwohl doch gerade diese Kinder selbst unter Schmerzen geboren und unter Mühen aufgezogen wurden, in den Kriegsjahren und danach. All die neuen Häuser, all die neuen Autos, die schicken Möbel, der Zweitwagen oder das Motorrad, Fernseher in jedem Zimmer, die neue HIFI-Anlage oder schon Multimedia, der Gameboy oder SuperNintendo schon im Vorschulalter, all das ist die glitzernde Außenseite. Dahinter, innen, da bin ich. Der ständig rotieren muss, um gut da zu stehen, um „richtig“ zu sein, gerechtfertigt und anerkannt in den Augen der anderen und vor mir selbst. Ein Lebensgefühl ist das, das fordert, Druck macht, kaputt mitten im Leben: mein Leben hat nur Sinn, wenn ich großartig bin. Ich bin tief gekränkt, wenn ich nicht bewundert werde. Und diese Verletzung macht mich klein, ich fühle mich wertlos.

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Vielleicht ist das ein Beweggrund mit für die Panik vor dem Alter: dieser offenkundige Abbau und Verlust an sichtbarer Leistungskraft. „Was bin ich denn noch wert, ich kann doch nichts mehr“ klagt verzweifelt ein alter Mann, der mir vorher stundenlang lebendige Geschichten vom Dorf und seinen Menschen früher erzählen konnte. „Denn wir sind überzeugt, dass der Mensch gerecht wird ohne die Werke des Gesetzes, allein durch den Glauben“ Gottes Gerechtigkeit fordert nicht. Sie verlangt nicht unentwegt „Du musst, Du musst, du musst“. Sie fordert nicht. Sie schenkt! Gottes Gerechtigkeit ist seine Barmherzigkeit: Gott ist gerecht. Und er macht gerecht. Er bringt zurecht. Zu dem Menschen, der versagt hat, sagt Gott: „Du bist mir recht, so wie Du bist, obwohl du so bist.“ Und woher wissen wir das so genau? Es ist deutlich geworden, als Jesus Christus über diese Erde ging. Er hat die Mühseligen und Beladenen zu sich gerufen. Er hat mit verkrachten Existenzen, mit Betrügern, Zöllnern und Huren, Tischgemeinschaft gehalten. Dafür hat er seinen Kopf hinhalten müssen, später. Er wurde unter die Verbrecher gezählt und in ihrer Mitte gekreuzigt. Nachdrücklich spricht die Bibel in unserem Zusammenhang von der Erlösung, die durch Christus Jesus geschehen ist (Vers 24). Gott ist unsere Begnadigung teuer zu stehen gekommen. Damit Vergebung nicht mit billiger bequemer Gleichgültigkeit gegenüber menschlicher Schuld verwechselt wird, hat Gott seinen auserwählten Sohn für uns in den Tod gehen lassen. Den höchstmöglichen Preis, das Leben, hat ihn unsere Rechtfertigung gekostet. Uns aber kostet sie nichts. Uns schenkt sie Raum und Platz zum Leben: Dir und mir, Alten und Jungen, Kranken und Gesunden, Behinderten und Hochleistungssportlern, dem Versager und dem Star.

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Der Glaube, der selig macht, sagt: Du bist Geschöpf Gottes, von Anfang an, wunderbar gemacht, über alle Erdenzeit hinaus (Jer 1,5; Ps139). Schöne Worte nur? Nein. Lebenswichtig: Eine Frage von Leben oder Tod. Bin ich als Mensch Geschöpf Gottes? Von Ihm mit unverlierbarer Würde versehen? Oder bin ich ein DING, das nur leben darf, wenn es brauchbare Funktionen erfüllt? Ein Ding, technisch „gemacht“ wie die Retortenbabys. Und was droht denen, wenn die so produzierten Wunschkinder ihre Eltern enttäuschen? In einer der so genannten Zukunftsbranchen unserer Zeit, der Hochtechnologiemedizin, heißt es von führenden Vertretern (Klaus Dörner): „Es gibt Menschen, die sind Dinge.“ Ob sie als Menschen leben dürfen, entscheidet sich, ob es Grund genug gibt für die Zuschreibung von Lebensrechten (Reinhard Merkel: Der Grund für die Zuschreibung von Lebensrechten kann, diesseits religiöser Bekenntnisse, schwerlich etwas anderes sein als der Schutz vorhandener Lebensinteressen). Glauben Sie nicht? Hören Sie, wie das aussehen könnte: Ein Arzt beschreibt seine Patientin: „Aussehen altersentsprechend. Sprachliche Kommunikation ist unmöglich. Sie kann weder hinreichend sprechen noch Gesprochenes verstehen, stammelt vielmehr stundenlang vor sich hin. Sie macht lediglich den Eindruck, ihren eigenen Namen wiederzuerkennen. Hinsichtlich ihrer eigenen Person, der räumlichen Umgebung und der Zeit scheint sie nicht orientiert zu sein. In Sachen Körperpflege reagiert sie teilnahmslos. Man muss sie mit breiigen Speisen füttern, denn sie hat keine Zähne. Wegen ihres Unvermögens, Stuhl

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und Urin zurückzuhalten, wird sie häufig gewaschen und umgekleidet. Ihre Wäsche muss oft gewechselt werden, weil sie dauernd speit. Gehen kann sie nicht. Ihr Schlaf ist sehr wechselhaft. Häufig wacht sie nachts auf und weckt mit ihrem Geschrei die anderen. Die meiste Zeit ist sie ruhig, aber ein paar mal am Tag verfällt sie unmotiviert in krampfigschluchzendes Weinen.“ Soweit der Arzt. Na, wie stehts? Kommt Ihnen da nicht auch der Gedanke nahe: „Nein, so ein Leben lohnt nicht? Lieber ein Ende setzen, das wäre doch eine Erlösung. So ein Leiden ist doch unmenschlich!“ Sollten die bedauernswerten Angehörigen nicht ein Recht auf eine „soziale Indikation“ haben? Der Nobelpreisträger Elie Wiesel erzählt eine Legende: Eines Tages sprach der Mensch zu Gott: „Lass uns tauschen. Du wirst Mensch und ich werde Gott sein. Nur für eine Sekunde.“ Gott lächelte und fragte: „Fürchtest du dich nicht?“ „Nein“, sagte der Mensch. „Du?“ „Ja“, sagte Gott, „ja, ich fürchte mich“. Nichtsdestoweniger erfüllt er dem Menschen den Wunsch. Gott wird Mensch und der Mensch wird Gott. Und der gottgewordene Mensch bedient sich sofort seiner Allmacht: er weigert sich, in seinen vorherigen Zustand zurückzukehren. Vielleicht muss man wie Elie Wiesel in den Schlund der Hölle gesehen haben, die Fratze des Teufels, um so eine Fabel erzählen zu können. „Denn wir sind überzeugt, dass der Mensch leben darf ohne alle Erfüllung nützlicher Funktionen, sondern allein durch den Glauben.“ Gottes letztes Wort über den Menschen, über dich und mich, ist seine Barmherzigkeit. Nur Barmherzigkeit kann die menschlichen Kräfte mo-

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bilisieren und die soziale Phantasie wecken, die nötig sind, dass alle leben können. Amen.

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Hans-Günther Waubke

Predigt über Römer 3,21-28 in der Christophoruskirche in Bergedorf am 2. November 2008 (24. Sonntag nach Trinitatis) Liebe Gemeinde, wissen Sie eigentlich, wann Sie das letzte Mal so richtig gestaunt haben; wann Sie in Ihrem Leben einer Tatsache begegnet sind, die Spuren in Ihrem Weltbild hinterlassen hat? Wenn ich in meinem eigenes Erleben danach frage, dann kommt es mir bisweilen vor, als sei mir das Staunen allzu sehr abhanden gekommen. Je erwachsener wir werden, um so weniger erlauben wir uns noch das Staunen. Es ist machmal, als schämten wir uns im Staunen, dass wir auf eine Situation nicht genügend vorbereitet sind. Die Kinder kriegen´s noch hin - wie staunte unsere Tochter vor Jahren, als bei Hagenbeck zum ersten Mal das Walross vor ihr aus dem Wasser auftauchte. Davon sprach sie wochenlang. Über diese Fähigkeit zum Staunen haben wir dann wieder gestaunt. Aber so wohl es ab und an tut, die Welt mit Kinderaugen als Gottes Wundergarten zu betrachten - vor dem wirklichen Staunen, das unsere Bilder von der Welt und von uns selbst aus den Angeln hebt, fürchten wir uns auch: Denn Staunen kann auch heißen, wir merken, dass unsere Lebenslage auf einmal offen und unberechenbar wird. Dieses Staunen, liebe Gemeinde, gibt es auch Gott gegenüber. Denn wo Gott wirklich in unser Leben eingreift, da passiert etwas. Da geht unser Leben nicht einfach weiter wie gehabt und ist unsere Welt auf einmal eine ganz andere geworden. Das ist nicht immer behaglich. II. Der Apostel Paulus war durch seine Bekehrung auf eine völlig neue Lebensbahn geworfen worden; seine bisherigen Lebensgesetze als pharisäischer Jude waren ihm zerbrochen. In seiner natürlichen Lebensentwicklung war ein Leben als Apostel Jesu Christi nicht vorgesehen. Gerade dieses ist er durch Gottes unverhoffte Gnade aber geworden, und

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das Staunen darüber spiegelt noch unser heutiger Predigttext aus dem Römerbrief wider, den er ein Vierteljahrhundert nach seiner Bekehrung schrieb. Eineinhalb Jahrtausende später mühte sich ein Augustinermönch unter Blut, Schweiß und Tränen, ein guter Mensch und perfekter Christ zu werden. Martin Luther war dabei, an seinen eigenen Maßstäben von einem sinnerfüllten Leben zu scheitern - und wurde durch die Lektüre von Paulus' Römerbrief, und zwar gerade unseres heutigen Predigttextes in das Staunen darüber hineingezogen, dass Gott viel gnädiger und liebevoller ist als unsere Gesetze und Maßstäbe – und unsere Vorstellungen von Gott. Auch in Luthers Leben waren die Folgen einschneidend: Sein Mönchsleben ließ er hinter sich; er musste mitten hineingehen ins öffentliche Leben und seine Erkenntnisse gegen die höchsten Autoritäten verteidigen. Luthers Staunen gab den Anstoß zur Reformation, an die wir uns heute erinnern. So halten wir nun dafür, dass der Mensch gerecht wird ohne des Gesetzes Werke, allein durch den Glauben. Dieser erstaunte Satz des Gesetzesmenschen Paulus nahm Luther zu dessen Erstaunen die Last von den Schultern, sich Gottes Liebe verdienen zu müssen. Das setzte ein ganz großes Gottvertrauen frei. Paulus und Luther waren beide auf einmal frei von dem, was sie bis dahin belastet hatte. Ich möchte das einmal den inneren Zwang nennen, aus eigener Kraft erfolgreich zu sein, den Druck, uns Wert, Sinn und Orientierung unseres Lebens selbst zu erarbeiten. Liebe Gemeinde, dass unser Erfolg nicht über unsere Daseinsberechtigung entscheidet, ist fast schon eine Binsenweisheit - und trotzdem ist diese Empfindung ganz tief in uns verwurzelt. Wir sind anfällig für jegliche Idealbilder von Leistung und Erfolg, nicht nur, weil sie uns von außen angetragen werden, sondern vor allem, weil wir diese Bilder in uns tragen. Alle diese äußeren und inneren Idealvorstellungen setzen Kräfte frei, uns aber bisweilen unter großen Rechtfertigungsdruck: Wieso bist du nicht so, wie du sein sollst und sein willst? Wieso hast du nicht die

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Fähigkeit, dich beruflich zu verbessern? Wieso hast du nicht die Selbstdisziplin, endlich einmal abzunehmen? Wieso schaffst du es nicht, Familie und Beruf unter einen Hut zu bringen? Wenn wir uns fragen: „Wer bin ich, wer sind wir eigentlich?“, dann neigen wir all zu gerne dazu, uns über unsere Idealbilder zu identifizieren: Wir Erwachsenen möchten so gerne über unseren beruflichen Erfolg identifiziert werden; ich bin der, der was leisten und viel von sich fordern kann. Daneben bin ich natürlich auch noch ein Familienvater, von dem seine Kinder etwas haben, der seinen Kindern eine gute Erziehung, Bildung und Lebensfreude mit auf den Weg gibt, Beruf und Familie unter einen Hut bekommt, im Beruf und im Privatleben von anderen geschätzt und anerkannt wird und sein Leben im Griff hat. Und Sie als Gemeinde wollen offen und einladend sein, wir die Fröhlichkeit des Evangeliums ausstrahlen, anziehend für neue Mitglieder sein, wachsen und nicht schrumpfen. Weitere Beispiele gelungenen Lebens ließen sich in beliebiger Länge anfügen - schade nur, dass sie so selten mit der Wirklichkeit übereinstimmen. Darin steckt nämlich der ganz große Pferdefuß, dass wir den garstigen Graben zwischen Ideal und Wirklichkeit am liebsten gar nicht wahrhaben wollen oder mit Krampf und Gewalt versuchen, ihn zu überspringen. Selbst die Idealbilder, die uns zum wahren Menschsein ermutigen wollen, etwa die Vision, harmonisch mit unseren Kindern zu leben oder eine ausstrahlungsfähige Gemeinde zu sein, selbst solche menschlichen Bilder des Zuspruches werden zum unbarmherzigen Anspruch, wo sie die Fühlung mit der Wirklichkeit einbüßen. Aus solchem Missverhältnis entsteht ein großer Rechtfertigungsdruck, der um so größer ist, je ernster wir uns selbst und unser Leben nehmen. Je gewissenhafter einer ist, desto schmerzlicher wird er das Zurückbleiben hinter dem empfinden, was er im Leben eigentlich will. Und hier spricht Paulus nun das lösende, befreiende Wort: Unser Leben rechtfertigt sich nicht durch seine gelungenen Taten, sondern „allein durch den Glauben“; ich könnte auch sagen: Allein durch das Vertrauen auf Gottes

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Liebe gelingt unser Leben, allein die Liebesbeziehung zu Gott macht uns frei von unserem Leistungsdruck. Das ist der Kern der reformatorischen Rechtfertigungslehre: Gott machen wir es nicht durch unsere Leistungen und unser Tun recht; nein, Gott macht es uns recht, indem er uns auf seine Leistungen und sein Tun vertrauen läßt. Wir sind frei davon, unserem Leben durch unsere Kraft und unsere Leistung seinen vollen Wert zu erarbeiten - weil Gott uns den Wert und den Sinn einfach schenkt. Laut und hell haben Paulus und Luther diese Freiheitsglocke angeschlagen. In dieser Freiheit eines Christenmenschen liegt der ganze Antrieb und der ganze Gewinn der Reformation: Allein durch das Vertrauen auf Gottes Liebe sind wir wirklich frei von dem, was uns so schwer auf der Seele lastet und uns unter Druck setzt. Nun freut euch lieben Christen gmein und laßt uns fröhlich springen und mit Lust und Liebe singen! Das macht die Rechtfertigungslehre zu unserem wichtigsten Glaubenssatz. III. Dennoch haben wir auch unsere Schwierigkeiten mit der Botschaft von der christlichen Freiheit. Merkwürdig genug, wer wollte schon etwas gegen Freiheit haben? Ich möchte Ihnen das an einer Karikatur von Friedrich Karl Waechter verdeutlichen: Da hat es ein Schwein geschafft, die Stalltür zu knacken, steht nun aufrecht vor dem Schweinestall und versucht, die anderen Schweine ebenfalls zum Ausbrechen zu bringen. Aber die bleiben auf alle Viere gestemmt in der Stalltür stehen und sträuben sich sichtlich. Da sagt das aufrecht stehende Schwein zu ihnen: „Wenn ihr Angst habt vor der Freiheit, dann geht doch zurück in euren Stinkstall und laßt euch verwursten!“ Ja, so geht es uns häufig genug mit der Freiheit: Im Stinkstall unserer äußeren und inneren Zwänge kennen wir uns immerhin aus; da gibt es eine feste, wenn auch bedrückende Orientierung, aber immerhin: Etwas, an das man sich halten kann. Und auch eigentlich unerträgliche Verhältnisse können einem über die Zeit vertraut werden. Aber die Freiheit nö-

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tigt uns zum Staunen darüber, dass unser Leben nun wieder offener ist und womöglich beunruhigender. Was wir haben, kennen wir wenigstens. Und auch wenn wir wissen, dass unser Leistungsprinzip etwas sehr Verwurstendes hat - das Beängstigende der Freiheit liegt darin, daß unsere Leistung nichts mehr gilt. Wir können uns unseren Wert nur schenken lassen. Die Rechtfertigung Gottes wirklich an uns geschehen lassen heißt: Wir geben in den entscheidenden Lebensfragen alle Sicherheiten aus der Hand und legen sie in Gottes Hand. So herum betrachtet, wird vielleicht deutlich, welche Zumutung darin liegt. Wir geben unser Leben in die Hand Gottes, aber bei Gott weiß man ja auch nicht immer so genau, da gibt es keine wirklichen Sicherheiten, sondern nur starke Verheißungen. Deswegen neigen wir, kurios genug, dazu, auch die Rechtfertigungslehre mit allerlei Sicherheiten zu umgeben, in denen wir mehr Halt spüren als in der Freiheit Gottes. „Hilf dir selbst, dann hilft dir Gott“, ist zum Beispiel so ein Sicherheitssatz. Ja, vielleicht gehört das Gehäuse unserer Kirchlichkeit auch zu solchen Sicherheiten, die immer wieder kritisch betrachtet sein wollen. Nicht die Wahrheit, in deren Besitz irgendein Mensch ist, oder zu sein vermeinet, sondern die aufrichtige Mühe, die er angewandt hat, hinter die Wahrheit zu kommen, macht den Wert des Menschen. ... Der Besitz macht ruhig, träge, stolz - Wenn Gott in seiner Rechten alle Wahrheit, und in seiner Linken den einzigen immer regen Trieb nach Wahrheit, obschon mit dem Zusatze, mich immer und ewig zu irren, verschlossen hielte, und spräche zu mir: wähle! Ich fiele ihm mit Demut in seine Linke, und sagte: Vater gib! die reine Wahrheit ist ja doch nur für dich allein! Das ist vom Standpunkt der Aufklärung Gotthold Ephraim Lessings Haupteinwand gegen ein Luthertum, das aus der Rechtfertigungslehre einen dogmatischen Besitzstand gemacht hatte und bärbeißig und unduldsam alles andere bekämpfte. Freilich ist es dem Hauptpastor Goeze, mit dem er stritt, von Seiten unduldsamer Aufklärer seinerseits übel er-

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gangen. Ja, so kann es mit der Freiheit gehen: Sie muss immer wieder gegen Widerstände erstritten, erkämpft werden, aber zur wirklichen Freiheit kann sie erst werden, wenn wir die Sicherheitsbedürfnisse der Kampfsituation hinter uns lassen und auch den Erhalt unserer erkämpften Freiheit demütig von Gott annehmen. IV. Betrachten wir diesen Punkt noch ein wenig genauer. Der Hauptpastor Goeze war ein unbeugsamer Streiter für das lutherische Dogma. Ihn aber nur auf seine Starrheit festzulegen war ein Unrecht, weil das verkannte, wie sehr er um der Seelen Seligkeit willen unter anderem an seiner Auffassung von der Rechtfertigungslehre festhielt. Da haben sich die Herztöne dieses Lehrstückes nicht mehr mitgeteilt. Wie schade! Ja, so geht es selbst mit unseren besten Einsichten: Auch auf lutherischer Seite wurde gegen Rom um eigene Besitzstände von Wahrheit gekämpft; bis heute ist die römische Kirche für viele Protestanten ein bequemes Gegenbild zu ihren eigenen Vorstellungen von Freiheit; und was der alte Luther über die Juden sagte, können wir nur mit großer Scham zur Kenntnis nehmen. So hatte Paulus es in seiner Abkehr vom jüdischen Gesetz nicht gemeint! Aber so endet die Freiheit, wenn sie als Besitz verteidigt wird, im Dreinschlagen auf andere. Jesus wußte schon, warum er in den Seligpreisungen der Bergpredigt den geistlich Armen, den Sanftmütigen, Barmherzigen und Verfolgten das Himmelreich zusprach. Die Feindbilder von den Feinden der Freiheit verkennen aber nicht nur, daß auch die jeweils Altgläubigen um der Seelen Seligkeit willen an ihren Anschauungen, auch an ihren Freiheiten festhielten; nur war ihre Welt eben keine andere geworden, und das liegt über menschliche Grenzen hinaus doch vor allem in Gottes Ratschluss. Ja, die Auseinandersetzungen der Aufklärung mit der Orthodoxie, der Reformation mit der römischen Kirche und des jungen Christentums mit dem Judentum mussten geführt werden, manche müssen es vielleicht noch, um der Freiheit willen. Aber „wir“ und „die“ führt nicht weiter. Denn der größte Feind unserer Freiheit sitzt nicht in Rom oder sonstwo, sondern in unserem eigenen Herzen. Es ist unser eigenes Bedürfnis nach

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Absicherung, nach spürbarer Vergewisserung unseres Lebens, das uns wie alle anderen anfällig macht für die Versuchungen, die in den Gesetzen der Leistung, der Selbstbehauptung, der Abgrenzung und des Glaubens liegen. Das ist es, was die Bibel mit „Sünde“ meint. Deswegen bedarf es noch mehr als der Entschlossenheit zum Freiheitskampf der Demut, die Befreiung aus den Stinkställen unserer Zwänge allein Gott zu überlassen. Ja, diese Demut führt in die große und manchmal beängstigende Weite des Geschehenlassen, des Kontrollverlustes und des Preisgebens; aber sie eröffnet auch den Sinn und Geschmack für die Verheißung, dass Gott den Raum, in den er uns da stellt, mit seiner Gegenwart schon füllen wird, unberechenbar, aber allein aus großer Gnade. Wir sind immer auf dem Weg dahin, aber es ist ein Weg mit Gott. Verheißen! Darüber dürfen wir immer wieder - staunen. Und die Reformation unseres Herzens geschehen lassen und auf Gottes Herztöne hören. Selig sind, die da geistlich arm sind, denn ihrer ist das Himmelreich. Auch verheißen. Und der Friede Gottes, welcher höher ist denn alle Vernunft, bewahre eure Herzen und Sinne in Christus Jesus. Amen.

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Michaela Will

„Daß geistliche Lieder singen, gut und Gott angenehm sei“ Martin Luther als Begründer des deutschen evangelischen Kirchenliedes Predigt am 1. Juli 2007 in der St. Martins-Kirche in Tellingstedt Liebe Gemeinde! „Vor allen Freuden auf Erden kann niemandem eine schönere werden, denn die ich geb mit mein’m Singen und mit manchem süßen Klingen. Hier kann nicht sein ein böser Mut, wo da singen Gesellen gut. Hier bleibt kein Zorn, Zank, Haß noch Neid; weichen muß alles Herzeleid. Geiz, Sorg und was sonst hart anleit fährt hin mit aller Traurigkeit.“1 Es ist beeindruckend, was Martin Luther der Musik alles zutraut: Sie vertreibt bösen Sinn, Zorn, Zank, Haß und Neid, aber auch Geiz und Sorge, Herzeleid und Traurigkeit. Ja, sie zerstört sogar des Teufels Werk und verhindert Mord, wie die Geschichte von David und Saul zeigt. Sie macht das Herz still und bereit für das göttliche Wort und die Wahrheit, wie die Erfahrung des Propheten Elisa zeigt, den der Heilige Geist überkam, als er dem Harfenspiel lauschte. Die Frau Musika ist für Luther Seelsorgerin im umfassenden Sinne. Sie tröstet die Traurigen, die, deren Herz zerrissen ist. Sie versöhnt den Menschen mit sich selbst, wenn sie

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Martin Luther: Vorrede auf alle guten Gesangbücher, 1538, zitiert nach Markus Jenny:

Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983, S. 158.

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bösen Sinn, Zorn, Hass und Neid vertreibt. Und sie versöhnt die Menschen miteinander. Wenn man Euch von der Kantorei St. Katharinen singen hört, kann man das erleben: wie aus so vielen Stimmen ein Klang wird, ein Klang, der tröstet und versöhnt. Man kann erfahren, wie Gefühle sich lösen und zum Guten finden. So öffnet die Musik das Herz für Gott. Sie wird zur Wegbereiterin dafür, dass Gott uns mit seinem Wort berühren kann. Bei Martin Luther hat diese Erfahrung dazu geführt, dass er schöpferisch tätig wurde und geistliche Lieder verfasst hat.2 Sein erstes Lied entstand 1523, als die Reformation schon in vollem Gange war. Auf dem Brüsseler Marktplatz waren zwei Ordensbrüder Luthers als Ketzer verbrannt worden, weil sie sich zu Luthers Lehre bekannt hatten. Die persönliche Erschütterung Luthers darüber wird zum Auslöser für seine erste Liedschöpfung. Er sendet den bedrängten Glaubensgenossen in den Niederlanden ein bewegendes Trostschreiben. In Anlehnung an den Brauch, Lebensbeschreibungen von Heiligen und Märtyrern in Liedform als kleine Flugschriften zu verteilen, verfasst er sein erstes Lied „Ein neues Lied wir heben an - das walt Gott unser Herre“ samt Melodie. Darin besingt er die Standhaftigkeit der jungen Männer und ihren Märtyrertod und stellt fest, dass ihre Stimmen in den Liedern der Lebenden weiter fröhlich singen. Die Flugblätter verbreiten sich in Windeseile, und das Lied wird zum Kampflied für die Reformation. Luthers zweites Lied haben wir gerade gesungen: „Nun freut euch, lieben Christen gmein“. Es schildert die Heilsgeschichte in Form einer autobiographischen Erzählung. Luther besingt die Erlösungstat Gottes in Jesus Christus so, als wäre sie für ihn persönlich geschehen. Luthers Weg zur reformatorischen Erkenntnis wird eindrucksvoll geschildert: dass das Heil nicht durch gute Werke zu erlangen ist, sondern allein durch den 2

Zum folgenden vgl. Markus Jenny: Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich

1983, S. 15-38, sowie Konrad Ameln: Art. Lied, C. Das Kirchenlied, III. Das evangelische Kirchenlied, 2. Deutschland, in: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Band 8, Kassel / Basel / London / New York 1960, Sp. 797-810.

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Glauben an die Barmherzigkeit Gottes, der seinen Sohn gegeben hat zur Vergebung unserer Sünden. 1523 hat Luther neun weitere Lieder verfasst. Und er hat auch andere aufgefordert, fromme und geistliche Lieder im Sinne der rechten Lehre zu schreiben, die das Volk während des Gottesdienstes singen könnte. Das deutsche evangelische Kirchenlied wurzelt also im Drang nach künstlerischer Gestaltung in der Anfechtung und als Weg ihrer Bewältigung. Persönliches Verarbeiten und die Absicht reformatorischer Propaganda haben dabei zusammengewirkt. Insgesamt hat Luther fünfundvierzig geistliche Lieder ganz unterschiedlicher Art verfasst. Die nächsten Lieder, die entstanden, waren vermutlich die Psalmlieder. Luther gilt als Erfinder des Psalmliedes. Psalmen wurden bearbeitet, bereimt, um sie im Gottesdienst zu singen. Ende 1523 bittet er auch seine Freunde, Psalmlieder zu verfassen. Luthers berühmtestes Psalmlied ist die Bearbeitung des 46. Psalms: „Ein feste Burg ist unser Gott“. Eine weitere Liedgattung bei Luther ist die Übertragung lateinischer Hymnen. Thomas Müntzer hatte diese bereits übersetzt, aber die gregorianischen Weisen beibehalten. Luther tritt nun dafür ein, dass auch die Melodie aus der Muttersprache kommen muß. Das Weihnachtslied „Nun komm der Heiden Heiland“ ist beispielsweise eine Bearbeitung des Adventshymnus „Veni redemptor gentium“. Und auch für „Verleih uns Frieden gnädiglich“ zog er dessen Melodie heran. Luther knüpfte auch beim volkssprachlichen geistlichen Lied des Mittelalters an, bei den einstrophigen Leisen, die er zu mehrstrophigen Liedern ausbaute. Die Strophen enden jeweils mit dem Liedruf „Kyrieleis“, daher die Bezeichnung „Leise“. Darüber hinaus hat Luther auch verschiedene liturgische Gesänge bearbeitet. Und er hat den Formtyp der Hofweisen auf das geistliche Lied angewandt. Diesen Stil vertritt auch „Ein feste Burg ist unser Gott“. Zum Teil wandte er auch das für seine Zeit typische Kontrafaktur-Verfahren an, die Anknüpfung bei einem allgemein bekannten geistlichen oder

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weltlichen Lied, dessen Melodie übernommen wird und dessen Text in irgendeiner Weise den Hintergrund für den neuen Text abgibt. Luther hat auch noch Kinderlieder und Katechismuslieder verfasst, mit denen sich die Jugend die Grundlagen des Glaubens (die Zehn Gebote, das Glaubensbekenntnis und anderes) singend aneignen sollte. Die Jugend lag ihm besonders am Herzen. So ist auch die erste gesangbuchähnliche Zusammenstellung seiner Lieder ein Chorgesangbuch für Schüler. In der Vorrede schreibt Luther: „Und diese Lieder sind dazu auch in vier Stimmen gesetzt, aus keinem anderen Grunde, als dass ich gerne möchte, dass die Jugend […] etwas hätte, damit sie die Buhllieder und fleischlichen Gesänge loswürde und statt derselben etwas Heilsames lernte und so das Gute mit Lust, wie es den Jungen gebührt, einginge.“3 Luthers Texte verbreiteten sich in Windeseile wie alle seine Schriften. Schon 1524 gab es Zusammenfassungen von Liedblättern in mehreren Auflagen und in verschiedenen Städten. Und eine Zusammenstellung von vierundzwanzig seiner Lieder mit anderen Liedern als Wittenberger Chorgesangbuch, für den Schülerchor bestimmt. 1525 wurde eine Ausgabe für die Gemeinde herausgegeben. Und 1529 erscheint dann als erstes thematisch geordnetes evangelisches Gesangbuch im deutschen Sprachraum das Wittenberger Gemeindegesangbuch. Dieses Gesangbuch war von nicht geringerer Auswirkung als seine Bibelübersetzung. Die meisten Gesangbücher übernahmen seine Lieder und die thematische Anordnung bis hin zu unserem heutigen Evangelischen Gesangbuch. Gleichzeitig erschienen der Kleine und der Große Katechismus und eine Neuausgabe von Luthers Betbüchlein. Mit allen dreien zusammen legte Luther den Grund zum Aufbau einer evangelischen Frömmigkeit. Luthers schöpferisches Wirken ist also zu verstehen als ein sehr eigenständiges Bearbeiten und ein Neuschaffen von Melodien und Texten im Sinne der neuen Lehre, das eine große Einheit von Wort und Ton erreicht hat. Es ist in der Anfechtung und als Weg ihrer Bewältigung entstanden 3

Martin Luther: Die Vorrede zum Wittenberger Chorgesangbuch, 1524, zitiert nach

Markus Jenny: Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983, S. 39.

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und war verbunden mit der Absicht reformatorischer Propaganda. Letztlich dient seine Musik jedoch der Ehre und dem Lob Gottes, der sie gegeben und geschaffen hat, wie auch die liebe Nachtigall mit ihrem lieblichen Gesang: „Frau Musika [spricht]: Die beste Zeit im Jahr ist mein; da singen alle Vögelein. Himmel und Erde ist der voll; viel gut Gesang da lautet wohl. Voran die liebe Nachtigall macht alles fröhlich überall mit ihrem lieblichen Gesang. Des muß sie haben immer Dank. Viel mehr der liebe Herre Gott, der sie also geschaffen hat, zu sein die rechte Sängerin, der Musica ein’ Meisterin.“4 Amen.

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Martin Luther: Vorrede auf alle guten Gesangbücher, 1538, zitiert nach Markus Jenny:

Luther, Zwingli, Calvin in ihren Liedern, Zürich 1983, S. 158f.

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Statt eines Nachwortes: Thomas Schleiff

Das himmlische Eintrittsgeld „Es geschah im Jahre 1517, dass ein Prediger-Mönch mit Namen Johannes Tetzel, ein großer Schreier …, mit dem Ablass durchs Land zog und Gnade um Geld verkaufte, so teuer oder wohlfeil, wie er es mit allen Kräften vermochte … Mir wurde zugetragen, was für gräulich-schreckliche Artikel der Tetzel gepredigt hätte. Einige will ich nennen, nämlich: … er wolle im Himmel nicht mit dem heiligen Petrus tauschen, denn er hätte mit seinem Ablass mehr Seelen erlöst als der heilige Petrus mit seinem Predigen. Ferner, wenn einer für eine Seele Geld in den Kasten lege, dann führe die Seele hinauf in den Himmel, sobald der Pfennig auf den Boden fiel und klinge.“ MARTIN LUTHER 1. Tetzels Kasten Bekanntlich ist ein Batzen Geld ein schöner Schatz in dieser Welt. Und mancher meinte wohl sogar: Man kriegt fast alles gegen bar. So hat einst Tetzel angepriesen: Du kriegst den Himmel für Devisen. Rasch kommst du aus dem Fegefeuer für ein paar Münzen, nicht zu teuer.

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Bedenk dies Sonderangebot: für Geld das Leben nach dem Tod! Da kriegst du was für deine Taler (mehr als der Kirchensteuerzahler!). Ich möchte selbst wohl dazu neigen, fürs Himmelreich was abzuzweigen, wenn ich es vorher exakt wüsste, was ich dafür bezahlen müsste. Ach, wüsste ich doch nur die Summe, sei’s eine grade, eine krumme: Ich wär zur Zahlung gern bereit des Eintrittsgelds zur Ewigkeit! „Jesus aber blickte auf und sah, wie die Reichen ihre Opfer in den Gotteskasten einlegten. Er sah aber auch eine arme Witwe, die legte dort zwei Scherflein ein. Und er sprach: Wahrlich, ich sage euch: Diese arme Witwe hat mehr als sie alle eingelegt. Denn diese alle haben etwas von ihrem Überfluss zu den Opfern eingelegt; sie aber hat von ihrer Armut alles eingelegt, was sie zum Leben hatte.“ Lukas 21, 1-4 2. Gottes Kasten Bei Lukas steht was aufgeschrieben von einem Preis, nicht hochgetrieben. „Zwei Scherflein“ werden da genannt, die hat fast jeder leicht zur Hand. Zwei Scherflein gab die Witwe aus bei dem Besuch in Gottes Haus,

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und Jesus lobte sie dafür! Ist das die himmlische Gebühr? Dann wäre wirklich einzuschärfen, die beiden Scherflein einzuwerfen. Der Himmel für die kleine Summe!? Wer da nicht zugreift, ist der Dumme! Doch wissen wir ja lange schon (aus Bibel und Reformation!): Mit Geld lässt sich in solchen Sachen beim besten Willen gar nichts machen. Das schildert der Bericht genau am Beispiel jener armen Frau: Die hat ja gar nicht kalkuliert, wie viel sie heute mal spendiert. Sie hat nicht lange überlegt, wie viel sie in den Kasten legt. Im Grunde ist das nicht zu fassen: Sie hat die Rechnerei gelassen! Was sie grad hat, das gibt sie her. Das ist nicht leicht, das ist nicht schwer, das ist vielmehr, ganz jenseits dessen, nur schlicht und einfach selbstvergessen. (aus: Thomas Schleiff, Ein Uhrmacher im Himmel. Himmlische Berufsaussichten, 3. überarbeitete Auflage, J.F. Steinkopf Verlag, Kiel 2009, S. 55-57)

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Jerusalemer Texte Schriften aus der Arbeit der Jerusalem-Akademie herausgegeben von Hans-Christoph Goßmann Band 1:

Peter Maser, Facetten des Judentums. Aufsätze zur Begegnung von Christen und Juden sowie zur jüdischen Geschichte und Kunst, 2009, 667 S.

Band 2:

Hans-Christoph Goßmann; Reinhold Liebers (Hrsg.), Hebräische Sprache und Altes Testament. Festschrift für Georg Warmuth zu 65. Geburtstag, 2010, 237 S.

Band 3:

Hans-Christoph Goßmann (Hrsg.), Reformatio viva. Festschrift für Bischof em. Dr. Hans Christian Knuth zum 70. Geburtstag, 2010, 300 S.